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Frederike Schotters

Frankreich und das Ende des Kalten Krieges


Studien zur Internationalen
Geschichte

Herausgegeben von
Eckart Conze,
Julia Angster,
Marc Frey,
Wilfried Loth und
Johannes Paulmann

Band 44
Frederike Schotters

Frankreich und
das Ende des
Kalten Krieges
Gefühlsstrategien der équipe Mitterrand
1981–1990
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für
Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein sowie der freundlichen Hilfe der FAZIT-Stiftung
und des Graduiertenkollegs „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch
Zukunftshandeln“.

ISBN 978-3-11-059564-2
e-ISBN (PDF) 978-3-11-059741-7
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-059320-4
ISSN 2190-149X

Library of Congress Control Number: 2018964343

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston


Einbandabbildung: François Mitterrand und Michail Gorbatschow während eines Spaziergangs
in den Gärten des Elysée-Palastes, 4. Juli 1989. Alle Bildrechte sind dem Institut François Mit-
terrand in Paris vorbehalten (Droits réservés / IFM).
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

www.degruyter.com
Für Papa
Dank
Am Ende einer Reise, wie diese Studie sie war, steht ein Blick zurück. Von den
ersten Anfängen dieser Dissertation bis zum fertigen Buch war es ein spannender,
lehrreicher, mitunter nicht immer einfacher Weg. Den erfolgreichen Abschluss
verdanke ich nicht zuletzt der Unterstützung zahlreicher Weggefährt*innen. An
erster Stelle gilt mein besonderer Dank meinem akademischen Lehrer und Dok-
torvater Wilfried Loth. Mit seinem Wissen, seiner Ruhe, seinen fachlichen und
praktischen Ratschlägen und nicht zuletzt seinem unerschütterlichen Vertrauen
in meine Fähigkeiten hat er diese Arbeit betreut und den notwendigen Rahmen für
ihr Gelingen geschaffen. Für das Zweitgutachten sowie ihre Gesprächsbereitschaft
und die Begleitung meiner Dissertation danke ich außerdem herzlich Claudia
Hiepel.
Ich empfinde es als große Ehre, dass meine Arbeit in den Studien zur Inter-
nationalen Geschichte erscheint und danke den Reihenherausgeber*innen Eckart
Conze, Julia Angster, Marc Frey, Wilfried Loth und Johannes Paulmann für die
Aufnahme in die Reihe. Als kompetenter Ansprechpartnerin beim Verlag Walter
de Gruyter sei außerdem Rabea Rittgerodt sowie ihrem Kollegen Florian Hoppe für
die Unterstützung bei der Drucklegung gedankt.
Die Entstehung dieses Buches und die umfassenden Recherchen in den Pa-
riser Archiven wurden durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das
Deutsche Historische Institut in Paris finanziell gefördert und ermöglicht. Hier hat
mich vor allem Christian Wenkel dabei unterstützt, die Herausforderungen der
Pariser Archivlandschaft zu meistern, und mir mit fachlichem Rat zur Seite ge-
standen. Mein Dank gilt außerdem den vielen freundlichen Mitarbeiter*innen in
den Archives nationales de France und den Archives diplomatiques du Ministère
des affaires étrangères, die mir mit Rat und Tat bei den Recherchen geholfen
haben.
Die Drucklegung dieser Arbeit wurde mir durch die finanzielle Unterstützung
von Seiten der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissen-
schaften, der FAZIT-Stiftung sowie des Graduiertenkollegs „Vorsorge,Voraussicht,
Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln“ erheblich erleich-
tert. Allen drei Institutionen danke ich an dieser Stelle herzlich dafür.
Für den Entstehungsprozess, das Reifen dieser Arbeit sowie das Ausfeilen von
Argumenten habe ich von konstruktiven Anregungen profitiert, die ich in dem
Kolloquium von Guido Thiemeyer und den Konferenzen von Peter Hoeres und
Anuschka Tischer sowie Florian Greiner erhalten habe.
Unverzichtbar waren zudem zahlreiche Gespräche mit Kolleg*innen, die über
die Zeit zu Freund*innen wurden und mir dabei geholfen haben, so manche
VIII Dank

Hürde zu nehmen. Für ein sorgfältiges Lektorat, inhaltliche Anregungen und stets
ein offenes Ohr danke ich meinen Kolleg*innen und Freund*innen Christiane
Bub, Jan-Hendryk de Boer, Christopher Friedburg, Anja Hoppe, Alina Juckel,
Andreas Nehrlich, Kyra Palberg, Teresa Schröder-Stapper, Annalena Sieß, Helen
Wagner und Andrew van Ross.
Auf dem bisweilen steinigen Weg zum Ziel der Promotion hatte ich stets die
grenzenlose Unterstützung und Rückendeckung meiner Eltern Beate und Thomas
Gehlhar sowie von meiner Schwester und ihrem Mann Anne-Kathrin Gehlhar und
Julian Lotz. Ich danke ihnen von Herzen dafür, dass sie niemals an dem Gelingen
gezweifelt und mit mir gelacht, geweint, gebangt und gefeiert haben. Die mit
Abstand größte Stütze war mir mein Mann Philipp, der den gesamten Weg ge-
meinsam mit mir gegangen ist, Lasten mit mir geteilt, Probleme diskutiert, an
Übersetzungen gefeilt und mir in schwierigen Momenten durch sein Vertrauen die
notwendige Zuversicht zurückgegeben hat. Gewidmet ist dieses Buch meinem
Papa, der mein Interesse an Geschichte geweckt und mich bis hier her begleitet
hat, das gedruckte Ergebnis aber leider nicht mehr aufschlagen wird.

Tübingen, im August 2018


Abkürzungsverzeichnis

AAPD Akten der Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland


ABM Anti-Ballistic Missile
ADMAE Archives Diplomatiques du Ministère des Affaires étrangères
AELE Association européenne du libre-échange = Europäische Freihandelszone
AN Archives nationales
ARD Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bun-
desrepublik Deutschland
BERD Banque europénne pour la reconstruction et le développement = Europäi-
sche Bank für Wiederaufbau und Entwicklung
BRD Bundesrepublik Deutschland
BRITE Bright Star Target Explorer
CAEM = COMECON Conseil d’assistance économique mutuelle; Council for mutual economique
assistance; Rat für gemeinsame Wirtschaftshilfe
CAP Centre d’Analyse et de Prévision
CDU Christlich Demokratische Union
CEE Communauté économique européenne
CESTA Centre d’Études des Systèmes et des Technologies Avancées
CSCE Conférence sur la sécurité et la coopération en Europe
DDR Deutsche Demokratische Republik
DM Deutsche Mark
EEC European Economic Community
EG Europäische Gemeinschaften
EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
ENA Ecole Nationale d’Administration
EPZ Europäische Politische Zusammenarbeit
ESPRIT European Strategic Programme for Information Technology
EU Europäische Union
EUREKA European Reasearch Coordination Agency
EWS Europäisches Währungssystem
FAR Force d’Action Rapide
FDP Freie Demokratische Partei (Deutschlands)
GAP Gemeinsame Agrarpolitik
GATT General Agreement on Tariffs and Trade
INF Intermediate-range Nuclear Forces
JET Joint European Torus
KGB Komitee für Staatssicherheit; Sowjetischer In- und Auslandsgeheimdienst
KP Kommunistische Partei
KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion
KSZE Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
MAE Ministère des Affaires étrangères
MID Sowietisches Außenministerium
MNPGD Mouvement National des Prisonniers de Guerre et Déportés
MRE Ministère des Relations extérieures

https://doi.org/10.1515/9783110597417-001
X Abkürzungsverzeichnis

NATO North Atlantic Treaty Organisation


OCDE Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
PCF Parti communiste français
PCUS Parti communiste de l’Union soviétique
PS Parti socialiste
RACE Forschung und Entwicklung im Bereich der fortgeschrittenen Kommunikati-
onstechnologien für Europa
RFA République Fédérale Allemande
SALT Strategic Arms Limitation Talks
SDI Strategic Defense Initiative
SGCI Secrétariat général du Comité interministériel pour les questions de coo-
pération économique européenne
SGDN Secrétariat général de la défense nationale
SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands
START Strategic Arms Reduction Talks
TASS Telegrafenagentur der Sowjetunion; zentrale staatliche Nachrichtenagentur
TF1 Télévision Française 1
UDSR Union démocratique et socialiste de la Résistance
UdSSR Union der sozialistischen Sowjetrepubliken
UEO Union de l’Europe occidentale = Westeuropäische Union
UN United Nations (Vereinte Nationen)
UNO United Nations Organisation
URSS Union des républiques socialistes soviétiques
USA United States of America = Vereinigte Staaten von Amerika
WEU Westeuropäische Union
WWU Wirtschafts- und Währungsunion
Inhalt
Dank VII

Abkürzungsverzeichnis IX

Einleitung 1
Forschungsstand 13
Methodik und Materialgrundlage – Wie kann eine Geschichte der
internationalen Beziehungen heute geschrieben werden? 19

 Die Konzeption der équipe Mitterrand 44


. Vorüberlegungen 44
. Zukunftserwartungen und Realitätsperzeptionen 48
. Ursprünge und Einflüsse 64
. Die équipe Mitterrand 73
Zwischenbilanz 81

 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels 86


. Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 86
. Vertrauensbildung nach Westen… 110
. …führt zu Misstrauen im Osten 139
Zwischenbilanz 157

 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente 166


. Deutsch-französische Vertrauensbildung 166
. Vollzug der Nachrüstung und die Wahrung französischer
Unabhängigkeit 201
. Relance européenne 209
. Die Rückkehr zur Détente 232
Zwischenbilanz 244

 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen? 250


. François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 250
. „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere
Zukunft.“ 284
. Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 321
Zwischenbilanz 345
XII Inhalt

 Das Ringen um eine neue Ordnung 352


. Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 352
. „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im
Widerstreit 398
Zwischenbilanz 425

Bilanz und Ausblick 430

Bibliographie 439
Ungedruckte Quellen 439
Gedruckte Quellen 440
Darstellungen 443

Personenregister 458
Einleitung
„[R]egarder l’avenir; l’Europe est la grande aventure de notre génération.“ ¹

Als François Mitterrand am 10. Mai 1981 die Wahl um die französische Präsi-
dentschaft gewann, sah sich die neue und unerfahrene Regierungsmannschaft
um den ersten sozialistischen Präsidenten der V. Republik vor massive außen-
und sicherheitspolitische Herausforderungen gestellt. Verschiedene Ereignisse
und Entwicklungen hatten dazu beigetragen, dass die politischen Akteure den
Übergang von den 1970er zu den 1980er Jahren als tiefgreifende Krise empfanden:
Nicht nur war die Ära der Entspannungspolitik ab Ende der 1970er Jahre einer
neuen Konfrontation zwischen Ost und West gewichen, sondern auch die trans-
atlantischen Beziehungen gestalteten sich weniger harmonisch: Anstatt einen
Schulterschluss zwischen den westlichen Bündnispartnern schienen die Span-
nungen zwischen Ost und West vielmehr Konflikte innerhalb der Atlantischen
Allianz zu verstärken und die Solidarität zwischen den Partnern zu bedrohen.
Zunehmend erschwerend wirkte sich darauf auch die wirtschaftliche Krise und
ansteigende Arbeitslosigkeit aus, mit deren Bewältigung die europäischen Re-
gierungen in Folge der Ölpreiskrisen und den sozioökonomischen Veränderungen
in den 1970er Jahren sowie einer wachsenden wirtschaftlichen Konkurrenz aus
Asien zu kämpfen hatten. Hinzu kam noch, dass sich Mitterrand nicht nur mit
gegenwärtigen Krisenphänomenen konfrontiert sah, sondern auch mit einer
künftigen Herausforderung für die internationale Staatengemeinschaft rechnete:
Er trat sein Amt in der Erwartung eines gewaltigen politischen Umbruchs an, da er
davon ausging, dass die Sowjetunion auf mittelfristige Sicht zu geschwächt sein
würde, um die Dominanz über ihre Satellitenstaaten aufrechterhalten zu können.²

 François Mitterrand zu Roland Dumas zitiert nach Dumas, Roland: Coups et Blessures. 50 ans
de secrets partagés avec François Mitterrand. Paris 2011. S. 142.
 Vgl. Mitterrand, François: Über Deutschland. Frankfurt am Main/Leipzig 1996. S. 10; Gespräch
François Mitterrand mit Helmut Schmidt am 7. Oktober 1981 überliefert bei Attali, Jacques: Ver-
batim 1981– 1986. Paris 2011. S. 125; In der deutschen Überlieferung, weniger pointiert überliefert:
„Die objektiven und subjektiven Tatsachen, die ihr heute entgegenstehen – vor allem die Existenz
des sowjetischen Imperiums –, könnten sich eines Tages schneller verändern, als man heute
denkt.“ Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Latche am
7. Oktober 1981. In: Akten der Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland [AAPD] 1981,
Dok. 287. München 2012. S. 1544. Zudem formulierte François Mitterrand in einem Gespräch mit
dem deutschen Bundespräsidenten Karl Carstens am 13. Juli 1981 sehr konkrete Zweifel, dass das
„sowjetische Weltreich“ im Jahr 2000 noch existieren würde, vgl. dazu: Gespräch des Bundes-
präsidenten Carstens mit Staatspräsident Mitterrand am 13. Juli 1981. In: AAPD 1981, Dok. 200,
München 2012. S. 1072; siehe dazu insgesamt auch Kapitel 1.

https://doi.org/10.1515/9783110597417-002
2 Einleitung

Welche unterschiedlichen Strategien Akteure der internationalen Beziehungen in


den 1980er Jahren entwickelten, um diesen spezifischen Herausforderungen zu
begegnen und die Zukunft aktiv zu gestalten, ist bisher weitestgehend uner-
forscht.
Um den Umgang historischer Akteure mit Krisen zu untersuchen, setzt diese
Studie auf einer Wahrnehmungsebene an, da hinter Krisen subjektive Zuschrei-
bungen von Ereignissen und Entwicklungen stehen, die nicht von allen Akteuren
in gleichem Maße empfunden werden müssen. Die Verwendung des Krisenbe-
griffs drückt also bereits ein Verhältnis aus, in das sich Individuen zu jenen Er-
eignissen und Entwicklungen stellen. Wird von einer Krise gesprochen, so im-
pliziert dies meist, dass das Vertrauen in alte vermeintliche Gewissheiten
erschüttert wurde, welches durch eine überraschende Erfahrung einer neuen
Unsicherheit weicht. Krisenwahrnehmung und Angst vor Gefahren ist jedoch nur
eine Möglichkeit, darauf zu reagieren. So mag sich auch ein Gestaltungsspielraum
eröffnen, den Akteure als Chance bewerten. An diesem Spannungsfeld von
Chance und Schaden, von Angst und Vertrauen setzt diese Studie an.³
Die französische Sicherheitspolitik in den 1980er Jahren war geprägt von
einem Nebeneinander ambivalenter Handlungsimpulse, die die Entspannungs-
politik zwischen Ost und West mal förderten und mal blockierten. Dies hat in der
Historiographie bisher Anlass dazu gegeben, Mitterrands Handeln kontrovers und
widersprüchlich zu beurteilen. Die vorliegende Studie führt das Handeln der
„équipe Mitterrand“ ⁴ stattdessen auf deren Realitätswahrnehmungen und Zu-
kunftsbilder zurück. Die Janusköpfigkeit der französischen Politik gründete auf
der Rivalität zwischen kurzfristigen tagespolitischen Notwendigkeiten und fran-
zösischen Langzeitzielen, deren Handlungsimpulse sich beizeiten zu widerspre-
chen drohten. Einerseits diente die Entspannungspolitik dazu, einen modus viv-
endi in den Ost-West-Beziehungen zu etablieren, um dadurch Stabilität zu sichern
und die Kriegsgefahr einzudämmen. Durch die französischen Eliten wurde sie
andererseits aber zugleich als Chance gesehen, das bipolare Ordnungssystem des
Kalten Krieges langfristig zu überwinden. Dieses „System von Jalta“⁵ galt in

 Für den Krisenbegriff vgl. weiterführend: Mergel, Thomas (Hrsg.): Krisen verstehen. Historische
und kulturwissenschaftliche Annäherungen. Frankfurt am Main 2011; Koselleck, Reinhart: Kritik
und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg 1959.
 Im weiteren Verlauf wird auf die Anführungszeichen verzichtet. Das erste Kapitel wird zeigen,
aus welchen Akteuren sich die équipe Mitterrand zusammensetzte.
 Diese Bezeichnung ist auf zeitgenössische französische Wahrnehmungen der Ursprünge der
Ost-West-Teilung zurückzuführen und steht aus diesem Grund in Anführungszeichen. Im weiteren
Verlauf soll bei „System von Jalta“ oder „Jalta-System“ auf die Anführungszeichen verzichtet
werden, in dem vollen Bewusstsein, dass der Begriff französische Wahrnehmungen impliziert.
Einleitung 3

Frankreich als eine künstliche Staatenordnung, die durch die USA und die So-
wjetunion etabliert worden war, ohne europäische Interessen zu berücksichti-
gen.⁶ Die Konzeption der französischen Entspannungspolitik stand in der Tradi-
tion Charles de Gaulles und richtete sich darauf, die beiden Teile Europas
zusammenzuführen und von der Bevormundung der beiden Supermächte zu
befreien. Obwohl also die Überwindung der Blockkonfrontation integraler Be-
standteil und langfristiges Ziel der französischen Sicherheitspolitik war, trat sie
aufgrund aktueller politischer Herausforderungen bisweilen in den Hintergrund,
wenn sie als potentielles Risiko wahrgenommen wurde.
Diese Studie geht von der zentralen Frage aus, wie Akteure der internatio-
nalen Beziehungen Krisen wahrnehmen und welche Möglichkeiten zur Bewälti-
gung sie diesen entgegenstellen. Dafür ist es gleichsam notwendig, Realitäts-
wahrnehmungen historischer Akteure zu erforschen. Es wird davon ausgegangen,
dass Erfahrungen Perzeptionen vorstrukturieren, von denen konkrete Zukunfts-
erwartungen abgeleitet werden. Angst und Vertrauen werden in dieser Studie als
generalisierte Zukunftserwartung verstanden, die Einfluss auf politische Ent-
scheidungsprozesse nehmen.⁷ Von Interesse ist dabei auch die Frage, in welchem
Verhältnis strukturelle Bedingungen und individuelle Wahrnehmungen stehen.
Da davon ausgegangen werden muss, dass Zukunftserwartungen und politische
Pläne oftmals von anderen Ereignissen und Entwicklungen überrascht werden,
gilt es gleichsam auch konzeptionelle Wandlungsprozesse und Adaptionsleis-
tungen der équipe Mitterrand zu erforschen. Die französische Sicherheitspolitik
bietet gerade deshalb einen interessanten Untersuchungsgegenstand, da die
équipe Mitterrand nicht nur bereits erfahrene Dimensionen von Sicherheitspolitik
wie Bündnissicherung und Rüstungskontrolle zu managen hatte.Vielmehr wurde
der von François Mitterrand auf mittelfristige Sicht erwartete politische Umbruch
zu einer spezifischen Herausforderung, die bis dato keine konkrete Rolle für die
Definition der französischen Außen- und Sicherheitspolitik gespielt hatte. Für

 Die Forschung weiß inzwischen auch um die Rolle, die einzelne europäische Staatschefs sowie
Prozesse (west‐)europäischer Integration bei der Verfestigung der Spaltung Europas gespielt
haben: Siehe dazu: Loth,Wilfried: Der Krieg, der nicht stattfand. Ursprünge und Überwindung des
Kalten Krieges. In: Wie Kriege entstehen. Zum historischen Hintergrund von Staatenkonflikten.
Hrsg. von Wegner, Bernd. Paderborn [u. a.] 2000. S. 291; Loth, Wilfried: Europas Einigung. Eine
unvollendete Geschichte. Frankfurt am Main 2014.
 Eine konkrete Konzeptualisierung von Angst und Vertrauen folgt im methodischen Teil der
Einleitung.
4 Einleitung

Historiker⁸ eröffnet sich damit eine Perspektive darauf, wie neben die Sicherung
des Status Quo die Suche nach einer alternativen Zukunft trat.
Die Krise der Entspannung und das Ende des Kalten Krieges haben das In-
teresse von Zeitgenossen und Historikern gleichermaßen erregt. Narrative zum
Ende des Kalten Krieges sind sehr mannigfaltig und disparat.⁹ Bevor eine Phase
zunehmender Spannung an der Wende von den 1970er zu den 1980er Jahren in
den Fokus der Historiographie rückte, wurde zuvor bereits intensiv zur Entspan-
nungspolitik und ihren Ursprüngen geforscht.¹⁰ Diese war zwar in einer Reihe von
Ost-West-Verträgen zu Beginn der 1970er Jahre gegipfelt, schließlich aber seit Mitte
der 1970er durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren im Niedergang
begriffen.¹¹
Die Phase zwischen 1979 und 1984 wird bisweilen verkürzt mit dem Schlag-
wort „Zweiter Kalter Krieg“ oder „New Cold War“ versehen. Abgesehen davon,
dass diese Bezeichnung tatsächlich auf zeitgenössische Wahrnehmungen und
Zuschreibungen zurückgeht und durch die Forschung zum Teil unreflektiert

 Im Interesse einer besseren Lesbarkeit wird nicht ausdrücklich in geschlechtsspezifischen


Personenbezeichnungen differenziert. Die gewählte männliche Form schließt eine adäquate
weibliche Form gleichberechtigt ein.
 Für Gesamtdarstellungen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen zum Ost-West-Konflikt
siehe: Dülffer, Jost: Europa im Ost-West-Konflikt 1945 – 1990. München 2004; Gaddis, John Lewis:
Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte. München 2007; Leffler, Melvyn P.: For the Soul of Mankind.
The United States, the Soviet Union and the Cold War. New York 2007; Leffler, Melvyn P./Westad,
Odd Arne (Hrsg.): The Cambridge History of the Cold War. 3 Bde. Cambridge/New York 2010; Loth,
Wilfried: Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941– 1955. Erw. Aufl. München
2002; Loth, Wilfried: Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung. München 1998;
Soutou, Georges-Henri: La guerre de Cinquante Ans. Les relations Est-Ouest 1943 – 1990. Paris
2001; Stöver, Bernd: Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947– 1991. München
2007.
 Für die Anfänge der Détente sind einschlägig: Bange, Oliver/Niedhart, Gottfried (Hrsg.):
Helsinki 1975 and the Transformation of Europe. New York/Oxford 2008; Loth, Wilfried/Soutou,
Georges-Henri (Hrsg.): The Making of Détente. Eastern and Western Europe in the Cold War 1965 –
1975. London/New York 2008; Wenger, Andreas/Mastny, Vojtech/Nünlist, Christian (Hrsg.): Ori-
gins of the European Security System. The Helsinki Process Revisited, 1965 – 75. London/New York
2008; Villaume, Poul/Westad, Odd Arne (Hrsg.): Perforating the Iron Curtain. European Détente,
Transatlantic Relations, and the End of the Cold War 1965 – 1985. Kopenhagen 2010; Fink, Carole/
Schaeffer, Bernd (Hrsg.): Ostpolitik. 1969 – 1974. European and global responses. Cambridge 2009;
Ludlow, N. Piers (Hrsg.): European Integration and the Cold War. Ostpolitik – Westpolitik, 1965 –
1973. New York 2009.
 Für verschiedene Faktoren des „Niedergang[s] der Entspannung“ siehe: Loth, Helsinki,
S. 164– 198.
Einleitung 5

übernommen wurde,¹² wird sie den Krisenerscheinungen am Übergang von den


1970er zu den 1980er Jahren insgesamt nicht umfassend gerecht. Diese verbanden
rüstungs- und bündnispolitische sowie militärische Dimensionen mit gesell-
schafts-, wirtschafts- und kulturpolitischen Dimensionen und gingen als Effekte
von unter dem Schlagwort Globalisierung firmierender Entwicklungen auch über
den Rahmen des Kalten Krieges hinaus. Eine lineare Erzählung der Spannungs-
zunahme, die letztlich in der Auseinandersetzung um die Euroraketen Anfang der
1980er Jahre gipfelte und zur Stationierung neuer Raketen in Europa führte, ist
nicht nur aufgrund ihrer Teleologie abzulehnen, sondern schon deshalb nicht
plausibel, da die unterschiedlichen Dimensionen gegenseitig aufeinander ein-
wirkten. Die Herausforderung, eine Geschichte der 1980er Jahre zu schreiben,
besteht ferner darin zu erklären, wie innerhalb von einem Jahrzehnt nach einer
neuen Zuspitzung der Konfrontation eine neue Entspannung und schließlich
sogar die Überwindung des Konfliktes erreicht wurde. Die Ereignisse von 1989 –
1991 zogen sehr schnell das Interesse der Historiker auf sich, die nach Erklä-
rungen für diesen scheinbar unerwarteten politischen Umbruch suchten. Der
Fokus lag hierbei entweder – wie bei der Geschichte des Kalten Krieges insge-
samt – auf den bilateralen Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion
oder aber dem Wandel in der Sowjetunion.¹³ In der deutschen Historiographie
lässt sich ein großes Interesse an der deutschen Frage und dem Prozess der
Wiedervereinigung konstatieren.¹⁴ Nachdem den europäischen Akteuren und

 Darauf wiesen zuletzt hin: Bresselau von Bressensdorf, Agnes: Frieden durch Kommunika-
tion. Das System Genscher und die Entspannungspolitik im Zweiten Kalten Krieg 1979 – 1982/83.
Berlin/Boston 2015. S. 3; Niedhart, Gottfried: Der Ost-West-Konflikt. Konfrontation im Kalten Krieg
und Stufen der Deeskalation. In: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010). S. 588; Zu einem reflek-
tierten Umgang mit Metaphern des Kalten Krieges siehe auch: Loth, Wilfried: Langer Frieden oder
Fünfzigjähriger Krieg? Der Kalte Krieg in historischer Perspektive. In: Militär, Staat und Gesell-
schaft in der DDR. Forschungsfelder – Ergebnisse – Perspektiven. Hrsg. von Ehlert, Hans/Rogg
Matthias. Berlin 2004. S. 67– 82; Im weiteren Verlauf soll bei „Zweiter Kalter Krieg“ oder „New Cold
War“ auf die Anführungszeichen verzichtet werden, in dem vollen Bewusstsein, dass der Begriff
zeitgenössische Wahrnehmungen impliziert.
 Vgl. Brown, Archie: Der Gorbatschow-Faktor. Wandel einer Weltmacht. Frankfurt am Main
[u. a.] 2000; Altrichter, Helmut: Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums.
München 2009; Leffler, Mankind; Grachev, Andrei: Gorbachev’s Gamble. Soviet Foreign Policy
and the End of the Cold War. Cambridge 2008; Zubok, Vladislav M.: A Failed Empire. The Soviet
Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev. Chapel Hill 2007.
 Vgl. u. a. Rödder, Andreas: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung. München 2011;
Rödder, Andreas: Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung. München
2009; Bange, Oliver/Lemke, Bernd (Hrsg.): Wege zur Wiedervereinigung. Die beiden deutschen
Staaten in ihren Bündnissen 1970 bis 1990. Oldenburg 2013; Plato, Alexander von: Die Vereini-
6 Einleitung

Prozessen lange Zeit wenig Bedeutung beigemessen wurde, begann sich der Fo-
kus der Historiographie ab Mitte der 2000er Jahre von den bilateralen Bezie-
hungen zwischen den USA und der Sowjetunion sowie dem Wettrüsten und der
Rüstungskontrolle zu lösen. Vielmehr sollte der Rolle west- und osteuropäischer
Akteure sowie der Bedeutung von europäischen Prozessen wie der europäischen
Integration und paneuropäischen Prozessen wie dem KSZE-Prozess Rechnung
getragen werden.¹⁵ Diesem Perspektivwechsel nahmen sich Mitte der 2000er Jahre
eine Reihe von Tagungen und Sammelbänden an, sodass das Ende des Kalten
Krieges heute als Ergebnis von Prozessen gilt, die ihren Ursprung in den 1970er
Jahren fanden.
Nachdem der Krisendiskurs der 1970er Jahre bereits eine Revision erfahren
hat,¹⁶ bemüht sich die Forschung in Ansätzen inzwischen um die Historisierung
der 1980er Jahre.¹⁷ Aktuell wendet sich die Forschungsliteratur verstärkt der Krise
der Entspannungspolitik zu, die den historischen Kontext von Mitterrands
Amtsantritt im Mai 1981 bildete.¹⁸ Während sich Leopoldo Nuti der Krise der

gung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die internen
Gesprächsprotokolle. Berlin 2002.
 Vgl. Bozo, Frédéric/Rey, Marie-Pierre/Ludlow, N. Piers/Nuti, Leopoldo (Hrsg.): Europe and the
End of the Cold War. A reappraisal. London/New York 2008; Bange/Niedhart (Hrsg.), Helsinki
1975; Bilandžić, Vladimir/Dahlmann, Dittmar/Kosanović, Milan (Hrsg.): From Helsinki to Bel-
grade. The First CSCE Follow-up Meeting and the Crisis of Détente. Göttingen 2012.
 Vgl. Hiepel, Claudia (Hrsg.): Europe in a Globalising World. Global Challenges and European
Responses in the „long“ 1970s. Baden-Baden 2014; Jarausch, Konrad H. (Hrsg.): Das Ende der
Zuversicht. Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008; Villaume, Poul/Mariager, Rasmus/
Porsdam, Helle (Hrsg.): The „Long 1970s“. Human Rights, East-West Détente, and Transnational
Relations. London/New York 2016; Doering-Manteuffel, Anselm/Raphael, Lutz: Nach dem Boom.
Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2010; Raithel, Thomas (Hrsg.): Auf dem
Weg? Die Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren. München 2009; Black, Jeremy:
Europe since the seventies. London 2009; Ferguson, Niall/Maier, Charles S./Erez, Manela/Sar-
gent, Daniel J. (Hrsg.): The Shock of the Global. The 1970s in Perspective. Cambridge 2010.
 Vgl.Wirsching, Andreas: Abschied vom Provisorium 1982– 1990. München 2006; Hansen, Jan:
Abschied vom Kalten Krieg? Die Sozialdemokraten und der Nachrüstungsstreit (1977– 1987).
Berlin/Boston 2016.
 Vgl. Nuti, Leopoldo (Hrsg.): The Crisis of Détente in Europe. From Helsinki to Gorbachev, 1975 –
1985. London/New York 2009; Gassert, Philipp/Geiger, Tim/Wentker, Hermann (Hrsg.): Zweiter
Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und in-
ternationaler Perspektive. München 2011; Gotto, Bernhard/Möller, Horst/Mondot, Jean/Pelletier,
Nicole (Hrsg.): Nach „Achtundsechzig“. Krisen und Krisenbewusstsein in Deutschland und
Frankreich in den 1970er Jahren. München 2013; Peter, Matthias/Wentker, Hermann (Hrsg.): Die
KSZE im Ost-West-Konflikt. Internationale Politik und gesellschaftliche Transformation 1975 –
1990. München 2012; Altrichter, Helmut/Wentker, Hermann (Hrsg.): Der KSZE-Prozess.Vom Kalten
Krieg zu einem neuen Europa 1975 bis 1990. München 2011; Becker-Schaum, Christoph/Gassert,
Einleitung 7

Détente und deren Überwindung aus einer militärischen und sicherheitspoliti-


schen Perspektive zuwendet, nehmen Geiger/Gassert/Wentker, Altrichter/Went-
ker, Peter/Wentker und Hansen auch die gesellschaftlichen Ursachen und Folgen
des New Cold War sowie des KSZE-Prozesses (Konferenz für Sicherheit und Zu-
sammenarbeit in Europa) in den Blick. Obwohl die Resultate der KSZE-Verhand-
lungen im Westen schlecht aufgenommen wurden,¹⁹ hatte die Unterzeichnung der
Schlussakte von Helsinki den KSZE-Prozess doch strukturell verankert und wurde
zu einem kontinuierlichen Diskussionsforum zwischen Ost und West. Es gilt als
Forschungskonsens, dass dieser sowohl auf der Ebene der internationalen Politik
als auch auf gesellschaftlicher Ebene von Bedeutung war, da westliche Ideen in
Osteuropa Verbreitung fanden und dort zu Wandlungsprozessen beitrugen.²⁰
Zudem schuf die Détente insgesamt wirtschaftliche und finanzielle Abhängig-
keiten und hatte auch dadurch Einfluss auf das Ende des Kalten Krieges.²¹ Die
Schlussakte von Helsinki wurde im Osten zum Bezugspunkt von oppositionellen
Milieus. Um die eigene Herrschaftssicherung besorgt, reagierte die sowjetische
Führung allerdings mit Nervosität und Repressionen gegen oppositionelle Be-
wegungen.²² Sowjetische Menschenrechtsverletzungen, die der amerikanischen
Regierung unter Jimmy Carter als Grundlage für seine „moralische Außenpolitik“
dienten, trugen zu einer Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen bei. Kon-
flikte, die häufig pauschal unter das Schlagwort Zweiter Kalter Krieg subsummiert
werden, gelten vielfach als Folge der Entspannungspolitik, haben zum Teil aber
auch andere und mehrere Ursprünge zugleich. So lässt sich einerseits zwischen
Ost-West und bündnisinternen Auseinandersetzungen differenzieren, die sich
gegenseitig beeinflussten. Darüber hinaus gilt es andererseits verschiedene Di-
mensionen dieser Konflikte auszumachen, die rüstungspolitische, militärische,
bündnis- und außenpolitische sowie wirtschaftliche, gesellschaftliche und kul-

Philipp/Klimke, Martin/Mausbach, Wilfried/Zepp, Marianne (Hrsg.): „Entrüstet euch!“. Nuklear-


krise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung. Paderborn [u. a.] 2012; Bresselau von
Bressensdorf, Frieden; Sjursen, Helene: The United States, Western Europe and the End of the
Polish Crisis. International Relations in the Second Cold War. New York 2013.
 Zahlreiche westliche Intellektuelle und Journalisten bewerteten die Schlussakte von Helsinki
als Sieg sowjetischer Interessen. Die sowjetische Delegation erkannte allerdings ihrerseits po-
tentielle Konsequenzen, die insbesondere die Bestimmungen aus Korb III für den Ostblock be-
deuten könnten; vgl. Badalassi, Nicolas: Un continent, deux visions. La France, les États-Unis et le
processus d’Helsinki. In: Relations internationales 154 (2013) 2. S. 122 f.
 Vgl. Hanisch, Anja: Von Helsinki nach Madrid. Der KSZE-Prozess und der Beginn des Zweiten
Kalten Krieges. In: Becker-Schaum [u. a.] (Hrsg.), „Entrüstet euch!“, S. 50.
 Vgl. Njølstad, Olav: Introduction. In: The Last Decade of the Cold War. From Conflict Esca-
lation to Conflict Transformation. Hrsg. von Njølstad, Olav. London/New York 2004. S. xx.
 Vgl. Hanisch, Helsinki, S. 42 f.
8 Einleitung

turelle Ursprünge hatten und ebenfalls in einer Interaktion zueinanderstanden.


Diese unterschiedlichen Dimensionen sollen hier aufgeschlüsselt werden, da sie
das Spannungsfeld erzeugen, in dem sich diese Studie verortet.
Wendet man sich zunächst der rüstungspolitischen Dimension der Konflikte
zu, so gilt der Kampf um die Euroraketen als einer der Kulminationspunkte des
Zweiten Kalten Krieges. ²³ Im Zuge von Modernisierungsmaßnahmen hatte die
Sowjetunion ab Mitte der 1970er Jahre damit begonnen, veraltete Raketen des
Typs SS-4 und SS-5 schrittweise gegen die Mittelstreckenraketen des neuen Typs
SS-20 auszutauschen.²⁴ Es handelte sich zwar nicht um Interkontinentalraketen,
diese bedrohten aber Westeuropa und Ostasien. Sie schufen damit eine „Lücke im
Eskalationskontinuum“²⁵, weil durch die strategischen Vereinbarungen zwischen
den USA und der Sowjetunion (SALT I 1972; Interimsvereinbarung SALT II 1974)
eine annähernde Parität in den Langstreckenarsenalen vereinbart worden war.
Die amerikanische Nukleargarantie für Westeuropa wurde dadurch infrage ge-
stellt.²⁶ Ein Abkommen über die eurostrategische Rüstung wurde daher durch die
Westeuropäer als unabdingbar betrachtet, um die Stabilität des Status Quo auf-
rechtzuerhalten. Im NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 boten die
NATO-Staaten der Sowjetunion einerseits Verhandlungen über die eurostrategi-
sche Rüstung an. Im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen und der Etablie-
rung eines eurostrategischen Gleichgewichts, sollte dieses andererseits mit einer
westlichen Nachrüstung – der Aufstellung von Pershing-II-Raketen und Marsch-
flugkörpern in ausgewählten Ländern Westeuropas – wiederhergestellt werden.
Historiker sind sich heute weitestgehend einig, dass der NATO-Doppelbe-
schluss und letztlich die Stationierung der Pershing-II und Cruise Missiles ab
Ende 1983 nicht hinreichend als Antwort auf die sowjetischen SS-20-Raketen zu
erklären sind. Tatsächlich wird das zeitgenössische Narrativ der „Nachrüstung“
zunehmend infrage gestellt.²⁷ Stattdessen haben verschiedene Faktoren zur Ge-
nese des NATO-Doppelbeschlusses geführt: technologische Entwicklungen,
transatlantische Debatten um die Modernisierung westlicher Nuklearstreitkräf-

 Vgl. Nuti, Leopoldo: The Origins of the 1979 Dual Track Decision. In: Nuti (Hrsg.), Crisis of
Détente, S. 57; Geiger, Tim: Der NATO-Doppelbeschluss. Vorgeschichte und Implementierung. In:
Becker-Schaum [u. a.] (Hrsg.), „Entrüstet euch!“, S. 54.
 Vgl. Loth, Helsinki, S. 191 f.
 Becker-Schaum, Christoph/Gassert, Philipp/Klimke, Martin/Mausbach, Wilfried/Zepp, Mari-
anne: Einleitung. Die Nuklearkrise der 1980er Jahre. NATO-Doppelbeschluss und Friedensbe-
wegung. In: Becker-Schaum [u. a.] (Hrsg.), „Entrüstet euch!“, S. 9.
 Vgl. Geiger, NATO-Doppelbeschluss, S. 57.
 Für einem Überblick zur Entstehung des NATO-Doppelbeschlusses siehe: Nuti, Origins,
S. 57– 71.
Einleitung 9

te – die schon vor der Aufstellung sowjetischer SS-20-Raketen im Gange war – und
zugleich Folgen der Détente aus den 1960er und 1970er Jahren, weil die sowjeti-
schen Raketen in eine Grauzone der Abrüstungsvereinbarungen fielen.²⁸
In seiner bündnispolitischen Dimension sollte der NATO-Doppelbeschluss
der inneren Geschlossenheit des westlichen Bündnisses dienen, provozierte aber
stattdessen Auseinandersetzungen in den transatlantischen Beziehungen. Der
Ruf der Europäer nach einem strategischen Gleichgewicht wurde durch die
amerikanische Administration als Forderungen nach mehr amerikanischen Nu-
klearwaffen in Europa fehlinterpretiert.²⁹ Der amerikanische Präsident Jimmy
Carter war zudem darauf bedacht, das Vertrauen in seine Führungsfähigkeit
wieder herzustellen, und trieb auch deshalb die Modernisierung taktischer Nu-
klearwaffen vehement voran, die aus dieser Perspektive als ein politischer Akt
erscheint und den Zusammenhalt der Allianz stärken sollte.³⁰
Die Krise um die Euroraketen zog allerdings auch gewaltige sozioökonomi-
sche Folgen nach sich,³¹ als sich insbesondere in der Bundesrepublik eine starke
Friedensbewegung formierte, die eine Aufstellung neuer Raketen in Westeuropa
zu verhindern suchte. Diese gesellschaftliche Dimension wirkte ihrerseits auf die
bündnis- und außenpolitische zurück, indem der Druck der Friedensbewegung
auf die Regierungen Westeuropas zu Konflikten innerhalb der Allianz führte. Dass
die Sowjetunion die Friedensbewegung im Kampf um die Euroraketen zu in-
strumentalisieren versuchte, bewirkte bei den Ländern der Atlantischen Allianz
außenpolitisch ein härteres Auftreten gegenüber dem Osten. Es zeigt sich also, wie
hier gesellschaftliche, bündnis- und außenpolitische Faktoren in einem engen
Wechselverhältnis zueinanderstanden.
Für die außenpolitische Dimension spielte auch die militärische eine zentrale
Rolle: Durch eine Reihe von Ereignissen fühlten sich die Vereinigten Staaten in die
Defensive gedrängt, während sich der Kommunismus und die Sowjetunion ganz

 Vgl. Nuti, Origins, S. 68; Bange, Oliver: SS 20 und Pershing II. Waffensysteme und die Dyna-
misierung der Ost-West-Beziehungen. In: Becker-Schaum [u. a.] (Hrsg.), „Entrüstet euch!“,
S. 71– 87; Geiger, NATO-Doppelbeschluss, S. 54– 70.
 Zur Rolle eines amerikanisch-deutschen Missverständnisses bei der Entstehung des NATO-
Doppelbeschlusses siehe: Haftendorn, Helga: Das doppelte Missverständnis. Zur Vorgeschichte
des NATO-Doppelbeschlusses von 1979. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 33 (1985) 2.
S. 244– 287; Zur Revision dieser These siehe außerdem: Lutsch, Andreas: Die Bundesrepublik
Deutschland als „nicht-nukleare Mittelmacht“ und der NATO-Doppelbeschluss (1978 – 1979). In:
Medien der Außenbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg.von Hoeres, Peter/Tischer,
Anuschka. Köln/Weimar/Wien 2017. S. 389 – 412.
 Geiger, NATO-Doppelbeschluss, S. 60.
 Neben den bereits zuvor genannten Studien siehe außerdem: Greiner, Bernd/Müller, Christian
Th./Weber, Claudia (Hrsg.): Ökonomie im Kalten Krieg. Hamburg 2010.
10 Einleitung

offensichtlich auf dem Vormarsch befanden. In Südostasien wie auch Afrika


hatten sozialistische Kräfte militärische Siege errungen. In den USA verstetigte
sich so das Feindbild eines aggressiven Sowjet-Kommunismus, der von der Ent-
spannungspolitik profitiert zu haben schien, während die Europäer mithilfe des
KSZE-Prozesses Austausch und Dialog mit dem Ostblock suchten und Feindbilder
aufzutauen begannen.³² Die amerikanische Verknüpfung der Entspannungspoli-
tik mit der Forderung zur Einhaltung von Menschenrechten hatte in den 1970er
Jahren bereits wesentlich zur Abkühlung der amerikanisch-sowjetischen Bezie-
hungen beigetragen.³³ Die Sanktionen, die Jimmy Carter als Reaktion auf den
sowjetischen Einmarsch in Afghanistan verhängte, der neben dem NATO-Dop-
pelbeschluss als weiterer Kulminationspunkt des Zweiten Kalten Krieges gesehen
wird,³⁴ drohten den Ost-West-Konflikt auf den Bereich der Wirtschaft auszudeh-
nen. Ohne die Sanktionen mit den europäischen Bündnispartnern abgesprochen
zu haben, lösten diese insbesondere in Paris erhebliche Widerstände gegen die
atlantische Solidarität aus. Dieser Mechanismus wiederholte sich später, als
Carters Nachfolger Ronald Reagan als Reaktion auf die Unterdrückung der So-
lidarność-Bewegung in Polen ebenfalls ohne Rücksprache mit den Partnern zum
Mittel wirtschaftlicher Sanktionen gegen Moskau und Warschau griff.³⁵
Die transatlantischen Konflikte beruhten aber nicht nur auf unterschiedli-
chen Wahrnehmungen, die die USA veranlassten, die Entspannungspolitik hinten
anzustellen, während insbesondere Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing
sich inständig bemühten, diese zu retten.³⁶ Der Bedeutungszuwachs der Staaten
der Europäischen Gemeinschaft (EG) im KSZE-Prozess, auf den Angela Romano
mehrfach verwiesen hat, muss dabei ebenfalls berücksichtigt werden: Zwar war
die Ostpolitik der Europäer durchaus heterogen, multilaterale Konsultationsme-
chanismen führten aber langfristig zu einer Vertiefung der europäischen Inte-
gration in der Außenpolitik.³⁷ Wie Sara Tavani und Helene Sjursen am Beispiel der

 Geiger, NATO-Doppelbeschluss, S. 55.


 Siehe dazu: Eckel, Jan: Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen
Politik seit den 1940ern. Göttingen 2014. S. 362– 513; Eckel, Jan (Hrsg.): Moral für die Welt?
Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren. Göttingen 2012.
 Vgl. Nuti, Origins, S. 57; Geiger, NATO-Doppelbeschluss, S. 54.
 Bresselau von Bressensdorf, Frieden, S. 310, 315.
 Vgl. Loth, Helsinki, S. 206 f.
 Vgl. Romano, Angela: From Détente in Europe to European Détente. How the West Shaped the
Helsinki CSCE. Brüssel [u. a.] 2009; Romano, Angela: The Main Task of the European Political
Cooperation. Fostering Détente in Europe. In: Villaume/Westad (Hrsg.), Iron Curtain, S. 122 – 141;
Romano, Angela: Shaping Pan-European Cooperation in the 1970s. Soviet Initiatives and the EEC-
Nine’s Response. In: Hiepel (Hrsg.), Europe, S. 27– 48.
Einleitung 11

Reaktionen auf das Kriegsrecht in Polen zeigen können,³⁸ wurde von den West-
europäern während der Krise der Détente die Notwendigkeit umso stärker
wahrgenommen, „to deal with Washington on more equal terms“³⁹. An dieser
Stelle wirkten entspannungs- mit wirtschafts- und bündnispolitischen Faktoren
zusammen: Jüngste Studien haben gezeigt, dass die 1970er Jahre keineswegs ein
dunkles Zeitalter der europäischen Integration waren, wie Zeitgenossen und
frühere Studien angenommen haben.⁴⁰ Zum einen wurde unlängst von Claudia
Hiepel bemängelt, dass der Zusammenhang von europäischer Integration und
Globalisierung bisher nicht konsequent von Historikern als Kategorie genutzt
wurde.⁴¹ Die Ursprünge der Single European Act des Jahres 1986, die die Aufnahme
neuer Politikfelder und institutionelle Reformen der EG anstieß, werden von den
Autoren des Bandes Europe in a Globalising World in den 1970er Jahren verortet,
wodurch die Geschichte der 1970er und frühen 1980er eher als „a history of em-
powerment than of stagnation and decline“⁴² erscheine. Institutionelle und po-
litische Entwicklungen der EG in den 1970er Jahren werden so im Lichte von
Globalisierungseffekten betrachtet, die durch die politischen Akteure als bisher
nicht gekannte Herausforderungen wahrgenommen wurden. Für die National-
staaten und EG-Akteure bedeutete dies, mit einer zunehmenden Interdependenz
umgehen zu lernen. Zum anderen fordern Patel/Weisbrode die Transformationen
in den Beziehungen zwischen Europa und den USA in einen globaleren Kontext
zu stellen.⁴³ So verweisen sie darauf, dass Fortschritte in der europäischen Inte-
gration nicht nur Resultat vom Ende des Ost-West-Konfliktes waren, sondern
gerade auch dessen Stimuli. Die Rolle der EG bei der Beendigung des Ost-West-
Konfliktes sei größer als ihr bisher zugesprochen werde.⁴⁴
Aus den unterschiedlichen Krisendimensionen und den Erkenntnissen der
beiden letztgenannten Bände ergibt sich ein Interaktionsfeld zwischen Globali-
sierung, europäischer Integration, transatlantischen Beziehungen und Ost-West-

 Vgl. Tavani, Sara: The Détente Crisis and the Emergence of a Common European Foreign
Policy. The „Common European Polish Policy“ as a Case Study. In: Hiepel (Hrsg.), Europe, S. 50;
Sjursen, United States.
 Tavani, Détente Crisis, S. 50.
 Vgl. Patel, Kiran Klaus/Weisbrode, Kenneth: Introduction. Old Barriers, New Openings. In:
European Integration and the Atlantic Community in the 1980s. Hrsg. von Patel, Kiran Klaus/
Weisbrode, Kenneth. New York 2013. S. 4; Hiepel (Hrsg.), Europe; Varsori, Antonio/Migani, Guia
(Hrsg.): Europe in the International Arena during the 1970s. Entering a Different World. Brüssel
2011.
 Hiepel Claudia: Introduction. In: Hiepel (Hrsg.), Europe, S. 11.
 Hiepel, Introduction, S. 14.
 Patel/Weisbrode, Introduction, S. 4.
 Patel/Weisbrode, Introduction, S. 8.
12 Einleitung

Beziehungen. Einerseits erwuchs die Stärkung der westeuropäischen Kooperation


teils aus der Notwendigkeit, sich Herausforderungen durch die Globalisierung zu
stellen, teils aus Frustration über Aktionen der amerikanischen Administration
wie beispielsweise den wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber dem Ostblock.
Andererseits unterstützten die Kooperation und das wachsende Selbstvertrauen
der Westeuropäer die Tendenz, eine amerikanische Hegemonie im westlichen
Bündnis nicht mehr zu akzeptieren.⁴⁵ Sara Tavani geht sogar soweit, dass die
Krise der Détente den entscheidenden Impuls darstellte, den es brauchte, die
politische Angleichung der Westeuropäer in außenpolitische Initiativen der EG zu
transformieren.⁴⁶ Zugleich waren sie jedoch weiterhin auf den nuklearen Schutz
der Vereinigten Staaten angewiesen. Der NATO-Doppelbeschluss vermochte es
vorerst, Spaltungen über sicherheitspolitische Vorstellungen zwischen einer
Stärkung europäischer Sicherheitsstrukturen und Ängsten vor einer Marginali-
sierung der NATO zu überdecken, die unter der Oberfläche und in den transat-
lantischen Beziehungen jedoch weiterhin schwelten. Da bisher allerdings wei-
testgehend unklar ist, welche Strategien und Handlungsimpulse europäische
Akteure daraus ableiteten, leistet diese Studie einen Beitrag zur Erschließung
dieses Desiderats.
Damit wären insgesamt die rüstungspolitischen, militärischen, bündnis- und
außenpolitischen sowie sozial- und wirtschaftspolitischen Dimensionen der Krise
am Übergang von den 1970er zu den 1980er Jahren umrissen. Ihre Ausläufer
reichten bisweilen bis in den kulturellen Bereich, wenn man unter anderem den
Boykott der Olympischen Spiele bedenkt. Insgesamt hatten die Konflikte unter-
schiedliche Facetten und gelten als Folge militärischer, sozioökonomischer und
ideologischer Transformationsprozesse.⁴⁷ Der NATO-Doppelbeschluss wird damit
in den Kontext von transatlantischen Debatten der frühen 1970er Jahre gestellt,
die letztlich aus einer „unbalanced nature“⁴⁸ der Beziehungen zwischen den USA
und Europa resultierten. Die Phase zwischen 1977 und 1983 sei daher Oliver Bange
zufolge „nicht nur als eine Periode der Konfrontation sondern auch des Wandels
in den internationalen Beziehungen“⁴⁹ zu verstehen. Denkt man einen Schritt
weiter, so erscheint es plausibel, dass die Konfrontationen – sowohl zwischen Ost
und West als auch innerhalb des westlichen Bündnisses – ihren Ursprung auch
darin fanden, dass die politischen Akteure, die vielfältigen Transformationspro-
zesse nicht einzuordnen vermochten und daher keine adäquaten Antworten auf

 Sjursen, United States, S. 134.


 Tavani, Détente Crisis, S. 55.
 Nuti, Leopoldo: Introduction. In: Nuti (Hrsg.), Crisis of Détente, S. 7.
 Nuti, Introduction, S. 7.
 Bange, SS 20, S. 84.
Forschungsstand 13

die Herausforderungen fanden. Stattdessen wurde von einigen (insbesondere


amerikanischen) Akteuren auf altbekannte Deutungsmuster – wie sowjetischer
Aggressivität oder sowjetischen Expansionismus – zurückgegriffen. Bei europäi-
schen Akteuren vollzog sich ein langsamer Bewusstseinswandel, dass das bipo-
lare Ordnungssystem immer weniger der erfahrenen Realität zu entsprechen
schien. Gleichwohl können vorherrschende Feindbilder nicht negiert werden, die
von Politikern in Ost und West als politische Ressource genutzt wurden. Insofern
ist Jan Hansens Befund vom „Abschied vom Kalten Krieg“⁵⁰ zwar einerseits
plausibel, lässt sich aber andererseits nicht generalisieren. Ausgehend von diesen
neuen Thesen ist aber eine Neubewertung der Ära Mitterrand unumgänglich. Die
transatlantischen Missverständnisse, die aus unterschiedlichen Perzeptionen der
internationalen Lage resultierten, führten zu Konflikten, die diese Studie in den
Kontext einer Neuverhandlung der transatlantischen Beziehungen stellt.
Insgesamt geht die Historiographie zum Ende des Ost-West-Konfliktes damit
weit darüber hinaus, die Ereignisse um 1989/1990 als Ergebnis der bilateralen
Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion zu sehen. Die Geschichte
vom Sieg des Westblocks über den Ostblock, wie sie einige Autoren erzählen, weil
eine herabgewirtschaftete Sowjetunion nicht mehr hätte mithalten können, er-
scheint angesichts dessen geradezu als unterkomplex.⁵¹

Forschungsstand

Unter den französischen Präsidenten wurde zu Charles de Gaulle sicherlich am


ausgiebigsten geforscht, der als nationaler Held mythenumwoben ist.⁵² Aber auch
die Amtsjahre und insbesondere die Person von François Mitterrand haben nach
dem Ende seiner Amtszeit eine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Intensive
Auseinandersetzung und kontroverse Deutungen haben dazu beigetragen, den
Mythos von Mitterrand als Sphinx heraufzubeschwören. Während Bewunderer
ihn für einen Visionär und Taktiker halten, sehen andere ihn als gnadenlosen
Machiavellisten und attestieren der Person Mitterrand eine tiefgreifende Ambi-

 Hansen, Abschied.
 Vgl. Gaddis, Der Kalte Krieg; Stöver, Der Kalte Krieg.
 Einschlägig zur Außenpolitik von Charles de Gaulle siehe: Vaïsse, Maurice: La Grandeur.
Politique étrangère du général de Gaulle, 1958 – 1969. Paris 1998; Für eine Gesamtdarstellung der
französischen Außenpolitik siehe:Vaïsse, Maurice: La puissance ou l’influence? La France dans le
monde depuis 1958. Paris 2009; Zur Dekonstruktion etablierter Mythen siehe: Loth, Wilfried:
Charles de Gaulle. Stuttgart 2015.
14 Einleitung

valenz und dem Präsidenten aufgrund mangelnder Voraussicht außenpolitische


Fehlentscheidungen.⁵³
Die deutsch-französischen Beziehungen stellen dies- wie jenseits des Rheins
ein klassisches Forschungsfeld dar, das häufig an Persönlichkeiten beziehungs-
weise Persönlichkeitspaaren festgemacht wird.⁵⁴ Obwohl die Archivbestände –
zumindest auf französischer Seite – inzwischen weitestgehend einsehbar sind,
wurde bisher keine überzeugende Gesamtdarstellung der deutsch-französischen
Beziehungen in den 1980er Jahren vorgelegt.⁵⁵ Dies mag auch der Tatsache ge-
schuldet sein, dass es aufgrund der zunehmenden Interdependenz an der
Schwelle zu den 1980er Jahren immer schwieriger wird, eine Geschichte bilate-
raler Beziehungen zu schreiben.⁵⁶ Aus sicherheitspolitischer Perspektive darf
Soutous Alliance incertaine weiterhin als einschlägige Gesamtdarstellung der
deutsch-französischen Beziehungen gelten.⁵⁷ Der Verdienst dieser Studie liegt
insbesondere darin, dass Soutou in der longue durée französische Ambitionen
und Debatten um eine mit den USA zwar verbündete aber zugleich unabhängige,
europäische Verteidigung klar herausarbeitet. Diese These vertrat auch Frédéric
Bozo, der in La France et l’OTAN argumentierte, dass die französische Politik seit
den Anfängen des Kalten Krieges von der Suche nach einer europäischen Identität

 Vgl. Lappenküper, Ulrich: Mitterrand und Deutschland. Die enträ tselte Sphinx. Mü nchen 2011;
Schwarz, Hans-Peter: Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten. Berlin
1998; Hildebrand, Klaus: Wiedervereinigung und Staatenwelt. Probleme und Perspektiven der
Forschung zur deutschen Einheit 1989/90. In: VfZ 52 (2004) 2. S. 193 – 210; Praus, Angelika: Das
Ende einer Ausnahme. Frankreich und die Zeitenwende 1989/90. Marburg 2014; Newton, Julie M.:
Gorbachev, Mitterrand, and the Emergence of the Post-Cold War Order in Europe. In: Europe-Asia-
Studies 65 (2013) 2. S. 290 – 320; Cohen, Samy (Hrsg.): Mitterrand et la sortie de la guerre froide.
Paris 1998. S. 372.
 Zuletzt erschienen: Waechter, Matthias: Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing auf der
Suche nach Stabilität in der Krise der 70er Jahre. Bremen 2011; Hiepel, Claudia: Willy Brandt und
Georges Pompidou. Deutsch-französische Europapolitik zwischen Aufbruch und Krise. München
2012; Petter, Dirk: Auf dem Weg zur Normalität. Konflikt und Verständigung in den deutsch-
französischen Beziehungen der 1970er Jahre. München 2014.
 Einen ereignisgeschichtlichen Überblick über Mitterrands Verhältnis zu Deutschland wurde
durch Ulrich Lappenküper vorgelegt, in dem jedoch dessen Anspruch, die „Sphinx“ Mitterrand zu
enträtseln nicht restlos eingelöst wird; siehe Lappenküper, Mitterrand und Deutschland.
 Zu bilateralen Beziehungen siehe außerdem: Cogan, Charles: Alliées eternels, ami ombra-
geux. Les Etats-Unis et la France depuis 1940. Brüssel 1999; Newton, Julie M.: Russia, France and
the Idea of Europe. London 2004.
 Soutou, Georges-Henri: L’Alliance incertaine. Les rapports politico-stratégique franco-alle-
mands, 1954– 1996. Paris 1996.
Forschungsstand 15

in der Verteidigungspolitik bestimmt gewesen sei.⁵⁸ Neben diesen Analysen, die


Forschungserkenntnisse über die Ursprünge innerer Konflikte sowie sicherheits-
politischer Traditionen liefern, liegen bereits Arbeiten zu Einzelthemen der 1970er
und 1980er Jahren vor.⁵⁹ Nicolas Badalassi untersuchte die französische Politik
während einer Phase der Entspannung im Ost-West-Konflikt von Mitte der 1960er
bis Mitte der 1970er Jahre. Hierbei konnte er zeigen, wie Frankreich die KSZE-
Verhandlungen als Instrument nutzte, um die Diplomatie der beiden Super-
mächte zu unterlaufen, die europäischen Staaten in den Entspannungsprozess zu
involvieren und die Détente damit insgesamt zu multilateralisieren. Zuletzt rich-
tete sich die Aufmerksamkeit auch in der Historiographie zu Frankreich zuneh-
mend auf die Krisenerscheinungen am Übergang zu den 1980er Jahren. Veronika
Heyde hat sich der französischen Entspannungspolitik unter Giscard d’Estaing
angenommen und herausgearbeitet, dass die Basis der französischen Außenpo-
litik in den 1970er Jahren weitestgehend unverändert fortbestanden habe.⁶⁰ Gi-
scard d’Estaing habe die Spannungen zwischen Ost und West lindern und zu-
gleich die französische Unabhängigkeit bewahren wollen. Die nationalen
Interessen Frankreichs habe er in einer Kombination aus bilateralen und multi-
lateralen Beziehungen versucht zu verteidigen. Unter Mitterrand habe es dann
keine Rettung der Détente um jeden Preis mehr gegeben. Stattdessen habe dieser
eine engere Kooperation mit den europäischen Partnern und insbesondere der
BRD gesucht. Eine politische Zäsur macht Heyde im Unterschied zu vielen an-
deren Autoren allerdings weniger an dem Amtswechsel des französischen Prä-
sidenten fest, sondern sieht diese vielmehr als Konsequenz der veränderten po-
litischen Großwetterlage. Sie setzt die Zäsur zwischen 1980 und 1982 insgesamt
breiter an – als Reaktion auf den Einmarsch in Afghanistan und die Unterdrü-
ckung der Solidarność in Polen. Damit unterstreicht sie den prozesshaften Cha-
rakter eines Bewusstseinswandels, den die politischen Akteure am Übergang von

 Bozo, Frédéric: La France et l’OTAN. De la guerre froide au nouvel ordre européen. Paris 1991.
S. 17.
 Siehe auch Badalassi, Nicolas: En finir avec la guerre froide. La France, l’Europe et le pro-
cessus d’Helsinki, 1965 – 1975. Rennes 2014; Chaput, Paul: La France face à l’initiative de défense
stratégique de Ronald Reagan (1983 – 1986). Paris 2014.
 Vgl. Heyde, Veronika: Frankreich im KSZE-Prozess. Diplomatie im Namen der europäischen
Sicherheit. Berlin/Boston 2017; Heyde, Veronika: Ambiguous Détente. The French Perception of
Stability at the End of the Seventies. In: Hiepel (Hrsg.), Europe, S. 69 – 87; Heyde, Veronika: Nicht
nur Entspannung und Menschenrechte. Die Entdeckung von Abrüstung und Rüstungskontrolle
durch die französische KSZE-Politik. In: Peter/Wentker (Hrsg.), KSZE, S. 83 – 98; Heyde, Veronika:
Entspannung, Menschenrechte, Abrüstung. Die KSZE-Politik Frankreichs in den 1970er Jahren. In:
Gotto [u. a.] (Hrsg.), Nach „Achtundsechzig“, S. 105 – 119.
16 Einleitung

den 1970er zu den 1980er Jahren durchliefen.⁶¹ Georges-Henri Soutou arbeitet


einen deutsch-französischen Annäherungsprozess gegen Ende der 1970er Jahre
heraus und hebt die zunehmenden Übereinstimmungen in der Perzeption der
internationalen Lage hervor. Die gemeinsamen Sorgen hinsichtlich der interna-
tionalen und wirtschaftlichen Politik der Carter-Administration habe Paris und
Bonn zu einer engeren Kooperation veranlasst.⁶² Diese Erkenntnisse fügen sich
ein in die bereits erwähnten jüngsten Forschungsergebnisse zu den politischen
Prozessen in den 1970er Jahren und stützen diese.
Die Historiographie hat François Mitterrand bisweilen unterstellt, mit seinem
Amtsantritt einen politischen Richtungswechsel vollzogen zu haben.⁶³ Während
sein Vorgänger eine mildere Haltung in den Ost-West-Beziehungen eingenommen
habe, schien Mitterrand eine härtere Politik gegenüber dem Osten anzustoßen –
so das gängige Narrativ, das Veronika Heyde mit ihrer Studie zumindest hinter-
fragt, indem sie eine politische Zäsur bereits früher veranschlagt.⁶⁴ Mitterrand
habe, so die Meistererzählung weiter, eine Annäherung an Frankreichs westliche
Verbündete gesucht. Insbesondere seine Bundestagsrede, in der er für beide
Seiten des NATO-Doppelbeschlusses eintrat, wird häufig fehlinterpretiert und
gerne als Argument herangezogen, um sein „zurück zur Allianz“⁶⁵ oder eine
mitterrand’sche atlantische Wende zu belegen. Frédéric Bozo spricht seinerseits
zwar auch von einem „shift in French policy in 1981“⁶⁶, gesteht aber ein: „there
was far more continuity in its [France’s] policies before and after 1981 than meets
the eye.“⁶⁷ Die Fragen, inwieweit der Amtsantritt von François Mitterrand tat-
sächlich mit einem politischen Kurswechsel einherging und auf welchen Motiven
seine Aktionen gründeten, wurden bisher nicht systematisch erforscht und stellen
daher ein Forschungsdesiderat dar, das durch die vorliegende Untersuchung er-
schlossen werden soll.

 Heyde, Ambiguous Détente, S. 86 f.


 Vgl. Soutou, Georges-Henri: La France et la RFA au milieu des années 70. Une prise de distance
à l’égard des Etats-Unis? In: Gotto [u. a.] (Hrsg.), Nach „Achtundsechzig“, S. 91– 103.
 Vgl. z. B. Praus, Ende; Gordon, Philip: A Certain Idea of France. French Security Policy and the
Gaullist Legacy. Princeton 1993; Sjursen, United States, S. 125.
 Heyde, Ambiguous Détente, S. 86 f.
 Soutou, Georges-Henri: Mitläufer der Allianz? Frankreich und der NATO-Doppelbeschluss. In:
Gassert [u. a.] (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg, S. 376.
 Bozo, Frédéric: Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification. New York/Oxford
2009. S. 3. [=Bozo, Frédéric: Mitterrand, la fin de la guerre froide et l’unification allemande. De
Yalta à Maastricht. Paris 2005.]
 Bozo, Frédéric: Before the Wall: French Diplomacy and the Last Decade of the Cold War,
1979 – 89. In: Njølstad (Hrsg.), Last Decade, S. 289.
Forschungsstand 17

Ein widersprüchliches Bild von Mitterrands Politik wird gewiss dadurch er-
zeugt, dass seine Aktionen sich beizeiten widersprachen. Allerdings sollte eine
Analyse nicht bei dieser Feststellung stehen bleiben, sondern vielmehr nach den
Motiven des französischen Präsidenten und nach seiner politischen Konzeption
fragen. Die ambivalenten Impulse scheinen nämlich gerade der Tatsache ge-
schuldet, dass sich Mitterrand mit der Bewältigung einer doppelten Krise kon-
frontiert sah, die ihn einem Dilemma zwischen Bündnissicherung und Entspan-
nungspolitik aussetzte. Überzeugende Erklärungen für Mitterrands vermeintliche
Widersprüchlichkeit liefert Elke Bruck, indem sie sie auf widerstreitende Wahr-
nehmungsmuster zurückführt.⁶⁸
Zu Mitterrands ersten Amtsjahren wurde ein aufschlussreicher Sammelband
vorgelegt,⁶⁹ dessen Beiträge auf Grundlage aussagekräftiger Archivdokumente
Einzelfacetten von Mitterrands Sicherheitspolitik, wie bilaterale Beziehungen,
verteidigungs- oder europapolitische Aktionen untersuchen. Allerdings werden
diese Einzelbeiträge nicht hinreichend zueinander in Interaktion gestellt, wenn-
gleich dies dem Rahmen der Publikation geschuldet ist. Eine Studie zu Mitter-
rands Sicherheitspolitik muss insgesamt darüber hinausgehen und die europäi-
sche Dimension seiner Politik im Kontext und Wechselverhältnis von Ost-West
und transatlantischen Beziehungen sowie Globalisierungseffekten verstehen.
Dafür liefern diese Beiträge bereits wichtige grundlegende Erkenntnisse. Frédéric
Bozo hat darauf verwiesen, dass Mitterrands Vorstellungen auf den geopoliti-
schen Vorstellungen von einem vereinten strategischen Europa Charles de Gaulles
gründeten.⁷⁰ Obwohl er auch auf Mitterrands Vermittler-Rolle zwischen Ronald
Reagan und Michail Gorbatschow aufmerksam macht,⁷¹ hat er doch bisher weder
dessen Vermittlungsstrategien erforscht, noch konnte er den ambivalenten Ein-
druck französischer Politik während der Cohabitation erklären, als Mitterrand
sich die Exekutive mit einer konservativen Regierung unter Jacques Chirac teilte.
Die deutsche Wiedervereinigung stellt einen der bislang am kontroversesten
diskutierten Aspekte in der Historiographie zu François Mitterrand dar, bei dem
sich grob zwei Forschungsstränge gegenüberstehen. Einige Autoren attestieren
dem französischen Präsidenten entweder außenpolitische Fehlentscheidungen
oder unterstellen ihm beharrlich, eine deutsche Wiedervereinigung nur wider-

 Bruck, Elke: François Mitterrands Deutschlandbild. Perzeption und Politik im Spannungsfeld


deutschland-, europa- und sicherheitspolitischer Entscheidungen 1989 – 1992. Frankfurt am Main
2003.
 Berstein, Serge/Bianco, Jean-Louis/Milza, Pierre (Hrsg.): François Mitterrand. Les années du
changement 1981– 1984. Paris 2001.
 Bozo, Before the Wall, S. 295.
 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 15.
18 Einleitung

willig akzeptiert zu haben.⁷² Sie vertreten die These, Mitterrand habe diese blo-
ckieren wollen oder gar versucht, mit Magaret Thatcher und Michael Gorbatschow
zu konspirieren.⁷³ Diese Thesen gründen auf einem methodischen Problem, da
sich die Autoren wenig für Perzeptionen und Handlungsmotive interessieren und
sich nicht von der überholten Grundannahme lösen können, wonach „die Ge-
schichte internationaler Beziehungen im Kern im Ringen um Macht aufgehe“⁷⁴.
Umso erstaunlicher sind diese Schlussfolgerungen, da bereits Publikationen
vorgelegt wurden, die zeigen konnten, dass Mitterrand sich keineswegs gegen
eine deutsche Wiedervereinigung gestellt hat, sondern vielmehr versuchte, diese
durch ein aktives Vorantreiben der europäischen Integration abzusichern, um so
potentiellen künftigen Konflikten vorzubeugen.⁷⁵ Frédéric Bozo hat zu dieser
Thematik eine umfassende Gesamtdarstellung vorgelegt, die als Standardwerk
gelten kann.⁷⁶ Durch Elke Bruck wurde 2003 eine politikwissenschaftliche Arbeit
zu Mitterrands Verhältnis zu Deutschland mit einem Schwerpunkt auf dem Um-
bruch von 1989 – 1992 vorgelegt.⁷⁷ Zwar stützt sich diese nicht auf eine Auswer-
tung der Akten von Elysée und Quai d’Orsay, überzeugt aber sowohl hinsichtlich
der theoretisch-methodischen Ausrichtung als auch hinsichtlich der Fragestel-
lung. Indem Bruck einen kognitionsgeleiteten und sozialpsychologischen Ansatz
wählt, gelingt es ihr, Mitterrands mitunter sehr widersprüchliche deutschland-
bezogene Wahrnehmungsschemata herauszuarbeiten und deren Wandel und
Einfluss auf deutschland-, europa- und sicherheitspolitische Entscheidungen des
Staatspräsidenten zu untersuchen. Individuelle Wahrnehmungs- und Deutungs-
muster stehen bei Bruck zwar ausdrücklich im Vordergrund, allerdings be-
schränkt sie sich auf die Person François Mitterrand ebenso wie auf sein Bild von
Deutschland. Die vorliegende Arbeit fügt Mitterrands Perzeptionen der Realität
insgesamt in ein größeres personales Umfeld seiner Regierungsmannschaft ein
und beschränkt sich nicht ausschließlich auf deutschlandbezogene Denkbilder.
Durch ihren theoretischen Ansatz und die Abkehr von der realistischen Schule
kommt Elke Bruck insgesamt zu einer überzeugenden Lesart von Mitterrands

 Vgl. Cohen (Hrsg.), Mitterrand, S. 372.


 Vgl. u. a. Praus, Ende; Lappenküper, Mitterrand und Deutschland; Hildebrand, Wiederverei-
nigung; Schwarz, Gesicht.
 Pyta, Wolfram: Hegemonie und Gleichgewicht. In: Dimensionen internationaler Geschichte.
Hrsg. von Dülffer, Jost/Loth, Wilfried. München 2012. S. 373.
 Vgl. Schabert, Tilo: Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die Deutsche Einheit.
Stuttgart 2002; Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification; Vaïsse,
Maurice/Wenkel, Christian (Hrsg.): La diplomatie française face à l’unification allemande. Paris
2011.
 Siehe Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification.
 Siehe Bruck, Deutschlandbild.
Methodik und Materialgrundlage 19

Rolle im Prozess der deutschen Wiedervereinigung. Doch die jüngste Publikation


von Angelika Praus zeigt, dass es nach wie vor Autoren gibt, die Mitterrand 1989/
1990 ein Dominanzstreben gegenüber Deutschland unterstellen und ihm eine
gestaltende Rolle im Wiedervereinigungsprozess absprechen.⁷⁸ Die vorliegende
Arbeit muss also auch die Leistung erbringen, Mitterrands Aktionen im Prozess
der deutschen Wiedervereinigung in seine sicherheitspolitischen Vorstellungen
und Impulse seit seinem Amtsantritt 1981 einzufügen. War er möglicherweise im
Gegensatz zu anderen Staatschefs besser darauf vorbereitet, weil er bereits früh
die Möglichkeit eines Umbruchs der internationalen Staatengemeinschaft wahr-
genommen hat? Verfügte er über ein klares Konzept oder wurde er von den
plötzlichen Ereignissen überrascht? Gelang es den französischen Akteuren eine
Strategie zu entwickeln, um mit dieser Herausforderung umzugehen?
Obwohl also bereits einige archivgestützte Studien zu einzelnen Themenfel-
dern der Ära Mitterrand vorgelegt wurden, bleiben weiterhin viele Fragen offen.
Eine systematische Analyse und damit valide Forschungsergebnisse zu mitter-
rand’schen politischen Konzeptionen und Aktionen zwischen dem Zweiten Kalten
Krieg und einer neuen Entspannung bis hin zum Ende des Ost-West-Konfliktes
unter Berücksichtigung des Handlungsspielraums und Interessenkonflikten in
den 1980er Jahren steht somit noch aus. Dies hat nicht zuletzt methodische Ur-
sachen, die zum Teil auch strukturell in den Traditionen französischer Ge-
schichtsschreibung der internationalen Beziehungen begründet liegen.

Methodik und Materialgrundlage – Wie kann eine Geschichte


der internationalen Beziehungen heute geschrieben werden?
Da diese Studie den Anspruch erhebt, einen innovativen Beitrag sowohl zur Ge-
schichte der internationalen Beziehungen als auch zur historischen Außenpoli-
tikforschung zu leisten, ist es erforderlich, sich ihrer Traditionen bewusst zu sein.
In Deutschland wie in Frankreich wird sie häufig mit dem Vorwurf von Konser-
vatismus und Theorie-Ferne konfrontiert. Debatten, die in Deutschland seit den
1970er Jahren mit der Entstehung einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und
weiteren Turns geführt wurden, spiegeln sich in der Politisierung dieser Frage in
Frankreich, wo die Politikgeschichte seitens der Annales unter Konservatismus-
Verdacht gestellt wurde.⁷⁹ Die französische Schule der Geschichte der interna-

 Siehe Praus, Ende.


 Vgl. Hudemann, Rainer: Frankreich – Histoire du Temps présent zwischen nationalen Pro-
blemstellungen und internationaler Öffnung.Version 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 19.9. 2011.
20 Einleitung

tionalen Beziehungen hat eine sehr lange Tradition, die tief in der Außenpolitik
Frankreichs verwurzelt ist. Sie weist eine stark nationalstaatlich orientierte Aus-
richtung mit einer Konzentration auf nationale Interessen auf.⁸⁰ Diese Charakte-
ristik ist strukturell in der Entwicklung der französischen Geschichtsschreibung
der internationalen Beziehungen begründet. In Frankreich gab es seit jeher eine
besonders enge Interdependenz zwischen Forschung und nationalem Selbstver-
ständnis und die langjährige nationalstaatliche Verengung erwuchs auch aus der
Auseinandersetzung mit nationalen Problemen. Hinzu kommt außerdem, dass
die enge Verbindung von Politik, Gesellschaft und Zeitgeschichtsforschung sich
auch institutionell niederschlug und die Bindung von Forschung und Lehre an
den Staat stärker ist als in anderen Ländern.⁸¹
Allerdings blieb die französische Schule internationaler Beziehungen seit
ihrem Gründervater Albert Sorel im 19. Jahrhundert, der noch vorwiegend die
Kontinuität nationaler Interessen und das Ringen um Hegemonie und Gleichge-
wicht im Blick hatte, nicht unberührt von methodischen Innovationen.⁸² Durch
das Theoriemodell der forces profondes von Pierre Renouvin und methodischen
Neuerungen durch Jean-Baptiste Duroselle wurden zahlreiche Einflussfaktoren
auf die Außenpolitik, wie innenpolitische oder geographische Faktoren, in
Rechnung gestellt.⁸³ Damit entwickelte sich die französische Schule nicht nur von
einer reinen Diplomatiegeschichte zur Geschichte der internationalen Bezie-
hungen. Auch der Einfluss der Annales machte sich bemerkbar, indem die longue
durée gegenüber kurzfristigen Abläufen politischer Ereignisse integriert wurden.
Die französische Schule ist gekennzeichnet von den forces profondes und der
Rolle des Individuums in außenpolitischen Entscheidungsprozessen. Diese Tra-
dition weist einige methodologische Schwierigkeiten auf, indem sie häufig in der
Sichtweise der realistischen Schule verhaftet bleibt. Weiterhin problematisch ist
auch, dass mit dem Primat nationaler Interessen ein Desinteresse an der Erfor-
schung multilateraler Interaktionen im internationalen und europäischen System

S. 1– 23. http://docupedia.de/zg/Frankreich_-_Histoire_du_Temps_present (22.03. 2018). [=Wie-


derveröffentlichung von Hudemann, Rainer: Histoire du Temps présent in Frankreich. Zwischen
nationalen Problemstellungen und internationaler Öffnung. In: Zeitgeschichte als Problem. Na-
tionale Traditionen und Perspektiven in Europa. Hrsg. von Nützenadel, Alexander/Schieder,
Wolfgang. Göttingen 2004. S. 175 – 200.]
 Vgl. Soutou, Georges-Henri: Die französische Schule der Geschichte der internationalen Be-
ziehungen. In: Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten. Hrsg. von Loth,
Wilfried/Osterhammel, Jürgen. München 2000. S. 31.
 Vgl. Hudemann, Frankreich, S. 2, 4– 6.
 Soutou, Französische Schule, S. 34.
 Vgl. dazu Renouvin, Pierre/Duroselle, Jean-Baptiste: Introduction à l’histoire des relations
internationales. Paris 1964.
Methodik und Materialgrundlage 21

und an Interaktionen, die über zwischenstaatliche Beziehungen hinausgehen,


einhergeht.⁸⁴
In dieser Hinsicht kann diese Studie von theoretischen und methodischen
Innovationen profitieren, die einerseits durch die angelsächsische Forschung
Eingang in Theoriedebatten der internationalen Beziehungen gefunden haben.
Andererseits begannen Historiker einer Internationalen Geschichte um die Jahr-
tausendwende systematisch über methodologische Grundannahmen einer Ge-
schichtsschreibung internationaler Beziehungen nachzudenken.⁸⁵ Die realisti-
sche Schule war bereits seit den 1970er Jahren in die Kritik geraten, als neben rein
interessengeleitete Akteure auch der Blick für Wahrnehmungsfilter und soziale
Kontexte trat.⁸⁶ In den angelsächsischen Politikwissenschaften der internatio-
nalen Beziehungen wurden richtungsweisende Publikationen zu dem Zusam-
menhang von Weltbildern, Wahrnehmungsprozessen und politischen Entschei-
dungen vorgelegt.⁸⁷ Problematisch an der realistischen Schule war insbesondere,
dass sie nationale Interessen zu einer analytischen Kategorie erhob.⁸⁸ Darauf,
dass ein auf Rationalität basierendes Handlungsmodell der realistischen Schule
keine hinreichenden Erklärungen für das Handeln politischer Akteure liefert,
wurde inzwischen vielfach hingewiesen.⁸⁹ Wie diese Studie sich den methodi-
schen Herausforderungen einer Geschichte internationaler Beziehungen stellt
und Probleme der realistischen Schule versucht zu umgehen, wird noch näher
erläutert.
Den Auseinandersetzungen zwischen einer traditionellen Diplomatie- und
Außenpolitikgeschichte und einer kulturgeschichtlich und konstruktivistisch

 Siehe dazu insgesamt: Soutou, Französische Schule.


 Dafür einschlägig: Loth/Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte.
 Vgl. Niedhart, Gottfried: Selektive Wahrnehmung und politisches Handeln. Internationale
Beziehungen im Perzeptionsparadigma. In: Loth/Osterhammel (Hrsg.), Internationale Ge-
schichte, S. 142 f.
 Vgl. Niedhart, Selektive Wahrnehmung, S. 142; siehe ferner: Jervis, Robert: The Logic of Images
in International Relations. Princeton 1970; Jervis, Robert: Perception and misperception in in-
ternational politics. Princeton 1976; Little, Richard/Smith, Steve (Hrsg.): Belief Systems and In-
ternational Relations. Oxford 1988; Goldstein, Judith/Keohane, Robert O. (Hrsg.): Ideas and For-
eign Policy. Beliefs, Institutions and Political Change. Ithaca/London 1993; Vertzberger, Yaacov Y.:
The World in Their Minds. Information Processing, Cognition and Perception in Foreign Policy
Decisionmaking. Stanford 1990.
 Vgl. Niedhart, Selektive Wahrnehmung, S. 151.
 Vgl. Niedhart, Selektive Wahrnehmung; Lehmkuhl, Ursula: Entscheidungsprozesse in der
internationalen Geschichte. Möglichkeiten und Grenzen einer kulturwissenschaftlichen Fundie-
rung außenpolitischer Entscheidungsmodelle. In: Loth/Osterhammel (Hrsg.), Internationale
Geschichte, S. 187– 207; Loth, Wilfried: Angst und Vertrauensbildung. In: Dülffer/Loth (Hrsg.),
Dimensionen, S. 29 – 46.
22 Einleitung

ausgerichteten Geschichtsschreibung ist auch immer die Frage inhärent, welche


Gewichtung zwischen langfristigen Strukturen und Akteuren beziehungsweise
einzelnen Individuen vorzunehmen ist. Ursula Lehmkuhl forderte explizit, diese
Dichotomie zu überwinden, und plädierte stattdessen für eine Vermittlung zwi-
schen diesen beiden Faktoren. Sie bezeichnet Normen, Werte und Ideen als
„Triebkräfte“ menschlichen Handelns und sah internationale Beziehungen im-
mer als ein Resultat menschlicher Interaktion.⁹⁰ Damit wird ein rationalistisches
Menschenbild zugunsten einer konstruktivistischen Sichtweise aufgegeben, da
ihr zufolge Akteure auf Grundlage kontextbezogener Bedeutungen handeln, die
sie Objekten „zuschreiben“.⁹¹ Missverständnisse zwischen Akteuren – bezie-
hungsweise kognitive Dissonanzen, wie Lehmkul es nennt – können auf unter-
schiedlichen Ebenen entstehen: Die Bewertung von Gefahren – also von den
Akteuren vorgenommenen Zuschreibungen – können ebenso variieren wie die
Bewertung adäquater Maßnahmen, auf diese zu reagieren.⁹² Olav Njølstad be-
schreibt die 1980er Jahre als eine Periode, die Individuen viel Raum gelassen
habe, den Gang der Geschichte zu beeinflussen, ob nun durch erfolgreiche In-
itiativen, Fehlinterpretationen oder misslungene politische Aktionen.⁹³ Und in der
Tat ist es angebracht, darüber nachzudenken, dass gerade in Momenten größter
Unsicherheit, in denen Akteure das Scheitern althergebrachter Konzepte erfahren
und neue Lösungsansätze entwickeln müssen, jene Momente sind, in denen in-
dividuelle Wahrnehmungen und Vorstellungen besonders entscheidend und
einflussreich sein können.⁹⁴ Zugleich ist in eben diesen Momenten der Unsi-
cherheit der Raum für Akteure besonders gegeben, durch neue Handlungsme-
chanismen, Strukturen zu beeinflussen und zu verändern, auf deren Grund ihre
Wahrnehmungs- und Handlungsmuster erst basieren. Eben diesem Wechselver-
hältnis zwischen Struktur und Handeln trägt die vorliegende Arbeit Rechnung.
Die Gründe, warum Akteure bestimmte Entscheidungen trafen, die zu spe-
zifischen Handlungsimpulsen führten, ist gerade im Hinblick auf die europäi-
schen Akteure in der Endphase des Ost-West-Konfliktes nicht hinreichend er-
forscht. Aus diesem Grund nimmt diese Studie eine dezidiert akteurszentrierte
Perspektive ein, indem nach der Rolle von Persönlichkeiten, der Entwicklung und
Veränderung verschiedener Zukunftsvorstellungen und ihrem Gewicht in den

 Lehmkuhl, Entscheidungsprozesse, S. 192 f., Zitat S. 193.


 Lehmkuhl, Entscheidungsprozesse, S. 196.
 Lehmkuhl, Entscheidungsprozesse, S. 202.
 Njølstad, Introduction, S. xx.
 Diesem Gedanken folgt auch Stein, Janice Gross: Psychological Explanations of International
Conflict. In: Handbook of International Relations. Hrsg. von Carlsnaes, Walter/Risse, Thomas/
Simmons, Beth. London [u. a.] 2002. S. 292 f.
Methodik und Materialgrundlage 23

historischen Prozessen gefragt wird. Zugleich darf der Fokus dabei nie auf nur
einem Akteur alleine liegen; viel wichtiger ist es, Akteure in einem Interaktions-
verhältnis zu sehen.⁹⁵ Damit geht diese Arbeit insgesamt sowohl hinsichtlich der
Fragestellung als auch in ihrem Verständnis von Außenpolitik über die Ansätze
der konventionellen Diplomatiegeschichte hinaus.
Es gibt bereits vergleichbare Studien, die die Strategien eines oder mehrerer
Akteure erforschen, mit Herausforderungen in den internationalen Beziehungen
und insbesondere während der Krise der Entspannung zu Beginn der 1980er Jahre
umzugehen. Unlängst legte Agnes Bresselau von Bressensdorf eine Studie vor, in
der sie die medialen Kommunikationsleistungen des langjährigen deutschen
Außenministers Hans-Dietrich Genscher erforscht und nach dessen Krisenma-
nagement im Zweiten Kalten Krieg fragt. Sie kommt nach ihren Untersuchungen
zu dem Ergebnis, dass Genscher bündnisinterne Konflikte mit einer Verzöge-
rungstaktik versuchte zu entschärfen und attestiert ihm „entspannungspoliti-
sche[s] Verständnis“, da seine Kommunikationsfähigkeit bei der Zuspitzung von
Krisen nicht ab-, sondern zugenommen habe.⁹⁶ Arbeiten dieser Art lassen sich
Untersuchungen zu den Strategien anderer Akteure, wie beispielsweise der vor-
liegenden zu François Mitterrand gegenüberstellen: Auf diese Art und Weise zeigt
sich, wie Akteure der internationalen Beziehungen unterschiedliche Handlungs-
strategien und Bewältigungsmechanismen für spezifische Herausforderungen
entwickeln. Mit diesem Ansatz lassen sich bi- und multilaterale Konfliktkonstel-
lationen erklären, wenn diese Strategien beispielsweise zu inkompatiblen
Handlungsimpulsen führten.
Die Theorielandschaft in der Disziplin der internationalen Beziehungen hat
eine breite Ausdifferenzierung erfahren und sich schon seit geraumer Zeit von
Prämissen der konventionellen Diplomatiegeschichte und realistischen Schule
verabschiedet. Diese Studie schließt sich der Annahme an, dass eine theoretische
Engführung von Außenpolitik als Verfolgung nationalstaatlicher Interessen, zu
keinen validen Forschungsergebnissen führen kann. Sie soll daher durch ver-
schiedene methodische Grundannahmen aufgebrochen werden: Erstens darf sich
die Analyse von Außenpolitik nicht allein auf staatliche Akteure beschränken.
Prämissen traditioneller Außenpolitik-Geschichte werden also auch dadurch er-
weitert, dass nichtstaatliche Akteure bei der Analyse von außenpolitischem
Handeln in Rechnung gestellt werden. Durch ein Interaktionsverhältnis von In-
nen- und Außenpolitik sowie politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher

 Vgl. Sjursen, United States, S. 141.


 Bresselau von Bressensdorf, Frieden, S. 315.
24 Einleitung

Akteure wird die Internationale Geschichte insgesamt zu einer Verflechtungsge-


schichte.⁹⁷
In Zusammenhang mit diesen nationalen Interessen geht die traditionelle
Diplomatiegeschichte zweitens meist von der Grundannahme aus, dass es in den
internationalen Beziehungen grundsätzlich um das Ringen um Macht und dem
Streben nach Hegemonie gehe. Demnach haben Staaten eigene Interessen und
ihre Beziehungen untereinander seien geprägt von deren Durchsetzung. Gerade
jene Fehleinschätzungen in der Historiographie, die François Mitterrand als Ma-
chiavellisten skizzieren und ihm rücksichtslose Machtpolitik unter der Nutzung
jedweder Mittel vorwerfen, beruhen darauf, dass Macht zu einer Analysekategorie
erhoben wird. Entweder wird Frankreich als personalisiertem Akteur oder Mitt-
errand als Einzelakteur unterstellt, nach Dominanz gegenüber Deutschland und
einem Führungsanspruch in Europa zu streben. Diese Problematik soll umgangen
werden, indem der diesen Thesen inhärente Gegensatz zwischen Hegemonie und
Kooperation aufgehoben wird. Wolfram Pyta gibt zu bedenken, dass Hegemoni-
almächte sich durchaus normativen Prämissen zwischenstaatlicher Zusammen-
arbeit unterordnen können und eher nach einer stabilen Friedensordnung als
nach Dominanz streben.⁹⁸ Wenn man von diesen Überlegungen ausgeht, kommt
man zu einer anderen Bewertung von Mitterrands Politik und den 1980er Jahren
insgesamt.
Drittens wählt diese Studie einen konstruktivistischen Ansatz, indem sie von
Niedharts „Perzeptionsparadigma“⁹⁹ ausgeht und Fehlperzeptionen in Rechnung
stellt, die die Akteure in ein Sicherheitsdilemma¹⁰⁰ führen können. Sie nimmt
damit gleichsam Distanz zum Realismus beziehungsweise neorealistischen
Grundannahmen. Ändern sich die Perzeptionen der Akteure, so verändert sich
auch ihr politisches Agieren; der Akteur beziehungsweise das Individuum steht
damit im Zentrum der Analyse.¹⁰¹ Dieser methodische Ansatz geht davon aus,
dass Vorstellungen von der Realität das Ergebnis selektiver Wahrnehmungen
sind. Niedhart spricht von „vielfältige[n] Möglichkeiten der Perzeption dieser

 Siehe dazu z. B. Dülffer, Jost/Loth,Wilfried: Einleitung. In: Dülffer/Loth (Hrsg.), Dimensionen,


S. 2; Hoeres, Peter: Außenpolitik und Öffentlichkeit. Massenmedien, Meinungsforschung, und
Arkanpolitik in den deutsch-amerikanischen Beziehungen von Erhard bis Brandt. München 2013.
S. 34.
 Vgl. zu diesem Konzept: Pyta, Hegemonie, S. 373 f.
 Niedhart, Selektive Wahrnehmung.
 Zum Sicherheitsdilemma siehe: Herz, John H.: Idealistischer Internationalismus und das
Sicherheitsdilemma (1950). In: Staatenwelt und Weltpolitik. Aufsätze zur internationalen Politik
im Nuklearzeitalter. Hrsg. von Herz, John H.. Hamburg 1974. S. 39 – 56; siehe außerdem: Loth,
Teilung der Welt; Loth, Krieg, der nicht stattfand; Loth, Angst und Vertrauensbildung.
 Siehe dazu auch Bresselau von Bressensdorf, Frieden, S. 14.
Methodik und Materialgrundlage 25

Realitäten“¹⁰²: Diplomaten, Außenpolitiker, Beamte und ihre jeweiligen Prakti-


ken, wie Informationen sammeln und Einschätzungen vornehmen, seien mit der
Realität verbunden, indem sie sie rezipieren. Informationsdefizite ließen dabei
Raum zur Spekulation.¹⁰³ Mit dieser Erkenntnis erklärt Helene Sjursen beispiels-
weise die Reaktionen der westlichen Verbündeten auf das Kriegsrecht in Polen,
die das „lack of knowledge“¹⁰⁴ mit der Sorge um eine sowjetische Intervention in
Polen ausfüllten. Sie stellt ebenso wie Niedhart fest, dass diese perzipierte Rea-
lität für die Akteure den Status von Realität besitze und als Orientierungshilfe zur
Handlungsgrundlage werde. Bedrohungsperzeptionen, denen im Kontext des Ost-
West-Konfliktes eine besondere Bedeutung zukommt, finden schon längere Zeit
Beachtung in der Forschung der internationalen Beziehungen.¹⁰⁵ Janice Gross
Stein zeigt unterschiedliche Entstehungsbedingungen und Erklärungen für Be-
drohungsperzeptionen auf und arbeitet sowohl psychologische als auch nicht-
psychologische Ursachen heraus. Auch sie hebt die Bedeutung von Wissen be-
ziehungsweise Informationen hervor: Problematisch sei ihrer Ansicht nach we-
niger die Art, wie Akteure an Informationen gelangen als vielmehr die Ambiguität
der wenigen Informationen, die sie bekommen, um defensive von offensiven
Maßnahmen zu unterscheiden.¹⁰⁶ Wenn Wahrnehmungen erst einmal verankert
sind, sind sie äußerst resistent für Wandel. Dies gilt in besonderem Maße für
Feindbilder. Kognitive Psychologen haben darauf verwiesen, dass beliefs und
belief-systems die Informationsverarbeitung beeinflussen und sowohl erfah-
rungsbasiertes Wissen als auch Werte und Vorstellungen von favorisiertem Ver-
halten implizieren. Trotz der relativen Stabilität von Bedrohungsperzeptionen ist
ein Wandel jedoch keineswegs grundsätzlich ausgeschlossen. Gleichwohl erfah-
ren sie keine schnellen Umwälzungen, sondern wandeln sich eher langsam in der
Zeit.¹⁰⁷ Gleichzeitig verweist Stein darauf, dass Feindbilder „an emotional di-
mension of strong dislike“ implizieren.¹⁰⁸ Grundsätzlich konstatiert sie „the in-
terconnectedness of emotion and perception“¹⁰⁹.

 Niedhart, Selektive Wahrnehmung, S. 144.


 Vgl. Niedhart, Selektive Wahrnehmung, S. 145.
 Sjursen, United States, S. 140.
 Vgl. Rousseau, David L./Garcia-Retamero, Rocio: Identity, Power and Threat Perception. A
Cross-National Experiment Study. In: Journal of Conflict Resolution 51 (2007) 5. S. 744; siehe
ferner: Stein, Janice Gross: Threat Perception in International Relations. In: The Oxford Handbook
of Political Psychologie. Second Edition. Hrsg. von Huddy, Leonie/Sears, David/Levy, Jack. Ox-
ford/New York 2013. S. 364; Jervis, Perception.
 Stein, Threat Perception, S. 367 f.
 Vgl. Stein, Psychological Explanations, S. 293 – 295.
 Stein, Psychological Explanations, S. 294.
 Stein, Threat Perception, S. 386.
26 Einleitung

Daher lässt sich viertens der Ansatz um das „Perzeptionsparadigma“, der


schon seit einiger Zeit in der Geschichtsschreibung der internationalen Bezie-
hungen verankert ist, mit neueren Überlegungen zum Verhältnis von Emotionen
und politischem Handeln verbinden. Bormann/Freiberger/Michel stellten bei-
spielsweise fest, dass der kausale Zusammenhang von Wahrnehmung und Han-
deln sich durchaus auf die Wechselwirkung von Emotionen und Handeln über-
tragen lasse.¹¹⁰ Während Birgit Aschmann im Anschluss an Joseph LeDoux
darlegt, dass Gefühle die Selbst- und Fremdwahrnehmung bestimmen,¹¹¹ setzt die
vorliegende Studie eher ein Wechselverhältnis zwischen Emotion und Wahrneh-
mung voraus, die sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Nachdem die
Historiographie lange Zeit Hemmungen hatte, sich der Emotionsforschung zu
öffnen und Gefühle als „schwer fassbaren Bestandteil menschlichen Seins“¹¹² zu
berücksichtigen, hat sich dies mit Pionieren der historischen Emotionsforschung
wie Peter N. Stearns und für den deutschsprachigen Raum Ute Frevert sowie
Forschungen des Max Planck Instituts in Berlin verändert. Obwohl die Konjunktur
emotionshistorischer Studien seit der Jahrtausendwende zugenommen hat, wur-
de auf die Geschichtsmächtigkeit von Gefühlen bereits sehr viel früher verwiesen.
Lucien Febvre wird häufig als Ursprung genannt, der 1941 dazu aufrief, Gefühle
und ihre Ausdrucksformen zu untersuchen.¹¹³ Bettina Hitzer verweist in ihrem
Forschungsüberblick allerdings darauf, dass die Wurzeln noch weiter zurückrei-
chen.¹¹⁴ Während die Anregungen von Febvre und die mentalitätsgeschichtlichen
Zugänge der Annales in Deutschland und Frankreich kaum Beachtung fanden,

 Bormann, Patrick/Freiberger, Thomas/Michel, Judith: Theoretische Überlegungen zum


Thema Angst in den internationalen Beziehungen. In: Angst in den Internationalen Beziehungen.
Hrsg. von Bormann, Patrick/Freiberger, Thomas/Michel, Judith. Göttingen 2010. S. 20.
 Vgl. Aschmann, Birgit: Vom Nutzen und Nachteil der Emotionen in der Geschichte. Eine
Einführung. In: Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und
20. Jahrhunderts. Hrsg. von Aschmann, Birgit. Stuttgart 2005. S. 11; LeDoux, Joseph: Das Netz der
Gefühle. Wie Emotionen entstehen. München 1998.
 Bormann [u. a.], Theoretische Überlegungen, S. 16.
 Vgl. Aschmann, Nutzen und Nachteil, S. 26; siehe dafür auch: Febvre, Lucien: Sensibilität
und Geschichte. Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen (1941). In: Marc Bloch, Fernand
Braudel, Lucien Febvre u. a. Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen
Aneignung historischer Prozesse. Hrsg. von Honegger, Claudia. Frankfurt am Main 1977. S. 313 –
333.
 Hitzer, Bettina: Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen. In: H- Soz-Kult 23.11. 2011.
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2011– 11– 001 (06.03. 2018). S. 4.
Methodik und Materialgrundlage 27

arbeitete die amerikanische Forschung in höherem Maße interdisziplinär und


setzte sich unter dem Einfluss der Psychoanalyse mit Gefühlen auseinander.¹¹⁵
Hinsichtlich einer Definition von Gefühlen, lassen sich grob zwei Lager un-
terscheiden: Kontroverse Diskussionen werden zwischen einem universalisti-
schen Verständnis auf der einen und einem konstruktivistischen auf der anderen
Seite geführt, wobei sich Historiker ebenso wie Soziologen und Politikwissen-
schaftler insbesondere für jene Aspekte von Emotionen interessieren, die sozio-
kulturell geprägt sind.¹¹⁶ Die Überlegungen von Ute Frevert zu einer Geschichte
der Gefühle basieren auf zwei Grundannahmen: Gefühle machen insofern Ge-
schichte, als sie soziales Handeln motivieren, Gemeinschaften formen und In-
teraktion ermöglichen. Zugleich betont sie, dass Gefühle selbst eine Geschichte
besitzen und keine anthropologischen Konstanten darstellen. Vielmehr wandeln
sich Ausdruck, Objekt und Bewertung von Gefühlen, die individuell, sozial, kul-
turell, räumlich und zeitlich variabel sind.¹¹⁷ Ute Frevert hebt vier wesentliche
Bestandteile von Emotionen hervor: Sie verweist erstens auf die Wahrnehmung
einer sozialen Situation, der zweitens eine Veränderung körperlicher Empfin-
dungen folgt. Drittens ist damit die Repräsentation von Emotionen in Form ex-
pressiver Gesten verbunden, die wiederum viertens auf kulturellen Codes basie-
ren. Damit wird deutlich, dass Emotionen eine Kommunikationsdimension
besitzen und Individuen mit der sozialen Umwelt verknüpfen. Frevert verweist
außerdem auf die Gefühlen inhärente Zeitdimension, da sie Vergangenheit und
Zukunft insofern verknüpfen, als sie Erfahrungen und Erinnerungen in Erwar-
tungen überführen.¹¹⁸
In der Geschichtswissenschaft existieren unterschiedliche methodische Zu-
gänge der Emotionsgeschichte.¹¹⁹ Peter N. und Carol Z. Stearns untersuchen

 Vgl. Frevert, Ute: Angst vor Gefühlen? Die Geschichtsmächtigkeit von Emotionen im
20. Jahrhundert. In: Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte. Hrsg. von Nolte, Paul/Hettling,
Manfred/ Kuhlemann, Frank-Michael/Schmuhl, Hans-Walter. München 2000. S. 95 f.; Aschmann,
Nutzen und Nachteil, S. 26.
 Vgl. Aschmann, Nutzen und Nachteil, S. 14 f.
 Vgl. Frevert, Ute: Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen? In: Geschichte und Ge-
sellschaft 35 (2009). S. 202 f.; Zu dem Wandel von Gefühlskulturen siehe außerdem: Frevert, Ute/
Scheer, Monique/Schmidt, Anne/Eitler, Pascal/Hitzer, Bettina/Verheyen, Nina/Gammerl, Benno/
Bailey, Christian/Pernau, Margit (Hrsg.): Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der
Moderne. Frankfurt/New York 2011.
 Frevert, Angst, S. 102.
 Für Forschungsüberblicke zur Emotionsgeschichte siehe: Hitzer, Emotionsgeschichte; Hitzer
gibt einen Überblick über die Vielzahl methodisch-theoretischer Zugänge in der Geschichtswis-
senschaft und liefert ausgewählte empirische Beispiele. Für einen zeitgeschichtlichen Fokus
siehe: Verheyen, Nina: Geschichte der Gefühle. Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 18.06.
28 Einleitung

emotionale Normen und unterscheiden mit Hilfe des Begriffs „emotionology“¹²⁰


zwischen kollektiven emotionalen Standards einer Gesellschaft und der emotio-
nalen Erfahrung von Individuen und Gruppen. William Reddy beschreibt Ge-
fühlsnormen mit dem Begriff „emotional regime“¹²¹ und konstatiert eine Wech-
selwirkung zwischen emotionaler Empfindung und der Kommunikation von
Gefühlen.¹²² Der Vorstellung eines emotionalen Regimes hält Barbara Rosenwein
die Annahme entgegen, dass innerhalb einer Gesellschaft eine Vielzahl von
„emotional communities“ existieren.¹²³ Wilfried Loth verweist darauf, dass Ge-
fühlskulturen, aus denen Stearns „emotionale Standards“, Reddys „emotionale
Regime“ oder Rosenweins „emotionale Gemeinschaften“ hervorgingen, prinzipi-
ell ein Ergebnis von Lernprozessen sowie historisch geprägt seien und histori-
schem Wandel unterliegen. Indem sie zwar auf das Individuum einwirken, zu-
gleich aber Raum für individuelles Empfinden lassen, wird hier die Dichotomie
zwischen Struktur und Individuum aufgebrochen. Weitere Unterscheidungs-
merkmale von Gefühlen betreffen außerdem die Intensität und Dauerhaftigkeit
von Emotionen sowie deren Handlungsmacht.¹²⁴ In Hinblick auf die Untersu-
chungsgegenstände emotionshistorischer Studien existieren große Spielräume.
Eine Vielzahl an Studien nimmt beispielsweise einzelne Emotionen in den
Blick.¹²⁵ Insbesondere zu Angst liegen viele Studien vor.¹²⁶ Aber auch Gefühle wie

2010. S. 1– 11. http://docupedia.de/zg/verheyen_gefuehle_v1_de_2010 (06.03. 2018); Einen


Überblick über das Verständnis von Emotionen von verschiedenen Fachdisziplinen liefert:
Aschmann, Nutzen und Nachteil. Aschmann stellt Emotionen als Forschungsobjekt verschiede-
ner Wissenschaften wie der Psychologie, der Hirnforschung, der Soziologie und Geschichtswis-
senschaft sowie verschiedene Definitionsversuche von Gefühlen vor. Ute Frevert liefert ebenfalls
einen Überblick darüber, was verschiedene Wissenschaftsdisziplinen im Wandel der Zeit unter
Gefühlen verstanden und wie sie sich ihnen konzeptionell genähert haben: Frevert, Was haben
Gefühle, S. 183 – 208; Gewissermaßen als Aufschlag für die deutschsprachigen Diskussionen seit
der Jahrtausendwende lässt sich Frevert, Angst nennen. In ihrem programmatischen Aufsatz
erklärt Frevert, wann und warum Gefühle in der Geschichte eine Rolle spielen und macht Vor-
schläge, wie sich die Geschichtswissenschaft diesem Untersuchungsgegenstand annähern
könnte.
 Stearns, Peter N./Stearns, Carol: Emotionology. Clarifying the History of Emotions and
Emotional Standards. In: The American Historical Review 90 (1985).
 Reddy, William M.: The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions.
Cambridge 2001.
 Vgl. Hitzer, Emotionsgeschichte, S. 8 f.
 Vgl. Hitzer: Emotionsgeschichte, S. 10; Rosenwein, Barbara H.: Worrying about Emotions in
History. In: The American Historical Review 107 (2002). S. 821– 845.
 Loth, Angst und Vertrauensbildung, S. 30; vgl. dazu insgesamt: Stearns/Stearns, Emotio-
nology; Reddy, Navigation; Rosenwein, Worrying about Emotions.
 Vgl. Hitzer, Emotionsgeschichte, S. 11, 16.
Methodik und Materialgrundlage 29

Vertrauen, Liebe, Wut, Scham oder Ehre erregen die Aufmerksamkeit von Emo-
tionshistorikern.¹²⁷
Hinsichtlich der Wirkmächtigkeit von Emotionen stellt der politische Bereich
„nicht etwa eine Ausnahme, sondern mehr als alle anderen ein Feld sorgfältig
inszenierter Gefühls-Strategien“¹²⁸ dar. Darüber, dass Emotionen und Vernunft
keine Gegensätze bilden, sondern Emotionen vielmehr integraler Bestandteil von
rationalem Handeln sind, herrscht in der Forschung jenseits der realistischen
Schule inzwischen weitestgehend Konsens.¹²⁹ Stattdessen ist davon auszugehen,
dass die Trennlinie zwischen dem, was als rational oder irrational betrachtet wird,
vom Kontext abhängig und sozial konstruiert ist.¹³⁰ Die Untersuchung von Emo-
tionen als politischer Faktor in den internationalen Beziehungen hat gegenwärtig
Konjunktur. Bisher gibt es allerdings nur wenig empirische und methodische
Forschung zu Emotionen in der Diplomatie – zumindest kaum zufriedenstellende
Erkenntnisse darüber, was Gefühle in den internationalen Beziehungen bewirken,

 Siehe u. a. Springer, Anne/Janta, Bernhard/Münch, Karsten (Hrsg.): Angst. Gießen 2011;
Moïsi, Dominique: La géopolitique de l’émotion. Comment les cultures de peur, d’humiliation et
d’espoir façonnent le monde. Paris 2008; Sunstein, Cass R.: Gesetze der Angst. Jenseits des
Vorsorgeprinzips. Frankfurt am Main 2007; Bourke, Joanna: Fear. A cultural history. London 2005;
Delumeau, Jean: La Peur en Occident (XIVe–XVIIIe siècles). Une cité assiégée. Paris 1978; Für
einen ausführlichen Überblick über Studien zu Angst siehe: Hitzer, Emotionsgeschichte,
S. 16 – 30.
 Siehe u. a. Misztal, Barbara A.: Trust in Modern Societies. The Search for the Bases of Social
Order. Cambridge 1996; Frevert, Ute: Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne. München
2013; Gammerl, Benno: Eine makellose Liebe? Emotionale Praktiken und der homophile Kampf
um Anerkennung. In: Männer mit „Makel“. Männlichkeiten und gesellschaftlicher Wandel in der
frühen Bundesrepublik. Hrsg. von Gotto, Bernhard/Seefried, Elke. Berlin 2017. S. 104– 113; Ro-
senwein, Barbara (Hrsg.): Anger’s Past. The social uses of an emotion in the Middle Ages. Ithaka
[u. a.] 1998; siehe ferner: Kessel, Martina: Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in
Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 2001; Menninghaus,
Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt am Main 2002.
 Frevert, Angst, S. 96.
 Vgl. u. a. Aschmann, Nutzen und Nachteil, S. 10; Kreis, Reinhild: Arbeit am Beziehungs-
status. Vertrauen und Misstrauen in den außenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik
Deutschland. In: Diplomatie mit Gefühl. Vertrauen, Misstrauen und die Außenpolitik der Bun-
desrepublik Deutschland. Hrsg. von Kreis, Reinhild. Berlin/München/Boston 2015. S. 9; Loth,
Angst und Vertrauensbildung, S. 30; Frevert, Was haben Gefühle, S. 197; Hitzer, Emotionsge-
schichte, S. 6; Bourke, Joanna: Fear and Anxity. Writing about Emotion in Modern History. In:
History Workshop Journal 55 (2003). S. 124; Stein, Threat Perception, S. 378.
 Vgl. Aschmann, Nutzen und Nachteil, S. 18; Frevert, Ute: Rationalität und Emotionalität im
Jahrhundert der Extreme. In: Das 20. Jahrhundert vermessen. Signaturen eines vergangenen
Zeitalters. Hrsg. von Sabrow, Martin/Weiß, Peter Ulrich. Göttingen 2017. S. 115 – 140.
30 Einleitung

beklagte jüngst Bernhard Gotto.¹³¹ Diesem Befund stehen vermehrt Appelle und
Impulse gegenüber, die „Gefühlsdimension zwischenmenschlicher Kommunika-
tion“ und Gefühle als „eine Schlüsselkategorie in den internationalen Bezie-
hungen auf allen Ebenen“ ernst zu nehmen.¹³² So gibt Jan Plamper Anstoß, über
eine „Emotionsgeschichte der Diplomatie“¹³³ nachzudenken und beispielsweise
emotionscodiertes Sprechen und Handeln in der Diplomatie zu untersuchen,
indem man sich dem Vokabular unter emotionshistorischer Perspektive zuwen-
det. Ebenso von Interesse seien Emotionen, die als Handlungsmotive wirken,
allerdings schwerer zugänglich sind.¹³⁴
In der Historiographie der internationalen Beziehungen werden Emotionen
daher nun zunehmend als eigenständige Einflussfaktoren von politischem Han-
deln berücksichtigt.¹³⁵ Eine systematische Studie zu der spezifischen Rolle von
Emotionen für außenpolitisches Handeln beziehungsweise eine Monographie, in
der der Zugriff über Emotionen methodisch fruchtbar gemacht werden konnte,
wurde bisher allerdings noch nicht vorgelegt. Gleichwohl gibt es viele Überle-
gungen in kleineren Beiträgen und Sammelbänden, die sich diesem Thema öff-
nen. Insbesondere „Angst und [das] Problem ihrer Einhegung“¹³⁶ wurde in
jüngster Zeit zum beherrschenden Gefühl des Kalten Krieges erhoben. Dies stellt
zwei Kategorien gegenüber, die für die Analyse außenpolitischen Handelns in der
Ära des Kalten Krieges wesentlich sind und auch in Wilfried Loths Aufsatz Angst
und Vertrauensbildung nutzbar gemacht werden.¹³⁷ Sowohl auf Angst als auch auf
Vertrauen konzentrieren sich bisher jene Beiträge zu den internationalen Bezie-
hungen, die einen emotionshistorischen Zugang verfolgen.¹³⁸ Auch in den

 Gotto, Bernhard: Kommentar. In: Kreis (Hrsg.), Diplomatie, S. 97.


 Plamper, Jan: Die Tränen des Premiers. Welche Rolle Gefühle in den internationalen Be-
ziehungen spielen. In: Kulturaustausch 63 (2013) 3. S. 47.
 Plamper, Jan: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte. München 2012.
S. 49.
 Plamper, Geschichte und Gefühl, S. 330, 332.
 Zu dem Zusammenhang von Emotionen und politischem Handeln siehe insgesamt: Klimke,
Martin/Kreis, Reinhild/Ostermann, Christian F. (Hrsg.): Trust, but Verify. The Politics of Un-
certainty and the Transformation of the Cold War Order 1969 – 1991. Washington 2016; Aschmann
(Hrsg.), Gefühl und Kalkül; Bormann [u. a.] (Hrsg.), Angst; Greiner, Bernd/Müller, Christian Th./
Walter, Dierk (Hrsg.): Angst im Kalten Krieg. Hamburg 2009; Bosbach, Franz (Hrsg.): Angst und
Politik in der europäischen Geschichte. Dettelbach 2000; Loth, Angst und Vertrauensbildung;
Kreis (Hrsg.), Diplomatie.
 Greiner, Bernd: Angst im Kalten Krieg. Bilanz und Ausblick. In: Greiner [u.a] (Hrsg.), Angst,
S. 17.
 Vgl. Loth, Angst und Vertrauensbildung.
 Vgl. zum Beispiel: Greiner [u.a] (Hrsg.), Angst; Bormann [u. a.] (Hrsg.), Angst; Kreis (Hrsg.),
Diplomatie.
Methodik und Materialgrundlage 31

deutsch-französischen Beziehungen wurde bereits auf die Bedeutung von Ge-


fühlen sowohl als Motiv für den Aussöhnungsprozess als auch als Element der
Kalkulation und politischen Kommunikation verwiesen.¹³⁹ In der Historiographie
zu François Mitterrand wurde durch Ulrich Lappenküper ebenfalls versucht, die
Kategorie Vertrauen fruchtbar zu machen, indem er Mitterrands Vertrauen be-
ziehungsweise Misstrauen gegenüber Deutschland und vertrauensbildende
Maßnahmen zwischen François Mitterrand und Helmut Kohl von 1981 bis 1989 in
den Blick nimmt.¹⁴⁰ Allerdings interessiert er sich wenig für die historische Di-
mension von Vertrauen und Misstrauen also für die dahinter stehenden Prozesse.
Daher vermag dieser Beitrag nicht zu klären, wodurch individuelles Vertrauen
generiert oder gestört werden kann und welche Auswirkungen dies für außen-
politische Entscheidungsprozesse besitzt.
Die Forschungsfrage, welche unterschiedlichen Strategien Akteure zur Be-
wältigung von Angst entwickelten, ist eng mit der zentralen Frage dieser Arbeit
verbunden, wie Akteure der internationalen Beziehungen mit Herausforderungen
umgehen. Angst scheint eine der möglichen Reaktionen von Akteuren zu sein,
sich in ein Verhältnis zur Zukunft – ob ungewiss oder vermeintlich gewiss – zu
setzen. So hielt beispielsweise auch Reinhart Koselleck fest, dass „Hoffnung und
Furcht“ neben anderen Faktoren wie „Wunsch und Wille, die Sorge, aber auch
rationale Analyse, rezeptive Schau oder Neugierde“ in die Erwartung an die Zu-
kunft eingehen, „indem sie diese konstruieren.“¹⁴¹ Methodisch problematisch für
den Historiker ist, dass er sich Gefühlen meist nur über Verbalisierungen annä-
hern kann, Gefühle in außenpolitischen Entscheidungsprozessen oder Akten aber
eher selten oder bewusst kalkuliert artikuliert werden.¹⁴² Bevor Angst und Ver-
trauen als Analysekategorien fruchtbar gemacht werden können, muss daher ein
reflektierter Umgang mit den Begriffen entwickelt werden. Sie müssen für die
vorliegende Studie nicht nur definiert werden, sondern es gilt vorab auch zu
klären, wie sie analytisch verwendet werden. Der Zukunft kommt in der Semantik
beider Begriffe eine wesentliche Bedeutung zu: Es handelt sich um ein Charak-
teristikum von Angst, dass diese durch die Erwartung einer Bedrohung in der

 Vgl. Miard-Delacroix, Hélène: Kalkulation und Emotion. Der Élysée-Vertrag vom 22. Januar
1963. In: Vergleich und Verflechtung. Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert. Hrsg. von
Leonhard, Jörn. Berlin 2015. S. 127– 141.
 Vgl. Lappenküper, Ulrich: Prekäres Vertrauen. François Mitterrand und Deutschland seit
1971. In: Kreis (Hrsg.), Diplomatie, S. 83 – 96.
 Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 4. Aufl.
Frankfurt am Main 2000. S. 355.
 Vgl. Bormann [u. a.], Theoretische Überlegungen, S. 30 f.
32 Einleitung

Zukunft ausgelöst wird.¹⁴³ Ähnlich wie bei der perzipierten Realität, die den Status
von Realität einnimmt, spielt es keine Rolle, ob es sich um berechtigte oder un-
berechtigte Ängste – also eine reale oder eingebildete Bedrohung – handelt.¹⁴⁴
Hier lässt sich an Reinhard Koselleck anschließen, mit dessen Namen die un-
trennbare Verbindung von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont assoziiert
wird.¹⁴⁵ Denn auch die Erwartung einer Bedrohung und damit die ausgelösten
Ängste können auf früheren Erfahrungen beruhen. Dem liegen sowohl eigene als
auch tradierte Erfahrungen zugrunde, wodurch persönliche und kollektive Trau-
mata in diese Ängste vor sogenannten known unknowns einfließen. Aber auch
sogenannte unknown unknowns können Ängste auslösen, wenn sich Erwartungen
nicht mehr aus dem Erfahrungswissen ableiten lassen.¹⁴⁶
Dieses Verhältnis von Erfahrung und Erwartung gilt in ähnlicher Weise für
Vertrauen.¹⁴⁷ Reinhild Kreis weist darauf hin, dass auch Vertrauen eine historische
Dimension besitzt.¹⁴⁸ Da es ähnlich wie Angst auf Erfahrungen der Vergangenheit
basiert, lassen sich der Aufbau von Vertrauen sowie dessen Ursprünge erforschen.
In Vertrauen manifestieren sich die aus Erfahrungen abgeleiteten Erwartungen an
die Zukunft, die sich durch ein hohes Maß an Sicherheit beziehungsweise ver-
meintlicher Gewissheit auszeichnen. Bernhard Gotto empfiehlt, eine soziologi-
sche Ebene zu berücksichtigen und Vertrauen als eine generalisierte Erwar-
tungshaltung bei Unsicherheit über das Verhalten anderer zu verstehen. Indem
man Erwartungen zum Gegenstand der Analyse mache, gewinne man feste Kri-
terien, um „Vertrauen dingfest zu machen“ und handle sich nicht „all die Un-
schärfen ein, die den Quellenbegriff Vertrauen vieldeutig machen“.¹⁴⁹ Daher
schließt sich diese Studie der Schlussfolgerung von Ute Frevert und Reinhild Kreis

 Sebastian Haak empfahl ebenfalls, für eine Analyse von Angst die Zeitebenen Vergangenheit
(Erfahrung) und Zukunft (Erwartung) in einen Zusammenhang zu stellen: Haak, Sebastian:
Nuclear fear, konventionelle Kriege und die Instrumentalisierung von Angst in den USA nach dem
Zweiten Weltkrieg. In: Bormann [u. a.] (Hrsg.), Angst, S. 185 – 202.
 Vgl. Loth, Angst und Vertrauensbildung, S. 31; Bormann [u. a.], Theoretische Überlegungen,
S. 31.
 Für den Zusammenhang von Erfahrung und Erwartung siehe Kapitel 1.
 Vgl. Loth, Angst und Vertrauensbildung, S. 31; Zu known unknowns und unknown unknowns
siehe: Bröckling, Ulrich: Dispositive der Vorbeugung: Gefahrenabwehr, Resilienz, Precaution. In:
Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr. Hrsg. von Daase,
Christopher/Offermann, Philipp/Rauer, Valentin. Frankfurt am Main 2012. S. 95 f.; Scheller, Ben-
jamin: Kontingenzkulturen – Kontingenzgeschichten: Zur Einleitung. In: Die Ungewissheit des
Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte. Hrsg. von Becker, Frank/Scheller, Benjamin/
Schneider, Ute. Frankfurt/New York 2016. S. 14, 16.
 Vgl. Frevert, Vertrauensfragen, S. 16 f.
 Kreis, Arbeit, S. 9 f.
 Gotto, Kommentar, S. 99 f.
Methodik und Materialgrundlage 33

an, dass das Verständnis der Spieltheorie und rational choice-Theorie, in der
Vertrauen ausschließlich auf Kalkulation und Berechenbarkeit – also einem rein
strategischen Verständnis – basiere, zu kurz greift. Erstens, so das Argument von
Kreis, werde dadurch die historische Dimension, also der Prozess der Vertrau-
ensbildung, verschleiert. Zweitens sieht die rational choice-Theorie nur eine Seite
von Vertrauen, wenn sie den emotionalen Gehalt negiert und stattdessen auf
wechselseitige Interessen und Berechenbarkeit als dessen Grundlagen ver-
weist.¹⁵⁰ Berechenbarkeit oder – um es mit Niklas Luhmann auszudrücken –
Vertrautheit und Vertrauen mögen zwar korrelieren, allerdings lässt sich von dem
einen nicht auf das andere schließen. Gewissheit über kalkulierte, potentiell
schädliche Entwicklungen würde in einem rein rationalen Verständnis bei-
spielsweise auch als Vertrauen gelten, obwohl diese auch Misstrauen und Ängste
auslösen könnte.¹⁵¹ Der entscheidende Unterschied ergibt sich aus der Bewertung
der erwarteten Zukunft, also dem Verhältnis, das Individuen dazu einnehmen.
Aus diesem Grund gilt es, in der Auseinandersetzung mit Vertrauen sowohl den
emotionalen als auch den strategischen Moment zu berücksichtigen, da beides
kaum voneinander zu trennen ist.
Für Erwartungen an die Zukunft spielt Wissen eine entscheidende Rolle.
Denn dadurch, dass das Verhalten anderer prinzipiell nicht vorhersagbar ist,
entstehen Wissens- beziehungsweise Sicherheitslücken in zwischenstaatlichen
Beziehungen, die im Kalten Krieg Ängste ausgelöst haben und durch Vertrauen
überwunden werden konnten.¹⁵² Niklas Luhmann versteht Vertrauen gar als eine
Vorwegnahme der Zukunft, in der man das Risiko eingehe, in der Zukunft ent-
täuscht zu werden.¹⁵³ Vertrauen könne in Misstrauen umschlagen, wenn Wis-
senslücken oder die Unsicherheit über das Verhalten des anderen zu groß werde,
als diese Lücke noch durch Vertrauen überbrückt werden könnte.¹⁵⁴
Auf der Handlungsebene lösen Ängste Abwehr- bzw. Bewältigungsmecha-
nismen aus, um diese zu überwinden.¹⁵⁵ In den internationalen Beziehungen und
insbesondere der Epoche des Kalten Krieges eröffnet Wilfried Loth zwei Per-
spektiven mit Ängsten umzugehen. Dabei erweist sich die erste als kontrapro-
duktiv, da Machtakkumulation zur Einschüchterung des Gegners die Akteure
schnell in ein Sicherheitsdilemma führe. Eine tatsächliche Chance, Ängste zu
überwinden und ein Gefühl von Sicherheit zu etablieren, biete sich dagegen

 Vgl. Kreis, Arbeit, S. 15 f.; Frevert, Vertrauensfragen, S. 15 – 17.


 Vgl. Luhmann, Niklas: Vertrauen. 4. Aufl. Stuttgart 2009. S. 22 f.
 Kreis, Arbeit, S. 10.
 Luhmann, Vertrauen, S. 9; Kreis, Arbeit, S. 10.
 Kreis, Arbeit, S. 10.
 Loth, Angst und Vertrauensbildung, S. 31.
34 Einleitung

zweitens nur durch Vertrauensbildung.¹⁵⁶ Dadurch ist zugleich auf den Zusam-
menhang der Kategorien Angst und Vertrauen hingewiesen, an den diese Studie
anknüpfen möchte. Prinzipiell wird der Aufbau von Vertrauen als Mittel ver-
standen, um Ängste und Feindbilder abzubauen und ein Klima der Entspannung
zu etablieren. Vertrauen in diesem Sinne als operatives Ziel von politischem
Handeln zu verstehen, stellt eine von drei möglichen Analysekategorien von
Vertrauen dar, die in dem Sammelband Diplomatie mit Gefühl entwickelt wer-
den.¹⁵⁷ Auf Angst lässt sich dieses Verständnis insofern übertragen, als auch
Angst im Sinne einer Einschüchterungspolitik ein Ziel von politischem Handeln
sein kann. Hierbei spielen Imagination und Phantasie durchaus eine Rolle, da
diese Politik auf möglichen künftigen Szenarien basiert. Diese Analysekategorie
steht in engem Zusammenhang mit dem, was Ute Frevert als „Gefühlspolitik“
definiert. Diesen aus dem 19. Jahrhundert stammenden Begriff bezeichnet sie
entgegen dem zeitgenössischen Verständnis keineswegs als gefühlvolle Politik,
sondern vielmehr als Politik mit und um Gefühle – also eine „Interessenpolitik
mit ‚gefühlvollen Deductionen‘“¹⁵⁸. Durch Gefühlspolitik sollen nicht private Ge-
fühle ausgedrückt, sondern durch Inhaber eines politischen Amtes kommuniziert
werden. Ihre Dekonstruktion erfordert daher auch immer eine Analyse von Ge-
fühlskommunikation. Diese werde laut Frevert dadurch zu einer Politik, die Ge-
fühle inszeniere, adressiere, erzeuge und in den Dienst nehme, um Beziehungen
zwischen Staaten und Völkern zu verbessern.¹⁵⁹ Ob es jeweils um Verbesserung
dieser Beziehungen geht, ist äußerst fraglich, grundsätzlich dient Gefühlspolitik
aber dazu, Gefühle zu beeinflussen und zu instrumentalisieren. Diese Kategorie
wird in der vorliegenden Arbeit jeweils dann entscheidend sein, wenn die Be-
wältigung oder Erzeugung von Ängsten und der Aufbau von Vertrauen zum
operativen Ziel der französischen Akteure wurden, um sie als politische Ressource
zu nutzen.
Daneben lässt sich Vertrauen – aber auch Angst – zweitens als individuelle
zwischenmenschliche Empfindungen analysieren und wird in dem Fall als Motiv
für politisches Handeln verstanden.¹⁶⁰ Gefühle stiften Beziehungen zwischen Ak-
teuren und ermöglichen oder erschweren ihre Kommunikation.¹⁶¹ Sie sind also
Ressourcen sozialer Bindungen. Außerdem beeinflussen sie, wie bereits ange-
deutet wurde, das Denken und Handeln von Akteuren und spielen daher eine

 Loth, Angst und Vertrauensbildung, S. 32 f.


 Kreis, Arbeit, S. 13 f.; Gotto, Kommentar, S. 98 f.
 Frevert, Ute: Gefühlspolitik. Friedrich II. als Herr über die Herzen. Göttingen 2012. S. 16.
 Frevert, Gefühlspolitik, S. 16 f.
 Kreis, Arbeit, S. 13 f.; Gotto, Kommentar, S. 98.
 Frevert, Gefühlspolitik, S. 17.
Methodik und Materialgrundlage 35

Rolle in Entscheidungsprozessen. Obwohl sich auf diese Kategorie nicht das


Hauptinteresse dieser Arbeit richtet, ist sie doch grundsätzlich dem Verständnis
eines nicht allein aus rationalen Erwägungen handelnden Akteurs inhärent.
Gleichzeitig wird sie bei der Analyse von Beziehungsstrukturen beziehungsweise
ihrer Konzeptualisierung durch historische Akteure relevant. Drittens kann der
Gebrauch der Begriffe „Vertrauen“ und „Angst“ als rhetorische Strategie und po-
litische Ressource in den Blick genommen werden, wenn Akteure sie in diesem
Sinne strategisch in der Kommunikation einsetzen.¹⁶² Sie dienen in diesem Fall
als soziales Kapital und Legitimation von politischem Handeln. Diese drei Ana-
lysekategorien – Vertrauen als politisches Ziel, individuelle Empfindung bezie-
hungsweise soziale Bindung und rhetorische Strategie –, die in Diplomatie mit
Gefühl aufgestellt wurden, sollen in der vorliegenden Arbeit genutzt und erweitert
werden, indem sie auch auf Angst bezogen und darüber hinaus an Freverts Ver-
ständnis von Gefühlspolitik angeschlossen werden.
Diese Definitionen basieren auf dem spezifischen Zusammenhang von
Emotionen, Wissen, Wahrnehmungen, Kommunikation und Zeitdimensionen im
Sinne von Erfahrung und Erwartung, also der Verschränkung von Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft. Daraus ergeben sich arbeitstechnische Anforderungen
und Forschungsfragen sowie zwangsläufig auch gewisse Kriterien für die Quel-
lenauswahl. Während individuelle Empfindungen aus formalisierten politischen
Dokumenten selten zu rekonstruieren sind, können hier vor allem private Auf-
zeichnungen und momentane Einschätzungen¹⁶³ aber auch handschriftliche
Randbemerkungen an Akten oder Selbstzeugnisse von Akteuren Aufschluss über
deren Wahrnehmungen und Gefühle geben. Um Akteurs-Handeln zu erklären, gilt
es, Wahrnehmungen in ihrer Komplexität (Selbst- und Fremdwahrnehmung) zu
erfassen und ihre Interdependenz zu untersuchen. Neben der grundsätzlichen
Forschungsfrage, wie Perzeptionen, Gefühle, Verhaltensmuster und Entschei-
dungshandeln zusammenhängen, sollte die Bewertung von politischem Handeln
auf der Frage basieren, inwieweit Akteure sich ihrer Perspektivität bewusst sind
und sie die Fähigkeit zu Perspektivwechseln besitzen.¹⁶⁴
An dieser Stelle sei bereits vorweggenommen, dass François Mitterrand und
seine Regierungsmannschaft Empathie für die Selbst- und Fremdwahrnehmun-
gen sowie die Emotionen anderer Akteure besaßen. Empathie soll hier nicht auf
einer individuellen Ebene verstanden werden, sondern vielmehr als eine Form
politischen Handelns, die sich durch das Vermögen auszeichnet, sich in die an-

 Vgl. Kreis, Arbeit, S. 13 f.; Gotto, Kommentar, S. 98 f.


 Vgl. Niedhart, Selektive Wahrnehmung, S. 148.
 Vgl. Niedhart, Selektive Wahrnehmung, S. 152.
36 Einleitung

deren Akteure hineinzuversetzen, indem ihre Perzeptionen und Erwartungen


berücksichtigt werden. Dies öffnet die Perspektive auf Emotionszuschreibungen in
den internationalen Beziehungen, die ebenfalls als politische Ressource dazu
dienen, handlungsfähig zu bleiben und eine Möglichkeit zur Kommunikation zu
entwickeln. Auf diese Art und Weise werden außenpolitische Akteure nicht mehr
im Sinne der realistischen Schule als Staatsmänner verstanden, die daran ge-
messen werden, wie erfolgreich sie pauschalisierte nationale Interessen vertreten
haben.¹⁶⁵ Stattdessen bemisst sich die Qualität politischer Führung daran, „wie-
weit es den Politikern gelingt, berechtigte von unberechtigten Ängsten zu unter-
scheiden und Maßnahmen zur Reduzierung der wahrgenommenen Bedrohungen
zu unternehmen.“¹⁶⁶ Dies meint auch die Fähigkeit von Akteuren, die Perzeptio-
nen und Ängste ihrer Verhandlungspartner zu erkennen und zu verstehen, um
gegebenenfalls Maßnahmen ergreifen zu können, deren Ängste abzubauen und
Vertrauen zu schaffen. Es wird zudem die Frage aufgeworfen, durch welche ge-
fühlspolitischen Strategien versucht wurde, Emotionen von Verhandlungspart-
nern oder Öffentlichkeiten zu beeinflussen. Diese Studie leistet damit einen
Beitrag zu der Erforschung von Emotionen im außenpolitischen Tagesgeschäft.
Sie schließt sich der Einschätzung von Reinhild Kreis an, dass die „Risiken eines
solchen Ansatzes […] neuen Erkenntnissen gegenüber [stehen]“, da er „Themen
sowie Spannungsfelder offen [lege], die in der Forschung zu den internationalen
Beziehungen häufig ignoriert werden.“¹⁶⁷ Die Studie verortet sich damit insgesamt
an einem Schnittfeld von neuer Diplomatiegeschichte und Geschichte der inter-
nationalen Beziehungen und ordnet sich in Fragestellungen der Internationalen
Geschichte ein, die versucht Dichotomien zwischen Politik-, Sozial-, Wirtschafts-
und Kulturgeschichte zu überwinden. Damit erhebt sie den Anspruch einen ge-
nuinen Beitrag zur Erneuerung der historischen Außenpolitikforschung zu leis-
ten. Wie im Folgenden ausgeführt wird, bleibt die Studie zwar den klassischen
Quellen sowie dem Gegenstand der Diplomatiegeschichte verpflichtet, betrachtet
beides aber aus einer innovativen methodischen Perspektive, um sich von den
Prämissen einer realistisch geprägten Diplomatiegeschichte zu lösen.
Als Materialgrundlage dient der vorliegenden Arbeit eine Kombination aus
offiziellen Regierungsakten aus französischen Archiven und gedruckten Quellen.
Der wichtigste Dokumentenbestand umfasst die Archives de la Présidence de la
République. Dabei handelt es sich um die archivierten Aufzeichnungen aus dem
Elysée aus der Amtszeit von François Mitterrand, die alle Mitarbeiter dem service

 Vgl. Loth, Angst und Vertrauensbildung, S. 29.


 Loth, Angst und Vertrauensbildung, S. 34.
 Kreis, Arbeit, S. 14.
Methodik und Materialgrundlage 37

des archives zur Verfügung stellen mussten.¹⁶⁸ Ohne die Funktionsmechanismen


im Elysée und die Persönlichkeiten der Berater des Präsidenten zu kennen, lassen
sich die Dokumentenbestände des Elysée jedoch nicht verstehen, deren Ordnung
sich an den Arbeitspraktiken und den Verbindungen zwischen Präsident und
Beratern orientiert. Die Dokumente über und mit denen François Mitterrand ge-
arbeitet hat, werden in den Unter-Fonds der Berater und Dienste gesammelt.¹⁶⁹
Das Wissen um diese Arbeitspraktiken und Stationen, braucht es, um den Ent-
stehungsweg dieser meist auf wenige Worte reduzierten Kommunikation sowie
den Ablauf der Entscheidungsprozesse zu verstehen. Ähnlich wie dies für Struk-
turen innerhalb der französischen Institutionen gilt, müssen die Spezifika der
französischen politischen Praxis berücksichtigt werden, die auf einem zentrali-
sierten System basiert. Insbesondere Entscheidungen in der Außen- und Sicher-
heitspolitik, die in der Regierungspraxis zur domaine reservé des französischen
Staatspräsidenten zählen, wurden im Elysée getroffen und Handlungsinstruk-
tionen von dort an die Minister gegeben. Nichtsdestoweniger lassen sich Ent-
scheidungen und deren Entstehungsprozesse nicht nachvollziehen, wenn man
die Wege ignoriert, die Informationen genommen haben, bevor sie an den Prä-
sidenten herangetragen wurden. Um der Gefahr einer Engführung auf Regie-
rungshandeln des französischen Präsidenten zu entgehen, stützt sich diese Arbeit
also zusätzlich auf die Dokumente des französischen Außenministeriums in den
Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères (ADMAE). Informa-
tionen über politische Aktionen ausländischer Regierungen oder Berichte über
die öffentliche Meinung in anderen Staaten gelangten über die französischen
Botschaften in Form von Telegrammen nach Paris. In den Direktionen des Au-
ßenministeriums wurden diese Informationen ausgewertet und meist in Form von
Länder-Dossiers oder Dossiers zu außen- oder sicherheitspolitischen Fragen
weiterverarbeitet, die unter anderem den Beratern des Präsidenten zur Informa-
tionsgewinnung dienten. Indem die Bestände dieser beiden Archive kombiniert
werden, lassen sich nicht nur Verbindungen zwischen gewissen einflussreichen
Diplomaten und Beratern rekonstruieren, sondern auch Entstehungsprozesse von
Perzeptionen, deren Übermittlung und jeweils subjektive Veränderung erklären.
Zusätzlich zu den Archivdokumenten aus französischen Institutionen werden
außerdem gedruckte und publizierte Quellen zur Analyse herangezogen. Dies

 Für den Aufbau und die Strukturen der präsidentiellen Archive siehe: Bos, Agnès/ Vaisse,
Damien: Les Archives présidentielles de François Mitterrand. In: Vingtième Siècle. Revue d’his-
toire 86 (2005). S. 71– 79; Carle, Françoise: Les Archives du Président. Mitterrand intime. Paris
1998.
 Zu den Arbeitspraktiken im Elysée vgl. Kapitel 1; siehe ferner: Védrine, Hubert: Les mondes
de François Mitterrand. À l’Élysée 1981– 1995. Paris 1996. S. 39 – 41.
38 Einleitung

betrifft zum einen Quelleneditionen, die Regierungsakten in historisch-kritischer


Form herausgegeben haben. Insbesondere die deutsche Wiedervereinigung be-
treffend ist die Überlieferungslage gut. Durch Maurice Vaïsse und Christian
Wenkel wurden beispielsweise Dokumente des französischen Außenministeriums
der Jahre 1989 – 1990 publiziert.¹⁷⁰ Ähnliche Editionen diplomatischer Akten lie-
gen von deutscher, britischer und sowjetischer Seite vor.¹⁷¹ Die Aktenedition Akten
zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik, die entlang der dreißigjährigen
Sperrfrist fortlaufend durch das Institut für Zeitgeschichte herausgegeben wird, ist
insofern auch hilfreich, als deutsch-französische Gesprächsprotokolle herange-
zogen werden und der französischen Perspektive so ein gewisses Korrektiv ent-
gegengestellt werden kann.¹⁷² Zum anderen werden offizielle Stellungnahmen des
französischen Präsidenten oder anderer Mitglieder der Regierung zur Auswertung
herangezogen, um den Inszenierungscharakter des Politischen in der Öffent-
lichkeit in der Analyse berücksichtigen zu können. Nicht zuletzt zählen zu dem
Bestand an gedruckten Quellen aber auch Publikationen von ehemaligen Ak-
teuren, in denen diese in Form von Tagebüchern oder Memoiren ihre Sicht und
Deutung der Ereignisse dargelegt haben. Gerade weil diese Arbeit individuelle
Perzeptionen von Realität und Emotionen, die in formalisierten Regierungsakten
selten zum Ausdruck kommen, als Grundlage für politische Konzeptionen und
Handlungsimpulse untersucht, werden diese persönlichen Zeugnisse einbezogen.
Über die unterschiedlichen mitunter rivalisierenden Deutungen der Jahre 1981–
1990 kann so der Faktor der Persönlichkeit neben den von strukturellen Prozessen
gestellt werden. Gewiss gilt es bei diesen Selbstzeugnissen ebenso wie bei Akten
von offizieller Seite quellenkritische Standards anzusetzen und sich der zum Teil
nachträglichen Sinndeutung von Ereignissen oder diskursiven Überlagerungen
von Erinnerungen bewusst zu sein.¹⁷³

 Vaïsse/Wenkel (Hrsg.), Diplomatie.


 Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik (DzD). Deutsche Einheit Sonderedition aus den
Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. Bearbeitet von Hans-Jürgen Küsters und Daniel Hof-
mann. München 1998; Documents on British Policy Overseas Series III, Volume VII. German
Unification 1989 – 1990. Hrsg. von Salmon, Patrick/Hamilton, Keith/Twigge, Stephan. New York
2010; Galkin, Aleksandr/Tschernjajew, Anatolij (Hrsg.): Michail Gorbatschow und die deutsche
Frage. Sowjetische Dokumente 1986 – 1991. München 2011.
 Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland (AAPD). Hrsg. im Auftrag
des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte, Jahresbestände 1972, 1981– 1986, Mün-
chen/Berlin 2003, 2012– 2017.
 Vgl. u. a. Jureit, Ulrike: Erfahrungsaufschichtung. Die diskursive Lagerung autobiographi-
scher Erinnerungen. In: Life Writing and Political Memoir – Lebenszeugnisse und Politische
Memoiren. Hrsg. von Brechtken, Magnus. Göttingen 2012. S. 224– 242; Schulze, Winfried: Ego-
Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung
Methodik und Materialgrundlage 39

An dieser Stelle ist es notwendig, kurz auf eine Problematik hinzuweisen, die
den Dokumenten um Mitterrands Präsidentschaft zugeschrieben wird. Frédéric
Bozo diagnostizierte in seinen Forschungen ein negatives Image der französi-
schen Politik am Ende des Kalten Krieges. Dafür machte er mehrere Faktoren
verantwortlich: Zum einen resultiere es aus Fehlperzeptionen der nationalen und
internationalen (insbesondere der deutschen) Presse, also einem zeitgenössi-
schen Bild der französischen Politik.¹⁷⁴ Zusätzlich angeheizt sah er dies durch
Enthüllungen und Polemiken am Ende von Mitterrands Präsidentschaft, in denen
Skandale um seine Vichy-Vergangenheit oder sein Privatleben die Sicht auf die
Präsidentschaft insgesamt – inklusive der Außenpolitik – getrübt haben. Als
dritten Faktor nennt er die Publikation des dritten Bandes von Jacques Attalis
Tagebüchern. In diesen „toxic Verbatim“ kommentiere Mitterrands langjähriger
Vertrauter und spezieller Berater Dokumente „of dubious authenticity“. Viele
Belege seien zweifelhaft und nicht verifizierbar. Zudem habe er sich selbst Do-
kumente zugeschrieben, die er nicht verfasst habe, Schätzungen, Kürzungen oder
Hinzufügungen vorgenommen.¹⁷⁵ Attali habe damit nicht nur die frühe Literatur
zu Mitterrand „kontaminiert“, sondern auch die Erinnerung anderer zeitgenös-
sischer Akteure.¹⁷⁶ Was klingt wie eine Verschwörungstheorie, perpetuiert Vor-
würfe, die schon früher an Attali herangetragen wurden. Bereits die Publikation
des ersten Bandes seiner Verbatim sorgte zeitgenössisch für einen Skandal, weil
man Attali vorwarf, das Buch ohne Mitterrands Einwilligung oder der Autorisie-
rung zur Reproduktion geheimer Archive veröffentlicht zu haben. Pierre Joxe und
Pierre Hassner zogen schließlich bei einem Kolloquium zu Frankreich und dem
Ende des Kalten Krieges die Zuverlässigkeit der von Attali publizierten Dokumente
in Zweifel.¹⁷⁷ Die Journalisten Pierre Favier und Michel Martin-Roland hatten
privilegierte Einsicht in die Dokumente des Generalsekretärs im Elysée Jean-Louis
Bianco und geben an, mehr als die Hälfte der Seiten von Verbatim seien auf diese
reproduzierten Dokumente zurückzuführen. Immerhin bezeugen diese Autoren
damit, dass die Aufzeichnungen aus Verbatim den offiziellen Dokumenten ent-

„Ego-Dokumente“. In: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Hrsg.


von Schulze, Winfried. Berlin 1996. S. 11– 30; Brechtken, Magnus: Einleitung. Politische Memoi-
ren. Prolegomena zum Potential eines vernachlässigten Forschungsgebietes. In: Politische Me-
moiren in deutscher und britischer Perspektive = Political memoirs in anglo-german context.
Hrsg. von Bosbach, Franz. München 2005. S. 9 – 42.
 Siehe dazu Kapitel 5.
 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. xiii, xxviii Fußnote 10
des Prologs.
 Frédéric Bozo verweist auf die Erinnerungen von Helmut Kohl: Bozo, Mitterrand, the End of
the Cold War and German Unification, S. xiii, xxviii Fußnote 11 des Prologs.
 Cohen (Hrsg.), Mitterrand, S. 426, 455.
40 Einleitung

sprechen; wenngleich dies gewiss nicht ihre Absicht war. Sie bezichtigen ihn des
Betruges, da Attali nicht wie im Prolog behauptet ausschließlich seine eigenen
Aufzeichnungen verwendet habe, zudem seien seine Kommentare häufig zwei-
felhaft.¹⁷⁸
Andere Autoren setzen die Authentizität von Attalis Dokumenten nicht höher
oder geringer an als bei anderen Gesprächsnotizen.¹⁷⁹ Dieser Ansicht schließt sich
diese Studie an, und zwar aus zwei Gründen: Erstens verwehrt sie sich damit
gegen diesen Kampf um die Deutungshoheit und lässt sich nicht zum Instrument
der einen oder anderen Sinnstiftung machen. Indem dieser Konflikt, der unter-
schiedlichen zeitgenössischen Perzeptionen und Rivalitäten entsprang, wieder
und wieder kolportiert und damit versucht wird, einer möglichen Deutung von
vornherein die Authentizität abzusprechen, wird er durch die historische For-
schung fortgesetzt. Ein Autor macht sich damit automatisch zum Instrument.
Stattdessen wird vorgeschlagen, eine Historisierung zeitgenössischer Wahrneh-
mung vorzunehmen. Zweitens trägt diese Arbeit nämlich Geschichtsdeutungen in
ihrer Vielfalt Rechnung und klassifiziert Attalis Publikation als Selbstzeugnis, bei
denen – vielleicht mehr als bei anderen Quellengattungen – subjektive Erfah-
rungen und Deutungen zum Ausdruck kommen. Wie aber auch bei jeder anderen
Quellengattung üblich und nötig, werden an Selbstzeugnisse und in diesem Fall
an Attalis Tagebücher quellenkritische Standards angesetzt. Letztlich sollten sich
auch Historiker ihrer Perspektivität bewusst sein und der Tatsache Rechnung
tragen, dass es unterschiedliche mehr oder weniger plausible Erzählungen über
die Vergangenheit gibt, zu denen sowohl die der Akteure als auch die von His-
torikern zählen. Daher versucht diese Studie diesen Rivalitäten und Konflikten um
die Authentizität von Attalis Dokumenten wenig Raum zu geben. Da die Tage-
bücher nicht den Anspruch einer historisch-kritischen Quellenedition erheben,
sondern vielmehr Erlebtes und Erfahrenes dokumentieren sollen, stellen sie nicht
nur eine wertvolle Quelle dar, um die unterschiedlichen sich mitunter wider-
sprechenden Perzeptionen der Akteure zu rekonstruieren. Sie verlangt vom His-
toriker vielmehr auch, die Plausibilität der Erzählung jeweils von Fall zu Fall
kritisch zu hinterfragen und zu erklären und nicht von vornherein zu disqualifi-
zieren.

 Favier, Pierre/Martin-Roland, Michel: La Décannie Mitterrand. Bd. 3: Les défis (1988 – 1991).
Paris 1996. S. 41.
 Siehe u. a. Loth, Wilfried: Helmut Kohl und die Währungsunion. In: VfZ 62 (2014) 4. S. 460,
Fußnote 12; Saunier, Georges: Eurêka: un projet industriel pour l’Europe, une réponse à un défi
stratégique. In: Journal of European Integration History 12 (2006) 2. S. 57– 74; Lappenküper,
Mitterrand und Deutschland; Praus, Ende.
Methodik und Materialgrundlage 41

Die Analyse gliedert sich nach chronologischen und systematischen Ge-


sichtspunkten, um deutlich zu machen, ob und wie politische Konzeptionen und
Strategien sich durch enttäuschte Erwartungen oder eine Veränderung äußerer
Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume angepasst wurden. Da François
Mitterrand sein Amt in der Erwartung eines politischen Umbruchs in mittelfris-
tiger Zukunft antrat, liegt die Vermutung nahe, dass er entweder über ein Konzept
zu dessen Bewältigung verfügte oder eines entwickelte. Bevor also die politischen
Aktionen der sozialistischen Regierung ab 1981 analysiert werden können, gilt es,
nach den Vorstellungen einer stabilen Friedensordnung zu fragen, mit denen
François Mitterrand sein Amt antrat. Neben langfristigen politischen Strukturen,
durch die Mitterrand unter Umständen geprägt und beeinflusst wurde, soll auch
nach persönlichen Erfahrungen gefragt werden. Insgesamt wird damit dem Faktor
der persönlichen und politischen Sozialisation des Individuums und Politikers
François Mitterrand Rechnung getragen, der Einfluss auf seine Zukunftserwar-
tungen hatte und somit Teil der historischen Dimension von Angst und Vertrauen
gleichermaßen ist. Die Fokussierung auf den französischen Staatspräsidenten
wird dabei insofern aufgebrochen, als seine Ideen und Wahrnehmungen an sein
personales Umfeld rückgebunden werden und andere wichtige Akteure Berück-
sichtigung finden sollen, die besonders einflussreich für die Definition und
Führung der Außen- und Sicherheitspolitik waren. Insgesamt soll so im ersten
Kapitel geklärt werden, ob François Mitterrand im Mai 1981 mit einem klaren
politischen Konzept zur Bewältigung gegenwärtiger Krisenphänomene und
künftiger Herausforderungen in den Elysée einzog.
Im zweiten Kapitel werden die Strategien analysiert, die Mitterrand und seine
Mannschaft als Antwort auf die Spannungen zwischen Ost und West auf der einen
und zwischen den transatlantischen Bündnispartnern auf der anderen Seite
entwickelten. Die Atlantische Allianz und damit den Status Quo zu stabilisieren,
lief dem grundsätzlichen Wunsch zuwider, die europäische Teilung zu überwin-
den – also den Status Quo zu transformieren. Da die Bewältigung dieser beiden
Krisenmomente daher ein Dilemma für die französische Sicherheitspolitik er-
zeugte, analysiert Kapitel zwei gleichsam auch, wie politische Entscheidungen in
den ersten Amtsjahren neue Herausforderungen generierten.
Kapitel drei wird zeigen, dass die transformative Komponente der französi-
schen Détente im Zweiten Kalten Krieg zwar hintenangestellt, aber nie gänzlich
aufgegeben wurde. In den ersten Amtsjahren wurden wichtige Voraussetzungen
dafür geschaffen, um später wieder zu einer aktiven Politik der französischen
Langzeitstrategie übergehen zu können. Zwar richtete sich die Stärkung deutsch-
französischer Solidarität und die relance européenne in erster Linie darauf, dem
integrierten Westeuropa zu neuer Dynamik zu verhelfen. Gleichwohl wurde dies
doch als Ausgangspunkt für eine paneuropäische Perspektive gesehen, für die
42 Einleitung

sich mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows 1985 eine neue Chance eröffnete.
Da Mitterrand und seine Mannschaft in dem neuen Generalsekretär der KPdSU
diese Chance zur Revitalisierung der Entspannungspolitik sehr schnell erkann-
ten, analysiert Kapitel vier, durch welche Strategien der französische Präsident die
Vertrauensbildung zwischen Ost und West unterstützte. Die drei Themen-
schwerpunkte – Überwindung von Feindbildern, Ausbau Westeuropas und Auf-
bau paneuropäischer Kooperationsstrukturen – sollen zeigen, wie die équipe
Mitterrand einen Strukturwandel internationaler Staatenbeziehungen anstrebte.
François Mitterrand stand zwar in der Erwartung eines politischen Umbruchs
der Nachkriegsordnung, allerdings basierten seine Überlegungen erstens auf ei-
nem längerfristigen Zeitfenster und zweitens einer politischen Konzeption, die
eher einen evolutionären Umbau der bestehenden Staatenwelt vorsah. Die Tat-
sache, dass eine langfristig erwartete Zukunft 1989 zu einer unmittelbaren wurde,
gefährdete die Umsetzung dieser Vision und löste nicht nur bei Mitterrand Ängste
vor militärischen Auseinandersetzungen in Europa aus. Kapitel fünf untersucht,
wie die équipe Mitterrand angesichts der Revolutionen in Osteuropa und dem
Prozess der deutschen Wiedervereinigung versuchte, nach einer anfänglichen
Überraschung zu einer konstruktiven Rolle zurückzufinden und welche Ideen und
Strategien sie entwickelte, diesen erwarteten und doch überraschenden Umbruch
zu steuern und eine neue Ordnungsstruktur zu gestalten. Während der Zusam-
menbruch der Nachkriegsordnung zwar unmittelbare Gestaltungschancen eröff-
nete, wurde Mitterrands Handlungsspielraum von zwei Seiten eingeschränkt: Der
französische Präsident musste nicht nur Wege finden, eigene Ängste zu bewäl-
tigen, sondern sah auch die Notwendigkeit, auf Ängste anderer Staaten Rücksicht
zu nehmen. Zweitens gerieten seine Vorstellungen einer künftigen Staatenord-
nung in Widerstreit zu den Konzepten anderer Akteure. Kapitel fünf analysiert
dieses Ringen um eine neue Ordnung und sucht nach den Ursachen der Konflikte.
Der Untersuchungszeitraum endet 1990 mit der Charta von Paris, die den Ost-
West-Konflikt offiziell für beendet erklärte. Die geostrategischen Voraussetzungen
hatten sich entschieden verändert und forderten spätestens ab Mitte 1990/Anfang
1991 mit dem Verschwinden des östlichen Feindbildes (und mit dem 2. Golfkrieg
sowie dem späteren Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens) neue sicher-
heitspolitische Maßnahmen. Dadurch wandelten sich auch die Szenarien poten-
tieller künftiger militärischer Auseinandersetzungen. Nationalitätenkonflikte und
Bürgerkriege erforderten viel eher mobile und schnell einsatzbereite Streitkräfte.
Es lässt sich also mit dem Beginn der 1990er Jahre eine sicherheitspolitische Zäsur
konstatieren, mit der diese Untersuchung schließt.
Insgesamt liefert diese Studie einen Beitrag dazu, die unterschiedlichen Be-
wältigungsstrategien der Akteure am Ende des Kalten Krieges zu erforschen.
Somit handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit nicht nur um eine Geschichte
Methodik und Materialgrundlage 43

des letzten Jahrzehnts des Kalten Krieges. Sie öffnet vielmehr eine Perspektive auf
die Zukunftsvisionen und -planungen von Akteuren für die Zeit nach dem Ost-
West-Konflikt. Sie wird somit zu einer „Vorgeschichte der Gegenwart“¹⁸⁰ und
öffnet den Blick für Kontinuitäten gegenüber dem viel benannten politischen
Umbruch von 1989 – 1991.

 Doering-Manteuffel, Anselm/Raphael, Lutz/Schlemmer, Thomas (Hrsg.): Vorgeschichte der


Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom. Göttingen 2016.
1 Die Konzeption der équipe Mitterrand
1.1 Vorüberlegungen

Vor einer Analyse der politischen Impulse von François Mitterrand und seiner
équipe gilt es, einige Vorbedingungen dieser Politik zu erklären. Möchte man sie
verstehen, kommt man nicht umhin, nach den Wahrnehmungen und Deutungs-
mustern der handelnden Personen zu fragen, deren Ursprung und Genese ihrer-
seits selbst einer Erklärung bedürfen. Die Regierungsübernahme der Sozialisten
markierte keineswegs den Ausgangspunkt ihrer außenpolitischen Konzeptionen.
Diese hatten sich vielmehr in langwierigen Prozessen herausgebildet und wurden
von verschiedenen Seiten beeinflusst. Daher müssen ihre Vorstellungen, Ideen
und Handlungsimpulse in den Kontext verschiedener Bedingungsfaktoren von
Politik eingebettet werden. Das erste Kapitel steht damit unter der leitenden
Fragestellung, ob François Mitterrand das Amt des Präsidenten 1981 mit einer
klaren politischen Konzeption antrat und welche Zukunftserwartungen, Über-
zeugungen und Kompetenzen aus vergangenen Erfahrungen abgeleitet wurden.
Wie Georges Saunier herausgearbeitet hat, präsentierte sich François Mitterrand
bei öffentlichen Auftritten ebenso wie bei Gesprächen mit politischen Verhand-
lungspartnern gerne als ein Europäer der ersten Stunde, indem er seine Teil-
nahme am Europäischen Kongress in Den Haag im Jahr 1948 hervorhob.¹ Die
Selbstinszenierung als überzeugter Europäer soll in diesem Kapitel kritisch hin-
terfragt werden. In einem ersten Schritt werden dafür Mitterrands Vorstellungen
von Europa und die aus seiner Sicht notwendigen Bedingungen für eine stabile
Friedensordnung analysiert und auf seine Wahrnehmungen der internationalen
Situation im Jahr 1981 bezogen. Diese Vorstellungen und Wahrnehmungen müs-
sen dabei in ein Netz aus verschiedenen Faktoren eingebettet werden, die Einfluss
auf die Erkenntnisgewinnung bei François Mitterrand nahmen. Dafür wird in ei-
nem zweiten Schritt nach konzeptionellen Ursprüngen und Einflüssen auf seine
politischen Vorstellungen gefragt. Hierbei spielen erstens Kontinuitäten und
Brüche zu politischen Konzeptionen der Vergangenheit eine Rolle. Maßgeblich für
Mitterrands Realitätsperzeptionen sind zweitens seine persönliche und politische
Sozialisation. Wurden beispielsweise in der Vergangenheit bereits Erfahrungen
mit Unsicherheit gemacht und welche Handlungskompetenzen wurden dadurch
erworben? Drittens hatte sein personelles Umfeld Einfluss auf die Definition und

 Vgl. dazu Saunier, Georges: „J’y étais, j’y croyais“, François Mitterrand et le Congrès de La Haye.
In: Le „Congrès de l’Europe“ à La Haye (1948 – 2008). Hrsg. von Guieu, Jean-Michel/Le Dréau,
Christophe. Brüssel [u. a.] 2009. S. 375 – 391.

https://doi.org/10.1515/9783110597417-003
1.1 Vorüberlegungen 45

Umsetzung seiner Politik. Es gilt also zu klären welche Akteure zur équipe Mitt-
errand zählten und welche Sozialisationsprozesse diese ihrerseits durchliefen.
Aufgrund der Kombination von Persönlichkeiten, die durch spezifische Arbeits-
praktiken und soziale Ressourcen verbunden waren, wird dieses Akteursgeflecht
im weiteren Verlauf auch als équipe Mitterrand bezeichnet. Neben diesen drei
Grundbedingungen für die Ausbildung von Vorstellungen und konzeptionellen
Überlegungen kamen noch äußere Einflussfaktoren für die Führung von Außen-
politik hinzu. Dafür müssen vorab sowohl die Spezifika des französischen poli-
tischen Systems erklärt werden als auch die Rahmenbedingungen für Außenpo-
litik um 1981. Die Globalisierung und Multilateralisierung von Außenpolitik
stellen beispielsweise ebensolche Rahmenbedingungen von Politik am Ausgang
des 20. Jahrhunderts dar. Zugleich wurde die Souveränität der Exekutiven von
verschiedenen Seiten wie einer kritischen Öffentlichkeit, Nichtregierungsorgani-
sationen oder politischen Verhandlungspartnern anderer Staaten eingeschränkt.
In diesem Netz aus unterschiedlichen Interessenvertretern galt es, den politischen
Kurs auszuhandeln.
Zwei theoretische Konzepte bieten sich als Grundlage der Analyse an: Zum
einen helfen zwei analytische Kategorien weiter, die Reinhart Koselleck als „Er-
fahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ bezeichnet hat.² Vor allem für den
Abschnitt, der sich mit der sozialisatorischen Prägung von Mitterrand und seinen
Weggefährten auseinandersetzt, erweisen sich Kosellecks Überlegungen zu Er-
fahrungsraum und Erwartungshorizont als weiterführend. Diese vermitteln für
sich keine historische Wirklichkeit, sondern sind vielmehr als „Bedingungen
möglicher Geschichte“ und „Erkenntniskategorien“ zu verstehen, „die die Mög-
lichkeit einer Geschichte begründen helfen.“³ Unter „Erfahrung“ versteht Kosel-
leck gegenwärtige Vergangenheit, „deren Ereignisse einverleibt worden sind und
erinnert werden können.“⁴ Erwartung dagegen sei ihm zufolge vergegenwärtigte
Zukunft und ziele auf das noch nicht Erfahrene und „nur Erschließbare“⁵. Diese
beiden Begriffe sind insofern aufeinander bezogen, als sie nicht ohne einander
existieren können: „Keine Erwartung ohne Erfahrung, keine Erfahrung ohne Er-
wartung.“⁶ Geschichte werde durch die Erfahrungen und Erwartungen der han-
delnden Personen konstruiert, indem sie in einer Gegenwart den Zusammenhang
von Vergangenheit und Zukunft herstellen. Da sie Zeitebenen gewissermaßen
ineinander verschränken, seien diese beiden Begriffe also geeignet, historische

 Vgl. dazu Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 349 – 375.


 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 350 f.
 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 354.
 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 355.
 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 352.
46 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

Zeit zu thematisieren. Sie bieten sich gerade deswegen für die empirische For-
schung an, weil sie „inhaltlich angereichert, die konkreten Handlungseinheiten
im Vollzug sozialer oder politischer Bewegungen leiten.“⁷ Bezogen auf das vor-
liegende Forschungsprojekt lässt sich also festhalten, dass Erfahrungen von Ak-
teuren – sowohl kollektive als auch individuelle – entscheidend zur Konstruktion
ihrer Zukunftserwartungen beitrugen. Dabei gibt es unterschiedliche Möglich-
keiten für Akteure, sich in ein Verhältnis zum Ungewissen des Zukünftigen zu
setzten: Wie im methodischen Teil der Einleitung bereits angedeutet wurde,
handeln Akteure nicht rein rational. Emotionen gehen in die Erwartungen der
Zukunft und damit auch in das Handeln der politischen Akteure in der Gegenwart
ein. Allerdings irrt, wer davon ausgeht, dass es sich bei Erfahrungen oder Er-
wartungen um statische Entitäten handelt. Obwohl freilich die Ereignisse der
Vergangenheit nicht veränderbar sind, so unterliegt doch die Erfahrung, die da-
von abgeleitet wird, einem Wandel und kann sich durch neu gemachte Erfah-
rungen verändern. Überraschungen, bei denen das Erwartete nicht beziehungs-
weise anders eintritt, durchbrechen laut Koselleck den Erwartungshorizont und
„stifte[n] also neue Erfahrung“⁸. Die Begriffe Erfahrung(‐sraum) und Erwar-
tung(‐shorizont) sind insofern geeignete Instrumentarien, um historischen Wan-
del zu erklären und die Faktoren von individuellem Handeln und strukturellen
Prozessen in der Analyse zu verknüpfen. Diese theoretischen Grundlagen eignen
sich als Instrumente, um politisches Handeln beziehungsweise den Umgang von
Akteuren mit spezifischen Herausforderungen zu untersuchen und die Entste-
hung neuer Handlungsstrategien und Verhaltensmuster zu erklären. Bezogen auf
François Mitterrand und seine équipe ist davon auszugehen, dass sowohl kol-
lektive Erinnerungsbestände als auch individuelle Erfahrungen der Vergangen-
heit – verstanden als Sozialisation – Einfluss sowohl auf die Wahrnehmung ge-
genwärtiger Realität als auch die Erwartungen an die Zukunft hatten.
Zum anderen lassen sich Mitterrands Vorstellungen von Europa, die einen
elementaren Bestandteil seiner Zukunftserwartungen darstellten, besser verste-
hen, wenn man sich an dem Theoriemodell der vier Antriebskräfte europäischer
Integration von Wilfried Loth orientiert. Die europäischen Bewegungen nach dem
Ende des Zweiten Weltkrieges zielten darauf, die Funktionsdefizite der Natio-
nalstaaten zu überwinden. Das Scheitern der Versailler Ordnung, die Erfolge der
Revisionspolitik und schnellen Siege der Nationalsozialisten steigerten als
schmerzhafte Erfahrungen der Unsicherheit das Verlangen nach kollektiver Si-
cherheit. Die Defizite des nationalen Ordnungssystems in Europa wiederum

 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 353.


 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 358.
1.1 Vorüberlegungen 47

schlüsselt Loth in vier unterschiedliche Kategorien auf: Erstens galt es, das Pro-
blem zwischenstaatlicher Anarchie einzuhegen, die in den beiden Weltkriegen zu
verheerender Gewaltentfesselung geführt hatte. Damit verbunden war zweitens
die Friedenssicherung in Europa durch die Einbettung der deutschen Frage, die
als potentielles Risiko für den Frieden gesehen wurde. Drittens zielte eine wirt-
schaftliche Integration der europäischen Staaten auf die Entwicklung von Pro-
duktivkräften im industriellen Zeitalter, da eine wechselseitige Abschottung
langfristig zu einem Verlust an Produktivität führte. Viertens motivierte das Auf-
streben neuer Supermächte die Europäer dazu, durch gemeinsames Auftreten
nach Selbstbehauptung zu streben. Im Verlauf der Geschichte europäischer In-
tegration waren diese Antriebskräfte nicht immer gleich stark, standen aber in
Interaktion zueinander und sind daher als Erklärung geeignet, warum zu be-
stimmten Zeitpunkten Fortschritte in der Integration bestimmter Bereiche erzielt
wurden. Dieses Modell ist insofern auch geeignet, die Motive von François Mitt-
errand und seiner Mannschaft zu untersuchen und thematisch zu systematisie-
ren. Gleichzeitig vermag es Interessenkonflikte zwischen den verschiedenen eu-
ropäischen Interessenvertretern zu erklären, wenn diese im gleichen Moment
durch unterschiedliche Antriebskräfte motiviert wurden, europäische Integration
in verschiedenen Bereichen voranzutreiben.⁹
Europäische Bewegungen waren während des Zweiten Weltkrieges und un-
mittelbar danach keineswegs nur ein westeuropäisches Phänomen; allerdings
unterdrückte Stalin im Osten Europas jedwede Pläne für zwischenstaatliche Zu-
sammenschlüsse. Die Einigung Westeuropas drohte im aufziehenden Kalten Krieg
die Spaltung Europas zu vertiefen. Insofern war die Idee für einen europäischen
Zusammenschluss unter Ausschluss Osteuropas im Winter 1946/1947 noch wenig
populär. Insbesondere die französischen Europaanhänger schreckten davor zu-
rück, die Blockbildung zu fördern. Populärer hingegen war die Konzeption eines
Europas der Dritten Kraft, das vermittelnd auf die beiden neuen Weltmächte hätte
einwirken können. Diese Konzeption wird im Folgenden noch näher erläutert,
wenn strukturelle Einflüsse auf Mitterrands Vorstellungen untersucht werden. Sie
zielte auf ein unabhängiges Europa, in dem weder Osteuropa zum sowjetischen
Einflussbereich noch Westeuropa zum westlichen Block unter amerikanischer
Führung zählen sollten. Letztlich führte aber die sowjetische Ablehnung des
Marshall-Plans weitestgehend zu der Überzeugung, dass die europäische Eini-

 Zum Modell der Vier Antriebskräfte siehe Loth, Europas Einigung, S. 9 – 11; Erstmals aufgestellt
in: Loth, Wilfried: Beiträge der Geschichtswissenschaft zur Deutung der Europäischen Integra-
tion. In: Theorien Europäischer Integration. Hrsg. von Loth, Wilfried/Wessels, Wolfgang. Opladen
2001. S. 96 – 98; siehe für die methodische Anwendung des Modells ferner: Thiemeyer, Guido:
Europäische Integration. Motive – Prozesse – Strukturen. Köln/Weimar/Wien 2010.
48 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

gung realpolitisch im Westen beginnen musste.¹⁰ Die Ursprünge des europäi-


schen Integrationsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg beruhten zu Beginn
also durchaus auf paneuropäischen Perspektiven, die durch die sich vertiefende
Teilung in Ost und West blockiert beziehungsweise nicht weiterverfolgt wurden.
Von Bedeutung sind diese Ursprünge des europäischen Integrationsprozesses
insofern, als François Mitterrand als französischer Abgeordneter und Minister in
der unmittelbaren Nachkriegszeit und Delegierter beim Kongress von Den Haag
1948 nicht nur Zeitgenosse, sondern bereits politischer Akteur im Ringen um den
Aufbau paneuropäischer Solidarität war. Wie in den folgenden Unterkapiteln
noch gezeigt wird, spielten diese frühen Perspektiven paneuropäischer Einigung
gewissermaßen verdichtet als Erfahrungsraum für seine Europavorstellungen ei-
ne wichtige Rolle.
Mitterrands europäisches Engagement wurde in der Forschung bisher keiner
systematischen Untersuchung unterzogen. Gleichwohl gibt es einige kleinere
Beiträge oder Teilkapitel, die sich seinen europäischen Vorstellungen und seiner
Europapolitik zuwenden,¹¹ die aber selten in den Zusammenhang mit anderen
politischen Bereichen gestellt werden. Die Interaktion zwischen den Faktoren von
transatlantischen Konflikten, europäischem Sicherheitsbedürfnis, europäischer
Produktivität im Angesicht wirtschaftlicher Stagnation und Arbeitslosigkeit
wurde in der Analyse von Mitterrands Europavorstellungen und -politik bislang
kaum bedacht, an seine politische Konzeption rückgebunden oder auf die
Überwindung des Ost-West-Konfliktes und die Suche nach einer alternativen
Staatenordnung bezogen.

1.2 Zukunftserwartungen und Realitätsperzeptionen

Dieses Unterkapitel untersucht Mitterrands sicherheitspolitische Vorstellungen,


mit denen er das Amt des französischen Präsidenten übernahm und bezieht sie
auf seine Wahrnehmungen der politischen Rahmenbedingungen. Es handelte

 Vgl. dazu Loth, Europas Einigung, S. 11– 14.


 Vgl. dazu Du Réau, Elisabeth: L’engagement européen. In: Berstein [u. a.] (Hrsg.), François
Mitterrand, S. 282– 294; Saunier, „J’y étais, j’y croyais“, S. 375 – 391; Saunier, Georges: François
Mitterrand, un projet socialiste pour l’Europe? L’ équipe européenne de François Mitterrand,
1981– 1984. In: Inventer l’Europe. Histoire nouvelle des groupes d’influence et des acteurs de
l’unité européenne. Hrsg. von Bossuat, Gérard. Brüssel 2003. S. 431– 448; Bossuat, Gérard: Faire
l’Europe sans défaire la France. 60 ans de politique d’unité européenne des gouvernements et des
présidents de la République française (1943 – 2003). Brüssel 2005. Darin Kapitel 6: François
Mitterrand ou l’Europe-modèle. S. 159 – 184.
1.2 Zukunftserwartungen und Realitätsperzeptionen 49

sich dabei um ein Konglomerat verschiedener Aspekte, die sich zu einer Idee über
die Grundmechanismen internationaler Beziehungen verdichteten und aus denen
langfristige Zukunftserwartungen abgeleitet wurden. Friedenssicherung schien
für François Mitterrand verschiedene Dimensionen zu umfassen: Es lassen sich in
seinen Äußerungen immer wieder machtpolitische Überlegungen nachweisen, in
denen Hegemonie und Gleichgewicht zu Ordnungskategorien werden. Kurz vor
seinem Tod fasste er dies folgendermaßen zusammen: Demnach brauche Macht
immer ein Gegengewicht, denn „[w]enn man der Macht ausgesetzt ist, versucht
man, es so einzurichten, daß [sic] man ihren Exzessen nicht ausgeliefert ist.“¹²
Durch Gegenkräfte der Macht solle verhindert werden, dass Menschen ihre Macht
bis zum Ende ausspielen. Daher müsse man „also Sicherungen einbauen und das
richtige Gleichgewicht herstellen.“¹³ Hierbei bleibt zunächst unklar, was Mitter-
rand konkret unter „Gleichgewicht“ versteht. Die realistische Schule würde von
einer gleichen Machtverteilung unter der Abwesenheit eines Hegemons ausgehen.
Demgegenüber mag Mitterrand unter „Gleichgewicht“ aber auch die Stabilität
zwischenstaatlicher Beziehungen frei von Anarchie und Willkür verstanden ha-
ben. Während ersteres als Verständnis von „balance of power“ Hegemonie und
Gleichgewicht zu Ordnungsfaktoren internationaler Beziehungen erhebt, wird das
zweite als „balance of satisfaction“ in der deutschen Forschung auch mit dem
Begriff „Äquilibrium“ bezeichnet.¹⁴ Das Wort „Sicherungen“ liefert einen Hinweis
darauf, dass sich seine Vorstellungen durchaus im Sinne Wolfram Pytas auslegen
lassen, der das Gegensatzpaar Hegemonie und Gleichgewicht aufbricht, indem
„Sicherungen“ beziehungsweise normative Prämissen und Kooperation zwi-
schenstaatliche Anarchie einhegen können, wenngleich machtpolitische Unter-
schiede bestehen bleiben.¹⁵ Die hier aufgestellte These, dass Mitterrand eben
diesem Denken folgte, muss durch eine Analyse seiner Gleichgewichtsvorstel-
lungen im Laufe dieser Arbeit hinreichend belegt werden. Zur aktiven Friedens-
sicherung spielten für Mitterrand darüber hinaus eine wirtschaftliche Dimension
und Dialog eine entscheidende Rolle: So erklärte er dem deutschen Bundesprä-
sidenten Karl Carstens unmittelbar nach seinem Amtsantritt, wer einen Krieg

 Mitterrand, François/Wiesel, Elie: Nachlese. Erinnerungen, zweistimmig. Hamburg 1996.


S. 167.
 Mitterrand/Wiesel, Nachlese, S. 169.
 Vgl. dazu Jonas, Michael/Lappenküper, Ulrich/Wegner, Bernd: Einleitung. In: Stabilität durch
Gleichgewicht? Balance of Power im internationalen System der Neuzeit. Hrsg. von Jonas, Mi-
chael/Lappenküper, Ulrich/Wegner, Bernd. Paderborn 2015. S. 9 – 11; Pyta, Hegemonie, S. 373 –
388; siehe weiterführend u. a. Sheehan, Michael: The Balance of Power. History and Theory.
London [u. a.] 1996.
 Pyta, Hegemonie, S. 373 f.
50 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

verhindern wolle, der müsse „Gedanken- und Warenaustausch pflegen und zu-
sammenarbeiten“¹⁶. Mitterrands Grundverständnis hinsichtlich der Funktions-
mechanismen internationaler Beziehungen basierte also auf drei wesentlichen
Faktoren: Der gegenseitigen Kenntnis voneinander durch Dialog, Kooperations-
strukturen und normativen Prämissen dieser Zusammenarbeit, der sich alle
Partner verpflichtet fühlen.
Im Wahlkampf um die Präsidentschaft hatte François Mitterrand als Oppo-
sitionsführer die Außenpolitik von Valéry Giscard d’Estaing als „eine Politik ohne
Grundsätze“¹⁷ kritisiert. Er warf der Regierung vor, „dem augenblicklichen Ge-
sprächspartner gefällig zu sein“ und „sich mit den Gegebenheiten abzufinden“.¹⁸
Aber Realismus bestehe nicht darin, dem Augenblick der Zukunft den Vorzug zu
geben, kritisierte Mitterrand. Giscard d’Estaing habe in einer Zeit der Spannungen
durch sein Treffen mit Leonid Breschnew der „Position des Aggressors“ in die
Karten gespielt.¹⁹ Nicht nur Mitterrand als Oppositionspolitiker kritisierte Giscard
d’Estaing für dessen Entscheidung, den Generalsekretär der Kommunistischen
Partei der Sowjetunion (KPdSU) am 19. Mai 1980 in Warschau zu treffen. Auch
Außenminister André François-Poncet hatte dem Präsidenten von dieser Reise
abgeraten.²⁰ Mitterrand hielt es im Hinblick auf die historische Bedeutung und
Außenwirkung des Treffens für völlig einerlei, welche Intentionen und Ziele sein
Kontrahent damit verband.²¹ Er selbst als Präsidentschaftskandidat setze auf eine
nüchterne Politik gegenüber der Sowjetunion und unterstellte Giscard d’Estaing
damit implizit, sich durch Emotionen leiten zu lassen. An der traditionellen
rhetorischen Strategie, das Verhältnis zwischen französischem und sowjetischem
Volk als Freundschaft zu bezeichnen, hielt Mitterrand ebenso fest, wie an beste-
henden Verträgen, „[a]ber Schöntuerei sei keine Basis für Freundschaft.“²² Er
inszenierte sich selbst damit als Realpolitiker, der durch einen nüchternen Um-
gang mit der sowjetischen Führung bessere Verhandlungsergebnisse erzielen
würde, wenn diese erst einmal verstünde, „daß [sic] ein ‚Nein‘ von uns auch ein

 Gespräch des Bundespräsidenten Carstens mit Staatspräsident Mitterrand, 13. Juli 1981. In:
AAPD 1981, Dok. 200, S. 1070.
 Interview François Mitterrands mit Michel Tatu in Le Monde, 31. Juli 1980. In: Mitterrand,
François: Der Sieg der Rose. Düsseldorf/Wien 1981. S. 196; Die französische Originalausgabe er-
schien 1980, die Publikation ist daher in den Kontext des Wahlkampfes um die französische
Präsidentschaft zu stellen: Mitterrand, François: Ici et Maintenant. Paris 1980.
 Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 196.
 Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 196 f.
 Heyde, Frankreich im KSZE-Prozess, S. 367.
 Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 196 f.
 Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 204.
1.2 Zukunftserwartungen und Realitätsperzeptionen 51

‚Nein‘ ist“²³. Diese Stellungnahmen wurden in einer der größten französischen


Tageszeitungen abgedruckt und erfüllten in erster Linie den Zweck, auf antiso-
wjetische Stimmungen in Teilen der französischen Öffentlichkeit zu reagieren.
Gleichzeitig wollte er als Sozialist einer Linksunion wohl aber auch nicht in den
Verdacht geraten, einen Ausgleich mit der Sowjetunion anzustreben. An der
Schwelle von den 1970er zu den 1980er Jahren war der traditionelle französische
Antiamerikanismus in eine „américano-philie“²⁴ umgeschlagen und wich anti-
sowjetischen Tendenzen. Der Umschwung der öffentlichen Meinung in Frank-
reich lässt sich auf die Spannungszunahme zwischen Ost und West zurückführen,
für die die als expansionistisch wahrgenommene Politik des Kremls verantwort-
lich gemacht wurde. Außerdem gelangten zunehmend Informationen über das
repressive sowjetische Vorgehen gegen politische Oppositionelle und andere
Verstöße gegen die Menschenrechtsvereinbarungen aus der Schlussakte von
Helsinki in die westliche Öffentlichkeit.²⁵ Da Mitterrand Védrine zufolge diese
Welle wahrgenommen habe, konnte er sich diese im Wahlkampf zu Nutze ma-
chen. Mitterrand erschien dadurch ab 1980 als Vertreter einer antisowjetischen
Politik.²⁶ Er inszenierte sich mit seiner Kritik an Giscard d’Estaing als ein poten-
tieller Präsident, der der Sowjetunion die Stirn bieten würde.²⁷ Hubert Védrine
erinnert sich, dass der Grad der „fermeté“ gegenüber der Sowjetunion zum ele-
mentaren Bestandteil der öffentlichen Debatten in den zwei Jahren vor der fran-
zösischen Präsidentschaftswahl wurde und damit auch den Wahlkampf ent-
scheidend dominierte.²⁸
In dem Artikel in Le Monde stellte Mitterrand unter Beweis, dass er auch den
Symbolcharakter politischer Akte einkalkulierte und sprach seinem Konkurren-
ten diese grundlegende politische Kompetenz indirekt ab. Dahinter verbarg sich
die latente Unterstellung, mit seiner unreflektierten und emotional verblendeten
Politik in einer „Periode von Spannungen“ hohe Risiken eingegangen zu sein. Mit
seiner Wortwahl und dem Begriff „Aggressor“ wurde dem Leser eine Bedrohung
suggeriert. Die sowjetischen SS-20-Raketen stilisierte er zum Risiko für den Frie-
den, um Empörung darüber auszulösen, dass Giscard d’Estaing in dieser Frage

 Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 204.
 Védrine, Mondes, S. 167.
 Zum sowjetischen Umgang mit Menschenrechten siehe u. a. Saal, Yuliya von: KSZE-Prozess
und Perestroika in der Sowjetunion. Demokratisierung, Werteumbruch und Auflösung 1985 –
1991. München 2014. S. 45 – 47.
 Védrine, Mondes, S. 107 f.
 Mitterrand, Sieg, S. 207.
 Védrine, Mondes, S. 81.
52 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

nicht klar Stellung bezog.²⁹ Er unterstellt ihm damit einerseits riskante Politik und
andererseits mangelnde Weitsicht. Fast mochte es so aussehen, als würde Giscard
d’Estaing nichts Geringeres als den Frieden in Europa aufs Spiel setzen, wohin-
gegen der Wähler von dem sich als Realpolitiker inszenierenden Präsident-
schaftskandidaten François Mitterrand offensichtlich etwas anderes erwarten
durfte. Mitterrand nutzte hier Emotionen der Wähler als politische Ressource,
indem er die Erwartungen weiter Teile der Öffentlichkeit bediente. Ganz im Sinne
von Freverts Verständnis von Gefühlspolitik wird dem Wähler eine Bedrohung
suggeriert und dadurch Angst evoziert.³⁰ Indem er selbst auf die Risiken auf-
merksam machte, signalisierte er aber gleichzeitig einen Ausweg aus der Angst.
Entschieden sich die Wähler für ihn, würde die Bedrohung hypothetisch bleiben.
Erstmal in der Regierungsverantwortung sah sich François Mitterrand mit der
Bewältigung facettenreicher Krisenerscheinungen konfrontiert. Wie in der Ein-
leitung gezeigt wurde, waren die Themen Ost-West-Beziehungen, Wirtschaft und
Europa, die Elisabeth du Réau benennt, zweifellos Teilaspekte davon. Es wäre
demgegenüber verkürzt, von einer dreifachen Krise zu sprechen.³¹ In den Ost-
West-Beziehungen war der Antagonismus der Blöcke bis 1975 durch die Ent-
spannungspolitik gemildert worden, wohingegen danach der sowjetische Ex-
pansionismus aus Sicht westlicher Analytiker zu einer wachsenden Bedrohung
wurde. Kommunistische Erfolge in Somalia, Angola, Südjemen, Vietnam, Kuba
und Nicaragua verstärkten diesen Eindruck. Auch der Einmarsch der Sowjetunion
in Afghanistan 1979 schien den sowjetischen Expansionismus einmal mehr unter
Beweis zu stellen. Ronald Reagan versuchte durch seine „Politik der Stärke“ und
eine konfrontative Politik gegenüber der Sowjetunion das angekratzte Selbstver-
trauen der amerikanischen Bevölkerung wiederaufzubauen. Demgegenüber ver-
suchten Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt, die Errungenschaften der
Détente und ihre Kommunikationskanäle aufrechtzuerhalten.³² Die westlichen
Staats- und Regierungschefs waren sich uneinig, ob die Verhängung des Kriegs-
rechts in Polen und Unterdrückung der Solidarność-Bewegung im Dezember 1981
auf Druck des Kremls erfolgt war.³³ Der Verdacht stand allemal im Raum und trug
nicht zur Verbesserung der Ost-West-Beziehungen bei. Die Modernisierungsan-
strengungen auf der sowjetischen Seite durch die Aufstellung der SS-20-Raketen
seit Mitte der 1970er Jahre drohten aus westlicher Perspektive zudem das strate-
gische Gleichgewicht auszuhebeln. Das atlantische Bündnis antwortete darauf

 Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 203.
 Zu dem Verständnis von Gefühlspolitik siehe Einleitung.
 Vgl. Du Réau, Engagement, S. 288.
 Védrine, Mondes, S. 80.
 Vgl. Bresselau von Bressensdorf, Frieden, S. 315.
1.2 Zukunftserwartungen und Realitätsperzeptionen 53

zunächst im Dezember 1979 mit dem sogenannten NATO-Doppelbeschluss, der


schließlich – nach erfolglosen Verhandlungen über die Mittelstreckenraketen in
Genf – zum Beschluss einer westlichen Nachrüstung und der Aufstellung ame-
rikanischer Raketen und Marschflugkörper in Westeuropa Ende 1983 führen
sollte. In den ersten Amtsjahren von François Mitterrand war die französische
Sicherheitspolitik von dieser sogenannten Euroraketenkrise bestimmt, in der die
sowjetische Seite versuchte, die Aufstellung der westlichen Raketen mit einer
offensiven Politik zu verhindern und gleichzeitig eigene Abrüstungsverpflich-
tungen möglichst gering zu halten. Um nicht zu riskieren, dass die französischen
Streitkräfte in die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen mit einbezogen
werden und vermutlich auch, um seine sowjetischen Gesprächspartner nicht zu
sehr zu verprellen, hatte Giscard d’Estaing die Entscheidung im Dezember 1979
zwar mitgetragen, insgesamt aber eine eher ausweichende Haltung in der Frage
der Euroraketen eingenommen.³⁴
Trotz transatlantischer Konflikte rund um die Euroraketenkrise waren die
westeuropäischen Regierungen in mehrfacher Hinsicht abhängig von den USA.
Die westeuropäische Sicherheit gründete auf dem Schutz durch amerikanische
Nuklearraketen und das nordatlantische Verteidigungsbündnis. Wirtschafts- und
finanzpolitisch sahen sie sich den Launen der amerikanischen Regierung aus-
geliefert: Der potentielle Ausweg aus dieser Abhängigkeit – eine größere politi-
sche Eigenständigkeit durch die europäische Konstruktion – bot zu Beginn der
1980er Jahre allerdings keine vielversprechende Alternative, seit sich diese
ebenfalls „en panne“³⁵ befand. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher
blockierte jede Entscheidung, so lange ihren Forderungen nach einer Rücker-
stattung der britischen Beitragszahlungen nicht nachgekommen wurde.³⁶ Aus-
gehend von der Annahme, dass die 1970er und 1980er Jahre eine Phase des
Umbruchs und ihre Krisenerscheinungen ein Katalysator für Wandel und Neu-
schöpfung darstellten,³⁷ lässt sich zeigen, dass Mitterrand darin Chancen und
Risiken gleichermaßen erkannte.
Eine Krise sah er als Hebel beziehungsweise Ausweg aus der bipolaren
Staatenordnung.³⁸ Im Wahlkampf benannte er die zwei wesentlichen Unsicher-
heitsfaktoren, dass die „russische Maschine […] leer [laufe], und Amerika […] für
niemanden mehr ein sicherer Partner“³⁹ sei. Er rechnete damit, dass „sich das

 Vgl. dazu Soutou, Mitläufer, S. 363 – 377.


 Védrine, Mondes, S. 82.
 Siehe dazu die Abschnitte 3.1 und 3.3.
 Diese Annahme vertreten u. a. Autoren in dem Band: Hiepel (Hrsg.), Europe.
 Mitterrand, Sieg, S. 209.
 Mitterrand, Sieg, S. 214.
54 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

sowjetische Weltreich im Jahre 2000 sehr anders darstellen werde“⁴⁰, wie er dem
deutschen Bundespräsidenten Karl Carstens zwei Monate nach seiner Amts-
übernahme darlegte. Seine Überlegungen gingen über übliche Spekulationen
über den Niedergang der sowjetischen Wirtschaft hinaus, indem seine Vorstel-
lungen recht konkrete Formen annahmen und auf einem spezifischen Zeithori-
zont beruhten. Er zweifelte, ob das sowjetische Weltreich in dieser Form im Jahr
2000 „überhaupt noch existiere“⁴¹. Selbst wenn die Sowjetunion als Großmacht
bestehen bleiben würde, so rechnete er aber doch damit, dass „in den Ländern
Ost- und Mitteleuropas […] der Kommunismus abgebaut“⁴² werde. Er war sich
dabei auch bewusst, dass dies „alle Daten des ‚europäischen Gleichgewichts‘ […]
verändern“ werde und dadurch „möglicherweise auch die ‚Stunde der deutschen
Wiedervereinigung‘ kommen“ könnte, was er aber freilich nicht öffentlich aus-
sprechen werde.⁴³ Einen möglichen Ausweg aus der Unsicherheit, die eine solche
Veränderung aller Koordinaten des europäischen und internationalen Staaten-
systems mit sich bringen würde, stellte für ihn Europa dar – oder besser gesagt ein
neues Europa: „Neue Kräfte werden auftauchen. Ein Frankreich voll Energie mit
klarem Kopf, ein homogenes Europa und ein gewarntes Weltbewusstsein“⁴⁴,
prophezeite er vor seiner Wahl. Auch gegenüber dem deutschen Bundespräsi-
denten beschwor er, dass der europäische Gedanke „der Grundstein für die Zu-
kunftsmöglichkeiten“⁴⁵ sei. Dass die bipolare Welt sich langfristig in ein Staa-
tensystem mit multipolaren Entscheidungszentren wandeln würde, wünschte sich
Mitterrand nicht nur aus sicherheitspolitischen Erwägungen heraus, denn die
gegenwärtige Krise sah er nicht ausschließlich als Krise des Westens, sondern in
einem globalen Maßstab. Dies erforderte aus seiner Sicht „multilaterale Gesprä-
che über finanzielle und wirtschaftliche Probleme sowie [den] Ausbau von Han-
dels- und Warenaustausch“⁴⁶.
Gewiss: Dies darf nicht als Aktionsplan der Sozialistischen Partei missver-
standen werden, denn konkrete Pläne, wie und im Kreis welcher Teilnehmer oder

 Gespräch des Bundespräsidenten Carstens mit Staatspräsident Mitterrand, 13. Juli 1981. In:
AAPD 1981, Dok. 200, S. 1072.
 Gespräch des Bundespräsidenten Carstens mit Staatspräsident Mitterrand, 13. Juli 1981. In:
AAPD 1981, Dok. 200, S. 1072.
 Gespräch des Bundespräsidenten Carstens mit Staatspräsident Mitterrand, 13. Juli 1981. In:
AAPD 1981, Dok. 200, S. 1072.
 Gespräch des Bundespräsidenten Carstens mit Staatspräsident Mitterrand, 13. Juli 1981. In:
AAPD 1981, Dok. 200, S. 1072.
 Mitterrand, Sieg, S. 214.
 Gespräch des Bundespräsidenten Carstens mit Staatspräsident Mitterrand, 13. Juli 1981. In:
AAPD 1981, Dok. 200, S. 1073.
 Mitterrand, Sieg, S. 219.
1.2 Zukunftserwartungen und Realitätsperzeptionen 55

Institutionen diese multilateralen Gespräche geführt werden könnten, präzisierte


er nicht. Außerdem müssen kritische Historiker Mitterrands Überzeugung von
einem Zusammenbruch des Ostblocks hinterfragen. Es besteht immerhin die
Möglichkeit, dass er eine stets ungewisse Zukunft bloß gegenüber seinen Ge-
sprächspartnern als Drohkulisse entwarf, um sie auf seine Vorstellungen einer
Umstrukturierung der internationalen Beziehungen und Stärkung der europäi-
schen Autonomie zu verpflichten. Gleichwohl zeigt sich hier eine Grundtendenz
seiner Außenpolitik: Anstatt auf Verhandlungen von Block zu Block, zwischen
den beiden Supermächten oder innerhalb eines Bündnisses basierten seine Vor-
stellungen stattdessen auf einer Multilateralisierung der Problemlösung. Mitter-
rands erste Regierung unter dem Premierminister Pierre Mauroy teilte diese Sicht:
In einer Rede vor dem Institut des hautes études de défense nationale am
14. September 1981 wandte dieser sich gegen das Konzept der bipolaren Welt. Nur
wenn sich die Entscheidungszentren multiplizieren würden, könnten sich Evo-
lutionen vollziehen und Europa zu seiner Autonomie finden.⁴⁷
Der Historiker Georges Saunier bedauert die Annahme vieler Autoren, dass
François Mitterrand als französischer Präsidentschaftskandidat kein Projekt für
Europa gehabt habe. Stattdessen gehen Saunier zufolge sowohl Wissenschaftler
als auch Zeitgenossen davon aus, dass Europa in Mitterrands politischer Kon-
zeption eher einen strukturellen Zwang ausgeübt habe. Sie bezweifeln seine
Verbundenheit zur europäischen Idee und unterstellen ihm gewissermaßen eine
Art Konversion zur Europapolitik.⁴⁸ Saunier sorgt insofern für einen differen-
zierteren Blick, als er zwischen einem institutionellen Europe communautaire und
einem Europe rêvée unterscheidet.⁴⁹ Die Ambivalenz des Wortes „Europa“ führt er
darauf zurück, dass es einerseits die europäische Idee und andererseits die eu-
ropäischen Institutionen bezeichne. Mitterrands Schriften, politische Aktionen
und öffentlichen Stellungnahmen bezeugen für Saunier, dass er durchaus ein
Anhänger der europäischen Idee gewesen sei. Die Europäischen Gemeinschaften
mit ihren Institutionen seien für ihn hingegen ein Europa der Gelegenheit ge-

 Mauroy, Pierre: La Cohérence d’une politique de défense. Allocution du Premier Ministre le 14


septembre 1981, lors de la séance d’ouverture de la 34ème session de l’IHEDN. In: Défense na-
tionale 414 (1981). S. 19.
 Saunier, Projet socialiste, S. 432. Er bezieht sich hierbei insbesondere auf folgende Autoren:
Duhamel, Eric: François Mitterrand. L’unité d’un homme. Paris 1998; Olivi, Bino: L’Europe dif-
ficile. Histoire politique de la Communauté européenne. Paris 1998; Lacouture, Jean: Mitterrand.
Une histoire de Français. 3 Bde. Paris 1998 und ein Zeitzeugengespräch, das Saunier selbst mit
Mitterrands ehemaligem Freund und politischem Weggefährten Maurice Faure am 4. Februar 2002
geführt hat.
 Saunier, Projet socialiste, S. 438.
56 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

wesen, das er sowohl in seinen Ambitionen als auch seiner Geographie limitiert
sah.⁵⁰ Mitterrands Interviewband mit Guy Claisse lässt sich als Beleg dieser These
anführen. Seine Frage, „warum Irland und nicht Österreich, warum Dänemark
und nicht Polen“⁵¹ zur Europäischen Gemeinschaft gehöre, verdeutlicht, dass er
das Europa der Neun gewissermaßen als willkürliches Konstrukt sah. Genug
pragmatisches Verständnis besaß er allerdings, dessen Entstehung auf den
Zweiten Weltkrieg beziehungsweise die Teilung der Welt in zwei Blöcke zurück-
zuführen. Hier manifestiert sich der Unterschied zwischen einem realpolitischen
und pragmatischen Europe communautaire, das sich historisch erklären lässt, und
einem Europe rêvée als europäische Idee. Es zeigt, dass die europäischen Insti-
tutionen in seinem Verständnis eben jene pragmatische Lösung waren, die ab
Ende der 1940er Jahre verfolgt wurde, weil sich eine paneuropäische Lösung als
vorerst nicht realisierbar erwiesen hatte.
Gérard Bossuat stellt fest, dass Mitterrand die europäische Politik aber auf-
grund seiner politischen Wurzeln in der IV. Republik mitgetragen habe, obwohl er
sich nach der Wahl mit Anti-Europäern wie der Kommunistischen Partei oder
Kritikern in seiner eigenen Partei wie Jean-Pierre Chevènement arrangieren
musste. Mitterrands europäische Ansichten sieht er gekennzeichnet von der Su-
che nach einem neuen Weg für Europa nach dem Weltkrieg und dem Scheitern der
Nationalismen. Für die Friedenssicherung von Frankreich und Westeuropas habe
er daher die Europäische Gemeinschaft als essentielles Instrument befürwortet.⁵²
Dem fügt Elisabeth du Réau noch hinzu, dass er Europa auch als Instrument für
die nationale Politik gesehen habe.⁵³ Tatsächlich habe François Mitterrand zwar
den Plan einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft zu Beginn der 1950er
Jahre nicht unterstützt, weil er eine politische, europäische Einigung als Vor-
aussetzung dafür beurteilte.⁵⁴ Anders als Roland Dumas Mitterrands politischer
Weggefährte und späterer Außenminister – stimmte er aber für die Römischen
Verträge über die Europäischen Gemeinschaften.⁵⁵ Während der IV. Republik
vertrat Mitterrand dann nicht das Europa der Föderalisten oder Technokraten.
Stattdessen schwebte ihm in dieser Zeit ein mit Afrika assoziiertes Europa vor, das
gewissermaßen als „un troisième bloc eurafricain“ mit dem Osten friedlich ko-
existieren sollte.⁵⁶ Grundsätzlich leisten die Beiträge von Bossuat, du Réau und

 Saunier, Projet socialiste, S. 432.


 Mitterrand, Sieg, S. 222.
 Bossuat, Faire l’Europe, S. 159 f.
 Du Réau, Engagement, S. 285.
 Mitterrand, Sieg, S. 222.
 Du Réau, Engagement, S. 285.
 Bossuat, Faire l’Europe, S. 161 f.
1.2 Zukunftserwartungen und Realitätsperzeptionen 57

Saunier zwar einen Anstoß, das Bild Mitterrands von einem zufälligen oder ge-
zwungenen Europäer zu korrigieren oder zumindest zu differenzieren. Allerdings
bildet eine historische Studie, die Mitterrands europäische Vorstellungen syste-
matisch im Wandel der Zeit von 1916 – 1996 analysiert und Lern- sowie Um-
denkprozesse erklärt, nach wie vor ein Desiderat. Da die vorliegende Arbeit sich
in erster Linie auf Mitterrands Sicherheitspolitik der 1980er Jahre konzentriert,
kann sie diese Forschungsarbeit freilich nicht leisten und letztlich nur auf diese
Forschungslücke aufmerksam machen. Gleichwohl wird die Analyse seine Motive
zur Unterstützung des europäischen Integrationsprozesses in den 1980er Jahren
herausarbeiten.
Dass die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft nicht seiner Idee von
Europa entsprachen, hinderte Mitterrand nicht daran, sie pragmatisch als gege-
bene Realität und grundsätzlich als Fundament seiner Zukunftsgestaltung an-
zuerkennen. Die existierenden Institutionen könnten „schließlich die Keimzelle
zur Vereinigung der europäischen Völker sein, durch die das Kunstgebilde von
Jalta zerschlagen werden kann.“⁵⁷ Die schwache politische Einheit Europas sah er
nach wie vor als Mangel. Er beklagte die gegenwärtigen Mechanismen als unso-
zial. Anstatt einer großen europäischen Vision würde Europa nur durch die Brille
nationaler Belange gesehen.⁵⁸ Pierre Mauroy schloss sich dem nach dem Regie-
rungsantritt an: Durch einen Niedergang einer einzigen Nation der EG leide die
europäische Kraft in ihrer Gesamtheit. Aus diesem Grund plädierte er für eine
Reorganisation der europäischen Solidarität.⁵⁹
Weder Mitterrands Wahlkampftexte noch die Erklärungen der ersten Regie-
rung enthalten konkrete Überlegungen, wie eine mögliche relance européenne
tatsächlich angestoßen werden konnte. Trotzdem stellt diese Arbeit die These auf,
dass die Wiederbelebung der europäischen Konstruktion das bevorzugte Instru-
ment darstellte, die gegenwärtigen Krisen zu bewältigen. Auf seinem ersten
Treffen des Europäischen Rates in Luxemburg zeigte Mitterrand sich konstruktiv.
Auch wenn sein Vorschlag eines „espace social européen“⁶⁰ nicht sogleich Re-
sonanz bei den europäischen Partnern fand, ist er doch als eine Initiative zu
bewerten, um Europa aus seinen Blockierungen zu befreien. Außerdem wurde ein
gesondertes Ministerium für europäische Angelegenheiten unter André Chan-
dernagor eingerichtet, das dem Außenministerium zugeordnet war. Anstatt von
einem konkreten Projekt für Europa auszugehen, scheint es plausibel, dass
Mitterrand über eine gewisse Idee von Europa verfügte. Ihr lag zwar keine kon-

 Mitterrand, Sieg, S. 223.


 Mitterrand, Sieg, S. 223 f.
 Mauroy, Cohérence, S. 18.
 Saunier, Projet socialiste, S. 438.
58 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

krete politische Agenda zugrunde und es stellt sich auch die Frage, inwieweit eine
solche angesichts der vielfachen Unwägbarkeiten erfolgversprechend gewesen
wäre. Dennoch beruhte sie auf dem langfristigen Ziel einer europäischen Auto-
nomie. Dafür werden in den folgenden Kapiteln konkrete Belege angeführt. In-
sofern war diese Idee zwar einerseits für Anpassungsleistungen an Entwicklun-
gen der Gegenwart offen. Andererseits musste dadurch die Leistung erbracht
werden, diese Idee in der politischen Wirklichkeit stets mit neuem Leben zu füllen
und ihre Umsetzung konkret zu verfolgen, damit sie nicht Gefahr lief, einfach nur
eine Idee zu bleiben.
Der Wunsch nach größerer europäischer Autonomie ergab sich insbesondere
aus der Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten, deren sicherheitspolitischen
Schutz Pierre Mauroy bei seiner Rede in Zweifel zog. Diese Unwägbarkeit sollte die
Europäer dazu motivieren, nach einer Perspektive für ein politisches Europa zu
suchen und über eine autonome Verteidigung nachzudenken.⁶¹ Mitterrand sah
Bedarf für eine Prüfung der transatlantischen Beziehungen und sprach sich für
eine zeitnahe Gipfelkonferenz aus. Seitens der linksgerichteten Zeitung Humanité
trug ihm dies den Vorwurf eines „Atlantikpaktanhänger[s]“⁶² ein. Im Umgang mit
den Staaten der Sowjetunion vermisste er eine einheitliche Strategie der westli-
chen Verbündeten. Während die Bundesrepublik neue wirtschaftliche und tech-
nische Verträge mit der Sowjetunion eingegangen sei, habe der amerikanische
Präsident Jimmy Carter die Beziehungen auf Eis gelegt. Nach dem Vietnamkrieg
habe die amerikanische Politik an klaren Konturen verloren, was er auf ein ge-
littenes Selbstvertrauen der Amerikaner zurückführte. Mitterrand stellte die Wa-
shingtoner Außenpolitik also in den Kontext amerikanischer Selbstwahrneh-
mungen.⁶³ Mitterrand und Mauroy übten beide Kritik an der amerikanischen
Wirtschaftspolitik. Sie bezichtigten die Amerikaner, einen Wirtschaftskrieg gegen
die Europäer zu führen.⁶⁴ Mauroy sah darin einen Risikofaktor für den Zusam-
menhalt der Allianz, dessen Bande aus seiner Sicht ohnehin locker seien. Mitt-
errand wollte die Europäer nicht unter einer amerikanischen Vormundschaft se-
hen, denn der Atlantikpakt sehe lediglich Konsultationen vor.⁶⁵ Im Hinterkopf
hatte Mitterrand hier wohl wiederholte Versuche der US-Administration, die Eu-
ropäer auf ihre Politik gegenüber den Staaten des Ostblocks zu verpflichten,
wohingegen dies in Europa als Einmischung und Bevormundung empfunden
wurde. Besonders konfliktreich waren in dieser Hinsicht die Auseinanderset-

 Mauroy, Cohérence, S. 22.


 Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 199.
 Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 200.
 Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 201; Mauroy, Cohérence, S. 19.
 Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 201.
1.2 Zukunftserwartungen und Realitätsperzeptionen 59

zungen um technische und wirtschaftliche Sanktionen gegenüber dem Ostblock


und das Projekt eines europäisch-sowjetischen Erdgas-Röhren-Geschäfts. Die
wirtschaftlichen Kritikpunkte brachten die französischen Politiker gelegentlich
zusammen mit den deutschen Partnern zum Ausdruck, woraus Auseinanderset-
zungen zwischen Amerikanern und Europäern resultierten. Im zweiten Kapitel
sollen diese Konflikte herausgearbeitet und die transatlantischen Beziehungen
dekonstruiert werden.
Pierre Mauroy schloss in seinem Bekenntnis zu den atlantischen Verträgen
keineswegs aus, dass es in Zukunft eine alternative Sicherheitsordnung geben
würde. In erster Linie hielt er zwar am französischen Engagement fest, aber er
machte auch deutlich, dass die Verträge eines Tages an einen neuen historischen
Kontext angepasst werden müssten. Mit der Westeuropäischen Union (WEU) be-
zog er sich sodann auf eine rein europäische sicherheitspolitische Institution.
Dieser militärische Beistandspakt vom Oktober 1954 als Erweiterung des Brüsseler
Paktes von 1948, dem Frankreich, Großbritannien, Belgien, die Niederlande, Lu-
xemburg, die Bundesrepublik Deutschland und Italien angehörten, war es de
facto nie gelungen, neben der NATO oder der EG eine eigenständige politische
Bedeutung zu erlangen.⁶⁶ Umso interessanter ist es daher, dass Mauroy sich zu
dem gesamten Ensemble an Verträgen bekannte und sich dabei auch explizit auf
die WEU berief.⁶⁷ Vergleichbar mit dem Verhältnis von Europe rêvée und Europe
communautaire war sich die neue Regierung unter Mauroy der sicherheitspoliti-
schen Zwänge des gegenwärtigen historischen Kontextes zwar bewusst, eröffnete
aber eine Zukunftsperspektive, indem sie der NATO einen dezidiert europäischen
Bezug gegenüberstellte.
Trotz der Interessenkonflikte mit der US-Administration und den Zweifeln an
der amerikanischen Sicherheitsgarantie waren sich Mitterrand und Mauroy be-
wusst, dass die NATO und das nukleare Schutzschild der USA für die Europäer
nach wie vor unverzichtbar waren. Der Argwohn einiger Verbündeter aufgrund
der französischen Sonderrolle in der NATO schlug angesichts der Wahl eines
sozialistischen Präsidenten und einer Regierungsbeteiligung der Kommunisten in
Misstrauen um, dem die französische Regierung mit Vertrauensbildung zu be-
gegnen versuchte.⁶⁸ Geschlossenheit im westlichen Bündnis sollte vor allem dazu

 Zur Entstehung der Westeuropäischen Union und ihrem Verhältnis zur NATO und dem eu-
ropäischen Integrationsprozess siehe: Schell, Peter: Bündnis im Schatten. Die Westeuropäische
Union in den 80er Jahren. Bonn/Berlin 1991. S. 36 – 76.
 Mauroy, Cohérence, S. 19.
 1966 hatte Charles de Gaulle die französischen Streitkräfte aus der integrierten Kommando-
struktur zurückgezogen. Frankreich blieb zwar trotzdem Mitglied der Atlantischen Allianz setzte
aber auf eine Unabhängigkeit der eigenen Streitkräfte unter ausschließlich französischem Kom-
60 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

dienen, dass Moskau die westliche Drohung einer Nachrüstung ernst nahm und
sich auf Rüstungsverhandlungen einließ, da eine Spaltung der Allianz keine er-
folgversprechende Alternative darstellte. Durch die Drohung mit einer vermeint-
lich gewissen Zukunft sollte diese also eigentlich abgewendet werden. Dies war
die zentrale Strategie des NATO-Doppelbeschlusses. Mitterrand zeigte sich zu-
versichtlich, dass diese Strategie erfolgreich sein und der Kreml sich auf seriöse
Verhandlungen einlassen würde, und bekräftigte seinen persönlichen Glauben an
ein Abkommen über die Euroraketen.⁶⁹ Für ihn stellten diese Äußerungen im
Wahlkampf bereits eine Legitimationsgrundlage für seinen künftigen politischen
Kurs und die Unterstützung des NATO-Doppelbeschlusses dar. Zudem lässt sich
die westliche Drohung mit der Nachrüstung grundsätzlich als Gefühlspolitik
verstehen, mit der eine ungewisse Zukunft instrumentalisiert und sowjetische
Angst evoziert wurden.
Mitterrands Gefühlspolitik als reinen Populismus zu verstehen, um das Amt
des Präsidenten zu erlangen, wäre verkürzt. Er erkannte tatsächlich zahlreiche
Risiken in der Aufstellung sowjetischer SS-20-Raketen, wie er Helmut Schmidt bei
ihren Zusammenkünften am 24. Mai und 12. Juli 1981 darlegte. Er kritisierte, dass
die Aufstellung der SS-20-Raketen unter seinem Vorgänger kaum zu einer Be-
einträchtigung der französisch-sowjetischen Beziehungen geführt hatte. Demge-
genüber beurteilte Mitterrand die Situation als Bedrohung für den transatlanti-
schen Zusammenhalt und für den Verbleib der Bundesrepublik im westlichen
Bündnis und allgemein für die westeuropäische Sicherheit und den Frieden in
Europa.⁷⁰ Die Analyse im zweiten Kapitel wird dies detaillierter in den Blick
nehmen. An dieser Stelle ist jedoch entscheidend, dass Mitterrand die Bedrohung
durch die SS-20-Raketen ausdrucksvoll vermittelte, um Angst vor diesem Bedro-
hungsszenario als politische Ressource im Wahlkampf zu nutzen.
Indem er die Sowjetunion als „Aggressor“ bezeichnete, hatte Mitterrand ein
Bedrohungsszenario entworfen, dem er Giscard d’Estaing nicht gewachsen sah.
Allerdings erklärte er sowohl im Wahlkampf als auch in seiner ersten Presse-
konferenz im Elysée, dass er der gegenwärtigen Führung in Moskau keine krie-

mando. Für die französische Vertrauensbildung gegenüber den westlichen Verbündeten siehe
Kapitel 2.2.
 Mitterrand, Sieg, S. 216, 218.
 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 24. Mai 1981.
In: AAPD 1981, Dok. 153, S. 852; Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident
Mitterrand in Paris, 12. Juli 1981. In: AAPD 1981, Dok. 198, S. 1038 – 1041.
1.2 Zukunftserwartungen und Realitätsperzeptionen 61

gerischen Absichten unterstelle.⁷¹ Das sowjetische Volk habe sehr unter dem
letzten Krieg gelitten und die aktuelle Führung habe dies persönlich erlebt. Diese
Aussagen erzeugen ein ambivalentes Bild.⁷² Insgesamt lässt sich daraus ablesen,
dass er die unmittelbare Drohung eines Krieges in Europa weitaus geringer ver-
anschlagte, als er die Wähler teilweise Glauben machen wollte. Das bedrohliche
Zukunftsszenario findet sich immer dann in seinen öffentlichen Stellungnahmen,
wenn sie direkt mit einer Abgrenzung oder Diffamierung von Giscard d’Estaings
Politik einhergehen. Allerdings hatte er wenig Interesse daran, als „Kalter Krie-
ger“ zu erscheinen. Das Evozieren von Ängsten bei der sowjetischen Führung
sollte gerade so weit getrieben werden, dass sie sich zu Verhandlungen bereit-
fand. Keineswegs sollte dies übersteigerte und irrationale Ängste auslösen, die
auch eine völlige Abschottung der Sowjetunion hätten nach sich ziehen können.
Ebenso wären übersteigerte Ängste der Öffentlichkeit vor einem neuen Krieg
hinderlich für seine Politik gewesen, da dies in der Bevölkerung Forderungen
nach einer konzilianteren Politik gegenüber Moskau hätte auslösen können. Da-
mit lassen sich Mitterrands Relativierungen und ambivalente Stellungnahmen
erklären. Zu keinem Moment stellte er die Grundtendenzen französischer Au-
ßenpolitik, die traditionelle Freundschaft oder Verträge mit der Sowjetunion in-
frage. Vielmehr kritisierte er Giscard d’Estaing dafür, dass dieser sich von der
Sowjetunion emotional habe hinters Licht führen lassen.⁷³
Wenn er auch nicht von einer unmittelbaren Kriegsgefahr ausging, bewertete
er eine militärischen Überlegenheit der Sowjetunion in Europa doch als poten-
tielle, künftige Bedrohung: An der sowjetischen Spitze würden Generationen
nachfolgen, die die Leiden des Zweiten Weltkrieges persönlich nicht erlebt hätten
und für diesen Fall sei ein Kräfteungleichgewicht zu verhüten, aus dem ein Krieg
in Europa entspringen könnte.⁷⁴ Dieses Kräfteungleichgewicht sah er durch die
SS-20-Raketen wachsen und sprach sich in seiner ersten Pressekonferenz des
Elysée im September 1981 nicht nur für eine Begrenzung des Wettrüstens durch
Verhandlungen der beiden Supermächte aus, sondern für Abrüstung – also ins-
gesamt eine Senkung des Rüstungsniveaus.⁷⁵ Dabei zeigte Mitterrand auch ein

 Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 202; Conférence de presse du
Président de la République (extraits), 24. Septembre 1981. In: La Politique Etrangère de la France.
Textes et Documents, 1981 (September/Oktober), S. 31.
 Für die Entstehung und Erklärung dieses ambivalenten Bildes siehe Kapitel 2.
 Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 204.
 Conférence de presse du Président de la République (extraits), 24. Septembre 1981. In: La
Politique Etrangère 1981 (September/Oktober), S. 31.
 Conférence de presse du Président de la République (extraits), 24. Septembre 1981. In: La
Politique Etrangère 1981 (September/Oktober), S. 31.
62 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

gewisses Empathievermögen, da er auch das sowjetische Bedürfnis nach Si-


cherheit in Rechnung stellte. Er hielt die sowjetische Beunruhigung angesichts
der amerikanischen Politik durchaus für gerechtfertigt und identifizierte bei der
Moskauer Führung die Angst, eine politische Fehlkalkulation mit dem Preis eines
Krieges bezahlen zu müssen, wodurch er indirekt ihr konstantes Misstrauen er-
klärte. Dahinter verbarg sich der Vorwurf, dass „im Westen eine Kriegspartei“⁷⁶
existiere, die er zwar nicht explizit benannte aber doch indirekt in den Zusam-
menhang mit der amerikanischen Politik stellte. Obschon Mitterrand keine In-
tentionen unterstellte, hielt er doch fest, dass diese Politik bei der Sowjetunion
Ängste ausgelöst und sie daran gehindert habe, dem Westen entgegenzukom-
men.⁷⁷ Er machte also deutlich, dass er Feindbilder und Ängste als Hindernis für
die Verhandlungen sah, obwohl er diese zum Teil doch auch selbst bediente. Die
politischen Entscheidungen, die Mitterrand und die erste Regierung unter Pierre
Mauroy daraus für die französisch-sowjetischen Beziehungen ableiteten, werden
im zweiten Kapitel analysiert.
Aus der Konstellation transatlantischer Konflikte, gesteigerter Spannungen
zwischen Ost und West sowie der paralysierten Europäischen Konstruktion er-
wuchs ein Dilemma, das Mitterrand durch den Rückzug auf die nationale Unab-
hängigkeit zu kompensieren versuchte. Diese wurde durch die eigenständige
französische Atomstreitmacht, die force de frappe, garantiert. Nationale Unab-
hängigkeit spezifizierte Pierre Mauroy als Freiheit in politischen und diplomati-
schen Entscheidungen.⁷⁸ Indem die französischen Streitkräfte nicht Teil der in-
tegrierten Kommandostruktur der NATO waren, sollte verhindert werden, dass
Frankreich in einen Konflikt hineingezogen werde, der nicht überblickt werden
könne, rechtfertigte Mitterrand das Festhalten an der Entscheidung de Gaulles
von 1966.⁷⁹ Verteidigungsminister Charles Hernu legte nach der Übernahme der
Regierungsverantwortung 1981 die französische Militärdoktrin dar. Die Sicher-
heitsdoktrin beruhte demnach auf zwei Grundsätzen: erstens dem Bündnis mit
den atlantischen Partnern und zweitens einer französischen Unabhängigkeit.
Diese bezog er wiederum auf zwei wesentliche Punkte: Obwohl Frankreich einer
der westlichen Verbündeten sei, komme dem Land eine vermittelnde Rolle zwi-
schen den Blöcken zu, womit er die politische Entscheidungsfreiheit meinte.
Zudem bezog er die Unabhängigkeit aber auch auf die französischen Atomarse-

 Mitterrand, Sieg, S. 220.


 Mitterrand, Sieg, S. 220.
 Mauroy, Cohérence, S. 21.
 Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 202.
1.2 Zukunftserwartungen und Realitätsperzeptionen 63

nale, die ausschließlich der nationalen Abschreckung dienten und nicht ver-
handelbar seien. In der französischen Militärdoktrin der Abschreckung musste
ein potentieller Angreifer mit einem massiven nuklearen Schlag rechnen, was ihn
von einem Angriff auf Frankreich im Vorfeld abhalten sollte. Dies sei mit der
Militärdoktrin der NATO – der Flexible Response – prinzipiell unvereinbar.⁸⁰
Grundsätzlich sprach sich François Mitterrand zwar nicht gegen eine weltweite
Behandlung des Abrüstungsproblems aus. Allerdings müssten dafür gewisse
Prinzipien der Proportionalität der Nukleararsenale gewahrt bleiben.⁸¹
Premierminister Pierre Mauroy und Verteidigungsminister Charles Hernu
benannten 1981 die drei Säulen der nuklearen Streitkräfte und kündigten
gleichzeitig deren Modernisierung an. Säule eins bildete die luftgestützte Abwehr
mit atomar bestückten Überschallbombern des Typs Mirage IV. Die zweite Kom-
ponente umfasste die bodengestützten Mittelstreckenraketen auf dem Plateau
d’Albion und die dritte Säule die seegestützten Streitkräfte, bestehend aus nu-
klearen U-Booten.⁸² Insgesamt legte Charles Hernu drei permanente Prinzipien
der französischen Sicherheitspolitik fest, an die sich die neue Regierung gebun-
den fühlte. Erstens betonte er, die vitalen Interessen Frankreichs zu garantieren.
Sicherheit wurde von ihm allerdings nicht allein als rüstungspolitische Aufgabe
verstanden, sondern auch als diplomatische Verantwortung durch Bemühungen
um Krisen- und Konfliktprävention, Arbeit an der Entspannungspolitik und eine
Förderung der Abrüstung. Zweitens bewahre die Regierung ihre Entscheidungs-
freiheit in Sicherheitsfragen, was nicht gleichbedeutend damit sei, dass sie nur an
sich selbst interessiert sei, denn drittens sei sie gegenüber Verbündeten und
Freunden treu.⁸³
Obwohl die sicherheitspolitische Situation um 1981 eine baldige Auflösung
der bipolaren Staatenordnung nicht unbedingt erwarten ließ, wird in dieser Arbeit
die These aufgestellt, dass die équipe Mitterrand eine Neuordnung der interna-
tionalen Staatenbeziehungen anstrebte. Die Bipolarität sollte zugunsten eines
multipolaren Systems weichen. Dafür bedurfte es aber zunächst der Überwindung
eines dreidimensionalen Hindernisses durch Vertrauensbildung in der Atlanti-
schen Allianz, Entspannungspolitik zwischen Ost und West sowie einer relance
européenne. ⁸⁴

 Hernu, Charles: Répondre aux défis d’un monde dangereux. Discours prononcé par M. Charles
Hernu, Ministre de la Défense, devant les auditeurs de l’institut des hautes études de défense
nationale. In: Défense nationale 416 (1981). S. 11.
 Mitterrand, Sieg, S. 217.
 Mauroy, Cohérence, S. 23; Hernu, Défis, S. 14 f.
 Hernu, Défis, S. 21 f.
 Siehe dafür insgesamt Kapitel 2 und 3.
64 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

1.3 Ursprünge und Einflüsse

Die Linie des sozialistischen Präsidenten François Mitterrand beschrieb der Au-
ßenminister Claude Cheysson seinem Amtskollegen Hans-Dietrich Genscher am
12. Juli 1981 folgendermaßen: „Die Verteidigungspolitik der Regierung Mitterrands
läßt sich auf eine kurze Formel zusammenziehen. Sie wird der de Gaulleschen
Politik näher sein als der Politik Pompidous und Giscard d’Estaings.“⁸⁵ Die Sug-
gestion von Kontinuität beziehungsweise Diskontinuität zu Mitterrands Vorgän-
gern gilt es kritisch zu hinterfragen. Die Überwindung der Blockkonfrontation
stellte seit Charles de Gaulle zwar einen integralen Bestandteil und ein langfris-
tiges Ziel der französischen Sicherheitspolitik dar. Aufgrund tagespolitischer
Notwendigkeiten trat die Entspannungspolitik allerdings bisweilen in den Hin-
tergrund, wenn sie – wie beispielsweise im Wahlkampf – die Durchsetzung an-
derer Ziele zu verhindern drohte. In der französischen Konzeption von Entspan-
nungspolitik war eine gewisse Ambivalenz angelegt, da sie ein Überleben im
Kalten Krieg sichern sollte, aber zugleich darauf zielte, die bipolare Ordnung
langfristig zugunsten einer neuen Ordnung zu überwinden. Damit war die Détente
ein Instrument für kurzfristige und langfristige Zukunftsaussichten gleicherma-
ßen. Sie stand zum einen als modus vivendi im Kalten Krieg bereit und besaß zum
anderen einen nicht zu verachtenden transformativen Charakter.⁸⁶ Dieser war
darauf angelegt, die beiden Teile Europas langfristig und auf evolutionäre Weise
zusammenzuführen und von der Bevormundung der beiden Supermächte zu
befreien. Angesichts des Zweiten Kalten Krieges sahen sich die politischen Ak-
teure zu Beginn der 1980er Jahre genötigt, den Status Quo zunächst einmal zu
stabilisieren. Zudem rückte der Aufbau alternativer Sicherheitsstrukturen ver-
stärkt in das Blickfeld und wurde von einer langfristigen zu einer mittelfristig
erwarteten Zukunft, da Mitterrand innerhalb von einer Generation mit einem
Umbruch der internationalen Staatengemeinschaft rechnete.
Gewissermaßen war die Janusköpfigkeit der Détente bereits in der Teilung
Europas angelegt: Die Westeuropäer hatten sich unter den Bedingungen des
heraufziehenden Kalten Krieges dem Dilemma ausgesetzt gesehen, entweder die
Sicherheit Westeuropas zu garantieren und damit eine Vertiefung der Teilung
potentiell in Kauf zu nehmen oder aber an einer paneuropäischen Vision fest-

 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem französischen Außenminister, 12. Juli 1981.
In: AAPD 1981, Dok. 199, S. 1061.
 Vgl. dazu u. a. Kieninger, Stephan: Den Status Quo aufrecht erhalten oder ihn langfristig
überwinden? Der Wettkampf westlicher Entspannungsstrategien in den Siebzigerjahren. In: Die
beiden deutschen Staaten in ihren Bündnissen 1970 bis 1990. Hrsg. von Bange, Oliver/Lemke,
Bernd. München 2013. S. 67– 86.
1.3 Ursprünge und Einflüsse 65

zuhalten und damit die Sicherheit der westeuropäischen Staaten aufs Spiel zu
setzen. Die Integration Westeuropas in einen westlichen Block entsprang keiner
historischen Zwangsläufigkeit, denn tatsächlich gab es durchaus auch in Osteu-
ropa Keime für das Streben nach transnationalen beziehungsweise europäischen
Zusammenschlüssen. Verschiedene osteuropäische Föderationspläne nach dem
Zweiten Weltkrieg – wie beispielsweise ein polnisch-tschechoslowakisches oder
ein jugoslawisch-griechisches Konföderations-Abkommen – werden als Vorstufe
einer Föderalisierung zu einer osteuropäischen Union in einem europäischen
Kontext gesehen.⁸⁷ Aufgrund der Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg strebte Stalin
allerdings an, Osteuropa in den sowjetischen Einflussbereich zu integrieren.
Damit schienen die Chancen für eine Realisierung der Föderationspläne zu
schwinden, wohingegen die Einigung auf eine westeuropäische Allianz eher
realisierbar erschien.⁸⁸ Die Vorstellung von einem Europa als Dritte Kraft, die
eingangs bereits eingeführt und von Léon Blum am 20. November 1947 in der
französischen Nationalversammlung vorgestellt wurde, beruhte auf der Weige-
rung, die Teilung der Welt in Ost und West hinzunehmen.⁸⁹ Die Angst vor einem
neuen Krieg motivierte ihn, Europa als Vermittler zwischen den beiden Blöcken
zu konzipieren. Um die Rivalität zwischen den USA und der Sowjetunion zu
mäßigen, bedurfte es eines Machtgewinns, der durch einen Zusammenschluss der
Europäer und eine gemeinsame Organisation erzielt werden sollte. Zugleich sollte
er den Europäern helfen, ihre Eigenständigkeit gegenüber den beiden Super-
mächten zu wahren. Insofern beruhte die Vorstellung der Dritten Kraft auf der
Schaffung eines neuen Machtzentrums in der Weltpolitik, das trotz eines Bünd-
nisses mit den USA seine politische Entscheidungsfreiheit wahren könnte.⁹⁰ Die
Umsetzung dieser Konzeption scheiterte schließlich aufgrund unterschiedlicher
Faktoren; insbesondere verlor die europäische Mediationsrolle gegenüber einer
Verteidigung gegen eine als expansionistisch und bedrohlich wahrgenommene
Sowjetunion an Bedeutung.⁹¹ Allerdings blieben die Selbstbehauptung der Eu-
ropäer sowie die Überwindung der bipolaren Staatenordnung wesentliche An-

 Vgl. Loth, Wilfried: Sources of European Integration. The Meaning of Failed Interwar Politics
and the Role of World War II. In: Crises in European Integration. Challenges and Response, 1945 –
2005. Hrsg. von Kühnhardt, Ludger. New York/Oxford 2009. S. 23 f.
 Vgl. Loth, Sources, S. 25 f.
 Vgl. Loth, Wilfried: Léon Blum und das Europa der Dritten Kraft. In: Europa und die Europäer.
Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte (Festschrift für Hartmut Kaelble zum
65. Geburtstag). Hrsg. von Hohls, Rüdiger/Schröder, Iris/Siegrist, Hannes. Stuttgart 2005. S. 442 f.
 Vgl. Loth, Léon Blum, S. 443 f.
 Vgl. Loth, Sources, S. 29.
66 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

triebskräfte der französischen Europa- und Entspannungspolitik.⁹² Die Gefahr


einer neu entfachten Konfrontation zwischen Ost und West zu Beginn der 1980er
Jahre, ein wachsendes Selbstvertrauen der Europäer durch die Europäische Po-
litische Zusammenarbeit (EPZ) in den 1970er Jahren und damit einhergehend
zunehmende Interessenkonflikte mit den amerikanischen Verbündeten waren
wichtige Stimuli für François Mitterrand und andere europäische Staatschefs, die
europäische Kooperation mit dem Ziel größerer Eigenständigkeit auszubauen.
Der bipolaren Staatenordnung wurde also bereits eine europäische Per-
spektive gegenübergestellt, bevor sich die Teilung zu vertiefen drohte. Diese bot
insofern seit dem Beginn des Ost-West-Konfliktes eine potentielle, wenn auch zu
diesem Zeitpunkt nicht realisierte Alternative zu der bestehenden Ordnung. Sie
schrieb sich in die europäische Politik ein, indem sich unter anderem auch
Charles de Gaulle diesen Motiven verpflichtet fühlte, der 1958 zunächst als Mi-
nisterpräsident der IV. Republik und schließlich als französischer Präsident der V.
Republik auf die politische Bühne zurückgekehrt war. Die Auflösung der militä-
rischen Blöcke und der europäischen Spaltung gingen in die entspannungspoli-
tische Konzeption ein, mit dem Ziel, den Europäern langfristig die Eigenverant-
wortung für ihre Politik zu ermöglichen. Einige Aspekte seiner Politik – wie
beispielsweise der Aufbau eines unabhängigen französischen Nuklearprogramms
oder die Suche nach engeren Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland –
fanden ihre konzeptionellen Ursprünge in der IV. Republik.⁹³ Mit seinem Entwurf
eines Europe européenne vermochte Charles de Gaulle seine politischen Visionen
auf eine Formel zu bringen. Die Vorstellungen eines Europas vom Atlantik bis zum
Ural beinhaltete ein „mit sich selbst ausgesöhntes Europa“⁹⁴. Obwohl sie laut
Ernst Weisenfeld kein reales politisches Ziel in den 1960er Jahren darstellte, er-
öffnete sie als eine Art Vision, eine Perspektive auf eine „glückliche Zukunft“⁹⁵.
Damit wandte de Gaulle sich einerseits an die Deutschen auf der einen Seite,
deren Wiedervereinigung für ihn nur in einem ausgesöhnten Europa erfolgen
konnte und er wollte ihnen durch die hoffnungsvolle Perspektive die Geduld er-

 Vgl. Loth, Léon Blum, S. 444.


 Vgl. Kramer, Mark: Introduction: De Gaulle and Gaullism in France’s Cold War Foreign Policy.
In: Globalizing de Gaulle. International Perspectives on French Foreign Policies 1958 – 1969. Hrsg.
von Nünlist, Christian/Locher, Anna/Martin, Garret. Lanham [u. a.] 2010. S. 18.
 Weisenfeld, Ernst: Europa vom Atlantik zum Ural. Eine magische Formel – Eine Vision – Eine
Politik. In: De Gaulle, Deutschland und Europa. Hrsg. von Loth, Wilfried/Picht, Robert. Opladen
1991. S. 72.
 Weisenfeld, Europa, S. 74.
1.3 Ursprünge und Einflüsse 67

leichtern. Andererseits sprach er damit auch die Völker Mittel- und Osteuropas
sowie die Sowjetunion als Europäer an.⁹⁶
Obwohl die Formel Europe européenne auf einen eher langfristigen Zu-
kunftshorizont gerichtet war, lagen ihr doch recht konkrete politische Vorstel-
lungen zugrunde: Konzipiert wurde es als eine eigenständige Organisation zur
Vertretung europäischer Interessen innerhalb des westlichen Bündnisses gleich-
sam einer europäischen Säule. Die Schaffung eines europäischen Entschei-
dungszentrums sollte die westliche Allianz somit zwar modifizieren, aber kei-
neswegs infrage stellen. Da de Gaulle die europäische Entscheidungsfreiheit
durch die Abhängigkeit von der amerikanischen Verteidigung beeinträchtigt sah
und ihr zudem misstraute, bestand der Kern seiner Konzeption aus einer vertei-
digungspolitischen Autonomie Europas. Der Aufbau einer französischen Atom-
streitmacht widersprach diesen Absichten insofern nicht, als diese ursprünglich
eine europäische Funktion erfüllen und es eine Verständigung über eine ge-
meinsame europäische Verteidigungsstrategie geben sollte. Der Aufbau eines
unabhängigen Westeuropa sollte langfristig einen Hebel schaffen, um das System
von Jalta aus seinen Angeln zu heben. Es stellte für Charles de Gaulle somit die
Möglichkeit dar, „einem amerikanisch-sowjetischen Kondominium zu entkom-
men“⁹⁷. Wilfried Loth weist darauf hin, dass vor diesem Hintergrund de Gaulles
Politik des leeren Stuhls oder der Austritt aus der integrierten Kommandostruktur
der NATO mit der Formulierung einer unabhängigen Verteidigungsdoktrin eher
als „Notlösung verstanden werden [muss], die so weder vorprogrammiert war
noch den Intentionen des Generals voll gerecht wurde.“⁹⁸ Diese „Notlösung“
wurde de Gaulle später nicht nur als ein Charakteristikum seiner Politik unter-
stellt. Vielmehr noch schrieb sich die Politik der französischen Unabhängigkeit
strukturell ein und wurde unter seinen Nachfolgern zu einem Grundpfeiler der
französischen Außenpolitik. Auch die Sozialisten unter François Mitterrand
hielten eisern daran fest.⁹⁹
Für die Überwindung der Teilung brauchte es als Voraussetzung ein „Klima
der Entspannung“¹⁰⁰. De Gaulles Konzeption von Entspannungspolitik war ein
Konglomerat an Zielen und Methoden und wird bisweilen unter den Schlagworten

 Vgl. Weisenfeld, Europa, S. 74 f.


 Loth, Wilfried: De Gaulle und die europäische Einigung. In: Loth/Picht (Hrsg.), De Gaulle,
Deutschland und Europa, S. 56.
 Loth, De Gaulle und die europäische Einigung, S. 58.
 Vgl. Loth, De Gaulle und die europäische Einigung, S. 54– 58.
 Weisenfeld, Europa, S. 76; Für die Ursprünge der gaullistischen Entspannungspolitik und
Erfahrungen, die darin eingingen siehe: Vaïsse, Grandeur, S. 282 f.
68 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

détente, entente und coopération zusammengefasst.¹⁰¹ Der Abschluss von Ko-


operationsverträgen in den Bereichen Wirtschaft und Kultur, eine Intensivierung
der politischen Beziehungen zwischen Moskau und Paris sowie Handelsbezie-
hungen mit den Ländern Osteuropas, richteten sich insgesamt darauf, Ideologien
zu überwinden.¹⁰² Obwohl die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 der
gaullistischen Entspannungspolitik einen herben Schlag versetzte, blieb die
französisch-sowjetische Annäherung doch nicht bloß ein Exkurs, sondern wurde
zu einem Charakteristikum französischer Außenpolitik. Unter seinen Nachfolgern
kam auch die Komponente militärischer Entspannung durch Rüstungskontrolle
hinzu.¹⁰³
Die Äußerungen von Mitterrand, Mauroy und Hernu um 1981 sowie die Au-
ßen- und Sicherheitspolitik der sozialistischen Regierungsmannschaft gilt es
grundsätzlich in den Kontext konzeptioneller Vordenker zu stellen. Der Bezug zu
Charles de Gaulle und Léon Blum ist hier ebenso unverzichtbar wie die Paneu-
ropa-Union von Richard Coudenhove-Kalergi oder der Plan für eine europäische
Union von Aristide Briand aus der Zwischenkriegszeit.¹⁰⁴ Sie stellen als bereits
existierende alternative Ordnungsvorstellungen zur bipolaren Staatenordnung
wichtige Einflussfaktoren für die politischen Ideen von François Mitterrand und
Teilen seiner équipe dar. Verstanden als kollektiver Erfahrungsraum sind diese
Konzepte für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand relevant. Um dies
weiterführend zu erklären, ist es notwendig, einen Blick auf die persönliche und
politische Sozialisation von François Mitterrand und einigen seiner politischen
Weggefährten zu werfen.
Individuen handeln vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrungen, die
in kollektive Zusammenhänge eingebunden sind. Um politisches Handeln von
individuellen Akteuren verstehen zu können, ist es daher notwendig, ihre Er-
fahrungen der Vergangenheit sowie ihre Sozialisationsprozesse in die Analyse
miteinzubeziehen. In Zusammenhang mit dem vorliegenden Untersuchungsge-
genstand stellt sich die Frage, ob François Mitterrand bereits in seiner Vergan-
genheit Kontingenzerfahrungen gemacht hatte und welche Kompetenzen, Über-
zeugungen und welches politische Kapital er daraus entwickelt hat, um mit
Unsicherheiten umzugehen. Die Erfahrung von Krieg kann in zweifacher Hinsicht

 Vgl. Weisenfeld, Europa, S. 77.


 Vgl. Vaïsse, Grandeur, S. 420, 423, 425 – 429.
 Vgl. Vaïsse, Grandeur, S. 443, 451; Badalassi, Continent, S. 108 f.
 Siehe dazu u. a. Kießling, Friedrich: Der Briand-Plan von 1929/30. Europa als Ordnungs-
vorstellung in den internationalen Beziehungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: The-
menportal Europäische Geschichte (2008). www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3427
(15.03. 2017).
1.3 Ursprünge und Einflüsse 69

als zentral für die persönliche und politische Sozialisation von François Mitter-
rand bewertet werden. Der Erste Weltkrieg und dessen unmittelbare Folgen
nahmen durch die Erzählungen der Eltern und sein Aufwachsen in der Zwi-
schenkriegszeit Einfluss auf seine Kindheit und Jugend. In noch höherem Maße
wurde er durch seine persönlichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg geprägt.
Während der drôle de guerre war Mitterrand an der Maginot-Linie stationiert. Im
Frühsommer 1940 wurde er bei Verdun von einem Granatensplitter verletzt und
geriet in deutsche Gefangenschaft, während Frankreich im Krieg unterlag und die
Deutschen in Paris einmarschierten. 18 Monate verbrachte Mitterrand in deut-
scher Kriegsgefangenschaft und erfuhr das Alltagsleben in einem Kriegsgefan-
genenlager. Von März bis Dezember 1941 unternahm Mitterrand drei Fluchtver-
suche aus deutscher Gefangenschaft und erst der dritte im Dezember glückte ihm.
Nach seiner Rückkehr nach Frankreich arbeitete er in der Verwaltung des Regimes
von Vichy für die Wiedereingliederung von Kriegsgefangenen.¹⁰⁵ Dabei knüpfte er
parallel Kontakte zu Widerstandsgruppen, schloss sich im November 1942 der
Résistance an und lebte im Untergrund. In seiner Biographie beschreibt Franz-
Olivier Giesbert François Mitterrand als äußerst risikobereit während des Krieges
und als jemanden, der alles auf eine Karte setzte. Durch die Existenzerfahrung
von Krieg, Gefangenschaft und Flucht entwickelte Mitterrand einen spezifischen
Umgang mit Risiko, da er vor der Wahl stand, mit einem Fluchtversuch sein Leben
zu riskieren oder im Falle eines Erfolges umso mehr zu gewinnen. Es ist nicht das
Anliegen dieser Arbeit, die Entscheidungen des jungen Mitterrand zu erklären,
sondern die Erfahrungen herauszuarbeiten, die ihn ganz offensichtlich auch für
seine spätere politische Karriere geprägt haben. Die Bilder, die François Mitter-
rand mit Krieg verband, hängen mit dem zusammen, was er während des Zweiten
Weltkrieges erlebte. Er erfuhr, dass er sich weder auf persönliche Bindungen noch
auf den Bestand gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen verlassen konnte.¹⁰⁶ Mit
Krieg verband François Mitterrand in der Retrospektive den „Zerfall aller gesell-
schaftlichen Strukturen“¹⁰⁷ und den Verlust jeder Orientierung.¹⁰⁸ Seine Schilde-
rungen der Erlebnisse des Krieges in Lothringen – beispielsweise Plünderungen
französischer Städte durch französische Soldaten – machen deutlich, dass für ihn
Krieg Anarchie bedeutete. Die Niederlage Frankreichs habe er als Demütigung
empfunden und sie habe ein Wutgefühl „[g]egen die Art und Weise, wie Frank-
reich regiert worden war“, in ihm ausgelöst.¹⁰⁹

 Vgl. Giesbert, Franz-Olivier: François Mitterrand. Die Biographie. Berlin 1997. S. 45 f.
 Vgl. Giesbert, François Mitterrand, S. 22– 52.
 Mitterrand/Wiesel, Nachlese, S. 120 f.
 Mitterrand/Wiesel, Nachlese, S. 101.
 Mitterrand/Wiesel, Nachlese, S. 120 f., Zitat S. 119.
70 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

Eine weitere Erfahrung der Unsicherheit machte François Mitterrand während


seiner Zeit im Untergrund als Mitglied im französischen Widerstand. Dass seine
Familie seinen Aufenthaltsort nicht kannte und er unter falscher Identität kei-
nerlei Spur hinterließ, löste in ihm ein Gefühl der Einsamkeit und Hilflosigkeit
aus.¹¹⁰ Zwar bestanden innerhalb der Résistance gewisse Strukturen. Letztlich
zeichnete sich das Engagement aber durch eine permanente Abwesenheit jed-
weder Sicherheit aus. Mitterrand machte also als junger Mensch nicht nur die
Erfahrung, dass unhinterfragtes Vertrauen in gesellschaftliche Ordnungsstruk-
turen erschüttert wurde. Hinzu kam auch, dass Vertrauen in eine falsche Person
unter Umständen mit dem Leben bezahlt werden konnte. Auf diese Weise wurde
ein konstantes Misstrauen zur Lebensversicherung. Im Anschluss an den Zu-
sammenhang von Erfahrung und Erwartung ist davon auszugehen, dass diese
Lebensphase großen Einfluss auf die Ausbildung von Mitterrands Persönlichkeit
nahm, in der Zeitgenossen mitunter einen Individualisten erkannten.¹¹¹ Innerhalb
des Widerstandes stieg Mitterrand zum Anführer einer Gruppe auf und machte
das Milieu der Kriegsgefangenen zum Sprungbrett seiner politischen Karriere
nach dem Zweiten Weltkrieg.¹¹² Zudem erwarb er über diese Funktion politische
Führungskompetenzen.
Seine Konzeption von Staatsautorität bildete Mitterrand Hubert Védrine zu-
folge während der IV. Republik aus, als sich die Politik im Vergleich zur V. Re-
publik durch wenig Technokratie ausgezeichnet habe.¹¹³ Mitterrands persönliche
und politische Sozialisation, die er insbesondere während der IV. Republik
durchlief, stehen in einem engen Zusammenhang. Aus beidem zusammen ent-
wickelte er zum einen spezifische Fähigkeiten und Überzeugungen im Umgang
mit Kontingenzerfahrungen. Zum anderen verstand er es, Kapital daraus abzu-
leiten, indem er durch die Anführerrolle einer Résistance-Splittergruppe mit den
Aufgaben und der Verantwortung eines Chefs vertraut wurde und seine Kontakte
zu einer politischen Machtbasis ausbauen konnte. Noch während des Krieges
hatte Mitterrand damit begonnen, ehemalige Kriegsgefangene und Deportierte
um sich zu sammeln, wodurch sowohl seine Verbindungen als auch sein Einfluss
wuchsen.¹¹⁴ Mitterrand zählte zu einer Generation mit einer beschleunigten po-

 Mitterrand/Wiesel, Nachlese, S. 170.


 Giesbert, François Mitterrand, S. 16; Védrine, Mondes, S. 30.
 Védrine, Mondes, S. 85.
 Védrine, Mondes, S. 30.
 Giesbert, François Mitterrand, S. 55.
1.3 Ursprünge und Einflüsse 71

litischen Karriere,¹¹⁵ was Roland Dumas als typisch für jene Zeit beschreibt, da
das politische Personal der Vorkriegszeit praktisch hinweggefegt worden sei.¹¹⁶
Mitterrand war ein bekannter Führer des Mouvement National des Prisonniers de
Guerre et Déportés (MNPGD) und konnte in allen Départements und Städten auf
die politische Unterstützung ehemaliger Kriegsgefangener zählen. Dies erleich-
terte Mitterrand seine Wahl in die französische Nationalversammlung 1946, in der
er sich der Union Démocratique et Socialiste de la Résistance (UDSR) anschloss.
Um die politische Unterstützung der Gruppe zu gewinnen, hatte Premierminister
Paul Ramadier Mitterrand in der ersten Regierung der IV. Republik einen Minis-
terposten – das Ministère des Anciens Combattants – angeboten. Trotz der schnell
wechselnden Regierungen gehörte François Mitterrand während der gesamten
Zeit der IV. Republik zum Ministerkreis. Damit floss die politische Praxis der IV.
Republik, die weniger durch Zugehörigkeit zu politischen Parteien als vielmehr
durch die politische Programmatik der Abgeordneten gekennzeichnet war, in
Mitterrands Sozialisationsprozess ein. Charakterzüge eines Individualisten, die
Mitterrand durch die Erfahrung von Krieg und Untergrund ausgebildet hatte,
wurden insofern durch die politische Praxis der IV. Republik verstetigt.¹¹⁷
Neben dem Erlernen politischer Praktiken und der Nutzung von politischem
Kapital für den Ausbau einer Machtbasis hatten Mitterrands persönliche und
politische Sozialisation auch Einfluss auf die Ausbildung seiner politischen
Überzeugungen. Die Diskussion, welchem politischen Lager sich Mitterrand zu-
rechnen lässt, ist hier wenig zielführend. Aufgrund seiner politischen Prägung
während der IV. Republik scheint es stattdessen plausibler, dass sich Mitterrand
politischen Dogmen oder gar Ideologien wenig verpflichtet fühlte. Davon zeugt
beispielsweise auch die Tatsache, dass er politische Richtungen immer dann zu
instrumentalisieren versuchte, wenn es ihm in die Karten spielte. Obwohl er sich
zunächst an dem Kampf zur Marginalisierung der französischen Kommunisten
beteiligte, war er doch kein militanter Antikommunist und sah sie später als
potentielle Partner für einen Aufstieg an die Spitze der V. Republik.¹¹⁸
Aus seinen Erfahrungen entwickelte Mitterrand sein persönliches Grundver-
ständnis internationaler Beziehungen, das an früherer Stelle bereits im Kontext
unterschiedlicher Gleichgewichtsvorstellungen eingeführt wurde. Diese Vorstel-
lung über die Ordnung zwischenstaatlicher Beziehungen wird in den folgenden

 Duhamel, Eric: François Mitterrand en IVe République. Un parcours exemplaire. In: Histo-
riens et géographes. Revue de l’Association des Professeurs d’Histoire et de Géographie de
l’Enseignement Public 357 (1997). S. 296.
 Dumas, Coups, S. 144.
 Vgl. Duhamel, Parcours exemplaire, S. 296 – 300.
 Vgl. Giesbert, François Mitterrand, S. 100 – 103.
72 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

Kapiteln anhand von Mitterrands Handlungsimpulsen nachgewiesen. Jenseits


dieser konzeptionellen Schlüsse leitete Mitterrand aus der Erfahrung von
Kriegsniederlage und Fremdherrschaft auch ein konkretes politisches Verant-
wortungsgefühl dafür ab, dass Frankreich in Zukunft kein neues 1940 mehr er-
leben sollte. Durch die von Mitterrand benannten „Sicherungen“ sollte einem
neuen Krieg auf dem europäischen Kontinent vorgebeugt werden.¹¹⁹ Daraus ergab
sich eine besonders starke politische Überzeugung von europäischer Solidarität,
die für Mitterrand im Sinne des Antriebkräftemodells in erster Linie die Funktion
der Friedenssicherung erfüllte. Die Analyse in den folgenden Kapiteln wird zei-
gen, dass auch die drei übrigen Motive wiederholt eine Rolle spielten und zum Ziel
hatten, den europäischen Integrationsprozess zu forcieren. Die Sicherung von
Frieden stand dabei gleichsam immer im Hintergrund.
Die Analyse von Mitterrands persönlicher und politischer Sozialisation diente
bisher vor allem dazu, seine Zukunftserwartungen und Bedingungsfaktoren für
seinen Umgang mit unerwarteten Ereignissen zu erklären. Es wurde gezeigt,
welche spezifischen Handlungsfähigkeiten er erstens entwickelte, welches poli-
tische Kapital er zweitens dadurch zur Verfolgung seiner Karriere nutzen konnte
und welche politischen Überzeugungen drittens aus den Erfahrungen abgeleitet
wurden. Seine biographischen Daten sind aber nicht zuletzt deshalb von Be-
deutung, weil sie zu einer unverzichtbaren Grundlage von Mitterrands Gefühls-
politik wurden. In öffentlichen Stellungnahmen und persönlichen Gesprächen
stellte er immer wieder biographische Bezüge her. Georges Saunier stellt drei
Funktionen dieser Anspielungen heraus: Erstens wurde dadurch Distanz zum
Zuhörer überwunden. Zweitens dienten sie dazu, seine Aussagen zu legitimieren,
indem die Glaubwürdigkeit seiner Argumente durch die Einbettung in einen
größeren historischen Kontext gestärkt wurde. Drittens sollte der strategische
Einsatz von persönlichen Erfahrungen seine persönliche Vertrauenswürdigkeit
demonstrieren. Durch biographische und historische Bezüge stellte Mitterrand die
drei Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einen spezifischen
Zusammenhang.¹²⁰ Insbesondere zwei Ereignisse fanden regelmäßig Eingang in
Mitterrands politische Stellungnahmen oder Gespräche mit anderen Staats- und
Regierungschefs. Die Erwähnung des Zweiten Weltkrieges diente als ein Instru-
ment von Mitterrands Gefühlspolitik, da sie gewisse Assoziationen und Emotio-
nen beim Zuhörer auslöste. Der Zweite Weltkrieg oder allgemeiner die Anspielung
an gewaltsame Auseinandersetzungen weckten als Bedrohungsszenarien Ängste
beim Gesprächspartner, die als politische Ressource nutzbar gemacht werden

 Védrine, Mondes, S. 85.


 Saunier, „J’y étais, j’y croyais“, S. 386 f.
1.4 Die équipe Mitterrand 73

konnten. Nicht selten stand die Erwähnung des Zweiten Weltkrieges mit dem
zweiten biographischen Bezug in einem spezifischen Zusammenhang: seiner
Teilnahme an dem europäischen Gipfel von Den Haag am 7. Mai 1948. Diese Zu-
sammenkunft unterstrich den transnationalen gesellschaftlichen Konsens, auf
dem die Europäischen Gemeinschaften später beruhten.¹²¹ Die zu diesem Zeit-
punkt sich zwar bereits abzeichnende, aber noch nicht verfestigte Teilung Euro-
pas, muss auf François Mitterrand als unnatürlich und nach den Erfahrungen der
beiden Weltkriege als traumatisch gewirkt haben. Laut Saunier erfüllte diese
Anspielung im Wesentlichen drei Funktionen: Erstens attestierte sie ihm die
„anciennet铹²² seines europäischen Engagements, zweitens wurden die euro-
päischen Institutionen in einen größeren europäischen Kontext gestellt und
drittens wurden dadurch technokratische Äußerungen zugunsten einer größeren
politischen Vision überwunden. Auch in diesem Fall wurde der biographische
Bezug zur Grundlage von Gefühlspolitik. Mit der Inszenierung als Europäer der
ersten Stunde sollte einerseits Vertrauen in die Ursprünglichkeit seiner europäi-
schen Überzeugungen generiert werden. Andererseits wurde dadurch Europa zum
hoffnungsvollen Ausweg aus zwischenstaatlicher Anarchie stilisiert. Dahinter
verbarg sich die Idee, dass in Den Haag Europäer nach den Gräueltaten des
Zweiten Weltkrieges zusammengekommen waren, um den Groll der Vergangen-
heit zu begraben und den Kontinent gemeinsam wiederaufzubauen.¹²³

1.4 Die équipe Mitterrand

Da sich außenpolitische Entscheidungen und Handlungen nicht ausschließlich


mit den persönlichen Erfahrungen und Intentionen eines einzelnen Individuums
erklären lassen, soll die Person François Mitterrand in einen kollektiven Zusam-
menhang seiner équipe gestellt werden. Entscheidungen entstehen in langwieri-
gen Prozessen. Individuelle Faktoren haben dabei ebenso Einfluss wie gewisse
institutionelle Zwänge und Aushandlungen verschiedener Akteure, die die Ent-
scheidung zum Teil zwar nicht selbst treffen, aber Anteil an ihrer Genese haben.
Darüber hinaus haben letztlich viele Akteure Einfluss auf die Umsetzung der
politischen Entscheidungen. Der Gesamtzusammenhang, in den sich das Indivi-
duum François Mitterrand einfügte, beruhte auf unterschiedlichen Säulen. Ers-
tens muss die Sozialistische Partei als eine Art Machtbasis betrachtet werden, die

 Vgl. dazu Loth, Europas Einigung, S. 25.


 Saunier, „J’y étais, j’y croyais“, S. 384.
 Saunier, „J’y étais, j’y croyais“, S. 384, 387.
74 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

sowohl den sozialistischen Aufstieg als auch jenen von François Mitterrand tak-
tisch und konzeptionell vorbereitete. Zweitens sammelte François Mitterrand eine
équipe um sich, die er auf Grundlage verschiedener Kriterien zusammenstellte.
Drittens beruhte speziell die Führung der Außenpolitik auf verschiedenen Vor-
aussetzungen: Hierfür gilt es, die Funktion der präsidentiellen Berater und ihre
Arbeitspraktiken in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus ist das Verhältnis des
Elysée zu anderen für die Außenpolitik relevanten Ministerien zu bestimmen und
eine Rivalität der Ministerien untereinander in Rechnung zu stellen. Ein beson-
deres Augenmerk fällt dabei auf die personellen Verbindungen zwischen den
verschiedenen Institutionen. Schließlich hatten aber auch Akteure jenseits der
politischen Institutionen Einfluss auf den Kurs der Außenpolitik, die es im Fol-
genden zu berücksichtigen gilt.
Marc Lazar stellt heraus, dass die Sozialistische Partei mit Alain Savary ab
1969 und spätestens mit François Mitterrand als Parteivorsitzendem ab 1971 in
eine neue politische Ära eintrat. Mit Mitterrands Strategie einer Linksunion sei die
Partei zu dessen persönlicher Machtbasis geworden; gleichzeitig habe diese aber
zu Spaltungen geführt.¹²⁴ War die UDSR noch eine kleine Partei des linken
Spektrums gewesen, sollte eine Zusammenführung der Linken zur Regierungs-
übernahme der Sozialistischen Partei verhelfen. Für den Wahlerfolg 1981 wurde
unter anderem die Allianz mit den Kommunisten essentiell.¹²⁵ Nach dem Parteitag
von Épinay-sur-Seine vom 11. bis zum 13. Juni 1971 hatte sich François Mitterrand
die Führung einer reformierten und vereinten Sozialistischen Partei gesichert. Die
revolutionäre Orthodoxie seiner Rede erleichterte einigen Mitgliedern zwar ihren
Anschluss, förderte aber zugleich ein überzogenes, politisches Programm. Oh-
nehin schon bestehende Spannungen innerhalb der Partei wurden durch die
Aufnahme von Michel Rocard und seinen Anhängern der Parti socialiste unifié
1975 noch verstärkt.¹²⁶ Das Scheitern der Linken bei den legislativen Wahlen 1978
führte zu Protesten und Auseinandersetzungen auf dem Parteitag von Metz 1979,
bei dem sich François Mitterrand letztlich aber doch als Präsidentschaftskandidat
für 1981 durchsetzen konnte.¹²⁷
Zugleich wurde immer deutlicher, dass die Sozialistische Partei auch kon-
zeptionell neu ausgerichtet und an die politische Realität des Kalten Krieges
angepasst werden musste. Obwohl Mitterrand Absolventen der französischen

 Lazar, Marc: La gauche et le défi des changements dans les années 70 – 80. Les cas français
et italien. In: Journal of Modern European History 9 (2011) 2. S. 245, 251.
 Dumas, Coups, S. 99, 160.
 Vgl. Moreau, Jacques: Le Congrès d’Épinay-sur-Seine du Parti socialiste. In: Vingtième Siècle.
Revue d’histoire 65 (2000). S. 81, 94.
 Vgl. Moreau, Congrès, S. 95.
1.4 Die équipe Mitterrand 75

Elitehochschulen École nationale d’administration (ENA) laut Védrine skeptisch


gegenüberstand, versuchte er diese seit den parteiinternen Umbildungen 1971
systematisch als Berater zu integrieren.¹²⁸ Hubert Védrine, selbst ein Absolvent
der ENA, nahm 1973 über einen ehemaligen ENA-Kameraden Kontakt zu François
Mitterrand auf. Durch Charles Hernu wurde er bei der Redaktion der Zeitschrift
Communes de Paris assoziiert und an dem Auftrag beteiligt, das politische Pro-
gramm insbesondere im Verteidigungsressort neu auszurichten, um den Parti
socialiste (PS) an die Doktrin der nuklearen Abschreckung anzuschließen.¹²⁹
Dieser Anschluss erfolgte 1978 gegen erhebliche Widerstände interner Pazifisten
und Antimilitaristen. Seit 1971 stützte Mitterrand sich dafür auf die Verteidi-
gungskommission der Partei unter der Führung von Charles Hernu und Jean-
François Dubos. An den konzeptionellen Überlegungen waren außerdem Robert
Pontillon und Jean-Pierre Chevènement beteiligt. Die Organisation vieler Treffen,
Debatten und Vorträge bewertet Védrine als eine zehnjährige Vorbereitungsphase
von Hernu auf das Amt des Verteidigungsministers.¹³⁰ Aufgrund der langjährigen
konzeptionellen Überlegungen entwickelte der PS eine – wie Premierminister
Pierre Mauroy am 14. September 1981 verkünde – „idée précise“¹³¹ in der Vertei-
digungspolitik.
Damit sind bereits einige Akteure benannt, aus denen Mitterrand seine équipe
zusammensetzte. Nach der Amtsübernahme wurden beispielsweise Charles
Hernu als Verteidigungsminister und Jean-Pierre Chevènement als Minister für
Forschung und Technologie in die erste Regierung unter Premierminister Pierre
Mauroy aufgenommen. Die Berufung von Jacques Delors bewertet Jean-Charles
Asselain als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber der Unternehmens- und
Finanzwelt, die eine sozialistische Wirtschaftspolitik fürchtete.¹³² Experten der
Sozialistischen Partei stellten eine Kategorie der équipe Mitterrand dar, auf deren
Wissen er sich sowohl für den Machtaufstieg als auch bei der Regierungsarbeit
nach 1981 stützte. Nachdem François Mitterrand seine Skepsis gegenüber jungen
Absolventen von französischen Eliteschulen aus pragmatischen Gründen über-
wunden hatte, wurden sie zu einer zweiten Gruppe innerhalb des Akteursge-
flechts um Mitterrand. Aus ihnen setzte sich nach 1981 der Beraterkreis des Prä-
sidenten, aber auch einiger Minister zusammen. Dazu zählten beispielsweise
Hubert Védrine, Jean-Louis Bianco, Christian Sautter, Elisabeth Guigou oder

 Védrine, Mondes, S. 31.


 Védrine, Mondes, S. 14.
 Védrine, Mondes, S. 49.
 Mauroy, Cohérence, S. 15.
 Asselain, Jean-Charles: L’expérience socialiste face à la contrainte extérieure (1981– 1983).
In: Berstein [u. a.] (Hrsg.), François Mitterrand, S. 398.
76 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

Pierre Morel. Eine dritte Kategorie, die sich innerhalb der équipe Mitterrand auf-
stellen lässt, umfasst langjährige Freunde und politische Kompagnons, denen
François Mitterrand persönliches Vertrauen entgegenbrachte, wie zum Beispiel
Pierre Bérégovoy, Roland Dumas, Régis Debray, Pierre Mauroy, Maurice Faure,
Guy Penne, François de Grossouvre oder André Rousselet.¹³³ Langjährige Vertreter
der Linken, wie Bérégovoy oder Mauroy, hatten Mitterrand dabei geholfen, die
linken Parteien zu einen, und ihn bei seinem Kampf um die Parteispitze unter-
stützt. Mit Roland Dumas verband Mitterrand zudem ähnliche Erfahrungen der
Vergangenheit. Dieser bezeichnet sich in seinen Erinnerungen selbst als „enfant
de la guerre“¹³⁴ und legt Zeugnis über seine Kriegserlebnisse wie Flucht und
Widerstand ab. Auch Dumas war in der Résistance aktiv und beschreibt den
Wechsel von Identitäten und das Gefühl, niemandem vertrauen zu können, in
ähnlicher Weise wie Mitterrand. Insbesondere der Tod seines Vaters, der im März
1944 von den Nationalsozialisten erschossen wurde, scheint sein Leben sehr ge-
zeichnet zu haben. Seine antideutschen Gefühle, die er nach eigenen Angaben
aufgrund seiner Kriegserlebnisse lange gehegt habe, macht er dafür verantwort-
lich, dass er 1981 unter der ersten Regierung Mauroy nicht zum Chef der Diplo-
matie berufen wurde.¹³⁵ Allerdings weist Elisabeth du Réau zu Recht darauf hin,
dass es für die Wahl von Claude Cheysson als ersten Außenminister wohl andere
Gründe gab. Sie argumentiert, dass der Karrierediplomat Cheysson und André
Chandernagor als Ministre délégué für europäische Angelegenheiten aufgrund
ihrer europäischen Überzeugungen ausgewählt wurden.¹³⁶ François Mitterrand
schien Cheysson zuvor wenig gekannt zu haben. Mit ihm gab er der professio-
nellen Wahl gegenüber einer persönlichen den Vorzug, die später durch Roland
Dumas verkörpert wurde, bezeugt Védrine.¹³⁷ In der Tat steht zu vermuten, dass
François Mitterrand sich innerhalb einer ohnehin unerfahrenen Regierung-
mannschaft Cheyssons Expertise sichern wollte. Bei dem ehemaligen Botschafter
konnte er darauf vertrauen, dass ihm das alltägliche Geschäft der Außenpolitik
geläufig war.
Persönlichkeiten wie Hubert Védrine und Jacques Attali verdeutlichen, dass
die aufgestellten Kategorien hier keineswegs als absolute Gebilde verstanden
werden können, sondern teilweise fließend ineinander übergingen. Védrine, 1947
geboren, zählte zwar zu jenen jungen ENA-Absolventen, die als Berater unter
François Mitterrand Karriere machten. Allerdings war er der Sohn von Jean Véd-

 Védrine, Mondes, S. 31.


 Dumas, Coups, S. 9.
 Vgl. Dumas, Coups, S. 19, 25, 156.
 Du Réau, Engagement, S. 287.
 Védrine, Mondes, S. 44 f.
1.4 Die équipe Mitterrand 77

rine – einem alten Freund von Mitterrand zur Zeit des Zweiten Weltkrieges,
Weggefährte während der années noires und schließlich Mitarbeiter im Ministère
des Anciens Combattants. ¹³⁸ Über den Vater bestand also gewissermaßen bereits
eine Art der Verbindung oder Vertrautheit, auf der ein Vertrauensverhältnis auf-
gebaut werden konnte. Jacques Attali, der nach 1981 spezieller Berater des Prä-
sidenten wurde, begleitete François Mitterrand bereits seit den 1970er Jahren und
kann als eine Art Universalexperte eingestuft werden, den Hubert Védrine als
Mitterrands „boîte à idée“¹³⁹ bezeichnet. Die Grenze zwischen politischem Weg-
begleiter und Experten erscheint hier ebenfalls fließend. Es gilt außerdem fest-
zuhalten, dass Attali Mitterrand ganz offensichtlich nicht nur Ideen lieferte,
sondern auch junge talentierte Mitarbeiter empfahl. Jean-Louis Bianco, zunächst
Berater und schließlich Generalsekretär im Elysée, Pierre Morel, außenpolitischer
Berater im Elysée und Quai d’Orsay, Laurent Fabius oder Alain Boublil waren
bereits lange Jahre mit Attali bekannt oder gehörten zeitweilig zu dessen Mitar-
beitern, bevor sie für Mitterrand oder eines der Ministerien arbeiteten. Bei dieser
Unterkategorie innerhalb der Akteursgruppe wurde das Vertrauen also gewis-
sermaßen über das Vertrauen in eine dritte Person gestiftet beziehungsweise ex-
pandiert. Die verschiedenen Kategorien, die sich innerhalb der équipe Mitterrand
bilden lassen, verweisen an dieser Stelle auf eine Strategie von François Mitter-
rand, sich beraten zu lassen. Die Art und Weise, Informationen zu sammeln,
beruhte damit auf unterschiedlichen Methoden, wodurch die Erfahrungsräume
verschiedener Generationen kombiniert wurden. Spezifisches Fachwissen und
technokratische Arbeitspraktiken der V. Republik wurden so mit untechnokrati-
schen Arbeitspraktiken verknüpft, die Mitterrand noch aus der IV. Republik ge-
läufig waren. Er war also in der Lage, sich mit der Realität zu arrangieren, indem
er die bestehenden Bedingungen nutzte und durch Kenntnisse der Regierungs-
praxis in der IV. Republik erweiterte. Damit multiplizierten sich nicht nur die
Erfahrungsräume, sondern auch der Erwartungshorizont wurde dadurch ausge-
weitet.
Für Entscheidungsprozesse in der Außenpolitik waren allerdings auch Spe-
zifika des französischen politischen Systems relevant. In Artikel 20 der Verfas-
sung heißt es, dass die Regierung die Politik der Nation bestimme, zu der zu-
nächst einmal auch die Außenpolitik zählt. Der Verfassungsanspruch unterschied
sich allerdings in hohem Maße von der Verfassungswirklichkeit, in der ab 1959 der
französische Präsident eine herausragende Rolle in der Außenpolitik einnahm,
die dadurch informell zur domaine reservé des französischen Staatspräsidenten

 Védrine, Mondes, S. 12 f.


 Védrine, Mondes, S. 20.
78 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

avancierte. Beim Präsidenten liefen alle außenpolitischen Informationen zu-


sammen. Durch die Wahl seiner Mitarbeiter hatte Charles de Gaulle sichergestellt,
dass er die Oberhand über die Außenpolitik behielt.¹⁴⁰ François Mitterrand be-
setzte die Schlüsselpositionen mit fähigem und aus seiner Sicht vertrauenswür-
digem Personal, um verlässliche Informationen zu erhalten und die Gewissheit zu
haben, dass seine Anweisungen umgesetzt wurden. Védrine bezeichnet den Prä-
sidenten auch als das Herz und Zentrum dieses Systems.¹⁴¹ Da die vorliegende
Arbeit bei der Analyse allerdings nicht auf der Ebene der Entscheidungen stehen
bleibt, sondern sich vielmehr für deren Entstehungsprozesse interessiert, werden
im Folgenden einige Akteure, Strukturen und Arbeitspraktiken hervorgehoben,
die Einfluss auf den Kurs der Außenpolitik hatten.
Für seine Entscheidungen konsultierte Mitterrand in hohem Maße seine
équipe und insbesondere seine politischen Berater. Hubert Védrine beschreibt
dessen Aufgaben und die Arbeitsweisen im Elysée folgendermaßen: Ideen wur-
den von Mitterrand gesammelt, kombiniert, transformiert, modifiziert oder ver-
wahrt und irgendwann wieder hervorgeholt. Absprachen zwischen den einzelnen
Mitarbeitern sah er nicht sehr gerne, weil er sich von ihrer Einzelarbeit eine Mi-
schung, eine Stimulation und eine größere Vielfalt an Ideen und Entschei-
dungsmöglichkeiten versprach. Da der Berater aus vielen Informationen aus-
wählen musste, welche dem Präsidenten angetragen werden sollten, erfüllte er
aufgrund der Selektivität eine Funktion als Gatekeeper. Zum einen musste es sich
um Informationen von großem Wert handeln, über die der Präsident bisher noch
nicht verfügte. Zum anderen durfte er keine essentiellen Hinweise unter den Tisch
fallen lassen und musste den richtigen Zeitpunkt abpassen. Die prinzipielle Ar-
beitspraktik im Elysée bestand aus einer note écrite, einer kurzen Note von ma-
ximal ein oder zwei Seiten.Von dem Generalsekretär, der als Schaltstelle zwischen
Präsident und Beratern fungierte, wurden die Papiere mit kurzen Markierungen
wie „vu“, „accord“ oder „avis favorable“ versehen, wodurch dessen persönliche
Einschätzung dem Präsidenten ebenfalls angetragen wurde. Die Papiere ent-
hielten in den meisten Fällen Informationen, Vorschläge für generelle Orientie-
rungen oder präzise Vorschläge für Entscheidungen. Nach der Lektüre gingen die
Papiere, vom Präsidenten meist mit einigen Randbemerkungen wie „vu“, „non“,
„oui“, „m’en parler“ oder konkreten Instruktionen versehen, über den General-
sekretär an den Berater zurück. Diese Zirkulation vollzog sich in der Regel in-
nerhalb von einer Stunde. Die Dokumente in den Archives de la Présidence de la
République weisen die von Védrine beschriebenen Charakteristika auf. Die

 Vgl. Vaïsse, Grandeur, S. 284 f., 681.


 Védrine, Mondes, S. 44.
1.4 Die équipe Mitterrand 79

Funktion der Berater bestand also in erster Linie darin, Informationen zu sam-
meln und auf dieser Grundlage Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Dazu
zählte es auch, Kontakte zu anderen Institutionen, dem diplomatischen Personal
ausländischer Botschaften, Journalisten oder Think Tanks zu pflegen.¹⁴²
Die Außenpolitik definierte sich, wenn man von der Zeit der Cohabitation
zwischen 1986 und 1988 absieht, in einer ständigen Symbiose von Elysée und
Quai d’Orsay.¹⁴³ Dem Ministère des Affaires Étrangères oblag verfassungsrechtlich
die Verantwortung für die Aktionen des diplomatischen Dienstes. Die Vorberei-
tungen internationaler Zusammentreffen sowie der Repräsentation Frankreichs
fielen ebenfalls in sein Ressort.¹⁴⁴ Die verschiedenen Abteilungen und Dienste
zeichneten sich durch ein hohes Maß an Kontinuität des Personals aus. Prinzipiell
pflegte Claude Cheysson ein gutes Verhältnis zu den beiden Ministres délégues
auprès du Ministre des Relations extérieures – André Chandernagor für europäi-
sche Angelegenheiten und Jean-Pierre Cot für Zusammenarbeit und Entwicklung.
Dies schloss interne Rivalitätskämpfe nicht aus, da sich der Außenminister oft-
mals als Patron der Außenpolitik verstand, dem die Ministres délégues und
Staatssekretäre untergeordnet waren. Direkte Beziehungen zwischen ihnen und
dem Präsidenten oder seinen Beratern waren Cheysson wohl ein Dorn im Auge.¹⁴⁵
Chandernagor bestätigte dies in einem Interview mit Elisabeth du Réau, in dem er
berichtete, dass Cheysson versucht habe, ihn auf Linie zu bringen, seine Versuche
aber schnell aufgegeben habe.¹⁴⁶ Unabdingbar für die Mechanismen internatio-
naler Beziehungen waren außerdem die Analysen äußerer Bedrohungen und
militärischer Kräfteverhältnisse durch das Verteidigungsministerium.¹⁴⁷ Aufgrund
des guten Verhältnisses von Charles Hernu und Claude Cheysson waren die Be-
ziehungen zwischen Verteidigungs- und Außenministerium offenbar sehr har-
monisch. Die beiden trafen sich regelmäßig, häufig auch in Begleitung ihrer Be-
rater François Heisbourg und Bruno Delaye. Angesichts der wachsenden
Interdependenz moderner Wirtschaften spielte der Wirtschafts- und Finanzmi-
nister Jacques Delors ebenfalls eine wichtige Rolle für die Außenpolitik. Regel-
mäßig trafen sich die Finanzminister der Europäischen Gemeinschaft.¹⁴⁸ Der
Premierminister war in außenpolitischen Fragen in einer Zwickmühle, da ihm

 Du Réau, Engagement, S. 287; Védrine, Mondes, S. 34– 41.


 Védrine, Mondes, S. 44.
 Vgl. Vaïsse, Grandeur, S. 306, 681.
 Védrine, Mondes, S. 48.
 Chandernagor, André: Mitterrand et l’Europe en 1981 d’après André Chandernagor (Inter-
view mit Elisabeth du Réau). In: Bossuat, Faire l’Europe, S. 460.
 Védrine, Mondes, S. 48.
 Védrine, Mondes, S. 50.
80 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

zwar – wie bereits erwähnt – laut Verfassung auch die Verantwortung für die
Außenpolitik zukam, diese aber in der Verfassungswirklichkeit zur domaine res-
ervé des Präsidenten geworden war. Der Premierminister leitete die Regierungs-
aktionen, übernahm eine koordinierende Rolle in den Bereichen Militär, Wirt-
schaft und Finanzen und informierte das Parlament über die Arbeit der
Regierung. Das Secrétariat général du Comité interministériel pour les questions de
coopération économique européenne (SGCI) war dem Hôtel Matignon – Sitz des
Premierministers – zugeordnet und koordinierte die Positionen der verschiedenen
Ministerien für europäische Fragen.¹⁴⁹ Obwohl der Premierminister prinzipiell
einen größeren Einfluss in wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten besaß,
sprach er mit dem Präsidenten auch regelmäßig über außenpolitische Themen
und gab Einschätzungen ab. Im Matignon fanden täglich interministerielle Tref-
fen statt, bei denen es zumeist um die Gesamtheit oder aber Einzelaspekte in-
ternationaler Fragen ging. Diese Gespräche waren für eine gute Zusammenarbeit
aller Instanzen und die Kohärenz in der Außen- und Sicherheitspolitik unab-
dingbar. Die Ministerien dürfen also keineswegs als abgeschlossene Organismen
verstanden werden; vielmehr standen ihre Vertreter – Generalsekretär des Elysée,
Kabinettsdirektor des Premierministers, diplomatische und wirtschaftliche Bera-
ter – in einem permanenten Kontakt. Außenpolitische Entscheidungen waren also
aus dieser Perspektive ein „résultat alchimique“.¹⁵⁰
Jenseits der Verantwortlichen für die Definition und die Umsetzung der Au-
ßen- und Sicherheitspolitik versuchten weitere Akteure Einfluss darauf geltend zu
machen. Auf der rein nationalen Ebene zählten institutionelle Akteure wie die
Abgeordneten oder der Conseil Constitutionnel, aber auch Städte und Regionen,
politische Parteien, wirtschaftliche Unternehmen und Organisationen, Banken
sowie Nichtregierungsorganisationen dazu.¹⁵¹ Der neue Parteivorsitzende des PS,
Lionel Jospin, versuchte durch regelmäßige Kontakte zu Präsident und Ministern
ebenso Einfluss zu nehmen, wie unterschiedliche Experten-Gruppen innerhalb
der Partei.¹⁵² Ein besonderes Charakteristikum der Politik an der Schwelle zum
21. Jahrhundert bestand darüber hinaus in der Bedeutung der öffentlichen Mei-
nung als Einflussfaktor. Zu dem Verhältnis von Politik und massenmedialer Öf-
fentlichkeit hat die Historiographie in vergangener Zeit viel Forschungsarbeit
geleistet.¹⁵³ Die Verflechtung von politischer und medialer Sphäre drücken sich

 Vgl. Vaïsse, Grandeur, S. 304, 307, 681.


 Védrine, Mondes, S. 50 – 54, Zitat S. 54.
 Védrine, Mondes, S. 54.
 Vgl. Védrine, Mondes, S. 56 – 58.
 Vgl. u. a. Bösch, Frank/Hoeres, Peter (Hrsg.): Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten
19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2013; Daniel, Ute/Schildt, Axel (Hrsg.): Massen-
Zwischenbilanz 81

unter anderem in den symbiotischen Beziehungen und regelmäßigen Kontakten


zwischen politischen Akteuren und Journalisten aus.¹⁵⁴ Angesichts einer wach-
senden internationalen Verflechtung gilt es auch, die Wechselbeziehungen zwi-
schen staatlichen und supranationalen Akteuren in Rechnung zu stellen sowie
Transfer- und Austauschprozesse zwischen nationalen Akteuren zweier Länder
darzustellen, wie bei dem vorliegenden Untersuchungsgegenstand unter anderem
im Kontext der deutsch-französischen Beziehungen gezeigt wird. Zu den Bedin-
gungen von Politik in einem Zeitalter neuer Globalisierungsschübe zählten auch
regelmäßige multilaterale Treffen der politischen Entscheidungsträger.¹⁵⁵ Védrine
gesteht ein, dass sie nach der Regierungsübernahme den Grad der Interdepen-
denz zwischen den Staaten, das spezifische Fachwissen sowie die Beschrän-
kungen, die sich daraus für die Außenpolitik ergaben, zunächst unterschätzten
und den Umgang damit schnell erlernen mussten.¹⁵⁶ Die erste Phase nach dem
Amtsantritt von François Mitterrand war gekennzeichnet von ebensolchen Lern-
prozessen einer unerfahrenen Regierungsmannschaft.

Zwischenbilanz

Der Anspruch des ersten Kapitels war es einerseits, die Bedingungen französi-
scher Außenpolitik im Jahr 1981 zu klären, um zu zeigen, dass die vorliegende
Arbeit François Mitterrand zwar als zentralen Akteur, keineswegs aber als völlig
autark agierenden Politiker begreift. Andererseits galt es vor der Analyse seiner
politischen Handlungsimpulse zu klären, ob er das Amt des Präsidenten mit ei-
nem klaren politischen Konzept antrat. Nach der Untersuchung seines politischen
Werdegangs und den Stellungnahmen rund um die Übernahme der Präsident-
schaft lässt sich festhalten, dass Mitterrands Konzeption weniger als ein konkretes
politisches Programm gesehen werden darf. Viel plausibler erscheint es dagegen,
von einer Kombination aus gewissen Grundüberzeugungen und spezifischen
politischen Kompetenzen auszugehen, die sich in langwierigen Prozessen seiner

medien im Europa des 20. Jahrhunderts. Köln [u. a.] 2010; Arnold, Klaus/Classen, Christoph/
Kinnebrock, Susanne/Lersch, Edgar/Wagner, Hans-Ulrich (Hrsg.): Von der Politisierung der Me-
dien zur Medialisierung des Politischen? Zum Verhältnis von Medien, Öffentlichkeit und Politik im
20. Jahrhundert. Leipzig 2010; Schulz, Andreas: Der Aufstieg der „vierten Gewalt“. Medien, Politik
und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation. In: HZ 270 (2000) 1. S. 65 – 97; Hoeres/
Tischer (Hrsg.): Medien.
 Védrine, Mondes, S. 60.
 Védrine, Mondes, S. 54, 89.
 Védrine, Mondes, S. 91.
82 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

persönlichen und politischen Sozialisation sowie seinem langen Aufstieg an die


Spitze der V. Republik herausgebildet hatten. Diese mehr oder weniger konstanten
Grundvoraussetzungen seines politischen Agierens trafen dann jeweils auf ak-
tuelle politische Zusammenhänge, die einer Reaktion bedurften.
Insgesamt lässt sich die Konzeption von François Mitterrand in drei Teilas-
pekte untergliedern. Erstens hatte François Mitterrand durch seine Kriegserfah-
rungen spezifische Grundvorstellungen internationaler Beziehungen entwickelt,
die während des Kalten Krieges und seiner Zeit in der Opposition weiter ge-
schliffen aber nicht mehr wesentlich verändert wurden. Zentral für eine Frie-
densordnung – die sich für ihn durch eine Abwesenheit jedweder Risiken für
gewaltsame Auseinandersetzungen auszeichnete – war ein stabiles Verhältnis der
Staaten zueinander. Das Streben nach Stabilität, häufig missverstanden als
Gleichgewichtspolitik im Sinne der realistischen Schule, beruhte nicht etwa auf
gleicher Machtverteilung, sondern wechselseitigen Verpflichtungen. Um „Macht
Grenzen zu setzen und nicht, um ihre Wirkung zunichte zu machen“, brauche es
„Gegenkräfte“ und müssten „Sicherungen“ eingebaut werden, damit keiner der
Staaten seine Macht gegen einen anderen bis zum Ende ausspielen kann.¹⁵⁷ Die
Stabilität würde in diesem Sinne also durch Kooperation gewonnen. Seine Vor-
stellungen hatten sich während des Zweiten Weltkrieges und seiner Arbeit in der
Résistance herausgebildet, als er durch den Zusammenbruch jeglicher gesell-
schaftlichen Ordnung und die vollkommene Abwesenheit von Sicherheit eine
Enttäuschung zuvor vorausgesetzten Vertrauens erfahren hatte. Misstrauen wurde
auf diese Weise zu einem Charakterzug des Individuums François Mitterrand.
Aufgrund seiner Erfahrungen hatte er ein pessimistisches Menschenbild, das
insbesondere während der politischen Umwälzungen 1989/1990 massiv hervor-
treten sollte. Seine Sozialisation lässt sich insofern als historische Dimension
eines grundlegenden Misstrauens verstehen und wird als solche in den folgenden
Kapiteln relevant.
Darüber hinaus entwickelte Mitterrand eine Grundüberzeugung von der eu-
ropäischen Idee, die als Sicherungsmechanismus einen künftigen Krieg der eu-
ropäischen Völker verhindern sollte. Auf den prinzipiellen Unterschied zwischen
dem existierenden Europe communautaire und einem ideellen Europe rêvée wurde
bereits hingewiesen. Allerdings war Mitterrand in der Lage, sich mit der Realität
der Gegenwart abzufinden und seine Politik pragmatisch daran anzupassen.
Seine Vorstellungen von Europa, die eine enge Verwandtschaft zu Léon Blums
Europa der Dritten Kraft und de Gaulles Europe européenne aufweisen, standen
gewissermaßen immer im Hintergrund seines politischen Agierens und gewannen

 Mitterrand/Wiesel, Nachlese, S. 169.


Zwischenbilanz 83

in dem Maße an Dringlichkeit, wie Erfahrungen mit amerikanischer Bevormun-


dung oder einem tête-à-tête der Supermächte auf Kosten der Europäer zunahmen.
Auf das Motiv der Selbstbehauptung als Antriebskraft europäischer Integrati-
onsprozesse wird im folgenden Kapitel noch ausführlicher eingegangen. Der
politische Werdegang und vergangene Überlegungen zu alternativen Staaten-
ordnungen von Aristide Briand, Richard Coudenhove-Kalergi über Léon Blum bis
hin zu Charles de Gaulle waren für die équipe Mitterrand relevant, da sie gewis-
sermaßen verdichtet als Erfahrungsraum die Konstituierung ihrer Zukunftser-
wartungen beeinflussten.
Der zweite Teilaspekt von Mitterrands Konzeption waren spezifische Kom-
petenzen, die er aus seinen Erfahrungen heraus entwickelt hatte und die ihm
während der Präsidentschaft als nützliches Handwerkszeug dienten. Dazu zählt
einmal die Führungskompetenz, die er bereits während seiner Arbeit in der Ré-
sistance durch die Führung einer Splitterpartei des Widerstandes ausbildete und
während der IV. Republik als Minister ausbauen konnte. Darüber hinaus verfügte
Mitterrand über einen außerordentlichen Realitätssinn, was seine Adaptionsfä-
higkeit unter Beweis stellte: Ein Vermittler als „klassische Persönlichkeit der in-
ternationalen Szene“ müsse, „ehe er seine guten Dienste anbietet, darüber
nachdenken, was verhandelt werden kann und was nicht“¹⁵⁸, erklärte Mitterrand
in Sieg der Rose. Mit anderen Worten: Er sollte sich der politischen Handlungs-
räume bewusst sein. Bei Mitterrand schloss dieses Bewusstsein Empathiever-
mögen mit ein, da er die „langsame Rückkehr zum Kalten Krieg in der amerika-
nischen Verwirrung und in der russischen Unsicherheit“¹⁵⁹ suchte. Er
berücksichtigte also die Rolle wechselseitige Perzeptionen für die internationale
Politik und sah sie nicht als Gegensatz zu einer an Rationalität orientieren Politik.
Gleichzeitig verwehrte er sich selbst explizit gegen jede Form von emotionaler
Politik und appellierte für mehr Realitätssinn:¹⁶⁰ Angst sei ein schlechter Ratgeber
und führe zu Unentschlossenheit. Stattdessen müsse man die Risiken seiner
Entscheidung abwägen.¹⁶¹ Daraus lassen sich zwei wesentliche Schlüsse ziehen:
Zum einen verstand sich Mitterrand selbst als Realpolitiker; zum anderen machte
er Perzeptionen und Emotionen anderer Akteuren zur Grundlage seiner politi-
schen Kalkulation und strategischen Gefühlspolitik.
Es wurde aber auch deutlich, dass François Mitterrand weder in den inter-
nationalen Beziehungen noch in wirtschafts-, gesellschafts- und finanzpoliti-
schen Zusammenhängen über spezifisches Fachwissen verfügte.

 Mitterrand, Sieg, S. 206.


 Mitterrand, Sieg, S. 209.
 Mitterrand, Sieg, S. 213.
 Mitterrand/Wiesel, Nachlese, S. 177 f.
84 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand

Ja. Ich wurde nach einer fünfunddreißigjährigen politischen Laufbahn gewählt. Ich konnte
auf sieben Jahre Regierungserfahrung zurückblicken, während deren ich mich mit der
Handhabung der Mechanismen vertraut gemacht und das Wesen der zu treffenden Ent-
scheidungen studiert hatte. Danach war ich vierundzwanzig Jahre lang in der Opposition, wo
ich Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken, was ich tun würde, wenn ich an die Macht
käme, und welche Menschen ich auswählen würde, um mir bei der Arbeit behilflich zu
sein.¹⁶²

Mitterrands Worte aus einem Interview mit Elie Wiesel verdeutlichen seinen
Werdegang und die Bedeutung, die dieser für seine Regierungszeit besaß. Dar-
über hinaus verweisen sie aber auch auf den dritten Teilaspekt von Mitterrands
Konzeption. Da er zwar über ein Grundverständnis internationaler Politik und
Führungskompetenzen, nicht aber über das notwendige Fachwissen verfügte,
schuf er um sich herum ein personales System, auf das er sich bei seiner Regie-
rungsarbeit stützen konnte. Akteure dieses Systems suchte er auch schon wäh-
rend seiner Zeit in der Opposition sorgfältig aus. Für den politischen Aufstieg
stützte er sich auf fachlich kompetente sowie taktisch wertvolle Personen und
integrierte diese nach der Amtsübernahme in die équipe Mitterrand. Dabei han-
delte es sich, wie gezeigt, einerseits um Personen, denen er entweder aufgrund
von spezifischem Expertenwissen oder aber aufgrund langjähriger persönlicher
und politischer Freundschaft Vertrauen schenkte. Andererseits war er aber auch
auf Fachpersonal angewiesen, das sich mit den – ihm weitestgehend fremden –
Mechanismen der technokratischen Regierungsarbeit auskannte. Daher inte-
grierte er auch junge und aufstrebende Absolventen der französischen Elite-
schulen in sein System. Bei dem analysierten Akteursgeflecht handelt es sich um
ein Beziehungssystem, bei dem Vertrauen zur sozialen Ressource und grundle-
genden Struktur wurde. Diese Form der sozialen Bindung hatte verschiedene
Ursprünge. Gemeinsame oder ähnliche Erfahrungen in der Vergangenheit stifte-
ten bei Mitterrand ein Vertrauen, das in hohem Maße auf Vertrautheit basierte.
Politische Weggefährten hatten ihre Vertrauenswürdigkeit zweitens durch Fach-
wissen oder drittens durch politische Unterstützung demonstriert. Viertens ver-
traute Mitterrand aber auch Personen, die ihm von Mitarbeitern und langjährigen
Vertrauten empfohlen wurden, die bereits Teil seines Systems waren. Dieses
Vertrauen basierte auf dem Urteil einer dritten Person und kann insofern auch als
Vertrauen zweiter Ordnung bezeichnet werden.
Diese dreiteilige Konzeption war frei von jeder Form von Ideologie oder po-
litischem Dogma und lässt sich vielleicht eher als eine Art pragmatisches Rüst-
zeug verstehen, um sich Herausforderungen jeweils aktuell stellen zu können. Es

 Mitterrand/Wiesel, Nachlese, S. 176.


Zwischenbilanz 85

zeichnete sich also durch Flexibilität und Adaptionsfähigkeit aus. Damit lassen
sich unter anderem auch die widerstreitenden Urteile über François Mitterrand
erklären. Nicht selten wurden diese zu Werturteilen, indem sie Mitterrand einen
machiavellistischen Umgang mit Macht und einen über allem stehenden Egois-
mus unterstellten.¹⁶³ Zu einem tieferen Verständnis von Mitterrands Politik drin-
gen diese Urteile allerdings nicht vor, da sie ihrer Komplexität nicht gerecht
werden. Als anschlussfähiger erweisen sich Urteile von zeitgenössischen Akteu-
ren wie Hubert Védrine und André Chandernagor oder von Historikern wie Eli-
sabeth du Réau und Georges Saunier. Sie allesamt verstehen Mitterrand als einen
Pragmatiker: Kein Technokrat mit politischer Agenda, kein militanter Sozialist
oder utopischer Moralist sei er gewesen, sondern „pragmatique“ „homme fran-
çais“, „historien“, „géographe“, so Védrine.¹⁶⁴ Zwar als Europäer, aber auch als
absoluten Pragmatiker beschreibt ihn Chandernagor¹⁶⁵; als pragmatischen, hell-
sichtigen und realistischen „Européen de raison“¹⁶⁶ Elisabeth du Réau; als „un
compagnon de route de l’idée européenne“¹⁶⁷ Georges Saunier.
François Mitterrand verfügte 1981 also nicht über ein außenpolitisches Kon-
zept im Sinne eines konkreten politischen Programms. Stattdessen beruhte seine
Konzeption auf Grundvorstellungen internationaler Politik, bestimmten Hand-
lungskompetenzen und einem personalen System. Insgesamt ergab sich daraus
eine Kombination aus politischen Vorstellungen und einem operativen Pragma-
tismus, der ihm ein grundlegendes Handwerkszeug zur Verfügung stellte, welches
ihm erlaubte, sich an den jeweils aktuellen politischen Kontext anzupassen und
Handlungsimpulse zu jedem beliebigen Thema der aktuellen Außenpolitik zu
entwickeln.

 Zum Beispiel: Schwarz, Gesicht; Lappenküper, Mitterrand und Deutschland; Praus, Ende;
Hildebrand, Wiedervereinigung.
 Védrine, Mondes, S. 84 f.
 Chandernagor, Mitterrand et l’Europe, S. 459.
 Du Réau, Engagement, S. 285, 294.
 Saunier, „J’y étais, j’y croyais“, S. 384.
2 Die Inszenierung eines politischen
Kurswechsels¹
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise

François Mitterrands Vorstellungen von einer künftigen Friedensordnung und


insbesondere von einer Neuordnung der internationalen Staatengemeinschaft
nach der Auflösung des Jalta-Systems standen 1981 vor großen Hindernissen. Die
Spannungen zwischen Ost und West und ganz speziell die Euroraketenkrise lie-
ßen diese Zukunftsaussichten als wenig erfolgversprechend, vielmehr unrealis-
tisch – ja fast träumerisch – erscheinen. Nachdem in dem vorangegangenen
Kapitel bereits die schrittweise Abkehr von der Entspannungspolitik hin zu einer
neuen Ost-West-Konfrontation umrissen wurde, wendet sich dieses Kapitel den
Realitätswahrnehmungen von François Mitterrand, seiner Mannschaft und Di-
plomaten im Quai d’Orsay zu, die keineswegs einheitlich waren und zudem
Wandlungsprozessen unterlagen. Es stellt sich die Frage, welche Krisenphäno-
mene durch die französische Administration zu Beginn der 1980er Jahre als akut
bedrohlich wahrgenommen wurden. Dafür soll analysiert werden, welche Risiken
insbesondere im Zusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluss kalkuliert und
welche Ziele daraus für die Abrüstungsgespräche abgeleitet wurden. Diese hielten
aus französischer Sicht wiederum ganz eigene Risiken bereit und führten zu
Veränderungen der sicherheitspolitischen Vorstellungen. In welchen Momenten
kam es zu einem Wandel und durch welche Impulse wurde dieser gegebenenfalls
initiiert? Kapitel 2.2 und 2.3 untersuchen im Anschluss daran, welche Konse-
quenzen die perzipierten Risiken konkret für die transatlantischen Beziehungen
und die französische Ostpolitik hatten. Gefragt wird an der Stelle auch nach po-
litischen Handlungsstrategien, die dafür entwickelt und eingesetzt wurden.
Nachdem bereits der sowjetische Einmarsch in Afghanistan scharfe Kritik im
westlichen Lager verursacht hatte, führte auch die Polenkrise zu weiteren Span-
nungen zwischen Ost und West. Mit der Machtübernahme der polnischen Armee
und der Verhängung des Kriegsrechts durch Wojciech Jaruzelski in der Nacht vom
12. auf den 13. Dezember 1981 wurde die polnische Reformbewegung um die
Gewerkschaft Solidarność unterdrückt. François Mitterrand und die sozialistische
Regierung hatten vor einer ausländischen Einmischung in Polen gewarnt. Im Juli
1981 empfahl Mitterrand in einem Interview mit dem Stern ausdrücklich, sich vor

 Vgl. dazu auch Schotters, Frederike: Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels? Medien
der relations franco-soviétiques 1981– 1990. In: Hoeres/Tischer (Hrsg.), Medien, S. 413 – 435.

https://doi.org/10.1515/9783110597417-004
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 87

einer Einmischung zu hüten. Seiner Warnung, die sich insbesondere an die so-
wjetische Führung richtete, verlieh er durch ein bedrohlich wirkendes Zukunfts-
szenario eine besondere Plastizität, indem er die Konsequenzen einer solchen
Einmischung deutlich machte: Die Sowjetunion müsse wissen, „daß [sic] sie
damit jede Aussicht auf Verhandlungen über Abrüstung, Entspannung und kol-
lektive Sicherheit einfrieren würde“, was dem Frieden nicht gerade zuträglich sei.²
Dadurch nahm er eine ungewisse Zukunft quasi vorweg, indem er dem Kreml den
Preis vor Augen führte, den er für ein Eingreifen in Polen würde bezahlen müssen.
Auf die implizite Drohung soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.
Auffällig ist aber, dass Mitterrand hier eine vermeintlich gewisse Zukunft sugge-
riert, sollte sich Moskau für ein Eingreifen entscheiden. Daraus lässt sich die
These ableiten, dass Mitterrand durch den Entwurf dieses möglichen aber kei-
neswegs sicheren Szenarios den Entscheidungsprozess der sowjetischen Führung
beeinflussen wollte, indem der Kreml seine entworfene Zukunftsprojektion zur
Entscheidungsgrundlage machen sollte. Hierbei handelt es sich um ein wieder-
kehrendes Handlungsmotiv, dessen sich der französische Präsident häufig be-
diente, um die Entscheidung seiner Verhandlungspartner zu beeinflussen.
Unmittelbar nach der Verhängung des Kriegsrechts einigten sich die Au-
ßenminister Claude Cheysson (Frankreich), Alexander Haig (USA), Peter Car-
rington (Großbritannien) und Hans-Dietrich Genscher (BRD) darauf, keine di-
rekten politischen Maßnahmen als Reaktion zu ergreifen. Als Cheysson dies vor
der französischen Presse bekannt gab, reagierte Mitterrand äußerst verärgert.³
Zwar hatte er selbst nicht vorgesehen, härtere Sanktionsmaßnahmen zu ergreifen,
da er wohl auch davon überzeugt war, dass Jaruzelskis Reaktion womöglich der
einzige Weg gewesen war, ein Eingreifen der Sowjetunion vergleichbar mit der
Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 zu verhindern.⁴ Allerdings
sah er sich durch Cheyssons Maßnahme vor Probleme gestellt: Aufgrund langer
Traditionen habe die französische Öffentlichkeit besonders heftig und emotional
auf die Errichtung des Militärregimes reagiert, erklärte Mitterrand dem deutschen
Botschafter Axel Herbst am 11. Januar 1982.⁵ Mitterrand war zwar dafür, huma-
nitäre sowie Lebensmittelhilfen für Polen fortzuführen; allerdings bereitete ihm
dies innenpolitische Schwierigkeiten. Am 24. Februar 1982 gestand Mitterrand
dem deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt, dass die Massenmedien in

 Mitterrand, François: „Die deutsch-französische Freundschaft hängt doch nicht an einer Tasse
Tee.“ In: Stern (1981) 29, 09.07.1981. S. 83.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 13. Dezember 1981, S. 167.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 14. Dezember 1981, S. 168.
 Botschafter Herbst, Paris, an das Auswärtige Amt, 11. Januar 1982. In: AAPD 1982, Dok. 16, S. 68.
88 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

Frankreich die Polenkrise dazu nutzten, antisowjetische und antikommunistische


Kommentare zu publizieren. Er wollte klarstellen, dass dies keineswegs der
Haltung der französischen Regierung entsprach.⁶
Allerdings kann von einer einheitlichen Haltung der französischen Akteure
wohl kaum die Rede sein.Vor allem im Außenministerium gab es Strömungen, die
eine demonstrativ unnachgiebige Haltung gegenüber dem Ostblock befürworte-
ten, und beispielsweise die deutsche Haltung nach der Verhängung des Kriegs-
rechts in Polen als zu weich kritisierten.⁷ Im Conseil des Ministres gab es am
16. Dezember scharfe Auseinandersetzungen über die polnische Krise. Michel
Rocard attackierte Claude Cheysson und setzte sich neben Robert Badinter und
anderen für eine Reaktion auf die polnischen Ereignisse ein. Gaston Defferre,
Jacques Delors, Jean-Pierre Chevènement und Charles Hernu waren allerdings
dagegen. Premierminister Pierre Mauroy schlug vor, die Kredite für Polen nicht zu
unterbrechen, sondern lediglich politisch zu protestieren.⁸ François Mitterrand
war davon überzeugt, dass die Sowjetunion Polen nicht aus ihrer Einflusssphäre
entlassen würde, wie er bei seiner Reise nach Washington im März 1982 auch dem
amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan darlegte.⁹ Zwar dürfe Polen nicht im
Stich gelassen werden, gleichzeitig gestand er im Ministerrat auch ein, dass es
nicht in ihrer Macht stand, Polen zu retten. Ironisierend beendete er die Diskus-
sion mit dem Satz: „Je pense que tout le monde est d’accord pour qu’on n’envoie
pas de divisions en Pologne?“.¹⁰ Am 4. Januar verurteilten die EG-Außenminister
öffentlich, die Verhängung des Kriegsrechts. Den von Ronald Reagan Ende De-
zember verhängten Sanktionen schlossen sie sich indessen nicht an.¹¹ Mitter-
rands Handlungsspielraum wurde durch den Druck der französischen Öffent-
lichkeit, die auf eine vorsichtigere Haltung gegenüber Polen drängte, enorm
eingeschränkt. Im Januar verständigte er sich mit Schmidt darauf, die Lebens-
mittellieferung fortzusetzen. Allerdings durfte dies die demonstrativ entschlos-
sene Haltung gegenüber der Sowjetunion nicht infrage stellen. Seine Äußerung,
dass „es nicht immer leicht [sei], dies den Wählern zu erklären“¹² zeugt davon,

 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 24. Februar
1982. In: AAPD 1982, Dok. 63, S. 322.
 AN, AG/5(4)/CD/160, MRE, Centre d’Analyse et de Prévision, Note, L’Allemagne et les relations
Est/Ouest, 12. Januar 1981.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 16. Dezember 1981, S. 170.
 AN, AG/5(4)/CD/74, Ambassade de France aux Etats-Unis, Résumé de la conversation entre M.
François Mitterrand et M. Ronald Reagan, 12. März 1982.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 16. Dezember 1981, S. 170.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 4. Januar 1982, S. 175.
 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 13. Januar
1982. In: AAPD 1982, Dok. 20, S. 90.
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 89

dass er sich der Grenzen seines politischen Handlungsspielraums in dieser Hin-


sicht bewusst war, die mitunter durch die Erwartungen der Wähler abgesteckt
wurden. Gewiss auch um diesen Erwartungen entgegenzukommen, sollte die
polnische Regierung aufgefordert werden, das Kriegsrecht aufzuheben. Charak-
teristisch für Mitterrands Ambivalenz ist aber zugleich sein Beharren darauf, dass
bei öffentlichen Stellungnahmen der Unterschied zwischen der politischen Ein-
flussnahme der Sowjetunion auf Polen und einer militärischen Intervention klar
herausgestellt werden müsse. Den amerikanischen Sanktionen wollte er sich
zudem auch nicht anschließen.¹³ Die Unterdrückung der Solidarność-Bewegung
ist aus zwei Gründen für den vorliegenden Gegenstand von entscheidender Be-
deutung: Neben dem sich verschlechternden Klima zwischen Ost und West hatten
die Krise in Polen sowie der unterschiedliche Umgang der westlichen Regierun-
gen Auswirkungen auf die transatlantischen Beziehungen, die im folgenden Ab-
schnitt 2.2 analysiert werden und an der Stelle noch einmal in Bezug zu den
Folgen der Polenkrise gesetzt werden.
Sehr viel bedrohlicher schätzen François Mitterrand und seine équipe die
Risiken ein, die sich aus der Modernisierung der sowjetischen Mittelstreckenra-
keten ergaben. Die sowjetischen SS-20-Raketen, die sukzessive die veralteten
Raketen der Typen SS-4 und SS-5 ersetzten, drohten durch erhöhte Mobilität,
Reichweite, Zielgenauigkeit sowie die Ausstattung mit drei Sprengköpfen die
sowjetische Erstschlagskapazität gegenüber den europäischen Verbündeten zu
verbessern. In Verbindung mit den sowjetischen Backfire-Bombern erhöhte sich
dadurch das Risiko, dass die sowjetische Führung mit einem Schlag, die euro-
päischen Bodentruppen, Luftwaffe und in Europa stationierten Atomwaffen der
NATO ausschalten könnte. Da aber durch die SALT-Verträge zwischen den USA
und der Sowjetunion global betrachtet eine annähernde strategische Parität
festgeschrieben worden war, sank zugleich die Wahrscheinlichkeit, dass die
Amerikaner den europäischen Verbündeten mit einem Vergeltungsschlag zu Hilfe
eilen würden. Aus diesem Grund galt es aus europäischer Perspektive bereits,
einen potentiellen sowjetischen Erstschlag zu verhindern,¹⁴ beziehungsweise
dieser prognostizierten Entkopplung von europäischer und amerikanischer Ver-
teidigung (découplage) vorzubeugen.¹⁵ Tatsächlich aber besaß die westliche Al-

 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 13. Januar
1982. In: AAPD 1982, Dok. 20, S. 88 – 96.
 Vgl. Loth, Wilfried: Staaten und Machtbeziehungen. In: Die Geschichte der Welt. 1945 bis
heute. Die globalisierte Welt. Hrsg. von Iriye, Akira. München 2013. S. 134.
 Der Begriff „découplage“ wurde in französischen Dokumenten zum Schlagwort dieses Ge-
samtzusammenhangs; siehe u. a. AN, AG/5(4)/CD/262, Présidence de la République, Pierre Morel,
90 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

lianz durchaus die Kapazitäten, einen potentiellen sowjetischen Erstschlag zu


vergelten: Selbst nach einer Zerstörung der festen Raketensilos verfügte man noch
immer über eine hinreichende Anzahl an Sprengköpfen, deren selektiver Einsatz
weiterhin möglich war. Hinzu kamen amerikanische seegestützte Sprengköpfe in
Reichweite der Sowjetunion, die dem NATO-Oberbefehlshaber für Europa zur
Verfügung standen sowie atomar bestückte Kampfflugzeuge.¹⁶ Die Sorgen der
Westeuropäer schienen aus sowjetischer Sicht umso unverständlicher, weil für
Breschnew und die sowjetische Führung „die Ersetzung der zunehmend defekten
und verletzlichen SS-4 und SS-5-Raketen ein ganz normaler Vorgang“¹⁷ war,
ähnlich wie die Modernisierung westlicher Kurzstreckenwaffen und Forward
Based Systeme. Angesichts der fortschreitenden Technologisierung und Moder-
nisierung amerikanischer wie sowjetischer Streitkräfte setzten sich auch François
Mitterrand und die französische Regierung für eine Modernisierung der franzö-
sischen Potentiale ein. Durch die Fortsetzung des Wettrüstens in den Bereichen
Anti-U-Boot-Kampf, Präzision der Raketen und ABM-Verteidigung sahen sie die
Effizienz der französischen Abschreckung bedroht.¹⁸ Dies war unter anderem
auch ein Grund dafür, weshalb Mitterrand Wert auf die Modernisierung der
französischen Atomarsenale legte und an einer technologischen Kooperation der
Europäer im Rahmen von EUREKA interessiert war.¹⁹ In der sowjetischen Argu-
mentation waren die SS-20-Raketen als Instrument der Kriegsverhütung gedacht,
um den Westen von einem gefürchteten Angriff abzuschrecken.²⁰ Allerdings be-
wies die Moskauer Führung wenig Gespür für die Bedrohungsgefühle, die sie
damit bei den westeuropäischen Staaten auslösten. Insofern resultierte die Krise
um die Euroraketen unter anderem aus unterschiedlichen Realitätswahrneh-
mungen dies- und jenseits des „Eisernen Vorhangs“ und einem Mangel an Em-
pathie für die Ängste und Sicherheitsbedürfnisse der Gegenseite. Auf diese Weise

Note pour le Président de la République, L’Etat des négociations de Genève et les START, 10. März
1982.
 Vgl. Loth, Helsinki, S. 192.
 Loth, Helsinki, S. 192.
 ADMAE, 1930-INVA 5641, MRE, Affaires Stratégiques et du Désarmement, Argumentaire sur la
non prise en compte de nos forces nucléaires dans les négociations soviéto-américaines, 18. April
1983; AN, AG/5(4)/CD/392, SGDN, extrait du dossier Conseil, 16. Oktober 1981.
 Siehe dafür auch Abschnitt 4.2.
 Vgl. für die Entscheidungen und Motivationen der sowjetischen Führung in der Eurorake-
tenkrise: Wettig, Gerhard: Sowjetische Euroraketenrüstung und Auseinandersetzung mit den
Reaktionen des Westens. Motivationen und Entscheidungen. In: Gassert [u. a.] (Hrsg.), Zweiter
Kalter Krieg, S. 51.
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 91

wurden die beiden Konfliktparteien in ein „Sicherheitsdilemma“²¹ geführt, auf


das in der Einleitung bereits Bezug genommen wurde.
Das Risiko eines sowjetischen Erstschlags schätzte François Mitterrand wohl
auch eher gering ein. Vielmehr fürchtete er die Möglichkeit, dass künftige Gene-
rationen sowjetischer Führer dadurch versucht sein könnten, Europa politisch zu
erpressen. Wobei anzumerken ist, dass er dieses Problem in Ost und West glei-
chermaßen wahrnahm. Beide Supermächte seien seiner Überzeugung nach daran
interessiert, ohne Krieg jene Ziele zu erreichen, die sie durch militärische Siege
erwarten dürften.²² Mitterrands ehemaliger Außenminister Roland Dumas erklärt
retrospektiv, dass es nicht annehmbar gewesen sei, dass die Sowjetunion einen
konstanten Druck auf Europa hätte ausüben können.²³ Dies scheinen auch die
Berichte des ehemaligen Präsidentenberaters Hubert Védrine zu bestätigen: Mit-
terrrand habe in der sowjetischen Hochrüstung eine nicht zu akzeptierende Be-
reitschaft Moskaus gelesen, militärisch und politisch auf die westeuropäische
Öffentlichkeit und die Entscheidungen der Regierungen einzuwirken. Dies be-
drohte nicht zuletzt die Entscheidungsfreiheit der Westeuropäer, die in Mitter-
rands Vorstellung von einem unabhängigen Europa nach der Auflösung der
Blöcke essentiell war. Zwar ging Mitterrand davon aus, dass auch die sowjetische
Spitze letztlich keinen Krieg führen wollte; allerdings fürchtete er eine sowjetische
Einschüchterungspolitik.²⁴ Mitterrand selbst legte dem deutschen Bundeskanzler
Helmut Schmidt am 12. Juli 1981 dar, dass er weniger einen Krieg als vielmehr die
Kriegsdrohung fürchte. Er sah die Gefahr, dass die Sowjetunion mithilfe ihres
immensen, militärischen Potentials allein durch Nötigung, durch die bloße An-
drohung eines Krieges, ihre Ziele erreichen könnte.²⁵ Daher unterstütze Mitterrand
beide Teile des NATO-Doppelbeschlusses. Weil er ein strategisches Gleichgewicht
auf möglichst niedrigem Niveau privilegierte, sollte wie durch den Doppelbe-
schluss vorgesehen, vor der Aufstellung von amerikanischen Pershing-II-Raketen
und Marschflugkörpern in Westeuropa zwischen den USA und der Sowjetunion
über die Euroraketen verhandelt und die neuen Waffensysteme nur im Falle von
gescheiterten Verhandlungen installiert werden. In seinem Interview im Stern
drückte sich der französische Präsident in dieser Frage äußerst missverständlich
aus. Seine Antwort suggerierte eine Bereitschaft zu einer Nachrüstung, um erst

 Loth, Angst und Vertrauensbildung, S. 32 f.; vgl. dazu weiterführend: Herz, Internationalis-
mus.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 8. Juli 1981, S. 60.
 Dumas, Roland: Affaires étrangères I. 1981– 1988. Paris 2007. S. 154.
 Védrine, Mondes, S. 116.
 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand, 12. Juli 1981. In: AAPD
1981, Dok. 198, S. 1039 – 1041.
92 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

dann auf gleichem Niveau über Abrüstung zu verhandeln: „Das [Übergewicht der
Sowjetunion in Europa] kann ich nicht akzeptieren, und ich gebe zu, dass
nachgerüstet werden muß [sic], um das Gleichgewicht wiederherzustellen.Von da
an sollte dann verhandelt werden.“²⁶ Bei Helmut Schmidt führte dies zu einigen
Irritationen, der das Missverständnis zunächst auf einen Übersetzungsfehler zu-
rückführte. Darauf angesprochen argumentierte Mitterrand, dass er den NATO-
Doppelbeschluss durchaus unterstütze. Allerdings wollte er die sowjetische Seite
mit der realistischen Drohung einer Raketenaufstellung unter Druck setzen, damit
sie in die Verhandlungen einwillige. Die „ernstgemeinte Androhung könnte […]
die gleiche Wirkung haben wie eine spätere Aufstellung der neuen Waffensysteme
selbst. Dies seien jedoch Vorstellungen, die er nicht öffentlich darlegen könne,“²⁷
erklärte er. Erneut lässt sich hier die Strategie nachweisen, mit einer zwar stets
ungewissen Zukunft aber mit einem als gewiss suggerierten Zukunftsszenario
Politik zu betreiben, um das sowjetische Handeln zu beeinflussen. Es zeigt sich
also, dass Mitterrand Gefühlspolitik als politische Handlungsstrategie einsetzte,
indem er durch eine „ernstgemeinte Androhung“ bei der sowjetischen Führung
Ängste oder zumindest ein Gefühl der Unsicherheit evozieren wollte, um so ihr
Handeln zu beeinflussen.
Um dieses Missverständnis beziehungsweise diese Widersprüchlichkeit von
Mitterrands Äußerungen zu verstehen, muss man berücksichtigen, dass sich seine
Argumentation im Sommer 1981 veränderte. Während des Wahlkampfes, in dem
Stern-Interview und auch noch bei der Pressekonferenz nach dem G7-Gipfel in
Ottawa am 20. und 21. Juni 1981 befürwortete François Mitterrand die Aufstellung
amerikanischer nuklearer Mittelstreckenraketen in Europa, um – wie er sagte –
das europäische Gleichgewicht wiederherzustellen. Sein Berater Pierre Morel hielt
diese Formulierung für äußerst unglücklich. Er beurteilte sie als Risiko, da sie von
anderen ausgenutzt werden könnte, um Frankreich etwas abzuverlangen, was
Mitterrand nicht bereit wäre zu akzeptieren: entweder Frankreichs völlige Inte-
gration in die westlichen Streitkräfte oder seine Neutralität. Mitterrands Äuße-
rungen suggerierten, so Morel, dass das europäische Kräftegleichgewicht vom
globalen Rüstungsgleichgewicht zwischen Ost und West unabhängig sei, das auf
der Kapazität der amerikanischen und sowjetischen strategischen Rüstung be-
ruhte. Die Überlegenheit der Sowjetunion könne ausschließlich durch eine Ver-
bindung zwischen der Verteidigung Westeuropas und einem globalen strategi-
schen Kräftegleichgewicht zwischen den USA und der UdSSR kompensiert

 Mitterrand, „Deutsch-französische Freundschaft“, S. 83.


 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand, 12. Juli 1981. In: AAPD
1981, Dok. 198, S. 1041.
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 93

werden. Der Verdienst des NATO-Doppelbeschlusses war seiner Ansicht nach


nicht, Zahl für Zahl die SS-20 zu kompensieren, „mais de rétablir un couplage
entre l’Europe et les États-Unis dans le domaine des missiles à moyenne portée où
les moyens soviétiques ne sont pas compensés jusque’à présent.“²⁸
Da sich François Mitterrand dieser Analyse anschloss, sah sich Pierre Morel
ermutigt, Überlegungen und Analysen zum nuklearen Gleichgewicht in Europa
vorzulegen, die im Anschluss de facto als nukleare Doktrin unter François Mitt-
errand übernommen wurden.²⁹ Morel legte dar, wieso weder Integration noch
Neutralität akzeptabel waren: Die französische force de frappe sei ausschließlich
dazu in der Lage, die französische Sicherheit zu garantieren. Deshalb blieb das
Bündnis mit den USA nach wie vor unverzichtbar für die Verteidigung Westeu-
ropas. Gleichwohl trugen die französischen Atomstreitkräfte in seiner Argumen-
tation insofern zum Schutz der Verbündeten bei, als die westliche Reaktion im
Krisenfall dadurch unmöglich zu kalkulieren sei. Zudem stellten die unabhängi-
gen Streitkräfte für Morel einen künftigen Grundstein für eine autonome euro-
päische Verteidigung dar, wenngleich die politischen Modalitäten zu diesem
Zeitpunkt noch nicht definiert waren. Dies hebt deutlich hervor, dass auch die
Wahrung der französischen Unabhängigkeit innerhalb des westlichen Lagers
zumindest von Teilen der équipe Mitterrand als Teil einer französischen Lang-
zeitstrategie begriffen wurde, die sich auf den Aufbau europäischer Unabhän-
gigkeit richtete.
Morel warnte vor dem Hintergrund einer europäischen Emanzipation davor,
das globalstrategische vom eurostrategischen Kräfteverhältnis zu separieren:

Isoler un espace nucléaire européen ferait, en fin de compte, le jeu des neutralistes et des
Soviétiques, en mettant progressivement en place une zone de statut spécial qui interdirait à
tout jamais aux pays d’Europe occidentale d’affirmer, individuellement et collectivement,
leur personnalité.³⁰

Stattdessen sprach sich Pierre Morel immer wieder für die Kopplung der INF- und
START-Verhandlungen aus. Auf diese Weise wollte er verhindern, dass die so-
wjetische Führung die Genfer Verhandlungen zu Propagandazwecken miss-
brauchte, sondern sich für einen Verhandlungserfolg engagierte. Durch die
Trennung der beiden Verhandlungen sah er auch das Risiko eines amerikanisch-

 Attali, Verbatim 1981– 1986, 21. Juli 1981, S. 73.


 Attali, Verbatim 1981– 1986, 24. Juli 1981, S. 75 – 77.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 24. Juli 1981, S. 76.
94 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

europäischen découplage steigen, das durch den Doppelbeschluss eigentlich


hatte beseitigt werde sollen.³¹
Um die Effekte seiner Stellungnahmen von Ottawa über nukleare Mittelstre-
ckenraketen zu korrigieren, empfing François Mitterrand den sowjetischen Bot-
schafter Stepan Tscherwonenko, bevor dieser zu Konsultationen nach Moskau
reiste, und legte ihm dar, weshalb er ein strategisches Gleichgewicht unterstütze.
Er setzte sich für einen möglichst schnellen Beginn von Verhandlungen zwischen
Moskau und Washington ein und betonte zugleich, dass Frankreich nur Zu-
schauer sei, da es nicht den integrierten Streitkräften der NATO angehöre und er
selbst auch nicht die Absicht verfolge zurückzukehren. Als Mitterrand seine Sorge
darüber darlegte, dass die SS-20-Raketen nicht in der Lage seien, den Atlantik zu
überqueren und daher auf Westeuropa gerichtet seien, machte er bewusst keinen
Unterschied mehr zwischen einem globalstrategischen und eurostrategischen
Gleichgewicht.³² Nach Tscherwonenkos Rückkehr aus Moskau empfing Mitter-
rand ihn erneut. Als dieser ihm übermittelte, dass Breschnew wie Mitterrand von
der Notwendigkeit überzeugt sei, das Gleichgewicht in Europa wiederherzustel-
len, widersprach dieser wiederholt: „Non pas en Europe, mais dans le monde.“³³
Dennoch betonte Tscherwonenko in einer Pressekonferenz nach dem Gespräch
ihren beidseitigen Wunsch, das Gleichgewicht in Europa wiederherzustellen.³⁴
Mitterrands Äußerungen zum eurostrategischen Gleichgewicht, erwiesen sich so
als selbstgestellte Falle. Im Herbst 1981 ging es darum, zu verhindern, dass die
französischen Nuklearstreitkräfte in den für Ende 1981 vorgesehenen amerika-
nisch-sowjetischen Verhandlungen impliziert wurden. Für eine solche Forderung
hatte Mitterrand selbst mit seinen Stellungnahmen eine Steilvorlage geliefert. Da
es offenbar unmöglich schien, einen indirekten Bezug zu vermeiden, sollte zu-
mindest eine explizite Erwähnung der französischen Streitkräfte verhindert wer-
den. Die équipe des Präsidenten erkannte wohl das Risiko, dass Sowjets, Deutsche
und Amerikaner versucht sein könnten, Frankreich einen Kompromiss abzurin-
gen, um die Verhandlungen voranzubringen. Daher war es entscheidend, den
Amerikanern die Zusicherung abzuringen, dass die französischen Streitkräfte in
einem bilateralen Abkommen mit der Sowjetunion keinerlei Erwähnung finden
würden.³⁵ Gegenüber dem amerikanischen Präsidenten setzte sich Mitterrand
dafür ein, die INF-Verhandlungen durch die Verhandlungsstränge um die strate-

 AN, AG/5(4)/CD/262, Présidence de la République, Pierre Morel, Note pour le Président de la


République, L’État des négociations de Genève et les START, 10. März 1982.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 31. Juli 1981, S. 79.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 8. September 1981, S. 95.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 8. September 1981, S. 95.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 30. Oktober 1981, S. 147.
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 95

gische Rüstung (START) zu ergänzen; durch die Kopplung der beiden Verhand-
lungen sollten die französischen Nuklearpotentiale herausgehalten werden.³⁶
Es steht darüber hinaus zu vermuten, dass wiederkehrende französische
Ängste für die Unterstützung des NATO-Doppelbeschlusses eine besondere Rolle
spielten: Die Bundesrepublik Deutschland wurde in den Direktionen des Quai
d’Orsay aufgrund der deutschen Teilung als besonders verwundbares Glied des
westlichen Bündnisses gesehen.³⁷ Die Garantie des amerikanischen nuklearen
Schutzschirms sollte daher dazu beitragen, dass die BRD sich nicht dem stetigen
Druck durch die Sowjetunion ausgesetzt sah. Bonn sollte nicht in die Zwickmühle
geraten, zwischen atlantischer Solidarität und Ostpolitik als fester Bestandteil
deutscher nationaler Interessen wählen zu müssen.³⁸ Es ist davon auszugehen,
dass diese wiederkehrenden, sogenannten „Rapallo-Ängste“³⁹ daher für das En-
gagement zur Wiederherstellung des strategischen Gleichgewichts mitverant-
wortlich waren. Gleichwohl sollten sich diese „Rapallo-Ängste“ in den Diensten
des französischen Außenministeriums und unter den Beratern des Präsidenten in
dem Maße verstärken, wie die sowjetische Seite den Kampf um die Euroraketen
auf eine psychologische Ebene verlagerte. Der Kreml versuchte daher jene deut-
schen Tendenzen zu instrumentalisieren, die einem Arrangement mit Moskau
gewogen waren.
Am 18. November 1981 präsentierte der amerikanische Präsident Ronald
Reagan seinen Vorschlag der sogenannten Nulllösung, der einen Verzicht auf die
Aufstellung der Pershing-II und Marschflugkörper unter der Bedingung vorsah,
dass die sowjetische Führung die bereits installierten SS-20 sowie die älteren SS-4
und SS-5-Raketen abbauen würde. Von der sowjetischen Nachrichtenagentur
TASS wurde er allerdings sogleich als reine Propaganda zurückgewiesen.⁴⁰
Demgegenüber war der Vorschlag von Leonid Breschnew einer erweiterten Null-

 AN, AG/5(4)/CD/74, Ambassade de France aux Etats-Unis, Résumé de la conversation entre M.


François Mitterrand et M. Ronald Reagan, 12. März 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/160, MRE, Direction d’Europe, Note, Réflexions sur la visite Brejnev à Bonn
(23 – 24 novembre 1981), 8. Dezember 1981.
 Vgl. Baulon, Jean-Philippe: Au risque de l’isolement ou de l’alignement. La politique de la
France dans la crise des euromissiles (1977– 1987). In: Revue d’histoire diplomatique 124 (2010).
S. 179.
 Am 16. April 1922 schlossen Deutschland und die Russische Sozialistische Föderative So-
wjetrepublik in Rapallo einen Vertrag zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Gleichzeitig
wurde darin ein wechselseitiger Verzicht auf alle Ansprüche aus der Zeit des Ersten Weltkrieges
unterzeichnet. Im Westen löste diese Übereinkunft Ängste vor einer Kooperation Deutschlands
mit dem Sowjetstaat aus; siehe dafür weiterführend: Niedhart, Gottfried: Die Außenpolitik der
Weimarer Republik. 3. erw. Auflage. München 2013. S. 15.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 18. November 1981, S. 157; Loth, Helsinki, S. 214.
96 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

lösung für die westlichen Verbündeten inakzeptabel. Bei seiner Tischrede am


23. November 1982 während des Besuchs in Bonn schlug er einen vollständigen
Abbau aller nuklearen Mittelstreckenwaffen auf dem europäischen Kontinent
vor.⁴¹ Damit war die sowjetische Führung über ihre üblichen Moratoriumsange-
bote zwar hinausgegangen, die immer wieder ein Einfrieren der Raketen auf dem
jeweils aktuellen Niveau vorsahen. Am 6. März 1982 verkündete Leonid Bresch-
new obendrein einen Aufstellungsstopp für die SS-20-Raketen im europäischen
Teil der Sowjetunion. Jenseits des Urals wurde die Aufstellung hingegen fortge-
setzt. Durch ihre enorme Reichweite waren die Raketen auch von dort aus in der
Lage, Ziele in Westeuropa zu erreichen. Ein denuklearisiertes Europa, das vom
asiatischen Teil der Sowjetunion aus immer noch durch SS-20-Raketen bedroht
würde, widersprach dem Sicherheitsbedürfnis der Europäer – ganz davon abge-
sehen, dass die Unabhängigkeit der französischen force de frappe für Mitterrand
nicht verhandelbar war. Jacques Attali hielt die Vorschläge daher für pure Pro-
paganda, die jedoch das Risiko bargen, die westliche Öffentlichkeit zu verfüh-
ren.⁴² Die sowjetischen Vorschläge gründeten auf Unstimmigkeiten zwischen den
USA und der Sowjetunion: Während die Sowjetunion ausschließlich über die
Mittelstreckenraketen in Europa sprechen wollte, ging es den Amerikanern viel-
mehr um die Kapazität als um den Aufstellungsort der Systeme.⁴³
Reagans Vorschlag zur Nulllösung war Védrine zufolge in Mitterrands Sin-
ne.⁴⁴ In der Tat entsprach dies in etwa seiner Vorstellung, die er noch vor seiner
Wahl unter dem Motto „ni SS 20, ni Pershing“ im französischen Abgeordneten-
haus dargelegt hatte.⁴⁵ Allerdings zweifelte François Mitterrand zunehmend an
der Ernsthaftigkeit der amerikanischen Verhandlungen. Nach einer Reihe von
Konsultationen in Washington verwies Jacques Andréani auf Unterschiede in der
amerikanischen und europäischen Haltung zu den INF-Verhandlungen. Eugene
Rostow und Richard Burt beispielsweise separierten die START- von den INF-
Verhandlungen. Während START als Ziel hätte, ein neues Gleichgewicht der
strategischen Kräfte zu erreichen, seien die INF-Verhandlungen für sie „une ent-
reprise de caractère politique“⁴⁶, die sich darauf richteten, den europäischen

 Aufzeichnung des Botschafters Ruth, 24. November 1981. In: AAPD 1981, Dok. 341, S. 1847.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 6. März 1982, S. 214.
 ADMAE, 1930-INVA 5641, TD RPAN Bruxelles 690, Session ministérielle du Conseil atlantique.
Négociation sur les forces nucléaires de portée intermédiaire, 10. Dezember 1981.
 Védrine, Mondes, S. 191.
 Vgl. Favier, Pierre/ Martin-Roland, Michel: La Décennie Mitterrand. Bd. 1: Les ruptures (1981–
1984). Paris 1990. S. 237.
 AN, AG/5(4)/CD/262, MRE, TD Washington 684, Consultations du Directeur Politique à Wa-
shington, 10. März 1982.
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 97

Sorgen entgegenzukommen und die Umsetzung der Modernisierungsentschei-


dung von 1979 zu rechtfertigen.⁴⁷ Nach seinem Gespräch mit Ronald Reagan im
Weißen Haus im März 1982, war Mitterrand überzeugt, dass in Genf insbesondere
von amerikanischer Seite nicht seriös verhandelt würde.⁴⁸ Im Ministerrat be-
richtete er von seinen Eindrücken: Er glaubte, dass die amerikanische Adminis-
tration erst nach der Installation neuer Raketen zu seriösen Verhandlungen
übergehen wollte. Das von den Sowjets vorgeschlagene Einfrieren der Raketen-
aufstellung hielt er für ebenso unglaubwürdig, wie Reagans Nulllösung und zu-
dem für nicht akzeptabel, da es aus seiner Sicht die sowjetische Überlegenheit
festschreiben würde. Allerdings war er sich bewusst, dass die Pershing-II-Raketen
ein neues Ungleichgewicht zugunsten der Amerikaner schaffen würden. Bei ei-
nem völligen Abzug aller SS-20 wäre dies aber ebenso der Fall. Daher liege ein
Gleichgewicht irgendwo dazwischen: „des SS 20, certes, mais pas trop, et très
contôlés.“⁴⁹ Ein wirklicher Nullpunkt setze eine komplette Abrüstung voraus, die
er für unrealistisch hielt. Im Grunde verstand er sogar, dass die Sowjetunion die
französischen und britischen Potentiale dem Ensemble der Amerikaner hinzu-
fügte, da sie wenn auch nicht als Offensivwaffen so doch immerhin defensiv auf
die Sowjetunion gerichtet waren. Trotz seiner Zweifel an der Ernsthaftigkeit der
amerikanischen Verhandlungsabsichten, hielt Mitterrand es weiterhin für es-
sentiell, die glaubhafte Drohung mit der Nachrüstung aufrechtzuerhalten, um
eine sowjetische Verhandlungsbereitschaft zu erzielen.⁵⁰ Über das Jahr 1982
nahmen seine Zweifel zu, dass die amerikanische Forderung, alle SS-20 abzu-
bauen, noch zu erreichen war.
Dass ein Kompromiss der amerikanischen und sowjetischen Verhandlungs-
positionen durchaus im Bereich des Möglichen lag, zeigte sich im Juli 1982.
Während eines vertraulichen Waldspaziergangs war es Paul Nitze und Julij Kwi-
zinskij gelungen, zu einer möglichen Übereinkunft durchzubrechen, die zwischen
der amerikanischen und sowjetischen Verhandlungsposition lag. Das in greifbare
Nähe gerückte Abkommen scheiterte allerdings letztlich am Widerstand aus
Washington und Moskau, sich darauf einzulassen.⁵¹ Einerseits war dadurch der
Weltöffentlichkeit deutlich vor Augen geführt worden, dass die amerikanische
und sowjetische Delegation in Genf ernsthaft an einem Verhandlungsergebnis

 AN, AG/5(4)/CD/262, MRE, TD Washington 684, Consultations du Directeur Politique à Wa-


shington, 10. März 1982.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 17. März 1982, S. 222.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 17. März 1982, S. 223.
 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 24. Februar
1982. In: AAPD 1982, Dok. 63, S. 326.
 Vgl. Loth, Helsinki, S. 214.
98 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

interessiert waren. Andererseits zeigte sich aber auch, dass die Regierungen in
Washington und Moskau dies nicht wirklich unterstützten. Obwohl diese Episode
erst sehr viel später bekannt wurde,⁵² erhöhte François Mitterrand in der zweiten
Jahreshälfte 1982 den Druck, um die amerikanische Administration und die so-
wjetische Führung zu einer größeren Kompromissbereitschaft und Anpassung
ihrer Verhandlungspositionen zu bewegen.
Als Ronald Reagan im Oktober 1982 die Nulllösung noch einmal ins Spiel
brachte, kommentierte Mitterrand, dass ein Gleichgewicht auf dieser Basis nicht
zu erreichen sei: Stattdessen müsse ein Kompromiss zwischen den Positionen
Reagans und Breschnews gefunden werden.⁵³ Nachdem Mitterrand am 11. Oktober
1982 in einer Pressekonferenz in Brazzaville bereits öffentlich versucht hatte, der
Suche nach einem „point moyen“⁵⁴ neue Impulse zu geben, versuchte er auch in
bilateralen Gesprächen auf die beiden Verhandlungsparteien einzuwirken. Ge-
genüber dem neuen amerikanischen Außenminister George Shultz regte Mitter-
rand am 14. Dezember an, es gäbe natürlich noch andere Möglichkeiten als die
Nulllösung von Reagan oder das Einfrieren von Breschnew. Aufgrund der ame-
rikanischen Truppenpräsenz in Europa habe die Sowjetunion nicht die Absicht
alle geplanten 350 SS-20 aufzugeben. Stattdessen empfahl Mitterrand, jenen
Punkt zu suchen, ab dem Moskau nicht mehr in der Lage sein würde, Europa
strategisch zu beherrschen.⁵⁵ Am 20. Dezember versuchte Mitterrand über den
sowjetischen Botschafter auf die Verhandlungsposition des Kremls einzuwirken.
Er sei sowohl gegen die Nulllösung als auch gegen die Vorschläge des neuen
Generalsekretärs der KPdSU Jurij Andropow.⁵⁶ Interessant wäre ein Rückzug der
SS-20 unterhalb einer Zahl von 162. Ein möglicher Vorschlag müsste also oberhalb
von Null und unterhalb der vorgesehenen Zahlen der westlichen Pershing-II und
Marschflugkörper (108 und 464) liegen. Eine Unterscheidung von Pershing-II und
Marschflugkörpern, könne obendrein zu einem späteren Zeitpunkt der Verhand-
lungen anvisiert werden.⁵⁷ Bei dem G7-Gipfel in Williamsburg im Mai 1983 sperrte
sich François Mitterrand vehement gegen jedweden Bezug auf die Nulllösung im
Abschlusskommuniqué, unter anderem weil er diese nicht als einzig mögliches

 Attali, Verbatim 1981– 1986, 21. Januar 1983, S. 458.


 Attali, Verbatim 1981– 1986, 28. Oktober 1982, S. 409.
 Conférence de presse du Président de la République (extraits), Brazzaville, 11. Oktober 1982.
In: La Politique Etrangère 1982 (Oktober/Dezember), Paris 1982, S. 28.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 14. Dezember 1982, S. 439.
 Nach dem Tod von Leonid Breschnew im November 1982 hatte Jurij Andropow das Amt des
Generalsekretärs der KPdSU übernommen.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 20. Dezember 1982, S. 444.
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 99

Verhandlungsergebnis festschreiben wollte.⁵⁸ Insgesamt zeigen die Untersu-


chungen, wie François Mitterrand versuchte, aktiv Einfluss auf die Verhand-
lungsparteien zu nehmen, obgleich er selbst nicht Teil der Verhandlungen war
und in der Öffentlichkeit auch nicht müde wurde dies zu betonen. Als eine Art
Mittler versuchte er aber, beiden Parteien ihre Handlungsspielräume vor Augen zu
führen, um sie auf diese Weise zu einer Anpassung ihrer Position zu bewegen und
insgesamt einen Erfolg der Rüstungsgespräche zu ermöglichen.
Die Verhandlungen um die Euroraketen waren aus Sicht von François Mitt-
errand und seinen Beratern selbst nicht ohne Risiko. Besondere Sorgen bereitete
ihnen vor allem die sowjetische Forderung, die französischen und britischen
Atomarsenale in den INF-Verhandlungen zu berücksichtigen.⁵⁹ Die Idee, die
französischen Nuklearpotentiale in die Streitkräfte der NATO einzurechnen, war
keineswegs neu. Am 17. Mai 1972 hatte der stellvertretende sowjetische Außen-
minister Wladimir Semjonow in den SALT-Verhandlungen die Berücksichtigung
der Potentiale Frankreichs und Großbritanniens an nuklearen U-Booten bereits
einmal gefordert.⁶⁰ Eine Akzeptanz dieser Forderung grenzte aus Sicht von Véd-
rine an Selbstaufgabe, da die französische Verteidigungspolitik damit der Auto-
rität von Washington und Moskau untergeordnet worden wäre.⁶¹ Durch die kon-
zeptionellen Überlegungen von Pierre Morel ist die Bedeutung
verteidigungspolitischer Unabhängigkeit für die nukleare Doktrin unter Mitter-
rand an früherer Stelle bereits dargelegt worden. Über sowjetische Massenmedien
lancierte Moskau eine Kampagne, in der die Berücksichtigung der französischen
und britischen Nuklearstreitkräfte bei den INF-Verhandlungen zur Bedingung für
ein Abkommen gemacht wurden. Wenngleich diese beiden Nuklearmächte nicht
direkt an den Genfer Verhandlungen partizipieren sollten, forderte der Kreml ab
März 1982 aber doch, diese Potentiale indirekt als westliche Streitkräfte in
Rechnung zu stellen.⁶²

 Vgl. Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 276 f.


 AN, AG/5(4)/CD/160, MRE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégiques
et du Désarmement, Sous-Direction Affaires Stratégiques et des Pactes, Position du SPD visant à
la prise en compte des forces françaises dans la négociation de Genève sur les forces de portée
intermédiaire, Datum unleserlich. Die Note entstand wahrscheinlich zu Jahresbeginn 1982 auf
jeden Fall aber vor dem SPD-Parteitag in München im April 1982.
 Aufzeichnung des Vortragenden Legationsrats Hartmann, 20. Juni 1972. In: AAPD 1972,
Dok. 176, S. 751.
 Védrine, Mondes, S. 192 f.
 Siehe z. B. ADMAE, 1930-INVA 5642, MRE, TD Moscou 387, Négociations de Genève sur les
F.N.I.: Inclusion des „forces tierces“, 12. März 1982.
100 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

Als Jurij Andropow am 21. Dezember 1982 den Vorschlag einbrachte, dass die
Sowjetunion in Europa genauso viele Raketen behalten könne, wie Großbritan-
nien und Frankreich, antwortete Mitterrand darauf mit dem Maxim französischer
Unabhängigkeit. Stattdessen stellte er strenge Bedingungen für eine französische
Beteiligung an den Verhandlungen auf. Insgesamt hatte er im Jahr 1983 große
Mühe, sich gegen derartige Forderungen zur Wehr zu setzen.⁶³ Die Idee, die So-
wjetunion könne eine den französischen und britischen Nuklearraketen ent-
sprechende Anzahl an Vektoren in Europa erhalten, erschien durch die sugge-
rierte Symmetrie umso verlockender. Védrine weist allerdings auf einen
Trugschluss hin, da die SS-20-Raketen mit drei Sprengköpfen ausgestattet waren
und zudem auch andere Waffen, die auf sowjetischem Territorium stationiert
waren, in der Lage waren, Westeuropa zu erreichen.⁶⁴ Außerdem wurden fran-
zösische Entscheidungsträger nicht müde zu betonen, dass die force de frappe ein
Instrument der rein nationalen Verteidigung darstellte. Sie sei weder zu den
Streitkräften der NATO zu rechnen, noch sei ihre Kapazität hinreichend, um die
Sicherheit der europäischen Verbündeten zu garantieren.⁶⁵ Über den Erwerb der
Mittel, die Planung sowie die Entscheidung ihres Einsatzes könne ausschließlich
auf nationaler Ebene entschieden werden.⁶⁶ Insgesamt basierte die französische
Doktrin, die sowohl eine direkte als auch indirekte prise en compte ausschloss, auf
vier Prinzipien: dem rein nationalen Charakter der force de frappe, ihrer unein-
geschränkten Unabhängigkeit, der Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung
und keiner annähernden Vergleichbarkeit mit den Potentialen der beiden Su-
permächte.
Die sowjetische Forderung einer prise en compte entwickelte aus französi-
scher Sicht insofern eine gefährliche Eigendynamik, als sie sich auch an die
westliche Öffentlichkeit richtete. Gerade zu Beginn der Verhandlungen berichtete
der Chef der amerikanischen Verhandlungs-Delegation den verbündeten Au-
ßenministern, dass die Sowjetunion bisher keine neuen Vorschläge eingebracht
habe, sondern vor allem erst einmal die Biegsamkeit der westlichen Standpunkte

 Vgl. Baulon, Risque, S. 177.


 Védrine, Mondes, S. 193.
 ADMAE 1930-INVA 5641, Intervention du représentant de la France au Comité du désarme-
ment des Nations Unies (problème de la prise en compte des forces tierces) (New York, 28. April
1983). In: Documents d’Actualité Internationale 14 (1983), S. 276 f.
 ADMAE, 1930-INVA 5641, MRE, Affaires Stratégiques et du Désarmement, Argumentaire sur la
non prise en compte de nos forces nucléaires dans les négociations soviéto-américaines, 18. April
1983.
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 101

austesten wollte.⁶⁷ Durch eine offensive Politik und Medienkampagne versuchte


Moskau, die westeuropäische Öffentlichkeit und insbesondere die Friedensbe-
wegung zu instrumentalisieren, damit diese ihrerseits den Druck auf ihre Regie-
rungen erhöhten. Dahinter stand die Absicht, den Zusammenhalt der Atlanti-
schen Allianz zu schwächen und letztlich den Nachrüstungsbeschluss insgesamt
zu kippen. In der BRD aber auch in Belgien, Dänemark, Großbritannien, Italien,
den Niederlanden bis in die USA formierte sich eine breite Opposition gegen die
geplante Raketenaufstellung, die die westlichen Regierungen enorm unter Druck
setzte. Die Gegner der Nachrüstung gingen unter dem Schlagwort „Friedensbe-
wegung“ in die Geschichte ein, bei der es sich um ein gesamteuropäisches und
zugleich transatlantisches Phänomen handelte.⁶⁸ Die Forderung sollte die west-
lichen Bündnispartner in den Augen der Öffentlichkeit ferner als Kalte Krieger
gegen die Sowjetunion diskreditieren und für ein potentielles Scheitern der Ver-
handlungen verantwortlich machen.
Mit dem Wechsel im Elysée 1981 war auch eine neue Aufmerksamkeit ge-
genüber deutschen Unsicherheiten einhergegangen. Pierre Morel und Hubert
Védrine zeichneten sich durch einen großen Willen und das Vermögen zur Em-
pathie aus. In ihr politisches Kalkül bezogen sie ebenso wie Michel Duclos, ein
junger Diplomat des Centre d’Analyse et de Prévision im Quai d’Orsay, auch die
deutsche Psyche mit ein.⁶⁹ Gleich zu Beginn von Mitterrands Amtszeit benannte
sein Berater Védrine das Risiko „d’une grande vulnérabilité de l’Allemagne de
l’Ouest en face d’une Union Soviétique qui est en situation de mettre en profit le
pacificme et le neutralisme d’une partie de l’opinion publique ouest-alleman-
de“⁷⁰. Selbst Helmut Schmidts Berater Otto von der Gablentz gestand gegenüber
französischen Gesprächspartnern die deutsche Verwundbarkeit ein. Dies veran-
lasste Védrine zu dem Vorschlag, das Centre d’Analyse et de Prévision eine Studie
über die pazifistischen und neutralistischen Kräfte in Westdeutschland, den
Niederlanden, Dänemark und eventuell weiterer skandinavischer sowie Benelux-
Länder ausarbeiten zu lassen. Dabei sollte auch erforscht werden, welches Ge-
wicht diese Tendenzen auf die außenpolitischen Entscheidungen der Regierun-
gen hatte – unter besonderer Berücksichtigung der Ostpolitik und Sicherheits-

 ADMAE, 1930-INVA 5641, TD RPAN Bruxelles 690, Session ministérielle du Conseil atlantique.
Négociation sur les forces nucléaires de portée intermédiaire, 10. Dezember 1981.
 Vgl. Gassert, Philipp/Geiger, Tim/Wentker, Hermann: Zweiter Kalter Krieg und Friedensbe-
wegung: Einleitende Überlegungen zum historischen Ort des NATO-Doppelbeschlusses von 1979.
In: Gassert [u. a.] (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg, S. 7.
 Vgl. Baulon, Risque, S. 177 f.
 AN, AG/5(4)/CD/160, Présidence de la République, Hubert Védrine, Note pour le Secrétaire
Général, 25. Mai 1981.
102 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

fragen. Der Generalsekretär des Elysée Pierre Bérégovoy hielt diesen Vorschlag für
äußerst interessant und gab ihn zwei Tage später an den Präsidenten weiter, der
diesem letztlich zustimmte.⁷¹ Am 3. Juni 1981 gab Bérégovoy den Auftrag mit der
Anweisung an das Außenministerium weiter, die Ursachen der pazifistischen und
neutralistischen Tendenzen zu erforschen, ihre aktuelle Kraft einzuschätzen und
einen Ausblick auf potentielle künftige Entwicklungen zu geben. Besonders
wichtig war die Frage danach, in welchem Maße sie in der Lage waren, Einfluss
auf Regierungsentscheidungen hinsichtlich der Außenpolitik und Verteidigung zu
nehmen.⁷² Diese Maßnahme von Mitterrands Mitarbeitern macht den Zusam-
menhang von Wahrnehmen und Handeln, wie er in der Einleitung unter dem
Stichwort „Perzeptionsparadigma“⁷³ eingeführt wurde, überdeutlich.
Angesichts der französischen Verunsicherung versuchte der Vorsitzende des
Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Rainer Barzel, Diplomaten in der fran-
zösischen Botschaft zu beruhigen. Indem er die Friedensbewegung herunter-
spielte, warb er gleichzeitig für Vertrauen in die bundesdeutsche Bündnistreue.
Die Friedensbewegung sei nicht überzubewerten und keinesfalls mit dem Neu-
tralismus zu verwechseln, der den Rückzug der Bundesrepublik aus der NATO
verlange. Das Verhältnis von Friedensbewegung und Bevölkerung sei außerdem
nicht relevant.⁷⁴ Trotzdem hielt man die Friedensbewegung im Elysée weiterhin
für riskant: Hinter der deutschen Stabilität identifizierte Jean-Michel Gaillard
destabilisierende Elemente wie pazifistische Gefühle, wirtschaftlicher und de-
mographischer Niedergang und ein strenger Sparhaushalt. Weil die Bundesre-
publik dadurch ihre Sicherheiten verliere, sah er das Risiko eines deutschen
„dérive neutraliste“⁷⁵ steigen. Zwar warnte er davor, die Situation überzubewer-
ten; eine Wiederherstellung des Kräftegleichgewichts auf dem Verhandlungsweg
sah er allerdings als besseren Ausweg, weil dies nicht nur die Chance barg, die
Ost-West und innerdeutschen Beziehungen zu verbessern. Auch glaubte er, dass
eine Verhandlungslösung die bundesdeutsche Zustimmung zur NATO wieder

 AN, AG/5(4)/CD/160, Présidence de la République, Hubert Védrine, Note pour le Secrétaire


Général, 25. Mai 1981; siehe dazu die handschriftlichen Anmerkungen von Pierre Bérégovoy „M. le
Président, cette note de Védrine est interessante. Que pensez vous de sa suggestion? PB 27/5“ und
François Mitterrand „D’accord avec la suggestion in fine FM“.
 AN, AG/5(4)/CD/160, Pierre Bérégovoy, Note pour le Ministre des Relations extérieures, 3. Juni
1981.
 Vgl. Niedhart, Selektive Wahrnehmung.
 AN, AG/5(4)/CD/160, Ambassade de France à Bonn, Dépêche d’actualité,Vue de M. Barzel sur
la situation actuelle, 24. Juni 1981.
 AN, AG/5(4)/CD/160, Présidence de la République, Jean-Michel Gaillard, La République
Fédérale d’Allemagne, le pacifisme, la construction européenne, 22. September 1981.
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 103

stärken könnte.⁷⁶ Der Besuch von Leonid Breschnew vom 23. bis zum 25. No-
vember 1981 in Bonn wurde durch Diplomaten des Quai d’Orsay deshalb kritisch
gesehen. Allerdings richtete sich die Kritik eher auf das Verhalten der USA. Im
französischen Außenministerium sah man es als amerikanische Verantwortung,
den Dialog mit Moskau zu führen, anstatt diesen einem verwundbaren Verbün-
deten zu überlassen.⁷⁷
Bei der Risikokalkulation zur Umsetzung des Nachrüstungsbeschlusses
wurden dezidiert auch emotionale Faktoren mit einbezogen. Emotionale Strö-
mungen in der deutschen Öffentlichkeit wurden auf ein tiefes Trauma zurück-
geführt, das die Zeit des Nationalsozialismus in das deutsche kollektive Ge-
dächtnis eingeschrieben habe. Außerdem sei die Angst vor einem nuklearen Krieg
weit verbreitet. Die équipe Mitterrand erkannte, dass die Opposition zur Rake-
tenaufstellung Helmut Schmidt, neben wirtschaftlichen Turbulenzen und Kon-
flikten innerhalb der Regierungskoalition, innenpolitische Schwierigkeiten be-
reitete.⁷⁸ An dieser Stelle offenbart sich eine in der Einleitung bereits angedeutete
Kategorie von Emotionen in den internationalen Beziehungen. Empathie wurde
bei den Diplomaten des Quai d’Orsay und den Beratern im Elysée zu einer poli-
tischen Strategie.⁷⁹ Durch die Zuschreibungen von Perzeptionen und Emotionen
sollte es ermöglicht werden, Handlungsfolgen abzuleiten. Hier wird der Zusam-
menhang von Wahrnehmen und Handeln nicht nur indirekt durch die Akteure
vorausgesetzt. Vielmehr zeigen sie ein Bewusstsein dafür, indem sie explizit nach
Perzeptionen, Emotionen und deren Ursprüngen forschen und sie damit als Motiv
und Ressource für politisches Handeln ernst nehmen.
Bestätigt sahen Diplomaten im Quai d’Orsay diese Befürchtungen in den
parteiinternen Auseinandersetzungen rund um den SPD-Parteitag in München
vom 19. bis zum 23. April 1982.⁸⁰ Bereits im Vorfeld hatte eine wahre Papier-

 AN, AG/5(4)/CD/160, Présidence de la République, Jean-Michel Gaillard, La République


Fédérale d’Allemagne, le pacifisme, la construction européenne, 22. September 1981.
 AN, AG/5(4)/CD/160, MRE, Direction d’Europe, Note, Réflexions sur la visite Brejnev à Bonn
(23 – 24 novembre 1981), 8. Dezember 1981.
 AN, AG/5(4)/CD/160, Premier Ministre, Secrétariat Général de la Défense Nationale, Note
d’information, La République Fédérale d’Allemagne – Principales difficultés et perspectives,
23. Februar 1982.
 Tilo Schabert wies bereits darauf hin, wie Hubert Védrine und Christian Sautter 1981 eine
Verständigung mit der Bundesrepublik auf der Grundlage von Empathie suchten: Schabert,
Weltgeschichte, S. 43 f.
 AN, AG/5(4)/CD/160, MRE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégiques
et du Désarmement, Sous-Direction Affaires Stratégiques et des Pactes, Position du SPD visant à
la prise en compte des forces françaises dans la négociation de Genève sur les forces de portée
104 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

schlacht an Anträgen zwischen Nachrüstungsbefürwortern und -gegnern statt-


gefunden. Letztere, unter anderem Oskar Lafontaine, setzten sich vehement dafür
ein, auch dann nicht am Beschluss zur Nachrüstung festzuhalten, wenn die
Verhandlungen in Genf scheitern sollten.⁸¹ Der Dienst für strategische Angele-
genheiten und Abrüstung im Quai d’Orsay schlug daher eine Intervention des
Premierministers gegenüber den deutschen Gesprächspartnern vor, um darauf zu
verweisen, dass sowohl die Lockerung des Nachrüstungsbeschlusses als auch die
Akzeptanz, Drittpotentiale zu berücksichtigen, gefährlich, falsch und inakzep-
tabel seien. Daraus ergebe sich nicht nur für Frankreich, sondern für seine Ver-
bündeten gleichermaßen ein Sicherheitsrisiko. Abgesehen davon, dass es dem
bisherigen Engagement der deutschen Regierung, amerikanische Raketen auf
deutschem Boden zu dislozieren, widerspreche, ermutige es auch jene, die gegen
die Modernisierung seien und sich dafür einsetzten, auf einen Verhandlungser-
folg zu warten. Französische Diplomaten fürchteten eine Art Dominoeffekt: Es
bestünde dadurch auch die Gefahr, dass sich diese Haltung auf andere Verbün-
dete ausweite, die, wie beispielsweise in den Niederlanden oder in Belgien,
ebenfalls zurückhaltend seien. Die Resolution wurde gewissermaßen als Ein-
fallstor des Neutralismus gesehen, die auch die anderen Verbündeten schwäche,
die zu einer Aufstellung bereit seien. Damit spiele der Resolutionsentwurf nicht
nur der Friedensbewegung, sondern letztlich auch der sowjetischen Verhand-
lungsposition in die Hände. Der Verfasser der vorliegenden Note stellte den ak-
tuellen Resolutionsentwurf in die Tradition des Godesberger Programms von 1959,
in dem eine „europäische Zone der Entspannung und der kontrollierten Be-
grenzung der Rüstung“ gefordert wurde, „in der Atomwaffen weder hergestellt
noch gelagert oder verwendet“⁸² werden sollten. Eine denuklearisierte Zone
wurde durch den Verfasser als gefährlich beurteilt, da diese letztlich die ameri-
kanische Sicherheitsgarantie insgesamt infrage stellen könnte. Stattdessen ge-
fährde jeder Schritt, den die BRD auf die Sowjetunion zugehe, den Zusammenhalt
der Allianz und Europas, weil es Konflikte in den deutsch-französischen oder

intermédiaire, Datum unleserlich. Die Note entstand wahrscheinlich zu Jahresbeginn 1982 auf
jeden Fall aber vor dem SPD-Parteitag in München im April 1982.
 Vgl. Notz, Anton: Die SPD und der NATO-Doppelbeschluß. Abkehr von einer Sicherheitspo-
litik der Vernunft. Baden-Baden 1990. S. 112– 123.
 Godesberger Programm. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Beschlossen vom außerordentlichen Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in
Bad Godesberg vom 13. bis zum 15. November 1959. https://www3.spd.de/scalableImageBlob/
1816/data/godesberger_programm-data.pdf (05.04. 2016).
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 105

deutsch-britischen Beziehungen verursachen würde.⁸³ Tatsächlich wurden in der


Antragskommission im Vorfeld des Münchner SPD-Parteitags sowohl die Forde-
rung abgelehnt, den Nachrüstungsteil des NATO-Doppelbeschlusses aufzugeben,
als auch die Idee verworfen, eine atomwaffenfreie Zone in Europa anzustreben.⁸⁴
Die Friedensbewegung und ihr potentieller Einfluss auf außenpolitische
Entscheidungen machte ein Festhalten an der Nachrüstung in der Tat ungewiss.
Der Druck weiter Teile der Öffentlichkeit drohte die Entscheidung der Abgeord-
neten im Deutschen Bundestag zu beeinflussen, die in einer finalen Abstimmung
über die Umsetzung der Raketenaufstellung zu entscheiden hatten. Je mehr dieser
Druck zunahm, umso ungewisser wurde das Ergebnis dieser Abstimmung. Die
Friedensbewegung drohte daher auch die dem Doppelbeschluss zugrunde lie-
gende Strategie zu unterlaufen, weil sie die realistische Drohung mit der Nach-
rüstung infrage stellte. Damit war sie insgesamt ein schwacher Punkt innerhalb
des westlichen Bündnisses, an dem die Sowjetunion mit ihren Spaltungsversu-
chen ansetzten konnte.
Die Analysen der diplomatischen Abteilungen im Quai d’Orsay basierten
wohl unter anderem auf Berichten des französischen Botschafters in Washington.
Bernard Vernier-Palliez machte noch auf ein weiteres Gefährdungspotential auf-
merksam. In seiner Kalkulation setzte er sich explizit mit den amerikanischen
Realitätswahrnehmungen auseinander.⁸⁵ Er diagnostizierte innerhalb der ameri-
kanischen Administration Misstrauen gegenüber der deutschen Bündnistreue, da
der BRD unterstellt werde, ein neues „Rapallo“ vorzubereiten. Mit Ausnahme von
Frankreich sah man bei keinem Verbündeten die Bereitschaft, die finanziellen
Aufwendungen für die Eindämmung der sowjetischen Bedrohung zu tragen. Den
pazifistischen Agitationen wurde das Ziel unterstellt, insgesamt den amerikani-
schen Einfluss in Europa eindämmen zu wollen. Auf dieser Grundlage entwarf
Vernier-Palliez verschiedene mögliche Zukünfte, indem er ausgehend von den
Wahrnehmungen potentielle Handlungsimpulse imaginierte. So könnten sich

 AN, AG/5(4)/CD/160, MRE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégiques
et du Désarmement, Sous-Direction Affaires Stratégiques et des Pactes, Position du SPD visant à
la prise en compte des forces françaises dans la négociation de Genève sur les forces de portée
intermédiaire, Datum unleserlich. Die Note entstand wahrscheinlich zu Jahresbeginn 1982 auf
jeden Fall aber vor dem SPD-Parteitag in München im April 1982.
 Vgl. Notz, SPD, S. 127; Zu den Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluss inner-
halb der SPD siehe außerdem: Boll, Friedhelm/Hansen, Jan: Doppelbeschluss und Nachrüstung
als innerparteiliches Problem der SPD. In: Gassert [u. a.] (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg, S. 203 – 228;
Hansen, Abschied.
 AN, AG/5(4)/CD/262, MRE, Vernier-Palliez, TD Washington 655, Visite de M. le Président de la
République. Fiche sur les relations au sein de l’Alliance Atlantique, 9. März 1982.
106 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

wichtige amerikanische Entscheidungsträger dazu veranlasst sehen, die Präsenz


der amerikanischen Truppen in Europa infrage zu stellen. Dieses Misstrauen ge-
genüber der amerikanischen Sicherheitsgarantie besaß eine historische Dimen-
sion und basierte auf Erfahrungen in der Vergangenheit. Mit dem sogenannten
Mansfield-Amendement 1974 war der Rückzug von 76 000 amerikanischen Sol-
daten aus Europa seinerzeit nur äußerst knapp mit 46 zu 44 Stimmen gescheitert.
Diese Erfahrung schien ein regelrechtes westeuropäisches „Mansfield-Trauma“
begründet zu haben, denn auch Helmut Schmidt hatte es in einem Gespräch mit
François Mitterrand am 7. Oktober 1981 aufs Tableau gebracht.⁸⁶
Indem Vernier-Palliez die französischen Ängste vor der Ungewissheit des
amerikanischen Schutzschirms in diese Note mit einfließen ließ, wurde die
Friedensbewegung letztlich auch in die Perspektive eines drohenden amerikani-
schen Rückzugs aus Europa gerückt. Allerdings prognostizierte der Botschafter
auch ein zweites mögliches Zukunftsszenario, das in die exakt entgegengesetzte
Richtung zielte. Aufgrund der schwierigen innenpolitischen Situation könnte
Ronald Reagan versucht sein, die Aufmerksamkeit auf die Außenpolitik zu lenken
und auf eine Festigung der Allianz zu dringen. Das vorliegende Beispiel demon-
striert spezifische diplomatische Praktiken und Strategien: Durch die Imagination
möglicher aber keineswegs sicherer, verschiedener Zukünfte wurde die Illusion
geschaffen, auf potentielle politische Entwicklungen vorbereitet zu sein. Zu-
schreibungen von Perzeptionen und Emotionen sowie davon abgeleitete Pro-
gnosen ermöglichten den französischen Akteuren insofern politisches Handeln.
Empathie stellt also eine mögliche Handlungsstrategie dar, die explizit den Zu-
sammenhang von Perzeptionen und Handlung voraussetzt.
Über das gesamte Jahr 1983 nahm diese Kampagne um die prise en compte in
der finalen Phase der Euroraketenkrise stetig an Intensität zu.⁸⁷ In der Tat schien
die sowjetische Strategie zum Teil aufzugehen, da sich in der Öffentlichkeit die
Hoffnung auf einen Verhandlungserfolg in Genf verbreitete, der eine Raketen-
aufstellung unnütz machen würde. Der Druck der Friedensbewegung auf die
Regierungen stieg zusehends. Innerhalb der SPD, die sich nach dem Koalitions-
wechsel im Oktober 1982 in der Opposition befand, verursachte er eine gewisse
Aufgeschlossenheit gegenüber sowjetischen Forderungen. Schon zuvor hatte der
Quai d’Orsay den Elysée über den bereits angeführten Resolutionsentwurf auf
dem Parteitag der SPD vom 19. bis zum 23. April in München alarmiert, der sich für
die Berücksichtigung der Drittpotentiale bei dem Kalkül des Kräftegleichgewichts

 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Latche, 7. Oktober


1981. In: AAPD 1981, Dok. 287, S. 1537.
 Siehe dazu insgesamt ADMAE, 1930-INVA 5642.
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 107

zwischen Ost und West aussprach. Experten in der SPD seien davon überzeugt,
hieß es, dass das Vorankommen der Diskussionen chancenlos bliebe, wenn man
nicht zu Konzessionen gegenüber der Sowjetunion bereit sei.⁸⁸ Im Jahr 1983 nä-
herte sich die offizielle Haltung der SPD dem linken Flügel der Partei an. Im
Kontext des Bundestagswahlkampfes im Jahr 1983 forderte der SPD-Kanzlerkan-
didat Hans-Jochen Vogel eine Ausweitung der Verhandlungsziele in Genf und
befürwortete prinzipiell auch eine Berücksichtigung der französischen und bri-
tischen Nuklearstreitkräfte.⁸⁹ Damit drohten die französischen und britischen
Atomstreitkräfte zum Schlüssel für ein Abkommen zu avancieren, das die Auf-
stellung neuer Raketen noch verhindern könnte. Auch zwischen Kanada und
Frankreich kam es im Juni 1983 zu Irritationen, als sich der kanadische Pre-
mierminister Pierre Trudeau und Vize-Premierminister Allan MacEachen bei dem
G7-Treffen in Williamsburg gegen den Paragraphen im Kommuniqué ausgespro-
chen hatten, der den Einbezug dritter Nuklearsysteme in Genf ablehnte.⁹⁰ Da
Mitterrand in dieser Frage unter keinen Umständen zu Kompromissen bereit war,
drohte diese aufgrund von Interessenkonflikten zwischen den Partnern zwi-
schenzeitlich das westliche Bündnis zu spalten.
Die Auseinandersetzungen um die Berücksichtigung der Drittpotentiale zei-
gen, welchem Dilemma sich die französische Sicherheitspolitik angesichts der
Euroraketenkrise gegenübersah. Die französische Politik bewegte sich auf einem
schmalen Grad, zwischen Bündnissolidarität und Wahrung politischer Autono-
mie. Die politische Entscheidungsfreiheit, die durch die Unabhängigkeit der
französischen Streitkräfte garantiert wurde, war nicht zuletzt ein Mittel, um den
Entscheidungen der USA nicht auch in anderen politischen Bereichen durch ein
Abhängigkeitsverhältnis ausgeliefert zu sein.⁹¹ Jean-Philippe Baulon bringt dieses
doppelte Risiko prägnant auf den Punkt, indem er es als ständigen Drahtseilakt

 AN, AG/5(4)/CD/160, MRE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégiques
et du Désarmement, Sous-Direction Affaires Stratégiques et des Pactes, Position du SPD visant à
la prise en compte des forces françaises dans la négociation de Genève sur les forces de portée
intermédiaire, Datum unleserlich. Die Note entstand wahrscheinlich zu Jahresbeginn 1982 auf
jeden Fall aber vor dem SPD-Parteitag in München im April 1982.
 Siehe dazu u. a. AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Direction des Affaires Politiques, Service des Af-
faires Stratégiques et du Désarmement, Sous-Direction Affaires Stratégiques et des Pactes, Note,
Entretien du Président de la République avec M. Vogel. Questions stratégiques, 11. Januar 1983;
AG/5(4)/6523, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine, Note pour le
Président de la République, Développement sur le problème des euromissiles du 12 au 19 janvier,
19. Januar 1983.
 ADMAE, 1930-INVA 5641, MRE, TD Diplomatie 26839, Consultations politiques franco-cana-
dienne, 15. Juni 1983.
 Siehe dafür Abschnitt 2.2 und Kapitel 3.
108 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

zwischen „isolement“ und „alignement“ beschreibt.⁹² Aus den wahrgenommenen


Risiken, die die équipe Mitterrand dem Kampf um die Euroraketen und der Frie-
densbewegung zuschrieb, wurden Konsequenzen für die Ausrichtung des au-
ßenpolitischen Kurses ab 1981 gezogen. Die amerikanischen Verbündeten
mahnten immer wieder zum Zusammenhalt der Allianz. Paul Nitze, amerikani-
scher Unterhändler bei den Verhandlungen in Genf, appellierte mehrfach an die
Bündnissolidarität der europäischen Verbündeten und ihre Entschlossenheit, die
Entscheidung von 1979 umzusetzen.⁹³ In seinem Interesse lag es 1981 vor allem,
jede Irritation über die von Reagan propagierte Nulllösung zu vermeiden. Indem
sich die Verbündeten ebenfalls auf diese Position und zu absoluter Einheit und
Solidarität verpflichteten, sollte die amerikanische Verhandlungsposition ge-
stärkt werden.⁹⁴ Dem französischen Präsidenten legte Ronald Reagan am 12. März
1982 dar, dass eine sowjetische Abrüstung zu erreichen sei, wenn die Sowjetunion
nur von der Entschlossenheit der westlichen Entscheidung zur Nachrüstung
überzeugt sei.⁹⁵ In dieser Hinsicht teilte François Mitterrand die Einstellung der
amerikanischen Partner. Aus seiner Sicht war der Zusammenhalt der Atlantischen
Allianz einerseits das einzige Mittel, der sowjetischen Führung die gewünschten
Konzessionen abzuringen, andererseits aber auch die größte Herausforderung zu
Beginn der 1980er Jahre. In den ersten Amtsjahren legte der französische Präsi-
dent daher vor allem einen Akzent auf die Demonstration der Bündnissolidarität.
Die Krise der transatlantischen Beziehungen versuchte er, mit gezielter Vertrau-
ensbildung nach Westen zu überwinden. Allerdings bestand ein feiner Unter-
schied zwischen der französischen und amerikanischen Haltung zur Bündnis-
solidarität. Während es Washington vor allem darum ging, die atlantischen
Verbündeten unter einer gefestigten amerikanischen Führung zu einen, richtete
sich Mitterrands Interesse eher auf ein Etappenziel: Durch den Zusammenhalt der
Allianz sollte zunächst die Euroraketenkrise unbeschadet überstanden werden.
Auf Grundlage neuer Stabilität sollte aber sodann der Aufbau einer europäischen
Säule innerhalb der Allianz und letztlich die Überwindung der Blöcke vorange-
trieben werden. Diese langfristige Zukunftsperspektive stand für Mitterrand also
ebenfalls auf dem Spiel. Das Streben nach europäischer Autonomie konnte nur
gelingen, wenn Westeuropa verteidigungspolitisch abgesichert war und keine

 Baulon, Risque, S. 186.


 ADMAE, 1930-INVA 5641; TD RPAN Bruxelles 712, Négociation sur les forces nucléaires de
portée intermédiaire, 18. Dezember 1981.
 ADMAE, 1930-INVA 5641; TD RPAN Bruxelles 690, Session ministérielle du Conseil atlantique.
Négociation sur les forces nucléaires de portée intermédiaire, 10. Dezember 1981.
 AN, AG/5(4)/CD/74, Ambassade de France aux Etats-Unis, Résumé de la conversation entre M.
François Mitterrand et M. Ronald Reagan, 12. März 1982.
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 109

Gewaltdrohung durch Moskau zu fürchten hatte. Wie die Note von Pierre Morel
demonstriert hat, hegte dieser gar die Vorstellung, dass die Unabhängigkeit der
französischen force de frappe in einer entfernten Zukunft als Nukleus für eine
unabhängige europäische Verteidigung dienen könnte, um eine politische Auto-
nomie Europas zu garantieren.⁹⁶ Dies war ein weiterer Grund dafür, sich einer
Berücksichtigung in den Verhandlungen beharrlich zu verschließen. Aus den
unterschiedlichen Vorstellungen dies- und jenseits des Atlantiks resultierten
Konflikte und Herausforderungen innerhalb des Bündnisses, die im folgenden
Abschnitt 2.2 analysiert werden. Gleichzeitig hatte die Vertrauensbildung nach
Westen aber auch Konsequenzen für die französische Ostpolitik, die in Ab-
schnitt 2.3 dekonstruiert wird.
Wie Jean-Phlippe Baulon betonte, war die Entscheidung zu größerer atlanti-
scher Solidarität nicht ohne Ambiguität, da sie sich langfristig darauf richtete, die
Blöcke zu überwinden und Europa von jedweder Vormundschaft durch die Su-
permächte zu befreien.⁹⁷ Die Solidarität des westlichen Bündnisses zu stärken,
scheint allerdings auf den ersten Blick nicht gerade vereinbar mit der eingangs
aufgestellten These, dass Mitterrand das System von Jalta und die Antagonie der
Blöcke überwinden wollte. Stellt man in Rechnung, dass er die Stabilität des
Status Quo als notwenige Voraussetzung für den Aufbau neuer Sicherheits-
strukturen sah, wird seine Politik zu Beginn der 1980er Jahre verständlicher und –
wenn auch ambivalent – weniger widersprüchlich. Die europäische Konstruktion
rückte sehr früh in den Fokus der équipe Mitterrand, um auf deren Grundlage eine
Umstrukturierung der internationalen Staatengemeinschaft anzustoßen. Nicht
nur war sie ein traditioneller Anker für die BRD im westlichen Bündnis, der an-
gesichts der pazifistischen und womöglich neutralistischen Strömungen umso
wichtiger war.⁹⁸ Durch Mitterrands Mannschaft im Elysée wurde auch ganz klar
die französische Verantwortung dafür übernommen, ein Abgleiten der deutschen
Ostpolitik zu verhindern. Im Sinne des Modells der vier Antriebskräfte europäi-
scher Integration stand die deutsche Frage als Motiv hinter der Absicht, die
deutsch-französischen Beziehungen, die europäische Konstruktion und eine
künftige europäische Verteidigung als Präventionsmechanismen zu nutzen.⁹⁹
Dies deutet darauf hin, dass die Bündnissicherung weniger darauf gerichtet war,

 Attali, Verbatim 1981– 1986, 24. Juli 1981, S. 76.


 Baulon, Risque, S. 180, 182.
 AN, AG/5(4)/CD/160, Présidence de la République, Jean-Michel Gaillard, La République
Fédérale d’Allemagne, le pacifisme, la construction européenne, 22. September 1981.
 AG/5(4)/CD/160, Présidence de la République, der Verfasser der Note ist wahrscheinlich
Védrine, da handschriftlich vermerkt wurde „Retour à Védrine vu Merci PB [Pierre Bérégovoy]“,
31. Dezember 1981.
110 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

den Status Quo langfristig zu erhalten, sondern vielmehr, diesen als doppelten
Boden für den Aufbau neuer Strukturen zu stabilisieren.
Die Analysen dieses Abschnitts öffnen den Blick auf zwei unterschiedliche
Kommunikationsebenen. Erstens liefen Kommunikationsprozesse innerhalb der
französischen Administration ab, an denen der Präsident, Minister und Berater
sowie Funktionäre verschiedener Institutionen, insbesondere das Außenminis-
terium, partizipierten. Auf dieser Ebene wurde Empathie als politische Hand-
lungsstrategie, also die gezielte Erforschung und Zuschreibung beziehungsweise
Unterstellung von Perzeptionen und Emotionen dafür genutzt, um politische
Handlungsimpulse zu entwickeln. Davon wurde zweitens die Kommunikation
gegenüber anderen Akteuren abgeleitet. Empathie in der Außenkommunikation
wurde dann vor allem als Kommunikationsstrategie gegenüber anderen Akteuren
zu einer politischen Handlungsform. Die Art und Weise der Kommunikation, man
könnte auch sagen der Gefühlspolitik, variierte je nach Adressatenkreis. Diese
Kommunikationsebene wird vor allem in den folgenden Abschnitten in den
Vordergrund gestellt. Zusammenfassend lassen sich von den bisherigen Er-
kenntnissen drei Konsequenzen für die französische Sicherheitspolitik ableiten:
Erstens wurde durch Vertrauensbildung versucht, den Zusammenhalt der Atlan-
tischen Allianz zu stärken. Zweitens wurde das dadurch ausgelöste Misstrauen im
Osten in Kauf genommen. Drittens wurde durch die Vorstellung, in Zukunft eu-
ropäische Lösungen zu suchen, die französische Verantwortung anerkannt und
übernommen. Der folgende Anschnitt wendet sich den Handlungsstrategien zu,
mit denen die équipe Mitterrand das Vertrauen im westlichen Bündnis wieder-
herzustellen versuchte. Um das Bild westlicher Solidarität zu differenzieren und
der Komplexität der Beziehungen gerecht zu werden, werden außerdem die Ur-
sachen und Folgen transatlantischer Konflikte erforscht, die die Vertrauensbil-
dung erschwerten.

2.2 Vertrauensbildung nach Westen…

Die Wahl von François Mitterrand hatte das Vertrauen der atlantischen Partner in
die französische Bündnissolidarität erschüttert. Insbesondere in Washington
lösten die Wahl eines sozialistischen Präsidenten sowie die Beteiligung der
Kommunisten an der Regierung einige Wochen später große Sorgen aus. Da der
Bündniszusammenhalt angesichts der Euroraketenkrise ohnehin auf eine
schwere Probe gestellt wurde und gleichzeitig aus Sicht von François Mitterrand
unverzichtbar war, um diese Herausforderungen zu meistern, galt es durch ge-
zielte Maßnahmen, das Vertrauen in die französische Bündnissolidarität wie-
derherzustellen. Eine besondere Herausforderung bestand darin, dass diese
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 111

Vertrauensbildung drei Dimensionen umfasste: Erstens lag der Fokus zu Beginn


vor allem darauf, vertrauensvolle Beziehungen zwischen Paris und Washington
zu etablieren. Zweitens diente dies dazu, die transatlantischen Bindungen zu
festigen und keinerlei Raum für Misstrauen zwischen den USA und den Westeu-
ropäern zu lassen. Außerdem versuchte François Mitterrand drittens, auch bei den
europäischen Partnern und insbesondere gegenüber der Bundesrepublik für
Vertrauen zu werben, um der Sowjetunion keinerlei Angriffsfläche für ihre Spal-
tungsversuche anzubieten und um zugleich die Solidarität der Westeuropäer
untereinander zu stärken. Dieser letztgenannte Aspekt steht vor allem im Zentrum
des dritten Kapitels. Auf diese Art und Weise sollte beispielsweise die Veranke-
rung der BRD im westlichen Bündnis sichergestellt werden, die aus französischer
Sicht von der Friedensbewegung herausgefordert wurde. Hubert Védrine be-
zeichnet das Engagement von François Mitterrand und der Regierung für den
NATO-Doppelbeschluss in seinen Memoiren auch als „acte premier de sa politique
étrangère“¹⁰⁰.
Um die unterschiedlichen Dimensionen der Vertrauensbildung zu ent-
schlüsseln und ihre Strategien zu identifizieren, soll in diesem Zusammenhang an
die im Rahmen der Einleitung eingeführten methodischen Vorbemerkungen zu
Emotionen in den internationalen Beziehungen angeknüpft werden. Nach der
Wahl am 10. Mai 1981 wurde die Bildung von Vertrauen zum einen als Ziel ope-
rativer Politik durch konkrete politische Maßnahmen forciert. Zum anderen be-
dienten sich François Mitterrand, sein Außenminister und andere Regierungs-
vertreter sowohl in öffentlichen Stellungnahmen als auch in bilateralen
Gesprächen konkreter rhetorischer Strategien, in der das Beschwören der Bünd-
nissolidarität als Mittel der Kommunikation eingesetzt wurde. Anders als bei der
Kategorie Vertrauen als rhetorische Strategie und politische Ressource in dem
Beitrag von Philipp Gassert,¹⁰¹ stehen hier zwar auch kommunikative und rhe-
torische Strategien im Vordergrund, allerdings stützten sich diese nicht in erster
Linie auf die Verwendung von Begriffen aus dem semantischen Feld „Vertrauen“.
Gleichwohl lassen sich Begriffe wie beispielsweise „Loyalität“, „Alliierter“ oder
„Verbündeter“ in der Kommunikation nachweisen, die ebenfalls vertrauensvolle
Beziehungen suggerieren. Darüber hinaus wurde durch Redewendungen wie
„Glauben Sie mir“ Vertrauen eingefordert oder durch gezieltes Äußern von Em-
pathie für Ängste und Misstrauen versucht, Vertrauen zu generieren. Die franzö-
sischen Akteure bedienten sich also gewisser kommunikativer Strategien und

 Védrine, Mondes, S. 117.


 Vgl. Gassert, Philipp: „Vertrauen, Einsicht und guten Willen zuwecken“. Überlegungen zu
einem Zentralbegriff westdeutscher Außenpolitik. In: Kreis (Hrsg.), Diplomatie, S. 17– 31.
112 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

rhetorischer Mittel, die auf der einen Seite der Vertrauensbildung dienten aber auf
der anderen auch als politische Ressource genutzt werden sollten, um die poli-
tische Bedeutung Frankreichs zu stärken. Dahinter stand die Absicht, den
Handlungsspielraum der französischen Akteure zu erweitern: Die Inszenierung
französischer Vertrauenswürdigkeit diente nicht ausschließlich der Bündnissi-
cherung. François Mitterrand wollte gleichsam auch verhindern, dass sein Land in
der westlichen Gemeinschaft aufgrund von Misstrauen wirtschaftspolitisch iso-
liert würde. Nicht selten sahen sich Vertreter der sozialistisch-kommunistischen
Regierung in den ersten Monaten der Frage ausgesetzt, welcher Unterschied
konkret zwischen der französischen Wirtschaftspolitik und jenen der kommu-
nistischen Länder bestehen würde.¹⁰² Henry Kissinger gegenüber versicherte
François Mitterrand daher bei dessen Besuch in Latché am 3. August 1981, dass er
jeden Versuch einer Marginalisierung des sozialistischen Frankreichs im Keim
ersticken würde.¹⁰³
Um die Trennung der beiden Kategorien Vertrauen als Ziel operativer Politik
und Vertrauen als rhetorische Strategie in der vorliegenden Arbeit etwas abzu-
schwächen,¹⁰⁴ wird an dieser Stelle Vertrauensbildung durch Kommunikation
über verschiedene Kommunikationskanäle untersucht und dabei die Anwendung
unterschiedlicher kommunikativer und rhetorischer Strategien herausgearbeitet.
Differenziert werden hierbei die Kommunikation in der Öffentlichkeit durch öf-
fentliche Stellungnahmen des Präsidenten oder von Regierungsmitgliedern und
die Kommunikation in bi- oder multilateralen Face-to-Face Kontakten auf ver-
schiedenen diplomatischen Ebenen. Davon gilt es außerdem symbolische
Handlungen abzugrenzen, die die Verlässlichkeit der französischen Entschei-
dungsträger unter Beweis stellen sollten. Als symbolischer Akt der Vertrauens-
bildung ließe sich beispielsweise anführen, dass François Mitterrand Ronald
Reagan im Juli 1981 von der Existenz des sowjetischen Agenten Farewell in
Kenntnis setzte, der dem französischen Geheimdienst wichtige Informationen
und Dokumente des KGB übermittelte. Bei der Gelegenheit versicherte der fran-
zösische Präsident seinem Amtskollegen, dem Weißen Haus Informationen über
sowjetische Agenten in den USA weiterzugeben.¹⁰⁵ Ebenso ließe sich auch die
Geste einordnen, dass François Mitterrand die französischen Häfen für amerika-
nische U-Boote öffnete und zudem die Bedingungen dafür lockerte, dass NATO-

 Vgl. Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 244.


 Attali, Verbatim 1981– 1986, 3. August 1981, S. 80.
 Für die Bildung dieser Kategorien siehe insgesamt: Kreis (Hrsg.), Diplomatie.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 19. Juli 1981, S. 67; vgl. dazu ebenfalls: Favier/Martin-Roland,
Ruptures, S. 243.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 113

Flugzeuge den französischen Luftraum überfliegen durften.¹⁰⁶ Diese symboli-


schen Kommunikationsakte sollten insgesamt unter Beweis stellen, dass die neue
französische Regierung ihren Verpflichtungen innerhalb der Atlantischen Allianz
nachkommen und ein verlässlicher Partner sein würde. Expliziter betonte Claude
Cheysson die französische Bündnissolidarität, als er am 3. Juli 1981 die volle
Unterstützung hervorhob, die seine Regierung dem NATO-Doppelbeschluss ent-
gegenbringe.¹⁰⁷
Die Beispiele heben allerdings auch die unterschiedlichen Dimensionen der
Vertrauensbildung hervor. Ersteres richtete sich dezidiert an die amerikanische
Administration in Washington, während die zweite Geste an die atlantischen
Partner im Allgemeinen adressiert war. Jedwedes Misstrauen, ein sozialistisch-
kommunistisches Frankreich könne dem westlichen Bündnis den Rücken kehren
und sich der Sowjetunion öffnen, galt es dadurch von vornherein auszuräumen.
Mitterrand war sich darüber bewusst, dass er vor einer aktiven Ostpolitik die
französische Verankerung im Westen demonstrieren musste: Jacques Attali ver-
traute er nach seinem Gespräch mit Henry Kissinger an: „De Gaulle avait besoin
de passer par Moscou pour aller à Washington; moi j’ai besoin de passer par
Washington pour aller à Moscou.“¹⁰⁸ Während Charles de Gaulle die Beziehungen
zu Moskau als Instrument hatte nutzen können, um seine Verhandlungsposition
in Washington zu stärken, sah Mitterrand sich gezwungen, im Weißen Haus
Zweifel an der französischen Bündnistreue auszuräumen, bevor er Gespräche mit
der sowjetischen Führung etablieren konnte. In den ersten Wochen nach der
Amtsübernahme wurden deshalb persönliche Kontakte zu amerikanischen Ge-
sprächspartnern aufgebaut, zu denen der amerikanische Präsident Ronald Rea-
gan, der Vize-Präsident George Bush, einige Minister, der amerikanische Bot-
schafter sowie Journalisten zählten.¹⁰⁹ Parallel zu den persönlichen Kontakten
wurden öffentliche Stellungnahmen lanciert, in denen die französische Treue zur
Atlantischen Allianz regelmäßig beschworen wurde. Diese politische Strategie
offenbart zwei Absichten von François Mitterrand sehr deutlich: Vieraugenge-
spräche zwischen hohen Vertretern der amerikanischen und französischen Ad-
ministration wurden auf diese Weise einerseits in der Öffentlichkeit vorbereitet,
um vorab günstige Bedingungen für vertrauensvolle Beziehungen zu schaffen.
Andererseits wurde für die Öffentlichkeit so bewusst das Bild einer festen Allianz
inszeniert. Stellungnahmen in und vor der Presse richteten sich nicht aus-
schließlich an die jeweils nationale Öffentlichkeit, sondern an verschiedene

 Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 265; siehe ebenfalls: Védrine, Mondes, S. 173.


 Védrine, Mondes, S. 117.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 3. August 1981, S. 80.
 Védrine, Mondes, S. 169.
114 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

Adressatenkreise, an eine Weltöffentlichkeit, die von dem Zusammenhalt der


Allianz ebenso überzeugt sein sollte, wie die atlantischen Partner. Die Kommu-
nikation in der Öffentlichkeit erfüllte also unterschiedliche Funktionen zugleich.
Diplomatische Kontakte wurden daher durch eine Pressekampagne begleitet, die
auf Vertrauensbildung gegenüber den Amerikanern und innerhalb der westlichen
Allianz zielte und mit der Strategie arbeitete, gute Beziehungen schlicht als ge-
gebene Realität vorauszusetzen. Mit anderen Worten: Mithilfe dieser kommuni-
kativen Strategien sollte in der Öffentlichkeit rhetorisch Realität geschaffen wer-
den. Divergenzen wurden nicht geleugnet, ganz demonstrativ wurde aber eine
Beeinträchtigung des Verhältnisses zurückgewiesen und so heruntergespielt. Es
wird im Verlauf dieser Studie noch deutlich werden, dass François Mitterrand
diese Strategie auch gerne in persönlichen Vieraugengesprächen einsetzte.
In seinem ersten Interview in der New York Times bediente er sich dieser
Strategie, da er unmittelbar vor dem Besuch seines Außenministers Claude
Cheysson in Washington für ein gutes Klima sorgen wollte. Darin betonte er
mithilfe von gefühlvollen Deduktionen seine Verbundenheit zu den USA und dem
amerikanischen Volk:

I shall certainly be very happy to go to the United States at the earliest opportunity. I have
been very happy to visit the U.S. I have a kindred feeling for the American people, and I have
been there quite often in a private capacity.¹¹⁰

Durch die bewusste Artikulation von positiven Gefühlen gegenüber den Verei-
nigten Staaten wurde versucht, eine Verbundenheit zu suggerieren und zu ver-
stetigen. Sie ist daher in diesem Kontext als eine rhetorische Strategie zu identi-
fizieren, die der Vertrauensbildung diente. Sie ist gleichermaßen auch als
Gefühlspolitik im Sinne von Ute Frevert zu verstehen,¹¹¹ Politik mit Gefühlen zu
betreiben, um dadurch nicht nur Gefühle zu inszenieren, sondern auch zu evo-
zieren. Diese Art der Gefühlspolitik sollte in dem spezifischen Moment den
Grundstein für die Entwicklung wechselseitigen Vertrauens legen und gute Be-
ziehungen stiften. Dafür war es entscheidend auch die Authentizität dieser Ge-
fühle zu vermitteln, um das Vertrauen zu festigen. Im Time Magazine machte
François Mitterrand im Oktober 1981 von der gleichen Strategie Gebrauch: Er
präsentierte sich als Freund Amerikas; die französisch-amerikanischen Bezie-
hungen beurteilte er als gut. Politische Unterschiede, die er im Bereich der La-

 Mitterrand, François: Excerpts from Interview with François Mitterrand, by James Reston. In:
The New York Times, 4. Juni 1981. http://www.nytimes.com/1981/06/04/world/excerpts-from-in-
terview-with-francois-mitterrand.html?pagewanted=all&pagewanted=print (14.04. 2016).
 Frevert, Gefühlspolitik.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 115

teinamerika-Politik verzeichnete, leugnete er keineswegs. Aber im Großen und


Ganzen sah er die amerikanisch-französischen Beziehungen davon unberührt.
Demgegenüber beschwor er die Einigkeit und treue Verbundenheit in der Allianz.
Auch die Aufnahme von Kommunisten in die Regierung hätten keinerlei Effekt auf
die Zugehörigkeit Frankreichs zur NATO.¹¹²
Die von der Regierung Pierre Mauroy in der Wirtschaftspolitik angestrebten
Nationalisierungen liefen dem amerikanischen Wirtschaftsmodell zuwider und
führten zu einigen bissigen Kommentaren von Vertretern der amerikanischen
Administration. Mitterrand spielte diesen potentiellen Konflikt im Time Magazine
ebenfalls herunter, indem er es als innere Angelegenheit Frankreichs charakte-
risierte und zugleich betonte, die Interessen ausländischer Unternehmen voll-
ständig zu respektieren.¹¹³ Mit derartigen Stellungnahmen wurde jeder Bericht-
erstattung der Wind aus den Segeln genommen, die versuchte, die potentiellen
Divergenzen zwischen Washington und Paris hochzuspielen. Indem er Konflikt-
punkte nicht verschwieg oder leugnete, wurden sie als etwas völlig Natürliches
und wenig Überraschendes dargestellt. Mit Kritik an der amerikanischen Wirt-
schaftspolitik hielt François Mitterrand in diesem Interview nicht hinter dem Berg,
da er sie für wirtschaftspolitische Schwierigkeiten der westlichen Staaten ver-
antwortlich machte. Zusammengenommen mit seiner knappen Antwort auf die
Frage zu den Nationalisierungen, die er als „our business, not theirs“¹¹⁴ vom Tisch
wischte, steckte Mitterrand aber auch klare Grenzen der Solidarität ab. Zwar trat
dies insgesamt vor dem Eindruck eines guten Verhältnisses und dem Bild fran-
zösischer Bündnistreue in den Hintergrund. Dennoch muss man dies auch als
eine Demonstration französischer Unabhängigkeit bewerten, die Mitterrand im-
mer wieder gegen Beeinflussungsversuche der amerikanischen Administration
verteidigte.
Um vertrauensvolle Beziehungen in der Öffentlichkeit nicht nur rhetorisch zu
inszenieren, sondern nachhaltig aufzubauen, forcierte die équipe Mitterrand so-
gleich Vieraugengespräche mit Vertretern der amerikanischen Administration.
Ohne die nächsten regulären Konsultationen abzuwarten, schickte François
Mitterrand Außenminister Claude Cheysson mit der Mission nach Washington,
mit seinem Amtskollegen Alexander Haig zu sprechen und den amerikanischen
Partnern persönlich die französische Treue zur Atlantischen Allianz zu versi-
chern.¹¹⁵ Schon die Wahl des Mediums, das diese Botschaft übermitteln sollte – in

 Mitterrand, François: An Interview with Mitterrand. In: Time Magazine 118 (1981) 16,
19. Oktober 1981. S. 43.
 Mitterrand, Interview Mitterrand Time Magazine, S. 43 f.
 Mitterrand, Interview Mitterrand Time Magazine, S. 44.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 72.
116 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

diesem Fall der Außenminister persönlich – , lässt sich als politisches Statement
beurteilen: Dass François Mitterrand den Außenminister unmittelbar nach dem
Amtsantritt nach Washington schickte, hebt erstens hervor, dass es ihm einst-
weilen um die politischen, diplomatischen Beziehungen ging. Zweitens verließ er
sich in diesem Fall nicht auf Kontakte der tieferen diplomatischen Ebenen in der
französischen Botschaft, sondern hielt es für notwendig, die französische
Bündnistreue durch eine stärker autorisierte Kommunikation zu betonen.
Bei Cheyssons Besuch wurde auch verabredet, dass der amerikanische Vize-
Präsident George Bush am 24. Juni zu Konsultationen nach Paris reisen würde.¹¹⁶
Über die an diesen Tag vorgesehene Ankündigung einer kommunistischen Re-
gierungsbeteiligung sollte das Weiße Haus vor dem Besuch informiert werden, um
keinerlei Misstrauen in den französisch-amerikanischen Beziehungen zu schüren.
Daher telefonierte Jacques Attali am 23. Juni 1981 mit Richard Allen, dem si-
cherheitspolitischen Berater von Ronald Reagan, um zu betonen, dass die fran-
zösische Außen- und Sicherheitspolitik von dieser Maßnahme unberührt, die
französische Bündnistreue folglich ungebrochen bleiben würde. Erst nachdem
das Weiße Haus das Festhalten am vereinbarten Besuch von George Bush bestä-
tigte, gab der Generalsekretär des Elysée die Zusammensetzung der zweiten Re-
gierung unter Pierre Mauroy und die Aufnahme von kommunistischen Ministern
bekannt.¹¹⁷ Der Besuch von George Bush einen Tag später konnte auf diese Art
und Weise dazu dienen, etwaige Irritationen in einem persönlichen Gespräch mit
François Mitterrand zu zerstreuen. Laut Roland Dumas habe Bush nach seiner
Rückkehr in Washington die erhitzten Gemüter im Weißen Haus erfolgreich be-
ruhigen können.¹¹⁸
Den ersten persönlichen Kontakt zum amerikanischen Präsidenten konnte
François Mitterrand im Rahmen des G7-Gipfels in Ottawa knüpfen. Bei ihrem
ersten Treffen nach Mitterrands Amtsübernahme am 19. Juli 1981 in Montebello
begrüßte Reagan gleich zu Beginn des Gesprächs dessen klare Positionierung in
der Euroraketenkrise, zur Atlantischen Allianz und den aktuellen sicherheitspo-
litischen Problemen. Der französische Präsident bediente sich auch im persön-
lichen Kontakt der Strategie, die Differenzen, die es ganz offensichtlich zwischen
der französischen und amerikanischen Politik gab, angesichts „beaucoup plus de
points sur lesquels nous sommes d’accord“¹¹⁹ herunterzuspielen. Die Divergenzen

 Attali, Verbatim 1981– 1986, 4. Juni 1981, S. 32; Védrine, Mondes, S. 171.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 23. Juni 1981, S. 48 f.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 73.
 AN, AG/5(4)/CD/74, Resumé de l’entretien entre le Président de la République et le Président
des Etats-Unis, Montebello, 19 Juli 1981.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 117

kamen nichtsdestoweniger zur Sprache: François Mitterrand artikulierte seine


Sorgen hinsichtlich der amerikanischen Hochzinspolitik und Ronald Reagan
äußerte sich kritisch über das Projekt eines europäisch-sowjetischen Erdgasröh-
ren-Geschäfts.¹²⁰ In ähnlicher Weise verliefen auch weitere persönliche Begeg-
nungen zwischen Reagan und Mitterrand. Bei ihrem Treffen am 12. März 1982
benannte der französische Präsident zwar auch unstimmige Punkte zwischen
Paris und Washington, wie die Politik in Hinblick auf Zentralamerika oder die
polnische Krise. Ein weiteres Mal wurden diese Punkte aber als „secondaire au
regard des convergences fondamentales entre nous“¹²¹ heruntergespielt. Über den
Kanal der Öffentlichkeit wurde die Vertrauensbildung gegenüber der amerikani-
schen Administration nicht nur verstärkt, sondern gleichzeitig auch auf einen
größeren Adressatenkreis ausgeweitet, denn mit den öffentlichen Stellungnah-
men richteten sich François Mitterrand und seine équipe auch an die übrigen
atlantischen Partner. Es zeigt sich also, dass der Aufbau von Vertrauen in den
transatlantischen Beziehungen durch eine Kombination an öffentlichen Stel-
lungnahmen und Face-to-Face Kontakten betrieben wurde. Die französische
Bündnissolidarität wurde sowohl in bilateralen Vieraugengesprächen als auch in
persönlichen Gesprächen auf multilateraler Ebene beschworen. Bei dem Minis-
tertreffen des Atlantischen Rates erinnerte Claude Cheysson beispielsweise ein-
mal mehr daran, dass Frankreich am NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember
1979 zwar nicht teilgenommen habe, die französische Regierung ihm aber den-
noch volle Solidarität und Unterstützung entgegenbringe.¹²²
Die dritte Dimension der Vertrauensbildung zur Bündnissicherung umfasste
neben den französisch-amerikanischen und transatlantischen Beziehungen ver-
trauensbildende Maßnahmen gegenüber der Bundesrepublik. Im vorangegange-
nen Kapitel wurde bereits gezeigt, welche Risiken der Friedensbewegung in der
BRD zugeschrieben wurden. Mithilfe der Presse suchte François Mitterrand durch
ein Interview im Stern bewusst den Weg in die deutsche Öffentlichkeit, um spe-
zifischen Sorgen der deutschen Verbündeten entgegenzukommen. Auf diese Art
und Weise sollte dem deutschen Misstrauen begegnet werden, die neue franzö-
sische Regierungsmannschaft hege antideutsche Gefühle. Auf die Frage, ob
Mitterrand antideutsche Gefühle innerhalb der französischen Linken teile, ant-
wortete dieser mit Respektäußerungen für die deutschen Demokraten und ins-

 AN, AG/5(4)/CD/74, Resumé de l’entretien entre le Président de la République et le Président


des Etats-Unis, Montebello, 19 Juli 1981.
 AN, AG/5(4)/CD/74; Ambassade de France aux Etats-Unis, Resumé de la conversation entre
M. François Mitterrand et M. Ronald Reagan, 12. März 1982.
 ADMAE, 1930-INVA 5641, TD RPAN Bruxelles 691, Session ministérielle du Conseil atlan-
tique. Négociation sur les forces nucléaires de portée intermédiaire, 11. Dezember 1981.
118 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

besondere Sozialdemokraten.¹²³ Dieser implizite Vertrauensausspruch gegenüber


der sozialdemokratisch geführten Regierung in Bonn wurde ergänzt durch die
Artikulation von Verständnis für „den geschichtlichen Hintergrund für das Ent-
stehen [gemeint war der Radikalenerlass] und das Sicherheitsbedürfnis“¹²⁴ des
deutschen Staates. Um für Vertrauen zu werben, zeigte er nicht nur Verständnis
für deutsche Sicherheitssorgen, sondern versuchte auch, rhetorisch Bindungen
zwischen sich und den Lesern zu etablieren. Indem er salbungsvolle Worte wie
„Aber glauben Sie mir“ einsetzte oder die „besondere Art der Freundschaft“¹²⁵
zwischen Deutschland und Frankreich in die Kontinuität von Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft stellte, versuchte er Verbindlichkeiten zu suggerieren.
Zudem nahm er mit harten Worten Distanz zur „sowjetische[n] Aggression in
Afghanistan“ und beschwor stattdessen: „Frankreich ist ein loyaler Verbündeter
und wird es auch bleiben.“¹²⁶ Hierbei handelte es sich eindeutig um die zentrale
Botschaft, die über alle Kommunikationskanäle, ob symbolisch oder explizit, ob
bi- oder multilateral, ob in der Öffentlichkeit oder in persönlichen Gesprächen
unaufhörlich in unterschiedlicher Form kommuniziert wurde.
Je nach Adressatenkreis wurde die Kommunikation dann mit zusätzlichen
Spezifika versehen: So äußerte François Mitterrand, bevor er seine Ablehnung der
Friedensbewegung begründete, Verständnis für die Sorgen und Ängste der deut-
schen Bevölkerung. Da Deutschland nicht das Recht habe, Nuklearwaffen zu
besitzen und bei einem Krieg dennoch zum Schlachtfeld würde, könne man die
Stimmung in der Bevölkerung schon verstehen.¹²⁷ In diesem Fall versucht er, das
Vertrauen der deutschen Bevölkerung für sich zu gewinnen, indem er Empathie
als rhetorische Strategie einsetzte und versicherte, ihre Ängste ernst zu nehmen.
Zugleich machte er klar, dass das, was die Friedensbewegung suche und worauf
sie auch einen Anspruch habe, nur durch einen anderen Weg zu erreichen sei.
Sodann legte er seine Vision vom Kräftegleichgewicht dar, die hier noch auf der
Trennung zwischen globalem und europäischem Gleichgewicht beruhte. Durch
die inhaltlichen Äußerungen und rhetorischen Strategien präsentierte François
Mitterrand sich mal ganz im Sinne der Gefühlspolitik als empathischer Staats-
mann mit Verständnis für deutsche Ängste und mal als Pragmatiker, den „nur die
Tatsachen [interessieren]“¹²⁸. Diese Widersprüchlichkeit erfüllte durchaus einen
Zweck, denn die zweite kompromisslose Formulierung bezog sich auf die Politik

 Mitterrand, „Deutsch-französische Freundschaft“, S. 81.


 Mitterrand, „Deutsch-französische Freundschaft“, S. 81.
 Mitterrand, „Deutsch-französische Freundschaft“, S. 80.
 Mitterrand, „Deutsch-französische Freundschaft“, S. 81.
 Mitterrand, „Deutsch-französische Freundschaft“, S. 83.
 Mitterrand, „Deutsch-französische Freundschaft“, S. 81.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 119

der sowjetischen Führung. War der Ton im Zusammenhang mit seinen westlichen
Bündnispartnern empathisch, verständnis- und salbungsvoll, manchmal gar ge-
fühlsbetont, so wechselte er in Bezug auf Moskau schlagartig zu hartem Voka-
bular wie „Aggressor“ oder „expansionistische Operation“ und einem betonten
Pragmatismus. Diese Strategie richtete sich darauf, deutsche Ängste, in einem
nuklearen Krieg zum Schlachtfeld zu werden, nicht nur ernst zu nehmen, sondern
rhetorisch auch so zu kanalisieren, dass der Kreml mit seinen SS-20-Raketen als
Verantwortlicher der Situation erschien. Dadurch ließ er die westliche Nachrüs-
tung gewissermaßen als notwendig und alternativlos erscheinen, der keinerlei
kriegerische, sondern lediglich präventive Intentionen zugrunde lagen. Allerdings
bediente sich François Mitterrand auch hierbei einer gewissen Ambivalenz. Zwar
durften in der Öffentlichkeit keinerlei Zeichen darauf hindeuten, dass er Ver-
ständnis für die sowjetische Politik hatte. Mit der Größe der sowjetischen „Nation“
und des russischen „Volkes“ sollte man dies doch aber bitte nicht „durcheinan-
derbringen“.¹²⁹ Auf die Kommunikationsstrategien gegenüber der sowjetischen
Führung wird im folgenden Abschnitt noch ausführlicher eingegangen.
Die Bündnissolidarität stellte die französische Führung allerdings auch vor
einige Schwierigkeiten. Gemessen an dem Risiko, die politische Entscheidungs-
freiheit in anderen Bereichen durch die deklarierte Solidarität einzuschränken,
war das Risiko des „Atlantizismus“-Vorwurfs noch das geringere Problem. Die
Schwierigkeiten resultierten aus unterschiedlichen Realitätswahrnehmungen
und politischen Vorstellungen und Interessen der Bündnispartner. Die franzö-
sisch-amerikanischen Differenzen in der Wirtschaftspolitik geben den Blick auf
zwei unterschiedliche Verständnisse von Solidarität frei. Um im weiteren Verlauf
der Analyse wieder Bezug darauf nehmen zu können, ist es notwendig, den Be-
griff „Solidarität“ in einem Exkurs theoretisch stärker zu fassen. In der soziolo-
gischen Theorie wird Solidarität gemeinhin als Begriff wechselseitiger Bindungen
und Verpflichtungen beruhend auf Freiwilligkeit sowie als Grundlage sozialer
Integration verstanden, die emotional fundiert Beziehungen zwischen Mitglie-
dern einer Gemeinschaft stiftet. Dies „schließt die Erwartung von gegenseitiger
Hilfe (Hervorhebung im Original) im Bedarfsfall ebenso ein wie die tatsächliche
Bereitschaft dazu.“¹³⁰ Wenn es einer Gemeinschaft an dieser Bereitschaft mangelt,
„muss mit Anomie, also dem Zerfall der sozialen Ordnung gerechnet werden.“¹³¹

 Mitterrand, „Deutsch-französische Freundschaft“, S. 82.


 Bayertz, Kurt: Begriff und Problem der Solidarität. In: Solidarität. Begriff und Problem. Hrsg.
von Bayertz, Kurt. Frankfurt am Main 1998. S. 12, siehe außerdem S. 49.
 Beckert, Jens/Eckert, Julia/Kohli, Martin/Streeck, Wolfgang: Einleitung. In: Transnationale
Solidarität. Chancen und Grenzen. Hrsg. von Beckert, Jens/Eckert, Julia/Kohli, Martin/Streeck,
Wolfgang. Frankfurt/New York 2004. S. 9.
120 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

Dabei muss das Engagement zur Unterstützung „keineswegs vollkommen altru-


istisch motiviert sein“, sondern „kann als Beitrag zu einem gemeinsamen Ziel
verstanden“ werden.¹³² Vor diesem Hintergrund wird die These aufgestellt, dass
Mitterrand Solidarität in eben diesem Sinne als auf Gegenseitigkeit beruhenden
Unterstützungsmaßnahmen unter der Anerkennung nationaler Unterschiede
konzeptualisierte. Demgegenüber verstanden weite Teile der US-Administration
Solidarität als Aufgabe nationaler Divergenzen zugunsten einer gemeinsamen
westlichen Doktrin in sicherheitspolitischen, außen- und wirtschaftspolitischen
Fragen. Diese wurde zumeist aber nicht aus den Gemeinschaftsinteressen abge-
leitet, sondern aus amerikanischen Bedürfnissen, die zum Gemeinschaftsinter-
esse erklärt wurden. Diese Vorstellung von Beziehungen zwischen Verbündeten
beruhte weniger auf Freiwilligkeit als vielmehr auf Abhängigkeit und einem ge-
wissen Zwang. Anhand von Beispielen soll im Folgenden daher auch das Soli-
daritäts-Verständnis der amerikanischen Administration hinterfragt werden.
Für das Bekenntnis zu Bündnistreue und Solidarität gegenüber dem NATO-
Doppelbeschluss erwartete Mitterrand von den westlichen Partnern und insbe-
sondere der amerikanischen Administration als Gegenzug mehr wirtschaftliche
und monetäre Solidarität,¹³³ auf die der französische Präsident in seinen per-
sönlichen Gesprächen mit Ronald Reagan auch regelmäßig zu dringen versuchte.
Direkt bei seinem ersten persönlichen Treffen mit dem amerikanischen Präsi-
denten am 19. Juli 1981 machte er seinen Amtskollegen darauf aufmerksam.¹³⁴
Dabei setzte er Wirtschafts- und Sicherheitspolitik explizit zueinander in Bezug,
als er die amerikanische Hochzinspolitik ansprach: Diese sei zwar eine ameri-
kanische Angelegenheit und praktische Notwendigkeit. Allerdings wies er darauf
hin, dass sie Frankreich und den anderen westeuropäischen Staaten wirtschaft-
liche Schwierigkeiten bereite. Um die Konsequenzen der amerikanischen Politik
besonders düster erscheinen zu lassen, legte Mitterrand Reagan ein potentielles
Zukunftsszenario dar, in dem die amerikanische monetäre Politik Europa in eine
soziale Unordnung stürzen könnte, die nicht mehr zu beherrschen sei und den
westlichen Block insgesamt schwächen könnte. Mitterrand entwarf hier ein ho-
listisches Bild westlicher Sicherheitspolitik – an dem er nebenbei gesagt selbst
nicht das geringste Interesse hatte –, indem er die Wirtschafts- und Finanzpolitik
explizit in Bezug zur Sicherheitspolitik setzte. Dadurch transformierte er rheto-
risch die Probleme der westlichen Wirtschaft und den daraus folgenden Zusam-
menhalt des westlichen Blocks zu einer Folge der amerikanischen Wirtschafts-

 Bayertz, Begriff, S. 12.


 Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 241; Dumas, Affaires étrangères, S. 74.
 AN, AG/5(4)/CD/74, Resumé de l’entretien entre le Président de la République et le Président
des Etats-Unis, Montebello, 19. juillet 1981.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 121

politik und imaginierte ein potentielles außenpolitisches Scheitern der amerika-


nischen Politik. Auf diese Weise präsentiert, wurde die amerikanische Wirt-
schaftspolitik zum Risiko für die Allianz. Expliziter wurde dieser Bezug noch als
Mitterrand betonte, dass ein wirtschaftliches Scheitern in Westeuropa verhindert
werden müsse, da die Bundesrepublik wirtschaftliche Schwierigkeiten habe und
die Euroraketen die Regierung in Bonn vor Probleme stellten. Er verband also das
eigene und europäische Interesse an mehr wirtschaftlicher und monetärer Soli-
darität Washingtons mit einer keineswegs gewissen aber immerhin möglichen
Zukunft, in der die Installation der amerikanischen Raketen scheitern könnte, der
wiederum die amerikanische Administration ein gesteigertes Interesse entge-
genbrachte. An dieser Stelle lässt sich eine Verhandlungsmethodik von François
Mitterrand nachweisen, die darauf beruhte, die Zukunft als politisches Instrument
zu nutzen. Durch die Imagination möglicher Ereignisse in der Zukunft versuchte
er, dem amerikanischen Präsidenten in der Gegenwart größere wirtschaftspoliti-
sche Solidarität abzuringen.
Wie nicht nur dieses erste Gespräch vermuten lässt, ließen sich die existie-
renden Divergenzen zwischen Washington und den europäischen Partnern trotz
Mitterrands Strategie, diese in der öffentlichen Wahrnehmung zugunsten des
Bündniszusammenhalts herunterzuspielen, keineswegs einfach ignorieren. Viel-
mehr verursachte sein Handeln in dem Fall nicht intendierte Folgen, da er mit
seinen Erklärungen womöglich Erwartungen in Washington weckte, die er nicht
einzulösen gedachte. Daher ist es plausibel, dass diese Art der Kommunikation
einerseits von Missverständnissen profitierte, indem zunächst ein glaubwürdiges
Bild guter französisch-amerikanischer Beziehungen und einem soliden Bündnis
entstand. Andererseits trug diese Kommunikation auch zu der Verstetigung der
Missverständnisse bei, die in zahlreichen Konflikten zwischen Washington und
Paris gipfelten. Trotz der nach Außen viel beredeten Einigkeit gab es insbesondere
hinsichtlich der Themen Zentralamerika, Polen sowie wirtschaftlicher Austausch
und Technologietransfer mit dem Ostblock zahlreiche Reibungspunkte.¹³⁵ Die
Konflikte zwischen Washington und Paris aber auch jene zwischen Amerikanern
und Westeuropäern insgesamt lassen sich auf unterschiedliche Wahrnehmungen
und Deutungsmuster zurückführen, die ihren Ursprung in den Transformations-
prozessen der 1970er Jahren fanden.¹³⁶ Während sich in den USA durch eine Reihe
von Erfahrungen die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass Moskau gegenüber dem
Westen nicht nur in die Offensive gegangen war, sondern eine zu inkonsequente

 Védrine, Mondes, S. 131.


 Siehe dazu u. a.: Nuti (Hrsg.), Crisis of Détente; Becker-Schaum [u. a.] (Hrsg.), „Entrüstet
euch“; Hiepel (Hrsg.), Europe.
122 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

westliche Entspannungspolitik dafür auch noch die Verantwortung trug, hielten


die europäischen Staaten an Kommunikation und Austausch mit dem Osten fest.
Obwohl sowohl Reagan als auch Mitterrand mit der Motivation angetreten waren,
das atlantische Bündnis zu einen, unterschieden sie sich fundamental in ihren
Vorstellungen, wie diese Einigung aussehen sollte. Während François Mitterrand
auf Solidarität setzte, die im Rahmen der Bündnistreue Raum für politische Un-
terschiede und Entscheidungsfreiheit zulassen sollte, wollte die amerikanische
Administration eine starke amerikanische Führung wieder errichten und den
Europäern ihre Vision der Ost-West-Beziehungen oktroyieren. Da sie der Ansicht
waren, die Sowjetunion habe wirtschaftlich von der Détente profitiert, forderten
Ronald Reagan und andere Vertreter der Administration regelmäßig und mit zu-
nehmendem Druck von den Europäern, den Ost-West-Handel drastisch zu redu-
zieren, um der Sowjetunion keinerlei Möglichkeit zu liefern, ihre wirtschaftliche
Schwäche zu kompensieren.¹³⁷ Die mangelnde amerikanische Bereitschaft, sich in
monetären und wirtschaftlichen Fragen kompromissbereit zu zeigen, verweist auf
ein sehr einseitiges und asymmetrisches Verständnis von Solidarität, das sich
daher wohl treffender als Loyalität gegenüber einem Patron beschreiben lässt.
Der G7-Gipfel in Ottawa aber insbesondere die Zeit im Anschluss offenbarten
die Schwierigkeiten, wirtschaftspolitische Kompromisse zu finden. Für die Vor-
bereitungen des Gipfels gab François Mitterrand dem französischen Unterhänd-
ler, dem sogenannten Sherpa, Jean-Marcel Jeanneney die Anweisung, den Akzent
auf die hohen Zinsen in den USA zu legen und auf eine Übereinkunft der Europäer
hinzuarbeiten, um eine geschlossene Position gegenüber Washington entwickeln
zu können.¹³⁸ Jeanneney machte sich nach seiner Rückkehr von den Vorberei-
tungstreffen, keinerlei Illusionen, die amerikanische Haltung hinsichtlich der
hohen Zinsen beeinflussen zu können. Ein gemeinsames europäisches Vorgehen
hielt er aufgrund deutscher Unsicherheiten, britischer Schwierigkeiten und einer
amerikanischen Entschlossenheit im Vorfeld für beinahe aussichtslos.¹³⁹ Die
Bewertungen der Ergebnisse von Ottawa gehen in den Memoiren ehemaliger
Akteure leicht auseinander. Während Hubert Védrine von einer anfänglichen
Zufriedenheit nach Mitterrands Rückkehr berichtet,¹⁴⁰ beobachten Favier und
Martin-Roland die Erfahrung, dass die Amerikaner nicht mit sich reden ließen
und den Alliierten ihre Politik vorgeben wollten. Das Kommuniqué habe die

 Vgl. Grosser, Pierre: Serrer le jeu sans fermer. L’Elysée et les relations franco-soviétiques,
1981– 1984. In: Berstein [u. a.] (Hrsg.), François Mitterrand, S. 263.
 Vgl. Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 242.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 10. Juli 1981, S. 61; Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 243.
 Védrine, Mondes, S. 179.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 123

wirtschaftlichen Divergenzen nur schwer überdecken können.¹⁴¹ Einiges spricht


dafür, dass diese Bewertung von der Retrospektive und dem Eindruck der auf
Ottawa folgenden Monate geprägt ist. Auf der einen Seite wurden bei dem G7-
Treffen keine konkreten Entscheidungen getroffen. Dies mag im Verhältnis zu den
Hoffnungen, in Ottawa amerikanische Unterstützung für die Wiederbelebung der
europäischen Wirtschaft zu erhalten, als Scheitern gesehen werden. Auf der an-
deren Seite halten sowohl Védrine als auch Dumas fest, dass Mitterrand am Rande
des Wirtschaftsgipfels gute Beziehungen zu anderen Staatschefs wie Margaret
Thatcher und Pierre Trudeau etablieren konnte.¹⁴² Dank der diplomatischen
Vorbereitungen durch den Besuch von George Bush in Paris und der Teilung von
Informationen der Geheimdienste gelang es Mitterrand auch, ein gutes persön-
liches Verhältnis zu Ronald Reagan aufzubauen. Der Einstieg auf dem interna-
tionalen Parkett, der in den ersten Wochen Priorität hatte, war dadurch nicht nur
gelungen. Glaubt man Védrine, so gab sich Mitterrands équipe zunächst auch der
Illusion hin,Washington zwar nichts Konkretes abgerungen zu haben; gleichwohl
war es ihnen doch aber gelungen, die Autonomie der französischen Wirtschafts-
und Finanzpolitik zu wahren. Immerhin hatten die Amerikaner schädliche Effekte
ihrer hohen Zinsen eingestanden und der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit war
als Priorität eingestuft worden. Erst in den folgenden Monaten sollte sich zeigen,
dass sich das Weiße Haus offenbar wenig um seine Worte von gestern scherte.¹⁴³
Trotz des Kommuniqués von Ottawa ließ die Reagan-Administration nicht von
Versuchen ab, den Handel der Europäer mit dem Osten zu unterbinden. Die
Verhängung des Kriegsrechts in Polen nahm sie zum Anlass, um den Druck zu
erhöhen.¹⁴⁴ Bereits wenige Tage vor der Kontrollübernahme der polnischen Armee
nutzte der amerikanische Außenminister die Gelegenheit bei dem Ministertreffen
des atlantischen Rates, um eine Warnung an die Verbündeten auszusprechen. Mit
einem Seitenhieb beurteilte er die aktuelle wirtschaftliche Krise als gefährlich,
weil es einige Länder veranlasse, protektionistische Maßnahmen zu ergreifen, die
eine Spaltung der Allianz verursachen könnten. Hinter dem Appell, keine öko-
nomischen Maßnahmen zu ergreifen, die politische Konsequenzen hätten, ver-
barg sich allgemein der Versuch, die europäischen Verbündeten auch wirt-
schaftspolitisch auf die amerikanische Linie zu bringen. Ganz konkret äußerte

 Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 245.


 Dumas, Affaires étrangères, S. 76.
 Védrine, Mondes, S. 179.
 Védrine, Mondes, S. 199.
124 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

sich der Wunsch darin, das Erdgasröhren-Geschäft der Europäer mit der Sowjet-
union zu unterbinden.¹⁴⁵
Die bisherigen Untersuchungen machen deutlich, welcher Vorteil sich zu-
nächst daraus ergab, dass dies- und jenseits des Atlantiks unter Bündnissolida-
rität etwas anderes verstanden wurde, da es den gewünschten Effekt hatte, den
Zusammenhalt nach außen zu stärken. Unterschwellig aber führte diese – auf
Missverständnissen beruhende – Einigkeit zu deren Perpetuieren, das letztlich in
Auseinandersetzungen gipfelte. Die Handelsbeziehungen, die die europäischen
Staaten im Bereich der Energie mit der Sowjetunion unterhielten, waren der US-
Administration ein besonderer Dorn im Auge. Ab 1980 waren noch unter Mitter-
rands Vorgänger Giscard d’Estaing Verhandlungen über sowjetische Gasliefe-
rungen aufgenommen worden.¹⁴⁶ Schon bei dem ersten Gespräch zwischen
Mitterrand und Reagan am 19. Juli 1981 zählte dies zu jenen Punkten, die durch
den amerikanischen Präsidenten kritisiert worden waren. Sein Argument richtete
sich darauf, dass dieses Projekt der Sowjetunion materielle Ressourcen liefere, die
diese anschließend in die Rüstung stecken könne. Allerdings hatte Mitterrand
seinem Amtskollegen zu verstehen gegeben, dass er das Erdgas-Geschäft nicht für
ein adäquates Gesprächsthema des französisch-amerikanischen Austausches
hielt. Indem er antwortete, dass es sich dabei um eine europäische, nicht einmal
rein französische Angelegenheit handelte, entzog er sich der bilateralen Diskus-
sion.¹⁴⁷
Die Konsequenzen eines solchen Abkommens mit der Sowjetunion wurden
im Elysée sorgfältig abgewogen. Mitterrands équipe war sich darüber bewusst,
dass der Kreml eine wachsende Interdependenz der Wirtschaft in Ost und West als
Chance sah, künftigen Sanktionen vorzubeugen, da sie auch den westlichen
Staaten Verluste eintragen würden. Mit dem neuen Vertrag über Gasankäufe er-
rechneten Berater im Elysée, würde Frankreich 30 Prozent seines Gases aus der
Sowjetunion beziehen.¹⁴⁸ Die amerikanische Administration ließ keinen Versuch
ungenutzt, die Europäer zu einer Abkehr von den Geschäften zu bewegen. Im
Herbst 1981 reiste eine amerikanische Delegation unter der Leitung von Myer
Rashish nach Europa. Paris stellte dabei nur eine Etappe der Tour durch Europa
dar. Anders als eigentlich angekündigt, nahmen der amerikanische Energie- so-

 ADMAE, 1930-INVA 5641, TD RPAN Bruxelles 686, Session ministérielle du Conseil. Session
„très restreinte“ du 10 décembre – intervention du Général Haig, 11. Dezember 1981.
 Védrine, Mondes, S. 204.
 AN, AG/5(4)/CD/74, Resumé de l’entretien entre le Président de la République et le Président
des Etats-Unis, Montebello, 19. juillet 1981.
 AN, AG/5(4)/CD/392, Présidence de la République, Note sur le contrat gaz avec l’Union
Soviétique, 3. Juli 1981.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 125

wie der Verteidigungsminister an dem Gespräch in Paris nicht Teil, sondern


sollten erst bei dem nächsten Etappenziel in Bonn dazustoßen.¹⁴⁹ Am 3. Novem-
ber unterbreitete Rashish dem französischen Ministerium für Industrie alternative
Vorschläge für den Ankauf von Gas. Die amerikanische Delegation trug hinläng-
lich bekannte Thesen über die Risiken einer europäischen Abhängigkeit von so-
wjetischem Gas und über mögliche Alternativen vor. Sie drang außerdem darauf,
den Vertrag aufzuschieben, um weitere Monate für eine westliche Abstimmung zu
gewinnen.¹⁵⁰ Einen Tag zuvor hatte Rashish Jacques Attali bereits dargelegt, was
sich die amerikanische Administration unter einer solchen Abstimmung vor-
stellte: Das Abkommen über die Gaslieferungen sollte bis zum 1. Februar 1982
aufgeschoben werden, damit eine informelle Arbeitsgruppe zur globalen Situa-
tion der Energieversorgung bis dahin eine Evaluation über die realen Bedürfnisse
der europäischen Wirtschaft nach Energie anstellen könnte. Dies beurteilte Attali,
der sich über die „besoins réels d’énergie“¹⁵¹ echauffierte, als inakzeptabel, da er
Rationierungen durch die Amerikaner fürchtete. Gefahr zu laufen, die französi-
sche Entscheidungsfreiheit durch eine Abhängigkeit von den USA einzubüßen,
war aus Sicht des Beraters offenbar riskanter als durch sowjetische Energielie-
ferungen in ein Abhängigkeitsverhältnis zu geraten. Nach den Erfahrungen mit
den Amerikanern während der Ölkrisen in den 1970er Jahren, strebten die Euro-
päer ohnehin nach einer Diversifizierung ihrer Energielieferungen.¹⁵² Die fran-
zösischen Verhandlungspartner hielten trotz der amerikanischen Bemühungen
an ihren Plänen fest und versicherten Rashish und seinen Begleitern auswei-
chend, auf eine Diversifizierung der Energielieferungen sowohl hinsichtlich ihrer
Natur als auch ihres geographischen Bezugsorts Acht zu geben. Sicherheitspoli-
tische Probleme würden in Verhandlungen und Entscheidungen selbstverständ-
lich berücksichtigt.¹⁵³
Die Unterdrückung der Solidarność-Bewegung und Machtübernahme der
polnischen Armee nutzte Ronald Reagan dazu, den Druck auf die europäischen
Partner zu erhöhen, indem er am 23. Dezember 1981 unilaterale Sanktionen gegen
Polen und am 29. Dezember gegen die Sowjetunion verhängte. Die Maßnahmen

 AN, AG/5(4)/CD/392, Ministère de l’Industrie, Direction des Hydrocarbures, Note, Rencontre
franco-américaine sur le gaz soviétique – Paris 3 novembre 1981, 4. November 1981.
 AN, AG/5(4)CD/392, Ministère de l’Industrie, Direction des Hydrocarbures, Note, Rencontre
franco-américaine sur le gaz soviétique – Paris 3 novembre 1981, 4. November 1981.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 2. November 1981, S. 148.
 Vgl. dazu weiterführend Türk, Henning: The European Community and the Founding of the
International Energy Agency. In: Hiepel (Hrsg.), Europe, S. 357– 372.
 AN, AG/5(4)/CD/392, Ministère de l’Industrie, Direction des Hydrocarbures, Note, Rencontre
franco-américaine sur le gaz soviétique – Paris 3 novembre 1981, 4. November 1981.
126 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

gegen die Führung in Warschau, beklagte Mitterrand gegenüber dem deutschen


Botschafter Herbst, seien ohne vorherige Konsultationen mit den europäischen
Verbündeten beschlossen worden. Da er es als erheblichen Schaden für die eu-
ropäischen Interessen bewerte, lehne er diese wirtschaftlichen Retorsionsmaß-
nahmen ab und werde dies auch bei der Sitzung des Ministerrats der NATO am
11. Januar in Brüssel vertreten. Zwar seien die USA in Europa unentbehrlich, dies
dürfe aber nicht dazu führen, das Washington den Europäern ihre Politik vor-
schreibe.¹⁵⁴ Mit Helmut Schmidt einigte sich Mitterrand dann auch auf die ge-
meinsame Position, dass das Weiße Haus Entscheidungen, die das Bündnis in
seiner Gesamtheit beträfen, nicht alleine fällen dürfe. Wenn die Amerikaner ihre
Verbündeten vorab nicht konsultierten, dürften sie auch nicht erwarten, dass
diese ihren Entscheidungen folgten.¹⁵⁵ Trotz der polnischen Krise hielt Mitterrand
an dem Abkommen über Gaslieferungen mit der Sowjetunion fest. Lediglich die
Unterzeichnung wollte er hinauszögern, bis sich die öffentliche Meinung etwas
beruhigt haben würde.¹⁵⁶ Als die Information über das Abkommen dennoch an
die Öffentlichkeit gelangte, schlug dies hohe Wellen. Premierminister Pierre
Mauroy sah sich in der Assemblé Nationale erheblichen Attacken ausgesetzt.¹⁵⁷
Bei seinem Treffen mit Ronald Reagan im März 1982 signalisierte Mitterrand
weiterhin, dass der Gasvertrag umgesetzt werde. Zu einer „crise de rupture“¹⁵⁸ mit
der Sowjetunion sei er nicht bereit, erklärte er. Zwar unternehme man Maßnah-
men zur Diversifizierung, aber der Schutz der Wettbewerbsfähigkeit hänge von
den Energielieferungen ab.¹⁵⁹
Bei dem gleichen Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten am 12. März
startete Mitterrand auch einen neuen Versuch, Reagan von einer Änderung der
amerikanischen Hochzinspolitik zu überzeugen. Mitterrands Reise nach Wa-
shington im März 1982 muss in den Kontext der Vorbereitungen für das G7-Treffen
gestellt werden, den er als Gastgeber vom 4. bis zum 6. Juni in Versailles aus-
richtete. Im Frühjahr 1982 hatte das sozialistische Experiment mit einer Ver-
schlechterung der internen Wirtschaft zu kämpfen. Um das Überleben der Linken

 Botschafter Herbst, Paris, an das Auswärtige Amt, 11. Januar 1982. In: AAPD 1982, Dok. 16,
S. 67.
 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 13. Januar
1982. In: AAPD 1982, Dok. 20, S. 95.
 Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 251.
 Védrine, Mondes, S. 204.
 AN, AG/5(4)/CD/74, Ambassade de France aux Etats-Unis, Résumé de la conversation entre
M. François Mitterrand et M. Ronald Reagan, 12. März 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/74, Ambassade de France aux Etats-Unis, Résumé de la conversation entre
M. François Mitterrand et M. Ronald Reagan, 12. März 1982.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 127

an der Regierung zu retten, sah sich Mitterrand gezwungen, zu einer Sparpolitik


zurückzukehren. Er wollte die Amerikaner von einer internationalen relance
überzeugen.¹⁶⁰ Laut Favier und Martin-Roland sei dies die Herausforderung und
das Ziel des G7-Gipfels in Versailles gewesen. Dafür ging der französische Präsi-
dent im Vorfeld mithilfe einer Reihe diplomatischer Konsultationen in die Of-
fensive. Bevor er nach Washington reiste, um Ronald Reagan von einer Modifi-
zierung der amerikanischen Wirtschaftspolitik zu überzeugen, stimmte er sich mit
Helmut Schmidt ab. In ihrem Gespräch sprach sich François Mitterrand für eine
„kategorische Politik“¹⁶¹ gegenüber Washington aus. Die amerikanische Wirt-
schaftspolitik beurteilte er als selbstmörderisch, was dem Weißen Haus aber noch
lange nicht das Recht gebe, Europa mit in den Abgrund zu ziehen. Zudem kriti-
sierte er, dass von den Europäern im Krieg Solidarität erwartet würde,Washington
selbst dagegen in Friedenszeiten dazu nicht bereit wäre. Die aktuelle Situation
beschrieb er zwischen Krieg und Frieden als „ständigen Kampf“¹⁶².
Nicht nur Mitterrands Berater im Elysée auch der Quai d’Orsay und das
Wirtschafts- und Finanzministerium bereiteten die Reise des Präsidenten nach
Washington und den Gipfel in Versailles intensiv vor. Darüber hinaus hatte der
deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher einen Besuch in Washington
ganz im Sinne der gemeinsamen Linie, die bei dem letzten deutsch-französischen
Gipfel vereinbart worden war, für eine „action d’information de l’opinion am-
éricaine“ genutzt, um transatlantische Missverständnisse zu beseitigen.¹⁶³ Der
Direktor für politische Angelegenheiten aus dem Quai d’Orsay Jacques Andréani
reiste ebenfalls zu einer dreitägigen Reise nach Washington und führte dort
zwischen dem 8. und 10. März 1982 Gespräche mit verschiedenen Vertretern der
amerikanischen Administration, um deren Erwartungshaltung für die anstehen-
den Gipfel auszuleuchten. Er diagnostizierte ein Scheitern von Reagans Wirt-
schaftspolitik und beschrieb, dass die Vorbereitungen von Reagans Reise nach
Europa und des anstehenden Gesprächs mit Mitterrand von der Suche nach au-
ßenpolitischen Erfolgen gekennzeichnet seien.¹⁶⁴ Die amerikanische Erwar-
tungshaltung in Bezug auf die Gipfel im Juni sei durch die Zerrissenheit der Ad-
ministration zwischen Dogmatikern und Moderaten sowie durch eine mangelnde

 Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 255.


 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 24. Februar
1982. In: AAPD 1982, Dok. 63, S. 324.
 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 24. Februar
1982. In: AAPD 1982, Dok. 63, S. 324.
 AN, AG/5(4)/CD/262, MRE, TD Bonn 358, Visite de M. Genscher à Washington, 10. März 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/262, MRE, TD Washington 683, Consultations du Directeur Politique à Wa-
shington, 10. März 1982.
128 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

Gesamtkonzeption nicht wirklich eindeutig. Probleme bereite der Administration


weniger der NATO-Gipfel in Bonn, obwohl es auch in Bezug auf die Sowjetpolitik
zwei Strömungen gebe.Während Caspar Weinberger als Vertreter der Hardliner für
eine sehr rigide Politik eintrat, wurde Alexander Haig eine nuancierte Politik
zugeschrieben. Diese Zerrissenheit bereitete nicht zuletzt Ronald Reagan politi-
sche Schwierigkeiten. Um die westeuropäischen Staaten auf eine restriktivere
Kredit-Politik gegenüber dem Ostblock einzuschwören, sendete der amerikani-
sche Präsident im März 1982 den Unterstaatssekretär James Buckley nach Europa.
Andréani deutete Reagans letzte Entscheidungen sowie Buckleys Mission als
Versuch, die Dogmatiker ihrer Argumente zu berauben und einen Bruch der Al-
lianz zu vermeiden.¹⁶⁵ Sehr viel größere Sorgen bereitete den amerikanischen
Vertretern offenbar der G7-Gipfel in Versailles, da sie fürchteten, für ihre Hoch-
zinspolitik angeklagt zu werden. Insbesondere Paul Wolfowitz brachte in seinem
Gespräch mit Andéani die Hoffnung zum Ausdruck, weniger kontroverse Themen
in Versailles in den Vordergrund zu stellen.¹⁶⁶ Im Quai d’Orsay wurde auch er-
wogen, dass Reagan versucht sein könnte, als Einiger der Allianz aufzutreten und
auf eine Verbindung des G7 und des NATO-Gipfels dringen könnte.¹⁶⁷
Die Berater des Präsidenten Jacques Attali und Christian Sautter sowie der
Minister für Wirtschafts- und Finanzpolitik Jacques Delors legten dem Präsiden-
ten im Vorfeld seiner Reise zu dem persönlichen Gespräch mit Reagan ihre
wirtschaftspolitischen Einschätzungen dar: Attali verwies darauf, dass Reagan
Steuern senke und Zinsen anhebe, was Investitionen und Wachstum hemme. Die
Steuersenkungen verbunden mit einer Erhöhung militärischer Ausgaben hätten
außerdem ein Haushaltsdefizit zur Folge. Die Konsequenz seien wirtschaftliche
Rezession und Arbeitslosigkeit, die Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft
und die Europäer hätten.¹⁶⁸ Jacques Delors vertrat ebenfalls diesen Standpunkt:
Die hohen amerikanischen Zinsen seien der Hauptgrund der Arbeitslosigkeit im
Westen. Diese verstärken die Rezession in den USA und zwingen die Europäer
dazu, ebenfalls ihre Zinsen anzuheben, was eine Wiederbelebung der Wirtschaft
und die Schaffung von Beschäftigung verhindere. Delors setzte sich dafür ein, der

 AN, AG/5(4)/CD/262, MRE, TD Washington 683, Consultations du Directeur Politique à Wa-
shington, 10. März 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/262, MRE, TD Washington 683, Consultations du Directeur Politique à Wa-
shington, 10. März 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/262, MRE, TD Washington 655, Visite de M. le Président de la République.
Fiche sur les relations au sein de l’Alliance Atlantique, 9. März 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/262, Le Conseiller spécial auprès du Président de la République, Note pour
Monsieur le Président, Rapports économiques franco-américaines: Politique économique, com-
merce Est-Ouest, Nord-Sud, énergie, 10. März 1982.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 129

amerikanischen Administration die europäischen Sorgen verständlich zu ma-


chen. Zwar solle es nicht als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der
USA verstanden werden, aber man könne doch an mehr Rücksicht gegenüber den
europäischen Ländern appellieren. Delors schlug zudem ein kollektives Vorgehen
durch den Präsidenten des Conseil des Ministres Européen oder den Kommissi-
onspräsidenten vor, indem diese auf die schwerwiegenden Konsequenzen der
bisherigen Politik aufmerksam machten.¹⁶⁹ Er verwies auf die wirtschaftspoliti-
sche Dimension der westlichen Sicherheitspolitik: Die wirtschaftliche Rezession
im Westen könne eine Depression, ein düsteres psychologisches Klima und einen
Verlust an Selbstvertrauen zur Folge haben. Von dem Anstieg der Arbeitslosigkeit
würden entweder „Gegner der freien Welt“ oder Pazifisten profitieren. Dies
schwäche insgesamt den europäischen Pol und gebe der neutralistischen Bewe-
gung Aufwind. Dadurch wachse letztlich nicht nur das Unverständnis zwischen
den USA und Europa, sondern die Moral des Zusammenhalts in Europa werde
auch hinsichtlich der Abrüstungsgespräche in Genf gefährdet.¹⁷⁰
Diese Ausführungen zeigen sehr deutlich, dass Jacques Delors das Risiko
einer découplage der USA von Europa keineswegs ausschließlich im militärischen
Bereich wahrnahm. Vielmehr konstatierte er insgesamt eine Krise der transat-
lantischen Beziehung, die eine Entkopplung auch in wirtschaftlicher und politi-
scher Hinsicht nach sich ziehen könnte. Er setzte zwar einerseits auch auf eine
amerikanische Solidarität. Allerdings verließ er sich nicht ausschließlich darauf;
durch die Imagination eines bedrohlichen Zukunftsszenarios, sollten der US-Ad-
ministration die möglichen Konsequenzen ihrer Wirtschaftspolitik vor Augen
geführt werden. Auf ähnlichen Argumenten und Strategien basierte auch die
Empfehlungen des Präsidentenberaters Christian Sautter. Auch er entwarf das
potentielle Zukunftsszenario von wirtschaftlichen Konflikten zwischen den Ver-
bündeten und sozialen Spannungen in westlichen Gesellschaften, die den Zu-
sammenhalt des Bündnisses und die Kohäsion westlicher Politik beeinträchtigen
würden.¹⁷¹ Interessant ist hierbei, dass Delors und Sautter François Mitterrand
nicht nur fachliches Wissen für seine Gespräche mit dem amerikanischen Präsi-
denten zur Verfügung stellten, sondern auch eine Strategie anboten, um den

 AN, AG/5(4)/CD/262, Ministre de l’Economie et des Finances, Les taux d’intérêt aux Etats-
Unis, 11. März 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/262, Le Ministre de l’Economie et des Finances, Note pour le Président de la
République, La politique économique des Etats-Unis et ses conséquences pour le monde occi-
dental, März 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/262, Présidence de la République, Christian Sautter, Note pour le Président
de la République, Perspectives de l’économie américaine, 11. März 1982.
130 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

amerikanischen Präsidenten unter Druck zu setzen. Sie empfahlen ihm, eine


ungewisse aber als gewiss suggerierte Zukunft zum Mittel der Politik zu machen.
Bei dem Gespräch mit Reagan versuchte Mitterrand, den amerikanischen
Sorgen entgegenzukommen. Er selbst hatte zum einen als Gastgeber Interesse an
einem Erfolg des G7-Gipfels in Versailles. Zum andern war ihm ebenso daran
gelegen, in der Öffentlichkeit das Bild westlichen Zusammenhalts nicht infrage zu
stellen. Daher versicherte er Ronald Reagan, dass er in Versailles nicht die Absicht
habe, die Frage des Zinsflusses in den Vordergrund zu stellen. Gleichzeitig ap-
pellierte er aber auch an die Notwendigkeit, die schwierige Situation der euro-
päischen Staaten zu verstehen.¹⁷² Er setzte also darauf, die Differenzen ohne öf-
fentliche Konflikte in Vieraugengesprächen zu lösen, um einen Bruch bei dem
Gipfel zu vermeiden. Diese Taktik ging allerdings nicht auf. Nach Mitterrands
Rückkehr aus Washington war Christian Sautter höchst alarmiert, da bei den
persönlichen Vieraugengesprächen letztlich nicht der erhoffte Wandel der ame-
rikanischen Wirtschaftspolitik erzielt worden war. Wenn in Versailles keine end-
gültige Lösung gefunden werden könne, würden sich die wirtschaftlichen Span-
nungen in den kommenden zwei Jahren enorm verstärken. Er sah Frankreich in
seiner Haltung isoliert. Cheysson und Delors hätte entgegen der dominanten
These wirtschaftlicher Konkurrenz, der sich die USA, die BRD und Japan an-
schlossen, dafür plädiert, den internationalen Handel durch eine westliche re-
lance zu stimulieren. Durch westliche Kooperation wollten sie die Beschäftigung
anregen und zu neuer Stabilität finden. Sautter betonte eindringlich, dass Ver-
sailles nun die einzige Möglichkeit darstelle, einen Handelskrieg noch zu ver-
hindern. Aus seiner Sicht war dies die Chance, an die Solidarität zu appellieren
und eine Verknüpfung von Wohlstand und Sicherheit herzustellen, da kollektive
Sicherheit auf wirtschaftlicher Prosperität gründe.¹⁷³
Mitterrands Rede vor dem Übersee-Club in Hamburg am 5. April 1982 stand
ebenfalls in dem Kontext der Vorbereitungen auf den Versailler Gipfel. Gleichwohl
wollte Mitterrand in Hamburg keinen wirtschaftspolitischen Vortrag halten,
sondern räumte sicherheitspolitischen Themen und dem Zusammenhalt der Al-
lianz größere Priorität ein. Der alarmierende Ton seiner Berater steht dem Inhalt
von Mitterrands Rede scheinbar diametral gegenüber. Er wies zwar den Vorwurf
zurück, eine protektionistische Wirtschaftspolitik zu führen. Insgesamt hielt er

 AN, AG/5(4)/CD/74, Ambassade de France aux Etats-Unis, Résumé de la conversation entre
M. François Mitterrand et M. Ronald Reagan, 12. März 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/185, Présidence de la République, Christian Sautter, Note pour [hand-
schriftlich durchgestrichen: Monsieur Pierre Bérégovoy] le Président de la République [hand-
schriftlich hinzugefügt], Le dernier Conseil des Ministres de l’OCDE ou la montée des tensions
ouest-ouest, 13. Mai 1982.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 131

sich aber mit Anschuldigungen der amerikanischen Politik zurück. Diese Rede
dürfte als Barometer für den Wirtschaftsgipfel gesehen worden sein. In diesem
Kontext, wollte Mitterrand in der Öffentlichkeit kein Bild der Uneinigkeit inner-
halb der Allianz erwecken und stattdessen die verbindenden Elemente und
Bündnissolidarität hervorheben.¹⁷⁴ Offenbar setzte Mitterrand noch immer dar-
auf, als Gegenleistung für seine öffentliche Unterstützung des Bündniszusam-
menhalts wirtschaftspolitische Solidarität ernten zu können. Da die équipe Mitt-
errand die wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten nunmehr auch als
sicherheitspolitisches Risiko inszenierte, lässt sich die Übersee-Rede gleichsam
als eine Art Aufschlag für den Wirtschaftsgipfel verstehen.
Im Vorfeld von Versailles und nachdem das europäische Erdgas-Röhrenge-
schäft zu Konflikten in den transatlantischen Beziehungen geführt hatte, diente
das Angebot vom Frühjahr 1982, den NATO-Gipfel 1983 in Paris auszurichten,
nicht nur als vertrauensbildende Geste. Indem die französische Priorität für Si-
cherheitspolitik und Bündnistreue dadurch unterstrichen wurde, sollten Konflikte
in anderen Bereichen ausgeglichen oder in der öffentlichen Wahrnehmung zu-
mindest kaschiert werden. Dadurch sollte ein gutes Klima für die Verhandlungen
geschaffen werden, in denen Schwierigkeiten und Differenzen erwartet wurden.
Bei einem Gespräch mit Claude Cheysson stimmte François Mitterrand zu, die
nächste Sitzung des Atlantischen Rates 1983 in Paris auszurichten. Allerdings
bezog sich dies ausschließlich auf das Treffen der Außenminister. Es kam nicht
infrage, die Sitzung des integrierten Planungsstabes auszurichten, dem Frank-
reich seit 1966 nicht mehr angehörte.¹⁷⁵ Wie eine Randbemerkung von François
Mitterrand bezeugt, legte dieser größten Wert darauf, dass es in dieser Hinsicht
nicht zu Verwechslungen kommen konnte.¹⁷⁶
Die Vorbereitungen auf den Wirtschaftsgipfel verdeutlichen zweierlei: Die
Ausgangslage für Versailles war denkbar schlecht, da dem Treffen durch ihre
Teilnehmer unterschiedliche Erwartungen entgegengebracht wurden. Außerdem
lässt sich aus den akribischen Vorbereitungen und den bilateralen Gesprächen

 Für die Vorbereitungen der Überseeclub-Rede siehe AG/5(4)/CD/185.


 AN, AG/5(4)/CD/93, MRE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégiques
et du Désarmement, Sous-Direction Affaires Stratégiques et des Pactes, Note pour le Ministre,
Accueil éventuel en France de la session ministérielle de printemps du Conseil atlantique, 7. Mai
1982; AN, AG/5(4)/CD/93, MRE, Le Ministre, Claude Cheysson, Note, Session du printemps 83 du
Conseil atlantique, 13. Mai 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/93, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, 14. Oktober 1982; In einer Randbemerkung stimmte
Mitterrand zu, anlässlich des Ministerrates, einen Empfang auszurichten: „Oui s’il n’y a pas de
confusion possible avec l’OTAN – Cdt intégré FM“.
132 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

der Schluss ziehen, dass es in der französisch-amerikanischen Kommunikation zu


einigen Missverständnissen kam, die insbesondere bei den französischen Ak-
teuren auf Fehlkalkulationen beruhten. Zwar einte Washington und Paris das
Interesse, das Bild des westlichen Zusammenhalts in der Öffentlichkeit nicht zu
erschüttern. Dass Mitterrand dafür bereit war, den Amerikanern ein Stück ent-
gegenzukommen, indem er die Hochzinspolitik in Versailles nicht in den Vor-
dergrund stellen wollte, wurde durch Ronald Reagan und seine Berater aber of-
fenbar anders ausgelegt, als es von François Mitterrand gemeint war. Während
man in Paris noch daraufgesetzt hatte, die Amerikaner mit Gesten und Worten von
einer wirtschaftspolitischen Solidarität überzeugen zu können, verstanden Rea-
gan und der Kreis der Hardliner darunter offenbar Zusammenhalt unter ameri-
kanischer Führung, indem die europäischen Bündnispartner sich doch bitte dem
wirtschaftspolitischen Kreuzzug gegenüber dem Ostblock anschließen sollten.
Dass die französischen Hoffnungen, die Amerikaner von einer solidarischen
Wirtschaftspolitik überzeugen zu können, auf einer Illusion beruhten, sollte die
Phase zwischen dem Wirtschaftsgipfel in Versailles 1982 und jenem in Willi-
amsburg 1983 zeigen, in der die Auseinandersetzungen zwischen Paris und Wa-
shington ihren Höhepunkt erreichten. Auf dem Gipfel in Versailles gelang es mit
Mühe und Not, die tiefgreifenden Divergenzen durch vage Formulierungen im
Abschlusskommuniqué zu verschleiern, in denen jede Delegation mit gutem
Willen ihre Standpunkte berücksichtig sehen konnte.¹⁷⁷ Aus französischer Sicht
wurde zu Beginn des Gipfels erwartet, die wirtschaftlichen Spannungen zwischen
den industrialisierten Staaten abzubauen, anstatt einen Kreuzzug gegen die So-
wjetunion zu lancieren.¹⁷⁸ Allerdings befand sich die französische Delegation zu
Beginn des Gipfels total isoliert damit, der Förderung von Beschäftigung Priorität
einzuräumen, da sie weder von den deutschen noch den britischen Partnern
unterstützt wurde. Aufgrund der Verstrickung im Falklandkrieg wollten die Briten
die USA nicht vor den Kopf stoßen. Die Sorgen der Bundesrepublik konzentrierten
sich fast ausschließlich auf die Euroraketenkrise.¹⁷⁹ Immerhin hinsichtlich der
Ost-Kredite sprachen Helmut Schmidt und François Mitterrand mit einer Stimme
und bestanden auf der Unzumutbarkeit, dass ihre Exporte nach politischen Kri-
terien beurteilt würden.¹⁸⁰ Zudem verteidigte Schmidt den europäischen Stand-
punkt, dass die amerikanischen Zinsen zu hoch seien und allein deren Redu-
zierung das amerikanische Budget-Defizit noch senken könnte.¹⁸¹ Gemessen an

 Dumas, Affaires étrangères, S. 86.


 Védrine, Mondes, S. 214.
 Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 257.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 83.
 Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 258.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 133

den wirtschaftlichen Nöten Frankreichs, waren die Ergebnisse von Versailles ein
Fehlschlag.¹⁸² Immerhin war es aber durch die sehr allgemeine Formulierung,
keine Haltung gegenüber der Sowjetunion einzunehmen, die die westliche Si-
cherheitsinteressen gefährden würde, gelungen, die Schaffung einer Kontrollin-
stanz für technische Exporte an den Ostblock zu verhindern.¹⁸³ Da Versailles aber
nicht die ersehnte wirtschaftliche Unterstützung brachte, die die französische
Wirtschaft so dringend benötigte, sah sich Mitterrand gezwungen am 12. Juni 1982
den Franc um 5,75 Prozent abzuwerten, gegenüber einer Aufwertung der Deut-
schen Mark um 4,25 Prozent.¹⁸⁴
Der politische Eklat zwischen den westlichen Verbündeten, der in Versailles
mit Mühe und Not verhindert worden war, brach auf, als die Tinte unter der
Abschlusserklärung noch nicht ganz getrocknet war. Am 18. Juni 1982 verkündete
das Weiße Haus unter Protest des amerikanischen Außenministers Alexander
Haig unilateral die Ausdehnung des Exportverbots an die Sowjetunion gegen
amerikanische Firmen im Ausland sowie ausländische Firmen, die unter ameri-
kanischer Lizenz produzierten – darunter fiel auch jenes Material, das für das
sowjetisch-europäische Erdgasröhren-Geschäft unabdingbar war.¹⁸⁵ Davon, dass
die amerikanische Administration zunehmend zu einer rigideren Politik gegen-
über den europäischen Verbündeten neigte, zeugte auch der Austausch des
amerikanischen Außenministers: Am 25. Juni musste Alexander Haig seinen
Posten für George Shultz räumen. Auf Reagans unilaterale Maßnahme reagierten
Briten, Deutsche, Italiener und Franzosen dieses Mal geeint und hielten an ihren
Verhandlungen mit der Sowjetunion fest.¹⁸⁶ Der Rat der EG-Außenminister er-
klärte das amerikanische Vorgehen für unvereinbar mit internationalem Recht.¹⁸⁷
Gegenüber dem deutschen Bundeskanzler zeigte sich Mitterrand höchst verärgert
über das Auftreten der Amerikaner nach Versailles. Diese hätten nicht das Recht,
zunächst dem Kommuniqué zuzustimmen, um dann die getroffene Regelung
einseitig zu widerrufen, beklagte er. Hier zeigt sich deutlich, dass er offenbar auf
amerikanische Gegenleistungen für seine vertrauensbildenden Maßnahmen ge-
setzt hatte und diese Erwartung nun enttäuscht sah: Seine Vorgänger seien den
Amerikanern gegenüber weitaus unnachgiebiger gewesen und hätten stets die
Erlaubnis verweigert, dass amerikanische U-Boote französische Häfen anlaufen
oder Flugzeuge französisches Territorium überfliegen. Dagegen habe er selbst

 Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 260.


 Védrine, Mondes, S. 215 f.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 12. Juni 1982, S. 293.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 89; Védrine, Mondes, S. 218.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 89 f.
 Vgl. Bresselau von Bressensdorf, Frieden, S. 221.
134 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

sich sehr viel flexibler gezeigt, legte er Helmut Schmidt in dem Gespräch dar.¹⁸⁸
Mitterrands Verbitterung und Frustration angesichts der enttäuschten Erwartung
kommen in den Gesprächsaufzeichnungen unverhohlen zum Ausdruck.
Außenminister Claude Cheysson schien ganz offensichtlich eher dazu ge-
neigt, sich auf einen Kompromiss mit den Amerikanern einzulassen.¹⁸⁹ Er ver-
suchte ab Sommer 1982 einen Dialog mit seinem neuen Amtskollegen George
Shultz zu etablieren. Als Ausweg aus dem drohenden, offenen Konflikt in den
bilateralen Beziehungen sollte eine Übereinkunft in den Wirtschaftsbeziehungen
zwischen Ost und West dienen, auf die die amerikanische Delegation die euro-
päischen Verbündeten im Grunde schon in Versailles hatte verpflichten wollen.¹⁹⁰
Damit Ronald Reagan das unilateral verkündete Embargo ohne Gesichtsverlust
wieder aufheben konnte, sollten die Europäer einer Abstimmung der Alliierten als
Bedingung für jedwede Handelsoperation mit der Sowjetunion – und damit de
facto einer informellen Kontrolle ihrer Exporte – zustimmen.¹⁹¹ Nicht nur
Cheysson war geneigt, diesem Deal zuzustimmen. Vor allem die bundesdeutsche
Regierung hatte nach dem Koalitionswechsel in Bonn ein Interesse daran, einen
versöhnlichen Ton gegenüber Washington anzuschlagen, wie Hans-Dietrich
Genscher Cheysson am 22. Oktober 1982 darlegte.¹⁹² Unter dem Vorsitz von
Lawrence Eagleburger fand am 21. Oktober 1982 ein Treffen der deutschen, fran-
zösischen und britischen Botschafter statt, in dem sich diese auf das sogenannte
Shultz-Papier als Diskussionsgrundlage einigten. Diesem kam allerdings kein of-
fizieller Status zu, sondern es sollte als Non-Paper verhandelt werden. Bei dem
Treffen bestätigte Eagleburger, dass Shultz und Reagan bereit seien, die Sank-
tionen aufzuheben. Voraussetzung dafür sei aber, dass Reagan gegenüber der
amerikanischen Öffentlichkeit auf etwas Substantielles verweisen könne. Gen-
scher begrüßte es ausdrücklich, dass der deutsche und französische Botschafter
den gleichen Standpunkt vertreten hatten. Es bliebe nur noch die Frage, so
Genscher zu Cheysson, ob sich Reagan mit einer allgemeinen Erklärung in der
Öffentlichkeit zufrieden gebe, dass er sich mit den Europäern verständigt habe,

 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Brüssel, 29. Juni
1982. In: AAPD 1982, Dok. 196, S. 1036 f.
 Vgl. Mélandri, Pierre: L’Alliance, la „différence“, l’indépendance. Les relations franco-am-
éricaines de 1981 à 1984. In: Berstein [u. a.] (Hrsg.), François Mitterrand, S. 241.
 Védrine, Mondes, S. 222 f.
 Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 262.
 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem französischen Außenminister Cheysson,
22. Oktober 1982. In: AAPD 1982, Dok. 283, S. 1475 f.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 135

oder ob er konkrete Punkte der Einigung nennen wolle.¹⁹³ Im Elysée gab es hin-
gegen keinerlei Bereitschaft, sich auf einen solchen Deal einzulassen. Hubert
Védrine empörte sich geradezu über das amerikanische Auftreten: Die persönli-
che Nachricht von Reagan an Mitterrand, in dem dieser darum bat, William Clark
zu empfangen, sei bezeichnend und verdeutliche amerikanisches Unvermögen,
wenn nicht Unwillen, anzuerkennen, dass die Politik der Verbündeten auf eige-
nen nationalen Interessen gründete. Das amerikanische Postulat, einen Kon-
sens – unter amerikanischer Führung – zu erzielen und Diskussionen über Di-
vergenzen zurückzustellen, habe System. Dabei hatte Cheysson ursprünglich
wohl angeregt, Profit aus den Sanktionen zu schlagen, um doch noch einen In-
teressenausgleich zwischen Amerikanern und europäischen Verbündeten zu er-
zielen. Daran jedoch hatten die Amerikaner keinerlei Interesse. Stattdessen hät-
ten sie Cheyssons Vorschläge als Möglichkeit für einen Kuhhandel genutzt, und
das Non-Paper Shultz präsentiert. Die darin aufgestellten Forderungen gingen
noch über jene in Versailles hinaus und verlangten von den Europäern, Ver-
pflichtungen in den Bereichen Technologie-Transfer, Kredit- und Energiepolitik.
Cheysson machte den Elysée darauf aufmerksam, dass die USA die Publikation
eines Textes vorbereiteten, damit Reagan noch vor den Wahlen am 2. November
die Aufhebung der Sanktionen ankündigen konnte. Die Diskussion über politi-
sche Langzeitziele gegenüber der Sowjetunion sei damit, so Védrine, zu einem
amerikanischen Druckinstrument geworden. Sowohl die Bundesrepublik als auch
Großbritannien wollten aber die Gelegenheit nicht verpassen, die Sanktionen zu
beseitigen, und waren dazu bereit, die amerikanischen Bedingungen zu akzep-
tieren.¹⁹⁴
Obwohl Mitterrand diesen Kompromiss kategorisch ablehnte, verhandelte der
Außenminister eigenständig, das Veto des Präsidenten ignorierend weiter. Ob die
bisher in der Memoiren-Literatur aufgestellte Vermutung zutrifft, dass er sich
dabei von der Überzeugung leiten ließ, am Ende die Zustimmung des Präsidenten
zu finden,¹⁹⁵ oder ob er nicht vielmehr die internationale Isolierung Frankreichs
fürchtete, lässt sich an dieser Stelle nicht zweifelsfrei aufklären. Als Cheysson
Mitterrand am 6. November den Entwurf von Reagans Erklärung überbrachte, in
der das Embargo zugunsten einer westlichen Abstimmung aufgehoben wurde,
kam es zu einem schwerwiegenden Missverständnis, da der Außenminister of-

 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem französischen Außenminister Cheysson,
22. Oktober 1982. In: AAPD 1982, Dok. 283, S. 1475 f.
 AN, AG/5(4)/CD/265, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, De votre eintretien avec M. William (Bill) Clarck, Con-
seiller du Président Reagan pour les affaires de sécurité nationale, 27. Oktober 1982.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 90; siehe ebenfalls: Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 262.
136 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

fenbar zu der Überzeugung gelangt war, vom Präsidenten grünes Licht erhalten zu
haben.¹⁹⁶ Als Jurij Andropow das Amt des Generalsekretärs übernahm, bot sich
für das Weiße Haus eine günstige Gelegenheit, die Aufhebung des Embargos
anzukündigen. Am 13. November teile Reagan seinen Verbündeten den Inhalt
eine Stunde vor der geplanten Erklärung mit, in der er die Aufhebung der Sank-
tionen und ein Abkommen der Alliierten über den Ost-West-Handel ankündigte,
das Konsultationen vor jedem Ankauf von Gas, sowie eine Harmonisierung der
Kredit-Politik vorsah. Aus Sicht von François Mitterrand kam dies einer „véritable
intégration économique“ gleich.¹⁹⁷ Obwohl Jacques Attali das Weiße Haus un-
mittelbar von Mitterrands Ablehnung in Kenntnis setzte, verkündete Reagan seine
Entscheidung. Der Quai d’Orsay reagierte prompt mit der Veröffentlichung eines
Kommuniqués, dass Frankreich nicht Teil des von Reagan angekündigten Ein-
verständnisses sei. Die Aufhebung des amerikanischen Embargos wurde aller-
dings zufrieden zur Kenntnis genommen.¹⁹⁸
Diese Episode stellt zum einen ein weiteres Mal die unterschiedlichen Er-
wartungshaltungen der atlantischen Partner unter Beweis. Zum andern zeigte
sich hierin die Problematik, die sich aus unterschiedlichen Haltungen innerhalb
der französischen Administration und ganz speziell zwischen dem Präsidenten
und seinem Außenminister ergab. Darüber hinaus wurde diese Affäre zu einer
wiederholt frustrierenden Erfahrung in den französisch-amerikanischen Bezie-
hungen, die sich dadurch gleichsam auf einem neuen Tiefpunkt befanden. In
einem Telefongespräch mit dem seit Oktober 1982 amtierenden Bundeskanzler
Helmut Kohl machte François Mitterrand seinem Ärger über die amerikanische
Administration Luft.¹⁹⁹ Reagans Erklärung und die Meinungsverschiedenheit
darüber hätten zu einer Unterbrechung des französisch-amerikanischen Mei-
nungsaustausches geführt. Gegen Mitterrands Verstimmung halfen auch Kohls
vermittelnde Worte wenig, er habe Reagan geraten in der Frage des Embargos
beziehungsweise des Ost-West-Handels direkt und intensiv mit Mitterrand zu
sprechen. Er habe, widersprach Mitterrand, Reagan vor seiner Erklärung sowohl
durch Attali als auch durch den Botschafter Vernier-Palliez wissen lassen, dass er
damit nicht einverstanden war. Weder das Junktim zwischen Aufhebung der
Sanktionen und Einigung über ein gemeinsames Vorgehen in Ost-West-Wirt-

 Dumas, Affaires étrangères, S. 90; Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 262.


 Dumas, Affaires étrangères, S. 90.
 Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 263.
 Telefongespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, 22. November
1982. In: AAPD 1982, Dok. 316, S. 1642.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 137

schaftsfragen noch der Inhalt der Verhandlungen hatten seine Zustimmung, und
Reagan habe sich im vollen Bewusstsein darüber hinweggesetzt.²⁰⁰
Als Rückkehr zur Normalität beschreibt Jacques Attali schließlich das Ge-
spräch zwischen François Mitterrand und George Shultz am 14. Dezember 1982.²⁰¹
Dokumente belegen, dass dem amerikanischen Außenminister an einem Vier-
augengespräch in sehr eingeschränktem Kreis gelegen war, das im ersten Teil
sogar ganz ohne Protokollanten geführt werden sollte.²⁰² Angesichts der diplo-
matischen Krise zwischen Washington und Paris legte Shultz scheinbar Wert auf
eine möglichst vertrauliche Atmosphäre. Sowohl Shultz als auch Cheysson
schienen dem Treffen hohe Erwartungen entgegenzubringen. Offenbar sollte ein
Gespräch auf höchstem diplomatischen Niveau dabei helfen, das enttäuschte
Vertrauen in den bilateralen Beziehungen wiederaufzubauen. Védrine blieb bei
den Vorbereitungen für das Gespräch hinsichtlich der amerikanischen Absichten
misstrauisch: Die Liste an amerikanischen Kritikpunkten sei lang. Die französi-
sche Kritik richte sich insbesondere darauf, dass die USA unter dem Vorwand
gemeinsamer Interessen des Westens, den Verbündeten ihre Politik aufzwingen
wollten. Zudem würden die Grundlangen von Mitterrands Politik, als Verbündeter
bei voller Souveränität für nationale Interessen einzutreten, in den USA nicht
verstanden. Védrine erwartete auch in Zukunft keinen politischen Kurswechsel in
Washington. Stattdessen warnte er davor, dass die USA der Sowjetunion Ver-
handlungsbedingungen aufzwingen würden, indem sie wirtschaftlichen Druck
ausübten und ihre Verbündeten zwängen, diese Politik mitzutragen.²⁰³ So ganz
klappte es mit dem Retablieren vertrauensvoller Beziehungen in dem Gespräch
tatsächlich nicht. George Shultz legte die bekannten und erwarteten Thesen dar,
während auch François Mitterrand auf seinem Standpunkt beharrte. Nachträglich
gab er sich teilweise auch selbst die Schuld an der Eskalation des Konfliktes.
Retrospektiv betrachtet, hätte er sich nicht noch einmal darauf eingelassen, an
den Gesprächen auf Ebene der Botschafter in Washington teilzunehmen.²⁰⁴
Nichtsdestoweniger ist es plausibel, dass diese diplomatische Krise zu einer
Art Reinigung in den bilateralen Beziehungen geführt hat. Zwar hatte diese nicht
zu einer Annäherung der politischen Standpunkte geführt.Vielmehr hatte sie eine

 Telefongespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, 22. November
1982. In: AAPD 1982, Dok. 316, S. 1642 f.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 14. Dezember 1982, S. 441.
 AN, AG/5(4)/CD/265, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, Entretien et déjeuner avec G. Shultz, 13. Dezember 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/265, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, Entretien et déjeuner avec G. Shultz, 13. Dezember 1982.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 14. Dezember 1982, S. 441.
138 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

gewisse Desillusionierung zur Folge. Die Konflikte waren nur so weit auf die
Spitze getrieben worden, weil beide Seiten sich in ihren Kalkulationen gewissen
Fehlwahrnehmungen hingegeben hatten. Den Amerikanern war durch die Aus-
einandersetzung vor Augen geführt worden, dass die französische Bestätigung der
Bündnissolidarität nicht mit einer Identifizierung mit amerikanischen Interessen
zu verwechseln war.²⁰⁵ François Mitterrand und seine équipe zogen aus diesen
Erfahrungen die Lehre, von den USA keine wirtschaftspolitische Solidarität als
Gegenleistung für sicherheitspolitische Solidarität erwarten zu dürfen. Daraus
resultierte die Erkenntnis, für Auswege aus der wirtschaftlichen Misere Ausschau
nach anderen möglichen Partnern zu halten.²⁰⁶ Ab der erste Jahreshälfte 1983
wurden die enttäuschten Erwartungen an eine nun auf eine andere Weise wahr-
genommene Realität angepasst.
1983 bestand die französische Politik hauptsächlich in dem Drahtseilakt, die
Euroraketenkrise zu überstehen, ohne militärstrategisch in die Verhandlungen
oder wirtschaftspolitisch integriert zu werden. Die Charakteristik des französisch-
amerikanischen Verhältnisses brachte Hubert Védrine in seinen Memoiren mit der
Formulierung „Ami, allié, pas align铲⁰⁷ prägnant auf den Punkt. Trotzdem sollen
die Konfliktpunkte hier keinesfalls überbetont werden. Ihre Untersuchung sollte
in erster Linie dazu beitragen, das Bild des Atlantikers zu dekonstruieren, da
Mitterrands Haltung zu den transatlantischen Beziehungen sehr viel komplexer
war. Zwar lässt sich die These von Pierre Mélandri nicht stützen, dass die wirt-
schaftlichen Beziehungen gegenüber den Ost-West und Nord-Süd-Beziehungen
sekundär gewesen seien.²⁰⁸ Immerhin versank Frankreich in einer wahren Wirt-
schaftskrise und hohen Arbeitslosigkeit, die François Mitterrand zu bekämpfen
hatte. Gleichwohl spielten sich die amerikanisch-französischen Beziehungen
überwiegend vor dem Hintergrund solider Bündnisbeziehungen ab, die auch
niemals grundsätzlich infrage gestellt wurden. Wie der erste Teil dieses Teilka-
pitels gezeigt hat, dienten unzählige Bekenntnisse und Beschwörungsformeln in
der Öffentlichkeit nicht ausschließlich dazu, Vertrauensbildung zu betreiben.
Vielmehr sollte der Weltöffentlichkeit glauben gemacht werden, dass die Atlan-
tische Allianz solide und unteilbar war. Die atlantischen Partner und die Führung
in Moskau sollten davon ebenfalls fest überzeugt sein, um keinerlei Spielraum für
potentielle Spaltungsversuche zu lassen. Insofern dienten die vertrauensbilden-
den Maßnahmen auch dazu, durch Inszenierung Realität zu schaffen. Gleichzeitig
lassen sich anhand der Erfahrungen, die Mitterrand und seine Mannschaft in den

 Vgl. Mélandri, Alliance, S. 236.


 Siehe dafür Kapitel 3.
 Védrine, Mondes, S. 163.
 Vgl. Mélandri, Alliance, S. 240.
2.3 …führt zu Misstrauen im Osten 139

ersten Amtsjahren mit der amerikanischen Administration machten, gewisse


Lernprozesse aufzeigen. Diese führten zu veränderten Wahrnehmungen, neuen
Erwartungen und erforderten politische Anpassungsleistungen, die insbesondere
in Abschnitt 3.1 untersucht werden.

2.3 …führt zu Misstrauen im Osten

Ähnlich wie in den westlichen Hauptstädten hatte die Wahl des sozialistischen
Präsidenten auch in Moskau Unsicherheit ausgelöst, da mit dem Vorgänger Valéry
Giscard d’Estaing auch dessen Berechenbarkeit gewichen war. Insbesondere die
Ostpolitik hatte dessen Rivale im Wahlkampf genutzt, um sich deutlich zu dis-
tanzieren. Zwar habe sich Mitterrand laut Hubert Védrine der traditionellen
französisch-russischen Verbundenheit verpflichtet gefühlt. Allerdings hatte er
sich im Wahlkampf die öffentliche Meinung in Frankreich zu Nutze gemacht, die
aus verschiedenen Gründen starke antisowjetische Tendenzen aufwies.²⁰⁹ Neben
der bereits analysierten Funktion, nicht in den Verdacht zu geraten, auf Kosten
des westlichen Bündnisses eine Annäherung an die Sowjetunion zu suchen, ist
davon auszugehen, dass er mit der kompromisslosen Rhetorik im Wahlkampf
Erwartungen in der französischen Öffentlichkeit weckte, mit denen er als Präsi-
dent umgehen musste. Mit der Verdammung der sowjetischen Politik und der
Unterstützung des NATO-Doppelbeschlusses hatte er sich also bereits im Wahl-
kampf klar positioniert. Allerdings bedeutete die harsche Kritik an der zu laschen
Entspannungspolitik von Giscard d’Estaing nicht, dass deren Langzeiteffekte als
Ziel französischer Sicherheitspolitik aufgegeben wurden,²¹⁰ sondern vor allem
erst einmal, dass der Handlungsspielraum des neuen Präsidenten und seiner
Regierung dadurch enorm eingeschränkt wurde.
Im Frühjahr 1981 wurden sowohl im Quai d’Orsay als auch im Elysée die
französisch-sowjetischen Beziehungen der 1970er Jahre reflektiert, um eine „po-
litique mitterrandienne spécifique“²¹¹ gegenüber der Sowjetunion zu definieren.
Darüber herrschte in den verschiedenen Institutionen und selbst innerhalb eines
Amtes nicht unbedingt Einigkeit, wie eine Note des Centre d’Analyse et de Prévi-
sion (CAP) nebst einer handschriftlichen Bewertung der darin angestellten
Überlegungen belegt. In der Note, die den bezeichnenden Titel La „carte fran-

 Für den Meinungsumschwung in der französischen Öffentlichkeit und Mitterrands Versu-
che, diesen zu instrumentalisieren, siehe Kapitel 1.
 Vgl. Grosser, Serrer le jeu, S. 253.
 Grosser, Serrer le jeu, S. 253.
140 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

çaise“ dans la politique soviétique ²¹² trägt, wurden die nachteiligen Effekte der
Détente der 1970er Jahre für Frankreich hervorgehoben: In den Außenbeziehun-
gen der Sowjetunion habe Frankreich zwar sicherlich eine Rolle gespielt, aller-
dings wurde der Profit für die französische Außenpolitik in dieser Note infrage
gestellt. Da Frankreich vielleicht als Gesprächs- keineswegs aber als Verhand-
lungspartner anerkannt worden sei, habe sich die französische Regierung zum
Werkzeug der sowjetischen Politik machen lassen. Aus den Analysen wurde der
Schluss gezogen, dass die französisch-sowjetischen Beziehungen künftig einer
pragmatischen Neuausrichtung ohne jegliches Entgegenkommen bedurften. Dies
stellte die bestehenden französisch-sowjetischen Beziehungen keineswegs in-
frage, sondern lässt sich eher als eine Form der bewussten Desillusionierung
verstehen. Der CAP schlug zwar vor, elementare Dinge von französischem Inter-
esse in den Beziehungen zu erhalten, ohne aber die eigene wirtschaftliche und
politische Unabhängigkeit zu gefährden.²¹³ Diese eher antisowjetische Haltung
teilte im September 1981 auch Denis Delbourg, als dieser dem Außenminister zur
Vorbereitung auf ein Gespräch mit dessen Amtskollegen Andrej Gromyko Infor-
mationen über den Stellenwert Frankreichs in der sowjetischen Strategie vorleg-
te.²¹⁴ Er sah Paris aus drei Gründen vornehmlich als Instrument des Kremls, an-
statt als Gesprächspartner auf Augenhöhe: Die sowjetische Führung strebe
danach, die westlichen Bündnispartner gegeneinander auszuspielen, den Ein-
fluss der USA zu kontern und die Autonomiebestrebungen Europas zu unterbin-
den.²¹⁵ Die Überlegungen vom Centre d’Analyse et de Prévision ebenso wie jene
von Delbourg zeugen davon, dass die Détente durch Teile der Administration
primär als Schaden für die nationalen Interessen Frankreichs gedeutet wurde.
Allerdings gilt es zu betonen, dass es sich hierbei lediglich um eine Perspektive
handelt. Nationale Interessen, die als Legitimationsgrundlage für Handlungs-
empfehlungen dienten, stellten keineswegs eine feststehende Größe dar.Vielmehr
war deren Definition und Interpretation variabel, wie in diesem Fall beispiels-
weise eine an Hubert Védrine adressierte handschriftlichen Notiz belegt. Darin
wurde der Note La „carte française“ eine Analyse entgegengestellt, die die posi-

 AN, 5AG4/CD/392, MAE, Centre d’Analyse et de Prévision, La „carte française“ dans la po-
litique soviétique: Orientation pour redéfinir des rapports franco-soviétiques, 14. Mai 1981.
 AN, 5AG4/CD/392, MAE, Centre d’Analyse et de Prévision, La „carte française“ dans la po-
litique soviétique: Orientation pour redéfinir des rapports franco-soviétiques, 14. Mai 1981.
 AN, 5AG4/CD/392, Denis Delbourg, Note pour le Ministre, Entretien avec M. Gromyko,
23. September [1981].
 AN, 5AG4/CD/392, Denis Delbourg, Note pour le Ministre, Entretien avec M. Gromyko,
23. September [1981].
2.3 …führt zu Misstrauen im Osten 141

tiven Effekte der Détente hervorhob: Demzufolge stellte diese eine Chance dar,
ideologisch auf den Ostblock einzuwirken und eine „Finnlandisierung“ der
westlichen Räume des sowjetischen Imperiums voranzutreiben.²¹⁶ Es zeigt sich
dadurch nicht nur, dass die Deutung der Détente ambivalent war, sondern dass es
innerhalb der französischen Institutionen verschiedene politische Strömungen
gab, die nationale Interessen unterschiedlich definierten und eine jeweils andere
Ausrichtung der französischen Außenpolitik privilegierten. Der Begriff „Détente“
fungierte dabei jeweils als eine Art kultureller Code, mit dem gewisse Assozia-
tionen aber nicht immer einheitliche Vorstellungen verbunden waren.
In den ersten Monaten fand eine Aushandlung über den neuen Kurs in der
Ostpolitik statt, der bei genauerem Hinsehen eigentlich wenig Veränderungen
aufwies, in der öffentlichen Wahrnehmung aber als Bruch mit der Sowjetpolitik
von Giscard d’Estaing empfunden wurde. Dass François Mitterrand eigentlich die
Zukunftserwartung hegte, langfristig eine Überwindung des Jalta-Systems errei-
chen zu können, wurde bereits mehrfach angeführt und von ihm auch bei seiner
ersten Pressekonferenz im Elysée am 24. September 1981 öffentlich erklärt: „je
souhaite le [sic] disparition simultanée des blocs militaires“²¹⁷. Auf der einen
Seite, die Überwindung der Blockkonfrontation vorantreiben zu wollen, auf der
anderen Seite aber die Erwartungen der Wählerschaft und Befürchtungen der
Verbündeten befrieden zu müssen, stellte die französische Ostpolitik vor eine
schwierige Herausforderung. Diese widersprüchliche Ausgangssituation hatte
dann auch ambivalente Handlungsimpulse zur Folge, die einerseits das Vertrauen
der Verbündeten sicherstellen und andererseits kein zu großes Misstrauen in
Moskau verursachen sollten. Dafür bediente sich der französische Präsident einer
Strategie bewusster Ambivalenz, bei der die sowjetische Verunsicherung wohl-
weislich in Kauf genommen aber gleichzeitig darauf geachtet wurde, den Ge-
sprächsfaden nicht abreißen zu lassen.
Durch Stellungnahmen in der Öffentlichkeit war es prinzipiell möglich, un-
terschiedliche Adressatenkreise gleichzeitig zu erreichen. Die atlantischen Part-
ner wurden durch vertrauensbildende Gesten und Rhetorik von französischer
Bündnistreue überzeugt. Die Verurteilung der aktuellen sowjetischen Politik be-
diente antisowjetische Tendenzen der französischen Öffentlichkeit. Durch öf-
fentliche Stellungnahmen ergab sich zudem die Möglichkeit, der sowjetischen
Führung vor einer Weltöffentlichkeit zu demonstrieren, dass sie die Détente unter

 AN, AG/5(4)/CD/392, handschriftliche Notiz an Hubert Vérdine an dem Dokument: MAE,
Centre d’Analyse et de Prévision, La „carte française“ dans la politique soviétique: Orientation
pour redéfinir des rapports franco-soviétiques, 14. Mai 1981.
 Conférence de presse du Président de la République (extraits), Palais de l’Elysée, 24. Sep-
tember 1981. In: La Politique Etrangère 1981 (September/Oktober), S. 31.
142 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

Giscard d’Estaing lange genug versucht hatte auszunutzen und in Zukunft mit
einer unnachgiebigeren Politik zu rechnen hatte. Bei seiner Reise in die USA, die
bereits im vorangegangenen Unterkapitel als gezielte Maßnahme der Vertrau-
ensbildung angeführt wurde, erklärte der Außenminister Claude Cheysson vor
amerikanischen Journalisten: „tant que les troupes soviétiques seraient en Af-
ghanistan, on ne saurait s’attendre à ce qu’il y ait des relations normales entre la
France et l’Union Soviétique“²¹⁸ Damit ordnete Cheysson die französisch-sowje-
tischen Beziehungen explizit der afghanischen Frage unter.²¹⁹ Konkret, wurde im
Quai d’Orsay festgestellt, drücke sich die Abkühlung der bilateralen Beziehungen
durch die Suspendierung von politischen Kontakten auf höchster diplomatischer
Ebene aus: Offizielle Besuche der Staatschefs und Außenminister waren bis auf
Weiteres nicht vorgesehen.²²⁰ Glaubt man Hubert Védrine, so war Mitterrand nicht
sehr erfreut darüber, dass sein Außenminister die französisch-sowjetischen Be-
ziehungen regelmäßig mit einer Lösung in Afghanistan verknüpfte,²²¹ da er dies
als Einschränkung des politischen Handlungsspielraums empfunden habe.²²²
Dies erscheint durchaus plausibel, da François Mitterrand selbst sorgsam darauf
achtete, sowohl in öffentlichen Stellungnahmen als auch in persönlichen Ge-
sprächen keine konkreten Bedingungen an eine Wiederaufnahme von Gipfel-
treffen zu knüpfen. Er selbst begnügte sich damit, die Sowjetunion in der Öf-
fentlichkeit für ihre Politik zu verurteilen. In dem bereits angeführten Interview im
Stern vom Juli 1981 beispielsweise machte Mitterrand die Sowjetunion für das
strategische Ungleichgewicht in Europa verantwortlich und bezeichnete ihr Vor-
gehen in Afghanistan als „expansionistische Operation“²²³, die die französische

 ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale,
Note, Relations franco-soviétique: Le contexte générale, 9. Juli 1981.
 ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Note pour le Directeur d’Europe, Réactions soviétiques à des
déclarations du Ministre, 11. Juni 1981.
 ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Note pour le Directeur d’Europe, Sous-Direction d’Europe
Orientale, Note, Relations de la RFA et de la France avec l’URSS, 14. Oktober 1981.
 Für Erklärungen von Claude Cheysson siehe u. a. ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction
d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Note, Relations franco-soviétique: Le contexte
générale, 9. Juli 1981; Conférence de presse de M. Claude Cheysson, Ministre des Relations ex-
térieures (extraits),Varsovie 9. Oktober 1981. In: La Politique Etrangère 1981 (September/Oktober),
S. 40; Discours de M. Claude Cheysson, Ministre des Relations extérieures devant l’Assemblé
Nationale, 18. November 1981. In: La Politique Etrangère 1981 (November/Dezember), S. 20; In-
terview accordée par M. Claude Cheysson, Ministre des Relations extérieures au journal „Le
Monde“, 2. Dezember 1981. In: La Politique Etrangère 1981 (November/Dezember), S. 45; Discours
prononcé par M. Claude Cheysson, Ministre des Relations extérieures, au Sénat (extraits), 2. De-
zember 1981. In: La Politique Etrangère 1981 (November/Dezember), S. 48.
 Védrine, Mondes, S. 238.
 Mitterrand, „Deutsch-französische Freundschaft“, S. 82.
2.3 …führt zu Misstrauen im Osten 143

Regierung in gleicher Weise verdamme, wie eine potentielle ausländische Ein-


mischung in Polen. Mit keinem Wort erwähnte er auch nur eine Kursänderung in
den französisch-sowjetischen Beziehungen, geschweige denn einen Abbruch di-
plomatischer Kontakte auf höchster Ebene. Zudem setzte er auch hier bereits
gezielt ambivalente Formulierungen ein, indem er bekräftigte, „daß die Sowjet-
union eine große Nation und die Russen ein großes Volk“²²⁴ seien. Stattdessen
bekannte sich Mitterrand in seiner ersten Pressekonferenz im Elysée dazu, dass
„la France veut entretenir [avec l’Union soviétique et les autres pays de l’Est] des
relations mutuellement profitables et conformes à l’histoire et la géographie.“²²⁵
Dies war immerhin so vage formuliert, dass jeder Empfänger dieser Botschaft
darin lesen konnte, was er wollte. Außerdem bezog Mitterrand bei dieser Gele-
genheit Stellung gegen die sowjetische Rüstung in Europa und sprach sich für
Verhandlungen aus.²²⁶ Mit radikalen Anschuldigungen hielt Mitterrand sich zu-
rück, sondern betonte, dass er Moskau keine aggressive respektive kriegerische
Haltung unterstelle. Er wolle lediglich der Schaffung eines Kräfteverhältnisses
entgegenwirken, aus dem in Zukunft ein Krieg entspringen könnte. Aus diesem
Grund sei er durch die massive Aufstellung von SS-20-Raketen alarmiert.²²⁷
Im Grunde bediente sich François Mitterrand in seiner ersten Pressekonferenz
im Elysée in Hinblick auf die französisch-sowjetischen Beziehungen einer ähn-
lichen Strategie wie sie bereits in Bezug auf die französisch-amerikanischen Be-
ziehungen herausgearbeitet wurde: Er benannte Punkte, die er an der Haltung
Moskaus kritisierte und leugnete diese nicht: Es sei normal, dass ihm die auf
Westeuropa zielenden SS-20 kein Vergnügen bereiteten. Allerdings sprach er in
keiner Weise von einer Abkühlung der Beziehungen, sondern betonte vielmehr,
dass die Sitzung der Grande Commission im Dezember, bei der es um den fran-
zösisch-sowjetischen Handel gehen würde, wie gewohnt stattfinden werde. Au-
ßerdem setze Paris sein Engagement fort und freue sich über jeden Meinungs-
austausch, der dazu diene, die Qualität der Beziehungen sicherzustellen und
ernsthaft über Friedensbedingungen zu diskutieren.²²⁸ Es sei eben auch normal
das man miteinander spreche. Mitterrand gründete die französischen Außenbe-

 Mitterrand, „Deutsch-französische Freundschaft“, S. 82.


 Conférence de presse du Président de la République (extraits), Palais de l’Elysée, 24. Sep-
tember 1981. In: La Politique Etrangère 1981 (September/Oktober), S. 28.
 Conférence de presse du Président de la République (extraits), Palais de l’Elysée, 24. Sep-
tember 1981. In: La Politique Etrangère 1981 (September/Oktober), S. 28.
 Conférence de presse du Président de la République (extraits), Palais de l’Elysée, 24. Sep-
tember 1981. In: La Politique Etrangère 1981 (September/Oktober), S. 31.
 Conférence de presse du Président de la République (extraits), Palais de l’Elysée, 24. Sep-
tember 1981. In: La Politique Etrangère 1981 (September/Oktober), S. 32.
144 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

ziehungen auf völliger Souveränität und politischer Unabhängigkeit, da er weder


von sowjetischer noch amerikanischer Seite eine Einschränkung der französi-
schen Außenpolitik akzeptierte. Dadurch spielte er den Eindruck herunter, den
gewohnten Rhythmus der französisch-sowjetischen Beziehungen zu unterbre-
chen. Stattdessen präsentierte er den Umstand, vorerst nicht persönlich mit der
sowjetischen Führung zu sprechen, als selbstverständlich und in keiner Weise
ungewöhnlich. Dieser Befund steht anderen Signalen diametral gegenüber: Der
Verzicht auf Gipfeltreffen sowie der Austausch des französischen Botschafters in
Moskau Ende 1981 verdeutlichten auf der symbolischen Ebene sehr wohl einen
Bruch mit der Sowjetpolitik von Giscard d’Estaing. Es steht zu vermuten, dass
diese nun bereits mehrfach hervorgehobene Ambivalenz von Mitterrands öffent-
lichen Stellungnahmen sehr wohl kalkuliert war. Zudem fällt auf, dass er deutlich
zwischen der sowjetischen Politik, die er bisweilen je nach Kontext sehr scharf
kritisiert, und der Sowjetunion als Nation beziehungsweise dem russischen Volk
differenzierte, die er mit respektvollen Äußerungen bedachte. Zwar könnte man
dies als politische Unentschlossenheit auslegen. Plausibler dagegen ist allerdings
eher die Annahme, dass die Ambivalenz seiner Äußerungen kalkuliert war, um
dem engen politischen Handlungsspielraum und den unterschiedlichen Erwar-
tungen gerecht zu werden, die ihm von verschiedenen Seiten entgegengebracht
wurden.
Die Absichten von Mitterrands équipe, in den ersten Wochen gezielte Ver-
trauensbildung Richtung Westen zu betreiben, um den Zusammenhalt des west-
lichen Bündnisses zu stärken, verursachten Misstrauen im Osten. Zunächst lässt
sich eine kurze Phase der Verunsicherung konstatieren, die sich in Argwohn und
anschließend offenes Misstrauen und Kritik steigerte. Eine deutliche Verunsi-
cherung der sowjetischen Führung über den Kurs der französischen Außenpolitik
nach der Präsidentschaftswahl las man im Quai d’Orsay in einer persönlichen
Nachricht von Leonid Breschnew an François Mitterrand und vorsichtigen Kom-
mentaren in der staatlich gelenkten sowjetischen Presse. Davon wurde die Er-
kenntnis abgeleitet, dass das französische Auftreten der kommenden Wochen in
Moskau unweigerlich als Zeichen einer grundsätzlichen französischen Orientie-
rung interpretiert werden würde. Entweder werde die sowjetische Führung darin
ein Festhalten an der bisherigen Praxis oder aber im Gegenteil ein Infragestellen
der etablierten französisch-sowjetischen Beziehungen lesen.²²⁹ Die Abteilung
Osteuropa des Quai d’Orsay empfahl, zu einem Zeitpunkt, als der Aushand-
lungsprozess über die künftige Ausrichtung der Außenpolitik innerhalb der

 ADMAE, 1930-INVA 5690, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Fi-
che, URSS, 22. Mai 1981.
2.3 …führt zu Misstrauen im Osten 145

französischen Administration gerade begonnen hatte, die Möglichkeit zu Treffen


auf verschiedenen politischen Ebenen zu prüfen. Die verschiedenen Überlegun-
gen zeigen, dass im Außenministerium über die Fremdwahrnehmung der künf-
tigen französischen Außenpolitik reflektiert wurde. Auf diese Art und Weise
wurden Fremdwahrnehmungen sowie davon abgeleitete mögliche sowjetische
Reaktionen in den Entscheidungs- und Aushandlungsprozess mit einbezogen.
Dies hebt nicht nur abermals den Zusammenhang von Wahrnehmen und Handeln
hervor. Vielmehr zeigt die Analyse, dass die équipe Mitterrand ihr politisches
Verständnis darauf gründete sowie Erwartungen erforschte und unterstellte, um
überhaupt handlungsfähig zu sein.
Die sowjetische Führung versuchte in einer doppelten Kommunikations-
strategie, Einfluss auf den Aushandlungsprozess über eine Neuausrichtung der
französisch-sowjetischen Beziehungen zu nehmen. In ihrer Strategie kombinierte
sie eine Kommunikation über zwei verschiedene Kanäle: Kritik an der französi-
schen Politik wurde zum einen weniger über öffentliche Stellungnahmen von
hohen sowjetischen Funktionären als vielmehr über die staatlich gelenkte Presse
lanciert. Zum andern wurde in persönlichen Gesprächen immer wieder versucht,
eine Rückkehr zu den privilegierten Beziehungen zu erreichen. Ersteres war bei-
spielsweise der Fall, als die Erklärungen von Claude Cheysson in Artikeln der
sowjetischen Presse als Beitrag zu einer Verschärfung des Wettrüstens diffamiert
wurden. Die außenpolitische Orientierung der französischen Regierung charak-
terisierte sie als ein „allignement croissant sur Washington“²³⁰. Ende 1981 kon-
statierte der französische Botschafter in Moskau Henri Froment-Meurice eine sehr
kritische Haltung der sowjetischen Presse gegenüber der französischen Außen-
politik, die als dezidiert atlantisch beurteilt wurde.²³¹ Je deutlicher die Unter-
stützung wurde, die François Mitterrand und Regierungsvertreter dem NATO-
Doppelbeschluss entgegenbrachten, umso häufiger meldeten Diplomaten im
Quai d’Orsay kritische Kommentare in der sowjetischen Presse, die zu Beginn 1982
nicht mehr nur als Argwohn, sondern unverhohlene Kritik gedeutet wurden.
Besonders scharf kritisiert wurde zwar der scheinbare „atlantisme“ der sozialis-
tischen Regierung. Aber auch die Abschwächung der politischen Kontakte wurde
bemängelt, die nicht einfach durch wirtschaftlichen Austausch zu ersetzen sei-

 ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, La
presse soviétique et les déclarations du Ministre, 8. September 1981.
 ADMAE, 1930-INVA 5690, TD Moscou 1831, Articles de la Pravda et de Temps Nouveau sur la
France, 22. Dezember 1981.
146 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

en.²³² Daraus ergab sich ein umfassend negatives Bild Frankreichs in der medialen
Berichterstattung der Sowjetunion.
Regelmäßig reflektierte das Außenministerium die französisch-sowjetischen
Beziehungen der vergangenen Monate. Circa ein Jahr nach Mitterrands Amtsan-
tritt, wurde festgestellt, dass der Kontext der Beziehungen durch die sowjetische
Invasion in Afghanistan beeinträchtigt sei. Hier schloss sich die Abteilung Europa
des Außenministeriums offenbar voll und ganz der Sichtweise des Ministers an.
Insgesamt aber war sie sich darüber bewusst, dass die entscheidenden Rädchen
der französisch-sowjetischen Kooperation auch weiterhin ungebrochen funktio-
nierten. Auch der politische Dialog sei trotz des Verzichts auf Staatsbesuche nicht
unterbrochen. Die Sowjetunion befinde sich nun, da sie eine Revision der fran-
zösischen Außenpolitik erreichen wolle, in der Rolle eines Bittstellers. Dreierlei
Gefühle wurden der sowjetischen Führung dabei zugeschrieben: große Verunsi-
cherung, Angst und Misstrauen.²³³
Ab dem Frühjahr 1982 ging der Kreml von Misstrauen und Kritik in der Öf-
fentlichkeit zu einer offensiveren Strategie über, indem er in den Massenmedien
eine Kampagne gegen die französischen Atomarsenale lancierte. An früherer
Stelle wurde bereits darauf verwiesen, dass dadurch der Druck auf Paris erhöht
wurde, da diese Forderungen die Friedensbewegung instrumentalisieren und eine
Spaltung der Alliierten bewirken sollte. Ähnlich wie die öffentlichen Stellung-
nahmen französischer Entscheidungsträger, richteten sich also auch die Kom-
mentare der sowjetischen Presse an mehrere Adressatenkreise. Zwar wurde durch
den Druck auch versucht, eine Rückkehr zu den französisch-sowjetischen Be-
ziehungen vor 1981 zu erwirken. Darüber hinaus aber sollte die französische
Politik – und die des westlichen Bündnisses insgesamt – als Feldzug gegen die
Sowjetunion diffamiert und für den Rüstungswettlauf verantwortlich gemacht
werden. Adressat dieser Kampagne waren auch die westlichen Öffentlichkeiten,
um sie für die sowjetische Strategie zu instrumentalisieren. Ab März 1982 wurden
die sowjetischen Forderungen intensiviert, die französischen Atomarsenale in
den Genfer Verhandlungen zumindest indirekt in Rechnung zu stellen.²³⁴ Über
das Jahr 1983 wurde die Intensität der Kampagne für die entscheidende Phase in
der Euroraketenkrise noch gesteigert.²³⁵

 ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale,
Note, Bilan de l’image de la France depuis les élections dans la presse soviétique, 28. Januar 1982.
 ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale,
Note, Relations franco-soviétiques au premier semestre, 19. April 1982.
 Siehe z. B. ADMAE, 1930-INVA 5642, MRE, TD Moscou 387, Négociations de Genève sur les
F.N.I.: Inclusion des „forces tierces“, 12. März 1982.
 Siehe dazu insgesamt ADMAE, 1930-INVA 5642.
2.3 …führt zu Misstrauen im Osten 147

Im Grunde wurde das sowjetische Misstrauen durch François Mitterrand und


die anderen politischen Entscheidungsträger bewusst in Kauf genommen. Die
Reflexionen in den Abteilungen des Außenministeriums verdeutlichen, dass es
durchaus wahrgenommen wurde. Allerdings führte diese Tatsache nicht dazu, die
Ausrichtung der französischen Außenpolitik zu überdenken und Vertrauensbil-
dung in Moskau zu betreiben. Vielmehr diente die in der Presse als unnachgiebig
inszenierte Politik insgesamt der Stärkung des westlichen Zusammenhalts.
Scheinbar hatte sich jene Strömung durchgesetzt, die die Fortsetzung der Ent-
spannungspolitik als Risiko beurteilte. Da François Mitterrand einerseits die
Wiederherstellung eines strategischen Gleichgewichts als Grundvoraussetzung
für eine Annäherung der Blöcke beurteilte und andererseits im Wahlkampf ge-
wisse Erwartungen an eine unnachgiebige Sowjetpolitik bedient und bestärkt
hatte, nahm er dieses Misstrauen der sowjetischen Führung hin. Darüber hinaus
lässt eine Note von Hubert Védrine an den Generalsekretär des Elysée Pierre
Bérégovoy darauf schließen, dass diese Politik noch eine weitere Funktion er-
füllen sollte: Darin schlug er im Dezember 1981 vor, die internationale Situation
auszunutzen, um eine politische Geste in Hinblick auf Polen oder Afghanistan zu
unternehmen. Die Situation beurteilte er als besonders günstig, da die Grande
Commission, der Paris ein sehr großes Interesse entgegengebracht hatte,²³⁶ bereits
stattgefunden habe. Eine kompromisslose Politik zum jetzigen Zeitpunkt, so
Védrine, würde sie in eine gute Ausgangslage versetzen, zum rechten Zeitpunkt
eine Geste der „bonne volont铲³⁷ zu unternehmen. Die Unnachgiebigkeit erfüllte
neben den bereits genannten Aspekten also auch die Funktion, die empfundene
Asymmetrie im französisch-sowjetischen Verhältnis auszugleichen, um den
französischen Handlungsspielraum in der Zukunft zu vergrößern.
Grundsätzlich gilt es, die Kommunikation über die Öffentlichkeit kategorisch
von bilateralen Kontakten zu trennen, da sie sich nicht nur an einen größeren

 Die französische Wirtschaft befand sich in einer schwierigen Situation. Paris hatte großes
Interesse an einer Entwicklung der Handelsbeziehungen mit der Sowjetunion. Nachdem diese an
der Schwelle zu den 1980er Jahren einen Aufschwung erfahren hatten, machte sich aufgrund
stagnierender Exporte 1981/1982 ein französisches Außenhandelsdefizit bemerkbar, das die
französische Regierung auszugleichen suchte; siehe dazu u. a. AN, 5AG4/CD/392, Présidence de la
République, Jean-Michel Gaillard, Note pour Monsieur Bérégovoy, Votre entretien avec Froment-
Meurice, 25. August 1981; ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction
d’Europe Orientale, Note, Relations franco-soviétiques, 22. November 1982; Das Treffen der
Grande Commission, in der Gespräche über Wirtschaftsbeziehungen institutionalisiert worden
waren, sollte daher unter anderem dazu dienen, das französische Außenhandelsdefizit gegen-
über der Sowjetunion zu minimieren.
 AN, 5AG4/CD/392, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour Monsieur Bérégovoy, URSS, Résistance afghane, Pologne, 17. Dezember 1981.
148 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

Adressatenkreis richtete, sondern, wie die Untersuchungen zeigen, auch ver-


schiedene Funktionen erfüllte. Darüber hinaus ist die zeitgenössische Deutung
der französischen Politik unabdingbar für das Verständnis von Mitterrands Poli-
tik. Die französischen Stellungnahmen wurden in der sowjetischen Presse als
Politikwechsel ausgelegt und diffamiert, ohne Zwischentöne zu berücksichtigen,
wie beispielsweise Mitterrands ambivalente Stellungnahmen zur großen sowje-
tischen Nation und dem russischen Volk. Die sowjetische Sinnzuschreibung be-
ruhte auf nur einer Facette der französischen Politik und hatte neben anderen
Faktoren Anteil daran, dass die französische Außenpolitik nach 1981 als eine
atlantische Wende wahrgenommen wurde. Zugleich muss die Presse und mas-
senmediale Öffentlichkeit also nicht nur als Kommunikationsmedium, sondern
auch als Akteur einer solchen Konstruktion berücksichtigt werden. Auf diese Art
und Weise wird verständlich, wie die Interpretation und Darstellung der franzö-
sischen Politik in den Massenmedien die öffentliche Wahrnehmung beeinflussten
und wie das Bild des Atlantikers François Mitterrand in den öffentlichen Diskurs
und darüber hinaus in die Historiographie einging.²³⁸
François Mitterrand hatte nicht vor, die Suspendierung von Staatsbesuchen
zu einem außenpolitischen Dogma zu machen, indem er präzise Bedingungen an
ihre Wiederaufnahme geknüpft hätte. Er achtete vielmehr darauf, verschiedene
Informationskanäle mit den Sowjets und hier insbesondere regelmäßige Treffen
mit dem sowjetischen Botschafter Stepan Tscherwonenko zu erhalten. Den Ein-
ladungen nach Moskau, die der sowjetische Botschafter regelmäßig übermittelte,
wich Mitterrand beharrlich aus, indem er es nicht kategorisch ausschloss, son-
dern stets auf einen späteren Zeitpunkt vertröstete.²³⁹ Insbesondere im Bereich der
wirtschaftlichen Beziehungen wurden die Kontakte intensiv fortgesetzt, da das
Außenhandelsdefizit gegenüber der Sowjetunion der französischen Wirtschaft
Probleme bereitete. Darüber hinaus erfüllte wirtschaftlicher Austausch Roland
Dumas zufolge für François Mitterrand auch eine politische Funktion. Er habe ihn
anders als die amerikanische Administration auch als diplomatisches Instrument
gesehen, mit Verhandlungen über Handel nützliche Kontakte zwischen Völkern
herzustellen. Dem lag die Vorstellung zugrunde, mit wechselseitigen Interessen
an einem Ausgleich womöglich autoritäre Regime unterlaufen zu können. Aus
diesem Grund seien auch die regelmäßigen Treffen zwischen den Ministern für
Industrie und Außenhandel fortgesetzt worden.²⁴⁰ Die amerikanische Sankti-
onspolitik wurde entschieden abgelehnt, da diese also weder den politischen

 Vgl. z. B. Gordon, Certain Idea.


 Védrine, Mondes, S. 238 f.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 179.
2.3 …führt zu Misstrauen im Osten 149

noch den wirtschaftlichen Interessen der Regierung um François Mitterrand


entsprach.²⁴¹ Dies bestätigt die These, dass sich Mitterrands Verständnis von
Détente dezidiert von dem der amerikanischen Administration um Ronald Reagan
unterschied. Aber nicht nur im Bereich der Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und
Technologie wurden die Kontakte zwischen französischen und sowjetischen
Funktionären und Diplomaten fortgesetzt.²⁴² Auch der politische Dialog war un-
terhalb der Ebene der Staatschefs ungebrochen und wurde über mehrere Kanäle
fortgesetzt.²⁴³ Obwohl keine wechselseitigen Besuche der Außenminister statt-
fanden, so trafen sich diese doch regelmäßig zu Gesprächen am Rande der UN-
Vollversammlung in New York. Durch den neutraleren Boden kam diesen Ge-
sprächen ein anderer symbolischer Gehalt zu: Sie signalisierten der sowjetischen
Führung einerseits, dass der gewohnte bilaterale Rhythmus aus dem Takt geraten
und Paris nicht bereit war, sich für sowjetische Spaltungsversuche instrumenta-
lisieren zu lassen. Andererseits aber boten diese Kontakte dennoch die Mög-
lichkeit, politische Konsultationen zu gewissen Themen wie Afrika, dem Nahen
Osten, den Vereinten Nationen oder der KSZE fortzusetzen.²⁴⁴ Als Denis Delbourg
Cheyssons Treffen mit Andrej Gromyko im Herbst 1981 vorbereitete, rechnete
dieser damit, dass der sowjetische Außenminister versuchen würde, Cheysson in
ein Dilemma zu drängen. Er unterstellte Gromyko die Absicht, eine französische
Distanzierung von Washington zu erwirken, damit Cheysson dadurch im Um-
kehrschluss die sowjetische Haltung anerkenne. Eine Bestätigung der amerika-
nischen Position würde er dagegen nutzen, um Druck auf die französischen Ar-
senale auszuüben. Delbourg empfahl daher, jede Hoffnung auf eine sowjetische
Instrumentalisierung zu Nichte zu machen und auf die politische Entschei-
dungsfreiheit Frankreichs zu bestehen.²⁴⁵ Die französische Unabhängigkeit wurde
zum Ausweg aus der heiklen Situation, sich zum Handlanger des einen oder
anderen Lagers machen zu lassen.
Darüber hinaus wurden sowjetische Delegationen durch die Sozialistische
Partei in Paris empfangen und französische Angeordnete sowie höhere Funktio-
näre des Außenministeriums reisten in die Sowjetunion. Vadim Zagladin bei-

 ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale,
Note, Relations franco-soviétiques, 22. November 1982.
 ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Fiche pour le Directeur des Affaires Africaines et Malgaches,
29. April 1982.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 176.
 Siehe z. B. ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe
Orientale, Fiche, Relations franco-soviétiques, 28. Juni 1982.
 AN, 5AG4/CD/392, Denis Delbourg, Note pour le Ministre, Entretien avec M. Gromyko,
23. September [1981].
150 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

spielsweise berichtete bei einer wissenschaftlichen Konferenz, selbst Zeuge einer


Intensivierung der Kontakte auf dem Niveau von Parlament und Parteien gewesen
zu sein. Bei einem seiner informellen Begegnungen mit François Mitterrand habe
dieser ihn auf die gegenwärtig schwierige Situation hingewiesen und gewarnt,
nicht alles so zu betrachten, wie es durch das Prisma in der Öffentlichkeit und
Presse erscheinen möge, da die öffentliche Meinung variiere und nicht immer der
Realität entspreche.²⁴⁶ Jenseits von offiziellen Kontakten halfen informelle Treffen
dabei, die gegenseitigen Positionen auszuloten und Informationen zu übermit-
teln, die keinen offiziellen Status einnehmen sollten.²⁴⁷ Mitterrands Kommentar
deutet zudem darauf hin, dass das Bild der französisch-sowjetischen Beziehun-
gen in der Öffentlichkeit keineswegs dem effektiven Rhythmus der Kontakte
entsprach. Entgegen der Äußerungen von Außenminister Claude Cheysson am
6. Juni 1981, dass die französisch-sowjetischen Beziehungen nicht „normal“
fortgesetzt würden, solange sich sowjetische Truppen in Afghanistan befänden,
stellte das Außenministerium in zahlreichen Noten Gegenteiliges fest: Die Ko-
operation wurde wie gewohnt fortgesetzt und auch die politischen Kontakte be-
standen abgesehen von den Gipfeltreffen fort.²⁴⁸
Neben der Funktion, die Gipfelgespräche durch Kontakte auf tieferen Ebenen
zu kompensieren, lassen sich weitere Intentionen herausarbeiten, die sowohl die
sowjetische als auch die französische Seite den Beziehungen entgegenbrachte.
Insbesondere inoffizielle Treffen wurden durch die sowjetischen Gesprächspart-
ner nach der Wahl genutzt, um Beunruhigung über außenpolitische Prioritäten
nach der Präsidentschaftswahl zu äußern und mal sanftere mal offensivere Ver-
suche zu unternehmen, den Kurs der französischen Außenpolitik zu beeinflussen.
Nur wenige Tage nach Cheyssons Erklärung vom 6. Juni 1981 nutzten sowjetische
Diplomaten die Gelegenheit, den stellvertretenden Leiter der Osteuropa-Abteilung
Jean-Pierre Masset am Rande eines Empfangs in der sowjetischen Botschaft
darauf anzusprechen. Zunächst äußerten sie Überraschung und Besorgnis über
die Erklärung des französischen Außenministers, die dieser, um die Brüskierung
auf die Spitze zu treiben, noch dazu auf amerikanischem Territorium gehalten
hatte. In Moskau habe man zur Kenntnis genommen, dass die neue französische
Regierung ihre Politik zu zahlreichen Fragen definiere, die Kooperation mit der
Sowjetunion bisher aber beflissentlich ignoriert habe. Nicht misszuverstehen war

 Zagladin,Vadim: Wortbeitrag in Débat. In: Berstein [u. a.] (Hrsg.), François Mitterrand, S. 313.
 Zagladin, Débat, S. 313.
 Siehe zu den absolvierten und geplanten Kontakten im Bereich der politischen Beziehungen
auf verschiedenen Niveaus: ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction
d’Europe Orientale, Note, Relations franco-soviétiques au premier trimestre 1982, 19. April 1982;
Dumas, Affaires étrangères, S. 176; Grosser, Serrer le jeu, S. 272.
2.3 …führt zu Misstrauen im Osten 151

zudem die latente Drohung, dass die Errungenschaften einer 15 Jahre währenden
Kooperation leicht zunichte zu machen seien.²⁴⁹ Wenn die sowjetischen Diplo-
maten auch nicht, wie intendiert, Einfluss auf die Definition der französischen
Außenpolitik nehmen konnten, so erreichten sie doch immerhin, dass der fran-
zösische Außenminister sich intern für seine Äußerungen rechtfertigte: Die In-
halte dieses inoffiziellen Gesprächs wurden zunächst an den Minister und im
Anschluss daran an die Berater der Präsidenten weitergegeben.²⁵⁰ Cheysson
versah die Note über das Gespräch mit erklärenden Randbemerkungen. Dass er
die französische-sowjetischen Beziehungen als nicht „normal“ qualifiziert habe,
entspreche der Wahrheit, dies, so Cheysson, habe er auch dem Botschafter per-
sönlich mitgeteilt. Dass er die Rückkehr zum gewohnten Rhythmus der Regelung
der afghanischen Frage unterordne, gehe allerdings weiter als seine tatsächliche
Stellungnahme. Entschiedenen Protest erhob der Außenminister gegen die Be-
hauptung, er habe sich dezidiert auf die traditionellen Treffen des Präsidenten mit
Breschnew bezogen. Darüber habe er ebenso wenig ein Wort verloren, wie er auch
Gromykos Einladung in die Sowjetunion nicht explizit ausgeschlagen habe.²⁵¹
Offizielle und institutionelle Treffen wurden von sowjetischen Diplomaten
ebenfalls dazu genutzt, in den ersten Monaten nach Mitterrands Amtsantritt eine
Revision der französisch-sowjetischen Beziehungen zu erreichen. Beispielsweise
drang der sowjetische Botschaftsangehörige Afanassjew in einem Gespräch mit
dem Präsidentenberater Hubert Védrine darauf, dass es keinen Grund gäbe, nicht
bald die Kontakte auf höchster Ebene zwischen den Staatschefs fortzusetzen.
Außerdem setzte er sich für eine Audienz des sowjetischen Botschafters beim
Präsidenten ein.²⁵² Dieser akzeptierte die von Védrine an ihn herangetragene
Erwartung des sowjetischen Botschafters am 25. Juni 1981.²⁵³ Bei einem Treffen mit
dem Direktor für politische Angelegenheiten Jacques Andréani versuchte Stepan
Tscherwonenko am 20. Oktober 1981 ebenfalls, die Position der neuen Regierung
zu sondieren und Einfluss auf den Aushandlungsprozess in Paris zu nehmen:

 ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Note
pour le Directeur d’Europe, Réactions soviétiques à des déclarations du Ministre, 11. Juni 1981.
 AG/5(4)/CD/392, MAE, Le Cabinet du Ministre, Denis Delbourg, Note pour M. Scheer, 11. Juni
1981.
 AN, AG/5(4)/CD/392, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Réactions
soviétiques à des déclarations du Ministre, 11. Juni 1981.
 AN, AG/5(4)/CD/392, Présidence de la République, Hubert Védrine, Note pour Monsieur
Bérégovoy, 22. Juni 1981.
 AN, AG/5(4)/CD/392, Présidence de la République, Hubert Védrine, Note pour le Président de
la République, 25. Juni 1981.
152 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

Dabei drückte der Botschafter die sowjetische Hoffnung aus, die bilateralen Be-
ziehungen weiterzuentwickeln. Ohne die anderen Facetten minimieren zu wollen,
so bleibe doch der politische Dialog die Achse der Kooperation zwischen der
Sowjetunion und Frankreich, bemerkte er. In dem Gespräch antwortete Andréani
ganz in der Manier Mitterrands ausweichend, indem er zwar Interesse am poli-
tischen Dialog bekundete aber gleichzeitig darauf verwies, dass die französisch-
sowjetischen Beziehungen selbstverständlich nicht vom internationalen Kontext
isoliert werden könnten.²⁵⁴
Die genannten Beispiele machen deutlich, dass die sowjetische Führung
sowohl auf inoffiziellem Weg als auch bei institutionalisierten, offiziellen Kon-
takten auf der Ebene der Botschafter und politischen Direktoren danach strebte,
den Beziehungen ihren einstigen Status zurückzugeben. Die französischen Ge-
sprächspartner nutzten dadurch die Möglichkeit, einerseits weiterhin Interesse
am wechselseitigen Dialog zu signalisieren und auf diese Art und Weise den öf-
fentlichen Kurs gewissermaßen zu relativieren. Andererseits wurde Moskau so
zugleich auf Abstand gehalten, indem man in den Gesprächen an der öffentlichen
Distanzierung von Gipfelgesprächen festhielt. Außerdem wurde die Bedeutung
der persönlichen Kontakte durch den Wegfall der Gipfeltreffen zugleich auf untere
Ebenen verlagert. Persönliche Gespräche jenseits der Öffentlichkeit zeichneten
sich also im Kontext der französisch-sowjetischen Beziehungen durch unter-
schiedliche Funktionen aus: In vertraulicherem Rahmen konnten sanfte Kritik
und Beeinflussungsversuche unternommen oder aber die harte Linie in der Öf-
fentlichkeit abgeschwächt werden. Die diplomatischen Kontakte dienten zudem
als Wegbereiter von Gesprächen auf höheren politischen Ebenen. Standpunkte zu
politischen Fragen wurden ergründet, um zu erfahren, über welche Themen Ge-
spräche auf höheren Ebenen interessant und sinnvoll sein könnten.²⁵⁵ Ihre
Funktion bestand darüber hinaus darin, die Fühler sanft nach einer Veränderung
im politischen Kurs auszustrecken und den Kontakt so lange auf unteren Ebenen
zu halten, bis man ihn wieder auf höheren Niveaus fortsetzte.
Dafür war der Meinungsaustausch als weitere Funktion dieser Gespräche von
entscheidender Bedeutung, für den beispielsweise der Chef des Centre d’Analyse

 AN, AG/5(4)/CD/392, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, JPM
[Jean-Pierre Masset], Note, Entretien du Directeur des Affaires Politiques avec M. Tchervonenko,
21. Oktober 1981.
 In seinem Bericht circa ein Jahr nach seiner Amtsübernahme gab der französische Bot-
schafter Claude Arnaud Empfehlungen für Themen, bei denen sich ein Meinungsaustausch mit
der Sowjetunion lohnen könnte; ADMAE, 1930-INVA 5690, Ambassade de France en URSS, Claude
Arnaud, Ambassadeur de France en URSS à S. Exc. Claude Cheysson, Ministre des Relations
extérieures, 22. September 1982.
2.3 …führt zu Misstrauen im Osten 153

et de Prévision Jean-Louis Gergorin nach Moskau reiste. Die Neubesetzung des


französischen Botschafterpostens in Moskau durch Claude Arnaud wurde zum
Anlass für Treffen mit verschiedenen Funktionären der sowjetischen Führungs-
spitze genommen.²⁵⁶ Auf diese Art und Weise stellte das Außenministerium ein
Jahr nach Mitterrands Amtsantritt fest, dass die Sowjets nach einer Phase der
kritischen Beobachtung der französischen Außenpolitik zu der Überzeugung ge-
langt seien, dass es sich nunmehr um eine dauerhafte Abschwächung der Be-
ziehungen handle.²⁵⁷ Mitte Juni stellte Denis Delbourg außerdem fest, dass das
Treffen zwischen Gromyko und Cheysson am 10. Juni 1982 von einem neuen Ton
gekennzeichnet gewesen sei. Der sowjetische Außenminister habe nicht mehr
versucht, die Ambivalenz der französischen Außenpolitik zu bemängeln oder auf
die Tradition und historische Legitimität der französisch-sowjetischen Bezie-
hungen zu bestehen. Daraus schloss Delbourg, dass die französische Unnach-
giebigkeit Früchte getragen habe, weil Moskau die Politik nach dem 10. Mai 1981
inzwischen offenbar als verbindlich betrachte. Er gab sich indes keinen Illusionen
hin, denn auch wenn der Ton zwar verändert sei, so war ihm doch bewusst, dass
die essentiellen Ziele Moskaus dahinter noch die gleichen waren.²⁵⁸
In seinem ersten Jahresbericht, nachdem er die Funktion des französischen
Botschafters in Moskau angetreten hatte, empfahl Claude Arnaud im September
1982 die Wiederaufnahme des jährlichen Meinungsaustausches auf hoher diplo-
matischer Ebene, der 1981 ausgesetzt worden war, und nannte als potentielle
Gesprächsthemen den Mittleren Osten, die Vereinten Nationen sowie die Ost-
West-Beziehungen. Er setzte sich für ein Treffen der beiden Außenminister ent-
weder in Paris oder Moskau ein, da dies einen intensiveren Dialog als in New York
ermöglichen würde. Außerdem machte er sich dafür stark, Initiative zu ergreifen,
sobald ein potentieller Nachfolger für Breschnew feststehe, um diesen nach Paris
einzuladen, da er als weniger verantwortlich für Polen oder Afghanistan be-
trachtet werden könne.Von diesem Moment an, so Arnaud, sollten die politischen
Kontakte nicht nur auf Ebene der Botschaften, sondern auch auf der der Minis-
terien fortgesetzt werden.²⁵⁹ Als Jurij Andropow als Nachfolger feststand, nutzten

 ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale,
Note, Relations franco-soviétiques au premier semestre, 19. April 1982.
 ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Fiche pour le Directeur des Affaires Africaines et Malgaches,
29. April 1982.
 ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Cabinet du Ministre, Le Conseiller technique, Denis Del-
bourg, 16. Juni 1982.
 ADMAE, 1930-INVA 5690, République française, Ambassade de France en URSS, Claude
Arnaud, Ambassadeur de France en URSS à S. Exc. Claude Cheysson, Ministre des Relations
extérieures, 22. September 1982.
154 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

sowjetische Diplomaten persönliche Gespräche mit französischen Repräsentan-


ten zur Informationsvermittlung. Der Geschäftsträger der sowjetischen Botschaft
Afanassjew machte dem stellvertretenden Leiter der Osteuropaabteilung deutlich,
dass die neue sowjetische Führung, die internationale Situation verbessern wolle.
Aus diesem Grund sei sie sehr an einem Besuch des Außenministers interessiert,
für den kein Gesprächsthema a priori ausgeschlossen wurde.²⁶⁰ Dieses Anliegen
wurde zur Jahreswende gleich über mehrere Kommunikationskanäle übermittelt.
Eine mündliche Nachricht mit geheimen Informationen zu den Ost-West-Bezie-
hungen, die Mitterrand am 27. Dezember 1982 von dem sowjetischen Botschafter
übermittelt worden sein soll, diente wohl ebenfalls dazu, die Vertrauenswürdig-
keit der neuen Führung zu demonstrieren.²⁶¹
Weder Arnauds Ratschläge noch die Avancen der neuen sowjetischen Füh-
rung dürften zu der Entscheidung geführt haben, den französischen Außenmi-
nister entgegen der französischen Unnachgiebigkeit zu diplomatischen Konsul-
tationen in die Sowjetunion zu schicken. Aber trotz oder gerade wegen des neuen
Höhepunktes der Ost-West-Spannungen im Jahr 1983 reiste der französische Au-
ßenminister Claude Cheysson vom 16. bis zum 22. Februar 1983 erstmals wieder
nach Moskau. Dies mag zunächst überraschen und als Widerspruch zu Mitter-
rands rigider Politik gesehen werden. Geht man dagegen davon aus, dass Mitt-
errand die französisch-sowjetischen Beziehungen keinerlei Dogma unterstellte,
sondern flexibel je nach politischem Kontext reagierte, dringt man zu einem
Verständnis dieses Besuches vor. Der Kontext der Jahreswende 1982/1983 legt es
nahe, Cheyssons Moskau-Reise als Antwort auf die bereits angeführte sowjetische
Pressekampagne gegen die französischen und britischen Nuklearstreitkräfte zu
interpretieren. Das Arbeitspapier für die Gespräche in Moskau verdeutlicht, wel-
chen Zweck diese Reise erfüllen sollte. Hinlänglich bekannt waren erstens das
Insistieren auf einem globalen Kräftegleichgewicht zwischen den USA und der
Sowjetunion, das zweitens bevorzugt durch Verhandlungen notfalls aber auch
durch eine westliche Nachrüstung wiederhergestellt werden sollte. Deshalb
rechtfertigen diese Punkte noch nicht, warum die französische Führung plötzlich
dazu bereit war, den Außenminister nach Moskau zu schicken. Zentral war daher
wohl drittens die Botschaft, dass eine Berücksichtigung der französischen
Streitkräfte in den Verhandlungen ausgeschlossen wurde. Dafür berief sich

 ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Note pour le Cabinet, Entretien avec le
chargé d’affaires soviétiques, 7. Januar 1983.
 ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Note pour le Cabinet, Entretien avec le
chargé d’affaires soviétiques, 7. Januar 1983.
2.3 …führt zu Misstrauen im Osten 155

Cheysson viertens auf die Unterstützung der USA und kritisierte fünftens die so-
wjetische Führung dafür, die Verhandlungen durch ihre Haltung zu blockieren.²⁶²
Seit dem Beginn des Jahres 1983 sah sich Frankreich einem ansteigenden Druck
ausgesetzt, da die Unabhängigkeit der force de frappe auch seitens der eigenen
Partner teilweise infrage gestellt wurde, um die Verhandlungen in Genf voran-
zubringen. Anfang 1983 sahen sich die französischen Akteure also offensichtlich
genötigt, ihren Standpunkten mit der Autorität des Außenministers mehr Nach-
druck verleihen zu müssen. Da aber im Grunde keinerlei Ergebnisse, Entschei-
dungen oder wechselseitigen Verpflichtungen von den Gesprächen erwartet
wurden, kann der Besuch zudem als ein weiterer Akt der Mitterrand’schen Am-
bivalenz gewertet werden. Daher ist die Überlegung durchaus einen Gedanken
wert, ob Mitterrand die „Entgiftungskur“²⁶³ der französisch-sowjetischen Bezie-
hungen etwas abschwächen wollte, nachdem er sich in der Rede vor dem deut-
schen Bundestag im Januar 1983 unter anderem für ein Festhalten am NATO-
Doppelbeschluss stark gemacht hatte.²⁶⁴ Weil diese Rede allerdings nicht primär
im Kontext der bilateralen französisch-sowjetischen Beziehungen steht, wird sie
im nachfolgenden Kapitel Gegenstand der Untersuchung sein. An dieser Stelle sei
aber bereits vorweggenommen, dass die Rede vielfach recht einseitig als Unter-
stützung der Aufstellung von amerikanischen Raketen in Europa missverstanden
wurde. Gerade aus diesem Grund erfüllte Cheyssons Besuch in Moskau wohl
mehrere Funktionen zugleich und diente unter anderem auch dazu, dieses öf-
fentliche Bild wieder gerade zu rücken und die sowjetische Führung davon zu
überzeugen, weiter nach einem Erfolg in den Verhandlungen zu streben.
In diesem Kapitel wurde die Ambivalenz von Mitterrands Aussagen und
Handlungen, sowie die von Mitgliedern seiner équipe vielfach unter Beweis ge-
stellt. Einige Widersprüche lassen sich darauf zurückführen, dass innerhalb der
Administration Uneinigkeiten über den außenpolitischen Kurs bestanden. Deut-
lich wurde dies insbesondere hinsichtlich des Verständnisses von Détente oder
den unterschiedlichen Sinndeutungen, die dem Verzicht auf Gipfeltreffen zuge-
schrieben wurden. Darüber hinaus wurde auch auf den sehr engen Handlungs-
spielraum angesichts der angespannten internationalen Situation verwiesen. Die
französische Außenpolitik zwischen Westintegration und Ostpolitik glich ange-
sichts dessen einem Drahtseilakt. Eine weitere Erklärung für seine Ambivalenz

 ADMAE, 1930-INVA 5641, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires
Stratégiques et du Désarmement, Fiche pour le Ministre: Entretiens de Moscou: Non prise en
compte des forces françaises, 15. Februar 1983.
 Übersetzt aus dem Französischen „cure de désintoxication“ bei Favier/Martin-Roland,
Ruptures, S. 271.
 Vgl. Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 271.
156 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

lieferte François Mitterrand selbst, als er den sowjetischen Außenminister Andrej


Gromyko im September 1983 im Elysée empfing. Obwohl nur wenige Tage zuvor
am 1. September eine südkoreanische Passagiermaschine von der sowjetischen
Luftabwehr abgeschossen worden war, stimmte der Präsident diesem ersten
Treffen nach seiner Amtsübernahme zu. Allerdings wurde darauf geachtet, dass
es in der Presse keine zu hohen Wellen schlagen würde. Die Audienz wurde zuvor
nicht offiziell angekündigt, sondern Védrine und Cheysson urteilten, dass ein
knappes Kommuniqué ausreichen müsse.²⁶⁵ Als Gromyko die französische Am-
bivalenz zwischen öffentlichen Bekenntnissen zur Verbesserung der bilateralen
Beziehungen und gleichzeitig gegenläufigen Tendenzen ansprach, legte Mitter-
rand ihm sein Verständnis der französisch-sowjetischen Beziehungen dar: „En
fait, la chaleur de nos relations recule dans la mesure où les SS 20 avancent…“²⁶⁶,
erklärte Mitterrand dem sowjetischen Außenminister. Damit machte er deutlich,
dass die Qualität der französisch-sowjetischen Beziehungen für ihn keineswegs
von Afghanistan, Polen oder dem sowjetischen Umgang mit Menschenrechten
abhingen, sondern in erster Linie von Moskaus Rüstung und dem Ungleichge-
wicht der sowjetischen und amerikanischen Potentiale. Die innenpolitischen
Gründe und vertrauensbildenden Maßnahmen gegenüber der westlichen Allianz
ließ er freilich unerwähnt. Dennoch wird aus dieser Perspektive ersichtlich, dass
die noch nicht überwundene Euroraketenkrise für François Mitterrand das zen-
trale Hindernis für die Entwicklung der bilateralen Beziehungen darstellte. Neben
seiner Wahrnehmung der gegenwärtigen politischen Situation eröffnete Mitter-
rand ferner einen Blick auf die Art und Weise, wie er politisches Handeln kon-
zeptualisierte. Er erklärte, dass auch wenn die „actualité à court terme“²⁶⁷ zwar
durch das Kräftegleichgewicht und die Genfer Verhandlungen bestimmt seien, so
beträfen die „perspectives générales“²⁶⁸ allgemein die Veränderung der Welt und
die Rolle, die Frankreich und die Sowjetunion dabei spielen könnten. Damit of-
fenbarte der französische Präsident, dass er seine politische Konzeption auf zwei
Zeithorizonten gründete: Die aktuelle Politik war demnach bestimmt durch den
politischen Kontext des Zweiten Kalten Krieges. Daneben schien François Mitter-
rand jedoch langfristiger zu denken, indem er viel weitreichender auch eine Zu-
kunft jenseits des von der Gegenwart bestimmten kurzfristigen Zeithorizonts im
Blick behielt. In diesem Gespräch mit Gromyko sendete er Signale, die Gespräche
in den kommenden Wochen und Monaten auf Ebene der wichtigsten Minister und

 AN, AG/5(4)/CD/414, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,


Note pour le Président de la République, 8. September 1983.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 9. September 1983, S. 592.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 9. September 1983, S. 587.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 9. September 1983, S. 588.
Zwischenbilanz 157

der Staatschefs fortzusetzen, und trug dem sowjetischen Außenminister auf, diese
Nachricht dem Generalsekretär der KPdSU Jurij Andropow zu übermitteln.²⁶⁹ Si-
cherlich, dieses Bekenntnis war zwar unverbindlich. Dennoch deutet es darauf
hin, dass Mitterrand jenseits der entscheidenden Phase des NATO-Doppelbe-
schlusses und der Umsetzung der Nachrüstung, bereits an potentielle Folgen der
gegenwärtigen Politik dachte. Er war sich offenbar des Risikos bewusst, das diese
Zukunft für die Ost-West-Beziehungen bereithielt. Erstens bedeuteten Mitterrands
Worte, dass die „perspectives générales“ wieder in den Vordergrund rücken
würden, wenn der Stolperstein der französisch-sowjetischen Beziehungen – die
sowjetische Rüstungsüberlegenheit – erst einmal beseitigt sein würde. Dafür
streckte der französische Präsident vorsorglich schon einmal seine Fühler aus.
Zweitens versuchte Mitterrand, hier eine politische Ausgangslage für die Zeit nach
der Umsetzung des Nachrüstungsprozesses zu schaffen, indem er dem sowjeti-
schen Außenminister eine Intensivierung der bilateralen Beziehungen in Aussicht
stellte.
Das Gespräch mit Andrej Gromyko liefert aber nicht nur aufschlussreiche
Erkenntnisse darüber, wie François Mitterrand sein politisches Handeln kon-
zeptualisierte. Vielmehr lässt sich davon ein weiterer Erklärungsgrund für seine
vielfach benannte Ambivalenz ableiten. Je nachdem, auf welchen zeitlichen Ho-
rizont sich seine Stellungnahmen oder Handlungsimpulse richteten – Bündnis-
sicherung oder Überwindung der Blockkonfrontation, Wiederherstellung des
globalen Gleichgewichts oder Entspannung und Aufbau größeren europäischen
Selbstbewusstseins –, konnten sie mitunter in unterschiedliche Richtung zielen
und in Mitterrands charakteristischer Ambivalenz hervorstehen. Dies lag aller-
dings weniger an einem mangelnden Konzept oder politischer Unentschlossen-
heit, als vielmehr am politischen Kontext, der von 1981 bis 1983 den langfristigen
Zukunftsaussichten von Mitterrand widersprach. Nichtsdestoweniger wurden in
diesen Jahren wichtige Erfahrungen gemacht und Voraussetzungen dafür ge-
schaffen, die langfristigen Ziele weiterzuverfolgen.

Zwischenbilanz

Die Ausführungen der Zwischenbilanz sollen dazu dienen, die Forschungser-


gebnisse dieses Kapitels zu rekapitulieren und zu einer Antwort auf die leitenden
Fragestellungen zusammenzuführen. Gefragt werden soll daher zum einen da-
nach, ob Mitterrands Vorstellungen in den ersten Amtsjahren einen Wandel

 Attali, Verbatim 1981– 1986, 9. September 1983, S. 593 f.


158 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

durchliefen und wodurch dieser gegebenenfalls ausgelöst wurde. Zum anderen


soll gezeigt werden, vor welche Probleme der Zweite Kalte Krieg den französischen
Präsidenten stellte und welche Strategien entwickelt wurden, mit diesen umzu-
gehen. Abschließend kann so beantwortet werden, ob François Mitterrand mit
seinem Amtsantritt einen politischen Kurswechsel – eine atlantische Wende der
französischen Außenpolitik – einleitete beziehungsweise, wie dieser Eindruck
entstehen konnte.
Während Mitterrands langfristige Zukunftserwartungen relativ stabil waren
und praktisch keine Veränderung erfuhren, lässt sich ein Wandlungsprozess be-
obachten, den seine Einstellungen zu den gegenwärtigen Problemen durchliefen:
Erstens passte er seine Vorstellungen und Forderungen an eine sich verändernde
Ausgangslage an. Hier lässt sich zum Beispiel seine Bemühung anführen, die USA
und die Sowjetunion von einem Kompromiss der beiden Maximalforderungen zu
überzeugen. Im Laufe des Jahres 1982 gelangte er zu der Überzeugung, dass so-
wohl die Umsetzung von Reagans Nulllösung als auch die von Breschnews Gel
immer unrealistischer wurden. Noch bevor an die Öffentlichkeit gelangte, dass
sich Nitze und Kwizinskij im Sommer 1982 beinahe auf ein Abkommen hatten
einigen können, das in letzter Instanz am Widerstand von Moskau und Wa-
shington gescheitert war, begann François Mitterrand damit, sich in der Öffent-
lichkeit und in bilateralen Gesprächen mit amerikanischen und sowjetischen
Vertretern für die Suche nach einem point moyen einzusetzen. Dies macht ferner
einen in der Historiographie bisher wenig beachteten Aspekt von Mitterrands
Politik deutlich: Der französische Präsident übernahm jenseits des öffentlichen
Bildes, die Raketenaufstellung in Westeuropa zu unterstützen, eine vermittelnde
Funktion, um die beiden Verhandlungsparteien von einer größeren Flexibilität
zugunsten eines Verhandlungserfolgs zu überzeugen. Auch wenn Mitterrand zwar
auf Gipfeltreffen mit der sowjetischen Spitze verzichtete, hat die Analyse gezeigt,
dass die Kontakte auf tieferen diplomatischen Ebenen fortbestanden und inten-
siviert wurden. Vor allem aber nutzte er seine regelmäßigen Gespräche mit dem
sowjetischen Botschafter Stepan Tscherwonenko, insbesondere bevor dieser zu
Konsultationen nach Moskau reiste, um so über das Medium des Botschafters
indirekt mit der sowjetischen Führung zu kommunizieren.
Zweitens durchlief Mitterrand – einmal im Amt – auch gewisse Lernprozesse.
Durch Expertenvorschläge, wie beispielsweise von Pierre Morel, ließ er sich davon
überzeugen, dass seine anfängliche Haltung zu den Euroraketen gewisse Risiken
barg. Anstatt für ein europäisches Gleichgewicht trat er daher nur wenige Wochen
nach seiner Wahl für ein globalstrategisches Gleichgewicht ein, um die Kopplung
zwischen der europäischen und amerikanischen Verteidigung nicht aufs Spiel zu
setzen. Die Wahrung des Status Quo, dessen Stabilität Mitterrand und seine Be-
rater durch die sowjetische Rüstung bedroht sahen, wurde als unabdingbar be-
Zwischenbilanz 159

trachtet, da es keine alternative Sicherheitsgarantie für die westeuropäischen


Staaten gab.
Zu den Lernprozessen zählten drittens auch Erfahrungen, die Mitterrand in
seinen ersten Amtsjahren machte. Aus ihnen resultierte die Enttäuschung von
Erwartungen, die er bis zu diesem Zeitpunkt gehegt hatte und die Stiftung neuer
Zukunftserwartungen. Vor allem die Desillusionierung, die Mitterrand und seine
Mannschaft in Bezug auf die französisch-amerikanischen und transatlantischen
Beziehungen erfuhren, ließe sich in diesem Zusammenhang als Beleg anführen.
In den ersten Jahren lassen sich drei Phasen in den französisch-amerikanischen
Beziehungen ausmachen: Die ersten Monate nach dem Amtsantritt waren davon
gekennzeichnet, sich gegenseitig kennenzulernen und ein gutes Verhältnis zu
etablieren. Durch vertrauensbildende Gesten und Rhetorik wollte Mitterrand nicht
nur den Bündniszusammenhalt stärken, sondern auch als vollwertiges Mitglied
der westlichen Gemeinschaft einer Isolierung entgehen. Darauf folgte von Ende
1981 bis Ende 1982 eine Phase heftiger Konflikte zwischen Washington und Paris,
die sich darauf zurückführen lassen, dass beide Seiten Erwartungen in die
transatlantischen Beziehungen setzten, die auf unterschiedlichen Wahrneh-
mungen und politischen Interessen beruhten. Das ungebrochene Beschwören der
Einigkeit durch den französischen Präsidenten beruhte nicht zuletzt auf einer
Illusion. In Paris weckte diese Illusion die Erwartung, politische Differenzen zu-
gunsten des Bündniszusammenhalts überdecken zu können. Dagegen erwartete
die amerikanische Administration, die politischen Differenzen in den transat-
lantischen Beziehungen auszumerzen, indem sich die Verbündeten hinter einer
starken amerikanischen Führung sammelten.²⁷⁰ Die Konflikte entlarvten diese
Illusionen, offenbarten die Unvereinbarkeit der politischen Vorstellungen und
verlangten eine Anpassung an die Realität. Nachdem sie zu einer Desillusionie-
rung geführt hatten, wurden die Unterschiede letztlich akzeptiert. Die Ankunft in
der Realität als dritte Phase der französisch-amerikanischen Beziehungen ver-
mochte es zwar nicht, die Konflikte zu beseitigen. Dennoch hatte sie zur Folge,
dass die Beziehungen konstruktiver und andere politische Konsequenzen aus den
Erfahrungen der ersten Amtsjahre gezogen wurden. Mitterrand und seine équipe,
vor allem Claude Cheysson, Charles Hernu, Jean-Louis Bianco, Jacques Attali und
Hubert Védrine, waren davon überzeugt, an den atlantischen Verträgen von 1949
unter dem Respekt der Souveränität eines jeden Mitglieds festhalten zu müssen,
während man parallel auf einen günstigeren politischen Kontext und flexiblere

 Vgl. dazu u. a. Reagan, Ronald: Erinnerungen. Ein amerikanisches Leben. Berlin 1990.
S. 583 – 586.
160 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

Entscheidungsträger in der amerikanischen Administration wartete.²⁷¹ Dies hielt


sie hingegen nicht davon ab, Vorbereitungen für eine solche Zukunft zu treffen
und sich für eine dynamischere europäische Politik einzusetzen, die im folgenden
Kapitel Gegenstand der Analyse sein wird.
Der politische Kontext Anfang der 1980er Jahre – die Euroraketenkrise, tau-
sende Demonstranten in westlichen Stätden, die sowjetische Invasion in Afgha-
nistan, die Unterdrückung der Solidarność-Bewegung in Polen – schränkte den
Handlungsspielraum für François Mitterrand und seine Mannschaft sehr ein. Er
hielt nicht zuletzt ein Risiko für die als nationales Interesse stilisierte unabhän-
gige französische Abschreckungsmacht bereit. Die französische Führung sah sich
dadurch gewissermaßen dem doppelten Risiko ausgesetzt, entweder in die
amerikanische Strategie integriert oder zum Instrument der sowjetischen Strate-
gie zu werden. Das eine setzte Paris Forderungen aus, die französischen Atom-
arsenale in den Verhandlungen mit einzuberechnen. Im anderen Fall drohte aus
der Sicht der französischen Administration schlimmstenfalls ein Sieg neutralis-
tischer Tendenzen in Westeuropa, die Mitterrand als Bedrohung für die Stabilität
des Status Quo und damit für den europäischen Frieden betrachtete. In diesem
engen Spielraum blieb als einzig wünschenswerte Alternative nur das Beharren
auf der nationalen Souveränität und politischen Unabhängigkeit Frankreichs, die
Mitterrand erlaubte, sowohl eine Implikation der französischen Atomarsenale
kategorisch abzulehnen als auch sich auf keine der beiden Verhandlungsposi-
tionen festlegen zu lassen.
Die politische Unabhängigkeit, die Mitterrand, sein Außenminister, andere
Minister und Diplomaten unermüdlich betonten, trat allerdings in der öffentli-
chen Wahrnehmung bisweilen in den Hintergrund. In der sowjetischen Presse
wurde Mitterrands Politik teilweise aus Überzeugung, teilweise aus politischer
Strategie als ein Umschwung zum Atlantizismus diffamiert. Vadim Zagladin er-
klärt in der Retrospektive, dass diese Wahrnehmung in Moskau durch die Position
der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) beeinflusst worden sei, die in
Konkurrenz zu der Parti socialiste (PS) stand und die französisch-sowjetischen
Beziehungen stärken wollte.²⁷² Darüber hinaus lässt sich nicht leugnen, dass
Mitterrand sich in einem entscheidenden Punkt tatsächlich von der Politik seines
Vorgängers abgrenzte: Obwohl gezeigt werden konnte, dass die französisch-so-
wjetischen Beziehungen unterhalb der Staatsspitzen unverändert blieben, so
bezog François Mitterrand doch im Gegensatz zu Giscard d’Estaing eindeutig
Stellung und unterstützte den NATO-Doppelbeschluss der westlichen Verbünde-

 Védrine, Mondes, S. 229.


 Zagladin, Débat, S. 312.
Zwischenbilanz 161

ten. Dass damit auch die Unterstützung eines möglichen Verhandlungserfolgs


einherging, wurde mitunter gerne übersehen. Die deutlichen Stellungnahmen von
Mitterrand und seinen Ministern wurde selbstverständlich auch durch die at-
lantischen Partner und die westliche Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen und
hatten einen Einfluss darauf, wie seine Politik im Westen gedeutet wurde. Zudem
wurde dieser atlantisme durch die sowjetische Presse strategisch aufgebauscht,
um Druck auf Paris auszuüben und eine Revision der französischen Politik oder
Spaltung des westlichen Bündnisses zu bewirken. In der französischen Öffent-
lichkeit wurde Mitterrands Politik offensichtlich auch als Angleichen an die
amerikanische Linie empfunden: Bei seiner ersten Pressekonferenz im Elysée
nahm Mitterrand Bezug zu verschiedenen Artikeln, die ihm unterstellten, seine
Politik „‚collerai[t]‘ aux Etats-Unis d’Amérique“²⁷³. Ungeachtet der Reaktionen,
die eine solche Berichterstattung beim Präsidenten auslöste, deutet dieses Bei-
spiel darauf hin, wie seine Politik durch die französische Presselandschaft in-
terpretiert und gedeutet wurde. Es handelt sich in gewisser Weise um Zuschrei-
bungen durch die Presse, die mit ihren Artikeln entscheidend zu dem Bild beitrug,
das in der Öffentlichkeit von Mitterrands Politik erzeugt wurde. Védrine bestätigt,
Mitterrand sei bereits 1980 zum Symbol neuer „fermeté“ gegenüber der Sowjet-
union geworden.²⁷⁴ An früherer Stelle wurde bereits auf die amerikafreundliche
und sowjetfeindliche Haltung der französischen Öffentlichkeit hingewiesen, die
den traditionellen Antiamerikanismus abgelöst hatte. Védrine betonte, dass dies
die Politik Mitterrands gegenüber den USA zwar in keiner Weise beeinflusst hätte,
aber doch eine Bedingung dafür gewesen sei, wie seine Politik in der Öffent-
lichkeit verstanden wurde. Die verschiedenen Teile der Öffentlichkeit brachten
den Stellungnahmen und politischen Gesten des sozialistischen Präsidenten und
seiner Regierung ihre eigenen Erwartungen entgegen, die damit Einfluss auf de-
ren Interpretation hatten. Hieraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die
Öffentlichkeit Anteil an der Konstruktion des Bildes hatte, das Mitterrand als
Atlantiker darstellte.
Nicht zuletzt spielte dafür auch eine Rolle, dass Mitterrand diese Erwartungen
teilweise sehr bewusst bediente und vor allem im Wahlkampf strategisch nutzte,
um Wählerstimmen zu sammeln. Darüber hinaus hatte er als französischer Prä-
sident aufgrund der Risiken, die er durch den Zweiten Kalten Krieg aber vor allem
durch die sowjetische Rüstung und all ihre politischen Konsequenzen für den
europäischen Frieden wahrnahm, ein Interesse daran, die Euroraketenkrise un-

 Conférence de presse du Président de la République (extraits), Brazzaville, 11. Oktober 1982.
In: La Politique Etrangère 1982 (Oktober/Dezember), Paris 1982, S. 31.
 Védrine, Mondes, S. 108.
162 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

beschadet zu überstehen und die Stabilität des Status Quo zu sichern. Um dies zu
gewährleisten, hielt er es für notwendig, den Zusammenhalt des westlichen
Bündnisses zu stärken. Daher betrieb er mit politischen Gesten und rhetorischen
Mitteln gezielt Vertrauensbildung, um die Reihen der Alliierten zumindest an der
Oberfläche zu schließen. Wie Abschnitt 2.2 gezeigt hat, wurde versucht, scharfe
Konflikte dafür herunterzuspielen. Durch die Analyse wurde herausgearbeitet,
wie François Mitterrand und andere Regierungsmitglieder dafür eine strategische
Gefühlspolitik betrieben. Erstens diente diese als Instrument, Vertrauen bei den
Verbündeten zu evozieren. Das Misstrauen, das diese Vertrauensbildung in
Moskau zur Folge hatte, wurde durchaus wahrgenommen: Empathie als politische
Strategie ermöglichte es, die Wahrnehmungen und Intentionen der sowjetischen
Führung auszuleuchten. Die Abteilungen des Außenministeriums und die Berater
des Präsidenten setzten Empathie systematisch ein, um die Handlungsursachen
oder künftigen Reaktionen anderer Akteure zu kalkulieren. Dies geschah auch in
Hinblick auf die Friedensbewegung oder Perzeptionen, die man bei der ameri-
kanischen oder sowjetischen Führung wahrzunehmen glaubte. Das sowjetische
Misstrauen, das von Mitterrand nicht intendiert war und eigentlich seinen lang-
fristigen Zukunftsaussichten widersprach, wurde während der Euroraketenkrise
allerdings hingenommen, da die Sicherung des Status Quo in diesem Moment für
ihn Priorität besaß. Obwohl diese Handlungsimpulse auf die aktuelle Gegenwart
gerichtet waren, lieferte Mitterrands Konversation mit Andrej Gromyko erste
Hinweise dafür, dass dies nur scheinbar der Fall war. Eigentlich stellte die Ga-
rantie des Status Quo für François Mitterrand eine notwendige Voraussetzung und
Basis dar, eine Transformation der gegenwärtigen Staatenordnung zu fördern. Um
diese These zu stützen, werden in den folgenden Kapiteln weitere Belege ange-
führt werden.
Damit konnte insgesamt geklärt werden, wie der Eindruck einer atlantischen
Wende von Mitterrands Politik entstand und dass es sich dabei vielmehr um ein
Bild – fast eine Illusion – handelte, der Mitterrand mal versuchte zu widerspre-
chen, wenn es darum ging, die französische Unabhängigkeit zu betonen, das er
aber auch mal in Kauf nahm, wenn es seinen Intentionen diente. Dies unterstützt
noch einmal den Befund des ersten Kapitels, dass Mitterrand sein Amt nicht mit
einem außenpolitischen Programm antrat, sondern gewisse Zielvorstellungen mit
einer Strategie zu erreichen versuchte. Eine Strategie unterscheidet sich von po-
litischer Planung insofern, als sie die Kontingenz des Zukünftigen in Rechnung
stellt. Auf diese Art und Weise blieb Mitterrand stets handlungsfähig. Allerdings
ging er damit auch das Risiko ein, womöglich als Wendehals oder Taktiker
wahrgenommen zu werden. Die Ergebnisse dieses Kapitels stützen die These, dass
Mitterrand strategisch handelte, da nicht intendierte Folgen des Handelns zuvor
reflektiert und in Kauf genommen wurden, wenn man glaubte, es verschmerzen zu
Zwischenbilanz 163

können. Das Risiko, dass Mitterrands Stellungnahmen und Politik als atlantisch
wahrgenommen werden könnten, wurde im Elysée durchaus erkannt. Seine Be-
rater sowie Diplomaten des Außenministeriums reflektierten beispielsweise, dass
die Ausrichtung des atlantischen Rates 1983 einige Schwierigkeiten mit sich
brachte. Da es sich um einen etablierten Brauch handelte, dass die Staatschefs zu
dieser Gelegenheit ein Dinner ausrichteten, fürchtete Denis Delbourg, Debatten
über das französische Engagement in der NATO auszulösen, wenn man diesem
Brauch nicht folgte.²⁷⁵ Als es schließlich darum ging, in welcher Form François
Mitterrand als Gastgeber auftreten sollte, empfahl Cheysson dem Präsidenten, die
Sitzung am 9. Mai selbst zu eröffnen, da er der Verantwortliche für die französi-
sche Strategie und Bündnispolitik sei. Es sollten keine Missverständnisse über die
Reichweite des Treffens aufkommen, weshalb sowohl die Rolle der Allianz als
auch ihre Grenzen hervorgehoben werden sollten.²⁷⁶ Jean-Louis Bianco wies da-
gegen darauf hin, dass er darin das Risiko sah, dass seine Ansprache unabhängig
von dessen Inhalt als atlantisch beurteilt werden würde. Védrine teilte diese
Einschätzung, indem er darauf verwies, dass eine Sitzungseröffnung durch den
Präsidenten unvermeidlich Kommentare über Mitterrands Atlantizismus provo-
zieren würde. In dieser Hinsicht würde ein einfacher Toast beim Abendessen
weniger Schwierigkeiten bereiten.²⁷⁷ Daraufhin entschied sich Mitterrand dafür,
wie ein Kommentar von Védrine unter seiner Notiz belegt, die Sitzung durch den
Premierminister Pierre Mauroy eröffnen zu lassen und selbst am Abend eine
Ansprache zu halten. Diese Entscheidung offenbart den Drahtseilakt der fran-
zösischen Diplomatie zwischen Solidarität und Unabhängigkeit. Umso wichtiger
war es, angesichts der symbolischen Botschaft der Bündnissolidarität, die in der
Ausrichtung des Treffens enthalten war, eine Überinterpretation als atlantisme zu
relativieren, indem man die französische Unabhängigkeit betonte: In Mitterrands
Ansprache sollte das Gewicht auf den speziellen Status Frankreichs gelegt wer-
den, das zwar seit 1966 nicht mehr Mitglied der integrierten Kommandostruktur
aber trotzdem ein loyaler Partner der Allianz sei. Angesichts der Kampagne um
die Berücksichtigung der Drittpotentiale bei den Abrüstungsverhandlungen

 AN, AG/5(4)/CD/93, MRE, Cabinet de Ministre, Le Conseiller technique, Denis Delbourg, Note
pour Jean-Michel Gaillard, Accueil en France de la session de printemps du Conseil atlantique,
8. November 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/93, Le Ministre des Relations extérieures, Note pour le Président de la
République (sous couvert de son Conseiller diplomatique), De la réunion du Conseil atlantique,
20. Mai 1983.
 AN, AG/5(4)/CD/93, Notiz von Hubert Védrine an der Note, Le Ministre des Relations ex-
térieures, Note pour le Président de la République (sous couvert de son Conseiller diplomatique),
De la réunion du Conseil atlantique, 20. Mai 1983.
164 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels

wurde die Gelegenheit noch einmal genutzt, um die Autonomie der französischen
Abschreckung und den defensiven Charakter der force de frappe zu betonen.²⁷⁸
Möchte man also abschließend eine Bewertung der hier entwickelten For-
schungsergebnisse vornehmen, so zeigt sich, dass es sich bei der oftmals unter-
stellten atlantischen Wende weniger um eine tatsächliche strategische Wende von
Mitterrands Politik handelte, als vielmehr um eine inszenierte. Dies darf keines-
falls als eine von Mitterrand intendierte und angestoßene Inszenierung missver-
standen werden, bei der die Massenmedien zum reinen Werkzeug seiner Politik
wurden. In westlichen Gesellschaften, in denen die Massenmedien auch gerne als
vierte Gewalt bezeichnet werden, ist dies kaum möglich. Vielmehr haben die
Untersuchungen dieses Kapitels gezeigt, dass es sich bei der Inszenierung um die
dynamische Entwicklung eines Bildes handelte, an dessen Konstruktion ver-
schiede Akteure, Wahrnehmungsmuster und Erwartungen Teil hatten. Zum einen
bediente sich François Mitterrand der Massenmedien: Mit Gespür für Fremd-
wahrnehmungen und einer auf Empathie begründeten politischen Strategie kam
er im Wahlkampf den Erwartungen der öffentlichen Meinung und im Amt den
Erwartungen der westlichen Verbündeten entgegen, um seinen politischen
Handlungsspielraum zu erhalten. Die Massenmedien in Ost und West trugen ih-
rerseits eigene Wahrnehmungen und Erwartungen an Mitterrands Stellungnah-
men heran. Diese hatten Einfluss darauf, wie seine Politik wahrgenommen wurde.
Darüber hinaus veränderten und überformten sie diese und provozierten eine
Interpretation in eine bestimmte Richtung, indem sie die Politik in der Bericht-
erstattung mit gewissen Zuschreibungen versahen. Mit ihrer Berichterstattung
wurden die Massenmedien daher selbst zu Akteuren dieser politischen Insze-
nierung.
Aus Sicht von Mitterrand waren damit spezifische Funktionen verbunden. Die
Untersuchungen haben gezeigt, dass die Inszenierung keinem Selbstzweck
diente, sondern funktional war und auf politischem Kalkül beruhte. Denn neben
dem Einzug in den Elysée versprach sich Mitterrand ab 1981 davon, den Zusam-
menhalt des westlichen Bündnisses durch Vertrauensbildung wiederherzustellen.
Die Atlantische Allianz musste dem Druck der offensiven sowjetischen Politik
standhalten, damit die Wiederherstellung des strategischen Gleichgewichts nicht
gefährdet wurde. Bei der Inszenierung bediente sich François Mitterrand einer
doppelten Strategie, die auf Ambivalenz beruhte: Einerseits stellte er sicher, dass
er als Verbündeter der Atlantischen Allianz und Kritiker der aggressiven sowje-

 AN, AG/5(4)/CD/93, Présidence de la République, Service de Presse, Allocution prononcée


par M. François Mitterrand, Président de la République française à l’occasion du dîner offert lors
de la réunion de Conseil de l’Atlantique Nord en session ministérielle, Palais de l’Elysée, jeudi 9
juin 1983.
Zwischenbilanz 165

tischen Politik galt. Andererseits bekundete er fortwährend Interesse am Dialog


mit der Sowjetunion, indem er sich nicht prinzipiell gegen, sondern für eine
spätere Wiederaufnahme von Gipfeltreffen aussprach. Dass er keine konkreten
Bedingungen daran knüpfte, machte eine Rückkehr später umso leichter, denn als
1984 die Nachrüstung passé und das Vertrauen im Bündnis wieder hergestellt
waren, war der Weg frei, um die Langzeitziele der Détente wieder stärker in den
Vordergrund zu stellen.
3 Relance européenne und die Rückkehr zur
Détente
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung

Die deutsch-französischen Beziehungen werden üblicherweise anhand deutsch-


französischer Paare erzählt. Von dem persönlichen Verhältnis der Staats- und
Regierungschefs wird häufig auf die Dynamik und den Erfolg ihrer Zusammen-
arbeit geschlossen. Auch in der Gegenwart richtet die Presse ihr Augenmerk im-
mer wieder auf die Staatsspitzen, was mitunter gar zu Wortschöpfungen wie
„Merkozy“ oder „Merkollande“ führt.¹ Gegenüber den vielbeachteten Paaren
Adenauer/de Gaulle, Schmidt/Giscard d’Estaing, Mitterrand/Kohl oder auch
Schröder/Chirac erscheinen die anderthalb Jahre Zusammenarbeit von François
Mitterrand und Helmut Schmidt meist als eine Art Anekdote und Übergangsphase
zu dem weitaus dynamischer wirkenden Paar Mitterrand/Kohl. Dies beruht zu-
meist auf der Annahme, dass Helmut Schmidt und François Mitterrand keinen
rechten Zugang zueinander fanden. Genährt wird dieses Bild nicht zuletzt durch
die Erinnerungen von Helmut Schmidt selbst, der seine Zusammenarbeit mit
Mitterrand folgendermaßen charakterisierte: „In den anderthalb Jahren, in denen
wir beide an der Spitze unserer Länder standen, waren wir offen miteinander, aber
ohne Herzlichkeit.“² Diese Aussage lässt immerhin darauf schließen, dass die
beiden zu einem Arbeitsmodus zusammenfanden. Vielmehr noch legen die
Quellen nahe, dass die Dynamik, die die deutsch-französische Zusammenarbeit
auch auf europäischer Ebene ab 1983/1984 entfalten konnte, auf einem Prozess
der Vertrauensbildung basierte, der bereits in Mitterrands ersten Amtsjahren
seinen Ursprung fand. Daher gilt es zu fragen, welchen Stellenwert die deutsch-
französischen Beziehungen zwischen 1981 und 1982 tatsächlich einnahmen und
woraus ihre Marginalisierung resultiert. Sodann soll dieses Teilkapitel auch
Aufschluss darüber geben, welche Motive und Strategien der deutsch-französi-
schen Vertrauensbildung nach dem Regierungswechsel in Bonn zugrunde lagen.
Dafür wird untersucht, mit welchen Schwierigkeiten die équipe Mitterrand die
Bundesregierung konfrontiert sah und welche Konsequenzen daraus für die
französische Politik gezogen wurden.

 Siehe z. B. Hilz, Wolfram: Getriebewechsel im europäischen Motor. Von „Merkozy“ zu „Mer-


kollande“? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 63 (2013) 1– 3. S. 23 – 29.
 Schmidt, Helmut: Weggefährten. Erinnerungen und Reflexionen. Berlin 1996. S. 256.

https://doi.org/10.1515/9783110597417-005
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 167

Dem deutschen Bundespräsidenten Karl Carstens legte François Mitterrand


am 13. Juli 1981 unumwunden sein Unbehagen gegenüber einer „Achse Paris-
Bonn“ dar und begründete es damit, dass es „etwas Demütigendes gegenüber den
acht anderen Partnern“ habe.³ Gegenüber dem Bundeskanzler Helmut Schmidt
wiederholte er am 7. Oktober seine Vorstellung vom deutsch-französischen Ver-
hältnis, bei dem es sich seiner Ansicht nach „nicht um eine Achse, sondern nur
um privilegierte Beziehungen handeln“ könne, da sie ansonsten „Befürchtungen
der kleineren EG-Partner vor einem deutsch-französischen Kondominium“⁴ aus-
lösen könnten. Mitterrand verband damit die Intention, potentielles Misstrauen
der europäischen Partner zu zerstreuen, da er „[e]in gutes Einvernehmen und eine
auch öffentlich in Erscheinung tretende Solidarität“ als unverzichtbar erachtete,
um „nicht zum Spielball der Amerikaner oder – noch schlimmer – der Sowjet-
union zu werden.“⁵ Hierin zeigt sich nicht nur eine der wesentlichen Antriebs-
kräfte europäischer Integrationsprozesse, da Mitterrand hier offenkundig moti-
viert war, Vertrauen zwischen den europäischen Partnern unter anderem aus
Gründen der Selbstbehauptung gegenüber den beiden militärischen Super-
mächten zu bilden.⁶ Sehr viel wichtiger ist in diesem Zusammenhang, was diese
Äußerungen darüber offenbaren, wie sich Mitterrand die Beziehungen zwischen
den europäischen Partnern vorstellte: Eine funktionierende Kooperation basierte
aus seiner Sicht auf einem gleichberechtigten und hierarchiefreien Verhältnis, das
durch eine übermächtige deutsch-französische Achse gestört würde. Nach we-
nigen Monaten Amtszeit legte Jean Rouvier, Conseiller spécial de la CEE, dem
Präsidenten dar, dass die erneuerte, weniger einseitige und stattdessen realisti-
sche deutsch-französische Entente nach Helmut Schmidts Besuch in Latché von
den europäischen Partnern als eine neue Chance für Europa empfunden wurde.⁷
Dies lässt darauf schließen, dass Mitterrand versuchte, das traditionelle deutsch-
französische Couple aufzubrechen, um die europäische Konstruktion aus ihren
Blockierungen zu befreien. Von Vertrauensbildung zwischen den Mitgliedstaaten
versprach er sich eine politische Dynamisierung auf europäischer Ebene. Es ist
insofern als eine Art Ergänzung oder europäische Säule jener vertrauensbilden-

 Gespräch des Bundespräsidenten Carstens mit Staatspräsident Mitterrand, 13. Juli 1981. In:
AAPD 1981, Dok. 200, S. 1069.
 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Latche, 7. Oktober
1981. In: AAPD 1981, Dok. 287, S. 1539.
 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Latche, 7. Oktober
1981. In: AAPD 1981, Dok. 287, S. 1539.
 Vgl. dazu Loth, Europas Einigung, S. 9.
 AN, AG/5(4)/CD/160, Jean Rouvier, Conseiller spécial de la CEE, Note au Président, 13. Oktober
1981.
168 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

den Maßnahmen zu verstehen, die in Kapitel zwei in Kontext der transatlanti-


schen Beziehungen untersucht wurden.
Was als Etablierung von Beziehungen auf Augenhöhe und Abbau von Miss-
trauen auf europäischer Ebene gedacht war, hatte bei der Bundesrepublik den
gegenteiligen Effekt. In Bonn wurde die Abkehr von der „Achse Paris-Bonn“ als
Zeichen interpretiert, dass sich François Mitterrand von der traditionell engen
Beziehung zwischen der BRD und Frankreich zugunsten einer Annäherung an
Großbritannien abwandte. Mitterrand amüsierte sich über etwaige deutsche
Presseberichte zu einem „Zerbrechen der Achse Paris Bonn“ und versicherte dem
deutschen Botschafter Axel Herbst, dass die Beziehungen aus seiner Sicht eng
und vertrauensvoll seien.⁸ Gleichwohl hielt die équipe Mitterrand es aber offenbar
für notwendig, vertrauensbildende Maßnahmen zu ergreifen, um dieses Bild in
der Öffentlichkeit gerade zu rücken. Dies war eine wesentliche Funktion von
Mitterrands bereits angeführten Interview mit dem Stern.⁹ Unter dem Titel Die
deutsch-französische Freundschaft hängt doch nicht an einer Tasse Tee ¹⁰ versuchte
Mitterrand das deutsche Misstrauen auszuräumen. Unterschiedliche politische
Vorstellungen und Wahrnehmungen waren für das Missverständnis von Mitter-
rands Äußerungen bei der Bundesregierung verantwortlich: Während der fran-
zösische Präsident zumindest den Eindruck erwecken wollte, alle europäischen
Mitgliedstaaten stünden auf Augenhöhe, hegte Helmut Schmidt eher die Vor-
stellung von zwei Führungsmächten innerhalb der Europäischen Gemeinschaft.
Da aus seiner Sicht dafür nur Frankreich und Deutschland infrage kämen, müsse
die EG „von Paris und Bonn aus geführt werden, sonst laufe sie Gefahr, ausein-
anderzufallen oder zu zerbröckeln. Ein enger Zusammenhalt zwischen den beiden
Ländern und eine ‚politische Direktion‘ seien erforderlich“.¹¹ Damit demonstrierte
Schmidt, dass er die Beziehungen auf europäischer Ebene auf eine Weise kon-
zeptualisierte, wie Mitterrand es eigentlich vermeiden wollte. Der französische
Präsident wehrte sich zwar keineswegs grundsätzlich gegen eine enge deutsch-
französische Zusammenarbeit. Allerdings kalkulierte er anders als Schmidt nicht
auf Grundlage rein realpolitischer Erwägungen. Vielmehr nahm er Emotionen als
Einflussfaktoren von politischem Handeln ernst, indem er Misstrauen bei den
kleineren europäischen Mitgliedstaaten als Hindernis für ein Fortkommen im
europäischen Integrationsprozess identifizierte.

 Botschafter Herbst, Paris, an das Auswärtige Amt, 11. Januar 1981. In: AAPD 1982, Dok. 16, S. 69.
 Siehe dafür auch Kapitel 2.
 Mitterrand, „Deutsch-französische Freundschaft“, S. 80 – 84.
 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Brüssel, 29. Juni
1982. In: AAPD 1982, Dok. 196, S. 1039.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 169

Die historische Forschung steht gelegentlich noch immer unter dem Eindruck
zeitgenössischer Wahrnehmungen.¹² Das gängige Narrativ verweist auf eine „re-
lative Zaghaftigkeit, ja sogar gewisse Kälte“¹³ im Verhältnis zwischen Schmidt und
Mitterrand in den ersten Monaten. Die enge Verbindung zwischen Schmidt und
Giscard d’Estaing, den der Bundeskanzler obendrein öffentlich im Wahlkampf
unterstützte, sei laut Dumas auch ein Grund dafür gewesen, dass Mitterrand und
Schmidt zunächst eine gewisse Zurückhaltung zu überwinden hatten.¹⁴ Die bis-
herigen Erkenntnisse sollen keinesfalls demontiert werden, da sich in der Tat
nicht nur Vorstellungen und Wahrnehmungen unterschieden, sondern auch die
politischen Maßnahmen, die die sozialistische und sozialdemokratische Regie-
rungen ergriffen, um mit den Herausforderungen ihrer Zeit umzugehen. Vielmehr
lässt sich der Eindruck anfänglicher Startschwierigkeiten relativieren, indem
nach den Ursachen dieses Bildes gefragt wird. Außerdem gilt es, die Erkenntnisse
historisch einzuordnen, indem die Ursprünge von Konflikten und Missverständ-
nissen, ihre Konsequenzen sowie die Maßnahmen zu ihrer Überwindung und
deren Erfolge untersucht werden. Insbesondere hinsichtlich der Wirtschaftspoli-
tik lagen die französischen Entscheidungen „in vollkommenem Dissens“¹⁵ zu
Bonn und führten bis mindestens Ende 1981 regelmäßig zu Spannungen. Dass es
Schmidt und Mitterrand dennoch gelang, konstruktive Beziehungen zu entwi-
ckeln, wird an späterer Stelle ebenso weiter ausgeführt, wie die politischen Dif-
ferenzen, die sie trennten.
Im europapolitischen Kontext führten deutsch-französische Unstimmigkeiten
dazu, dass das erhoffte Fortkommen der europäischen Konstruktion zunächst
ausblieb. Zwar sollten Mitterrands vertrauensbildende Äußerungen ursprünglich
einen gegenteiligen Effekt entfalten. Der Eindruck eines ins Stocken geratenen
deutsch-französischen Motors hemmte die Entwicklung neuer politischer Dyna-
miken in Europa jedoch. Ohnehin befand sich die Europäische Gemeinschaft zu
Mitterrands Amtsantritt bereits einige Jahre in der Krise: Die EG war laut Roland
Dumas zu Beginn der 1980er durch einen „conflit agro-budgétaire“¹⁶ paralysiert,
womit er die kritischen Fragen zwischen den Mitgliedstaaten auf einen Begriff
bringt. Sowohl bei der Gemeinsamen Agrarpolitik (vor allem die Höhe der

 Siehe z. B. Lappenküper, Mitterrand und Deutschland, S. 151 f.


 Miard-Delacroix, Hélène: Ungebrochene Kontinuität. François Mitterrand und die deutschen
Kanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl 1981– 1984. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 47
(1999) 4. S. 543.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 145 f.; siehe dafür auch: Lappenküper, Mitterrand und
Deutschland, S. 349.
 Miard-Delacroix, Kontinuität, S. 544.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 193.
170 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

Agrarausgaben und den Währungsausgleichszahlungen für die Bundesrepublik)


als auch bei der Festlegung des Gemeinschaftsbudgets blockierten sie sich in
einer Lösungsfindung. Besonders erschwert wurde diese seit Ende der 1970er
Jahre auch durch die Frage des britischen Beitrags zum EG-Haushalt. Die britische
Premierministerin Margaret Thatcher verlangte einen Ausgleich zwischen dem
britischen Beitrag zum Gemeinschaftsbudget und finanziellen Zuwendungen aus
Brüssel. Die Diskrepanz sollte in Form von finanziellen Rückerstattungen berei-
nigt werden. Regelmäßig blockierte Thatcher Kompromisse in anderen Bereichen,
solange sie ihren „Scheck“ nicht erhalten hatte. Bereits zwei europäische Rats-
treffen (in Dublin 1979 und Kopenhagen 1980) waren gescheitert und hatten zu
einem Problemstau in der EG geführt.¹⁷ Die eigentlich längst überfällige Refor-
mierung der Europäischen Gemeinschaft wurde also gewissermaßen durch drei
scheinbar unüberbrückbare Differenzen gehemmt: Die Ausrichtung der Gemein-
samen Agrarpolitik, die Festlegung des Gemeinschaftsbudgets und die Frage des
britischen Beitrags.
Deutsch-französische Differenzen über die Finanzierung der Europäischen
Gemeinschaft trugen ihren Teil zur Blockierung und einer europäischen Stagna-
tion bei.¹⁸ Im April 1982 signalisierte Schmidt dem französischen Präsidenten,
dass die Bundesrepublik zunehmend Probleme bekomme, die finanziellen Lasten
des EG-Haushalts zu tragen. Der Bundeskanzler sah sich nicht in der Lage, neu-
erliche Entlastungen für Großbritannien in großem Umfang zu übernehmen, da
„die einseitige deutsche Belastung [für ihn] zu einem innen-politischen [sic]
Thema geworden“¹⁹ war. Parallel zu dieser rigideren Einstellung der Bundesre-
gierung in der Finanzierungsfrage, beobachtet Miard-Delacroix eine Verhärtung
im Elysée in der Frage der Gemeinsamen Agrarpolitik, der Höhe der Währungs-
ausgleichszahlungen, die Paris ohnehin abschaffen wollte, und auch hinsichtlich
des Beitrags zum gemeinsamen Haushalt. Die équipe Mitterrand war zu der An-
sicht gelangt, dass die Bundesrepublik jahrelang auf Kosten Frankreichs ihre
Landwirtschaft saniert und wieder konkurrenzfähig gemacht habe.²⁰ In den kri-
tischen Fragen, die es zwischen den europäischen Mitgliedstaaten zu lösen galt,
nahmen die deutsche und die französische Regierung nunmehr also konträre
Standpunkte ein.

 Vgl. dafür im Detail Loth, Europas Einigung, S. 249 – 258.


 Vgl. Miard-Delacroix, Kontinuität, S. 555.
 AN, AG/5(4)/CD/160, Bundesrepublik Deutschland, der Bundeskanzler an Seine Exzellenz
den Präsidenten der Französischen Republik, Herrn François Maurice Marie Mitterrand, 2. April
1982.
 Miard-Delacroix, Kontinuität, S. 556.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 171

Die unmittelbaren wirtschaftspolitischen Maßnahmen nach Mitterrands


Amtsantritt waren nicht mit den Prinzipien des Gemeinsamen Marktes vereinbar.
Die protektionistische Ausrichtung scheint den Eindruck zu stützen, dass die
sozialistische Regierung in Paris aufgrund ihrer wirtschaftlichen Schwierigkeiten
einer nationalen Gesundung Priorität einräumte. Georges Saunier hält dagegen,
dass es ihr weniger darum gegangen sei, der Gemeinschaft beziehungsweise dem
Solidaritätsprinzip den Rücken zu kehren. Vielmehr habe sie die EG selbst refor-
mieren wollen, um diese mit ihren eigenen (innen)politischen Zielen zu vereinen,
die jedoch wiederum quer zu der wirtschaftspolitischen Realität des Jahres 1981
lagen. Saunier argumentiert, dass François Mitterrand und die sozialistische Re-
gierung das Programme Commune von Parti socialiste und Parti communiste auf
die Europäische Gemeinschaft ausdehnen wollten. Das Umfeld des Präsidenten
plädierte für eine Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in einem europäischen Kon-
text.²¹
Frankreich befand sich zu Mitterrands Amtsantritt in einer äußerst schwie-
rigen wirtschaftlichen Lage: Der französische, beziehungsweise europäische,
Industrieapparat bedurfte einer Umstrukturierung, um die durch die strukturellen
Veränderungen der 1970er Jahre in die Krise geratenen Sektoren zu modernisie-
ren. Aufgrund der hohen Zinsen (als Konsequenz der amerikanischen Hoch-
zinspolitik) waren die für die Modernisierung erforderlichen Anleihen allerdings
sehr teuer, was die französischen Unternehmen daran hinderte, Kredite aufzu-
nehmen. Durch das Hinauszögern von Investitionen büßten sie zunehmend an
Wettbewerbsfähigkeit ein. Die daraus resultierenden, geringeren Profite er-
schwerten Investitionen zusätzlich und führten zu Preiserhöhungen, durch die die
französischen Produkte noch weniger mit ihren Konkurrenten mithalten konnten.
Auf diese Weise gingen innere wie äußere Märkte für französische Produkte ver-
loren, die durch protektionistische Maßnahmen kurzfristig zurückgewonnen
werden sollten. Die französische Handelsbilanz verschlechterte sich damit stetig
und der Franc verlor an Wert.²² Nachdem die Börsenkurse am 11. Mai 1981 rapide
gefallen waren, hatten die Sozialisten also auch mit einem Wertverlust der
Währung zu kämpfen. In Bezug auf die monetäre Politik gab es unterschiedliche
Standpunkte innerhalb der Sozialistischen Partei: Während Michel Rocard²³ ein
Schwanken der Währung unterstützte, plädierte Wirtschafts- und Finanzminister
Jacques Delors für ihre Verteidigung und einem Verbleib im Europäischen Wäh-

 Vgl. Saunier, Projet socialiste, S. 433 f., 438 f.


 Dumas, Affaires étrangères, S. 108, 122 f.
 Innerhalb der Parti socialiste gab und gibt es unterschiedliche politische Strömungen. Michel
Rocard war der Führer einer eher sozialdemokratisch ausgerichteten Gruppe.
172 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

rungssystem (EWS). Allerdings widerstrebte es dem französischen Präsidenten,


mit dem Sieg der Sozialisten sogleich eine Anpassung des Wechselkurses und
eine Abwertung des Franc durchzuführen. Die unter dem Wahlslogan Changer la
vie versprochenen Maßnahmen, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der
Franzosen zu verbessern, stießen unter diesen wirtschaftlichen und monetären
Voraussetzungen schnell an ihre Grenzen.²⁴
Am 13. Oktober 1981 präsentierte die französische Regierung ihren europäi-
schen Partnern ein Memorandum zu einer relance européenne, das der Europa-
minister André Chandernagor zuvor in den europäischen Hauptstädten bewarb.
Der eingangs erwähnte Versuch, das Misstrauen der kleineren europäischen
Partner vor einer „Achse Paris-Bonn“ zu zerstreuen, war in Hinblick auf diese
Initiative unter anderem dadurch motiviert, sich Unterstützung für die Initiative
eines espace social européen zu sichern. Der Vorschlag zur Schaffung eines eu-
ropäischen Sozialraums, stieß bei dem Europäischen Ratstreffen in Luxemburg
allerdings auf wenig Gegenliebe. Georges Saunier führt dies darauf zurück, dass
die Vorschläge der Wirtschaftspolitik der Partner diametral entgegenstanden und
die Gemeinschaft zudem durch die Streitigkeiten über Budget und Agrarpolitik
paralysiert war.²⁵ Im Oktober 1981 sahen die Sozialisten sich zu einer ersten Ab-
wertung des Franc gezwungen.²⁶ Aber auch im Jahr 1982 verbesserte sich die
wirtschaftliche Situation Frankreichs nicht wesentlich. Der Präsidentenberater
Christian Sautter prognostizierte verheerende Konsequenzen der amerikanischen
Wirtschaftspolitik für Europa. Dadurch, dass der große nordamerikanische Markt
insgesamt weniger dynamisch sei, werde sich die Konkurrenz zwischen den USA,
Europa und Japan zusätzlich verstärken, prophezeite er.²⁷ Jacques Attali hatte
zwar gehofft, dass die anderen Staaten bei dem G7-Gipfel in Versailles auf fran-
zösische Initiative eine neue wirtschaftliche Kooperation für ein abgestimmtes
Wachstum akzeptieren würden; allerdings waren die anderen Industriestaaten
entschlossen, ihre Austeritätspolitik fortzusetzen, sodass Mitterrands Plädoyer
für Wachstumspolitik verhallte und eine zweite Abwertung des Franc im Juni 1982
unausweichlich war. Dass die französische Wirtschaft für einen Aufschwung
dringend internationales Wachstum benötigte, erklärt sowohl Mitterrands Insis-

 Vgl. Dumas, Affaires étrangères, S. 103 – 107.


 Saunier, Eurêka, S. 60 f.; Loth, Europas Einigung, S. 253.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 108.
 AN, AG/5(4)/CD/262, Le Conseiller spécial auprès du Président de la République, Note pour
Monsieur le Président, Rapports économique franco-américains: Politique économique, com-
merce Est-Ouest, Nord-Sud, énergie, 10. März 1982.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 173

tieren gegenüber der US-Administration als auch dessen Frustration, als sich
diese jeder Solidarität in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen entzog.²⁸
Es war eine unintendierte Folge, dass Mitterrand durch sein Unbehagen vor
einer deutsch-französischen Achse Misstrauen bei der bundesdeutschen Regie-
rung und Öffentlichkeit auslöste. Eigentlich hatte er schon in seinem ersten Ge-
spräch mit Helmut Schmidt am 24. Mai 1981 auf Vertrauensbildung und den ra-
schen Aufbau konstruktiver Beziehungen gesetzt. Er signalisierte dem deutschen
Bundeskanzler seinen Wunsch zu Kontinuität in der deutsch-französischen
Freundschaft und Zusammenarbeit.²⁹ Diese stellte er sogleich in die Perspektive
der longue-durée, indem er seine Erinnerung an den europäischen Kongress in
Den Haag erwähnte. Diese Art der Gesprächsführung diente nicht nur dazu, mit
einer persönlichen Anekdote die Distanz zu seinem Gesprächspartner zu über-
winden und einen schnellen Zugang zueinander zu ermöglichen.³⁰ Es demon-
striert auch, dass er die deutsch-französischen Beziehungen in einen dezidiert
europäischen Kontext stellte. Helmut Schmidt bemühte sich seinerseits ebenfalls
um den Aufbau eines vertrauensvollen Verhältnisses, indem er gleich mehrfach
die deutsche Bereitschaft zur Solidarität in der Währungsfrage und zu Verteidi-
gungsmaßnahmen des Franc signalisierte.³¹
Dass den französischen Entscheidungsträgern schon aufgrund sicherheits-
politischer Erwägungen nicht an bundesdeutschem Misstrauen gelegen sein
konnte, wurde bereits im vorangegangenen Kapitel ausführlich dargelegt. Die
Archivdokumente belegen, dass in Elysée und Quai d’Orsay Verantwortung dafür
übernommen wurde, ein Abgleiten der Bundesrepublik in den Neutralismus zu
verhindern. Nach dem Besuch von Leonid Breschnew in der Bundesrepublik Ende
November 1981 machte Hubert Védrine auf dieses Risiko mit besonderer Deut-
lichkeit aufmerksam. Er wies der Europäischen Gemeinschaft und den bilateralen
Beziehungen zwischen Paris und Bonn die essentielle Rolle zu, einem gefürch-

 Dumas, Affaires étrangères, S. 110 – 112; vgl. dafür auch Kapitel 2.


 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 24. Mai 1981.
In: AAPD 1981, Dok. 153, S. 844 f.
 In Vieraugengesprächen mit ausländischen Staats-und Regierungschefs sowie anderen Ge-
sprächs- und Verhandlungspartnern, in politischen Reden oder Publikationen in der Presse er-
wähnte Mitterrand regelmäßig seine Teilnahme am Europäischen Kongress von Den Haag 1948.
Zu den unterschiedlichen Funktionen, die diese Anspielungen erfüllten, siehe: Saunier, „J’y étais,
j’y croyais“, S. 386.
 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 24. Mai 1981.
In: AAPD 1981, Dok. 153, S. 850.
174 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

teten neutralistischen Abgleiten der deutschen Ostpolitik entgegenzuwirken.³²


Effektive Vertrauensbildung gründete in der Konzeption von Védrine auf zwei
Komponenten: Zunächst identifizierte er Aspekte, die in bundesdeutschen Re-
gierungskreisen Misstrauen provozierten. Auf dieser Grundlage strategischer
Empathie entwickelte er anschließend Vorschläge, um das Misstrauen im Dialog
zu beseitigen. Für den nächsten regulären deutsch-französischen Gipfel am 21.
und 22. Oktober schlug er vor, neben den Ministern für Wirtschaft und Industrie
auch jene für die Bereiche Arbeit und Soziales hinzuzuziehen. Der deutsche
Argwohn bezog sich aus seiner Sicht vor allem auf die mitterrand’sche Wirt-
schaftspolitik und ganz speziell auf die Initiative des espace social européen sowie
die Rückgewinnung des inneren Marktes durch protektionistische Maßnahmen.
Dabei stellte Védrine die Überzeugungsfähigkeit der französischen Politik kei-
neswegs infrage, sondern führte in Bonn entstandenes Misstrauen auf eine
mangelnde deutsche Kenntnis derselben zurück. Den Dialog auf die verantwort-
lichen Minister auszuweiten, diente dazu, diese Unkenntnis zu beseitigen – und
sicherlich auch dazu nebenbei noch für Unterstützung für die französischen
Projekte zu werben.³³ Es macht aber auch deutlich, dass Védrine Wissen und
wechselseitiges Verstehen als unabdingbar für vertrauensvolle Beziehungen
konzeptualisierte.
Der Eindruck anfänglicher Startschwierigkeiten zwischen Mitterrand und
Schmidt ergab sich zum einen aus kommunikativen Missverständnissen, die das
Ergebnis unterschiedlicher Wahrnehmungen und Vorstellungen von der Rolle der
deutsch-französischen Beziehungen im Kontext der europäischen Konstruktion
waren. Unvereinbar schienen darüber hinaus die Vorstellungen über die wirt-
schaftspolitischen Maßnahmen, um den Volkswirtschaften zu neuem Wachstum
zu verhelfen. Aber trotz grundlegender Meinungsverschiedenheiten, leitet Hélène
Miard-Delacroix eine zunehmende Verbesserung der bilateralen Beziehungen aus
den Archivbeständen ab, in denen die wirtschaftlichen Differenzen zunehmend
an Bedeutung verloren. Als Ausgangspunkt für diesen Wandel benennt sie den
Besuch von Helmut Schmidt im Privatwohnsitz von François Mitterrand in Latché
im Oktober 1981.³⁴ Es ist davon auszugehen, dass der Ort ihrer Begegnung stra-
tegisch ausgewählt wurde. Durch das private Umfeld wurde ein vertraulicherer
Rahmen für die Gespräche geschaffen als im Amtssitz des französischen Präsi-

 AN, AG/5(4)/CD/160, Présidence de la République, 31. Dezember 1981, der Verfasser war of-
fensichtlich Hubert Védrine, weil auf dem Blatt handschriftlich vermerkt wurde: „Retour à Védrine
vu Merci PB“ [Pierre Bérégovoy].
 AN, AG/5(4)/CD/174, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour Jean-Michel Gaillard, 13. August 1982.
 Miard-Delacroix, Kontinuität, S. 546.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 175

denten, in dem Schmidt zudem unzählige Male mit Mitterrands Vorgänger zu-
sammengetroffen war. Insgesamt führt Miard-Delacroix die Verbesserung der
Beziehungen zwischen Mitterrand und Schmidt und schließlich Kohl unter dem
Begriff „Schicksalsgemeinschaft“ unter anderem auf den „Druck der internatio-
nalen Spannungen [zurück], auf die Paris und Bonn mit wechselseitiger Unter-
stützung und verstärkter Solidarität reagierten.“³⁵ Damit macht sie deutlich, dass
konstruktive und vertrauensvolle Beziehungen auf mehr als regelmäßigem Dialog
beruhen. Kooperation basiert vielmehr auf der Bereitschaft zu gegenseitiger So-
lidarität. Jürgen Habermas hat darauf hingewiesen, dass „solidarische Vorleis-
tungen von allen Seiten das Vertrauen [verlangen], dass sich die jeweils andere
Seite in Zukunft reziprok verhalten wird“³⁶. Ohne das Vertrauen, dass der Partner
die eigene Bereitschaft zu Solidarität nicht missbraucht, würde Kooperation ei-
nem Risiko gleichkommen. Mit dem Amtsantritt von Mitterrand musste solches
Vertrauen zwischen ihm und Helmut Schmidt erst aufgebaut werden. Erst
wechselseitige Erfahrung von Solidarität und ein gegenseitiges Kennenlernen
schufen schließlich die Fundamente für Vertrauensbildungsprozesse.
Während sich Mitterrand direkt nach seinem Amtsantritt für ein Festhalten
am NATO-Doppelbeschluss einsetzte und Helmut Schmidt damit den Rücken
stärkte, zeigte sich der Bundeskanzler in der Währungsfrage bei zwei Devalua-
tionen des Franc kooperativ. Die vorliegende Studie grenzt sich nicht zuletzt da-
durch von einem rein strategischen Verständnis der Spieltheorie basierend auf
Kalkulation und Berechenbarkeit ab, indem diese historische Dimension von
Vertrauen berücksichtigt wird. Insgesamt diagnostiziert Miard-Delacroix ein ho-
hes Maß an Kontinuität in den deutsch-französischen Beziehungen und führt dies
auf zwei spezifische Gründe zurück: Erstens wurde sie durch die Bestimmungen
des Elysée-Vertrags und die darin enthaltene Institutionalisierung des Dialogs
garantiert. Zweitens erkennt sie einen offenkundigen politischen Willen zur po-
litischen Kontinuität bei François Mitterrand und seiner Regierungsmannschaft.³⁷
Der Versuch, die deutsch-französische Achse aufzubrechen verdrängte also kei-
neswegs das Bewusstsein für die Bedeutung einer Zusammenarbeit in Hinblick
auf den europäischen Integrationsprozess. Vielmehr sollten die Beziehungen der
europäischen Mitgliedstaaten von einer vertikalen zu einer horizontalen Struktur
gewandelt werden. Als Mitterrand Schmidt am 29. Juni 1982 anvertraute, dass eine
„schwierige Zeit“ anbrechen könnte, wenn eine konservativ geführte Regierung in

 Miard-Delacroix, Kontinuität, S. 548.


 Habermas, Jürgen: „Für ein starkes Europa“ – aber was heißt das? In: Blätter für deutsche und
internationale Politik (2014) 3. S. 87.
 Miard-Delacroix, Kontinuität, S. 557 f.
176 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

Bonn übernähme, machte er damit auch deutlich, dass sich zumindest ein ge-
meinsamer Arbeitsmodus zwischen ihm und dem Bundeskanzler eingestellt
hatte. Eine neuerliche Phase des Kennenlernens würde dagegen Zeit in Anspruch
nehmen.³⁸ Dies lässt darauf schließen, dass in den ersten Monaten gemeinsamer
Arbeit zwischen Schmidt und Mitterrand durch Solidaritätserfahrungen eine ge-
wisse Vertrautheit gewonnen worden war, die durch einen Wechsel im Kanzleramt
von Neuem hätte aufgebaut werden müssen. Vertrautheit wird in dieser Studie im
Sinne von Niklas Luhmann als „relativ sicheres Erwarten“ konzeptualisiert, das
„ein Absorbieren verbliebener Risiken“ ermöglicht. Insofern handelt es sich dabei
zunächst einmal um eine Form von Berechenbarkeit, die sowohl „günstige“ als
auch „ungünstige Erwartungen“ schaffen kann und somit eine Voraussetzung für
Vertrauen und Misstrauen gleichermaßen ist.³⁹
Retrospektiv erwies sich die Amtsübernahme von Helmut Kohl nicht als Ri-
siko, sondern im Gegenteil eher als eine Chance für die deutsch-französischen
Beziehungen vor allem aus europapolitischer Perspektive: Als sich der neue
Bundeskanzler im Oktober 1982 durch die Anknüpfung und Unterstützung der
Genscher-Colombo-Initiative zu profilieren versuchte, erleichterte er Mitterrand
den Einstieg in die Entwicklung konstruktiver Beziehungen, indem er dafür be-
wusst auf den französischen Präsidenten zuging.⁴⁰ Seine politische Orientierung
kam Mitterrands langfristigen Zukunftserwartungen von einer Stärkung der eu-
ropäischen Konstruktion grundsätzlich entgegen, die ihm nach den wirtschafts-
politischen Auseinandersetzungen mit Washington und aufgrund eines drohen-
den Scheiterns der sozialistischen Wirtschaftspolitik umso notwendiger
erschienen. Helmut Kohl kam in eben jenem Moment auf den französischen
Präsidenten zu, als dieser auf der Suche nach einer Alternative zu transatlanti-
scher Solidarität war, um eine Modernisierung der französischen Wirtschaft vor-
anzutreiben. Gleichwohl gilt es, die deutsch-französischen Solidaritätserfahrun-
gen unter Schmidt nicht zu gering zu veranschlagen. Die Vertrautheit, die sich
zwischen Bundeskanzler und Präsident entwickelt hatte, musste unter Kohl zwar
neu generiert werden. Sie stellte aber letztlich eine Grundlage dar, auf der die
deutsch-französischen Beziehungen unter Schmidts Nachfolger anknüpfen
konnten.
Im Vorfeld des deutsch-französischen Gipfels im Februar 1982 analysierte das
Secrétariat Général de la Défense Nationale (SGDN) die innenpolitische Situation
von Bundeskanzler Helmut Schmidt. Detailliert wurden dem Elysée die Probleme

 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Brüssel, 29. Juni
1982. In: AAPD 1982, Dok. 196, S. 1039.
 Luhmann, Vertrauen, S. 22 f.
 Loth, Europas Einigung, S. 254.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 177

des Kanzlers dargelegt: Zwar wurde erwartet, dass sich die Regierungskoalition
nach Schmidts gewonnener Vertrauensfrage am 5. Februar trotz erheblicher
Brüche in der Allianz Schmidt/Genscher noch bis Ende des Jahres 1982 werde
halten können. Dennoch wurden verschiedene Zukünfte imaginiert, um auf jed-
wede mögliche Entwicklung vorbereitet zu sein. Von einem Fortbestehen der so-
zialliberalen Koalition versprach sich das SGDN eine Stärkung der europäischen
und deutsch-französischen Kooperation. Andernfalls hielt man eine christde-
mokratisch geführte Regierung für den wahrscheinlichsten Fall. Es wurde vor-
geschlagen, frühzeitig die Fühler nach einem potentiellen Nachfolger Schmidts
auszustrecken: Dem Parteichef der Christdemokraten Helmut Kohl wurde unter-
stellt, sich bereits darauf vorzubereiten. Die politische Haltung der CDU wurde
analysiert und als atlantisch, europäisch und antisowjetisch charakterisiert,
wodurch sich immerhin das Risiko einer nach Osten abgleitenden BRD mini-
mieren könnte. Insgesamt wurde die politische Ausrichtung der Christdemokra-
ten als „favorable, attentive et très coopérative à notre égard“ beschrieben und
offenbar als Chance für „la recherche d’une ‚unité européenne‘ concernant no-
tamment le domaine de la sécurité“ wahrgenommen.⁴¹ Abgesehen von Mitter-
rands zuvor erwähnten Bedenken hinsichtlich eines Regierungswechsels in Bonn
gab es andere Mitglieder innerhalb der französischen Administration, die die
Haltung der CDU und ihres Parteivorsitzenden als Chance für die Umsetzung ei-
gener Zielvorstellungen sahen. Dies deutet an, dass Prozesse von Vertrauensbil-
dung immer auch eine individuelle Dimension enthalten und daher niemals
eindimensional beschrieben werden können. Was bei Diplomaten im Quai d’Or-
say oder Funktionären in SGDN als gute Voraussetzungen für eine künftige Zu-
sammenarbeit bewertet wurde, musste von François Mitterrand oder seinen Be-
ratern keineswegs in gleicher Weise beurteilt werden.
Die enge Zusammenarbeit von Quai d’Orsay und Elysée zeigte sich, als
Cheyssons Berater Daniel Bernard Hubert Védrine nach den Stimmverlusten der
SPD bei den Wahlen in Hamburg am 6. Juni nahelegte, Helmut Kohl künftig mehr
Beachtung zu schenken.⁴² Mit seiner Empfehlung bezog er sich auf Denys Gauer
aus der Europaabteilung des Außenministeriums, der angesichts der Wahlen eine
Rückkehr der CDU an die Bundesregierung 1984 für sehr wahrscheinlich hielt. Die
zunehmende Zerrissenheit der sozialliberalen Koalition ließ einen Bruch immer
wahrscheinlicher werden. Außerdem interpretierte Gauer den Stimmenverlust als

 AN, AG/5(4)/CD/160, Premier Ministre, Secrétariat Général de la Défense Nationale, Note


d’information, La République Fédérale d’Allemagne – Principales difficultés et perspectives,
23. Februar 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/160, MRE, Cabinet de Ministre, Daniel Bernard, Note pour M. Védrine, Invi-
tation éventuelle de M. Kohl à Paris, 9. Juni 1982.
178 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

persönliche Niederlage für den sozialdemokratischen Bundeskanzler, der sich im


Wahlkampf engagiert hatte.⁴³ Ein erstes Ersuchen des christdemokratischen
Parteivorsitzenden um eine Audienz beim Präsidenten hatte François Mitterrand
im Februar 1982 abgelehnt.⁴⁴ Als der Quai d’Orsay dem Elysée im Juni 1982 dies bei
der Gelegenheit von Kohls Besuch in Paris am 2. und 3. Juni 1982 wiederholt
nahezulegen versuchte, stimmte der französische Präsident zunächst unter der
Bedingung zu, vorab mit Schmidt sprechen zu wollen.⁴⁵ In den Abteilungen von
Elysée und Quai d’Orsay war Helmut Kohl also bereits sehr frühzeitig auf den
Radar der Mitarbeiter geraten, die weniger als der Präsident selbst zögerten, be-
reits vor einem Bruch der sozialliberalen Koalition aktiv den Kontakt zum Par-
teivorsitzenden der CDU zu suchen. Ein Grund dafür könnte sein, dass Helmut
Kohl bei den französischen Sozialisten und Diplomaten des Außenministeriums
nicht sehr bekannt war. Anders als zumindest das SGDN sah Mitterrand einen
potentiellen Regierungswechsel in Bonn nicht unbedingt als Chance: Seine Er-
wartung, mit einem Wechsel in Bonn stünden schwierige Zeiten ins Haus, ver-
deutlicht, dass er bereits aufgebauter Erwartungssicherheit gegenüber dem Un-
bekannten den Vorzug gab.
Zum ersten Treffen zwischen Kohl und Mitterrand kam es dann aber nicht im
Juni 1982, sondern erst am 4. Oktober unmittelbar nach der Regierungsüber-
nahme von Helmut Kohl, nachdem die sozialliberale Koalition zerbrochen war.
Die Begegnung stellte Pierre Morel in dem Kontext einer entscheidenden Phase in
der Sicherheits- und Europapolitik.⁴⁶ Neben der Umsetzung des NATO-Doppel-
beschlusses waren Uneinigkeiten der europäischen Mitgliedstaaten bei den Fra-
gen der EG-Erweiterung, der GAP, des Haushaltsbudgets und des britischen Bei-
trags nicht nachhaltig gelöst worden. Deutschland würde in wenigen Monaten
zum 1. Januar 1983 die europäische Ratspräsidentschaft übernehmen. Das kurze
Treffen mit Kohl am 4. Oktober sowie den nächsten deutsch-französischen Gipfel

 AN, AG/5(4)/CD/160, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Centrale, Denys


Gauer, Note pour le Cabinet du Ministre à l’attention de M. Daniel Bernard, Elections du 6 juin
1982 à Hambourg, 8. Juni 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/190, MAE, Cabinet du Ministre, Le Conseiller technique, Daniel Bernard, Note
pour M. Védrine, Projet de visite de M. Kohl à Paris, 3. Februar 1982; AN, AG/5(4)/CD/190, Pré-
sidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine, Note pour le Président de la
République, 4. Februar 1982; AN, AG/5(4)/CD/190, Présidence de la République, Le Conseiller
technique, Hubert Védrine, Note pour Monsieur Bérégovoy, 2. Juni 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/190, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour Monsieur Bérégovoy, 2. Juni 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/190, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel, Note
pour le Président de la République – sous couvert de M. Attali – Elément d’un accord franco-
allemand en matière communautaire, 4. Oktober 1982.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 179

am 21. und 22. Oktober 1982 wollte Morel daher dazu nutzen, eine deutsch-fran-
zösische Übereinkunft in den Gemeinschaftsfragen der nächsten zwei Jahre zu
erzielen. Im Vorfeld des ersten Gesprächs zwischen Mitterrand und Kohl machte
Pierre Morel darauf aufmerksam, dass Frankreich 1984 selbst die europäische
Ratspräsidentschaft übernehme. Er schöpfte aus Erfahrungswissen, dass es zu
einem Erfolg in europapolitischen Fragen stets ein deutsch-französisches Ein-
verständnis brauchte. Daher schlug er dem Präsidenten vor, zentrale deutsch-
französische und europäische Fragen zum Hauptthema des Gesprächs zu ma-
chen. Tatsächlich plädierte Morel für Transparenz und Offenheit, indem sowohl
die kritischen Fragen als auch die eigenen Erwartungen unverblümt auf den Tisch
gelegt würden. So empfahl Morel, das deutsch-französische Handelsgleichge-
wicht und die Frage des britischen Beitrags anzusprechen. Kompromissbereit-
schaft in der Beitrittsfrage von Spanien und Portugal verknüpfte er mit der For-
derung, dass Bonn dafür finanzielle, landwirtschaftliche und kommerzielle
Gegenleistungen akzeptieren müsse.⁴⁷ Um sich fachlich vorzubereiten, hatte
Mitterrand bei seinem Berater Morel Informationen darüber angefordert, welchen
Nutzen die Bundesrepublik aus der EG für ihre Industrie und Landwirtschaft zog.
Dieser kam zu dem Schluss, dass das wirtschaftliche Wachstum der BRD direkt
mit der EG zusammenhing, da der Großteil ihrer kommerziellen Überschüsse in
Europa und insbesondere in Frankreich erwirtschaftet würde und die Gemein-
same Agrarpolitik die deutsche Landwirtschaft transformiert habe.⁴⁸
Die Berater Hubert Védrine und Elisabeth Guigou sahen den außerplanmä-
ßigen Besuch von Kohl und Genscher am Abend der neuen Regierungsbildung als
ein Signal der Kontinuität in den deutsch-französischen Beziehungen. Sie
schlugen dem Präsidenten vor, der Übereinkunft vom deutsch-französischen
Gipfel im Februar 1982 einen neuen Impuls zu geben: Eine Zusammenkunft der
deutschen und französischen Außen- und Verteidigungsminister war da zwar
beschlossen aber bisher nicht in die Tat umgesetzt worden. Védrine und Guigou
sahen das Treffen mit Kohl als Gelegenheit, den neuen Bundeskanzler auf ein
Festhalten an dieser Entscheidung zu verpflichten und zudem angesichts wirt-
schaftlicher Fragen auf ein Treffen von Wirtschafts- und Finanzminister Jacques
Delors mit seinem deutschen Amtskollegen im Vorfeld des nächsten Gipfeltref-

 AN, AG/5(4)/CD/190, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel, Note


pour le Président de la République – sous couvert de M. Attali – Elément d’un accord franco-
allemand en matière communautaire, 4. Oktober 1982.
 AN, AG/5(4)/CD/190, Présidence de la République, Pierre Morel, Note pour le Président de la
République, Les avantages tirés par la RFA de son appartenance à la CEE, 4. Oktober 1982.
180 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

fens zu dringen.⁴⁹ In dem Gespräch zwischen Mitterrand und Kohl war es dann
allerdings gar nicht notwendig, den deutschen Bundeskanzler von einem Treffen
der Außen- und Verteidigungsminister zu überzeugen, da dieser das Thema von
sich aus ansprach. Auf diese Weise wurde ein Termin im Vorfeld des nächsten
deutsch-französischen Gipfels für den 20. und 21. Oktober vereinbart.⁵⁰ Helmut
Kohl erleichterte dem französischen Präsidenten den Einstieg in eine künftige
Zusammenarbeit: Schon der schnelle Besuch außerhalb des Protokolls war ein
symbolischer Akt der Vertrauensbildung, der den Stellenwert, den die neue Re-
gierung den deutsch-französischen Beziehungen einräumte, unterstreichen soll-
te. Auf zwei Ebenen – einer inhaltlichen sowie einer methodischen – versuchte
der Bundeskanzler, Bindungen zu François Mitterrand zu knüpfen. Hinsichtlich
der politischen Vorstellungen waren drei Bekenntnisse des neuen Bundeskanzlers
als gezielte Maßnahmen der Vertrauensbildung entscheidend: Zum einen be-
kräftigte er, dass seine Regierung am NATO-Doppelbeschluss festhalten würde
und reagierte damit auf konstante Sorgen in französischen Regierungs- und Di-
plomatenkreisen vor einem Abgleiten der Bundesrepublik nach Osten.⁵¹ Diesem
persönlichen Bekenntnis verlieh er umso größeren Nachdruck und Verbindlich-
keit, als er dies auch in der Öffentlichkeit wiederholte. Anlässlich der Feierlich-
keiten zum fünfundzwanzigsten Jubiläum des Elysée-Vertrags versprach er seine
Treue zum westlichen Bündnis.⁵² Zum anderen pflichtete Kohl der französischen
Argumentation bei, die französischen Atomstreitkräfte nicht in die Genfer Ver-
handlungen zu integrieren.⁵³ Diese Zusage war darauf gerichtet, Solidarität in
einer Frage zu signalisieren, in der sich der französische Präsident einem stei-
genden Druck ausgesetzt sah. Drittens signalisierte Helmut Kohl unmittelbar zum
Gesprächseinstieg nicht nur seinen Wunsch nach Kontinuität in den deutsch-
französischen Beziehungen,⁵⁴ sondern stellte diese darüber hinaus in einen de-
zidiert europäischen Kontext, indem er seine Überzeugung bekundete, dass Eu-
ropa „nur in der Gemeinsamkeit zwischen Deutschland und Frankreich […] eine

 AN, AG/5(4)/CD/190, Présidence de la République, Elisabeth Guigou et Hubert Védrine, Note


pour le Président de la République, Dîner avec M. Kohl, 4. Oktober 1982.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 4. Oktober 1982.
In: AAPD 1982, Dok. 255, S. 1335.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 4. Oktober 1982.
In: AAPD 1982, Dok. 254, S. 1332.
 Vgl. Kohl, Helmut: Erinnerungen 1982– 1990. München 2005. S. 107.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 4. Oktober 1982.
In: AAPD 1982, Dok. 255, S. 1336.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 4. Oktober 1982.
In: AAPD 1982, Dok. 254, S. 1330.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 181

Zukunft finden“⁵⁵ könne. Die europäische Dimension der deutsch-französischen


Beziehungen, wie Kohl sie verstand, kam Mitterrands Vorstellungen sehr viel
mehr entgegen, als Schmidts Verständnis von einer deutsch-französischen Füh-
rungsrolle in Europa. Mitterrand ergänzte Kohls Ausführungen zur Zusammen-
arbeit auch sogleich darum, dass diese „andere nicht hinten ansetzen“⁵⁶ und
folglich nicht im Sinne einer Achse verstanden werden dürfe. Damit war nicht nur
die Haltung in drei wichtigen, politischen Fragen geklärt, sondern die beiden
schienen darüber hinaus ähnliche – wenn auch hier wenig spezifische –
Grundvorstellungen von den deutsch-französischen Beziehungen und von Europa
zu teilen.
Neben diesen inhaltlichen Aspekten offenbart das Gesprächsprotokoll Ge-
meinsamkeiten im Kommunikationsstil der beiden Politiker, der ihnen einen
persönlichen Zugang zueinander sicherlich erleichterte. Ähnlich wie Mitterrand
dies häufig zu tun pflegte, führte Helmut Kohl mit persönlichen Erinnerungen
und Erfahrungen in dieses Gespräch ein, um eine Distanz von vornherein zu
überwinden und den Aufbau von Bindungen zu erleichtern. Dabei war es wohl
sehr hilfreich, dass er zwei Bezüge herstellte, an die François Mitterrand sogleich
anknüpfen konnte: Wie Mitterrand hatte auch Helmut Kohl eine katholische Er-
ziehung erfahren und hob diese Gemeinsamkeit bei ihrer ersten Begegnung
hervor. Außerdem begründete er seine „leibliche[…] Erfahrung“⁵⁷ der deutsch-
französischen Beziehungen, indem er Begegnungen mit Gründervätern Europas,
Konrad Adenauer und Robert Schuman, anführte. Dies diente einerseits dazu,
sein europäisches Bewusstsein zu bezeugen und lieferte Mitterrand andererseits
einen Gesprächsaufschlag, den dieser sogleich annehmen konnte, indem er selbst
von persönlichen Erinnerungen im Kontext der deutsch-französischen Bezie-
hungen berichtete. Damit waren bereits Grundlagen für eine gute Gesprächsat-
mosphäre geschaffen.
Es ist davon auszugehen, dass Kohls „uneingeschränktes Ja“ zum NATO-
Doppelbeschluss bei dieser Begegnung „ein kleiner, aber wichtiger Beitrag war,
zur Begründung unserer langjährigen Freundschaft, die über ein Zweckbündnis
zweier Regierungen weit hinaus ging“⁵⁸. Ebenso lässt es sich als wichtiger
Grundstein für ein „Vertrauensverhältnis“ zwischen Mitterrand und Kohl be-

 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 4. Oktober 1982.
In: AAPD 1982, Dok. 254, S. 1331.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 4. Oktober 1982.
In: AAPD 1982, Dok. 254, S. 1331.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 4. Oktober 1982.
In: AAPD 1982, Dok. 254, S. 1331.
 Kohl, Erinnerungen, S. 36.
182 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

zeichnen, das letzterer als „Glücksfall für unsere beiden Völker“ charakterisiert
hat.⁵⁹ Allerdings wäre diese Erklärung alleine für komplexe Mechanismen und
langwierige Prozesse von Vertrauensbildung zu simpel. Daher schuf diese erste
Amtsbegegnung zwischen Mitterrand und Kohl insofern zwar einen guten Ein-
stieg, als es eine grundlegende Vertrautheit begründete. Für ein nachhaltiges
Vertrauensverhältnis bedurfte es allerdings vor allem wechselseitiger Solidari-
tätserfahrungen.
Quai d’Orsay und Elysée entwickelten ein Methodensystem, um in der Zeit
nach diesem ersten Kennenlernen einen Prozess der wechselseitigen Vertrau-
ensbildung anzustoßen. Am 31. Januar 1983 fand unter dem Vorsitz von Bertrand
Dufourcq, dem Leiter der Europaabteilung des Außenministeriums, das Treffen
der neu ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe Image de la France en Allemagne statt.
Ihre Aufgabe war es, das Bild Frankreichs in Deutschland zu analysieren und
Fragen und Kritik aufzunehmen, die über die französische Politik in der deut-
schen Öffentlichkeit kursierten. Einen Zugang für diese Untersuchungen ver-
sprach sich die Gruppe insbesondere über Pressedienste der Botschaften, deut-
sche Korrespondenten in Paris, sowie über Studien und Umfragen über die Kritik
an der französischen Wirtschaftsausrichtung in der deutschen Presse.⁶⁰ Auf diese
Art und Weise wurde versucht, Empathie als diplomatische Strategie in einer
Arbeitsgruppe zu institutionalisieren. Die Analyse von Kritikpunkten sollte eine
Harmonisierung der Beziehungen erleichtern, indem sie zur Grundlage gezielter
Vertrauensbildung gemacht wurde. Am 15. März 1983 traf sich die Gruppe ein
weiteres Mal. Nachdem zuvor die Analyse im Zentrum gestanden hatte, wurden
anschließend konkrete Maßnahmen von den Erkenntnissen abgeleitet. Auf ihnen
gründete eine Argumentation in den Bereichen Wirtschaft und Sicherheit, die auf
die deutsche Kritik reagierte. Die Analysen ergaben, dass vor allem bei den
deutschen Korrespondenten in Paris ein kritisches Frankreichbild verbreitet sei,
da ihnen selten der Kontakt zu ranghohen französischen Politikern gewährt
würde. Um dem entgegenzuwirken, sollte Jacques Delors der Vorschlag unter-
breitet werden, sich persönlich mit betroffenen Journalisten zu treffen. Als zweite
Maßnahme wurden Interviews von einigen Ministern in der deutschen Presse in
Betracht gezogen.⁶¹ Hierin manifestiert sich das Bewusstsein, dass nachhaltiges
und vor allem politisch nutzbares Vertrauen nicht auf die Staats- und Regie-
rungschefs alleine begrenzt bleiben durfte, sondern die Bekämpfung von sehr viel

 Kohl, Erinnerungen, S. 104.


 AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Centrale, Dufourcq,
Comptes Rendus, groupe „Image de la France en Allemagne“ – 1ère réunion, 1. Februar 1983.
 AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Centrale, Comptes
Rendus, groupe „Image de la France en Allemagne“ réunion de 15 mars 1983, 17. März 1983.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 183

tiefer in der Gesellschaft verwurzeltem Misstrauen erforderlich war. Als Instru-


ment dafür wurden deutsche Journalisten und Korrespondenten identifiziert, die
als Ursprungsquelle für eine negative Berichterstattung über die französische
Politik verantwortlich gemacht wurden. Darüber hinaus sollte mangelnde
Kenntnis der französischen Politik in der deutschen Öffentlichkeit beseitigt wer-
den, indem sich französische Minister in der deutschen Presse erklärten. Auf
Grundlage von strategischer Empathie wurden in dem Fall medienpolitische
Maßnahmen der Vertrauensbildung entwickelt.
Neben diesen eigenständigen Studien griffen die Mitarbeiter des Quai d’Orsay
auch auf Expertenmeinungen über Deutschland zurück. Auf diese Art und Weise
wurde beispielsweise versucht, Reaktionen auf eine Umsetzung der Nachrüstung
zu kalkulieren. Die Experten J. Rovan, B. Spinelli und J. Dumoulin waren sich in
einem Gespräch mit Denis Delbourg und Mitarbeitern im CAP einig, dass Kohls
Handlungsspielraum sowohl in Moskau als auch in Washington begrenzt sei. Aus
diesem Grund erwarteten sie, dass er versuchen könnte, deutsche Bedürfnisse
durch eine Bestätigung der europäischen Konstruktion zu kompensieren. Daraus
wurde der Schluss gezogen, dass einem drohenden Abgleiten der BRD mit einem
stärker affirmierten französischen Engagement in der deutschen Sicherheit be-
gegnet werden könnte. Die Bonner Regierungskreise seien besonders an den
Modalitäten der französischen Beteiligung an der konventionellen Verteidigung
Europas interessiert und nicht in erster Linie an nuklearen Fragen. In diesem
Gespräch zwischen Experten und Diplomaten wurde der deutschen Seite unter-
stellt, die deutsch-französischen Beziehungen gewissermaßen als Kuhhandel
zwischen strategischen und wirtschaftspolitischen Zugeständnissen zu sehen.
Dem sollte durch gezielte Überzeugungsarbeit entgegengewirkt werden, dass
wirtschaftliche und strategische Prozesse bei der Affirmation Europas parallel
und kongruent verlaufen würden.⁶²
Auch diese Analysen wurden zur Grundlage gezielter Vertrauensbildung, weil
aus den identifizierten Schwierigkeiten für die deutsche Politik verteidigungs-
politische Konsequenzen gezogen wurden. Bereits im Februar 1982 war über eine
europäische Verteidigung à la long terme als Antwort auf mehrere Probleme
nachgedacht worden. Diplomatische Empathie hatte deutsche Perzeptionen
identifiziert, die man zwar für unbegründet und falsch aber aufgrund politischer
Wirkmächtigkeit trotzdem für problematisch hielt. Langfristig, so urteilte das
Centre d’Analyse et de Prévision, müsse Deutschland eine Alternative für eine
doppelte Problemstellung angeboten werden. Es galt, sowohl der als unsicher

 AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Centre d’Analyse et de Prévision, Michel Duclos, Note, Allemagne:
l’avis de trois experts (J. Rovan, B. Spinelli, J. Dumoulin), 16. März 1983.
184 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

wahrgenommenen, amerikanischen Sicherheitsgarantie eine Alternative entge-


genzustellen als auch dem Status als Objekt der rivalisierenden Supermächte zu
entkommen. Dafür wurde erwogen, de Gaulles Interpretation vom rein nationalen
Charakters der französischen Abschreckung eine Interpretation entgegenzustel-
len, in der die Unabhängigkeit der französischen Abschreckung zu einem Aus-
gangspunkt europäischer Autonomie würde.⁶³ Vielmehr als ein Gedankenspiel
war dies de facto nicht, weil von der Doktrin der nationalen Abschreckung nicht
wirklich abgerückt wurde. Gleichwohl wurde diese durch eine langfristige, eu-
ropäische Perspektive in ihrer Argumentation marginal aufgeweicht und stand in
den Folgejahren immer wieder zur Diskussion.⁶⁴ Darüber hinaus schlug das
Centre d’Analyse et de Prévision vor, den deutsch-französischen Sicherheitsbe-
ziehungen eine europäische Perspektive zu geben.⁶⁵ Claude Cheysson und Hans-
Dietrich Genscher kamen dann am 18. Februar 1982 auch überein, den Austausch
in Sicherheitsfragen zu intensivieren. Die beiden Minister hielten dafür eine Zu-
sammenarbeit mit den beiden Verteidigungsministern für ein geeignetes Mittel.⁶⁶
Helmut Schmidt und François Mitterrand hatten bei dem Gipfel im Februar 1982
zwar einem Treffen der Außen- und Verteidigungsminister zugestimmt, dessen
Umsetzung war dann letztlich aber nicht zielstrebig vorangetrieben worden.
Bevor das Treffen unter Schmidts Nachfolger doch noch umgesetzt wurde,
kündigte der französische Verteidigungsminister Charles Hernu dem deutschen
Botschafter Axel Herbst an, dass die französische Regierung die Absicht verfolge,
die in der Bundesrepublik stationierten Truppen umzurüsten. Dies löste bei
Herbst sogleich Unklarheiten und Argwohn aus.⁶⁷ Die Bereitschaft, über den
Gesamtkomplex der französischen Nuklearstrategie sprechen zu wollen, stufte er
zwar als neu ein; die französischen Motive dahinter waren für ihn jedoch unklar.
Er hielt es für möglich, dass dabei auch der Wunsch eine Rolle spielte, die Bun-
desrepublik verteidigungspolitisch stärker an Frankreich zu binden. Womöglich
impliziere dies nicht nur eine deutsche Anlehnung, sondern „auch Abstützung
auf das nuklear gerüstete Frankreich“ für den Fall, dass „der amerikanische

 AN, AG/5(4)/CD/160, MRE, Centre d’Analyse et de Prévision, Note, Approfondissement des


rapports de sécurité franco-allemands, 12. Februar 1982.
 Siehe dafür auch Kapitel 4.
 AN, AG/5(4)/CD/160, MRE, Centre d’Analyse et de Prévision, Note, Approfondissement des
rapports de sécurité franco-allemands, 12. Februar 1982.
 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem französischen Außenminister Cheysson,
18. Februar 1982. In: AAPD 1982, Dok. 60, S. 306.
 Botschafter Herbst, Paris, an das Auswärtige Amt, 16. Oktober 1982. In: AAPD 1982, Dok. 275,
S. 1427 f.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 185

Atomschirm einmal brüchig werden sollte“⁶⁸, spekulierte er weiter. Damit hatte


Hernu die Vorschläge des Centre d’Analyse et de Prévision von Mitte Februar
aufgegriffen. Vor dem Hintergrund ist davon auszugehen, dass mit dieser An-
deutung möglicher Vorleistungen Bereitschaft zu Solidarität signalisiert werden
sollte, um für die Gespräche der Verteidigungsminister und den deutsch-franzö-
sischen Gipfel eine konstruktive Atmosphäre zu schaffen. Zugleich aber stellte es
wohl einen Versuch dar, die verteidigungspolitischen Umstrukturierungen, die de
facto hinter den deutschen Erwartungen zurückblieben, möglichst verheißungs-
voll zu verkaufen.
Nicht nur beim deutschen Botschafter löste diese Ankündigung Argwohn aus:
Am 22. Oktober 1982 insistierte Hans-Dietrich Genscher bei dem Gespräch der
Außen- und Verteidigungsminister, dass die französischen Truppen in der Bun-
desrepublik aufgrund des angeschlagenen deutschen Sicherheitsgefühls nicht
dezimiert werden dürften. Hernu kam dieser Beunruhigung entgegen, indem er
versicherte, dass der Präsident nicht vorhabe, an der ersten Armee zu rühren.⁶⁹
Zudem stellte er in Aussicht, mehr Verantwortung bei der Verteidigung der BRD zu
übernehmen. Betont vertraulich wies er darauf hin, dass er mit der Zustimmung
des Präsidenten und unter Rücksprache mit dem deutschen Verteidigungsmi-
nister die französischen Streitkräfte in Deutschland während der Polenkrise in
höchste Alarmbereitschaft versetzt habe. Damit wollte er explizit unterstreichen,
„daß Frankreich sehr positiv auf unsere Sorgen reagiere.“⁷⁰ Diese Offenheit wollte
der bundesdeutsche Verteidigungsminister Manfred Wörner seinerseits mit Of-
fenheit honorieren und deutete an, dass ein gemeinsamer Hubschrauber als
deutsch-französisches Kooperationsprojekt möglicherweise durchsetzbar sei.⁷¹
Die französische Seite hatte ein besonders Interesse an der Rüstungskooperation.
Unter Kohls Vorgänger Schmidt waren wiederholt Schwierigkeiten aufgetreten
und die Projekte letztlich stecken geblieben.⁷² Dieses Gespräch verdeutlicht eine

 Botschafter Herbst, Paris, an das Auswärtige Amt, 16. Oktober 1982. In: AAPD 1982, Dok. 275,
S. 1427 f.
 Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 22. Oktober 1982. In: AAPD 1982, Dok. 284,
S. 1484 f.
 Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 22. Oktober 1982. In: AAPD 1982, Dok. 284,
S. 1486.
 Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 22. Oktober 1982. In: AAPD 19822, Dok. 284,
S. 1487.
 Siehe u. a. AN, AG/5(4)/CD/160, Président de la République, François Mitterrand à Son Ex-
cellence Monsieur Helmut Schmidt, Chancelier de la République Fédérale d’Allemagne, 13. Januar
1982; AN, AG/5(4)/CD/160, Bundesrepublik Deutschland, Der Bundeskanzler an Seine Exzellenz,
den Staatspräsidenten der Französischen Republik, François Mitterrand, 4. Februar 1982; Loth,
Europas Einigung, S. 248.
186 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

kooperative Haltung, dies- wie jenseits des Rheins. Beide Verhandlungsparteien


zeigten das Interesse, politische Maßnahmen mit den Erwartungen des Partners
zu vereinbaren. Charles Hernu fundierte dies mit einer rhetorischen Strategie:
Durch die Artikulation von Empathie für bundesdeutsche Sorgen wurde versucht,
den Absichtserklärungen eine größere Glaubwürdigkeit zu verleihen. Zugleich
stellt dies eine Form von Gefühlspolitik dar, die sich darauf richtete, Vertrauen zu
evozieren. Insgesamt war dies eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich in
den darauffolgenden Monaten eine zunehmend dynamische Kooperation entwi-
ckeln konnte.
Am 20. April 1983 wurde mit dem französischen Gesetzentwurf zum Militär-
programm 1984– 1988 militärische Umstrukturierungen angenommen. Die rüs-
tungspolitischen Entwicklungen seit den 1970er Jahren waren zu einer Heraus-
forderung für die Sicherheit Westeuropas und die Vorwärtsverteidigung
geworden. Mit dem neuen Programm wurden die französischen Bodentruppen
durch die Schaffung einer schnellen Eingreiftruppe (Force d’Action Rapide bzw.
FAR) reformiert. Die FAR war insofern als Ergänzung zum Einschreiten der ersten
französischen Armee konzipiert, als sie ihr aufgrund größerer Flexibilität vorge-
lagert werden sollte. Sie diente dazu, die Glaubwürdigkeit des französischen
Engagements an den Seiten seiner Verbündeten zu erhöhen. Die Kapazität der
Luftbeweglichkeit wurde gestärkt, die operationelle Kapazität der gesamten Ma-
növerstreitkräfte insgesamt angehoben. Die Abschaffung von zwei Panzerdivi-
sionen ermöglichte die Verstärkung der sechs übrigen. Gleichzeitig wurden die für
einen Kampf an den Seiten der Alliierten verfügbaren Streitkräfte verstärkt. So-
wohl die FAR als auch drei weitere Corps wurden für ein solches Engagement
vorgesehen. Die Verbesserung der logistischen Kapazität ermöglichte außerdem
ein schnelleres Eingreifen der FAR. Insgesamt schrieb Frédéric Bozo diesen
strukturellen und operationellen Modifizierungen den Effekt zu, „d’étendre
considérablement les capacités d’intervention française sur le théâtre Centre-
Europe.“⁷³
Im April 1983 überlegte Jacques Andréani, wie man deutschen Erwartungen
in zwei konkreten Fragen entgegenkommen könnte. Zum einen betraf dies die
Rolle der französischen Streitkräfte im Konflikt- oder Verteidigungsfall auf deut-
schem Territorium. Zum anderen verwies er darauf, dass der Einsatz taktischer
Nuklearwaffen von Manfred Wörner am 20. Oktober 1982 explizit angesprochen
worden sei. Daher schlug Andréani vor, dass Charles Hernu bei dem nächsten
Treffen der Außen- und Verteidigungsminister am 16. Mai die Umstrukturierung
der französischen Streitkräfte persönlich erläutern könnte. Erste grobe Linien

 Bozo, France et l’OTAN, S. 124– 128, Zitat S. 128.


3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 187

könnten auch schon am 29. April von General Lacaze oder Andréani selbst dar-
gelegt werden. Hinsichtlich der taktischen Nuklearwaffen empfahl der politische
Direktor keine grundsätzlich abgeneigte, sondern eher unverbindliche Haltung.
Er nahm an, dass die Umstrukturierung der französischen Streitkräfte den deut-
schen Erwartungen soweit entgegenkamen, dass sie die französische Konzeption
über den Gebrauch taktischer Nuklearwaffen akzeptieren würden.⁷⁴ Das neue
Militärprogramm sollte also einen doppelten Zweck erfüllen: Erstens richtete es
sich darauf, deutschen Erwartungen nach einem gesteigerten französischen En-
gagement in der Verteidigung der BRD und des europäischen Kontinents entge-
genzukommen. Diese Demonstration hatte die Bildung von Vertrauen zum poli-
tischen Ziel. Indem man diese Forderungen befriedigte, sollte zweitens der
französische Handlungsspielraum im nuklearen Bereich gewahrt bleiben, um die
Entscheidungsautonomie nicht anzutasten und Konflikte mit den Partnern zu
vermeiden.
Aus Sicht von Hubert Védrine barg der anstehende Meinungsaustausch über
Sicherheits- und Verteidigungsfragen große Schwierigkeiten: Die deutschen Fra-
gen könnten einerseits nicht unbeantwortet bleiben, stünden aber andererseits
der Tatsache entgegen, dass sich der Gebrauch der französischen Nuklearwaffen
jedweder Form von Abstimmung entziehen würden. Der Bundeskanzler habe dies
zwar grundsätzlich akzeptiert, gleichwohl gelte dies nicht für andere Vertreter der
deutschen Administration. Védrine schlug deshalb vor, die Gespräche in den
konventionellen Bereich zu verlagern, um einer Einschränkung der französischen
Entscheidungsautonomie vorzubeugen und die deutschen Partner durch das
Aufzeigen von Grenzen nicht zu verärgern.⁷⁵ Die französische Solidarität stieß an
ihre Grenzen, sobald die französischen Nuklearwaffen davon betroffen waren. Der
Austausch in Sicherheits- und Verteidigungsfragen setzte die équipe Mitterrand
also einem Dilemma aus. Er diente zwar dazu, durch die Bereitschaft zur Ko-
operation in der BRD ein Solidaritäts- und Sicherheitsempfinden zu fördern.
Gleichzeitig barg er das Risiko von Frustration und Konflikt, da es nach wie vor
Fragen gab, in denen die équipe Mitterrand nur eingeschränkt zu Gesprächen
bereit war. Aufgrund dieses Drahtseilaktes, machte Védrine sich dafür stark, dass
der Präsident vor dem Treffen der Außen- und Verteidigungsminister exakte

 AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Le Directeur des Affaires Politiques, Jacques Andréani, Note pour le
Ministre, Echanges de vues franco-allemands sur les questions de défense et de sécurité, 18. April
1983.
 AN, AG/5(4)/CD/161, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, Echanges de vue franco-allemands sur la défense et la
sécurité, 25. April 1983.
188 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

Konturen einer Abstimmung mit Cheysson und Hernu festlegen sollte. Am 16. Mai
bestünde dann für Mitterrand und Kohl die Möglichkeit, nach den Berichten der
Minister Bilanz über die ersten Monate der Gespräche zu ziehen.⁷⁶
Bevor der deutsch-französische Meinungsaustausch über Sicherheit und
Verteidigung stattfand, versuchte Michel Duclos aus dem CAP über den Staats-
minister im Auswärtigen Amt, Alois Mertes, vorzufühlen, wie die Schaffung der
Force d’Action Rapide in Bonn aufgenommen wurde. Grundsätzlich wurde die FAR
auf deutscher Seite als Fortschritt der französischen Kapazität konventioneller
Verteidigung in Europa und der BRD wahrgenommen. Dennoch diagnostizierte
Duclos auch Vorbehalte, da die deutschen Partner vor der Annahme des Gesetzes
nicht ins Vertrauen gezogen worden waren. Außerdem stieß er auf Skepsis und
Zweifel an der operativen und finanziellen Kapazität der FAR. Für die Fortsetzung
des Dialogs empfahl Duclos wie Védrine, nukleare Fragen auszuklammern und
sich auf den konventionellen Bereich zu konzentrieren, indem man beispiels-
weise die Modalitäten für einen Einsatz der FAR klärte.⁷⁷ Es ist ein weiteres Indiz
dafür, dass die Umstrukturierung der französischen Armee im Frühjahr 1983 zwar
vordringlich der Vertrauensbildung in die verteidigungspolitische Solidarität
Frankreichs diente, um neutralistischen Tendenzen entgegenzuwirken. Aller-
dings wurde die Kapazität der konventionellen Verteidigung wohl auch deshalb
erhöht, um Fragen nach dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen die Grundlage zu
entziehen.
Vollständig ging dieses Kalkül indessen nicht auf. Bei dem Zusammentreffen
der deutschen Kommission für Sicherheit und Verteidigung am 29. April 1983
machte Adréani deutlich, dass die Abschreckung der NATO und jene Frankreichs
nicht fusioniert werden könnten. Als der deutsche General Wolfgang Altenburg
eine Vorwarnung im Falle eines Einsatzes von taktischen Nuklearwaffen auf
deutschem Territorium explizit ansprach, erteilte sein französischer Kollege
Lacaze dem eine deutliche Absage. Fragen im Zusammenhang mit einem nuklear
geführten Kampf machten jedwede Vorabstimmung inakzeptabel. Stattdessen
wurde noch einmal die Bedeutung der FAR hervorgehoben, die einen erheblichen
Beitrag zur Verunsicherung eines Gegners leiste, da ihr Einsatz schnell durch-
führbar sei und keinerlei Verteidigungsmittel (auch keine nuklearen) a priori

 AN, AG/5(4)/CD/161, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,


Note pour le Président de la République, Echanges de vue franco-allemands sur la défense et la
sécurité, 25. April 1983.
 AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Centre d’Analyse et de Prévision, Michel Duclos, Note, Relations de
sécurité franco-allemandes: Entretiens avec A. Mertes, 26. April 1983.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 189

ausschließe.⁷⁸ Denis Delbourg erkannte aber trotz dieser heiklen Fragen keinerlei
Anzeichen dafür, dass ein Risiko für ein Abgleiten des Gesprächsprozesses be-
stünde. Ganz im Gegenteil bemerkte er ein wachsendes Vertrauensklima.⁷⁹ Waren
aus dem französischen Dilemma, der deutschen Seite etwas anbieten zu wollen
und ihr gleichzeitig nicht das liefern zu können, was sie erhoffte, keine deutsch-
französischen Konflikte erwachsen, so ergaben sich doch Schwierigkeiten an
anderer Front. Der Quai d’Orsay war keineswegs blind für die Kritik, die die
deutsch-französische Kooperation im militärischen Bereich in Ländern des Ost-
blocks auslöste, sowie Irritationen bei Partnern der Atlantischen Allianz.⁸⁰
Insgesamt lässt sich feststellen, dass mit dem Amtsantritt von Helmut Kohl,
die Kooperation in militärischen Fragen an Fahrt aufnahm. Interesse dazu be-
stand auf französischer Seite bereits seit 1981 und unter Helmut Schmidt waren
mit der Entscheidung zu Gesprächen der Außen- und Verteidigungsminister
wichtige Voraussetzungen geschaffen worden, die allerdings erst unter seinem
Nachfolger eine tatsächliche Umsetzung erfuhren. Die Intensivierung des Mei-
nungsaustauschs entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einer stetig enger
werdenden Kooperation, die in den folgenden Kapiteln weiteren Untersuchungen
unterzogen wird. Der Meinungsaustausch und die Umstellung der französischen
Armee zur Bekundung verteidigungspolitischer Solidarität mit der BRD fanden
auch einen symbolischen Ausdruck, als François Mitterrand den deutschen
Bundespräsidenten Carstens am 5. Januar 1983 dazu einlud, die in der BRD sta-
tionierten französischen Streitkräfte zu besuchen.⁸¹ Den Besuch, der am 30. Mai
1983 stattfand, stilisierte der französische Präsident als Symbol einer „profonde
solidarité qui lie nos deux nations.“⁸²
Als Zeichen der Solidarität haben Zeitgenossen und Historiker auch die Rede
des französischen Präsidenten vor dem Deutschen Bundestag am 20. Januar 1983
anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums des Elysée-Vertrags interpretiert. Vor-
wiegend wurde sie bisher allerdings als Plädoyer für die Umsetzung des NATO-

 AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Le Conseiller technique, Denis Delbourg, Réunion de la Commis-


sion franco-allemande sur la sécurité et la défense – 29 avril 1983 – Comptes Rendus, 5. Mai 1983
[29. April 1983 handschriftlich hinzugefügt].
 AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Le Conseiller technique, Denis Delbourg, Note pour Hubert Véd-
rine, 2. Mai 1983.
 Vgl. AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Réac-
tions aux conversations franco-allemandes sur la défense, 3. Mai 1983.
 AN, AG/5(4)/CD/161, Le Président de la République, François Mitterrand à Monsieur le Pré-
sident de la République Fédérale d’Allemagne, Karl Carstens, 5. Januar 1983.
 AN, AG/5(4)/CD/161, Le Président de la République, François Mitterrand à Son excellence
Monsieur Karl Carstens, Président de la République Fédérale d’Allemagne, 10. August 1983.
190 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

Doppelbeschlusses gedeutet. Dieses vor allem von zeitgenössischen Wahrneh-


mungen geprägte Urteil soll an dieser Stelle revidiert werden, da es sich aus-
schließlich auf eine Dimension der Rede stützt. Daher wird im Folgenden der
Fokus auf die Vorbereitungen der équipe Mitterrand gelegt, um zu ergründen,
welche Erwartungen sie der Rede entgegenbrachte. Bei der Analyse der Rede
werden anschließend inhaltliche und methodologische Schwerpunkte heraus-
gestellt, um die Ergebnisse schließlich in den Kontext zeitgenössischer Bewer-
tungen und die bisherige Forschung einzuordnen.
Pierre Morel sah die Möglichkeit, vor dem Bundestag zu sprechen, als Gele-
genheit für den Präsidenten, eine große Initiative angesichts der schwierigen Si-
tuation der BRD zu unternehmen. Die Bundesregierung wurde von wirtschaftli-
chem Stillstand und einer Zuspitzung der Debatte um die Euroraketen
gleichermaßen herausgefordert. Deutsch-französischen Unstimmigkeiten in der
wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Kooperation glaubte der Präsiden-
tenberater durch die Perspektive größerer europäischer Autonomie einen Ausweg
aufzeigen zu können.⁸³ Daraus ergibt sich ein dreifacher Kontext für die Bun-
destagsrede: Erstens die Frage der Euroraketen, zweitens Unterstützung der BRD
in der Krise und drittens Initiative für einen Aufbruch Europas. François Mitter-
rand gab für die Vorbereitung der Rede drei inhaltliche Schwerpunkte vor, die sich
grob mit den drei Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft über-
schnitten. Ins Zentrum des ersten Teils wurden Errungenschaften der deutsch-
französischen Beziehungen gestellt. Im zweiten ging es um die Herausforderun-
gen der Gegenwart und die Themen Verteidigung, Sicherheit und Solidarität,
während der dritte Teil mit dem Schlagwort „La Communauté“ überschrieben
wurde.⁸⁴ Nachdem Mitterrand seine Vorstellungen über Inhalt und Struktur am
19. Januar einer Gruppe aus Beratern und Ministern dargelegt hatte, wurden ver-
schiedene Akteure mit der notwendigen Expertise mit der Formulierung jeweiliger
Redeteile beauftragt.⁸⁵ Der Außenminister Claude Cheysson schrieb am dritten
Teil der Rede mit.⁸⁶ Pierre Morel war an der Überarbeitung des ersten Redeteils
beteiligt.⁸⁷ Textteile zu den Fragen Verteidigung, Sicherheit und Solidarität gingen

 AN, AG/5(4)/6523, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel, Note


pour Jean-Louis Bianco, Discours au Bundestag: Nécessité et modalités d’une grande initiative,
17. Januar 1983.
 AN, AG/5(4)/6523, handschriftliche Notiz von François Mitterrand an Jean-Louis Bianco, ohne
Datum.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 19. Januar 1983, S. 455.
 AN, AG/5(4)/6523, Sous-dossier „Textes de Claude Cheysson“.
 AN, AG/5(4)/6523, PM [=Pierre Morel], 18. Januar 1983, Discours au Bundestag, 1ère Partie
révisée.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 191

in Kopie außerdem an General Saulnier und Verteidigungsminister Charles Her-


nu.⁸⁸ Auch vom stellvertretenden Generalsekretär des Elysée Christian Sautter
wurden zu dem Thema „Europa“ Formulierungsvorschläge eingereicht.⁸⁹ Wirt-
schafts- und Finanzminister Jacques Delors steuerte Textteile zum Aspekt der
Europäischen Gemeinschaft bei.⁹⁰ Vielzählige Redeentwürfe verdeutlichen, dass
die ausformulierten Redeteile von Mitterrand wiederum überarbeitet, umformu-
liert und umstrukturiert, von den Mitschreibenden neu formuliert und durch
Mitterrand wiederum korrigiert wurden, sodass man bei dem Ergebnis letztlich
von einem Gemeinschaftsprojekt der équipe Mitterrand sprechen muss: An dem
Entstehungsprozess waren der Präsident, seine Berater und Minister beteiligt.
Jean-Louis Bianco kam dabei die Koordinierungsfunktion der Arbeiten zu, der den
schnellen Austausch zwischen Schreibenden und Präsident sicherstellte.⁹¹
François Mitterrand arbeitete noch bis zur letzten Minute, bevor er im Bundestag
ans Podium trat, akribisch an der Fertigstellung der Rede. Dies bezeugen sowohl
Jacques Attali als auch Helmut Kohl, den Mitterrand bei einer Formulierung zuvor
um Rat fragte.⁹² Der Bundeskanzler empfand dies als „eine ungewöhnliche und
überraschende Geste“ und „Vertrauensbeweis“, den „man sonst nur engen Ver-
trauten entgegen[bringt]“.⁹³ Nur wenige Monate nach Kohls Amtsübernahme
konnte allerdings von einem tiefen Vertrauensverhältnis der beiden wohl kaum
die Rede sein. Plausibler ist es, Mitterrands Geste als kommunikatives Mittel mit
dem Ziel der Vertrauensbildung einzustufen. Kohls Einschätzung erscheint
demgegenüber als retrospektives Urteil, bei dem die Erinnerung durch spätere
Erfahrungen überlagert wurde.⁹⁴
Zu den Vorbereitungen der Rede zählte auch eine begleitende Medienkam-
pagne, die einen weiteren Einblick in Mitterrands Motive gewährt. Bei den Fei-
erlichkeiten zum Jubiläum des Elysée-Vertrags wurde sehr viel Wert auf die öf-

 AN, AG/5(4)/6523, handschriftliche Notiz „copies – Gl Saulnier Ch. Hernu“ auf einer Seite mit
dem Titel „2/Défense, sécurité, solidarité.“
 AN, AG/5(4)/6523, Présidence de la République, Le Secrétaire Général Adjoint, Ch. Sautter,
19. Januar 1983.
 AN, AG/5(4)/6523, Sous-dossier „Texte de Jacques Delors“, Quelques thèmes européens pour
le discours du Président de la République devant le Bundestag (en dehors des développement
concernant les relations bilatérales entre la RFA et la France).
 AN, AG/5(4)/6523, Sous-dossier „Texte initial Cabinet I. Défense, sécurité, solidarité II. Com-
munauté“: Auf der ersten Seite „Défense, sécurité, solidarité“ findet sich die handschriftliche
Notiz: „Partie remise au Président par J.L. Bianco à 17 h 15. Le Président travaille actuellement sur
ce projet.“.
 Siehe Attali, Verbatim 1981– 1986, 20. Januar 1983, S. 456; Kohl, Erinnerungen, S. 104.
 Kohl, Erinnerungen, S. 104.
 Vgl. dazu unter theoretischen Gesichtspunkten Jureit, Erfahrungsaufschichtung.
192 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

fentliche Inszenierung der deutsch-französischen Freundschaft gelegt. Sie um-


fassten ein zweitägiges Programm, bei dem der erste Teil am 20. Januar in Bonn
und der zweite am 21. Januar in Paris stattfand. Am 21. Januar sollte das Fernsehen
bei allen wichtigen Momenten des Tages anwesend sein.⁹⁵ Außerdem wurde ein
gemeinsames Fernsehinterview von Präsident und Bundeskanzler sowohl vom
französischen Sender TF1 als auch dem deutschen ARD ausgestrahlt.⁹⁶ Seine
Bundestagsrede bereitete François Mitterrand in der deutschen Öffentlichkeit
außerdem durch einen Artikel im Spiegel unter dem Titel Gemeinsam das Europa
von morgen bauen vor.⁹⁷ Dieser Artikel, der unmittelbar vor den Feierlichkeiten
erschien, folgte einem ganz ähnlichen Muster, wie seine Rede vor dem Bundestag
am 20. Januar. Auf diese Art und Weise wollte er mit seiner Botschaft nicht nur die
deutschen Volksvertreter erreichen, sondern richtete das Wort direkt an die
deutsche Öffentlichkeit. Im Vordergrund des Artikels standen zum einen Ver-
trauensbildung bei der deutschen Bevölkerung und zum anderen der Aufruf zu
Solidarität. Dafür setzte er verschiedene Strategien ein: Erstens fallen bei der
Analyse des Artikels Begriffshäufungen aus dem semantischen Feld „Vertrauen“
auf („Versöhnung“, „vertraut“, „Vertrautheit“), um Vertrauen durch diese rheto-
rische Strategie zu inszenieren. Zweitens verlieh er seinem eigenen Verbunden-
heitsgefühl gegenüber Deutschland in Form einer Gefühlskommunikation Aus-
druck. Drittens stellte er einen biographischen Bezug zur Geschichte des
20. Jahrhunderts her, was einerseits dazu diente, die Glaubwürdigkeit seiner
Ausführungen zu steigern. Andererseits ließ die Anknüpfung an den Weltkrieg die
deutsch-französische Versöhnung als eine nicht hinterfragbare „notwendige[…]
Versöhnung“⁹⁸ erscheinen. Viertens hob er die deutschen Leser auf Augenhöhe,
indem er sie als Opfer der „Fehler der Führer“ darstellte, die ebenso wie die
Franzosen den „schrecklichen Krieg“⁹⁹ erlitten hätten. Hier offenbart sich eine
Dimension von Gefühlspolitik, die Charles Hernu bereits bei dem Gespräch der
Außen- und Verteidigungsminister eingesetzt hatte. Empathie stellte in dem
Kontext keine diplomatische Strategie dar, um Perzeptionen zu ergründen. Die

 AN, AG/5(4)/CD/174, Présidence de la République, Jean-Michel Gaillard, Note pour Michel


Vauzelle, XXème anniversaire du Traité de l’Elysée „Forces vives“: Argumentaire pour la presse,
5. Januar 1983.
 AN, AG/5(4)/6523, Présidence de la République, Service de Presse, Entretien accordé par
Monsieur François Mitterrand, Président de la République française, et par Monsieur Helmut
Kohl, Chancelier de la République Fédérale d’Allemagne, à TF1 et la Deutsches Fernsehen ARD
Bonn, 20. Januar 1983.
 Mitterrand, François: Gemeinsam das Europa von morgen bauen. In: Der Spiegel 37 (1983) 3,
17.01.1983. S. 100 f.
 Mitterrand, Europa von morgen, S. 100.
 Mitterrand, Europa von morgen, S. 100.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 193

gezielte Artikulation von Empathie diente Mitterrand als Instrument, um in der


deutschen Bevölkerung Vertrauen zu generieren. Der Ausdruck seiner außeror-
dentlichen Bewunderung der deutschen Leistungen diente fünftens nicht nur
einem Schmeicheln und der Vertrauensbildung, sondern als eine Art Portfolio, vor
dem die Krise der Gegenwart als besonders düstere Bedrohung für die Zukunft
erschien. Zu diesem Teil der Strategie zählte es, bei der Leserschaft Ängste zu
evozieren. Dies durfte er allerdings aufgrund der – von seinen Beratern als labil
charakterisierten – bundesdeutschen Öffentlichkeit nicht zu weit treiben. Indem
er seinen festen Glauben an die Stabilität der deutschen Demokratie und Freiheit
der BRD bekundete, ging er zu seinem Aufruf zu Solidarität im Angesicht aktueller
und künftiger Herausforderungen über. Diese Notwendigkeit zu Solidarität leitete
er direkt aus der zuvor imaginierten krisenhaften Zukunft ab. Er bot sogleich eine
alternative Zukunft an, indem er die deutsch-französische Freundschaft nicht nur
in einen europäischen Kontext stellte, sondern sie als „die Grundlage“ präsen-
tierte, „auf der wir gemeinsam das Europa von morgen bauen werden.“¹⁰⁰ Damit
schloss er seinen Artikel mit der Suggestion eines neuen Anfangs und evozierte
dadurch eine Aufbruchstimmung.
Forschung wie Zeitgenossen, die Mitterrands Bundestagsrede nach wie vor
überwiegend in den Kontext des NATO-Doppelbeschlusses stellen, scheinen die
entscheidende Dimension der Rede bisher kaum wahrgenommen und rezipiert zu
haben. Die Vorbereitungen im Elysée offenbaren in Zusammenhang mit der
massenmedialen Strategie Mitterrands Intentionen. Das zentrale Motiv der Rede
war der Wunsch, der Bundesrepublik eine Zukunftsperspektive anzubieten. Sie
lässt sich – seinen Instruktionen entsprechend – in drei inhaltliche Teile gliedern:
deutsch-französische Beziehungen (Vergangenheit), Euroraketenkrise und Blo-
ckierung der EG (Gegenwart) und Zukunftsperspektiven. Im Zentrum stand we-
niger die Frage der Mittelstreckenraketen als vielmehr ein ständiger Bezug zu
Europa und der europäischen Konstruktion. Bereits im ersten Teil stellte Mitter-
rand die deutsch-französischen Beziehungen durchgehend in einen europäischen
Kontext, indem er zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen der deutsch-
französischen Aussöhnung und dem Europäischen Kongress in Den Haag 1948 als
deren Ursprung konstruierte. Zwar ging es Mitterrand im zweiten Teil auch darum,
seinen Standpunkt in der Nachrüstungsdebatte darzulegen. Besonders wichtig
war ihm dabei der Appell an die Wiederherstellung des Kräftegleichgewichts. Da
weite Teile der SPD-Fraktion im Bundestag eine Berücksichtigung der französi-
schen Nuklearstreitkräfte in Genf unterstützten, bekräftigte er zudem noch einmal
deren uneingeschränkte Unabhängigkeit. Ebenso wichtig war ihm aber auch die

 Mitterrand, Europa von morgen, S. 101.


194 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

Krise der EG. Die Lösung dieser Probleme wird dann zur Voraussetzung für den
dritten thematischen Teil, in dem er die Zukunft Europas beziehungsweise seine
Vision eines neuen Europas entwirft, die geradezu als Lösungsansatz für die
gegenwärtigen Probleme erscheint.
Methodisch bediente sich François Mitterrand einer Gefühlspolitik auf ver-
schiedenen Ebenen: Eine Dimension umfasste Vertrauensbildung gegenüber
seinem Publikum, indem er erstens seine Treue zur Atlantischen Allianz versi-
cherte,¹⁰¹ und immer wieder unter der Verwendung rhetorischer Strategien –
insbesondere die häufige Verwendung des Begriffs „Solidarität“¹⁰² – die Solida-
rität zwischen Deutschland und Frankreich oder zwischen den Europäern be-
schwor. Zweitens versuchte er, durch Formulierung wie „meine deutschen
Freunde“¹⁰³ oder „Ihrem ganzen Volk, dem großen, edlen und mutigen Volk, das
wir Franzosen kennengelernt haben“¹⁰⁴ Vertraulichkeit zu suggerieren und damit
bei seinem Publikum auch zu evozieren. Drittens diente das Einflechten per-
sönlicher Erinnerungen wie beispielsweise seine Teilnahme bei dem Europäi-
schen Kongress in Den Haag dazu, die Distanz zu seinem Publikum zu über-
winden und die Glaubwürdigkeit seiner Argumente und Vertrauenswürdigkeit
seiner Person unter Beweis zu stellen.¹⁰⁵ Eine weitere Dimension seiner Ge-
fühlspolitik umfasste das Evozieren negativer Gefühle: Dazu diente die Verwen-
dung einer stark emotionalisierten Sprache („Meine Damen und Herren unsere
Völker hassen den Krieg, unter dem sie und die anderen Völker Europas so viel
gelitten haben.“¹⁰⁶ Hervorhebung durch die Autorin F.S.). Sie richtete sich darauf,
zunächst diese negativen Gefühle zu assoziieren, um sie anschließend zu kana-
lisieren und Befürworter für seine Vorstellungen zum Kräftegleichgewicht zu re-
krutieren. Eine weitere Strategie machte eine ungewisse Zukunft zur Grundlage
seiner Gefühlspolitik: Rhetorisch entwarf er ein düsteres Zukunftsszenario, in
dem Gesellschaften „Zersplitterung und Brüche“ drohen, die „an die Auflö-
sungserscheinungen erinnern, die in den dreißiger Jahren in unseren Ländern
auftraten.“¹⁰⁷ Er malte die „Angst vor der Arbeitslosigkeit“ oder „Sorgen um […

 Vgl. Mitterrand, François: Rede vor dem Deutschen Bundestag am 20. Januar 1983. In:
Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht 142. Sitzung. S. 8987.
 Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8986 f., 8989 f.
 Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8991.
 Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8991.
 Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8991; vgl. hierzu auch: Saunier, „J’y étais, j’y
croyais“, S. 386.
 Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8987.
 Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8989.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 195

die] eigene Zukunft“ an die Wand.¹⁰⁸ Die Schreckensszenarien, durch die er eine
ungewisse Zukunft als gewisse Folge falscher Entscheidungen in der Gegenwart
inszenierte, ließen den Ausweg, den er seinem Publikum im Anschluss anbot, als
einzige alternative Zukunft erscheinen: „die europäische Dimension“ als einzige
Möglichkeit, Europa noch aus der Krise zu führen. Seine Alternative war die von
Morel empfohlene und von den Zeitgenossen wenig beachtete Groß-Initiative für
Europa auf der Grundlage von Solidarität in verschiedenen Bereichen: Die
Schaffung eines „neue[n] Europa der Industrie“, „finanzielle Solidarität“, Zu-
wendung einer „sozialen Dimension“ in Europa.¹⁰⁹ Kurz: Ein Europa mit der
Perspektive „auf allen Gebieten eines Tages frei zu werden von äußeren Bedro-
hungen“ und in der Lage „sich selbst in die Hand zu nehmen.“¹¹⁰ François Mitt-
errand stellte als Ziel all dieser europäischen Initiativen nichts Geringeres als eine
europäische Unabhängigkeit in Aussicht.
Ein regelrechter Ausbruch seiner eigenen Gefühle und der Ausdruck von
Empathie mit antizipierten Gefühlen der Deutschen am Ende der Rede sollte nicht
nur die Bindungen zu seinem Publikum festigen. Vielmehr wollte er durch die
Kommunikation eigener Emotionen bei seinen Zuhörern eben diese Gefühle als
starkes Bindeelement in Bezug auf eine durch und durch europäische Zukunft
hervorrufen: Sie selbst sollten das Verbundenheitsgefühl zu Europa empfinden,
das Mitterrand mit gefühlvollen Deduktionen inszenierte:

Wie soll ich in Worte fassen, was ich, ohne daß es Worte dafür gäbe, in meinem tiefsten
Inneren empfinde und was ich dennoch versuchen muß, zum Ausdruck zu bringen.¹¹¹

Damit will ich verdeutlichen, wie sehr, was ich sage, eigenes Erleben ist, was ich vor dem
Deutschen Bundestag zum Ausdruck bringe, von mir selbst empfunden wird.¹¹²

[…] spüre ich tief in mir selbst, welches die Empfindungen der in der Teilung lebenden
Deutschen sein können. Weil ich ein verwüstetes Europa erlebt habe, spüre ich, welche
Empfindungen die auseinandergerissenen Völker haben können, und ich meine, daß es auf
alle diese Fragen keine andere Antwort gibt: Nicht durch Trennung, nicht durch Sehnsucht,
nicht durch einen sich leicht verschlimmernden Nationalismus, nicht durch Isolierung und
nicht durch Fehleinschätzungen werden wir diese Wege finden, die den von uns vertretenden
Völkern Nutzen bringen, sondern in der Einheit, der Gemeinschaft, der Freundschaft und
dem Verständnis.¹¹³

 Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8989.


 Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8990.
 Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8991.
 Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8991.
 Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8991.
 Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8991 f.
196 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

Die französische Presse interpretierte die Rede als „un ralliement à l’option zéro
de Reagan“¹¹⁴ und der amerikanische Präsident legte sie als Dienst an der At-
lantischen Gemeinschaft aus. Er ließ Mitterrand seine bewundernden Glück-
wünsche zukommen und schrieb: „Your address represents an important con-
tribution to our mutual efforts to strengthen western security and the need, as you
put it, for ‚solidarity and determination’ as the necessary basis for arms control
progress.“¹¹⁵. Dabei ignorierte er beharrlich Mitterrands erklärte Absicht, die
französische militärische und diplomatische Unabhängigkeit zu wahren. Die
zeitgenössischen Interpretationen verweisen darauf, wie an die Rede herange-
tragene Erwartungen ihre Wahrnehmung beeinflussten. Helmut Kohl hatte anders
als der amerikanische Präsident – zumindest in der Retrospektive – begriffen,
dass „Fragen der Sicherheit und der Zukunftsperspektiven der Europäischen
Gemeinschaft […] im Mittelpunkt seiner Rede [standen]“¹¹⁶. Obwohl Jean-Philippe
Baulon der zeitgenössischen Interpretation eines „allignement sur la position
américaine“ widerspricht und die Rede für komplexer hielt als ein atlantisches
Glaubensbekenntnis, rückte er sie doch primär in die Perspektive einer Unter-
stützung Kohls in der Frage um die Euroraketen.¹¹⁷
Insgesamt gilt es festzuhalten, dass die Bedeutung von Mitterrands Rede im
Deutschen Bundestag bisher durch Zeitgenossen wie Historiker völlig verkannt
wurde, da sie weniger ein Beitrag zu den zeitgenössischen Diskursen um die
Mittelstreckenraketen war. Vielmehr entwarf sie eine Vision für ein „Europa von
Morgen“, eine große Initiative also, die Mitterrands Berater Pierre Morel als not-
wendige Antwort auf die schwierige Situation der BRD vorgeschlagen hatte.¹¹⁸
Alles in Allem bedarf die Rede von François Mitterrand im Deutschen Bundestag
daher einer grundlegenden Neubewertung. Zwar hat Hélène Miard-Delacroix
bereits auf ihre starke europäische Ausrichtung verwiesen.¹¹⁹ Dieser Gedanke
wurde allerdings bisher nicht weit genug entwickelt, um der Bedeutung der Rede
hinreichend gerecht zu werden. Sie muss noch viel stärker als ein Versuch gese-
hen werden, der Bundesrepublik (der Regierung, den Abgeordneten, sowie der
deutschen Öffentlichkeit) ein Zukunftsangebot zu machen. Zwar lieferte Mitter-

 Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 229; vgl. außerdem: Dumas, Affaires étrangères, S. 162 f.
 AN, AG/5(4)/6523, From White House to the Elysée Palace, his Excellency François Mitter-
rand, President of the French Republic, Paris, via blue Channels, 26. Januar 1983.
 Kohl, Erinnerungen, S. 106.
 Baulon, Risque, S. 178, 181.
 AN, AG/5(4)/6523, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel, Note
pour Jean-Louis Bianco, Discours au Bundestag: Nécessité et modalités d’une grande initiative,
17. Januar 1983.
 Miard-Delacroix, Kontinuität, S. 552.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 197

rand lediglich vage Ideen für eine künftige Orientierung Europas. Im Zusam-
menhang mit der Empfehlung von Pierre Morel, der die Entwicklungen in
Deutschland mit Sorge beobachtete, erscheint diese Rede jedoch als Ausgangs-
punkt einer Groß-Initiative für Europa. Sie sollte gewissermaßen das Fundament
für ein stärkeres Verbundenheitsgefühl der BRD zu Frankreich und zu Europa
schaffen. Konkrete Vorschläge waren auch gar nicht beabsichtigt, da zunächst der
Boden für künftige Initiativen bereitet werden sollte: In der Hochphase der Eu-
roraketenkrise und der sowjetischen Offensive auf die westeuropäische insbe-
sondere die bundesdeutsche Öffentlichkeit, machte Mitterrand ein Angebot für
eine alternative Zukunft, indem er eine Vision erzeugte und Gefühle evozierte, die
diese Überzeugung festigen sollten. Er bot ihnen gewissermaßen einen Ausweg
aus den aktuellen Spannungen an, indem er ihre gegenwärtigen Sorgen in ein
stärkeres europäisches Engagement zu kanalisieren versuchte. Durch das Evo-
zieren von Gefühlen wollte er Unterstützter für seine Zukunftsvision von Europa
gewinnen. Mit diesen Erkenntnissen sollen die bisherigen Ergebnisse der For-
schung weniger negiert als ergänzt werden. Baulon hatte keineswegs Unrecht, die
Rede auch als Unterstützung für die Haltung der von Kohl geführten Bundesre-
gierung zu interpretieren.¹²⁰ Diese Erfahrung von Solidarität dürfte bei ihr auch
die Bereitschaft gestärkt haben, dem französischen Partner in einem krisenhaften
Moment beizustehen und Unterstützung zu gewähren.
Eine Gelegenheit dazu erhielt sie im Frühjahr 1983. Trotz zweimaliger Ab-
wertungen des Franc im Oktober 1981 und Juni 1982 und einer Rückkehr zur
Sparpolitik im Juni 1982 fand die französische Währung nicht zu neuer Stabilität.
Die Periode zwischen Sommer 1982 und März 1983 war von einer Unsicherheit und
schwankenden Währung gekennzeichnet.¹²¹ Der Druck, das Europäische Wäh-
rungssystem (EWS) zu verlassen oder dies durch eine nochmalige Abwertung zu
vermeiden, wuchs im Frühjahr 1983. In den Erinnerungen zahlreicher zeitgenös-
sischer beteiligter Akteure erscheint die Diskussion als eine Debatte zwischen
zwei Lagern. Befürworter einer neuen Abwertung in Verbindung mit Sparmaß-
nahmen standen jenen gegenüber, die ein Verlassen des EWS präferierten und auf
nationale Maßnahmen zur Gesundung der Wirtschaft setzten.¹²² Dass zwischen
diesen beiden Lagern keine eindeutige Linie verlief zeigt schon, dass beispiels-
weise Pierre Bérégovoy, einst Generalsekretär des Elysée und seit 1982 Minister für
soziale Fragen, ein kurzweiliges Ausscheiden aus dem EWS befürwortete. Kom-

 Baulon, Risque, S. 179.


 Vgl. Asselain, Expérience socialiste, S. 414.
 Vgl. Attali, Verbatim 1981– 1986, 14. März–24. März 1983, S. 483 – 494; Dumas, Affaires
étrangères, S. 121– 141; Fabius, Laurent: Les Blessures de la Vérité. Paris 1995. S. 73 – 75.
198 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

biniert mit internen Sparmaßnahmen sollte dies ermöglichen, mit einer gestärk-
ten industriellen Wettbewerbsfähigkeit zurückzukehren.¹²³ In den Darstellungen
der Zeitgenossen hat es zudem den Anschein, dass François Mitterrand regel-
mäßig Argumenten von Gegnern und Befürwortern für den Verbleib im EWS zu-
hörte und bis zum letzten Moment nicht eindeutig Stellung bezog, zu welcher
Lösung er selbst tendierte. Dieser Eindruck eines Kampfes zwischen zwei Lagern
wurde bereits durch Jean-Charles Asselains Beobachtung relativiert, dass die
Linie ab März 1983 entgegen einer Dramatisierung der Debatte über ein Verlassen
des EWS eher einer Synthese geglichen habe.¹²⁴
Plausibler als Mitterrands Zögern als Unentschlossenheit zu deuten, ist es,
dieses als Teil der Strategie zu begreifen. Roland Dumas berichtet, dass die
französische Regierung für eine erneute Abwertung des Franc die Zustimmung
der europäischen Partner benötigte und den Deutschen dafür eine größtmögliche
Aufwertung der DM abringen mussten. Nachdem Jacques Delors Gespräche in
Bonn geführt hatte, erschien die deutsche Haltung in dieser Frage nicht besonders
ermutigend.¹²⁵ Helmut Kohl berichtet in seinen Memoiren von einer sehr gehei-
men Initiative von François Mitterrand. Über den Staatssekretär des französischen
Finanzministeriums Michel Camdessus und dessen deutschen Amtskollegen
habe er ein persönliches Schreiben übermittelt, in dem er angedeutet habe, dass
Frankreich vor einer schwerwiegenden Entscheidung stünde, bei der die Rolle
Deutschlands in der Europapolitik und speziell in der Währungsfrage entschei-
dend sei. Ihm (Kohl) sei klar gewesen, dass Mitterrand damit auf eine Verände-
rung des Wechselkurses zur Stabilisierung des Franc zielte.¹²⁶ Entgegen der ein-
helligen Meinung der europäischen Finanzminister und des
Notenbankpräsidenten autorisierte Helmut Kohl Gerhard Stoltenberg, direkt mit
Paris zu verhandeln. Er erteilte seinem Finanzminister „über alle Bedenkenträger
hinweg […] die Weisung, sich für eine Aufwertung der D-Mark einzusetzen“, weil
er es für notwendig hielt, „unseren französischen Nachbarn und ihrem Präsi-
denten in einer schwierigen Lage zu helfen.“¹²⁷ Kohls Erinnerungen stimmen in
seiner Sicht mit den Berichten von Roland Dumas überein.¹²⁸ Jacques Delors
führte in Brüssel äußerst schwierige Verhandlungen, da die französische Seite
sich für eine Abwertung des Franc um 3 und eine Aufwertung der DM um 9
Prozentpunkte einsetzte. Da die übrigen Finanzminister dies hingegen ablehnten,

 Vgl. Asselain, Expérience socialiste, S. 417.


 Asselain, Expérience socialiste, S. 419.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 116, 118, 126.
 Kohl, Erinnerungen, S. 108.
 Kohl, Erinnerungen, S. 110.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 127.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 199

drohte Delors damit, dass der Präsident sich womöglich zu einem Verlassen des
EWS genötigt sehen könnte.¹²⁹
Die Überlegung, das Europäische Währungssystem zu verlassen, stand al-
lerdings in völligem Gegensatz zu Mitterrands europapolitischen Absichten, die
sich im Zuge der Bundestagsrede bereits andeuteten und die im Verlauf dieses
Kapitels noch weiter herausgearbeitet werden. Erstens argumentiert Asselain,
dass mit einem Austritt aus dem EWS die äußeren Beschränkungen keineswegs
verschwunden wären und eine schwankende Währung kein adäquater Ersatz zur
Sparpolitik sein konnte.¹³⁰ Zweitens hatte Mitterrand langfristig kein Interesse an
einem Signal nationaler Alleingänge und Abschottung, das seinen Initiativen
Richtung einer relance europeenne sicherlich nicht förderlich gewesen wäre. Was
François Mitterrand hingegen dringend brauchte, war eine bessere Verhand-
lungsposition. Da sich die Pariser Regierung eigentlich eher in der Position eines
Bittstellers befand und somit schlecht Bedingungen stellen konnte, diente die
Drohung mit einem Verlassen des EWS, das durch das Zögern des Präsidenten als
glaubhaftes Bedrohungsszenario im Raum stand, dazu, den französischen
Handlungsspielraum gegenüber den europäischen Partnern und insbesondere
der Bundesrepublik zu erhöhen.

Écoutant les uns et les autres, donnant le sentiment qu’il hésitait, laissant penser tour à tour
qu’il penchait pour un bord ou pour l’autre, inquiétant les uns, rassurant les autres, il a
conduit la navire à son bord, évitant les écueils.¹³¹

Nachdem am 21. März nach langwierigen Verhandlungen in Brüssel eine Einigung


über einen neuen Wechselkurs im EWS erzielt werden konnte, bei der die DM um
5,5 Prozent auf- und der Franc um 2,5 Prozent abgewertet wurde, kündigte
François Mitterrand am 23. März 1983 in einer Fernsehansprache Stabilisie-
rungsmaßnahmen an. Der Beschluss zu einem Zehn-Punkte Programm zur Sa-
nierung der Wirtschaft wurde durch die französische Regierung am 25. März
umgesetzt.¹³²
Die Inszenierung des Zögerns und der Entscheidung zwischen zwei sich
ausschließenden Zukünften war insofern von Erfolg gekrönt, als Helmut Kohl sich
wohl nicht nur verpflichtet fühlte, dem französischen Nachbarn zu helfen. Da er
sich, wie auch im ersten Gespräch der beiden deutlich wurde, europapolitisch zu

 Dumas, Affaires étrangères, S. 130.


 Asselain, Expérience socialiste, S. 417.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 141.
 Runderlaß des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Steinkühler, 23. März 1983. In: AAPD
1983, Dok. 74, S. 373 f.
200 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

profilieren versuchte, hätte der Verlust des französischen Partners das Umsetzen
seiner Absichten allemal schwieriger gemacht. Förderlich wirkte sich diese Epi-
sode auch für den Prozess der deutsch-französischen Vertrauensbildung aus.
Nachdem Mitterrand und die französische Regierung in den vergangenen Mo-
naten um die Demonstration verteidigungspolitischer Solidarität bemüht gewe-
sen waren, machten sie nun ihrerseits die Erfahrung von Solidarität in wäh-
rungspolitischen Fragen. Für die deutsch-französische Abstimmung und die
relance européenne der folgenden Monate war dies ein entscheidender Faktor.
Darüber hinaus führte diese Inszenierung aber auch zu der Etablierung eines
wirkmächtigen Narrativs, das die Entscheidung im März 1983 zu einer Entschei-
dung für Europa stilisierte. Mitterrands ehemalige Beraterin Elisabeth Guigou
bezeichnete die Entscheidung als einen historischen Moment, indem Frankreich
„est alors entrée de plain-pied dans l’Europe.“¹³³ Roland Dumas stellt es ebenfalls
so dar, dass dadurch der monetäre Kurs gehalten und das Überleben der Linken
an der Regierung gesichert werden konnte. Damit habe sich Mitterrand definitiv
für Europa und gegen die Abschottung entschieden.¹³⁴ Die Wirkmächtigkeit dieser
nachträglichen Rationalisierung zeigt sich darin, dass auch in der historischen
Forschung dieser Moment als „choix de l’Europe“¹³⁵ oder „tournant communau-
taire de mars 1983“¹³⁶ bezeichnet wird. Es soll an dieser Stelle keineswegs ange-
zweifelt werden, dass der Verbleib Frankreichs im Europäischen Währungssystem
eine zunehmende europapolitische Dynamisierung begünstigte. Allerdings wird
die These aufgestellt, dass die Entscheidung weniger offen war, als es in der öf-
fentlichen Diskussion und Darstellung den Anschein hatte. Vielmehr war das
Zuspitzen der Debatte Teil von Mitterrands Strategie, um seinen Verhandlungs-
partnern vor Augen zu führen, was auf dem Spiel stand. Ohne also ein tatsäch-
liches Ass für die Verhandlungen im Ärmel zu haben, wurde gewissermaßen
durch einen Bluff der Verhandlungsspielraum vergrößert.
Die Untersuchungen dieses Kapitels haben ergeben, dass zwischen François
Mitterrand und Helmut Schmidt ein zaghafter Prozess der Vertrauensbildung
einsetzte, der eher im Bereich der Erwartbarkeit verhaftet blieb und nicht zum
Aufbau von nachhaltigem Vertrauen führte. Er war vor allem durch ein gegen-
seitiges Kennenlernen und durch Lernprozesse der in der Regierungspraxis un-
erfahrenen Sozialisten gekennzeichnet. Mit dem Amtsantritt von Helmut Kohl
konnte an diese Vorleistungen angeknüpft werden. Gleichwohl sind die Erfah-

 Guigou, Elisabeth: Une femme au cœur de l’Etat. Entretiens avec Pierre Favier et Michel
Martin-Roland. Paris 2000. S. 58.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 116, 141.
 Asselain, Expérience socialiste, S. 412.
 Bossuat, Faire l’Europe, S. 163.
3.2 Vollzug der Nachrüstung und die Wahrung französischer Unabhängigkeit 201

rungen der ersten Amtsjahre als historische Dimension jenes Vertrauens von
Bedeutung, das sich auf individueller Ebene zwischen einzelnen deutschen und
französischen Akteuren zu entwickeln begann. Der Koalitionswechsel in Bonn fiel
mit dem Moment höchster Frustration in den französisch-amerikanischen Be-
ziehungen zusammen.¹³⁷ Da Mitterrand sich nach den Erfahrungen der ersten
anderthalb Jahre nach neuen Partnern für die Modernisierung der französischen
Wirtschaft umsah, entwickelte sich eine Interessenkongruenz zwischen Mitter-
rand und Kohl, die zu einer Entfaltung neuer Dynamik in den deutsch-französi-
schen Beziehungen mit europapolitischer Perspektive beitrug. Dennoch wäre es
unterkomplex von deutsch-französischem Vertrauen im Allgemeinen zu spre-
chen; vielmehr muss bei der Untersuchung von individuellem Vertrauen der
Komplexität von Akteursgeflechten Rechnung getragen werden. Es darf nicht die
Illusion eines konstanten und bei allen Akteuren gleichermaßen ausgeprägten
Vertrauens entstehen. Ihre Bildungsprozesse sind auch keineswegs linear, viel-
mehr mehrdimensional und verzeichnen unterschiedliche Geschwindigkeiten in
Hinblick auf verschiedene Personenkreise oder der betreffenden politischen
Fragen.

3.2 Vollzug der Nachrüstung und die Wahrung französischer


Unabhängigkeit
Zu Beginn des Jahres 1983 waren die Wahrnehmungen stark von der Entscheidung
über die Nachrüstung geprägt. Auf diese Weise lässt sich auch erklären, weshalb
der europapolitische Impuls, den François Mitterrand mit seiner Bundestagsrede
hatte geben wollen, kaum wahrgenommen und stattdessen als „un ralliement à
l’option zéro de Reagan“¹³⁸ missverstanden wurde. François Mitterrand beklagte
gegenüber dem Bundeskanzler, dass er sich der Nulllösung keineswegs ange-
schlossen, sie in seiner Rede nicht einmal erwähnt habe. Stattdessen präferiere er
nach wie vor einen Kompromiss zwischen amerikanischer und sowjetischer Ver-
handlungsposition.¹³⁹ Wie bereits ausgeführt wurde, war der französische Präsi-
dent seit der zweiten Jahreshälfte 1982 nicht mehr von der Durchsetzungsfähigkeit
der amerikanischen Nulllösung überzeugt. Der politische Direktor Jacques And-
réani zweifelte ebenfalls an der Durchsetzbarkeit einer Kompromisslösung, die

 Siehe dafür Kapitel 2.


 Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 229; vgl. außerdem: Dumas, Affaires étrangères, S. 229.
 Siehe Attali, Verbatim 1981– 1986, 21. Januar 1983, S. 458.
202 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

eine Teilaufstellung westlicher Raketen sowie eine partielle Reduzierung der so-
wjetischen SS-20 vorsah. Er ging davon aus, dass die sowjetische Führung dies
ablehnen würde.¹⁴⁰ Eine Kompromisslösung wäre für den französischen Präsi-
denten zwar wünschenswert, dennoch setzte er nicht alles auf diese eine Karte.
Für den Fall, dass es zu keiner Einigung in Genf kommen würde, musste sicher-
gestellt werden, dass die Umsetzung des Nachrüstungsbeschlusses nicht am
Widerstand der bundesdeutschen Öffentlichkeit und letztlich an einem negativen
Votum der deutschen Bundestagsabgeordneten scheiterte. Da es offiziell den
Status französischer Unabhängigkeit zu wahren galt, blieb dafür nur der inoffi-
zielle Weg. Die Strategie der équipe Mitterrand beruhte insofern auf einer Kom-
bination aus offizieller Demonstration französischer Unabhängigkeit und inoffi-
ziellen Versuchen, das Abstimmungsergebnis in der Bundesrepublik zu
beeinflussen.
Die erste Kontaktaufnahme zwischen Kohl und Mitterrand hatte ein Einver-
ständnis in sicherheitspolitischen Fragen offenbart, da der neue Bundeskanzler
dem französischen Präsidenten sogleich seine Treue zur Allianz und dem NATO-
Doppelbeschluss versichert hatte. Die Umsetzung des Nachrüstungsbeschlusses
war allerdings trotzdem alles andere als sicher. Nicht nur brauchte der Bundes-
kanzler für den Beschluss zur Nachrüstung die Zustimmung des Parlaments; 1983
standen auch vorgezogene Bundestagswahlen ins Haus. Wie er François Mitter-
rand nachträglich darlegte, war die Nachrüstungsfrage sein wesentliches Motiv
dafür, die Wahlen von 1984 vorzuziehen, damit Gegner seiner Regierung ihm
nicht vorwerfen konnten, „kein direktes Mandat für die entsprechenden Ent-
scheidungen“ zu besitzen.¹⁴¹ Das französische Außenministerium beobachtete
unaufhörlich die Entwicklungen in der Bundesrepublik und die Haltungen in
Bezug auf den NATO-Doppelbeschluss der unterschiedlichen politischen Rich-
tungen. Bereits vor dem Koalitionswechsel in Bonn hatte der linke Parteiflügel der
SPD an Kraft gewonnen. 1983 konstatierten Mitarbeiter des Quai d’Orsay, dass sich
die offizielle Haltung der Sozialdemokraten und die ihres Kanzlerkandidaten
Hans-Jochen Vogel grundlegend von der Bundesregierung und den Amerikanern
unterscheide und sich stattdessen immer mehr am linken Flügel orientiere. Daher
wurde die Durchreise von Vogel als Chance gesehen, ihm die französische Sicht in

 AN, AG/5(4)/CD/161, MAE, Direction des Affaires Politiques, Note, Comptes Rendus des
entretiens des Directeurs Politiques allemand et français (Bonn – 23 février), 25. Februar 1983
[handschriftlich geändert in 23. Februar 1983].
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Brüssel. In: AAPD
1983, Dok. 71, S. 358.
3.2 Vollzug der Nachrüstung und die Wahrung französischer Unabhängigkeit 203

dieser Frage zu erläutern.¹⁴² Bei ihrer Begegnung machte François Mitterrand ihm
seine Position deshalb noch einmal deutlich: Ein Gleichgewicht sei weder mit
Reagans Nulllösung noch mit Andropows Moratoriums-Vorschlägen zu errei-
chen.¹⁴³
Die sowjetische Führung hatte ihrerseits einen Kampf um die öffentliche
Meinung in der Bundesrepublik in Angriff genommen. Den Besuch von Andrej
Gromyko in Bonn interpretierte das Centre d’Analyse et de Prévision als aktiven
Eingriff in den bundesdeutschen Wahlkampf, da sich der sowjetische Außenmi-
nister für Vogel als Wunschkandidaten für das Bundeskanzleramt aussprach.¹⁴⁴
Im SGDN wurden ähnliche Schlüsse aus Gromykos Besuch in Bonn gezogen: Ihm
wurde unterstellt, mit seinen Erklärungen die klassischen sowjetischen Ziele zu
verfolgen und den Druck in einem Maße zu erhöhen, um eine Regierungsüber-
nahme der Sozialdemokraten zu unterstützen.¹⁴⁵ Die französischen Akteure
blieben nicht indifferent und versuchten, sich ihrerseits zu engagieren. Anstatt
sich an dem Kampf um die öffentliche Meinung zu beteiligen, setzten sie aller-
dings darauf, die Vertreter der SPD eher inoffiziell von einem Kurswechsel zu
überzeugen und über verschiedene Kanäle Einfluss auf die Positionen der Sozi-
aldemokraten zu nehmen. Den Kanzlerkandidaten hatte der Präsident persönlich
zu überzeugen versucht. Verteidigungsminister Hernu sprach am 1. März 1983 mit
Hans-Jürgen Wischnewski, um ihn vom französischen Standpunkt in Sicherheits-
und Verteidigungsfrage zu überzeugen. Da die SPD nachdrücklich den Einbezug
der französischen Atomarsenale befürwortete, um ein Abkommen in Genf zu er-
möglichen, war die Ablehnung einer prise en compte zentrales Thema des Ge-
sprächs. Hernu unterstrich die Plausibilität des französischen Standpunktes, in-
dem er das französische Engagement bei der Verteidigung Deutschlands
herausstellte. Neben der Beteiligung mit konventionellen Streitkräften, sei der
nukleare Unsicherheitsfaktor der force de frappe doch ebenso von Vorteil für die
Bundesrepublik, wohingegen eine Rückkehr Frankreichs in die NATO einer Ent-
kopplung Vorschub leisten würde. Als er daran appellierte, dass Deutschland und
Frankreich mit einer Stimme sprechen müssten, weil Andropow nicht nur einen
Keil zwischen die USA und Europa sondern auch zwischen Paris und Bonn treiben

 AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégiques
et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Entretien du
Président de la République avec M. Vogel. Questions stratégiques, 11. Januar 1983.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 21. Januar 1983, S. 453.
 AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Centre d’Analyse et de Prévision, Note, Gromyko à Bonn, 19. Ja-
nuar 1983.
 AN, AG/5(4)/CD/161, Premier Ministre, Secrétariat Générale de la Défense Nationale, Pre-
miers réflexions sur la visite de M. Gromyko à Bonn du 16 au 18 janvier 1983, 20. Januar 1983.
204 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

wolle, ermahnte er den sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten de facto


dazu, die Forderungen um die Drittpotentiale fallen zu lassen.¹⁴⁶ Neben den
unterschiedlichen diplomatischen Ebenen wurde auch versucht, über Parteiver-
bindungen zwischen Parti socialiste und SPD einen Einfluss auf deren politische
Positionen geltend zu machen. Als Horst Ehmke beim SPD-Parteitag am 21. Januar
1983 für Frankreich inakzeptable Forderungen nach einer prise en compte ein-
bringen wollte, empfahl François Heisbourg eine schnelle Reaktion durch die
Direktion der sozialistischen Partei beispielsweise in Form eines Briefes durch
den ersten Sekretär Lionel Jospin an Willy Brandt.¹⁴⁷
Unmittelbar vor den Wahlen kalkulierte das SGDN etwaige politische Kon-
sequenzen und imaginierte mögliche Zukünfte, die je nach Ausgang der Bun-
destagswahl variierten. Bei einer Koalition aus CDU und FDP wurde nicht an einer
Treue zur Atlantischen Allianz gezweifelt. Demgegenüber barg eine Mehrheit für
die SPD das Risiko für Spannungen innerhalb des Bündnisses. Dessen Zusam-
menhalt wurde von Mitterrand und seiner équipe als unerlässlich gesehen, um die
Euroraketenkrise zu überstehen. Mit einem sozialdemokratischen Bundeskanzler
und mit einem politischen Kurswechsel in Bonn stünde dieser auf dem Spiel.¹⁴⁸
Obwohl es nicht zu dem gefürchteten Regierungswechsel in der Bundesre-
publik kam und die Bundesregierung am 6. März in ihrem Amt bestätigt wurde,
drohte an anderen Fronten Konfliktpotential zwischen den westlichen Verbün-
deten. Beim G7-Gipfel in Williamsburg kam es zu neuerlichen Zusammenstößen.
An früherer Stelle wurde bereits auf Irritationen und Konflikte hingewiesen, die
mit der kanadischen Delegation in Bezug auf die atomaren Drittpotentiale auf-
traten. Es gelang schließlich, einen Eklat zu vermeiden, indem die Frage in der
Abschlusserklärung in einer für Mitterrand annehmbaren Formulierung aufgelöst
wurde. Die Verhandlungen um das Kommuniqué gestalteten sich insgesamt
schwierig und offensichtlich führte der französische Außenminister sie auch nicht
in Mitterrands Sinne: Bei Jacques Attali machte der Präsident seinem Ärger Luft
und beklagte sich: „Cheysson, avec sa passion du compromis, mène la France à
l’abandon. Si je n’arrête pas ce texte, la France n’aura plus l’arme nucléaire dans

 AN, AG/5(4)/CD/161, Ministère de la Défense, Cabinet de Ministre, Le Conseiller technique,


François Heisbourg, Comptes Rendus, Entretien du Ministre de la Défense avec M. Wischnewski
(1er mars 1983), 3. März 1983.
 AN, AG/5(4)/CD/161, François Heisbourg, Note communiqué à Jean-François Dubos, double
décision – propositions du SPD, 20. Januar 1983.
 AN, AG/5(4)/CD/161, Premier Ministre, Secrétariat Générale de la Défense Nationale, Fiche,
La RFA après les élections législatives anticipées du 6 mars 1983. Atlantisme ou „Neutralisme“?,
28. Februar 1983.
3.2 Vollzug der Nachrüstung und die Wahrung französischer Unabhängigkeit 205

dix ans.“¹⁴⁹ Bevor jedoch eine neuerliche diplomatische Krise zwischen Wa-
shington und Paris ausgelöst wurde, mit der Reagans Sicherheitsberater William
Clark Jacques Attali in einem vertraulichen Gespräch am Rande der Verhand-
lungen drohte, gelang es, einen Kompromiss für die Abschlusserklärung zu er-
zielen. Darin konnte die französische Unabhängigkeit gewahrt bleiben und die
Nulllösung fand in dem Text keine Erwähnung mehr.¹⁵⁰ Um ähnliche Auseinan-
dersetzungen bei der Ministerratstagung der NATO zu vermeiden, die Mitterrand
als Gastgeber ausrichtete, arbeiteten die Berater des Präsidenten sowie der Au-
ßenminister und dessen Mitarbeiter auf Hochtouren an einem akzeptablen Ent-
wurf für ein Abschlusskommuniqué.¹⁵¹ Nach der Durchsicht eines Entwurfs gab
der französische Präsident am 10. Juni vor, einen Bezug zum NATO-Doppelbe-
schlusses vom 12. Dezember 1979 nur dann zu unterzeichnen, wenn Frankreich
davon explizit ausgeschlossen würde.¹⁵² Sowohl der G7-Gipfel als auch die Mi-
nisterratstagung verdeutlichen den diplomatischen Drahtseilakt in der Hoch-
phase der Euroraketenkrise, um die Politik französischer Unabhängigkeit nicht
ihrer Glaubwürdigkeit zu berauben.
Zwischen dem französischen Präsidenten und Helmut Kohl waren grund-
sätzliche Standpunkte der künftig christdemokratisch geführten Bundesregierung
zwar bereits in ihrem ersten Gespräch geklärt worden. Dies hieß aber nicht, dass
in den Administrationen des Außenministeriums jedwedes Misstrauen vor der
„alliance incertaine“¹⁵³ beseitigt war. Der Besuch des Bundeskanzlers Kohl und
seines Außenministers Genscher in Moskau erweckte Argwohn in der Abteilung
für strategische Angelegenheiten im Quai d’Orsay. Entgegen in Paris vorliegenden
Informationen, dass sich Moskau nach wie vor gegen jede Aufstellung amerika-
nischer Raketen sperre, habe der Bundeskanzler den Wunsch der Sowjetunion
nach einem Abkommen unterstrichen. Das Verschweigen sowjetischer Härte, so
wurde gefürchtet, könnte bei Teilen der öffentlichen Meinung zu dem Schluss
führen, dass letztlich die amerikanische und nicht sowjetische Unnachgiebigkeit

 Attali, Verbatim 1981– 1986, 29. Mai 1983, S. 538.


 Attali, Verbatim 1981– 1986, 29. Mai 1983, S. 538 – 544.
 Vgl. AN, AG/5(4)/CD/93, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert
Védrine, Note pour le Président de la République, 9. Juni 1983; AN, AG/5(4)/CD/93, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, 10. Juni 1983; AN, AG/5(4)/CD/93, Brief von Claude
Cheysson an Hubert Védrine; AN, AG/5(4)/CD/93, Projet Final destiné aux Ministres, Communiqué
ministériel du Conseil de l’Alliance Nord Juin 1983, mit handschriftlichen Randbemerkungen von
François Mitterrand, 10. Juni 1983.
 AN, AG/5(4)/CD/93, Projet Final destiné aux Ministres, Communiqué ministériel du Conseil
de l’Alliance Nord Juin 1983, mit handschriftlichen Randbemerkungen von François Mitterrand,
10. Juni 1983.
 Soutou, Alliance incertaine.
206 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

für ein Scheitern der Verhandlungen verantwortlich sein könnte. Wenn auch die
Haltung von Bundeskanzler und Außenminister in der Frage der Drittpotentiale
ebenfalls geklärt war, wurde es nicht gerne gesehen, dass die Frage von einigen
anderen Personen in Bonn thematisiert wurde.¹⁵⁴ Als Hans-Dietrich Genscher sich
dann auch noch auf den Nitze-Kwizinskij-Kompromiss vom vergangenen Jahr
bezog, löste dies in der französischen Botschaft Sorgen vor einem Meinungsum-
schwung in Bonn aus.¹⁵⁵ Dieses Beispiel verdeutlicht die Vielschichtigkeit und
unterschiedlichen Geschwindigkeiten oder auch völlige Gegensätzlichkeit von
Prozessen der Vertrauensbildung auf verschiedenen diplomatischen Ebenen. Für
die Analyse von bilateralem Vertrauen bedeutet es, dass sie nicht auf einer Un-
tersuchung der Regierungsebene beschränkt bleiben darf, sondern der Komple-
xität diplomatischer Apparate Rechnung getragen werden muss.
Die Bundesregierung war ihrerseits um die Beseitigung von potentiellem
Misstrauen bei den französischen Partnern bemüht. Dem französischen Außen-
minister wurde zum Beispiel eine Kopie des Briefes weitergeleitet, den Genscher
im August 1983 an seinen Amtskollegen Andrej Gromyko schrieb. Mit dieser Geste
brachte er zum Ausdruck, dass er keinerlei Geheimnisse vor seinem Amtskollegen
in den Fragen der bundesdeutschen Ostpolitik habe. Außerdem versuchte Gen-
scher, potentielles Misstrauen zu zerstreuen, das seiner Position in der Frage der
Drittpotentiale entgegengebracht werden könnte. Zweitens nämlich wurde in
diesem Brief die vollständige Solidarität deutlich, die Genscher der französischen
Haltung in der Frage um die Drittpotentiale entgegenbrachte, indem er die so-
wjetische Forderung nach einer prise en compte und eben nicht Mitterrands
Weigerung als Hindernis für einen Verhandlungserfolg herausstellte. Zudem
übernahm er die französische Argumentation, warum eine solche Forderung nicht
in europäischem Interesse und daher abzulehnen sei.¹⁵⁶ Der französische und
deutsche Außenminister teilten regelmäßig ihre Informationen zu Ostpolitik und
Abrüstungsgesprächen, um ein derartiges Misstrauen, das in Teilen der Admi-
nistrationen verbreitet war, zumindest auf der Ebene der Entscheidungsträger
auszuräumen. Seine Vertrauenswürdigkeit stellte Genscher unter anderem da-
durch unter Beweis, dass er Informationen mit seinem Amtskollegen teilte. So

 AN, AG/5(4)/CD/162, MRE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégi-
ques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Le débat
FNI et la RFA, 12. Juli 1983.
 AN, AG/5(4)/CD/162, Ambassade de France à Bonn, Service de Presse, Panorama de la presse
allemande (Semaine du 18 au 24 juillet 1983), 25. Juli 1983.
 AN, AG/5(4)/CD/162, Der Geschäftsträger der Bundesrepublik Deutschland, Werner Rouget,
Ministre Plénipotentiaire, an Claude Cheysson, Ministre des Relations extérieures, 25. August
1983, daran angehängt eine Kopie des Briefes von Hans-Dietrich Genscher an Andrej Gromyko.
3.2 Vollzug der Nachrüstung und die Wahrung französischer Unabhängigkeit 207

berichtete er zum Beispiel von Gromykos Andeutungen, dass Moskau womöglich


nicht unabänderlich an der Einstufung der fraglichen Systeme als Mittelstre-
ckenwaffen festhalte.¹⁵⁷ Am Verhandlungstisch in Genf wurde dieser Köder durch
die sowjetische Delegation letztlich nicht konkretisiert. An dieser Stelle ist auch
vielmehr entscheidend, dass der deutsche Außenminister sensibel für französi-
sche „Rapallo-Ängste“ war, denen er durch Transparenz bei den Themen Ost-
politik und Abrüstungsgesprächen entgegenwirken wollte, um Vertrauen bei den
französischen Partnern zu generieren.
Auch nachdem die CDU als stärkste Fraktion aus den Bundestagswahlen
hervorgegangen war, blieb die Haltung der SPD zu den Euroraketen aus franzö-
sischer Sicht problematisch, da das Votum der bundesdeutschen Abgeordneten
nach wie vor ausstand. Ende Juni stellte das CAP fest, dass die Parteiführung der
SPD einer amerikanischen Raketenaufstellung nur dann zustimmen werde, wenn
sie vorab durch einen sowjetisch-amerikanischen Vertrag legitimiert würde.¹⁵⁸
Nachdem im Sommer 1983 das knappe Scheitern eines Verhandlungserfolgs im
Sommer 1982 bekannt geworden war, stellte Dominique Lassus, Mitarbeiter im
Quai d’Orsay, fest, dass die deutsche Friedensbewegung, obschon es eine hete-
rogene Zusammensetzung unterschiedlicher Interessengruppen war, auf einen
Erfolg der Verhandlungen nach dem Beispiel Nitze-Kwizinskij hoffte.¹⁵⁹ Von einem
Dialog mit der SPD versprach sich Michel Duclos zwar keine sofortigen Ergeb-
nisse. Allerdings wies er den Außenminister Cheysson auf einige entscheidende
Dinge hin: Selbst, wenn die Ablehnung des Nitze-Kwizinskij-Plans ein Irrtum
gewesen sei und es womöglich noch einmal zu einer vergleichbaren Einigung
käme, müsse nun mit der Raketenaufstellung begonnen werden, da eine Ver-
schiebung der Verhandlungen der sowjetischen Führung jedwedes Interesse an
ernsthaften Verhandlungen nehme.¹⁶⁰ Auf inoffiziellem Weg wurde deshalb auf
verschiedenen diplomatischen Ebenen versucht, Einfluss auf das Abstim-
mungsverhalten der sozialdemokratischen Abgeordneten zu nehmen und, über-
spitzt gesagt, Stimmen für eine Annahme des Nachrüstungsbeschlusses zu
sammeln. Da Hans Apel sich für eine hypothetische Verschiebung der Aufstellung

 AN, AG/5(4)/CD/162, Brief von Hans-Dietrich Genscher an Claude Cheysson, 13. September
[1983].
 AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Centre d’Analyse et de Prévision, M.D. [=Michel Duclos], Note
pour le Ministre, Le SPD et les euromissiles, 27. Juni 1983.
 ADMAE, 1930-INVA 4890, Ambassade de France à Bonn, Dépêche d’Actualité, Le „mouve-
ment pacifiste“ en Allemagne et la préparation de l’„automne chaud“, 20. Juli 1983.
 AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Centre d’Analyse et de Prévision, M.D. [=Michel Duclos], Note
pour le Ministre, Le SPD et les euromissiles, 27. Juni 1983.
208 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

um sechs bis acht Monate einsetzte, versuchte Jacques Andréani ihn und Manfred
Schulte zu überzeugen, sich nicht der Hoffnung hinzugeben, dass ein Aufschub
der Entscheidung einen Verhandlungserfolg einbringen könnte. Apel wollte damit
einem Abkommen nach dem Typ Nitze-Kwizinskij noch eine Chance einräumen
und westliche Verhandlungsbereitschaft demonstrieren. Mit diesen Illusionen
wollte Andréani aufräumen, da es aus seiner Sicht lediglich zu einer Schwächung
der amerikanischen Verhandlungsposition führen und Moskau dazu veranlassen
würde, weitere Konzessionen zu verlangen.¹⁶¹ Mit dem Abschuss der südkorea-
nischen Passagiermaschine hätten die Sowjets die amerikanische Administration
in große Verlegenheit gebracht, argumentierte er. Obwohl sie den Dialog in der
Entscheidungsphase des NATO-Doppelbeschlusses hatte intensivieren wollen,
sehe sie sich nun aufgrund der öffentlichen Empörung zu antisowjetischen Re-
aktionen genötigt. Claude Cheysson übernahm es persönlich mit der Autorität
seines Amtes, den Druck auf Apel und Schulte zu erhöhen. Hans Apel ließ sich
davon scheinbar wenig beeindrucken und stellte fest, dass ein „Nein“ der SPD zur
Aufstellung auch ohne seine Stimmen oder die von Schmidt und Schulte sicher
sei.¹⁶²
Ein Scheitern des Nachrüstungsbeschlusses im Bundestag war also durchaus
ein realistisches Zukunftsszenario, falls es in den Regierungsfraktionen abtrün-
nige Stimmen geben würde. Dazu sollte es schließlich jedoch nicht kommen; in
einer Resolution des Bundestages vom 22. November 1983 wurde der Nachrüs-
tungsbeschluss angenommen.¹⁶³ Am Vorabend der Abstimmung waren in Bonn
schon die möglichen Konsequenzen einer solchen Entscheidung in den Blick
gerückt. Es wurde nicht mehr darüber diskutiert, ob ein Verhandlungserfolg noch
im Bereich des Möglichen lag, sondern wie die sowjetische Führung auf ein
Scheitern reagieren würde. Egon Bahr hoffte, dass es nicht zu einem vollständigen
Abbruch der Verhandlungen käme, da sowjetische Gesprächspartner ihm ge-
genüber eher von einer „Unterbrechung“ gesprochen hätten.¹⁶⁴ Mit dem Be-
schluss zur Nachrüstung brach die sowjetische Delegation die Verhandlungen
über Mittelstreckenraketen trotzdem ab und zog sich vom START-Verhandlungs-
tisch zurück. In seiner öffentlichen Erklärung am 24. November 1983 machte Juri

 AN, AG/5(4)/CD/162, MAE, Direction des Affaires Politiques, Entretien du Directeur des Af-
faires Politiques avec M. Apel, député SPD au Bundestag, ancien Ministre de la Défense, et M.
Schulte, 18 Octobre 1983, 18. Oktober 1983.
 AN, AG/5(4)/CD/162, MRE, Le Directeur des Affaires Politiques, Comptes Rendus de la con-
versation du Ministre avec MM. Apel et Schulte, 18. Oktober 1983.
 Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht 10. Wahlperiode 36. Sitzung, Plenarproto-
koll 10/36, 22. November 1983, S. 2590 – 2592.
 ADMAE, 1930-INVA 4890, MRE, TD Bonn 1832, FNI – Etat d’esprit à Bonn, 13. Oktober 1983.
3.3 Relance européenne 209

Andropow die westlichen Verbündeten für eine Zuspitzung des Rüstungswettlaufs


verantwortlich und kündigte außerdem an, Gegenmaßnahmen durch eine Erhö-
hung des atomaren Potentials in der DDR, der Tschechoslowakei und zur See zu
ergreifen.¹⁶⁵ Mit dem Votum des Bundestags und dem Aufstellungsbeginn ame-
rikanischer Raketen war die Sowjetunion mit ihrer Strategie gescheitert, den
Nachrüstungsbeschluss durch eine Instrumentalisierung der westlichen Öffent-
lichkeit zu vereiteln.¹⁶⁶ Aus Mitterrands Sicht waren mit der recouplage der
amerikanischen und europäischen Verteidigung wichtige Voraussetzungen für
seine langfristigen politischen Perspektiven geschaffen worden: Auf diesem
Fundament konnten neue Schritte hin zu mehr europäischer Eigenständigkeit
unternommen werden. Es sollte sich zeigen, dass damit auch das wesentliche
Hindernis für Mitterrand beseitigt war, persönlich mit der sowjetischen Führung
zu sprechen. Der Abbruch der Verhandlungen machte Bemühungen um eine neue
Entspannung umso notwendiger. Beide Aspekte werden in den folgenden zwei
Abschnitten näher ausgeführt.

3.3 Relance européenne

Als „année charnière dans la politique étrangère mitterrandienne“¹⁶⁷ hat Hubert


Védrine das Jahr 1984 in seinen Memoiren bezeichnet. Mag man diese Einschät-
zung auch teilen, so trifft sie in Hinblick auf die Europapolitik nur teilweise zu.
Schon bevor die Entscheidung zur Nachrüstung im November 1983 gefallen war,
hatten François Mitterrand und seine équipe parallel Zukunftsperspektiven ent-
worfen, die über die Entscheidung am Jahresende 1983 hinausreichten. Zugleich
hatten sie Erfahrungen gemacht, die sie in ihren europäischen Überzeugungen
bestärkten. Die politischen Rahmenbedingungen entwickelten sich außerdem in
einer Weise, die diese Tendenzen begünstigten. Die Bundesregierung wurde dabei
zum Partner für die Weiterentwicklung französischer Zukunftsaussichten für
Europa, denn ein wachsendes deutsch-französisches Vertrauensklima begann
eine eigene Dynamik zu entfalteten und in der Europapolitik Früchte zu tragen.
Analysen des Quai d’Orsay zeigen, dass die deutsche Frage – entsprechend dem

 Vgl. ADMAE, 1930-INVA 5641, Youri Andropov à son Excellence M. François Mitterrand,
Président de la République française, Traduction non-officielle, 24. November 1983; angeheftet:
Déclaration du Secrétaire Général du CC du PCUS, Président du Présidium du Soviet Suprême de
l’URSS Youri Andropov, 24. November 1983.
 Wettig, Sowjetische Euroraketenrüstung, S. 63.
 Védrine, Mondes, S. 288.
210 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

Modell der Vier Antriebskräfte – nach wie vor ein wesentliches Motiv für ein
Forcieren europäischer Integration blieb.
Als sich die sozialistische Regierungsmannschaft noch auf der Suche nach
einem außenpolitischen Kurs befunden hatte, glaubte Jean-Michel Gaillard im
September 1981, mit einer Aufwertung der europäischen Konstruktion der deut-
schen Friedensbewegung eine Alternative entgegenstellen zu können. Deshalb
empfahl er, einen Weg zu suchen, den ersehnten Aufschwung der französischen
Wirtschaft mit dem Genscher-Colombo-Plan in Einklang zu bringen. Er knüpfte
außerdem an die Perspektiven an, die der Premierminister vor dem Institut des
Hautes Études de la Défense Nationale präsentiert hatte und brachte ein Europa
als politisches Ensemble mit autonomer Verteidigung erneut ins Spiel.¹⁶⁸ Obwohl
Gaillard verhindern wollte, dass diese wichtige Frage durch eine zu langfristige
Perspektive an Bedeutung einbüßte, wurde sie 1981 jedoch vorerst nicht konkret
weiterverfolgt. Es lag wohl vor allem daran, dass der politische Kontext für
konkrete europäische Initiativen denkbar ungünstig war, solange die ungelösten
Fragen den Weg verstellten und darüber hinaus andere Krisen die Aufmerksam-
keit absorbierten. Dennoch offenbart Gaillards Vorschlag einerseits die Konti-
nuität der deutschen Frage als wesentliche Antriebskraft europäischer Integrati-
onsprozesse. Andererseits wurden bereits zu Beginn des Jahres 1981 langfristige
europapolitische Perspektiven entworfen, an die sich später anknüpfen ließ,
wenn sich die politischen Rahmenbedingungen günstiger gestalteten.
Die Bedingungen für derartige Ideen schienen sich bis 1983 und 1984
grundlegend zu verändern. Die Erfahrungen und Lehren der ersten Amtsjahre
hatten Mitterrands Suche nach europäischen Lösungen begünstigt. Durch die
Entscheidung im März 1983 zu einer dritten Abwertung des Franc gekoppelt an
eine neue Sparpolitik sowie eine anschließende Regierungsumbildung hatten
nicht nur Vertreter einer Austeritätspolitik an Einfluss gewonnen. Auch europä-
isch orientierte Kräfte waren dadurch gestärkt worden, wie unter anderem auch
die Berufung von Elisabeth Guigou in den präsidentiellen Beraterstab unter-
streicht. Im Frühjahr 1983 konstituierte sich eine informelle Gruppe aus Mitar-
beitern des Elysée und anderen Ministerien, die für einen industriellen Auf-
schwung in Europa zuständig waren. Im August 1983 legte Laurent Fabius, der
nach der Regierungsumbildung das Amt des Premierministers übernommen
hatte, dem Präsidenten die Bedeutung der europäischen Kooperation dar, wenn
Europa nicht zum Vasallen der USA oder Japans werden wolle – was zeigt, dass
die équipe Mitterrand auch durch das Bedürfnis der Selbstbehauptung gegenüber

 AN, AG/5(4)/CD/160, Présidence de la République, Jean-Michel Gaillard, Note, La Républi-


que Fédérale d’Allemagne, le pacifisme, la construction européenne, 22. September 1981.
3.3 Relance européenne 211

neuen wirtschaftlichen Supermächten motiviert wurde. Da die Technologie in-


zwischen den gleichen Stellenwert habe, den Kohle und Stahl in den 1950er
Jahren besessen hätten, plädierte Fabius für eine große Initiative zum Eintritt in
die französische Ratspräsidentschaft der EG 1984.¹⁶⁹ Das Memorandum, das diese
informelle Gruppe unter dem Titel Une nouvelle étape pour l’Europe: un espace de
l’industrie et de la recherche den europäischen Partnern vorlegte, schlug die
Gründung von „agences européennes spécialisées“¹⁷⁰ vor, um in den relevanten
Sektoren zusammenzuarbeiten. Die Reaktionen bei den europäischen Partnern
waren hingegen eher zurückhaltend.¹⁷¹
Wie in der Einleitung dargelegt wurde, sahen sich die politischen Akteure zu
Beginn der 1980er Jahre nicht allein durch sicherheits-, verteidigungs- und
bündnispolitische Fragen herausgefordert. Sie waren auch auf der Suche nach
adäquaten Antworten auf die strukturellen Veränderungen der 1970er Jahre. In
Zeiten der Globalisierung und Technologisierung mussten die europäischen
Staaten sowohl den Anschluss an Japan und die USA halten als auch durch eine
Modernisierung ihrer Industrie wirtschaftlichen Aufschwung generieren. Eine
Initiative des amerikanischen Präsidenten führte diese beiden Herausforderun-
gen schließlich zusammen: Am 23. März 1983 kündigte Ronald Reagan ein For-
schungsprogramm für die Entwicklung eines Raketenabwehrsystems im Welt-
raum – Strategic Defence Initiative (SDI) – an und löste damit große Besorgnis bei
seinen europäischen Verbündeten aus: Durch ein Anheizen und eine Expansion
des Wettrüstens in den Weltraum, drohte eine weitere Verschlechterung der Ost-
West-Beziehungen. Sehr viel größere Sorgen bereitete den Europäern noch, dass
dieses geplante Rüstungsprogramm, den amerikanischen atomaren Schutzschirm
für Europa infrage stellte. Das Risiko für eine ohnehin schon drohende Ent-
kopplung mit Blick auf die Euroraketen stieg damit weiter an. Der Bündniszu-
sammenhalt wurde durch den amerikanischen Präsidenten in einem Moment
zusätzlich auf die Probe gestellt, als er in der entscheidenden Phase der Euro-
raketenkrise dringend benötigt wurde.¹⁷² In Paris schrillten alle Alarmglocken,
weil mit der Entwicklung eines nuklearen Schutzschildes die französischen und
britischen Atomarsenale langfristig ihre Glaubwürdigkeit einbüßen würden,
wenn man davon ausging, dass Moskau ein ähnliches Abwehrsystem installieren

 Saunier, Eurêka, S. 64.


 Saunier, Eurêka, S. 65.
 Saunier, Eurêka, S. 65 f.
 Siehe für etwaige Sorgen auch: AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Direction des Affaires Politiques,
Service des Affaires Stratégiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et
des Pactes, Note, Réunion du groupe politico-stratégique franco-allemand à Bonn le 13 avril,
27. April 1983.
212 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

würde. SDI wurde für den französischen Präsidenten und seine Regierung da-
durch zu einer strategischen Herausforderung für die unabhängige französische
Abschreckung. Gleichzeitig waren die politischen und diplomatischen Implika-
tionen nicht geringer als die strategischen, weil Mitterrand mit seiner strikten
Ablehnung dieses Projekts in einen Gegensatz zu der US-Administration geriet.¹⁷³
Die sicherheitspolitischen und diplomatischen Fragen waren aber nur eine
Seite der Medaille. Die Ankündigung von SDI stellte die Europäer vor die Ent-
scheidung zwischen zwei Zukunftsszenarien – zumindest wurde es aus franzö-
sischer Sicht auf diese binäre Entscheidung reduziert. Zwar bot die US-Adminis-
tration den europäischen Regierungen an, sich an den Forschungsprogrammen
zu beteiligen. Die équipe Mitterrand sah jedoch das Risiko, eine mögliche Mo-
dernisierung von Industrie und Gesellschaft mit dem Preis wachsender Abhän-
gigkeit von den USA bezahlen zu müssen. Die Alternative, für die sich Mitterrand
und seine Mitarbeiter vehement einsetzten, bestand in einer Bündelung der eu-
ropäischen Kräfte in einem eigenständigen Forschungsprogramm. Die Entwick-
lung neuer Technologien war unabdingbar, um die französische Wirtschaft und
Gesellschaft zu modernisieren. Insofern entdeckten die französischen Sozialisten
ihr Interesse daran nicht erst mit Reagans Rede im März 1983; ganz im Gegenteil
war 1981 nicht nur das Centre d’Études des Systèmes et des Technologies Avancées
(CESTA), sondern auch ein Ministerium für Forschung und Technologie geschaf-
fen worden, das Jean-Pierre Chevènement übernommen hatte.¹⁷⁴ Die Ankündi-
gung von SDI hatte allerdings zur Folge, französischen Projekten neuen Schwung
zu verleihen und Mitterrand und seine Mitarbeiter bei ihrer Suche nach euro-
päischen Kooperationspartnern unter Zugzwang zu setzen, denn die Bundesre-
publik und Großbritannien waren ernsthaft daran interessiert, auf das Koopera-
tionsangebot von Washington einzugehen.¹⁷⁵ Aus der Sicht von Mitterrand und
seiner Mannschaft reduzierte sich der Handlungsspielraum auf die zwei zuvor
genannten Möglichkeiten: Gegenüber einer drohenden Abhängigkeit erschien es
ihnen attraktiver, die Flucht nach vorn anzutreten und Impulse für eine euro-
päische Kooperation in den Bereichen Wissenschaft, Technik und Industrie zu
setzen. Die Zukunftsperspektive eines unabhängigen Europas wurde somit in
verschiedenen politischen Bereichen als Ausweg wahrgenommen. Schon bei den
Vorbereitungen der Bundestagsrede von François Mitterrand hatte Pierre Morel
geglaubt, der schwierigen wirtschafts- und sicherheitspolitischen Situation in der

 Vgl. Chaput, France, S. 27– 33.


 Chaput, France, S. 192 f.
 Saunier, Eurêka, S. 68 f.
3.3 Relance européenne 213

BRD mithilfe deutsch-französischer Kooperation und einer Zukunftsperspektive


für Europa begegnen zu können. In beiden Politikbereichen plädierte Morel für
bilaterale wie multilaterale Kooperation auf europäischer Ebene und wollte die
Chance der Bundestagsrede für eine große Initiative nicht ungenutzt lassen.¹⁷⁶ Für
eine Ausdehnung europäischer Kooperation mussten jedoch erstens die EG-
Partner von ihrer Notwendigkeit überzeugt und zweitens anhaltende Konflikte
zwischen den Mitgliedstaaten, die als Hemmnis für jedwede Reformierung wirk-
ten, gelöst werden.
Als sich bei Mitterrand und seinen Mitarbeitern die Erkenntnis durchgesetzt
hatte, „dass die Modernisierung Frankreichs letztlich nur im Verbund der Ge-
meinschaft gewährleistet werden konnte und die enge Partnerschaft mit der
Bundesrepublik deswegen alternativlos war“¹⁷⁷, traf dies in Bonn auf Interesse.
Helmut Kohl suchte Mitterrands Unterstützung dafür, den Genscher-Colombo-
Plan während der deutschen Ratspräsidentschaft voranzubringen. In der ersten
Jahreshälfte 1983 übernahm die Bundesrepublik die Präsidentschaft des Euro-
päischen Rates. Pierre Morel konnte im Februar noch kein kohärentes Programm
der Bundesregierung erkennen und machte dafür auch die noch ausstehenden
Bundestagswahlen verantwortlich.¹⁷⁸ Nachdem Helmut Kohl Mitterrand in der
Währungsfrage gegen eine breite Front der europäischen Finanzminister unter-
stützt hatte, ging der Bundeskanzler gezielt auf den Präsidenten zu, um ihn „auf
eine Reihe abgeschwächter Formulierungen im Sinne des Genscher-Colombo-
Programms zu verpflichten.“¹⁷⁹ Er scheute sich nicht, Mitterrand an die „überaus
schwierigen aber erfolgreich abgeschlossenen Verhandlungen über die Anpas-
sung des Leitkurses im EWS“ zu erinnern, um zu unterstreichen, dass es „uns mit
dem Bekenntnis sehr ernst ist, in Europa und insbesondere zwischen unseren
Ländern aufeinander Rücksicht zu nehmen.“¹⁸⁰ Um langfristig eine Homogeni-
sierung der Wirtschaft in Europa zu fördern, schlug er einen regelmäßigen
deutsch-französischen Meinungsaustausch der Wirtschafts- und Finanzminister

 AN, AG/5(4)/6523, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel, Note
pour Jean-Louis Bianco, Discours au Bundestag: Nécessité et modalités d’une grande initiative,
17. Januar 1983.
 Loth, Europas Einigung, S. 255.
 AN, AG/5(4)/6523, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel, Note
pour Monsieur le Président – Sous-couvert de M. J. L. Bianco, célébration du 20ème anniversaire
du traité franco-allemand: État des principales affaires communautaires, 19. Februar 1983.
 Loth, Europas Einigung, S. 255.
 AN, AG/5(4)/CD/161, Der Bundeskanzler, Helmut Kohl an seine Exzellenz den Präsidenten
der Französischen Republik, François Mitterrand, 21. April 1983.
214 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

vor. Dahinter stand bei ihm zum einen die Intention, die Wettbewerbsfähigkeit der
Gemeinschaft zu stärken. Zum anderen diente der Anspruch, „nach außen stärker
als bisher gemeinsam aufzutreten und zu handeln“, seinem Ziel, „unsere Partner
in der Welt dazu zu bringen, auch ihre Verantwortung und ihre Pflichten stärker
wahrzunehmen.“¹⁸¹ Motiviert wurde er ganz offensichtlich von dem Wunsch, als
asymmetrisch empfundene Beziehungen zu anderen Partnern – die er nicht näher
benannte – auszugleichen. Seine Anspielung auf die deutsche Unterstützung in
der Währungsfrage im März 1983 führte Kohl hier sowohl als Beleg für die euro-
päische Orientierung seiner Regierung an als auch als Erinnerung an deutsche
Solidaritätsbereitschaft. Nachdem Kohl davon überzeugt war, seine „tatsächliche
Bereitschaft“¹⁸² zu Solidarität in der Währungsfrage unter Beweis gestellt zu ha-
ben, trug er nun an Mitterrand die Erwartung heran, sich „reziprok [zu] verhal-
ten“¹⁸³. Er stellte zwar keine explizite Forderung, die Erinnerung an seinen Bei-
stand in einem für Frankreich äußerst kritischen Moment sollte jedoch eine
ähnliche Wirkung entfalten. Kohl hoffte auf französische Unterstützung, um beim
Ratstreffen in Stuttgart vom 17. bis zum 19. Juni Fortschritte zu erzielen.
Da Mitterrand bereit war, das von Bonn vorgeschlagene Verfahren zur Re-
formierung der Agrarpolitik zu akzeptieren, gelang es in Stuttgart, eine Reform
der Agrarpolitik, die Erhöhung der Eigeneinnahmen und die Regelung der Bei-
tragsfragen auf den Weg zu bringen.¹⁸⁴ Die „Feierliche Deklaration zur Europäi-
schen Union“¹⁸⁵ stellte zwar noch keine endgültige Lösung der kritischen Fragen
dar und blieb hinter dem Genscher-Colombo-Plan von 1981 zurück. Trotzdem
bekundeten die europäischen Staats- und Regierungschefs darin ihre Bereit-
schaft, zu einer Stärkung und Vertiefung der EG, und einer Erweiterung auf neue
politische Bereiche, mit dem Ziel, die Gemeinschaft langfristig zu einer Euro-
päischen Union umzubauen. Zudem gelang es, ein Verhandlungspaket zu
schnüren, nach dem die Reform der Agrarpolitik, die Erhöhung der Eigenein-
nahmen sowie die britische Beitragsfrage künftig zusammen verhandelt werden
sollten. Der Stuttgarter Rat stellte insofern eine Erfahrung erfolgreicher Zusam-
menarbeit dar. Sie trug zur wechselseitigen Erwartung einer verlässlichen Part-

 AN, AG/5(4)/CD/161, Der Bundeskanzler, Helmut Kohl an seine Exzellenz den Präsidenten
der Französischen Republik, François Mitterrand, 21. April 1983.
 Bayertz, Begriff, S. 12.
 Habermas, „Für ein starkes Europa“, S. 87.
 Vgl. Loth, Europas Einigung, S. 255.
 Feierliche Deklaration zur Europäischen Union. Stuttgart 19. Juni 1983. In: Bulletin der Eu-
ropäischen Gemeinschaften, Juni 1983 Nr. 6. S. 26 – 32. http://www.cvce.eu/de/obj/feierli-
che_deklaration_zur_europaischen_union_stuttgart_19_juni_1983-de-a2e74239-a12b-4efc-b4ce-
cd3dee9cf71d.html (09.09. 2016).
3.3 Relance européenne 215

nerschaft bei. Dieses wachsende individuelle Vertrauen schlug sich in einer In-
tensivierung der persönlichen Gespräche zwischen Mitterrand und Kohl nieder
und wirkte sich insgesamt auf die Dynamik der bilateralen Zusammenarbeit
aus.¹⁸⁶
In den Fragen der Sicherheit und Verteidigung fanden seit 1982 regelmäßige
Treffen der zuständigen deutschen und französischen Minister statt. Der Be-
schluss zur Nachrüstung war gerade vor zwei Tagen angenommen worden, da
sendete Genscher bei dem deutsch-französischen Gipfel am 24. November 1983 in
dem Gespräch der Außen- und Verteidigungsminister konkrete Signale für eine
Stärkung der deutsch-französischen Kooperation in den Fragen Sicherheit und
Verteidigung und eröffnete dabei auch eine europäische Perspektive.¹⁸⁷ Sowohl in
Bonn als auch in Paris wurde in der bilateralen Kooperation nach Kompensati-
onspotential für die Konsequenzen der Nachrüstung gesucht. Sie war als Vorbild
und Ausgangspunkt für eine Ausdehnung auf die europäische Ebene gedacht.
Langfristig zielten die Initiativen auf eine europäische Emanzipation in den ver-
schiedenen politischen Bereichen. Charles Hernu plädierte zum Beispiel auch für
ein eigenes Informationssystem, um sich von den Informationen anderer, und
insbesondere denen der USA, unabhängig zu machen.¹⁸⁸ Der deutsche Außen-
minister war sich bewusst, dass eine Stärkung der europäischen Rolle innerhalb
des atlantischen Bündnisses von Deutschland und Frankreich ausgehen musste.
Genschers einzige Einschränkung, dass diese nicht im Widerspruch zu den USA
stehen dürfe, wurde von den französischen Protokollanten scheinbar überhört.¹⁸⁹
Eine Zunahme der Zusammenarbeit zwischen den deutschen, französischen und
britischen Verteidigungsministern löste allerdings bei den anderen europäischen
Bündnispartnern, insbesondere den Italienern, Besorgnis aus. Da Cheysson diese
trilaterale Zusammenarbeit nicht auf die Italiener ausweiten wollte, schlug er für

 Loth, Europas Einigung, S. 255 f.


 Gespräch der Bundesminister Genscher und Wörner mit dem französischen Außenminister
Cheysson und Verteidigungsminister Hernu, 24. November 1983. In: AAPD 1983, Dok. 356, S. 1765 –
1775.
 AN, AG/5(4)/CD/162, MRE, Le Directeur des Affaires Politiques, 3e Réunion ministérielle
franco-allemande sur les questions de stratégie et de sécurité, Bonn 24 novembre 1983, 28. No-
vember 1983.
 Gespräch der Bundesminister Genscher und Wörner mit dem französischen Außenminister
Cheysson und Verteidigungsminister Hernu, 24. November 1983. In: AAPD 1983, Dok. 356, S. 1768;
AN, AG/5(4)/CD/162, MRE, Le Directeur des Affaires Politiques, 3e Réunion ministérielle franco-
allemande sur les questions de stratégie et de sécurité, Bonn 24 novembre 1983, 28. November
1983.
216 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

das Jahr 1984 ein Ministertreffen im Rahmen der Westeuropäischen Union (WEU)
in Rom vor, „um so den italienischen Empfindlichkeiten gerecht zu werden.“¹⁹⁰
Seit 1972 hatte es keine politischen Konsultationen in diesem institutionellen
Rahmen mehr gegeben. Die Westeuropäische Union war mit dem Beitritt
Deutschlands und Italiens am 23. Oktober 1954 aus dem Brüsseler Pakt hervor-
gegangen, der am 17. März 1948 von Frankreich, Großbritannien, Belgien, den
Niederlanden und Luxemburg unterzeichnet worden war. Sie bestand aus zwei
Gremien, einem Ministerrat der Verteidigungsminister der Mitgliedsstaaten und
einem Ständigen Rat mit Vertretern auf Botschafterebene. Zudem beschäftigte
sich eine parlamentarische Versammlung, bestehend aus Abgeordneten der Ver-
tragspartner, mit militärischen Belangen. Die politischen Zuständigkeiten der
WEU blieben allerdings äußerst begrenzt, was vor allem an der Schwierigkeit lag,
eine eigenständige Rolle neben den anderen bestehenden Organisationen zu
übernehmen, insbesondere der sicherheitspolitisch übergeordneten Rolle der
NATO. Obschon der Brüsseler Pakt mit dem Bekenntnis zu wirtschaftlicher, so-
zialer und kultureller Zusammenarbeit über einen rein militärischen Beistands-
pakt hinausgegangen war, wurden diese Fragen de facto durch andere Organi-
sationen übernommen (EEC, EGKS, Europarat). Nach der Regelung der Saarfrage
blieb die Rolle der WEU weitestgehend auf Rüstungskontrolle beschränkt und
diente als Konsultationsforum zwischen den Mitgliedstaaten der EG und Groß-
britannien. Mit der Schaffung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit
(EPZ) 1970 und dem bevorstehenden EG-Beitritt Großbritanniens (1973) wurden
die politischen Konsultationen der WEU 1972 eingestellt.¹⁹¹ Manfred Wörner un-
terstützte Cheyssons Idee, die WEU als Ventil für die Sorgen der übrigen euro-
päischen Partner zu nutzen. Regelmäßige Treffen hielt er allerdings für schwierig
und präzisierte, dass ihre Reaktivierung in erster Linie einer symbolischen Geste
dienen könne. Der Moment für die Ankündigung eines Treffens der Verteidi-
gungsminister im Rahmen dieses europäischen Beistandspaktes, der noch dazu
eigentlich seit beinahe zwölf Jahren ruhte, musste sehr sorgfältig ausgewählt
werden; dessen war sich der französische Außenminister sehr wohl bewusst. Um
zu vermeiden, dass sie als Beitrag zum Wettrüsten interpretiert werden würde,
sollte die Ankündigung keinesfalls in die Phase der Raketenaufstellung fallen.¹⁹²

 Gespräch der Bundesminister Genscher und Wörner mit dem französischen Außenminister
Cheysson und Verteidigungsminister Hernu, 24. November 1983. In: AAPD 1983, Dok. 356, S. 1774.
 Vgl. Brandstetter, Gerfried (Hrsg.): Die Westeuropäische Union. Einführung und Dokumente.
Wien 1999. S. 15 – 23.
 AN, AG/5(4)/CD/162, MRE, Le Directeur des Affaires Politiques, 3e Réunion ministérielle
franco-allemande sur les questions de stratégie et de sécurité, Bonn 24 novembre 1983, 28. No-
vember 1983.
3.3 Relance européenne 217

Konkreter wurden die Pläne zu einer Wiederbelebung der WEU bei dem Ge-
spräch zwischen Jacques Andréani und Franz Pfeffer. Am 22. Dezember 1983 er-
läuterte Andréani seinem deutschen Gesprächspartner „die französischen Über-
legungen zur Verstärkung der europäischen Komponente in der Sicherheitspolitik
und insbesondere der WEU“¹⁹³. In diesem Gespräch wurden Ideen über mögliche
Gesprächsthemen ausgetauscht und versucht, Argumente aus dem Weg zu räu-
men, die auf deutscher Seite ein Engagement in diese Richtung hemmen könnten.
Dabei wird deutlich, dass die Erwartungen gegenüber der WEU auf beiden Seiten
des Rheins differierten. Andréani warb dafür, die WEU „vom Staub der Zeit [zu]
reinigen und etwas mehr zu nutzen“, da es sein könnte, „daß wir diese Organi-
sation eines Tages dringender nötig haben würden als heute.“¹⁹⁴ Weil Cheysson
und Hernu dies auch nach außen demonstrieren wollten, stellte der Direktor der
politischen Abteilung im Quai d’Orsay „eine weit in die Zukunft reichende Per-
spektive“¹⁹⁵ vor. Wohl aus pragmatischen Gründen zog die équipe Mitterrand den
Rahmen der WEU in dem Fall der EG vor. Mit ihren sieben Mitgliedern gegenüber
zehn hielt sie ein Treffen der Verteidigungsminister für eher realisierbar. Mitter-
rand, Cheysson und Hernu waren also bestrebt, mögliche Hindernisse für einen
Ausbau der sicherheitspolitischen Kooperation zwischen den europäischen
Staaten von vornherein zu umgehen. Die WEU bot sich als eine bereits bestehende
Institution dafür an, ohne dass ein zu großer Aufwand betrieben werden musste.
Im Gegensatz dazu existierte in der Europäischen Gemeinschaft kein vergleich-
bares Gremium und hätte daher vermutlich langwierige Diskussionen mit den
anderen Mitgliedstaaten erfordert, bevor ein Treffen der Verteidigungsminister
überhaupt zustande gekommen wäre. Die nach wie vor zahlreichen ungelösten
Fragen in der EG machten einen Erfolg nicht gerade aussichtsreicher.
Außerdem sollte die deutsch-französische Zusammenarbeit den Kern der
europäischen Kooperation darstellen. Eine Diskussion neuer strategischer, rüs-
tungs- und rüstungskontrollpolitischer Entwicklungen im deutsch-französischen
Ausschuss für Verteidigung und Sicherheit diente einer Harmonisierung der
Standpunkte. Besonders am Herzen lag der équipe Mitterrand die Entwicklung
eines Aufklärungssatelliten-Programms und eine Studie zum amerikanischen
SDI-Projekt. Die FAR schlug Andréani als Gesprächsthema vor, das über die bi-
laterale Tagesordnung auch auf andere europäische Partner ausgedehnt werden
und letztlich in der WEU besprochen werden könnte.¹⁹⁶ Andréanis Ausführungen
deuten darauf hin, dass der Ausbau der bilateralen Kooperation als Vorbild be-

 Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 2. Januar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 1, S. 4.
 Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 2. Januar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 1, S. 5.
 Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 2. Januar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 1, S. 5.
 Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 2. Januar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 1, S. 4.
218 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

ziehungsweise Keimzelle vorgesehen war, um auf europäischer Ebene mit einem


weiteren Ausbau fortzufahren.
Franz Pfeffer bereitete wohl Sorgen, dass die französische Seite das Ver-
ständnis von WEU und NATO in anderer Weise konzeptualisierte als die Bun-
desregierung. Mehrmals wiederholte er in dem Gespräch, die „Reaktivierung der
WEU dürfe auf keinen Fall der NATO schaden“. Pfeffers Vorstellung von einem
„Schachtelprinzip“ bei dem sich Kleineres und Größeres wechselseitig stützen,
entsprach wohl nicht ganz den französischen Erwartungen. Durch den größeren
Akzent auf europäische Unabhängigkeit enthielten sie zumindest implizit auch
eine antiamerikanische Stoßrichtung. Langfristig waren François Mitterrand und
seine équipe an einer eigenständigen europäischen Säule innerhalb des westli-
chen Bündnisses interessiert. So sprach Andréani von einer durch die WEU ent-
wickelten und getragenen Sicherheitspolitik, die durch die Europäer im Zwei-
felsfall eher akzeptiert würde als die der NATO.¹⁹⁷ Die Konversation offenbart
grundlegende Unterschiede in den Vorstellungen über die Rolle einer europäi-
schen Kooperation in Sicherheits- und Verteidigungsfragen. Gleichwohl wurden
diese Differenzen in dieser Anfangsphase zugunsten gemeinsamer Interessen
vorerst ignoriert. Eine Lösung der strittigen Fragen wurde zu diesem Zeitpunkt
wohl umgangen, weil es jedwede Impulse womöglich im Keim erstickt hätte. Vor
allem die Niederlande hatten große Bedenken, dass sich die WEU gegen die NATO
wenden oder ihr schaden könnte. Indem die französische Delegation bei der
fünften Sitzung des deutsch-französischen Ausschusses für Sicherheit und Ver-
teidigung am 19. Januar 1984 bestätigte, dass es auch ihre Absicht sei, dass sich
NATO und WEU wechselseitig stützten, waren diese Bedenken vorerst aus dem
Weg geräumt.¹⁹⁸ Diese pragmatische Ausrichtung der Zusammenarbeit hatte al-
lerdings auch zur Folge, dass die Unstimmigkeiten im Hintergrund fortbestanden.
Eine Frage, die dagegen unmittelbar einer Lösung bedurfte, betraf die kon-
ventionellen Rüstungsbeschränkungen für die BRD, die in Protokoll III des WEU-
Vertrags festgeschrieben waren. Sie drohte die bundesdeutsche Motivation zu
einer Reaktivierung entscheidend zu hemmen. Um größere Anreize zu setzen,
signalisierte Andréani die Bereitschaft, sie fallen zu lassen. Angesichts der Tat-
sache, dass die französischen Sozialisten dies während der parlamentarischen
Versammlung der WEU am 29. November 1983 noch ausgeschlossen hatten, wirkt
Andréanis Zusage zumindest auch auf Pfeffer überraschend. Andréani schob es
auf ein Missverständnis zwischen der französischen Regierung und den sozia-
listischen Abgeordneten und sicherte zu, dass die französische Regierung eine

 Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 2. Januar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 1, S. 7.
 Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 23. Januar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 16, S. 84.
3.3 Relance européenne 219

Aufhebung noch im Jahr 1984 anstrebe. Obwohl es noch andere kritische Fragen
gab, bestätigte Pfeffer, dass damit das deutsche Hauptargument gegen eine Re-
aktivierung der WEU beseitigt sein würde.¹⁹⁹
Védrine kritisierte wenig später, dass man der Bundesrepublik voreilig der-
artige Zugeständnisse gemacht habe, ohne daraus politisches Kapital zu schla-
gen. Mit der Übernahme der europäischen Ratspräsidentschaft suchte Hubert
Védrine nach politischen Trumpfkarten, um den französischen Handlungsspiel-
raum zu erweitern. Er sah Paris in der Position eines Bittstellers, der „beaucoup à
demander et peu à concéder“²⁰⁰ habe. Daher versuchte er, strategisch deutsche
Erwartungen an die französische Regierung zu kalkulieren und identifizierte
verschiedene Punkte: eine (für den Präsidenten unmögliche) Präzisierung über
die Bedingungen eines Einsatzes der französischen Abschreckungsstreitkräfte,
Präzisierungen über mögliche Bedingungen für einen Einsatz der FAR, Aufhe-
bung der konventionellen Rüstungsbeschränkungen anlässlich des zwanzigjäh-
rigen Jubiläums der WEU, Fortschritte in Richtung einer europäischen, politischen
Union. Die schlechten Karten, die die französische Regierung aus Sicht von
Védrine auf der Hand hielt, empfahl er daher besonders geschickt auszuspielen.
Indem sie keine substantiellen Angebote mache, sondern vielmehr Köder streue
und begehrte Antworten nach und nach durchsickern lasse, sollten den deut-
schen Verhandlungspartnern möglichst viele Zugeständnisse in Gemeinschafts-
fragen abgerungen werden.²⁰¹ Bereits bevor der Präsidentenberater diese Strate-
gie in Erwägung gezogen hatte, regte General Lacaze die deutsche
Vorstellungskraft über künftige Kooperationsmöglichkeiten an – freilich ohne
konkrete Zusagen zu machen: Unter vier Augen wies er Generaldirektor Pfeffer
darauf hin, dass der WEU-Vertrag juristisch bindender sei als jener der NATO. In
seinen Aufzeichnungen hob Pfeffer diese Äußerung als bemerkenswert hervor:
Bisher habe die französische Doktrin darauf gesetzt, im Ernstfall autonome Ent-
scheidungen treffen zu können, „was sich mit dem Wortlaut des NATO-Vertrags,
nicht aber mit dem Wortlaut des WEU-Vertrags in Einklang bringen [lasse].“²⁰²
Lacazes Andeutung sollte nicht als freiwillige Einschränkung in der französischen
Unabhängigkeit missverstanden werden; vielmehr diente sie wohl als Anreiz für
die deutschen Partner, Bemühungen eher auf den Ausbau deutsch-französischer

 Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 2. Januar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 1, S. 6.
 AN, AG/5(4)/CD/185, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, 31. Januar 1984.
 AN, AG/5(4)/CD/185, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, 31. Januar 1984.
 Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 23. Januar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 16, S. 83.
220 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

und europäischer Strukturen anstatt in einem transatlantischen Kontext zu


richten.²⁰³
Wie eng Sicherheitspolitik in der Euroraketenkrise und eine Lösung euro-
päischer Blockaden miteinander verzahnt waren, zeigt die Kritik von Jean Rou-
vier, spezieller Berater des Präsidenten in Gemeinschaftsfragen, am Verhalten des
französischen Außenministers. Er war davon überzeugt, dass der französische
Präsident und seine Regierung Verantwortung für die bundesdeutsche Veranke-
rung im Westen übernehmen müssten. Die Beschwörung eines „nationalisme
pangermaniste“ nach dem Beispiel Franz Josef Strauß’ könne unter Umständen
auch von der DDR oder der sowjetischen Führung instrumentalisiert werden. Er
hielt die Demonstration europäischer Solidarität für alternativlos und empfahl,
deutschen Erwartungen bei der Frage der landwirtschaftlichen Kompensations-
zahlungen entgegenzukommen.²⁰⁴ Rouvier kritisierte Cheysson dafür, die Aus-
gleichszahlungen zu senken, von denen die deutschen Bauern enorm profitierten.
Da der Nachrüstungsbeschluss noch nicht getroffen war, wollte er die Bundes-
regierung durch diese Entscheidung nicht zusätzlich unter Druck setzen. Obwohl
Frankreich von der Bundesrepublik bei der Devaluation in der Vergangenheit
Unterstützung widerfahren war, forderte der Außenminister außerdem, die
Landwirtschaftspreise zu senken. Aus den Drohungen des bundesdeutschen Vi-
zekanzlers, Finanz- und Landwirtschaftsministers, die Deutsche Mark kein wei-
teres Mal abzuwerten, zog Rouvier den Schluss, dass mangelnde französische
Bereitschaft zu Solidarität auch der deutschen Bereitschaft einen Schlag ver-
setzte. Damit bezichtigte er die französische Regierung, mit der Frage der deut-
schen Ausgleichszahlungen das Fortkommen der EG zu blockieren und nebenbei
auch noch die deutsche Verankerung im Westen aufs Spiel zu setzen. Er trat also
dafür ein, eigene Interessen hinter die Gemeinschaftsinteressen zurückzustellen.
Sein Handeln auf Solidarität zu gründen, hielt Rouvier für aussichtsreicher, um
ein Scheitern der französischen Ratspräsidentschaft zu vermeiden, das mit einer
Verärgerung der deutschen Bauern hätte drohen können. Er empfand dies we-
niger als Zugeständnis, sondern vielmehr als eine lohnende Investition. Die Un-
abhängigkeit Frankreichs, der BRD und Europas sei zwar teuer, werde sich aber

 Zu weiteren Ausführungen zur WEU siehe Kapitel 4.


 AN, AG/5(4)/CD/162, Le Professeur Jean Rouvier, Conseiller spécial de la CEE, Note pour le
Président de la République sur l’urgente nécessité d’une décision dans les rapports franco-alle-
mands, 15. Oktober 1983; Deutsche Landwirte, die in andere Gemeinschaftsländer exportierten,
erhielten sogenannte Währungsausgleichszahlungen. Siehe dazu Loth, Europas Einigung, S. 256.
3.3 Relance européenne 221

letztlich auszahlen, argumentierte er.²⁰⁵ Die Argumentationen von Védrine und


Rouvier zeigen, dass die Demonstration von Solidarität durchaus Grenzen hatte.
Es gab Fragen, insbesondere in militärischen Angelegenheiten, bei denen Ei-
geninteressen nicht zurückgestellt wurden. Gleichwohl verdeutlicht Rouvier, dass
diese Eigeninteressen auch immer einem Aushandlungsprozess unterlagen. In
welchen Bereichen Solidarität gewährt werden und wie weit diese gehen konnte,
darüber herrschten innerhalb dieser Akteursgruppe um François Mitterrand di-
vergierende Auffassungen. Schon aus diesem Grund ist es nicht möglich, von
französischen Interessen als analysierbarer Größe auszugehen. Vielmehr ver-
suchte Rouvier, den Präsidenten und seine Mitarbeiter darauf aufmerksam zu
machen, dass die Bereitschaft zu Solidarität auch auf der Gewissheit beruhe,
selbst Unterstützung in Krisenzeiten zu erhalten.
Nachdem das Europäische Ratstreffen in Athen im Dezember 1983 ohne Er-
gebnis und Abschlusserklärung beendet worden war, stieg der Druck auf die
französische Präsidentschaft, in der ersten Jahreshälfte 1984 alle aus den Vor-
jahren geerbten Probleme zu beseitigen, bevor neue Impulse zur Weiterentwick-
lung der Gemeinschaft unternommen werden konnten. François Mitterrand und
Helmut Kohl zweifelten beide an dem Bestand der amerikanischen Sicherheits-
garantie in der Zukunft und erwarteten, dass sich die Amerikaner immer weiter
von den Europäern entfernen würden. Sollten sie ihre Präsenz in Europa aber
fortsetzen, so unterstellte Mitterrand, dies lediglich zu tun „um zu befehlen, und
zwar gemäß ihren wirtschaftlichen und strategischen Interessen.“²⁰⁶ Dieses
Misstrauen, das die beiden miteinander verband, wirkte als starkes Motiv, nach
einem europäischen Ausweg zu suchen, um sich aus dieser Abhängigkeit zu be-
freien. Langfristige Perspektiven, Entscheidungen für die kommenden 20 bis
30 Jahre treffen zu können,²⁰⁷ wurden lediglich noch von den Disputen der Mit-
gliedstaaten behindert. Über die Notwendigkeit langfristiger Perspektiven waren
sich Kohl und Mitterrand einig, auch wenn sie diese noch nicht mit konkreten
Inhalten füllten. Zwar hatten beide ihre eigenen mitunter verschiedenen Vor-
stellungen. Kohl wurde vor allem dadurch angetrieben, künftige politische Per-
spektiven für die Gemeinschaft zu entwickeln, für die „[e]ntsprechende Initiativen

 AN, AG/5(4)/CD/162, Le Professeur Jean Rouvier, Conseiller spécial de la CEE, Note pour le
Président de la République sur l’urgente nécessité d’une décision dans les rapports franco-alle-
mands, 15. Oktober 1983.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand auf Schloß Ludwigshöhe,
2. Februar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 30, S. 168 f.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand auf Schloß Ludwigshöhe,
2. Februar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 30, S. 169.
222 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

im Herbst eigeleitet werden“ sollten.²⁰⁸ Für den Moment zählte allerdings nur,
langfristigen Perspektiven überhaupt eine Chance zu geben, indem man die Eu-
ropäische Gemeinschaft aus der Sackgasse manövrierte, die den Weg zu längst
überfälligen Reformen verstellte. Diese gemeinsame Absicht wirkte sich als star-
kes Band für ihre Komplizenschaft und der Suche nach Kompromissen auf eu-
ropäischer Ebene aus. Die Erfahrungen von wechselseitiger Solidarität waren für
das individuelle Vertrauen zwischen Mitterrand und Kohl konstitutiv. Der ideo-
logische Aspekt gemeinsamer Zukunftsvorstellungen wirkte sich förderlich darauf
aus.
Die deutsch-französische Abstimmung entwickelte bei den Vorbereitungen
der französischen Ratspräsidentschaft eine neue Dynamik. Sie ging nicht aus-
schließlich von französischer Seite aus, sondern profitierte auch davon, dass
sowohl Hans-Dietrich Genscher als auch Helmut Kohl ihre Unterstützung zusi-
cherten: In einem Brief an Claude Cheysson schlug Genscher vor, für Januar noch
einmal ein Treffen zwischen den Außen- und Finanzministern zu vereinbaren.
Zwischen Genscher, Stoltenberg, Cheysson und Delors sollten zunächst jene
Fragen gelöst werden, die zwischen Frankreich und Deutschland noch immer in
der Schwebe waren; explizit benannte er das Thema der europäischen Agrarpo-
litik. Eine gemeinsame Haltung hielt Genscher für notwendig, damit Frankreich
und Deutschland in der Lage waren, „de donner des nouvelles impulsions à
l’unification européenne.“²⁰⁹ Außerdem unterstützte Genscher die französischen
Bestrebungen zu einer gemeinsamen Politik in der Technologie, damit Europa
nicht zu einer Industrieregion zweiten Rangs werde.²¹⁰ Er kam in dieser Hinsicht
den Bestrebungen von Mitterrands équipe entgegen, eine Kooperation in Industrie
und Forschung ins Zentrum einer relance européenne zu stellen, die den euro-
päischen Partnern mit dem Memorandum Une nouvelle étape pour l’Europe: un
espace de l’industrie et de la recherche bereits unterbreitet worden war.
Der Bundeskanzler versicherte Mitterrand im Vorfeld des Brüsseler Ratstref-
fens vom 19. und 20. März 1984 seine Bereitschaft, der französischen Ratspräsi-
dentschaft zu einem Erfolg zu verhelfen. Mitterrand machte daraufhin deutlich,
dass für einen durchschlagenden Erfolg eine „vertrauliche Vereinbarung zwi-
schen allen drei Staaten“ (gemeint waren Frankreich, Großbritannien und die
Bundesrepublik) unerlässlich sei und bat Kohl deswegen, sich zu den strittigen

 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 24. Februar 1984.
In: AAPD 1984, Dok. 59, S. 310.
 AN, AG/5(4)/CD/162, Traduction de courtoisie d’une lettre de HD Genscher à C Cheysson,
Télégramme, 30. Dezember 1983.
 AN, AG/5(4)/CD/162, Traduction de courtoisie d’une lettre de HD Genscher à C Cheysson,
Télégramme, 30. Dezember 1983.
3.3 Relance européenne 223

Fragen – Gemeinschaftshaushalt, Gemeinsame Agrarpolitik und Währungsaus-


gleich – Gedanken zu machen.²¹¹ Die Ablösung des Europaministers André
Chandernagor durch Mitterrands engen Freund Roland Dumas symbolisiert nicht
nur die Bedeutung, die Mitterrand den europäischen Fragen einräumte. Dumas
gelang es auch schnell, ein gutes Arbeitsverhältnis zu Hans-Dietrich Genscher zu
entwickeln. Er wurde gewissermaßen direkt damit beauftragt, alle noch kriti-
schen Fragen zwischen Elysée und Kanzleramt in ständigem Dialog mit dem
deutschen Auswärtigen Amt aus dem Weg zu räumen und dafür auch, wenn nötig,
jeder Zeit nach Bonn zu reisen.²¹² Neben seiner eigenen starken Verbindung zu
Genscher bezeugt Dumas auch einen ständigen „Shuttle“, den die Berater des
Präsidenten, insbesondere Attali und Morel, zum Kanzleramt einrichteten. Treffen
mit dem Kommissionspräsidenten und dem Präsidenten des Europäischen Par-
lamentes zählten ebenfalls zu den sorgfältigen Vorbereitungen des Brüsseler
Gipfels.²¹³
Auch wenn Mitterrand Kohls Kritik an einer mangelnden politischen Per-
spektive für Europa prinzipiell teilte, räumte er am 2. Februar 1984 doch einer
Lösung der anstehenden Probleme noch Priorität gegenüber „eine[m] Vorstoß in
der Europäischen Gemeinschaft“²¹⁴ ein. Allerdings änderte er seine Haltung wohl
nach dem Gespräch mit Helmut Kohl. Er erkannte offenbar das Motivationspo-
tential eines großen Zukunftsentwurfs für Europa, um den europäischen Partnern
größere Kompromissbereitschaft abzuringen und Blockaden zu lösen. Dumas
hebt den methodischen Unterschied eines solchen Vorgehens hervor: Anstatt
einen einfachen Plan zur Regelung verschiedener Inhalte zu entwickeln, wurde
ein großes „projet de relance“²¹⁵ für Europa entworfen. Mit einem Zukunftsent-
wurf wurde gewissermaßen eine strategische Problemlösung gesucht. Nicht auf
einen konkreten Plan festgelegt, blieb Mitterrand auf diese Weise in den Ver-
handlungen anpassungsfähig an unerwartete Entwicklungen.
Wie genau diese Perspektive aussah, wurde bei der Rede deutlich, die Mitt-
errand am 7. Februar 1984 in Den Haag hielt.²¹⁶ Darin verglich er das zeitgenös-

 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand auf Schloß Ludwigshöhe,
2. Februar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 29, S. 158.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 24. Februar 1984.
In: AAPD 1984, Dok. 59, S. 310.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 209.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand auf Schloß Ludwigshöhe,
2. Februar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 29, S. 161.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 210.
 Mitterrand, François: Rede in Den Haag am 7. Februar 1984. In: Europa-Archiv (1984) 7. S.
D195–D199
224 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

sische Europa mit „einer verlassenen Baustelle“, was er nicht als Produkt des
Zufalls sehen wollte; vielmehr machte er „einen langsamen Abbau des Willens“
für diese Situation und eine Rückwärtsentwicklung in Europa in den vergangenen
zehn Jahren dafür verantwortlich.²¹⁷ Der größte Teil seiner Rede konzentrierte sich
auf die Zukunftsaussichten für Europa: Er stimmte darin nicht nur generell einer
Erweiterung der Gemeinschaft auf Spanien und Portugal zu, der er sich zuvor
durch die Aufstellung konkreter Bedingungen widersetzt hatte, sondern gab
konkrete Impulse dafür, in welche Richtungen sich die Gemeinschaft in den
kommenden Jahren entwickeln sollte: Er machte sich stark für einen europäi-
schen Forschungs- und Industrieraum, der bereits an früherer Stelle erwähnt
wurde. Obwohl Europa über ausreichend Mittel verfüge, seien die Potentiale
bisher nicht koordiniert worden. Anstatt sich auf Zusammenarbeit einzulassen,
hätten die europäischen Staaten der Konkurrenz den Vorzug gegeben. Von einer
künftigen Bündelung der europäischen Kräfte machte er „unsere Existenz als
Zivilisation“²¹⁸ und die Konkurrenzfähigkeit der europäischen Staaten abhängig.
Außerdem setzte er sich für die Schaffung eines sozialen und kulturellen euro-
päischen Raums ein.²¹⁹ Hinsichtlich einer europäischen Verteidigung wurde
Mitterrands Zurückhaltung deutlich: Er erteilte der Vorstellung, dass eine euro-
päische Allianz in baldiger Zukunft die Atlantische ersetzen könne, eine deutliche
Absage. Mit dieser auf Vertrauensbildung bei den amerikanischen Verbündeten
zielenden Aussage, wollte er gefürchteten amerikanischen Rückzugstendenzen
aus Europa nicht noch Vorschub leisten. Darüber hinaus räumte er jedwede
Hoffnungen darauf, dass Frankreich den atomaren Schutz seiner europäischen
Verbündeten übernehmen könnte, bis auf den letzten Zweifel aus. In dieser
Hinsicht war seine Botschaft deutlich: Einer Kooperation stimmte er grundsätz-
lich zu, aber weder dehne Frankreich seine Abschreckung auf Europa aus, noch
„kann die Entscheidung über den Einsatz der französischen Atomwaffen […] ge-
teilt werden.“²²⁰ Stattdessen schlug er eine europäische Weltraumgemeinschaft
als Antwort auf die militärischen Herausforderungen vor und stellte die Begrün-
dung einer politischen europäischen Einheit in Aussicht. Dabei wird Mitterrands
grundlegende Haltung gegenüber Prozessen europäischer Integration deutlich: Er
plädierte dafür, den Gemeinschaftsinstitutionen „die Kohärenz zu geben, die ih-
nen fehlt“ und setzte sich damit für eine Stärkung und Vertiefung nach Innen ein,
bevor eine Ausweitung im Bereich der Verteidigung unternommen werden soll-

 Mitterrand, Rede in Den Haag, 7. Februar 1984, S. D196.


 Mitterrand, Rede in Den Haag, 7. Februar 1984, S. D198.
 Mitterrand, Rede in Den Haag, 7. Februar 1984, S. D198.
 Mitterrand, Rede in Den Haag, 7. Februar 1984, S. D199.
3.3 Relance européenne 225

te.²²¹ Auf diese Weise schloss er ein verteidigungspolitisches Europa nicht prin-
zipiell aus. Stattdessen verschob er es in eine ferne Zukunft und versuchte, ihre
Befürworter so für seine Agenda zur Stärkung der Gemeinschaftsinstitutionen zu
gewinnen. Mit dieser Rede versuchte Mitterrand nicht nur, der Zukunft ein kon-
kreteres Gesicht zu geben, sondern seine Partner auch von einem europäischen
Aufbruch zu überzeugen, indem sie durch die imaginierte Zukunft ihre Orientie-
rungslosigkeit überwinden und die Anstrengungen auf ein gemeinsames Ziel
fokussieren konnten. Welches dieses konkret auch immer sein möge, blieb zu-
nächst unklar, denn Mitterrands Rede schuf nur die Illusion einer gemeinsamen
Zukunft, die hinreichend offen war, dass die anderen Mitgliedstaaten sie mit ihren
eigenen Erwartungen füllen konnten. Als ein strukturelles Merkmal von Mitter-
rands Zukunftsszenario lässt sich daher eine strategische Offenheit identifizieren,
da es den nach wie vor divergierenden Vorstellungen der Partner gerecht werden
sollte.
Trotz der intensiven deutsch-französischen Abstimmung, der französischen
Anstrengungen, die unterschiedlichen Haltungen zu harmonisieren, und einer
beträchtlichen Zahl an Kompromissen, die bei dem Gipfel erzielt wurden, erfolgte
bei dem Brüsseler Ratstreffen am 19. und 20. März 1984 nicht der erhoffte
Durchbruch. Nach dem Scheitern des Athener Gipfels hob auch Mitterrand die
Sitzung auf, ohne dass sich die Staats- und Regierungschefs auf Ergebnisse oder
ein Abschlusskommuniqué hätten einigen können. Margaret Thatchers Weige-
rung, die ihr angebotene Höhe der britischen Rückerstattungsbeträge vom euro-
päischen Budget zu akzeptierten, war einer der unüberwundenen Konfliktpunk-
te.²²² Als François Mitterrand am Tag nach dem Gipfel für ein Fernsehinterview vor
die Kameras trat, bemühte er sich in mehrfacher Hinsicht um Schadensbegren-
zung.²²³ Es war Verarbeitung des Misserfolgs und Vorbereitung neuer Verhand-
lungen zugleich – nach dem Gipfel in Brüssel war vor dem Gipfel in Fontaine-
bleau. Das Interview zielte darauf, Mitterrands Handeln als Ratspräsident in der
Öffentlichkeit zu legitimieren, die Ergebnisse zu beschönigen und den Druck auf
Großbritannien zu erhöhen. Helmut Kohl erinnerte sich in seinen Memoiren an
etwas, das François Mitterrand unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Brüssel am
21. März 1984 völlig aus dem Bewusstsein verdrängt zu haben schien – zumindest
gewannen seine Aussagen dadurch an Dramatik, dass er die Unstimmigkeiten, die

 Mitterrand, Rede in Den Haag, 7. Februar 1984, S. D199.


 Loth, Europas Einigung, S. 256.
 Mitterrand, François: Fernsehinterview des französischen Staatspräsidenten, François
Mitterrand, am 21. März 1984 zur Tagung des Europäischen Rates in Brüssel. In: Europa-Archiv
(1984) 10. S. D276–D279.
226 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

es mit den Iren auf dem Gipfel über die Frage der Milchquote gab, unter den Tisch
fallen ließ.²²⁴ Auf diese Weise gelang es ihm, Großbritannien das Scheitern für den
Gipfel alleine zur Last zu legen, das als einziger Mitgliedstaat – und das betonte
Mitterrand gleich mehrfach – aus einem breiten Konsens ausgeschert sei. Umso
erdrückender und leichtsinniger wirkt Thatchers Verhalten bei dem Gipfel, weil
Mitterrand beteuerte, dass man sich ansonsten in allen Punkten einig gewesen
sei. Mit einer kleinen Schönheitskorrektur der Realität lud er Thatcher eine
schwere Verantwortung auf und machte zugleich Hoffnungen auf die Zukunft,
weil der Gipfel, an den die Erwartungen so groß gewesen waren, dadurch im-
merhin nicht als absoluter Misserfolg erschien. Dies leitet über zu einem weiteren
Punkt: Der Konsens der Neun gegen Großbritannien rechtfertigt seine Entschei-
dung, den Gipfel ohne Ergebnis aufzuheben. Demgegenüber habe er lieber auf
eine Einigung um jeden Preis verzichtet, die er als „Faktor der Zerstörung Euro-
pas“ diffamiert. Zusammen „mit den anderen acht Ländern“ habe er sich dafür
entschieden, „die Uneinigkeit in Kauf zu nehmen“.²²⁵ Der Verweis auf die Rü-
ckendeckung der anderen acht Partner diente nicht nur zur Legitimation seines
Handelns, sondern zielte darauf, die britische Premierministerin zu isolieren und
den Druck zu erhöhen. Außerdem stellte die Relativierung des Scheiterns einen
Akt der Vertrauensbildung gegenüber den europäischen und insbesondere den
französischen Bürgern dar. Mit der Aufhebung des Treffens ohne Verhandlungs-
ergebnis hatte Mitterrand das Risiko in Kauf genommen, dass die EG in der Öf-
fentlichkeit ein weiters Mal als handlungsunfähig wahrgenommen wurde. In
Hinblick auf die anstehenden Europawahlen und nunmehr zwei aufeinander
folgenden gescheiterten Gipfeln, sah Mitterrand sich genötigt, das Image der
Europäischen Gemeinschaft zu verteidigen und sich zugleich als französischer
Präsident innenpolitisch zu rechtfertigen. Er wandte sich direkt an die französi-
schen Bauern, und entwarf ein Krisenszenario, das den Gemeinsamen Markt als
alternativlose Lösung erscheinen lassen sollte.
Ob nun Planung oder Strategie – dies erscheint angesichts des gescheiterten
Gipfels zunächst bedeutungslos. Trotz einer Strategie, die kontingente Ereignisse
in Rechnung stellt, war es schließlich nicht gelungen, die Konflikte zu überwinden
und die Gemeinschaft durch Reformierung für die Herausforderungen der Zukunft
auszurüsten. Ein weiteres Mal waren die Staats- und Regierungschefs auf der
Stelle getreten. Allerdings integrierte Mitterrand mit dieser nachträglichen Ra-
tionalisierung in dem Fernsehinterview das Scheitern in seine Strategie. Miss-

 Kohl, Erinnerungen, S. 283; Runderlaß des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Steinkühler,
22. März 1984. In: AAPD 1984, Dok. 88, S. 436.
 Mitterrand, Fernsehinterview, 21. März 1984, S. D276.
3.3 Relance européenne 227

lungene politische Planung wäre passé gewesen und hätte einer grundlegend
neuen Planung bedurft. Indem er die Alternative als Zerstörungsakt deutete,
stellte er sein Handeln und das Scheitern des Gipfels als notwendig dar. Trotz der
unerwarteten beziehungsweise unerwünschten Entwicklungen in Brüssel blieb er
handlungsfähig, weil er seine Strategie daran anpasste. Dadurch erhöhte er al-
lerdings auch den Einsatz für das nächste Zusammentreffen der europäischen
Staats- und Regierungschefs.
Das Abkommen vom 31. März bei dem Gipfel der europäischen Agrarminister,
in dem die Produktionsmengen für Milch festgelegt wurden, kostete, wie Roland
Dumas bezeugt, Frankreich zwar viel. Er bewertete es dennoch als einen Erfolg für
Europa. Die Lösungen der Konflikte in der Gemeinsamen Agrarpolitik demon-
strierten die Machbarkeit eines Kompromisses und förderten gewiss auch Helmut
Kohls Bereitschaft bei den Währungsausgleichszahlungen Abstriche hinzuneh-
men, die den französischen Bauern sehr schadeten, während sie den deutschen
nutzten. Helmut Kohl schloss sich erneut gegen die Einstellung seines Finanz-
ministers Stoltenberg der Haltung seines Außenministers an und signalisierte
Kompromissbereitschaft in der Frage der Währungsausgleichszahlungen, um der
französischen Präsidentschaft zum Erfolg zu verhelfen.²²⁶ Die Verhandlungs-
erfolge in der Gemeinsamen Agrarpolitik lesen sich nicht nur als Ertrag deutsch-
französischer Solidarität, sondern auch als wegbereitend für das europäische
Ratstreffen in Fontainebleau. An dessen Vorabend blieb als einzige noch unge-
löste Frage der britische Beitrag zum Gemeinschaftsbudget übrig. Für die Stra-
tegie, die Kanzleramt und Elysée auf französischen Impuls ausarbeiteten, war
diese Tatsache entscheidend.
Mit dem Brüsseler Scheitern war der Druck auf den französischen Präsidenten
und seine équipe gestiegen, in Fontainebleau einen Durchbruch zu erzielen.
Dabei verließen sie sich nicht auf die Hoffnung, dass auch der Druck auf Pre-
mierministerin Thatcher hinreichend gestiegen war, sodass sie endlich ein An-
gebot über die Rückerstattungsbeträge akzeptieren würde. Ohne eine alternative
Strategie könnte der Gipfel in Fontainebleau auch lediglich zu einer Verlängerung
des Brüsseler Treffens werden. In zwei Punkten änderte Mitterrand daher seine
Strategie: Erstens gab er der Zukunft Europas ein konkreteres Gesicht: Am
16. April 1984 empfing er Altiero Spinelli, den Berichterstatter des Projekts zu
einer Europäischen Union vom Europäischen Parlament. Bei dieser Gelegenheit
übergab Spinelli Mitterrand ein Dokument mit Überlegungen zu einer möglichen

 Dumas, Affaires étrangères, S. 201– 204.


228 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

europäischen Initiative.²²⁷ Bei dem Gespräch am 16. April legten Parlamentsprä-


sident Piet Dankert, Altiero Spinelli und Mauro Ferri dem französischen Präsi-
denten den Vertragsentwurf vor, der vom Europäischen Parlament am 14. Februar
mit 231/31 Stimmen (und 43 Enthaltungen) angenommen worden war. Pierre
Morel stellte fest, dass dieses föderalistische Projekt noch über den Genscher-
Colombo-Plan hinausging, der zur Grundlage der Stuttgarter Erklärung geworden
war. Spinelli suchte die Unterstützung von François Mitterrand in der Funktion als
Ratspräsident, um das Projekt voranzubringen.²²⁸ In den Ausführungen die Spi-
nelli Mitterrand mit auf den Weg gab, betrieb er eindeutig Lobbyarbeit für die
Initiative des Europäischen Parlaments. Der amtierende Ratspräsident hatte
selbst Interesse an Ideen für eine europäische Initiative. Spinellis Argumentation
über die Notwendigkeit einer Europäischen Union beruhte auf zwei Punkten und
wurde durch François Mitterrand in seiner Rede in Straßburg vor dem Europäi-
schen Parlament aufgegriffen. Sie stimmte letztlich mit dem überein, was die
équipe Mitterrand ohnehin vertrat. Einerseits drohte die wirtschaftliche, politische
und militärische Marginalisierung, wenn die europäischen Länder ihre Anstren-
gungen und Ressourcen nicht vereinten und andererseits könnten durch diese
gemeinsamen Aktionen größere Gewinne erzielt werden. Die inhaltliche Lösung
der Streitigkeiten, argumentierte Spinelli, könnten die existentiellen Krisen der
europäischen Konstruktion lediglich verschieben, die eigentlich in strukturellen,
institutionellen Unzulänglichkeiten begründet lägen.²²⁹ Mit seinen Überlegungen
bot er dem französischen Präsidenten den Vertragsentwurf des Europäischen
Parlaments als Stützpunkt für eine französische Initiative an – oder vielmehr
versuchte er, einen prominenten Fürsprecher für das Parlamentsprojekt zu ge-
winnen.
In seiner Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg am 24. Mai 1984
beklagte der französische Präsident, dass „sich Europa [viel zu lange schon] mit
lächerlichen Streitigkeiten“ aufhalte und darüber „das eigentliche Ziel seiner
Schritte“ aus den Augen verliere.²³⁰ Er versuchte deshalb, das „Dickicht des Un-

 AN, AG/5(4)/PM/8, Parlement Européen, François Bordry an Monsieur Pierre Morel, Con-
seiller technique, Présidence de la République, 18. April 1984.
 AN, AG/5(4)/PM/8, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Note pour Mon-
sieur le Président, Entretien avec M. Dankert: Projet de traité sur l’Union européenne, 16. April
1984.
 AN, AG/5(4)/PM/8, Altiero Spinelli, Député au Parlement européen, Quelques réflexions
concernant la possibilité d’une initiative européenne du Président de la République, 16. April
1984.
 Mitterrand, François: Rede des französischen Staatspräsidenten, François Mitterrand, vor
dem Europäischen Parlament am 24. Mai 1984. In: Europa-Archiv (1984) 12. S. D332.
3.3 Relance européenne 229

wesentlichen“ zugunsten „große[r] Perspektiven Europas“ zu überwinden.²³¹ Um


einem wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bedeutungsverlust zu ent-
kommen, unternahm er eine Groß-Initiative für Europas Zukunft: Er plädierte für
die Eindämmung des Gemeinschaftsbudgets und neue Initiativen für einen ge-
meinsamen Binnenmarkt. Darüber hinaus eröffnete er Perspektiven für neue
politische Felder europäischer Kooperation, wie beispielsweise Industrie, Welt-
raum, Verkehr oder Kultur. Hinsichtlich „Bestrebungen nach einer gemeinsamen
Sicherheit, einer gemeinsamen Verteidigung“ bekundete Mitterrand „sowohl ihre
große Schwierigkeit als auch ihre Notwendigkeit“,²³² indem er es in die Per-
spektive einer europäischen Eigenständig- und Unabhängigkeit stellte. „Es steht
fest, daß allmählich die Zeit vorbei ist, da Europa nur dazu bestimmt war, von
anderen geteilt und zerschnitten zu werden. Die beiden Wörter ‚Unabhängigkeit
Europas‘ haben heute einen neuen Klang.“²³³ Explizit plädierte er für einen in-
stitutionellen Ausbau Europas und legte konkrete, institutionelle Reformvor-
schläge dar.
Dafür unterstützte er den Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments zu
einer Europäischen Union und schlug eine gemeinsame Konferenz aller interes-
sierten Mitgliedstaaten vor, bei der dieser Entwurf sowie die feierliche Erklärung
von Stuttgart als Grundlage für die Schaffung eines neuen Vertrages genommen
werden könnten.²³⁴ Nach dem Scheitern in Brüssel und unmittelbar vor seiner
letzten Chance, als Ratspräsident in Fontainebleau noch substantielle Ergebnisse
zu erreichen, war er zu der Überzeugung gelangt, dass es einer konkreten Vor-
stellung über die Zukunft und damit einer konkreten politischen Initiative be-
durfte. Die Vorschläge in seiner Den Haager Rede waren noch hinreichend un-
konkret gewesen, dass sie prinzipiell einen Konsens unterschiedlicher
Erwartungen hätte ermöglichen können. Nachdem dies nicht von Erfolg gekrönt
gewesen war, änderte er seine Strategie und setzte mit konkreten Vorschlägen
gewissermaßen alles auf eine Karte. Damit verließ er seinen bisherigen Pfad, sich
konkreten Reformplänen erst nach einer Lösung aller internen Probleme zu
widmen. Ein konkreterer Zukunftsentwurf für Europa sollte außerdem die Fall-
höhe in den Augen von Thatcher und allen anderen europäischen Partnern er-
höhen, es auf ein Scheitern ankommen zu lassen. Rhetorisch reduzierte Mitter-
rand die Zukunft auf zwei mögliche Entwicklungen:

 Mitterrand, Rede Europaparlament, 24. Mai 1984, S. D332.


 Mitterrand, Rede Europaparlament, 24. Mai 1984, S. D337.
 Mitterrand, Rede Europaparlament, 24. Mai 1984, S. D337.
 Mitterrand, Rede Europaparlament, 24. Mai 1984, S. D338.
230 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

Die Alternative, die sich jetzt stellt, heißt: Entweder wir überlassen anderen auf unserem
Kontinent oder außerhalb unseres Kontinents die Entscheidung über aller, und somit auch
unser, Schicksal, oder aber wir vereinigen alle Talente und Fähigkeiten, alle schöpferischen
Möglichkeiten, die materiellen, geistigen und kulturellen Mittel, die aller zusammen aus
Europa eine Zivilisation gemacht haben, damit Europa […] endlich das wird, was es ei-
gentlich ist.²³⁵

Dieses Beispiel verdeutlicht eine Strategie, der sich die équipe Mitterrand in ver-
schiedenen Kontexten bediente: Das Drohen mit einer möglichen Zukunft, durch
das die Alternative alternativlos erscheint. Insgesamt wurde damit der Horizont
an denkbaren Handlungsimpulsen scheinbar geschlossen, indem die Illusion
einer binären Entscheidung zwischen Zukunft A und Zukunft B erzeugt wurde.
Seine Initiative für ein Europa der Zukunft war allerdings nur eine Seite von
Mitterrands Strategie. Während Robert Armstrong, Thatchers Kabinetts-Sekretär,
Jacques Attali sowie Sir Geoffrey Howe und Roland Dumas neue Kompromiss-
vorschläge für die britischen Rückerstattungsbeträge ausarbeiteten, überlegten
sich die Mitarbeiter des Präsidenten zweitens ein potentielles Krisenszenario für
den Fall, dass die Premierministerin ein weiteres Mal alle Verhandlungen würde
platzen lassen: Ein Europa ohne Großbritannien. Dumas bezeugt, dass Mitterrand
zunächst skeptisch gewesen sei, schließlich aber grünes Licht gegeben habe. Da
die Römischen Verträge keinen Ausschluss vorsahen, entwickelte Guy Legras die
Idee, eine neue Gemeinschaft neben der EG zu gründen. Damit wurde britischen
Erpressungsversuchen ein entscheidendes Druckmittel entzogen. Dieses Krisen-
szenario wurde daraufhin mit Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher abge-
stimmt. Nach der Regelung der Gemeinsamen Agrarpolitik und den Währungs-
ausgleichszahlungen war die Entente zwischen Paris und Bonn stärker als zuvor.
Während Genscher und Dumas an einer gemeinsamen Strategie arbeiteten, wurde
zwar auf Diskretion Wert gelegt. Bewusst wurde aber wohl in Kauf genommen,
dass Gerüchte durchsickerten und die Premierministerin Wind von den Plänen
einer Alternative bekam.²³⁶ Das Drohen mit einer möglichen, für Großbritannien
wenig verheißungsvollen Zukunft wurde auch hier strategisch eingesetzt. Indem
an der Entschlossenheit, notfalls ohne Großbritannien voranzugehen, kein
Zweifel blieb, wurde dies für Thatcher zu einem realistischen Bedrohungsszena-
rio. Mitterrands Kompromisslosigkeit wurde für sie zu einem unkalkulierbaren
Risiko transformiert, weil sich der Einsatz seit Brüssel erhöht hatte. Zudem hatte
sie dort bereits die Erfahrung gemacht, dass Mitterrand im Zweifelsfall bereit war,
es darauf ankommen zu lassen und die Sitzung auch ohne Ergebnis aufzuheben.

 Mitterrand, Rede Europaparlament, 24. Mai 1984, S. D332.


 Dumas, Affaires étrangères, S. 214– 216; Loth, Europas Einigung, S. 257.
3.3 Relance européenne 231

Mit dieser Strategie gelang es, bei dem Gipfel in Fontainebleau nach
schwierigen Verhandlungen mit der britischen Premierministerin schließlich ei-
nen Verhandlungserfolg zu erzielen. Dadurch wurden nicht nur die Streitfragen
zwischen den Mitgliedstaaten überwunden, sondern auch die Türen zu einer
Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft aufgestoßen. Der Europäische
Rat beschloss die Bildung von zwei Ausschüssen, die mit der konkreten politi-
schen Ausarbeitung beauftragt wurden. Ein Ausschuss für ein „Europa der Bür-
ger“ sollte an der Förderung von grenzüberschreitendem Waren- und Personen-
verkehr und dem Aufbau eines europäischen Bewusstseins arbeiten. Der „Ad-hoc-
Ausschuss für institutionelle Fragen“ wurde damit beauftragt, „Vorschläge zum
besseren Funktionieren der europäischen Zusammenarbeit im Gemeinschafts-
bereich“, der EPZ und „anderen Bereichen“ zu unterbreiten.²³⁷ Die Staats- und
Regierungschefs bekundeten außerdem ihre Absicht, den gemeinsamen Bin-
nenmarkt zu vollenden sowie der wissenschaftlichen und technischen Koopera-
tion neue Impulse zu geben.²³⁸ Da bereits verschiedene Initiativen zu einer Re-
formierung und Erweiterung der Gemeinschaft vorgelegen hatten, konnte sich
nach der Auflösung der wechselseitigen Blockierungen auch deshalb eine neue
Dynamik entfalten, weil Mitterrand es verstanden hatte, einen konkreten Zu-
kunftsentwurf zu unterstützen und als Verheißung gegenüber einer Fokussierung
auf nationale Belange zu präsentieren.
Als Pierre Morel im September 1984 feststellte, dass die Bundesrepublik ei-
nige Arbeiten im institutionellen Ausschuss blockierte, schlug er vor, die pro-
blematischen Fragen bei dem Treffen von Kohl und Mitterrand in Verdun zu be-
sprechen. Die deutsche Haltung, erklärte Morel, sei innenpolitisch motiviert, da
Kohl aufgrund der Nominierung von Jacques Delors zum Kommissionspräsiden-
ten viel Kritik hatte einstecken müssen. Innerhalb der Gemeinschaft verursachte
dies ein Klima der Spannungen. Zudem habe der Bundeskanzler auch seinen
Kandidaten nicht als Vorsitzenden des Ad-hoc Komitees durchsetzen können, der
sich mit den institutionellen Fragen befasste. Deswegen schlug er vor, auf dem
nächsten deutsch-französischen Gipfel in Bad Kreuznach Ende Oktober 1984 ein
politisches Signal zu senden und bereits in Verdun, am Rande der Gedenkfeier
zum Ersten Weltkrieg einige kritische Fragen anzusprechen.²³⁹ Die Dynamik der
relance européenne war also durchaus anfällig für neue Störungen. Um jedwede

 Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Fontainebleau (25. und 26. Juni 1984). In:
Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Juni 1984 Nr. 6. S. 10 – 12.
 Loth, Europas Einigung, S. 257 f.
 AN, AG/5(4)/PM/8, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel, Note
pour Jean-Louis Bianco et Jacques Attali, Brusquerie et rigidité allemandes au sein de la Com-
munauté, 18. September 1984.
232 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

Zweifel an der deutsch-französischen Entente auszuräumen, entschloss sich


Mitterrand wohl dazu, schon in Verdun eine unmissverständliche Botschaft zu
senden. Als er nach der Kranzniederlegung Kohls Hand ergriff, schuf er damit das
„Sinnbild einer neuen Epoche deutsch-französischer Führung in der Europapo-
litik“²⁴⁰, das in die Geschichtsbücher eingegangen ist.

3.4 Die Rückkehr zur Détente

Mit dem Votum des Deutschen Bundestages am 22. November 1983 war die Auf-
stellung amerikanischer Raketen auf bundesdeutschem Territorium beschlossene
Sache. Zwei Tage später am 24. November 1983 beauftragte François Mitterrand
seinen Außenminister, Kontakt zum sowjetischen Botschafter Julij Woronzow
aufzunehmen und eine Reise des Präsidenten nach Moskau vorzubereiten.²⁴¹
Hatte Mitterrand dem Wunsch der sowjetischen Führung nach persönlichen Ge-
sprächen der Staatsspitzen zuvor stets widerstanden, stellt sich die Frage, was
den französischen Präsidenten nun dazu bewegte, seine Entscheidung zu ändern.
Die folgenden Ausführungen haben zum Ziel, die Bedingungen und Intentionen
von Mitterrands Besuch in Moskau zu analysieren und am Schluss eine Bewer-
tung der Ergebnisse vorzunehmen.
Die politischen Rahmenbedingungen hatten sich seit 1981 grundlegend ver-
ändert. Obwohl mit dem Beginn der Nachrüstung die Kopplung der europäischen
und amerikanischen Verteidigung wiederhergestellt werden sollte, war das Risiko
einer Spaltung der Atlantischen Allianz nach wie vor nicht beseitigt: Diplomaten
im Quai d’Orsay sahen den Bündniszusammenhalt immer noch gefährdet, weil
die INF-Krise auch die START-Verhandlungen blockierte und mit Reagans An-
kündigung von SDI bereits eine Fortsetzung des Wettrüstens im Weltraum in
Aussicht war.²⁴²
Das Verhalten der sowjetischen Führung wurde ebenfalls problematisiert:
Nachdem Jurij Andropow im Februar 1984 verstorben war, wurden die Entschei-
dungen unter seinem Nachfolger Konstantin Tschernenko als Zeichen einer po-
litischen Verhärtung und Unnachgiebigkeit gedeutet. Dieser Schluss wurde aus
dem Boykott der sowjetischen Sportler bei den Olympischen Spielen in Los An-

 Loth, Europas Einigung, S. 258.


 Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 229; siehe außerdem: Dumas, Affaires étrangères, S. 283;
Attali, Verbatim 1981– 1986, 24. November 1983, S. 644.
 AN, AG/5(4)/EG/195, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégi-
ques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, FNI et problèmes
stratégiques, 7. Juni 1984.
3.4 Die Rückkehr zur Détente 233

geles und einer neuen Offensive in Afghanistan gegen die Provinz Panshir ge-
zogen. Auch die Verfolgung der Ehefrau von Andrej Sacharow, Jelena Bonner
schien den Verdacht weiter zu erhärten.²⁴³ Jacques Andréani konstatierte ab April
1984 ein „durcissement soviétique“: Er hatte zwar erwartet, dass sich die So-
wjetunion nach dem Beschluss der Nachrüstung zurückziehen werde. Allerdings
hatte er wohl damit gerechnet, dass diese Verhandlungspause nicht von langer
Dauer sein würde. Anfang Juni 1984 sah er sich genötigt, sein Urteil zu revidieren.
Zwar empfand er die sowjetische Politik nicht als bedrohlich, jedoch sah er die
Gefahr, dass die Moskauer Führung sich dadurch in eine Sackgasse manövrierte,
aus der ein Ausweg zunehmend schwieriger wurde.²⁴⁴ Bei den Vorbereitungen von
Mitterrands Staatsbesuch erkannte die Europaabteilung des Quai d’Orsay im
Kreml keinerlei Bereitschaft, zu einem Dialog mit Washington zurückzukehren.
Pierre Morel führte die sowjetischen Schwierigkeiten nicht in erster Linie auf
politische, militärische oder wirtschaftliche Ursachen zurück. Vielmehr sah er
ihren Ursprung psychologisch begründet. Er diagnostizierte ein tief verwurzeltes
und andauerndes Misstrauen gegenüber der externen Welt und insbesondere den
USA.²⁴⁵ Das Verhalten der sowjetischen Führung erklärte er mit deren Selbst- und
Fremdwahrnehmungen, wodurch Empathie gewissermaßen zu einer strategi-
schen Grundlage von politischem Handeln wurde.
Moskau hatte wohl in der Tat nicht damit gerechnet, dass die Bundesregie-
rung den Nachrüstungsbeschluss tatsächlich umsetzen würde – zumindest hatte
sie keine alternative Strategie entwickelt, als die Friedensbewegung für den Druck
auf die westlichen Regierungen zu instrumentalisieren. Als sie damit letztlich am
22. November 1983 offenkundig gescheitert war, war sie zu neuen Entscheidungen
unfähig. Sowjetische Medien begannen, Kriegsangst zu schüren, woraus Gerhard
Wettig den Schluss zog, dass „die sowjetische Führung die Bevölkerung auf einen
möglichen militärischen Konflikt vorbereiten [wollte], der, wie Andropow und
nervöse Funktionäre in seiner Umgebung befürchteten, akut drohte.“²⁴⁶ Es deutet
darauf hin, dass die sowjetischen Entscheidungen während der INF-Verhand-
lungen im Wesentlichen von irrationalen Vernichtungsängsten beeinflusst wur-

 AN, AG/5(4)/PM/98, Premier Ministre, Secrétariat Général de la Défense Nationale, Fiche,
Que signifie le boycott des jeux olympiques par les Soviétiques?, 9. Mai 1984.
 ADMAE, 1930-INVA 5698, MRE, Le Directeur des Affaires Politiques, Jacques Andréani, Note,
Les relations Est-Ouest au printemps 1984, 6. Juni 1984.
 AN, AG/5(4)/PM/98, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel,
Note pour Jean-Louis Bianco, Quelques réflexions sur l’URSS et les relations franco-soviétiques,
18. Juni 1984.
 Wettig, Sowjetische Euroraketenrüstung, S. 63; siehe dafür auch: Zubok, Failed Empire,
S. 275.
234 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

den, sodass sie durch die sowjetische Führung als Existenzkampf wahrgenom-
men wurden. In dem Fall mag es überraschen, dass sie sich scheinbar aus-
schließlich auf die Strategie verließ, Teile der westlichen Öffentlichkeit zu in-
strumentalisieren, anstatt sich mit einem alternativen Plan in den Verhandlungen
konstruktiver zu zeigen. Zwei Erklärungen kommen dafür infrage: Erstens ist
davon auszugehen, dass die sowjetischen Militärs und Hardliner sich auf
Grundlage ihres politischen Einflusses einem Abzug sowjetischer Systeme er-
folgreich in den Weg stellten. Hinzu kommt vermutlich zweitens, dass die Ängste
vor kriegerischen Absichten des Westens und die Erfahrungen des Zweiten
Weltkrieges so tief verwurzelt waren, dass sie jeder Bereitschaft einer Teilabrüs-
tung der SS-20-Raketen im Weg standen, weil es einer Entblößung der Verteidi-
gung gleichgekommen wäre. Der Weg über die westliche Öffentlichkeit war aus
dieser Sicht mit den geringsten Kosten verbunden. Von Mitterrands Beratern und
den Diplomaten im Außenministerium wurden diese Tendenzen erkannt und
Entscheidungen der sowjetischen Außenpolitik als Indikator für eine Dramati-
sierung der Situation interpretiert. Die Konsequenzen der Nachrüstung wurden
also einerseits als riskant bewertet und ein dringender Handlungsbedarf abge-
leitet, um die sowjetische Führung zu einer Rückkehr zum Dialog zu bewegen.
Die politische Situation eröffnete andererseits neue Möglichkeitsräume für
die französische Politik: Ende Juni 1984 wurde als günstiger Zeitpunkt für Mitt-
errands Reise empfohlen.²⁴⁷ Schon unmittelbar nach der Abstimmung im Bun-
destag, als die Konsequenzen noch abzuwarten blieben, wies Cheysson bei Ge-
sprächen der deutschen und französischen Außen- und Verteidigungsminister
und politischen Direktoren darauf hin, dass Franzosen und Europäern künftig
eine entscheidende Rolle zwischen den beiden Supermächten zukäme: Er sah sie
als Medium, durch das die sowjetische Führung bei einer Rückkehr zum Ver-
handlungstisch ihr Gesicht wahren könne.²⁴⁸ Genscher stimmte mit seinem
Amtskollegen überein und erklärte seine Absicht, in der amerikanischen Admi-
nistration jene Repräsentanten unterstützen zu wollen, die Verhandlungen mit

 AN, AG/5(4)/EG/195, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Note de
Synthèse, Visite de Monsieur le Président de la République en URSS (20 – 23 juin 1984), 12. Juni
1984.
 „Nous avons des raisons de penser que nous pourrons jouer un rôle utile le moment venu
pour sauver la face des Soviétiques en vue de la reprise des négociations. Il faut laisser passer
quelque temps.“ AN, AG/5(4)/CD/162, MRE, Le Directeur des Affaires Politiques, 3e Réunion
ministérielle franco-allemande sur les questions de stratégie et de sécurité, Bonn 24 novembre
1983, 28. November 1983.
3.4 Die Rückkehr zur Détente 235

Moskau gewogen waren.²⁴⁹ Pierre Morel sah Frankreich in der Vermittlungsrolle,


um Moskau bei der Suche nach einem Ausweg aus der aktuellen politischen Si-
tuation behilflich zu sein. Er erwartete, dass „l’URSS a besoin, sans le reconnaître,
de voir les choses autrement, de prendre du recul, d’explorer, pour plus tard, des
voies de sortie possibles.“²⁵⁰ Die Einflussmöglichkeiten auf die aktuelle sowjeti-
sche Führung schätzte er zwar gering ein; eher dachte er bereits an eine nach-
folgende Generation. Es zeigt, dass er sich keinen Illusionen über den französi-
schen Handlungsspielraum in der Gegenwart machte, sondern vielmehr an der
Ausweitung eines zukünftigen Handlungsspielraums interessiert war. Die Zukunft
war hier nicht mehr Instrument, bei dem einer ungewissen Zukunft mit einem
konkreten Szenario der Anschein von Gewissheit verliehen wurde. Stattdessen
wurde die Zukunft durch Morel als ein bereits in der Gegenwart für Gestaltung
offener Raum wahrgenommen. Auch Jean-Louis Gergorin hoffte, Profit daraus
ziehen zu können, dass Moskau seine politischen Ziele verfehlt hatte. Er ver-
sprach sich ebenfalls keine sofortigen politischen Resultate aber sah den Nutzen
„[à] définir des principes d’action à long terme“²⁵¹. Das durch den Abbruch der
Verhandlungen entstandene Vakuum, wurde also sowohl von dem Berater des
Präsidenten als auch dem Mitarbeiter des Quai d’Orsay als Möglichkeitsraum
erkannt, langfristig neue Spielregeln festzulegen.
Die Reise des französischen Präsidenten bedurfte sorgfältiger diplomatischer
Vorbereitungen. Durch die Präsenz in Moskau sollten keine Zweifel an der fran-
zösischen Bündnistreue aufkommen. In persönlichen Gesprächen mit der ame-
rikanischen Administration am 22. März 1984 in Washington traf François Mitt-
errand daher diplomatische Vorkehrungen, um sowohl das Vertrauen in die
französische Solidarität als auch jenes in die Solidität des Bündnisses selbst zu
festigen. In einem ersten Schritt inszenierte sich Mitterrand als unabhängiger
Gesprächspartner. Er verwies auf die äußerst angespannte Situation in Europa,
was zu einer Spaltung der europäischen Öffentlichkeiten geführt habe. Demge-
genüber präsentierte er die französische Öffentlichkeit als solider und legitimierte

 AN, AG/5(4)/CD/162, MRE, Le Directeur des Affaires Politiques, 3e Réunion ministérielle
franco-allemande sur les questions de stratégie et de sécurité, Bonn 24 novembre 1983, 28. No-
vember 1983.
 AN, AG/5(4)/PM/98, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel,
Note pour Jean-Louis Bianco, Quelques réflexions sur l’URSS et les relations franco-soviétiques,
18. Juni 1984.
 AN, AG/5(4)/EG/195, Premier Ministre, Secrétariat d’État, Centre d’Études prospectives et
d’informations internationales, Groupe de réflexion sur les rapports est-ouest, Réunion du 15. juin
1984, Faut-il s’évertuer à relancer les relations franco-soviétiques?, 18. Juni 1984.
236 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

sich damit als Gesprächspartner beider Supermächte.²⁵² Mitterrand wandelte


dabei auf einem schmalen Grat: Die Botschaft französischer Unabhängigkeit
sollte zwar durch Reagan und seine Mitarbeiter verstanden werden, aber kei-
neswegs in Misstrauen umschlagen, dass damit eine Lossagung von der Atlanti-
schen Allianz verbunden war. Seine Botschaft enthielt daher auch die Dimension,
amerikanischen Sorgen vor einer wankelmütigen Bündnistreue vorzubeugen und
vielmehr Vertrauen in die Partnerschaft zu generieren: Auch wenn Frankreich in
seiner Diplomatie unabhängig sei, bliebe es seinen Partnern gegenüber doch treu.
Durch die Analysen seiner Berater und Diplomaten, war sich Mitterrand darüber
klar, dass Moskau den Dialog mit einem europäischen Verbündeten in erster Linie
deshalb suchte, um nach dem Rückzug vom Verhandlungstisch das Gesicht zu
wahren. Indem er seine Einschätzungen mit Reagan teilte, machte er dem Prä-
sidenten deutlich, dass er sich nicht von der sowjetischen Führung hinters Licht
führen ließ. Zudem bestritt er die amerikanische Führungsrolle im Dialog mit dem
Kreml nicht und vermied es so, als Rivale in der Ostpolitik wahrgenommen zu
werden.
Mitterrands Vertrauensbildung diente damit zum einen dazu, seine eigene
Vertrauenswürdigkeit zu stärken. Zum anderen zog er diese von der individuellen
Ebene auf eine höhere, da er Reagans Vertrauen in die europäischen Verbündeten
und den Bündniszusammenhalt insgesamt stärken wollte. Die sowjetischen
Einladungen an Außenminister verschiedener westlicher Staaten deuten darauf
hin, dass der Kreml seine Spaltungspolitik nicht aufgegeben habe. Mitterrand
beschwor seine amerikanischen Gesprächspartner, Vertrauen in ihre Bündnis-
partner zu setzen und riet dezidiert von Versuchen der Bevormundung ab. Als
Beleg für den Zusammenhalt auch in Krisenzeiten hob er den Erfolg in der Eu-
roraketenkrise hervor, um den Abkopplungstendenzen der Amerikaner von Eu-
ropa nicht auch noch Vorschub zu leisten.²⁵³
Mitterrands Selbstlegitimation durch die Betonung diplomatischer Unab-
hängigkeit war für ihn das Fundament für die Ratschläge, die er dem amerika-
nischen Präsidenten anschließend für die Fortsetzung des Ost-West-Dialogs er-
teilte. Er legte ihm nahe, die Situation weder zu verschärfen noch zu nachgiebig
zu sein, sondern sich psychologisch auf den sicheren Moment vorzubereiten, in
dem Moskau zu einer Rückkehr zum Dialog bereit sein würde. Die politische
Diskrepanz in der sowjetischen Führung zwischen Militärs und Apparatschiks
würde eine Wiederaufnahme der Verhandlungen langfristig begünstigen. Schon

 AN, AG/5(4)/CD/74, Présidence de la République, Comptes Rendus des entretiens entre le
Président Reagan et le Président Mitterrand à la Maison Blanche, 22. März 1984.
 AN, AG/5(4)/CD/74, Présidence de la République, Comptes Rendus des entretiens entre le
Président Reagan et le Président Mitterrand à la Maison Blanche, 22. März 1984.
3.4 Die Rückkehr zur Détente 237

Breschnew und Andropow hätten gemerkt, dass ihr diplomatisches Vorgehen von
der Armee konterkariert worden sei. Um Reagan zu überzeugen, setzte François
Mitterrand eine Form von Gefühlspolitik ein, die an dieser Stelle als Erziehung zu
Empathie bezeichnet werden soll. Er ermunterte seine amerikanischen Ge-
sprächspartner dazu, aus ihrer eigenen Perspektivität herauszutreten, indem er
versuchte, sie für die Selbst- und Fremdwahrnehmungen der sowjetischen Füh-
rung und die daraus resultierenden Ängsten zu sensibilisieren. De facto zielte dies
darauf, eine rein realpolitische Sicht zu unterlaufen, weil er Wahrnehmungen und
Emotionen eine Wirkung in politischen Entscheidungsprozessen zuschrieb. Ro-
nald Reagan zog in Erwägung, dass die sowjetische Führung tatsächlich Ängste
vor den USA hegen könnte. Einen Abbau der Verteidigungsmaßnahmen hinzu-
nehmen, kam für ihn zwar nicht infrage, aber immerhin erkannte er die Not-
wendigkeit, Moskau durch die Demonstration von Friedenswillen zu beruhigen.²⁵⁴
Von kriegerischen Absichten der Sowjetunion zeigte sich Mitterrand wenig
überzeugt, da sie in der Vergangenheit selten als Aggressor aufgetreten sei. Viel
eher stünde doch zu befürchten, dass die Sowjets die USA als Aggressor wahr-
nehmen würden und begründete dies mit dem russischen Einkreisungskomplex.
Damit versuchte François Mitterrand, seinen Amtskollegen darin zu bestärken,
die sowjetischen Bedrohungsperzeptionen zu berücksichtigen, um daraus resul-
tierenden Ängsten entgegenzutreten. Er warnte Reagan vor neuen Provokationen,
da die Sowjets vor allem durch Angst zum Krieg getrieben würden. Eine Ein-
schätzung des politischen Handlungsspielraums für die amerikanische Admi-
nistration lieferte Mitterrand gleich mit, als er ein Zeichen der Vertrauensbildung
empfahl, aber sogleich hinterherschob, „rien ne pourra être fait d’utile avant la fin
de l’année.“²⁵⁵ Diese Erkenntnisse werfen ein neues Licht auf Reagans Bemü-
hungen, sich ab Ende 1984 für ein persönliches Treffen mit dem Generalsekretär
der KPdSU einzusetzen. Es scheint gerade so, dass Mitterrand Reagan zu der
Einsicht verhalf, dass „[v]iele Männer an der Spitze der Sowjet-Hierarchie […]
aufrichtig Angst vor Amerika und den Amerikanern [hatten].“²⁵⁶
Hatte Mitterrand die antisowjetischen Tendenzen in der französischen Öf-
fentlichkeit im Wahlkampf noch geschickt nutzen können, wurden sie ihm zu-
nehmend zum Hindernis. Im Zusammenhang mit der offiziellen Ankündigung der
Reise bereitete eine Affäre um sowjetische Menschenrechtsverletzungen den
französischen Diplomaten erhebliche Schwierigkeiten. Im Mai 1984 gelangten

 AN, AG/5(4)/CD/74, Présidence de la République, Comptes Rendus des entretiens entre le
Président Reagan et le Président Mitterrand à la Maison Blanche, 22. März 1984.
 AN, AG/5(4)/CD/74, Présidence de la République, Comptes Rendus des entretiens entre le
Président Reagan et le Président Mitterrand à la Maison Blanche, 22. März 1984.
 Reagan, Erinnerungen, S. 618; vgl. außerdem: Zubok, Failed Empire, Empire, S. 275.
238 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

Informationen an die westliche Öffentlichkeit, dass der sich in der Verbannung


befindende sowjetische Dissident Andrej Sacharow in den Hungerstreik getreten
war, um auf diese Weise die Ausreise seiner Ehefrau Jelena Bonner sowie ihre
angemessene medizinische Versorgung zu ermöglichen. Das französische Au-
ßenministerium verlangte von Moskau eine Bestätigung über den guten Ge-
sundheitszustand von Sacharow und seiner Ehefrau. Bevor Quai d’Orsay und
Elysée die Reise des Präsidenten offiziell ankündigten, wurde erwartet, dass die
Informationen des Gesundheitszustandes auch mit der Öffentlichkeit geteilt
würden, was schließlich in letzter Minute auch erreicht wurde.²⁵⁷ Die bereits an-
geführte sowjetische Offensive in Afghanistan in Penshir drohte, Mitterrands
Reise ebenfalls zu konterkarieren, da sie zu diesem Zeitpunkt bereits starke Kritik
bei der Opposition hervorrufen hatte. Hubert Védrine empfahl dem Präsidenten
deshalb, eine öffentliche Verurteilung der sowjetischen Aktionen in Afghanistan
zu wiederholen.²⁵⁸ Im Zuge des Rates der europäischen Außenminister am 14. und
15. Mai 1984 wurde eine solche Erklärung vorbereitet und von Mitterrand abge-
segnet. Darin wiederholten die zehn Mitgliedstaaten ihre Forderungen nach ei-
nem Rückzug fremder Truppen aus Afghanistan, das Prinzip der Selbstbestim-
mung des afghanischen Volkes, die Gewährleistung einer freiwilligen Rückkehr
der Geflüchteten sowie die Blockfreiheit Afghanistans.²⁵⁹ Insgesamt deutet der
politische Kontext von Mitterrands Moskau-Reise darauf hin, dass das repressi-
vere Vorgehen der sowjetischen Führung nach dem Nachrüstungsbeschluss eine
Rückkehr zur Détente einerseits forderte, um eine weitere Eskalation zu verhin-
dern. Andererseits wurde dem Präsidenten der Dialog dadurch erschwert. Das
Vakuum beziehungsweise der Handlungsspielraum, der zunächst durch den
Abbruch der Gespräche zwischen den USA und der Sowjetunion entstanden war,
wurde durch antisowjetische Tendenzen in der Öffentlichkeit wiederum einge-
schränkt.
Um der Einschränkung des politischen Handlungsspielraums entgegenzu-
wirken, musste die französische Diplomatie möglichst unnachgiebig gegenüber
der repressiven sowjetischen Politik wirken. Dazu diente zum einen die Erklärung
der europäischen Mitgliedstaaten, bei der Frankreich seine Kritik mit der euro-
päischen Einstimmigkeit absicherte. Zum anderen konnte angesichts der Wellen,
die der Hungerstreik von Andrej Sacharow in der französischen Presse schlug,

 ADMAE, 1930-INVA 5698, MRE, TD Diplomatie 33386, Message à Georges Shultz, 27. Juni
1984.
 AN, AG/5(4)/CD/147, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, Afghanistan, 9. Mai 1984.
 AN, AG/5(4)/CD/147, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, 11. Mai 1984.
3.4 Die Rückkehr zur Détente 239

diese Kritik nicht ignoriert werden, da der sowjetische Dissident bereits zu einem
Symbol geworden war. Aus diesem Grund legte Roland Dumas mit dem Einver-
ständnis des Präsidenten Mitte Mai das Schicksal der Sacharows in der franzö-
sischen Nationalversammlung dar. Zudem informierte er den Kreml über Mitter-
rands Absicht, die Frage bei seinem Besuch in Moskau anzusprechen, was dort für
Beunruhigung sorgte.²⁶⁰ Die Moskau-Reise wurde in der Öffentlichkeit in einer
Weise vorbereitet, die eine doppelte Erwartung erzeugte. Die Demonstration von
Dialogbereitschaft wurde schon vor dem Antritt der Reise an französische Un-
nachgiebigkeit rückgebunden.
Auch die Erwartungen der sowjetischen Führung wurden durch Mitarbeiter
des Quai d’Orsay vorab kalkuliert, um diplomatischen Fallen auszuweichen.
Unter anderem wurde ihr unterstellt, eine Rückkehr zu privilegierten Beziehungen
und der Entspannungspolitik erwirken zu wollen.²⁶¹ Diese Analysen wurden im
Elysée als Grundlage genommen,²⁶² um die Vieraugengespräche vorzubereiten.
Semantische Warnungen der Diplomaten wurden beispielsweise berücksichtigt,
als Mitterrand in Moskau von der Freundschaft zwischen dem sowjetischen und
französischen Volk sprach, anstatt sie auf eine staatliche Ebene zu heben.²⁶³ Bei
dem offiziellen Dinner im Kreml verband er vertrauensbildende Maßnahmen mit
dem Motiv der Selbsterhaltung: Indem er den defensiven Charakter der franzö-
sischen force de frappe betonte, wollte er sie nicht nur legitimieren, sondern auch
sowjetische Ängste und Feindbilder abbauen. Um seinen Argumenten und seiner
Friedfertigkeit besondere Glaubwürdigkeit zu verleihen, untermauerte er seine
Erzählungen mit persönlichen Kriegserinnerungen.²⁶⁴ Dieses Stilmittel von
François Mitterrand, das Georges Saunier sehr häufig in öffentlichen Stellung-
nahmen und Gesprächen mit anderen Staates- und Regierungschefs nachgewie-
sen hat, diente in diesem Fall auch dazu, die Distanz zu seinen sowjetischen
Zuhörern zu überwinden. Aufgrund des hohen Durchschnittsalters im Politbüro
der KPdSU hatten die meisten unter ihnen den Zweiten Weltkrieg selbst bewusst

 Dumas, Affaires étrangères, S. 183.


 AN, AG/5(4)/EG/195, MRE, Direction Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Centre
d’Analyse et de Prévision: Fiche opérationnelle,Visite du Président de la République en URSS: Les
objectifs, le vocabulaire, les pièges et les attaques des Soviétiques, 15. Juni 1984.
 Hier vor allem die Unterlagen von Elisabeth Guigou.
 AN, AG/5(4)/EG/195, Présidence de la République, Service de Presse, Intervention télévisée
de Monsieur François Mitterrand, Président de la République française, Moscou, 22. Juni 1984.
 AN, AG/5(4)/EG/195, Présidence de la République, Service de Presse, Allocution prononcée
par M. François Mitterrand, Président de la République française, à l’occasion du Dîner officiel au
Kremlin à Moscou, 21. Juni 1984.
240 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

miterlebt. Durch die Erinnerung an gewissermaßen geteilte Erfahrungen schuf er


immerhin ein Mindestmaß an Vertrautheit.
Ähnlich wie zuvor in Washington inszenierte sich François Mitterrand auch in
Moskau als legitimer Gesprächspartner, der seine diplomatischen Entscheidun-
gen trotz seiner Mitgliedschaft im atlantischen Bündnis in völliger Unabhängig-
keit treffen könne. Zur Demonstration dieser Unabhängigkeit diente ihm die Er-
wähnung des sowjetischen Umgangs mit Menschenrechten und ganz explizit der
Fall von Andrej Sacharow bei seiner Tischrede,²⁶⁵ was durch die Journalisten in
der französischen Delegation schnell in den französischen Medien lanciert wur-
de.²⁶⁶ Damit demonstrierte er einerseits Bereitschaft zum Dialog, für den er an-
dererseits nicht jeden Preis akzeptierte. Er hatte gezeigt, dass er sich nicht den
politischen und diplomatischen Spielregeln der Sowjets unterwarf. Mitterrand
testete und weitete auf diese Art und Weise seinen Handlungsspielraum aus. Löste
seine Rede in Moskau zwar Kritik aus, so erwies sie sich letztlich doch als sagbar,
da sie nicht zu einem Abbruch oder Scheitern der Reise führte. Zwar sprach
Mitterrand auch eine offizielle Einladung zu einer Reise nach Frankreich an
Konstantin Tschernenko aus, die dieser gerne annahm.²⁶⁷ Allerdings war dies
doch eher unverbindlich, denn ein konkretes Datum wurde nicht ins Auge gefasst.
Hubert Védrine und Elisabeth Guigou hatten dem Präsidenten davon abgeraten,
um seinen Handlungsspielraum zu erhalten und weiterhin von Gipfel zu Gipfel
entscheiden zu können. Ein exakter Termin, fürchteten seine Berater dagegen,
würde in Moskau als Signal für eine Rückkehr zu den privilegierten Beziehungen
interpretiert.²⁶⁸ In der Tat setzte sich der Generalsekretär der KPdSU gegenüber
dem Präsidenten für eine Wiederaufnahme regelmäßiger politischer Konsulta-
tionen auf Basis der Protokolle von 1970 ein; allerdings beschränkte sich Mitter-
rand darauf, lediglich ihre Nützlichkeit zu betonen, anstatt ihnen zuzustimmen.
Der Automatismus regelmäßiger Gipfel wurde nicht wieder in Gang gesetzt. In
dieser Hinsicht bewertete das Außenministerium die Reise als durchschlagenden

 AN, AG/5(4)/EG/195, Présidence de la République, Service de Presse, Allocution prononcée


par M. François Mitterrand, Président de la République française, à l’occasion du Dîner officiel au
Kremlin à Moscou, 21. Juni 1984.
 Védrine, Mondes, 267 f.
 AN, AG/5(4)/EG/195, Présidence de la République, Service de Presse, Allocution prononcée
par M. François Mitterrand, Président de la République française, à l’occasion du Dîner officiel au
Kremlin à Moscou, 21. Juni 1984; ADMAE, 1930-INVA 5698, MRE, TD Diplomatie 36190, Visite de
Monsieur le Président de la République en URSS, 10. Juli 1984.
 AN, AG/5(4)/EG/195, Présidence de la République, Hubert Védrine et Elisabeth Guigou, Note
pour le Président, Les enjeux de votre visite en URSS, 19. Juni 1984.
3.4 Die Rückkehr zur Détente 241

Erfolg: Sie habe demonstriert, dass der Dialog auf Gipfelebene wiederaufge-
nommen werden könne, ohne die Haltung der Unnachgiebigkeit aufzugeben.²⁶⁹
François Mitterrand und seine Mannschaft brachten den Gesprächen mit der
sowjetischen Führung mehrere Erwartungen entgegen. Es stand nicht im Vor-
dergrund, mit konkreten Verhandlungsergebnissen nach Paris zurückzukehren.
Die zentrale Botschaft, die durch und bei dem Besuch gesendet werden sollte, war
die Demonstration französischer Unabhängigkeit, die sowohl an Washington als
auch an Moskau gerichtet war. Die Analysen von Guigou, Védrine und Morel ha-
ben deutlich gezeigt, dass die Inszenierung französischer Unabhängigkeit künf-
tige Handlungsspielräume eröffnen sollte. Ein weiteres Ziel, das Mitterrands Be-
rater mit der Reise verbanden, war die Anerkennung der europäischen Realität
durch die sowjetische Führung.²⁷⁰ Roland Dumas bezeugt, dass die europäische
Konstruktion im Verhältnis von Paris und Moskau eine entscheidende Rolle
spielte: Ein unabhängiges Frankreich brauchte im Rücken ein starkes Europa
„non aligné“.²⁷¹ Die Anerkennung der europäischen Realität war also komple-
mentär zur Inszenierung französischer Autonomie. Schon bei den Vorbereitungen
des Gipfels, hatte sich Claude Cheysson überrascht gezeigt, dass die französische
Botschaft für die Gespräche nicht die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und
der Europäischen Gemeinschaft vorgesehen hatte. Auch wenn es die Sowjets in
Verlegenheit brachte, beurteilte Cheysson dieses Gesprächsthema als unum-
gänglich.²⁷² Am Vorabend des europäischen Ratstreffens in Fontainebleau wurde
in Moskau also auch die Karte der europäischen Ratspräsidentschaft ausgespielt.
Das CAP plädierte dafür, dem Kreml vor Augen zu führen, dass die europäische
Realität unausweichlich war. Die Sowjets sollten zwar verstehen, dass ihr inter-
nationales Auftreten in erheblichem Maße dazu beigetragen hatte. Gleichwohl
sollten die europäischen Autonomiebestrebungen weder das Misstrauen der so-
wjetischen Führung erregen, noch als politisches Instrument gegen die USA
missbraucht werden.²⁷³ Cheysson hatte dem sowjetischen Botschafter Woronzow
signalisiert, dass Europa als Gesprächsthema auf die Agenda gesetzt werden

 AN, AG/5(4)/PM/98, MRE, TD Diplomatie 33905, Visite de M. le Président des la République
en URSS, 29. Juni 1984.
 AN, AG/5(4)/EG/195, Présidence de la République, Hubert Védrine et Elisabeth Guigou, Note
pour le Président, Les enjeux de votre visite en URSS, 19. Juni 1984; AN, AG/5(4)/PM/98, Présid-
ence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel, Note pour Jean-Louis Bianco,
Quelques réflexions sur l’URSS et les relations franco-soviétiques, 18. Juni 1984.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 172.
 ADMAE, 1930-INVA 5698, MRE, TD Diplomatie 29767, Thèmes de discussion pendant la visite
présidentielle, 10. Juni 1984.
 AN, AG/5(4)/PM/98, MRE, Centre d’Analyse et de Prévision, Note, Comment parler de l’Eu-
rope aux Soviétiques? Eléments de réflexion, 6. Juni 1984.
242 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

sollte.²⁷⁴ Der französische Botschafter machte sich dafür bei Andrej Gromyko
ebenfalls stark, der dem schließlich zustimmte.²⁷⁵ In Moskau plädierte Außen-
minister Claude Cheysson dann dafür, dass die sowjetischen Gesprächspartner
die Existenz der Europäischen Gemeinschaft als Realität und unabhängige Kraft
anerkennen.²⁷⁶ Die EG ließe sich nicht auf den gemeinsamen Markt reduzieren,
vielmehr verfüge sie über Kompetenzen, die ihr von den Mitgliedstaaten über-
tragen würden. Die Suche nach Anerkennung der Europäischen Gemeinschaft bei
der Moskauer Führung beruhte auf zwei Wünschen: Erstens ist davon auszuge-
hen, dass die Eigenständigkeit der Gemeinschaft auch nur dann wirklich effektiv
wurde, wenn sie als solche anerkannt wurde. Indem sich der französische Au-
ßenminister zweitens der europäischen Eigenständigkeit verpflichtete, wurde
auch sein individueller Handlungsspielraum größer. Er sprach mit einer explizit
europäischen Stimme, immerhin reiste die französische Delegation als Inhaber
der Ratspräsidentschaft nach Moskau. Als gewissermaßen eigenständige Kraft
sollte auch das sowjetische Misstrauen gegenüber den USA und der NATO un-
terlaufen werden.
Die dritte Intention richtete sich darauf, Bereitschaft zum Dialog mit der so-
wjetischen Führung zu signalisieren, auf den François Mitterrand zuvor verzichtet
hatte. Dies demonstrierte, dass der Gesprächsfaden zwischen Ost und West trotz
der Umsetzung des Nachrüstungsbeschlusses und dem „Übergangsjahr“ auf-
grund der amerikanischen Präsidentschaftswahlen nicht abriss.²⁷⁷ Zum einen
wurden die Bedingungen abgeklopft, die Tschernenko und Gromyko an eine
Wiederaufnahme der Abrüstungsgespräche knüpften. Kurz erwogen Védrine und
Guigou gar, als indirekter Mittler Ronald Reagans aufzutreten und dessen Wunsch
nach Verhandlungen auszudrücken. Sie sahen dann aber wohl wieder davon ab,
weil sie sich erinnerten, wie die Sowjets auf ein ähnliches Vorgehen von Hans-
Dietrich Genscher „avec une extrême violence“ reagiert hätten.²⁷⁸ Außerdem hätte
dies in einem Widerspruch zur zentralen Botschaft französischer Unabhängigkeit
gestanden, schließlich sollte Mitterrand laut Gergorin auch nicht auf die Rolle

 ADMAE, 1930-INVA 5698, MRE, TD Diplomatie 29767, Thèmes de discussion pendant la visite
présidentielle, 10. Juni 1984.
 ADMAE, 1930-INVA 5698, MRE, TD Moscou 1394, Entretien avec M. Gromyko (2/2), 11. Juni
1984.
 AN, AG/5(4)/PM/98, MRE, TD Moscou 1564, Visite du Président de la République en URSS –
entretien du Ministre avec M. Gromyko – (1/2), 22. Juni 1984.
 Übersetzt aus dem Französischen „année d’intermède“; siehe Védrine, Mondes, S. 251.
 AN, AG/5(4)/EG/195, Présidence de la République, Hubert Védrine et Elisabeth Guigou, Note
pour le Président, Les enjeux de votre visite en URSS, 19. Juni 1984.
3.4 Die Rückkehr zur Détente 243

eines Dolmetschers zwischen Washington und Moskau reduziert werden.²⁷⁹


Ähnlich wie in Washington setzte François Mitterrand auch in Moskau Gefühls-
politik als Kommunikationsstrategie ein. Er unterstrich, dass die SS-20-Raketen
für die Westeuropäer ein erhebliches Risiko darstellten.²⁸⁰ Indem er auf westeu-
ropäische Ängste aufmerksam machte, versuchte er auch, die sowjetische Füh-
rung zu motivieren, eine empathische Haltung einzunehmen. Auf diese Art und
Weise ermöglichte er ihr, jenseits ihrer Perspektivität Bedrohungsperzeptionen
westeuropäischer Staaten in ihre politische Kalkulation einzubeziehen. Die Arti-
kulation dieser Ängste diente insofern der Vertrauensbildung, als sie Moskau vor
Augen führte, dass die Entscheidung zur Nachrüstung nicht von Vernichtungs-
willen motiviert gewesen war. Da Mitterrand oder seine équipe in diesem Fall nicht
mehr ihr eigenes Handeln auf Empathie gründeten, sondern andere Akteure ge-
wissermaßen dazu erziehen wollten, soll diese Strategie im Folgenden auch als
Empathie zweiter Ordnung bezeichnet werden.
Zusammenfassend lassen sich mehrere Thesen von den Untersuchungen des
ersten französisch-sowjetischen Gipfeltreffens nach Mitterrands Amtsübernahme
ableiten. Erstens wird die These gestützt, dass die Wiederherstellung des strate-
gischen Gleichgewichts Mitterrands zentrale Bedingung für Gespräche mit der
sowjetischen Führung darstellte, weil er unmittelbar nach dem Votum des Deut-
schen Bundestages ihre Wiederaufnahme in die Wege leitete. Sowjetische Men-
schenrechtsverletzungen waren dafür zwar unbequem, weil Teile der französi-
schen Öffentlichkeit ihre Kritik an Moskau nicht auf den französischen
Präsidenten projizieren sollten. Sie stellten allerdings keinen Hindernisgrund für
die Gespräche dar, sondern wurden durch eine geschickte Medienpolitik für die
Inszenierung der Unabhängigkeit französischer Politik genutzt.
Auf diese Art und Weise verstand er es zweitens, sich als begehrten Ge-
sprächspartner der sowjetischen Führung und zugleich als unnachgiebigen An-
walt westlicher Werte zu inszenieren. Dafür scheute Mitterrand nicht einmal das
Risiko des Tabubruchs, da er es wagte, das heikle Thema Menschenrechte im
Kreml anzusprechen. Der Grat zwischen der Verheißung, die Spielregeln des
künftigen Dialogs festzulegen und dem Risiko, damit den Besuch zum Scheitern
zu bringen, war sehr schmal. Dessen war sich die französische Delegation
durchaus bewusst.²⁸¹ Nachdem die sowjetische Politik der vergangenen Jahre

 AN, AG/5(4)/EG/195, Premier Ministre, Secrétariat d’Etat, Centre d’Etudes prospectives et
d’informations internationales, Groupe de réflexion sur les rapports est-ouest, Réunion du 15 juin
1984, Faut-il s’évertuer à relancer les relations franco-soviétiques?, 18. Juni 1984.
 AN, AG/5(4)/PM/98, MRE, TD Moscou 1562, Visite de M. le Président de la République en
URSS. Premier entretien avec M. Tchernienko. (2/3), 22. Juni 1984.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 20. Juni 1984, S. 777– 780.
244 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

letztlich zu der Aufstellung der Pershing-II-Raketen geführt hatte, befand sich die
Sowjetunion indessen in einer defensiven Position und Mitterrand musste nicht
befürchten, als demandeur nach Moskau zu reisen. Mit den Reisen nach Wa-
shington und Moskau gelang es schließlich, den französischen Präsidenten zu
seinen Bedingungen als Akteur der Ost-West-Beziehungen zu etablieren. Die so-
wjetische Presse versuchte, den Besuch von François Mitterrand, der jahrelang
einem Gipfeltreffen widerstanden und nun immerhin nach Moskau gekommen
war, als Erfolg und Kursänderung der französischen Außenpolitik zu verkaufen.²⁸²
Dass die sowjetische Führung letztlich aber den Eklat scheute und die empfun-
dene Demütigung hinnahm, verdeutlicht, dass sie auf der Suche nach einem
Ausweg aus der Konfrontation war und eine Rückkehr zur Entspannung über den
Kontakt zu westeuropäischen Staatschefs suchte.
Drittens nutzte Mitterrand die inszenierte Unabhängigkeit als politische
Ressource, um seinen Handlungsspielraum auszuweiten. Sie war eine Voraus-
setzung für Mitterrands Rolle als Vermittler zwischen den Supermächten, die er
sowohl in Washington als auch in Moskau eingenommen hatte. Die strategische
Gefühlspolitik sollte beiden Supermächten einen Perspektivwechsel erleichtern,
um sie zu einer Rückkehr an den Verhandlungstisch zu bewegen. François Mitt-
errand erwies sich nicht nur als empathisch für amerikanische und sowjetische
Selbst- und Fremdwahrnehmungen, sondern erscheint im Angesicht dieser
Quellen vielmehr auch als Wegbereiter und Mitinitiator der Neuen Détente ab
1985.

Zwischenbilanz

In mehrfacher Hinsicht hat die équipe Mitterrand in der ersten Jahreshälfte 1984
ihren politischen Handlungsspielraum im Beziehungsgeflecht der internationa-
len Staatengemeinschaft ausgeweitet; Somit kann das Jahr berechtigterweise als
eine Art Scharnierjahr betrachtet werden.²⁸³ Wie ist ihr das geglückt – bezie-
hungsweise welche spezifischen Strategien und Instrumente wurden dafür ein-
gesetzt? Diese auf den ersten Blick recht banal anmutende These einer Auswei-
tung des politischen Handlungsspielraums ergibt sich nach der Analyse einer
ansonsten recht komplexen Gemengelage. Es hat sich gezeigt, dass die équipe
Mitterrand mit der deutschen Bundesregierung am Ursprung der relance eu-

 ADMAE, 1930-INVA 5698, MRE, TD Moscou 1591,Visite de M. le Président de la République en


URSS: Nouveaux commentaires soviétiques, 26. Juni 1984.
 Védrine, Mondes, S. 288.
Zwischenbilanz 245

ropéenne stand und im Kontext der Ost-West-Beziehung eine Rückkehr zur Ent-
spannungspolitik förderte. Im Zentrum der Untersuchung standen in beiden
Kontexten das Aufbrechen von Perzeptionen, die Überwindung von Misstrauen
und Feindbildern und das Bemühen um Vertrauen, Kooperation und Dialog.
Zwischen den europäischen Bündnispartnern behinderte das Misstrauen gegen-
über einer deutsch-französischen Achse aus Mitterrands Sicht eine ertragreiche
Kooperation auf europäischer Ebene. Dass er durch die Beseitigung dieses Miss-
trauens bei den kleineren europäischen Staaten stattdessen Misstrauen bei den
deutschen Partnern auslöste, war eine unintendierte Folge seines Handelns und
bedurfte wiederum vertrauensbildender Maßnahmen in Bonn. Im Kontext des
Ost-West-Dialogs waren wechselseitiges Misstrauen und manifestierte Feindbilder
ein Hindernis für eine nachhaltige Entspannung. Zwar stand die französische
Détente bis 1984 hinter der Euroraketenkrise zurück. Dass Mitterrand nur wenige
Tage nach dem Nachrüstungsbeschluss die lange ausgesprochene Einladung
nach Moskau annahm, stützt jedoch die These aus dem zweiten Kapitel: Mitter-
rand vollzog 1981 keinen politischen Kurswechsel, vielmehr diente ihm die In-
szenierung dazu, den Status Quo auf Grundlage eines strategischen Gleichge-
wichts zu stabilisieren. Das Misstrauen im Kreml gegenüber ihm und der
sozialistischen Regierung nahm er solange in Kauf. Mit dem Votum des Deutschen
Bundestages zur Aufstellung amerikanischer Raketen auf deutschem Boden vom
November 1983 war diese Bedingung erfüllt. Für Mitterrand war damit auch das
wesentliche Hindernis beseitigt worden, persönlich mit der sowjetischen Führung
zu sprechen. Der Abbruch der Verhandlungen zwischen den USA und der So-
wjetunion machte Bemühungen um eine neue Entspannung allerdings gleich-
zeitig umso notwendiger, denn mit der Erhöhung des Rüstungsniveaus war neue
Ungewissheit erzeugt worden. Das Misstrauen der sowjetischen Führung stand
nun einer Entspannung zwischen Ost und West im Wege, derer es als Voraus-
setzung auch für die Emanzipationsprozesse in Europa bedurfte. Daher stellt sich
die Frage, welcher vertrauensbildenden Strategien sich der französische Präsi-
dent in beiden Kontexten konkret bediente. Welche Rückschlüsse lassen sich
daraus wiederum allgemein über Mechanismen und Bedingungen von Vertrauen
ziehen? Die Blockierungen in der EG und die festgefahrene Konfrontation zwi-
schen Ost und West reduzierten zwar die Zahl möglicher Handlungsimpulse, sie
führten bei Mitterrand und seiner équipe aber keineswegs dazu, sich diesem
Schicksal zu fügen und auf bessere Zeiten zu hoffen. Der abgebrochene Dialog der
Supermächte bot einen Ansatzpunkt für François Mitterrand, die bisherige Kon-
stellation auszuhebeln. Im Kontext der europäischen Konstruktion wurden in
scheinbar aussichtslosen Situationen schlicht alternative Zukunftsszenarien
imaginiert.
246 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

Zwei Strategien der équipe Mitterrand konnten herausgearbeitet werden. Die


Untersuchung politischer Inszenierungsstrategien stand bereits im vorherigen
Kapitel im Zentrum der Analyse. Die dort aufgestellten Thesen erfahren durch die
Erkenntnisse des dritten Kapitels eine neue Ausdifferenzierung. Versteht man
Inszenieren als das Erzeugen von Erwartungen mithilfe von Visionen oder Illu-
sionen, muss daraus nicht zwangsläufig Vertrauen folgen, sondern möglicher-
weise, ganz im Gegenteil, auch Misstrauen. Misstrauen war bei den vorliegenden
Beispielen entweder eine unintendierte aber akzeptierte Folge der Inszenierung
oder aber eine intendierte und kalkulierte. In dem Fall lässt sich die Strategie auch
als Drohen konzeptualisieren. Welcher Effekt mit den Visionen und Illusionen
ausgelöst wird, hängt nicht unwesentlich damit zusammen, wie diese strukturiert
sind.
Der Drohungs-Strategie als Teilaspekt von Inszenierung bediente sich die
équipe Mitterrand in der Währungsfrage, um den eigenen Handlungsspielraum zu
erweitern, als sie glaubte über keine politischen Alternativen zu verfügen. Sie lag
prinzipiell auch dem NATO-Doppelbeschluss zugrunde, bei dem Mitterrand die
realistische Drohung mit der Nachrüstung als essentiell für einen Verhand-
lungserfolg sah. François Mitterrand, Helmut Kohl und ihre Mitarbeiter setzten die
Strategie ebenfalls ein, um einen Erfolg bei dem europäischen Ratstreffen in
Fontainebleau zu erzielen. Gegenüber der britischen Premierministerin wurde die
Illusion erzeugt, im Zweifelsfall ohne Großbritannien im europäischen Integra-
tionsprozess voranzugehen. In öffentlichen Stellungnahmen evozierte der fran-
zösische Präsident außerdem regelmäßig mögliche Bedrohungsszenarien, um
Unterstützer für seine politische Agenda zu gewinnen. Oftmals dienten ihm die
Erfahrungen und Erwartungen der Adressaten als Ausgangspunkt für die Insze-
nierung, indem er beispielsweise Erinnerungen an den Weltkrieg bediente. Ver-
traute Erfahrungen lösten auf diese Weise nicht Vertrauen, sondern Misstrauen
und Angst aus.²⁸⁴ Die Inszenierung möglicher Zukünfte führte bei allen euro-
päischen Mitgliedstaaten zu Kompromissbereitschaft und einer Lösung der
Konflikte in den Fragen der Gemeinsamen Agrarpolitik und dem Gemein-
schaftsbudget der EG. Denn auch verheißungsvolle Zukunftsperspektiven für die
Weiterentwicklung der Gemeinschaft setzte Mitterrand regelmäßig als strategi-
sches Kommunikationsmittel ein. Perspektiven, wohin sich die Gemeinschaft
entwickeln könnte, richteten sich darauf, eine Orientierung zu geben. Sie reichten
über die Gegenwart und rivalisierende Eigeninteressen hinaus und erzeugten die
Erwartung einer aussichtsreichen Zukunft. Durch Vorhersagen konkreter Zu-

 Zu dem Verhältnis von Vertrautheit und Vertrauen und Misstrauen siehe auch Luhmann,
Vertrauen, S. 22 f.
Zwischenbilanz 247

kunftsszenarien machte Mitterrand Erfahrungen und Erwartungen seiner Ge-


sprächs- beziehungsweise Verhandlungspartner zu seinem Werkzeug.
Inszeniert wurden aber nicht nur alternative Zukunftsentwicklungen. In ei-
nem zweiten Beispiel wurde deutlich, wie Mitterrand sich und seine Politik als
diplomatisch unabhängig inszenierte. Dies diente dem Ziel der doppelten Ver-
trauensbildung. In Washington blieb er so der verlässliche Bündnispartner; in
Moskau wollte er dadurch zu einem unabhängigen Gesprächspartner auf Au-
genhöhe aufsteigen. Dieses Vertrauen – oder zumindest die Suggestion von Ver-
trauenswürdigkeit – wurde zur doppelten politische Ressource: Einerseits richtete
es sich darauf, Mitterrands Handlungsspielraum zu erweitern und ihn als Akteur
im Ost-West-Dialog zu legitimieren. Andererseits wurde es zur Grundlage von
Mitterrands zweiter Strategie der Gefühlspolitik – der Politik mit und um Gefühle.
Diese zweite zentrale Strategie überschneidet sich bisweilen mit der ersten, da
beispielsweise mit der Inszenierung von bedrohlichen oder verheißungsvollen
Zukunftsszenarien auch Vertrauen oder Angst evoziert wurden, die Mitterrand als
politische Ressource dienten. Als kategorisch andere Form der Gefühlspolitik
sollte die Erziehung zu empathischer Politik in Washington und Moskau den Blick
für Bedrohungsperzeptionen und Ängste der anderen Konfliktpartei öffnen und
ihnen helfen, sich aus der eigenen Perspektivität zu befreien. Diese Form der
Gefühlspolitik – verstanden als Empathie zweiter Ordnung – diente dem Ziel der
Vertrauensbildung zweiter Ordnung: Der französische Präsident wollte nicht
mehr Vertrauen in sich selbst oder die Rolle Frankreichs generieren, sondern
vielmehr als außenstehende, dritte Partei Vertrauensbildungsprozesse zwischen
zwei anderen Konfliktparteien auf den Weg bringen. Die Gefühlspolitik der équipe
Mitterrand gründete zudem oftmals auch auf rhetorischen Strategien. Entweder
wurde durch bedrohliches Vokabular Angst geschürt oder ein Vertrauensver-
hältnis durch die Verwendung von Begriffen aus dem semantischen Feld Ver-
trauen-Solidarität-Freundschaft inszeniert. Mit der gleichen Intention diente die
strategische Artikulation von Empathie für die Perzeptionen und Emotionen von
Gesprächspartnern der Vertrauensbildung.
Diese Forschungserkenntnisse leiten über zu der allgemeinen Frage nach den
Mechanismen und Bedingungen von Vertrauensbildung. Es manifestiert sich
erstens noch einmal die grundlegende Bedeutung von Erfahrung und Erwartung.
Angst beziehungsweise Misstrauen als Erwartung einer Bedrohung in der Zukunft
kann nur durchbrochen werden, indem neue Erfahrungen von Solidarität ge-
macht werden, an die ein Prozess der Vertrauensbildung anknüpfen kann. Dies
war beispielsweise im Kontext der deutsch-französischen Beziehungen der Fall.
Die sicherheitspolitische Solidarität des französischen Präsidenten und die mo-
netäre Solidarität des Bundeskanzlers wurden als historische Dimension ihres
individuellen Vertrauens zum Fundament ihrer Zusammenarbeit, die noch dazu
248 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente

als Vorstufe für eine Kooperation auf europäischer Ebene fungieren sollte. Dar-
über hinaus ist zweitens das Bewusstsein, über gemeinsame Zielvorstellungen zu
verfügen, für die Bereitschaft zu Kompromissen ebenso förderlich wie dafür, sich
auf Vertrauensbildung einzulassen. Es war ein historischer Zufall, dass Mitter-
rands Orientierung sich 1982 veränderte und mit der Übernahme einer Regierung
in Bonn zusammenfiel, die ebenfalls nach europäischen Lösungen der zeitge-
nössischen Herausforderungen suchte. Gleichwohl wirkte sich diese Interessen-
kongruenz als förderlich für ihre Zusammenarbeit aus. Obwohl bei Mitterrands
Reise nach Moskau weder auf französischer noch auf sowjetischer Seite von
Vertrauen gesprochen werden kann, so einte sie die Suche nach einem Ausweg
aus der Konfrontation und begünstigte die Bereitschaft, sich zumindest auf einen
Dialog einzulassen. Drittens nämlich, bedarf es für Vertrauensbildung einer
Transparenz und gegenseitigen Kenntnis voneinander, was Dialog voraussetzt.
Die vom französischen Außenministerium ins Leben gerufene Arbeitsgruppe
Image de la France en Allemagne zeigt, dass Empathie für deutsche Selbst- und
Fremdwahrnehmungen zu einem besseren Verständnis der deutschen Verhand-
lungspartner beitrug. Die Nachforschungen dieser Gruppe isolierten mangelnde,
gegenseitige Kenntnis als Ursache für Kritik und Misstrauen gegenüber der
französischen Regierung.
Für eine Neubewertung von Mitterrands Präsidentschaft lässt sich aus den
Überlegungen ein klarer wissenschaftlicher Ertrag ableiten: Nicht nur konnte sein
politisches Handeln, wie beispielsweise die Bundestagsrede 1983 als Evozieren
eines europäischen Gefühls, neu eingeordnet werden. Es lassen sich auch neue
Thesen über das Verhältnis von Mitterrands kurzfristigen und langfristigen Zu-
kunftsaussichten bilden.
Erstens: Obwohl in der Euroraketenkrise die Stabilisierung des Status Quo im
Vordergrund stand, spielte der Aufbau größerer europäischer Eigenständigkeit
von Beginn an eine zentrale Rolle in Mitterrands Politik. Mit den Erfahrungen der
ersten Amtsjahre gewann eine europäische Unabhängigkeit zusätzliche Bedeu-
tung. Insofern lässt sich die Phase zwischen 1981 und 1984 insgesamt als eine Zeit
von Lernprozessen verstehen, in der die unerfahrene sozialistische Regierungs-
mannschaft innenpolitisch wie außenpolitisch in der Realität ankam. Dies führte
zu der intensiveren Suche nach europäischen Lösungen. Mit der Kombination hier
vorgestellter Strategien gelang es, durch die relance européenne Mitterrands po-
litischen Handlungsspielraum auszuweiten. Hier manifestiert sich die Wechsel-
wirkung von europäischer Integration und Ost-West-Beziehungen: Durch die
Überwindung der Blockierungen eröffneten sich neue Zukunftsperspektiven wie
die Etablierung Europas als drittes Ordnungsmodell. Indem sich Mitterrand und
Cheysson in Moskau für die Anerkennung der europäischen Integration einsetz-
ten, wurde auch ihr individueller Handlungsspielraum größer, denn sie sprachen
Zwischenbilanz 249

explizit mit einer europäischen Stimme und verliehen ihren Argumenten dadurch
ein größeres Gewicht. Die Wiederbelebung der europäischen Kooperation stärkte
insofern auch das europäische Selbstbewusstsein gegenüber den Supermächten.
Zweitens: Mit den politischen Entwicklungen der Jahre 1983 und 1984 war die
Differenz zwischen langfristigen und kurzfristigen Zukunftsaussichten geringer
geworden. Die Nachrüstung hatte Mitterrand politische Handlungsspielräume
eröffnet, die er zuvor verstellt sah. Indem Mitterrand die entstandene Lehrstelle
im amerikanisch-sowjetischen Dialog nach dem Abbruch der Verhandlungen
einnahm und Perspektiven verschob, versuchte er, der amerikanischen und so-
wjetischen Führung Handlungsoptionen zu eröffnen, die diese zuvor nicht
wahrgenommen hatten. Durch Anregungen zum Perspektivwechsel weitete er
also auch die Handlungsspielräume der amerikanischen und sowjetischen Füh-
rung. Gegenüber 1981 war es Mitterrand so gelungen, als eigenständiger Akteur
die Bühne der Ost-West-Beziehungen zu betreten.
Drittens soll die Bedeutung des historischen Zufalls gegenüber dem strate-
gischen Handeln der Akteure nicht negiert werden. Die Strategien von Mitterrand,
seinen Beratern und Diplomaten im Außenministerium entfalteten auch deshalb
eine Wirkung, weil sie nicht zuletzt aufgrund historischer Zufälle auf fruchtbaren
Boden fielen. Dass Mitterrand beispielsweise in Helmut Kohl, Hans-Dietrich
Genscher oder anderen Akteuren auf europäischer Ebene, wie Altiero Spinelli,
verlässliche Partner fand, deren Wahrnehmungen und Zielvorstellungen einen
Schnittkreis aufwiesen, begünstigte eine erfolgreiche Zusammenarbeit.
4 Ein Strukturwandel internationaler
Beziehungen?
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente

Mit der Nachrüstung waren für François Mitterrand wichtige Voraussetzungen für
die Initiierung eines neuen Entspannungsprozesses zwischen Ost und West ge-
schaffen worden. Schon während der Genfer Verhandlungen – aber umso stärker
nach deren Abbruch – hatte der französische Präsident versucht, eine vermit-
telnde Rolle zwischen Moskau und Washington einzunehmen, um ihnen neue
Handlungsspielräume aufzuzeigen. Die bisherigen Ergebnisse dieser Studie er-
zeugen die Erwartung, dass die équipe Mitterrand auch nach der Wiederaufnahme
der Verhandlungen ab 1985 eine konstruktive Rolle einnahm. Diese Hypothese
kontrastiert allerdings mit der Forschungsmeinung „that West Europeans were
less willing than Reagan to rush into agreement with the Kremlin.“¹ Die Ge-
schichtsschreibung zur Neuen Détente ist geprägt von einer Marginalisierung der
europäischen Akteure. Sofern diese überhaupt eine Berücksichtigung in den
Analysen fanden, dominierte lange die Erzählung, der zufolge die europäischen
Regierungen im Abrüstungsprozess eine wenig konstruktive bis ablehnende
Haltung einnahmen.² Angesichts zeitgenössischer Stellungnahmen und Regie-
rungsakten lassen sich diese Annahmen nicht halten. Urteile von Zeitgenossen
weisen mit Blick auf die französische Rolle darüber hinaus eine gewisse Undif-
ferenziertheit und sogar Widersprüchlichkeit auf: Während sich Michail Gorbat-
schow zwar einerseits an vertrauensvolle und konstruktive Beziehungen zu
François Mitterrand erinnert, meinte er doch während der Aushandlung des INF-
Vertrages auch einen Gegensatz zwischen französischer Rhetorik und politischem
Handeln zu beobachten.³ Dieser Antagonismus in der zeitgenössischen Wahr-
nehmung ist erklärungsbedürftig und erfordert es, die These der Forschung vom
Zögern der Westeuropäer zu hinterfragen. Es gilt nicht nur, das entsprechende
Bild zu revidieren, sondern auch zu differenzieren und dekonstruieren, um seine

 Young, John W.: Western Europe and the end of the Cold War, 1979 – 1989. In: The Cambridge
History of the Cold War. Bd. 3: Endings. Hrsg. von Leffler, Melvyn P./Westad, Odd Arne. Cambridge
2010. S. 305.
 Seit Mitte der 2000er Jahre findet die europäische Perspektive in der Geschichtsschreibung zum
Ende des Kalten Krieges in zunehmendem Maße Berücksichtigung. Für detailliertere Ausfüh-
rungen siehe Einleitung; vgl. u. a. Bozo [u.a] (Hrsg.), Europe.
 Gorbatschow, Michail: Erinnerungen. Berlin 1995. S. 648 f.

https://doi.org/10.1515/9783110597417-006
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 251

Entstehung und Etablierung zu verstehen. Die einzelnen Schritte in den Abrüs-


tungsverhandlungen der amerikanischen Administration und sowjetischen Füh-
rung ab 1985 sind bereits umfassend erforscht und bilden insofern für die fol-
gende Analyse zwar einen ständigen Bezugsrahmen.⁴ Im Zentrum steht allerdings
die nach wie vor unterbelichtete Rolle von François Mitterrand bei der Abrüstung
und deren Auswirkungen auf den europäischen Integrationsprozess.
Nachdem die Euroraketenkrise im Nachrüstungsbeschluss und dem Rückzug
der sowjetischen Delegation aus den Abrüstungsverhandlungen kulminiert war,
suchte die équipe Mitterrand nach Auswegen aus der neuen Konfrontation. Mit
seiner Strategie Vertrauensbildung zweiter Ordnung versuchte der französische
Präsident, die Kluft des „Nicht-Dialogs“ zwischen Moskau und Washington zu
überbrücken und beiden Supermächten neue Handlungsspielräume zu eröffnen.
Das erste Anzeichen für eine Wiederaufnahme des Dialogs war ein Treffen von
Ronald Reagan mit Andrej Gromyko am 28. September 1984, von dem sich fran-
zösische Diplomaten eine neue Dynamik in den amerikanisch-sowjetischen Be-
ziehungen versprachen. Als besonders spektakulär wurde im Quai d’Orsay die
Wiederaufnahme der Rüstungsgespräche beurteilt, die bei einem Treffen zwi-
schen Shultz und Gromyko am 22. November für den 7. und 8. Januar angekündigt
wurde. Da aber beiden Seiten an der gewohnten Rhetorik festhielten, waren auch
die alten Probleme der Bündnissicherung bei Weitem noch nicht gelöst. Die
Forderung nach den Drittpotentialen wurde vom Kreml nämlich nicht fallen ge-
lassen. Hinzu kam, dass Diplomaten im Quai d’Orsay fürchteten, die Sowjetunion
könne westliche Unstimmigkeiten in Bezug auf SDI ausspielen, um einen Keil
zwischen die Verbündeten zu treiben.⁵ Aufgrund ihrer fortexistierenden Bedro-
hungsperzeptionen gelang es der sowjetischen Führung auch nicht, die kon-
frontative, amerikanische Rhetorik zu relativieren und als Versuch zu deuten,
durch die Demonstration von Stärke in der Öffentlichkeit das Gesicht zu wahren.
So bezeugt ein Tagebucheintrag von Anatolij Tschernjajew vom Februar 1985,
dass antisowjetische Züge einer Rede von George Shultz in San Francisco bei der
sowjetischen Führung Furcht vor einem neuen amerikanischen Kreuzzug aus-
lösten. Es wurde ein deutlicher Handlungsdruck wahrgenommen, wobei die

 Vgl. Gaddis, Der Kalte Krieg; Loth, Wilfried: Die Rettung der Welt. Entspannungspolitik im
Kalten Krieg 1950 – 1991. Frankfurt/New York 2016; Soutou, Guerre de Cinquante Ans; Stöver, Der
Kalte Krieg.
 ADMAE 1930-INVA 5672, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Note,
Les relations américano-soviétiques (voyage du Ministre à Washington), 25. Januar 1985.
252 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

Vorstellungen einer adäquaten Reaktion innerhalb der sowjetischen Führung


merklich auseinandergingen.⁶
Mit der Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU am
11. März 1985 wurde nicht nur ein Generationenwechsel in der sowjetischen
Führung angestoßen. Mit seinem „Neuen Denken“ in der Außenpolitik begann ein
politischer Wandel, dessen Wurzeln bis in die Zeit vor 1985 zurückreichten und in
den Kontext eines langwierigen Bewusstseinswandels gestellt werden müssen.⁷
Mit Argusaugen beobachteten die diplomatischen Dienste weltweit die politi-
schen Maßnahmen des neuen, jungen Generalsekretärs und versuchten, ein Bild
von seiner Person und seinen Intentionen zu gewinnen. Es war ein historischer
Zufall, dass Roland Dumas in Begleitung von Pierre Morel und François Plaisant
zu diplomatischen Konsultationen in Moskau weilte, als Konstantin Tschernenko
starb und Michail Gorbatschow ihm als Generalsekretär folgte, dessen Amtsge-
schäfte er de facto bereits in den Monaten zuvor geführt hatte. Dumas insistierte
beim Präsidenten darauf, an der Beisetzung Tschernenkos teilzunehmen. Obwohl
der Vorschlag in Paris auf Widerstand stieß, weil die Berater im Matignon im
Wahlkampf der Kantonalwahlen negative Reaktionen der Öffentlichkeit fürchte-
ten, willigte Mitterrand schließlich ein. Von der persönlichen Begegnung zwi-
schen Mitterrand und Gorbatschow war Dumas gleichermaßen überrascht wie
beeindruckt. Der Präsident teilte dessen Eindruck, dass sich der Ton im Kreml
deutlich verändert habe. Dem Urgestein sowjetischer Außenpolitik Andrej Gro-
myko überließ Gorbatschow nicht einmal die Wortführung. Am 14. März zeigte
sich Mitterrand im Ministerrat davon überzeugt, dass in Moskau eine neue Zeit
angebrochen sei und Frankreich eine aktivere Rolle übernehmen könne.⁸
Wenn es sich hier bei Dumas’ Erinnerungen auch um Schilderungen aus der
Retrospektive handelt, so erscheinen sie mit Blick auf zeitgenössische Regie-
rungsakten durchaus plausibel. Während Hubert Védrine unterstellt, dass Mitt-
errand 1985 aus verschiedenen Gründen jemanden wie Gorbatschow gebraucht
habe, lässt sich diese Argumentation noch auf die Spitze treiben.⁹ Wie die Ana-
lysen im dritten Kapitel gezeigt haben, stellte sich die équipe Mitterrand ab 1984

 Anatolij Tschernjajew war zunächst im MID beschäftigt und wurde später einflussreicher au-
ßenpolitischer Berater von Michail Gorbatschow; Chernyaev, Diary 1985, 26. Februar 1985,
S. 20 – 23.
 Siehe dazu Loth, Wilfried: Die sowjetische Fü hrung, Michail Gorbatschow und das Ende des
Kalten Krieges. In: Deeskalation von Gewaltkonflikten seit 1945 (Frieden und Krieg. Beiträge zur
Historischen Friedensforschung 7). Hrsg. von Hauswedell, Corinna. Essen 2006. S. 129.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 251– 260.
 Védrine, Mondes, S. 373.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 253

auf den Moment ein, in dem die sowjetische Führung einen Ausweg aus der
Konfrontation suchen würde.¹⁰ Insofern erwarteten Mitterrand und seine Mitar-
beiter geradezu Veränderungen in Moskau, ohne zu wissen, wie diese konkret
aussehen würden. Die Wahrnehmung des ersten offiziellen Gesprächs war von
dieser Erwartung beeinflusst, die darin gleichsam eine Bestätigung fand. Dies
kontrastierte mit den Perzeptionen und Erwartungen französischer Experten und
Sowjetologen, die erhebliche Zweifel daran hegten, dass das sowjetische System
überhaupt einen Reformer hervorbringen könne. Ihre Skepsis gegenüber Michail
Gorbatschow ist nicht nur durch Memoiren von ehemaligen Akteuren belegt,
sondern soll im Verlauf dieses Kapitels anhand spezifischer Situationen nach-
gewiesen werden.¹¹
Der Wandel sowjetischer Politik unter Michail Gorbatschow begann mit
personellen Umstrukturierungen, durch die er sich neue Handlungsspielräume
erschließen konnte.¹² Nicht nur westliche Akteure waren von der Nominierung
des eher unbekannten Eduard Schewardnadse zum neuen Außenminister über-
rascht.¹³ Dies galt auch für das sowjetische MID und im Politbüro regten sich
leichte Widerstände.¹⁴ Sowohl von Tschernjajew als auch von Dumas wurde die
Ernennung aber als Indikator für das Ende von Gromykos außenpolitischem
Monopol sowie Gorbatschows Absicht gedeutet, seinen persönlichen Einfluss auf
internationale Fragen zu sichern.¹⁵
Seine erste Auslandsreise in der Funktion als Generalsekretär führte Michail
Gorbatschow vom 2. bis 5. Oktober 1985 nach Paris, unmittelbar bevor er Anfang
November zum ersten amerikanisch-sowjetischen Gipfeltreffen seit 1979 nach
Genf reisen würde. Die französische Botschaft in Moskau versuchte im Vorfeld, die
sowjetischen Erwartungen an das Treffen mit dem französischen Präsidenten zu
ergründen. In einem vorbereitenden Gespräch hatte Anatolij Adamischin signa-
lisiert, dass es Gorbatschow nicht nur um einen Meinungsaustausch ginge, son-
dern er auf der Suche nach Themen sei, bei denen Resultate erzielt werden
könnten: Entspannung, Wettrüsten und europäische Sicherheit. Unter dem Ein-

 Siehe u. a. AN, AG/5(4)/PM/98, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre


Morel, Note pour Jean-Louis Bianco, Quelques réflexions sur l’URSS et les relations franco-so-
viétiques, 18. Juni 1984.
 Siehe z. B. Raimond, Jean-Bernard: Le Choix de Gorbatchev. Paris 1992. S. 43; vgl. außerdem
die Ausführungen von Védrine, Mondes, S. 372.
 Vgl. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 573; Leffler, Mankind, S. 387; Brown, Gorbatschow-Faktor,
S. 187; Chernyaev, Diary 1985, 23. April 1985, S. 46 – 48.
 Vgl. Reagan, Erinnerungen, S. 657; Dumas, Affaires étrangères, S. 266.
 Chernyaev, Diary 1985, 1. Juli 1985, S. 66 f.
 Chernyaev, Diary 1985, 1. Juli 1985, S. 66 f.; Dumas, Affaires étrangères, S. 266.
254 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

druck vergangener Erfahrung wurde daraus die Erwartung abgeleitet, dass die
sowjetische Seite in öffentlichen Stellungnahmen eine gemeinsame Rückkehr zu
Détente und eine Verurteilung der Militarisierung des Weltraums herausstellen
wolle, obwohl Adamischin nicht auf die Unterzeichnung eines Kommuniqués
bestanden hatte.¹⁶ Die Europaabteilung des Quai d’Orsay beobachtete, dass der
Einfluss des Militärs auf die inneren Angelegenheiten seit Gorbatschows Amts-
antritt durch Personalwechsel zurückgedrängt worden war. Dennoch wurde da-
von ausgegangen, dass Gorbatschows Ziele nicht in einem grundsätzlichen Ge-
gensatz zur Armee stünden, da erwartet wurde, dass diese mittelfristig von einer
Verbesserung des wirtschaftlichen Systems profitieren würde.¹⁷ Dahinter verbarg
sich die Erwartung, dass Gorbatschow mit seinen außen- und sicherheitspoliti-
schen Initiativen für eine Einschränkung des Wettrüstens intendierte, im Rüs-
tungswettlauf langfristig wieder konkurrenzfähig zu werden. Grundsätzlich be-
fand sich die Sowjetunion seit den 1970er Jahren in einer sich zuspitzenden
strukturellen Krise; Gorbatschows ehemaliger Berater Georgi Schachnasarow
bezeichnete sie daher auch als „hochgerüstetes Entwicklungsland“¹⁸.
Der Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik, von wirtschaftlichem wie
gesellschaftlichem Verfall und sicherheitspolitischen Bedrohungsperzeptionen
muss bei der Einordnung von Gorbatschows Initiativen und einseitigen Schritten
nach seiner Amtsübernahme mitgedacht werden. Allerdings interpretierten Di-
plomaten des Außenministeriums beispielsweise Gorbatschows Ankündigung
eines Moratoriums für die Aufstellung von Mittelstreckenraketen (April 1985) so-
wie ein Moratorium für nukleare Tests (August 1985) ihrerseits auch wiederum aus
einer Wahrnehmung, die von anhaltenden Bedrohungsperzeptionen bestimmt
war.¹⁹ Ein wenig offener zeigten sich die Berater des Präsidenten in ihren Er-
wartungen von Gorbatschows Besuch, obwohl auch sie sich auf vergangene Er-
fahrungen mit der sowjetischen Führung stützten. Hubert Védrine und Elisabeth
Guigou unterstellten Gorbatschow ebenfalls, weiterhin auf klassische, sowjeti-

 AN, AG/5(4)/EG/180, TD Moscou 2734, Visite de M. Gorbatchev en France, 5. September 1985.


 AN, AG/5(4)/EG/180, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Note,
Gorbatchev et les militaires, 18. September 1985.
 Schachnasarow, Georgi: Preis der Freiheit. Eine Bilanz von Gorbatschows Berater. Hrsg. von
Brandenburg, Frank. Bonn 1996. S. 86; siehe ferner: Soutou, Guerre de Cinquante Ans, S. 665 –
669.
 „Cette offensive, outre qu’elle laisse l’initiative à l’URSS et met les Etats-Unis dans la position
désagréable de refus, est destinée à donner une image pacifique de l’URSS et agir sur les opinions
publiques et les gouvernements occidentaux“; AN, AG/5(4)/EG/180, MRE, Direction d’Europe,
Sous-Direction d’Europe Orientale, Note, Perspectives des relations américano-soviétiques,
16. September 1985.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 255

sche Instrumente zu setzen, um den französisch-sowjetischen Beziehungen ihren


privilegierten Charakter zurückzugeben: Einerseits wolle Gorbatschow grund-
sätzlich Erfahrung im Umgang mit westlichen Massenmedien gewinnen und
andererseits hoffe er, die französische Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. In-
nenpolitisch diene ihm die Reise dazu, seine internationale Autorität zu de-
monstrieren; außenpolitisch suche er in Paris Verbündete in seinem Kampf gegen
das amerikanische SDI-Programm, das Auswirkungen auf das Kräftegleichge-
wicht zwischen Ost und West hatte. Insofern vermuteten Mitterrands Berater, dass
Gorbatschow Paris als internationale Bühne nutzen wollte, um seinen bisherigen
Vorschlägen bessere Geltung zu verschaffen.²⁰
Während in Reagans Phantasie atomare Waffen in Zukunft obsolet würden,
versetzte SDI die Vereinigten Staaten aus Moskauer Perspektive in die Lage, einen
Erstschlag gegen die Sowjetunion zu führen. Anstatt als defensives Schild das
atomare Wettrüsten zu begrenzen, steigerte es im Gegenteil eher das sowjetische
Bedürfnis nach nuklearen Offensivwaffen und heizte den Rüstungswettlauf an,
weil Moskau sich aus sicherheitspolitischen Erwägungen genötigt sah, gleich-
zuziehen.²¹ Gorbatschows Aversion gegen militärische Macht rührte zwar auch
von seiner persönlichen Sozialisation her.²² Reagans Ankündigung hatte aber
zugleich den Druck auf Moskau erhöht. Da das Land wirtschaftlich zur Nach-
rüstung de facto gar nicht in der Lage war, wurde SDI zu einer Existenzbedrohung
der Sowjetunion.²³ Die brutale Verurteilung von SDI führte Hubert Védrine auch
auf ein rhetorisches Instrument zurück, durch das der Kreml nach seiner plötz-
lichen Rückkehr an den Verhandlungstisch, das Gesicht zu wahren versuchte.²⁴
Anfang 1985 versuchte die amerikanische Administration, die bis dahin mit
der Umsetzung des Programms beschäftigt gewesen war, den Anschluss der Eu-
ropäer daran zu erzielen und sendete dafür Verteidigungsminister Caspar Wein-
berger nach Westeuropa. Im Elysée wurde ihm französische Zurückhaltung in
dieser Angelegenheit signalisiert. Aufgrund dieses neuerlichen französisch-
amerikanischen Gegensatzes brachten die europäischen Verbündeten dem von
Mitterrands Beratern entworfenen EUREKA-Programm als europäisches Pendant
zum amerikanischen Forschungsprogramm zunächst wenig Unterstützung ent-

 AN, AG/5(4)/EG/180, Présidence de la République, Elisabeth Guigou et Hubert Védrine, Visite


en France de M. Gorbatchev 2– 5 octobre 1985, 2. Oktober 1985.
 Vgl. Evangelista, Matthew: Explaining the End of the Cold War: Turning Points in Soviet
Security Policy. In: Njølstad (Hrsg.), Last Decade, S. 127.
 Vgl. Brown, Gorbatschow-Faktor, S. 59 f.
 Zubok, Failed Empire, S. 284.
 AN, AG/5(4)/EG/71, Hubert Védrine, Note, Initiative de Défense Stratégique, Frühjahr 1985.
256 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

gegen.²⁵ Im Centre d’Analyse et de Prévision sah man den Druck auf SDI steigen, da
das Pentagon aufgrund von vorherrschendem Misstrauen in der Industrie
Schwierigkeiten hatte, Vertragspartner zu finden.²⁶ Außerdem, so Védrine, lagen
in der Administration unterschiedliche Erwartungen vor. Während Reagan die
nukleare Abschreckung nicht ersetzen, sondern restaurieren wollte, strebten
Shultz, Weinberger, Burt, Perle und Yonas ganz im Gegenteil eine amerikanische
Überlegenheit an. Da also Reagans Umfeld in der Lage sein wollte, einen sowje-
tischen Erstschlag auf die amerikanischen bodengestützten Raketen abzuwehren,
wurde die Strategie der Mutual Assured Destruction unterlaufen.²⁷ Ein aus SDI
resultierendes neues strategisches Ungleichgewicht zugunsten der USA war einer
der Gründe, weshalb Mitterrand eine vorsichtige Haltung zu der Initiative ein-
nahm. Seine Zurückhaltung wurde vor der Weltöffentlichkeit offenkundig, als er
bei dem G7-Treffen in Bonn Anfang Mai 1985 eine französische Beteiligung aus-
schloss. Er zweifelte an einer gleichberechtigten Partnerschaft zwischen USA und
Europäern und wollte die Europäer zudem keine neuen Abhängigkeitsverhält-
nisse eingehen sehen. Zum anderen wurden französische Sorgen um den Bünd-
niszusammenhalt wieder akut, da Mitterrand in seiner Ablehnung isoliert war
und auch Bundeskanzler Kohl sich auf Reagans Angebot eingelassen hatte. Die
französische Ablehnung von SDI sollte nicht als Annäherung an die Sowjetunion
und schwacher Punkt in der Atlantischen Allianz missverstanden werden.²⁸
Aus diesem Grund achtete François Mitterrand bei Gorbatschows Besuch
sorgfältig darauf, dass die sowjetische Delegation den amerikanisch-französi-
schen Gegensatz nicht in einem Maße ausspielte, dass es den Zusammenhalt der
Verbündeten gefährdete. Unter vier Augen gestand der französische Präsident
dem sowjetischen Generalsekretär: „Bien sûr, je ne veux pas forcer la dose à
l’égard des alliés américaines qui déjà, n’ont pas une bonne opinion de moi.“²⁹
Schon im Vorfeld des Gipfels warnten die Berater den Präsidenten, das Vertrauen
der Verbündeten nicht aufs Spiel zu setzen und damit politischen Gegnern in die
Hände zu spielen. Elisabeth Guigou warnte davor, dem Kreml ein schriftliches
Einverständnis über einen Kredit zu geben, wie Pierre Bérégovoy es eigentlich
vorgesehen hatte. Sie fürchtete, dass sie sowjetische Führung das Schriftstück
verbreiten und Frankreich bei seinen Partnern in eine unangenehme Situation
bringen könnte. Jean-Louis Bianco fügte hinzu, dass die Angelegenheit von po-

 Dumas, Affaires étrangères, S. 241 f.; Védrine, Mondes, S. 355.


 AN, AG/5(4)/EG/71, MRE, Centre d’Analyse et de Prévision, Aspects technologiques de l’In-
itiative de Défense Stratégique (IDS), März 1985.
 AN, AG/5(4)/EG/71, Hubert Védrine, Note, Initiative de Défense Stratégique, Frühjahr 1985.
 Vgl. Dumas, Affaires étrangères, S. 252.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 276.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 257

litischen Gegnern im Wahlkampf instrumentalisiert und gegen Mitterrand aus-


spielt werden könnte. Daraufhin entschloss sich Mitterrand, die Zusage nicht in
schriftlich fixierter Form zu übermitteln.³⁰ Unbegründet waren diese Sorgen nicht,
denn während des Besuchs nahmen die Verbündeten die französische Diplomatie
genauestens unter die Lupe. Daher versuchten Mitterrand und seine équipe bei-
spielsweise deutschen Sorgen vor einer Isolierung vorzubeugen, indem sie bei
zahlreichen Ansprachen ihre Zugehörigkeit zur EG und die deutsch-französische
Freundschaft hervorhoben.³¹ Der Vertrauensbildung diente ebenfalls, dass Dumas
seinen Amtskollegen Genscher während des Besuchs auf dem Laufenden hielt.³²
Bei der Nachbereitung des Gipfels legten die Mitarbeiter des Elysée ein beson-
deres Augenmerk auf die Reaktionen der amerikanischen Verbündeten,³³ da be-
reits vorhandener Argwohn der Administration und Teilen der Öffentlichkeit³⁴
sich nicht zu Misstrauen vor der französischen Bündnistreue auswachsen sollte.
Die Ablehnung der französischen Regierung, ein Kommuniqué mit der Sowjet-
union zu unterzeichnen, in dem SDI möglicherweise eine Verurteilung hätte er-
fahren können, wurde in der amerikanischen Presse als Signal französischer
Loyalität gedeutet. Damit ging die Überzeugung einher, sowjetischen Spaltungs-
versuchen mithilfe von SDI jedwede Grundlage entzogen zu haben.³⁵
In der Tat stellte Paris für Michail Gorbatschow eine Bühne dar. Nachdem er
Reagan zuvor in einem Brief eine fünfzigprozentige Reduzierung der strategi-
schen Offensivwaffen als Gegenleistung für einen beiderseitigen Verzicht auf
Weltraumwaffen angeboten hatte, suchte er in Paris gezielt den Weg in die
Weltöffentlichkeit, um Ronald Reagan unter Zugzwang zu setzen und zugleich das
Image der Sowjetunion zu verbessern. Vorab wurden seine Vorschläge der Presse
zugespielt, um auf diese Weise zusammen mit seiner Rede vor der französischen
Nationalversammlung am 3. Oktober, in der westlichen Öffentlichkeit Wider-
stände gegen SDI zu mobilisieren.³⁶ Mitterrand signalisierte zwar Unterstützung
für den Vorschlag der strategischen Abrüstung. Direkte Verhandlungen mit

 AN, AG/5(4)/EG/180, Présidence de la République, Elisabeth Guigou, Note pour Jean-Louis


Bianco, Financement de contrats soviétiques, 2. Oktober 1985.
 Vgl. dazu auch Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand auf dem
Flug nach Berlin, 10. Oktober 1985. In: AAPD 1985, Dok. 277, S. 1428.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 277 f.
 Siehe insgesamt AN, AG/5(4)/MGM/76, dossier 3.
 AN, AG/5(4)/MGM/76, Frederick Kempe: Gorbachev Visit to France Opens an Uncertain Note.
Timing of US Call for Talks Irks Paris, Soviet Position Benefits From Arm Plan. In: Wall Street,
3. Oktober 1985.
 AN, AG/5(4)/MGM/76, Patrick Cockburn: Gorbachev interview surprises Sovjets. In: Financial
Times vom 3. Oktober 1985.
 Vgl. Loth, Helsinki, S. 235 f.
258 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

Moskau über die französischen Atomstreitkräfte wies er hingegen zurück, ob-


schon er zu einem Dialog und Meinungsaustausch mit Moskau grundsätzlich
bereit war. Seinem Prinzip der flexiblen Gipfeltreffen blieb er treu und verwehrte
sich gegen einen Automatismus. Erfolgreich widersetze er sich auch Gorbat-
schows Wunsch, ein Kommuniqué des Treffens zu unterzeichnen, akzeptierte
aber eine gemeinsame Pressekonferenz mit dem Generalsekretär.³⁷ Anders als es
französische Diplomaten erwartet hatten, versuchte Gorbatschow durch die me-
diale Inszenierung allerdings nicht, den Zusammenhalt des westlichen Bünd-
nisses zu schwächen. Zwar hatten er und seine Berater den Besuch „so angelegt,
dass seine Wirkung über den Rahmen der sowjetisch-französischen Beziehungen
hinausgeht.“³⁸ Allerdings setzte er bei den Europäern „sowohl in internen Ge-
sprächen als auch öffentlich“ auf Vertrauensbildung, indem er versicherte, die
Europäer nicht von den USA separieren zu wollen. Es ging ihm darum, dass „die
westeuropäischen Länder imstande sind, ihren Beitrag zur Gesundung der Lage
zu leisten, indem sie Verbündete der USA bleiben, aber dabei positiv auf sie
einwirken“.³⁹ Er spekulierte darauf, dass der französische Präsident seine per-
sönlichen Gesprächseindrücke an seinen amerikanischen Amtskollegen über-
mitteln würde. In einem Brief an Ronald Reagan tat Mitterrand dies auch tat-
sächlich, da er sich in seiner Überzeugung von Gorbatschows Ernsthaftigkeit
bestätigt sah.⁴⁰ Gorbatschow war nicht entgangen, „dass in persönlichen Ge-
sprächen der Präsident Frankreichs bestrebt war, seine Offenherzigkeit zu de-
monstrieren, sogar seine Vertrautheit, indem er sein skeptisches Verhalten ge-
genüber der amerikanischen Politik und Reagan betonte.“⁴¹ Offenbar hatte
Mitterrand auch ganz offen sein Misstrauen artikuliert, das er zwar nicht gegen
Gorbatschow persönlich, wohl aber gegenüber seinem Amt und der Macht, die

 Védrine, Mondes, S. 379; Dumas, Affaires étrangères, S. 261, 268 – 274.


 „Den Dialog mit westeuropäischen Staaten ohne Beteiligung der USA in Gang bringen.“ Rede
Michail S. Gorbačevs bei der Sitzung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer
Paktes in Sofia, 22. Oktober 1985. In: Der Kreml und die „Wende“ 1989. Interne Analysen der
sowjetischen Führung zum Fall der kommunistischen Regime. Hrsg. von Karner, Stefan/Kramer,
Mark/Ruggenthaler, Peter/Wilke, Manfred/Bezborodov, Alexander/Išcenko, Viktor/Pavlenko, Ol-
ga/Pivovar, Efim/Prozumenšcikov, Michail/Tomilina, Natalja/Tschubarjan, Alexander. Innsbruck
2014. Dok. 5, S. 115.
 „Den Dialog mit westeuropäischen Staaten ohne Beteiligung der USA in Gang bringen.“, Rede
Michail S. Gorbačevs bei der Sitzung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer
Paktes in Sofia, 22. Oktober 1985. In: Karner [u. a.] (Hrsg.), Kreml, Dok. 5, S. 115.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 278.
 „Den Dialog mit westeuropäischen Staaten ohne Beteiligung der USA in Gang bringen.“, Rede
Michail S. Gorbačevs bei der Sitzung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer
Paktes in Sofia, 22. Oktober 1985. In: Karner [u. a.] (Hrsg.), Kreml, Dok. 5, S. 115.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 259

damit einherging, hegte.⁴² Der französische Botschafter in Moskau, Jean-Bernard


Raimond, schien Mitterrands Einschätzung hingegen nicht zu teilen. Unmittelbar
vor dem Gipfeltreffen deutete er Gorbatschows Initiativen nicht als Versuch,
wirkliche Veränderungen auf den Weg zu bringen, sondern unterstellte vielmehr
machtpolitische Intentionen: Er verknüpfe klassische, diplomatische Instrumente
mit klassischen sowjetischen Zielen.⁴³
Insgesamt lassen sich verschiedene Schlüsse aus dem französisch-sowjeti-
schen Gipfeltreffen ziehen. Erstens zeigten sich beide Seiten offen für einen
Dialog. Dieser sollte ein gewisses Maß an Vertrautheit – also im Sinne von Niklas
Luhmann zunächst „relativ sicheres Erwarten“⁴⁴ – stiften. Bevor sich interper-
sonales Vertrauen zwischen Mitterrand und Gorbatschow einstellen konnte, be-
durfte es jedoch weiterer Maßnahmen. Dennoch wurde bei diesem Treffen eine
wesentliche Grundlage für einen künftigen Prozess geschaffen. Der Generalse-
kretär hegte die Hoffnung, dass Mitterrand diese neu gewonnene Vertrautheit
nach Washington vermitteln würde, um im Vorfeld eine konstruktive Atmosphäre
für ernsthafte Verhandlungen in Genf zu schaffen. Insofern sah Gorbatschow in
Mitterrand zunächst einmal ein Medium, dem es aber gleichsam auch die Er-
wartung einer sowjetischen Bedrohung zu nehmen galt. Obwohl Andrei Grachev
darin auch das traditionelle Instrument sowjetischer Diplomatie erkennt, die
europäische Karten gegen die Amerikaner auszuspielen,⁴⁵ diente es in diesem Fall
doch der Durchsetzung neuer Ziele. Zweitens wies der Generalsekretär dem
französischen Präsidenten damit ausdrücklich die Rolle eines Vermittlers zwi-
schen Moskau und Washington zu. Damit bestätigte er den französischen Präsi-
denten in seiner Rolle, die er 1984 noch aus Eigeninitiative eingenommen hatte.
Die Initiativen des Generalsekretärs setzten die amerikanische Administrati-
on unter Zugzwang. Der französische Botschafter in Washington beobachtete
nach dem Pariser Gipfel, wie die Nervosität bei den Beratern von Ronald Reagan
anstieg. Vor allem bereitete ihnen Sorge, dass Reagan in Fragen der Abrüstung
wenig Kompetenz an den Tag legte und seine verhandlungstaktischen Fehler

 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand auf dem Flug nach Berlin,
10. Oktober 1985. In: AAPD 1985, Dok. 277, S. 1431.
 ADMAE 1930-INVA 5672; MAE, TD Moscou 3708, Raimond, M. Gorbatchev à la veille du
sommet de Genève, 17. November 1985.
 Luhmann, Vertrauen, S. 22.
 Grachev, Andrei: From the common European home to European confederation. François
Mitterrand and Mikhail Gorbachev in search of the road to a greater Europe. In: Bozo [u.a] (Hrsg.),
Europe, S. 208 f.
260 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

durch seinen Gesprächspartner womöglich ausgenutzt werden könnten.⁴⁶ Wäh-


rend die sowjetische Seite in den vergangenen Wochen und Monaten ihre Vor-
schläge in Rüstungskontrolle und Abrüstung multipliziert hatte, gingen Mitglie-
der der amerikanischen Administration in genau entgegengesetzter Weise in die
Offensive und zogen sich auf Unnachgiebigkeit und antisowjetische Rhetorik
zurück.⁴⁷ Vom 18. bis 20. November 1985 trafen sich Michail Gorbatschow und
Ronald Reagan in Genf. Obwohl der Gipfel entgegen Gorbatschows Hoffnungen
nicht zu substantiellen Vereinbarungen führte, war er doch wichtig für den
Lernprozess des Generalsekretärs, da er danach seine Abrüstungsinitiativen
nochmals aufstockte. Am 15. Januar 1986 stellte er vor dem Zentralkomitee der
KPdSU einen Plan „zur vollständigen Beseitigung der Kernwaffen in der ganzen
Welt“ vor, die „bis zur Jahrtausendwende“ abgeschlossen sein sollte.⁴⁸ In einem
Brief an Reagan mahnte Mitterrand zwar, sowjetischen Zielen hinsichtlich einer
Denuklearisierung Europas zu misstrauen, gleichwohl hob er hervor, dass Gor-
batschows Vorstoß eine seriöse Antwort verdiene.⁴⁹ Aus Gorbatschows Rede beim
27. Parteitag der KPdSU am 25. Februar 1986, in der er sein „Neues Denken“ in der
Außenpolitik vorstellte, lässt sich zudem der Schluss ziehen, dass er in Paris und
Genf der Nachhaltigkeit von Bedrohungsperzeptionen und Ängsten in Ost und
West gewahr geworden war. Mit seiner Vorstellung, dass Sicherheit „nur gegen-
seitig […] nur allgemein“ sein könne und alle sich „gleich sicher fühlen [müssen]“,
weil „Ängste und Befürchtungen des nuklearen Zeitalters […] Unkalkulierbarkeit
in Politik und konkretem Handeln [bewirken]“, schrieb er Ängsten eine politische
Wirkmächtigkeit zu. Er sah darin das Potential, politische Kalkulation auszuhe-
beln. Deshalb kündigte er an, in Zukunft so zu handeln, „daß […] niemand mehr
Grund zu Angst um die eigene Sicherheit, und sei es eine imaginäre Angst, hat.“⁵⁰
Der Generalsekretär erhöhte mit der Aufstockung seines Angebots also nicht nur

 ADMAE 1930-INVA 5672, MAE, TD Washington 2304, Le Président Reagan à l’approche du


sommet, 8. Oktober 1985.
 ADMAE 1930-INVA 5672, MAE, TD Washington 2155, Sommet de novembre, SDI, réductions et
traité ABM, 21. September 1985; ADMAE 1930-INVA 5672, MAE, TD Washington 2513, Sommet de
Genève. Vues de M. Weinberger, 6. November 1985.
 Erklärung des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow, 15. Januar 1986. In:
Reden und Aufsätze zu Glasnost und Perestroika. Hrsg. von Michail Gorbatschow. Moskau 1989.
S. 180.
 Vgl. Bozo, Frédéric: France, the Euromissiles, and the End of the Cold War. In: The Euromissile
Crisis and the End of the Cold War. Hrsg. von Nuti, Leopoldo/Bozo, Frédéric/Rey, Marie-Pierre/
Rother, Bernd. Washington/Stanford 2015. S. 204.
 Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXVII. Parteitag der Kommunis-
tischen Partei der Sowjetunion, 25. Februar 1986. In: Gorbatschow (Hrsg.), Reden und Aufsätze,
S. 258 f.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 261

den Druck auf seine westlichen Verhandlungspartner. Vielmehr noch wollte er


durch neue Initiativen seine Vertrauenswürdigkeit demonstrieren und so den
Abbau von Feindbildern und Ängsten fördern.
Der Abrüstungs- und Entspannungsprozess erwies sich indessen als äußerst
fragil.⁵¹ Mit Verweis auf sowjetische Verletzungen des SALT II-Vertrags verkündete
Reagan am 27. Mai 1986, sich mit Ablauf des Jahres ebenfalls nicht mehr freiwillig
zur Einhaltung des niemals ratifizierten Vertrags zu verpflichten, sondern statt-
dessen das amerikanische strategische Modernisierungsprogramm uneinge-
schränkt fortzusetzen.⁵² Am 25. Mai hatte der amerikanische Präsident die euro-
päischen Verbündeten über diese Entscheidung in Kenntnis gesetzt.⁵³ Raimond,
der unterdessen zum französischen Außenminister aufgestiegen war, bewertet
Reagans Entschluss retrospektiv als Druckmittel des Weißen Hauses, um die
Verhandlungen über Mittelstreckenraketen durch ein Anheizen des strategischen
Wettrüstens von SDI zu separieren.⁵⁴ Dem soll hier die These entgegengestellt
werden, dass Reagan sich selbst einem steigenden Druck durch sein persönliches
Umfeld ausgesetzt sah. François Mitterrand agierte abermals als Bindeglied
zwischen Washington und Moskau, als Ronald Reagan auf Gorbatschows Dees-
kalationsversuche mit neuer Konfrontation antwortete.
Hubert Védrine machte eine veränderte Ausgangslage dafür verantwortlich,
dass die Amerikaner SALT II nunmehr nicht akzeptierten. In seinem Brief an die
Verbündeten hatte Reagan angedeutet, dass er den Abbau amerikanischer Waf-
fensysteme nicht mit Umsicht werde durchsetzen können. Daraus zog der Berater
des Präsidenten den Schluss, dass sowohl das Pentagon als auch Reagans di-
rektes Umfeld in zwei Lager gespalten waren. Ideologische Hardliner sah er als
Kontrahenten des Militärs, das eine Abrüstung grundsätzlich billige, wenn nicht
zu viele Waffensysteme davon betroffen sein würden. Hinter der Aufkündigung
von SALT II vermutete Védrine Hardliner, die ihrerseits zunehmend unter Druck
gerieten, weil der Kongress um die Kredite von SDI feilschte. Demgegenüber
würden moderatere Vertreter, wie beispielsweise Außenminister Shultz, lediglich

 Für eine Reihe von Provokationen durch die amerikanische Administration siehe Loth, Hel-
sinki, S. 239.
 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Le Général, Chef de l’Etat-Major Parti-
culier, Général Forray Note à l’attention de M. le Président de la République, Equilibre stratégique
entre USA et URSS, Accord SALT – Décision du Président Reagan, 12. Juni 1986; Loth, Helsinki,
S. 239.
 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Hubert Védrine, Note pour le Président de
la République, Salt II, 16. Juni 1986.
 Raimond, Choix, S. 90.
262 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

SALT II und nicht die Rüstungskontrolle insgesamt infrage stellen.⁵⁵ Damit führte
Védrine Reagans Entscheidung sowie dessen schwankenden Kurs zwischen Ent-
spannung und neuer Konfrontation auf unterschiedliche Wahrnehmungen und
interne Machtkämpfe der Administration zurück. Es deutete darauf hin, dass der
amerikanische Präsident offensichtlich alle Seiten in der amerikanischen Admi-
nistration zufrieden stellen wollte. Er zeigte sich empfänglich für Stimmungen
und ließ sich bei Entscheidungen nicht selten von Gefühlen leiten.⁵⁶ Védrines
Analysen waren entscheidend, um eine Strategie für die Gespräche mit Reagan
am 4. Juli 1986 zu entwickeln.
Diese Umstände innerhalb der US-Administration waren auch für die fran-
zösische Regierung nicht ohne Risiko: Während es 1980/1981 noch um die Wie-
derherstellung eines rüstungsstrategischen Gleichgewichts gegangen sei, zielten
Teile der amerikanischen Administration nun auf Überlegenheit, urteilte Védri-
ne.⁵⁷ Dies entsprach in keiner Weise Mitterrands Vorstellungen, in denen ein
globales Kräftegleichgewicht zur Grundlage von Entspannungspolitik bestehend
aus Vertrauensbildung und Abrüstung werden sollte, um langfristig die Teilung
zwischen Ost und West zu überwinden. Ganz im Gegenteil drohten diese Maß-
nahmen eher ein neues Sicherheitsdilemma zu schaffen und damit das System
von Jalta zu perpetuieren.⁵⁸ Dies würde nicht zuletzt den europäischen Emanzi-
pationsprozess gefährden, da die europäische Abhängigkeit von der amerikani-
schen Schutzmacht weiterbestehen würde und die Amerikaner sich veranlasst
sehen könnten, uneingeschränkte Loyalität einzufordern. Aus der Spaltung der
US-Administration resultierte also auch das alte französische Dilemma zwischen
Entscheidungsautonomie und Bündniszusammenhalt.
Daher empfahl Védrine Mitterrand, sich künftig gegenüber dem amerikani-
schen Präsidenten, dem Kongress und der Öffentlichkeit für Verhandlungen und
Rüstungskontrolle einzusetzen.⁵⁹ Zwei Punkte hob er hervor: Verteidigung des
ABM-Vertrags und Widerstand gegen eine Berücksichtigung französischer
Atomstreitkräfte in jedweder Form. Als Védrine nämlich realisierte, dass die
Lossagung von SALT II irreversibel zu sein schien, zweifelte er insgesamt daran,

 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Hubert Védrine, Note pour le Président de


la République, Salt II, 16. Juni 1986.
 Vgl. dazu insgesamt Reagan, Erinnerungen.
 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Hubert Védrine, Note pour le Président de
la République, Salt II, 16. Juni 1986.
 Zum Sicherheitsdilemma siehe Einleitung.
 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Hubert Védrine, Note pour le Président de
la République, Salt II, 16. Juni 1986.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 263

dass die Reagan-Administration in Genf überhaupt ein Abkommen anstrebte.⁶⁰


Aus diesem Grund war es entscheidend, dass sich Mitterrand unmittelbar vor
seinem Gipfeltreffen mit Michail Gorbatschow vom 7. bis 10. Juli 1986 persönlich
mit dem amerikanischen Präsidenten unterhielt. Der Präsidentenberater machte
Mitterrand auf die Asymmetrien zwischen der amerikanischen und sowjetischen
Verhandlungstaktik aufmerksam: Die amerikanische Seite zeige sich zwar ver-
fügbar aber gemessen an den sowjetischen Vorschlägen deutlich zurückhalten-
der. Da Mitterrand andere Standpunkte vertrat als Reagan, empfahl Védrine
strategische Transparenz, indem er Reagan anbot, ihn nach seiner Reise über die
Inhalte der Moskauer Gespräche zu unterrichten.⁶¹ Auf diese Weise wollte er dem
amerikanischen Misstrauen vorab den Wind aus den Segeln nehmen. Transparenz
und wechselseitige Kenntnis – also Vertrautheit und Erwartungssicherheit –
identifizierte Mitterrands außenpolitischer Berater also als konstitutiv für ein
Vertrauensverhältnis. In Bezug auf SDI glaubte er nicht, dass es zu einem so-
wjetisch-amerikanischen Abkommen käme, wenn die USA ihre Haltung nicht
lockerten. Wenn Reagan mit einem Abkommen aber zu lange zögere, würden die
Schwierigkeiten einer Installation immer offensichtlicher. Umso schwieriger sei es
dann auch, den Sowjets mit einem Verzicht auf SDI noch Konzessionen abzu-
ringen.⁶²
Insgesamt verband die équipe Mitterrand drei wesentliche Intentionen mit
dem kurzen Abstecher nach Washington. Der Akt der Vertrauensbildung und
Bündnissicherung am Vorabend des französisch-sowjetischen Gipfels wurde
oben bereits angeführt. Wie Védrines Analysen dokumentieren, war dieses Risiko
mit den neuen Entwicklungen in den amerikanisch-sowjetischen Rüstungsver-
handlungen keineswegs gebannt. Darüber hinaus drohten die Unstimmigkeiten
in Bezug auf SDI den Argwohn gegenüber der französischen Bündnistreue erneut
zu verstärken. Mitterrands entspannungspolitische Maßnahmen wiesen also im-
mer zwei Seiten auf: Dialog nach Osten und Vertrauensbildung gegenüber seinen
westlichen Verbündeten. Zweitens stand der französische Präsident nach wie vor
vor dem Dilemma, dass er zwar einerseits die Abrüstung zwischen USA und So-
wjetunion unterstützte, andererseits aber die Unabhängigkeit der französischen

 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Hubert Védrin, Note pour le Président de


la République, SALT, 17. Juni 1986.
 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Hubert Védrin, Note pour le Président de
la République,Votre entretien avec le Président Reagan. Etat des relations américano-soviétiques,
2. Juli 1986.
 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Hubert Védrin, Note pour le Président de
la République,Votre entretien avec le Président Reagan. Etat des relations américano-soviétiques,
2. Juli 1986.
264 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

force de frappe, Garant der französischen Entscheidungsautonomie, nicht preis-


geben wollte. Da die sowjetische Verhandlungsdelegation in Genf an ihrer For-
derung nach einer prise en compte festhielt, insistierte Mitterrand gegenüber dem
amerikanischen Präsidenten wiederholt darauf, die französischen Streitkräfte aus
den Verhandlungen herauszuhalten.⁶³ Die Wahrung der französischen Unab-
hängigkeit war umso wichtiger, weil Mitterrand sich nicht scheute, Reagan Rat-
schläge für die Verhandlungen zu geben, obwohl er doch gleichzeitig darauf be-
stand, keine Verhandlungspartei zu sein. Die gleiche Botschaft sollte auch in
Moskau gesendet werden „pour aider à la conclusion d’un accord tout en évitant
que les armes françaises soient prises en compte dans la négociation et sans
donner le sentiment de camper hors de l’Alliance.“⁶⁴ Während Mitterrand also
eigene Interessen in Verhandlungen vertrat, an denen Frankreich nicht offiziell
beteiligt war, legitimierte die französische Unabhängigkeit drittens Mitterrands
vermittelnde Funktion zwischen Reagan und Gorbatschow. Da er durch Védrine
über die grundsätzlichen Standpunkte der Administration im Bilde war, versuchte
Mitterrand, die moderate Haltung zu unterstützen, um den durch die Aufkündi-
gung von SALT II auf Abwege geratenden Entspannungsprozess zu retten. Me-
thodisch machte er sich das Argument der Hardliner zunutze und kehrte es ins
Gegenteil: Er warf die Frage auf, ob man Gorbatschows wirtschaftliche Reformen
unterstützen solle, indem man sich zu militärischen Konzessionen bereit zeige,
oder ob man ganz im Gegenteil den Druck durch die Kürzung ziviler Kredite noch
erhöhen solle. De facto legte er damit die Standpunkte der zwei wesentlichen
Strömungen innerhalb der amerikanischen Administration auf den Tisch. Sodann
warb er für ein Vorgehen im Sinne der Moderaten:

Je ne suis pas de ceux qui refusent la crise, mais je pense qu’il serait erroné de le pousser à
l’échec. Négocier n’est pas un acte de faiblesse. Si c’était le cas, nous ne le recommanderions
pas. C’est vous qui avez la réponse. Telle est ma position. Je dirai la même chose à Gorba-
chev.⁶⁵

Auf diese Weise stellte er Verhandlungen und nicht Unnachgiebigkeit als eine
Position der Stärke heraus und entzog den Argumenten der Hardliner ihre
Grundlage. Darüber hinaus versuchte Mitterrand in dem Gespräch zu ergründen,
wie weit Reagan bei den Verhandlungen bereit sein würde zu gehen. Mitterrand
eruierte also gewissermaßen Gorbatschows Handlungsspielraum, da die équipe

 Attali, Jacques: Verbatim 1986 – 1991. Pais 2011. 6. Juli 1986, S. 111– 113.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 6. Juli 1986, S. 113.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 6. Juli 1986, S. 112.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 265

Mitterrand davon ausging, dass der Generalsekretär bei ihrer Zusammenkunft an


einer Einschätzung interessiert sein würde.⁶⁶
Die Atmosphäre bei den Vorbereitungen des französisch-sowjetischen Gip-
feltreffens in Moskau empfand Präsidentenberater Jean Musitelli als entspannt. Er
konstatierte eine größere Offenheit und Kooperationsbereitschaft im Vergleich zu
den Vorjahren. Die sowjetische Seite fragte sich, weshalb Gorbatschows zahlrei-
che Abrüstungsinitiativen bisher noch nicht zu effektiven Ergebnissen geführt
hatten.⁶⁷ Das MID warnte davor, dass Moskau nicht zu einseitigen Konzessionen
bereit sei und der Kreml auch von Frankreich eine dynamischere Haltung er-
wartete. Als Anreiz, sich stärker auf die rüstungspolitischen Fragen einzulassen,
wurde eine größere Offenheit in humanitären Fragen signalisiert. Gleichwohl
schwang darin die Aufforderung mit, Forderungen hinsichtlich des dritten Korbs
von Helsinki nicht an Sicherheitsfragen zu koppeln und sie so zum Hindernis für
ein Vorankommen in der Rüstungskontrolle zu machen.⁶⁸ Als es darum ging, eine
konkrete Verhandlungslinie für die Moskauer Gespräche zu entwickeln, fragte
sich der Chef des Generalstabs Forray wie mit Reagans Ankündigung vom 27. Mai
umgegangen werden sollte. Einerseits wollte Forray die Entstehung eines strate-
gischen Ungleichgewichts zugunsten der Sowjetunion nicht unterstützen, die er
der Verletzung des SALT II-Vertrags bezichtigte. Eine Verurteilung von Reagans
Rede empfahl er daher zu vermeiden. Andererseits wollte er aber die sowjetische
Delegation am Verhandlungstisch halten. In diesem Spannungsfeld zog sich
Forray auf eine unverfängliche aber auch wenig produktive und traditionelle
Position zurück: Verurteilung des Wettrüstens, Ablehnung eines strategischen
Ungleichgewichts, Bekräftigung einer unabhängigen aber gegenüber den Ver-
bündeten loyalen französischen Politik und Aufzeigen gegenwärtiger und künf-
tiger Herausforderungen.⁶⁹
Wie unterschiedlich die Standpunkte innerhalb der équipe Mitterrand waren,
zeigen hingegen Empfehlungen von Jean Musitelli und Hubert Védrine. Sie
schufen mit ihren Noten eine Grundlage, für eine produktive Gesprächsführung in
Moskau, indem sie die Erwartungen des sowjetischen Generalsekretärs ergrün-

 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Jean Musitelli et Hubert Védrine, Note


pour le Président de la République, Votre visite en URSS (7– 10 juillet 1986), 5. Juli 1986.
 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Le Chargé de Mission, Jean Musitelli, Note
pour le Président de la République, Votre voyage en URSS, 17. Juni 1986.
 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Le Chargé de Mission, Jean Musitelli, Note
pour le Président de la République, Votre voyage en URSS, 17. Juni 1986.
 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Le Général, Chef de l’Etat-Major Parti-
culier, Général Forray Note à l’attention de M. le Président de la République, Equilibre stratégique
entre USA et URSS, Accord SALT – Décision du Président Reagan, 12. Juni 1986.
266 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

deten. Sie bezogen sich dabei auf ein Gespräch mit Anatolij Dobrynin, den sie für
den „véritable inspirateur“ von Gorbatschows Ost-West-Politik hielten. Dieser
nämlich habe dem französischen Botschafter Pagniez signalisiert, dass Gorbat-
schow Mitterrand nach dessen Gesprächen in Washington nach seinen Ein-
schätzungen zum aktuellen Stand der Ost-West-Beziehungen fragen wolle.⁷⁰ Die
Inszenierung als unabhängige Partei 1984 hatte also Früchte getragen und konnte
von Mitterrand nunmehr als politische Ressource genutzt werden. Auf diese Weise
wurde er zum Medium eines indirekten amerikanisch-sowjetischen Dialogs, der
dazu diente wechselseitige Perzeptionen zu dekonstruieren. In ihrer Analyse der
gegenwärtigen Situation stellten Musitelli und Védrine fest, dass Gorbatschow
seine Initiativen zwar stetig multipliziere, bis dato allerdings nichts vorgeschlagen
habe, was ernsthaft das Interesse der Amerikaner erregt hätte. Noch dazu stelle
der Generalsekretär sehr weitreichende Bedingungen.⁷¹ Sensibel steckten die
Berater Mitterrands Handlungsspielraum für das Treffen ab: Zur Vorsicht mahnten
sie, weil Gorbatschow die französische und sowjetische Position als Konvergenz
inszenieren könne, was Paris amerikanisches Misstrauen eintragen würde. Al-
lerdings könne Mitterrand Gorbatschow deutlich machen, dass er auch bei Rea-
gan an eine Akzeptanz des ABM-Vertrags appelliert habe. Mit Verweis darauf, dass
Thatcher und Kohl eine ähnliche Haltung eingenommen hätten, sollte einem
Instrumentalisierungsversuch zusätzlich vorgebeugt werden.⁷²
Michail Gorbatschow ging es bei dem Treffen mit Mitterrand tatsächlich nicht
darum, einen europäischen Verbündeten zu instrumentalisieren, um die Reagan-
Administration unter Druck zu setzen. Vielmehr wollte er verstehen, warum seit
seinem Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten keine Fortschritte erzielt
wurden und wodurch es gelingen könnte, zu einem substantiellen Abkommen
vorzudringen.⁷³ Gorbatschow erinnert sich selbst daran, dass bei ihm zu diesem
Zeitpunkt die anfänglichen Hoffnungen nach dem Genfer Gipfeltreffen schwan-
den, eine Wende in den internationalen Beziehungen einzuleiten. „Umso wich-
tiger“ erschien ihm „der konstruktive Dialog mit Frankreich.“⁷⁴ Der Generalse-
kretär versuchte, dem Prozess wechselseitiger Vertrauensbildung zwischen ihm

 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Jean Musitelli et Hubert Védrine, Note


pour le Président de la République, Votre visite en URSS (7– 10 juillet 1986), 5. Juli 1986.
 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Jean Musitelli et Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, Votre visite en URSS (7– 10 juillet 1986), 5. Juli 1986.
 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Jean Musitelli et Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, Votre visite en URSS (7– 10 juillet 1986), 5. Juli 1986.
 Védrine, Mondes, S. 382.
 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 647.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 267

und Mitterrand neue Impulse zu geben. Es wurde ein Schwerpunkt auf die Ent-
wicklung persönlicher Beziehungen gelegt, um so an die Vertrautheit anzu-
knüpfen, die bei ihrem ersten Gipfel in Paris initiiert worden war. Der französische
Botschafter Pagniez fand es bemerkenswert, dass Mitterrand ein zweites Abend-
essen angeboten wurde, was kaum üblich war. Als Ersatz für eine Reise nach
Stawropol, bei der es Gorbatschow aufgrund terminlicher Schwierigkeiten un-
möglich gewesen wäre, den französischen Präsidenten zu begleiten, wurde Mitt-
errand ein gemeinsamer Tag in Moskau und Umgebung vorgeschlagen. Pagniez
interpretierte es als Versuch, „de mettre en relief la place des relations person-
nelles dans sa rencontre avec le Président.“⁷⁵ Sicherlich hatte Gorbatschow auch
ein Interesse daran, aus dem Besuch des französischen Präsidenten innenpoli-
tisches Kapital zu schlagen. Zugleich fällt auf, dass es ihm wichtig war, Mitterrand
auch bei dem Rahmenprogramm des Gipfeltreffens zu begleiten. Mit Blick auf
Gorbatschows „Neues Denken“ in der Außenpolitik und seiner Überzeugung von
dem Konzept der gemeinsamen Sicherheit lassen sich seine Motive ableiten:
Durch gemeinsame Erfahrungen sollte ein höheres Maß an Vertrautheit als his-
torische Dimension von Vertrauen zwischen ihm und Mitterrand gestiftet wer-
den.⁷⁶ Die Negativerfahrungen der Vergangenheit, die für westliche Bedro-
hungsperzeptionen verantwortlich waren, sollten so durch neue Erfahrungen
überschrieben werden und auf diese Weise Feindbilder aufbrechen und Angst
durch Vertrauen als Basis für die französisch-sowjetischen Beziehungen ersetzen.
Diese Absichten trafen bei François Mitterrand insofern auf fruchtbaren Bo-
den, als auch ihm Vertrauensbildung ein wesentliches Anliegen in seinen Ge-
sprächen mit Michail Gorbatschow war. Es war ihm wichtig, über die deutsch-
französischen Beziehungen zu sprechen und dem Generalsekretär begreiflich zu
machen, wie weit die Kooperation in Fragen von Sicherheit und Verteidigung
reichte. Sehr deutlich hob er hervor, dass konventionelle Streitkräfte, eine Präsenz
der FAR auf deutschem Territorium, gemeinsame Manöver, eine gemeinsame
militärische Ausbildung und Informationen über nukleare Gefahren in Gesprä-
chen zwischen Paris und Bonn thematisiert wurden. Allerdings wies er seinen
sowjetischen Gesprächspartner ausdrücklich darauf hin, dass weder eine Inte-
gration französischer Streitkräfte in die NATO noch eine deutsche Beteiligung an
der Entscheidung zum Einsatz der französischen Nuklearstreitkräfte zur Debatte
standen. „Il n’y a donc pas de modification de la stratégie de dissuasion française,

 AN, AG/5(4)/MGM/75, MRE, TD Moscou 2223, Pagniez, Visite officielle du Président de la


République en URSS, 23. Juni 1986; siehe dazu außerdem: AN, AG/5(4)/MGM/75, MRE, TD Moscou
2210, Pagniez, Visite en URSS de Président de la République, 21. Juni 1986.
 Vgl. Luhmann, Vertrauen, S. 22 f.
268 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

pas de défense au-delà du territoire français.“⁷⁷. Auch wenn das deutsche Mili-
tärkommando es sich wünsche, verlange Bundeskanzler Kohl dies von ihm nicht.
Eindringlich wiederholte Mitterrand: „je le répète, la couverture française auto-
matique de l’Allemagne ne m’a jamais été demandée par les Allemands. Je voulais
que vous le sachiez.“⁷⁸ Damit honorierte Mitterrand Gorbatschows Ersuchen um
Vertrauen seinerseits mit Transparenz. Gleichzeitig sollte die auf größere euro-
päische Eigenständigkeit zielende deutsch-französische Kooperation im Bereich
Sicherheit und Verteidigung nicht Quelle neuen Misstrauens bei der sowjetischen
Führung werden. Der französische Präsident legte Wert darauf, dass seine so-
wjetischen Gesprächspartner die Zusammenarbeit nicht als Schritte einer Mili-
tarisierung verstanden, die Deutschland in letzter Instanz womöglich noch einen
Zugang zu Nuklearwaffen verschaffen könnte. Mit diesen Ausführungen war noch
eine zweite Intention verbunden: Wie schon in Washington drang Mitterrand auch
in Moskau noch einmal auf die französische Unabhängigkeit. Er habe nicht vor,
die globalen Verhandlungen zu behindern. Aber auch wenn es jemals ein ame-
rikanisch-sowjetisches Abkommen über ein Einfrieren der französischen Atom-
arsenale geben würde, würde er sich daran nicht gebunden fühlen. Sogleich of-
fenbarte er Gorbatschow: „Nous ne voulons pas dépendre des Américains.“⁷⁹
Am wichtigsten war aber sicherlich drittens Mitterrands Intention, eine Ver-
mittlungsfunktion im Kommunikationsprozess zwischen amerikanischer Admi-
nistration und sowjetischer Führung einzunehmen, um den Boden für ein Ab-
kommen zu bereiten. Mit einem realistischen Blick auf die
Verhandlungspositionen der Supermächte stellte Mitterrand fest, dass keine Basis
für eine Übereinkunft bestehe, solange die USA SDI nicht aufzugeben bereit seien
und Moskau dies gleichzeitig zu einer Bedingung für ein Abkommen machen
würde. Gorbatschow machte Mitterrand auf den engen Zusammenhang seiner
innen- und außenpolitischen Maßnahmen aufmerksam. Er benötige ein ent-
spanntes, außenpolitisches Umfeld für seine Reformen, weil er eine Abrüstung
angesichts eines Wettrüstens im Weltraum nicht rechtfertigen könne. Mitterrand
beantwortete dies mit realpolitischer Argumentation, um Gorbatschow seinen
Handlungsspielraum deutlich vor Augen zu führen: „Tout va tourner autour de la
question: jusqu’où peut-on aller pour l’IDS?“⁸⁰ Damit identifizierte der französi-
sche Präsident SDI als Dreh- und Angelpunkt, als potentiellen Stolperstein für ein
Abkommen. Sein Wissen um die Konflikte und Spaltungen innerhalb der ameri-
kanischen Administration, die Védrine Mitterrand im Vorfeld dargelegt hatte,

 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 8. Juli 1986, S. 121 f.


 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 8. Juli 1986, S. 122.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 8. Juli 1986, S. 118.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 8. Juli 1986, S. 115.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 269

teilte er mit dem sowjetischen Generalsekretär. Da sich Gorbatschow und Reagan


erst einmal persönlich begegnet waren, stellten Informationen zu dessen Per-
sönlichkeit und den Mechanismen innerhalb der Administration wertvolles
Wissen dar. Anatolij Tschernjajew erinnert sich daran, wie Mitterrand seinem
Gesprächspartner in einem ersten Schritt sein eigenes Vorgehen in Washington
erläutert habe. Mitterrand berichtete davon, wie er bei der amerikanischen Ad-
ministration für Verständnis für sowjetische Perzeptionen und daraus folgenden
Handlungsoptionen geworben hatte: Mit seiner Methode, Zukünfte zu imaginie-
ren, hatte Mitterrand rhetorisch Komplexität reduziert, und Reagan quasi eine
binäre Entscheidung eröffnet. Eine Forcierung des Wettrüstens führte in seiner
Imagination zu einer Erschöpfung der Sowjetunion und potentiell zu Krieg. Eine
Kürzung der Rüstungsausgaben könne dagegen finanzielle Mittel freisetzen,
durch die die Sowjetunion sich wirtschaftlich erneuern und der Frieden insgesamt
gewahrt bleiben könnte.⁸¹ Tschernjajews Erinnerungen an Mitterrands Bericht
über seine Zusammenkunft mit dem amerikanischen Präsidenten, die zeitlich
deutlich früher publiziert wurden, entsprechen den durch Attali überlieferten
Gesprächsaufzeichnungen von Reagan und Mitterrand am 6. Juli 1986. Der fran-
zösische Präsident nutzte gegenüber dem Generalsekretär also Transparenz als
Kommunikationsstrategie, um eine vertrauensvolle Atmosphäre für Gespräche
mit Gorbatschow zu schaffen und auf dieser Basis seine Vertrauenswürdigkeit zu
stärken. In dem Fall wurde Vertrauen zu einer politischen Ressource, als er im
Anschluss seine Eindrücke von Reagan und dessen Administration darlegte. Er
riet Gorbatschow davon ab, die Ziele des militärisch-industriellen Komplexes mit
jenen der Administration oder gar den Intentionen des Präsidenten gleichzuset-
zen. Er hielt Reagan vielmehr für einen jener Staatsmänner, „who is intuitively
striving to find a way out of this dilemma.“⁸² Mitterrand beschrieb Ronald Reagan
als einen Menschen, der sich stärker als andere amerikanische Politiker für
Stimmungen und Gefühle anfällig zeige. Tschernjajew bezeugt, dass Gorbatschow
Mitterrands Worte zur Kenntnis nahm. Mitterrand kam damit eine entscheidende
Rolle zu „in eroding the remaining stereotypes in Gorbachev’s ‚new thinking‘.“⁸³
Transparenz und das gegenseitige Verstehen erweisen sich erneut als konstitutive
Voraussetzung von Vertrauensbildung. Roland Dumas bezeichnete Mitterrands
Handeln retrospektiv als „go-between“, und sein Handeln „en sorte que les deux
Grands se comprennent“.⁸⁴ In gewisser Weise erfüllte Mitterrand die Funktionen

 Chernyaev, Anatoly S.: My Six Years with Gorbachev. Pennsylvania State 2000 (auf Russisch
erstmals 1993). S. 75 f.
 Chernyaev, Six Years, S. 76.
 Chernyaev, Six Years, S. 75 f., Zitat S. 76.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 278.
270 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

sowohl eines Mittlers als auch eines Lehrers, da der Dialog mit dem französischen
Präsidenten Gorbatschow half, die Rhetorik und das Handeln sowie die Funkti-
onsmechanismen der amerikanischen Administration besser zu verstehen. Da es
für einen störfreien Kommunikationsprozess einer gemeinsamen Sprache bedarf,
unterstützte Mitterrand auf diese Weise sowohl den Kommunikations- als auch
den Verhandlungsprozess.
In einem Brief vom 31. Juli 1986 berichtete Mitterrand Reagan von seinen
Eindrücken aus Moskau und versuchte ihn dazu zu bewegen, bei künftigen Vor-
schlägen des Generalsekretärs eine konstruktive und kompromissbereite Haltung
einzunehmen.⁸⁵ Massenmedial wurde der französische Präsident als Vermittler
zwischen den beiden Supermächten und als der westliche Staatsmann inszeniert,
der Gorbatschow am besten kenne. Dass der Generalsekretär den zeitlichen
Umfang ihrer Begegnungen bewusst ausgedehnt habe, wurde in der Öffentlichkeit
hervorgehoben. Das Auftreten als internationaler Akteur ging Hand in Hand mit
der Vertrauensbildung bei den Bündnispartnern. Die Inszenierung als unabhän-
gige dritte Partei, auf deren Meinung man sowohl in Washington als auch in
Moskau Wert legte, wurde nämlich durch Bekenntnisse zur Bündnistreue und zu
engen deutsch-französischen Beziehungen aufgefangen.⁸⁶ Diese Inszenierung als
Unterstützer der Abrüstung hat sich allerdings in der Erzählung nicht durchge-
setzt, wie eingangs herausgestellt wurde. Wie die folgenden Ausführungen zeigen
werden, lag dies vor allem daran, dass die Reaktionen der französischen Regie-
rung auf den amerikanisch-sowjetischen Gipfel in Reykjavik die Erinnerung lange
überlagerten.
Obwohl Mitterrand Gorbatschow sehr deutlich darauf hingewiesen hatte,
dass die Frage um SDI zum Hindernis eines Abkommens avancierte, zog dieser
daraus noch nicht den Schluss, seine Forderung aufzugeben. Stattdessen setzte er
darauf, sein Angebot in Reykjavik so weit aufzustocken, dass der amerikanische
Präsident es nicht ausschlagen konnte, ohne erhebliche Widerstände gegen SDI
in der Öffentlichkeit zu provozieren. Die durch Tschernjajew überlieferten In-
struktionen für das Gipfeltreffen offenbaren Gorbatschows Taktik, Reagan etwas
mit großer Schlagkraft anzubieten. Ähnlich früheren sowjetischen Verhand-
lungsmethoden sollte dadurch im Falle eines Scheiterns die sowjetische Kon-
zessions- und Verhandlungsbereitschaft vor der Weltöffentlichkeit demonstriert
werden – mit dem Unterschied, dass Gorbatschow sich dieser Taktik zur Durch-

 Védrine, Mondes, S. 383.


 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Projet d’argumentaire, 27. Juni 1986.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 271

setzung anderer strategischer Ziele bediente.⁸⁷ Anders als seine Vorgänger hoffte
er, Reagan dadurch hinreichend unter Druck zu setzten, um zu einem Abkommen
vorzudringen. Für den Gipfel in Reykjavik ließ Gorbatschow auch die umstrittene
Forderung, nach einer Berücksichtigung der britischen und französischen Rake-
ten fallen. Da sich keiner seiner Vorgänger dazu hatte durchringen können, si-
gnalisierte er damit, wie weit er sich von den bisherigen, sowjetischen Verhand-
lungspositionen distanzierte.⁸⁸ Für Gorbatschow war SDI zu diesem Zeitpunkt aus
zwei Gründen nicht verhandelbar: Erstens erhielt er vom Politbüro überhaupt nur
deshalb eine Zustimmung zu dem weitreichenden Kompromisspacket für Reyk-
javik, da es sich äußerlich nicht prinzipiell von Verhandlungstaktiken seiner
Vorgänger unterschied. Er hätte erhebliche Schwierigkeiten gehabt, derartig
asymmetrische Abrüstungsmaßnahmen zu rechtfertigen und sich den Vorwurf
gefallen lassen müssen, sowjetische Sicherheitsinteressen auszuverkaufen.
Zweitens nahm er SDI aus sicherheitspolitischer wie ökonomischer Perspektive
als Existenzbedrohung wahr und war nur deshalb überhaupt zu so weitreichen-
den Vorschlägen bereit.⁸⁹ Beinahe gelang es Ronald Reagan und Michail Gor-
batschow, bei dem Gipfel in Reykjavik am 11. und 12. Oktober 1986 eine Einigung
über eine Halbierung in allen Teilbereichen interkontinentaler Systeme und einen
Verzicht aller amerikanischen und sowjetischen eurostrategischen Raketen. Als
sie darüber hinaus sogar zu einer Verständigung vordrangen, binnen zehn Jahren
alle Atomraketen abzuschaffen, scheiterte eine endgültige Übereinkunft daran,
dass Gorbatschow nach wie vor an seiner Forderung festhielt, SDI aufzugeben
und Ronald Reagan davon vor den Kopf gestoßen die Gespräche abbrach.⁹⁰
Da die nukleare Abschreckung der Grundpfeiler der europäischen Sicherheit
war, zu dessen Aufgabe Reagan in Reykjavik offensichtlich bereit gewesen war,
löste dieses Beinahe-Abkommen Panik bei den europäischen Verbündeten aus.
Auch die französische Diplomatie bildete darin keine Ausnahme.⁹¹ Unmittelbar
nach dem Gipfel in Island liefen die Diskussionen in den Abteilungen des Au-
ßenministeriums auf Hochtouren und sorgten bei den Diplomaten für besorgte bis
schier panische Reaktionen.⁹² Régis de Belenet, außenpolitischer Berater in der

 Chernyaev, Anatoly S.: Notes, Gorbachev’s Instructions to the Reykjavik Preparation Group.
3. Oktober 1986. http://www.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB203/Document05.pdf (10.07.
2012).
 Chernyaev, Notes, Gorbachev’s Instructions, 3. Oktober 1986.
 Vgl. Grachev, Gorbachev’s Gamble, S. 94; Loth, Helsinki, S. 242.
 Loth, Helsinki, S. 241– 243.
 Vgl. Bozo, France, the Euromissiles, and the End of the Cold War, S. 205.
 ADMAE 1935-INVA 6652, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Ren-
272 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

Funktion des Abteilungsleiters Osteuropa, sah die Grundlagen der europäischen


Sicherheit dadurch gefährdet, dass sowohl die nukleare Abschreckung als auch
das amerikanische Engagement auf dem europäischen Kontinent infrage gestellt
wurde. Sein Augenmerk richtete er dabei insbesondere auf die Absicht, binnen
zehn Jahren alle nuklearen ballistischen Waffen zu eliminieren. Schon Gorbat-
schows Vorschlag vom 15. Januar charakterisierte Belenet als utopisch und ge-
fährlich, der in Reykjavik nun auf die Spitze getrieben worden war. Der be-
fürchtete Rückzug der Amerikaner aus Europa, das drohende Schreckgespenst der
découplage, wurde zur logischen Konsequenz. Da ohne nuklearen Schutzschild
die konventionelle Rüstung an Bedeutung gewinnen würde, in der die Sowjet-
union der NATO in Europa überlegen war, forderte Belenet den Übergang zur
konventionellen Abrüstung und ein Verbot chemischer Waffen.⁹³
Aber welche Antworten waren adäquat auf Verhandlungsergebnisse, die
letztlich an einer anderen Frage gescheitert waren und nicht realisiert wurden?
Die Diplomaten in der Abteilung für strategische Angelegenheiten stellten fest,
dass die amerikanisch-sowjetische Übereinkunft durch den Abbruch des Gipfels
nur auf einer rhetorischen Ebene bestand, und daher noch keine rüstungspoli-
tische Wirkmächtigkeit entfaltet hatte. Angesichts dessen hielten sie es für ver-
früht, auf ein konventionelles Gleichgewicht in Europa zu dringen, da die nu-
kleare Abschreckung noch aktiv war. Als einzige – und ebenfalls rhetorische –
Handlungsoption wurde daher gesehen, die Abschreckung als Grundlage der
europäischen Sicherheit zu betonen und die Amerikaner an ihre Solidarität mit
den europäischen Verbündeten auf Grundlage einer gemeinsamen Sicherheits-
konzeption zu erinnern.⁹⁴ Auch die anderen Europäer, insbesondere die Briten,
teilten die Sorgen der französischen Diplomaten.⁹⁵ Die Angst reichte bis in die
Etagen der französischen Regierung: Außenminister Jean-Bernard Raimond er-
klärte kurz nach dem Reykjavik-Treffen, dass ein Abzug amerikanischer Nukle-

contre de Reykjavik. Premier bilan, 15. Oktober 1986; ADMAE 1935-INVA 6652, MAE, Direction des
Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégiques et du Désarmement, Sous-Direction des
Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Reykjavik: premiers leçons politiques, 16. Oktober 1986.
 ADMAE 1935-INVA 6652, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Régis
de Belenet, Note, Rencontre de Reykjavik et relations Est-Ouest, 15. Oktober 1986; siehe außer-
dem: ADMAE 1935-INVA 6785, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction Europe Centrale, Note,
Fiche d’entretien du Premier Ministre avec le Chancelier Kohl, 24. Oktober 1986.
 ADMAE 1935-INVA 6652, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Ren-
contre de Reykjavik. Analyse, 3. November 1986.
 ADMAE 1935-INVA 6652, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Le
débat stratégique après Reykjavik, 28. November 1986.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 273

arwaffen aus Europa alarmierend sei. Verteidigungsminister André Giraud ließ


sich im Frühjahr 1987 in einer internen Besprechung gar dazu hinreißen, die
Nulllösung zu diffamieren, nur um wenig später die doppelte Nulllösung als erste
Schritte zu einer Finnlandisierung Europas zu stilisieren.⁹⁶ Retrospektiv erklärt
sich Raimond: Die Sorgen vieler Europäer rührten daher, dass in Reykjavik einzig
ein Vertrag über die in Europa stationierte Rüstung abgeschlossen schien, wäh-
rend eine Übereinkunft in den Kategorien strategischer sowie Weltraumwaffen
zwar skizziert aber wieder verworfen worden war. Bei französischen Diplomaten
nährte dies die Angst vor einem amerikanischen Truppenrückzug.⁹⁷ Hinzu kam
wahrscheinlich außerdem das französische „Jalta-Trauma“ – die kollektive Erin-
nerung an die europäische Teilung als Ergebnis eines amerikanisch-sowjetischen
Tauschgeschäfts zu Lasten der Europäer.
Mitterrand allerdings teilte die Meinung der seit März 1986 amtierenden
konservativen Regierung nicht, sondern zeigte schnell Unterstützung für die
Nulllösung der in Europa stationierten amerikanischen und sowjetischen Mit-
telstreckenwaffen.⁹⁸ Seine grundsätzliche Haltung hatte sich in dieser Hinsicht
seit Sommer 1981 nicht verändert.⁹⁹ Wenige Tage nach dem Gipfel in Reykjavik
legte er Margaret Thatcher seine Einschätzungen dar und versuchte die Pre-
mierministerin von einer Akzeptanz der Nulllösung in Europa zu überzeugen.¹⁰⁰
Sei er auch gegen eine Nulllösung hinsichtlich der strategischen Rüstung, so
befürworte er sie doch in Bezug auf die amerikanischen und sowjetischen Mit-
telstreckenraketen in Europa. Alles, was jedoch über eine fünfzigprozentige Re-
duzierung strategischer Nuklearwaffen hinausgehe, lehnte Mitterrand ab, solange
die konventionelle und chemische Rüstung unangetastet blieben.¹⁰¹ Zu Beginn
des Gesprächs war Thatcher noch davon überzeugt, amerikanische Nuklearwaf-
fen zum Schutz auf europäischem Boden zu benötigen, da sie ansonsten eine
découplage als Konsequenz befürchtete. Am Ende der Unterredung signalisierte
die Premierministerin jedoch grundsätzlich Unterstützung für eine europäische
Nulllösung. Wie lässt sich dieser Sinneswandel erklären? Erstens nutzte Mitter-
rand Zweifel, die Thatcher an der amerikanischen Sicherheitsgarantie hegte, als
politische Ressource. Er argumentierte, dass die Amerikaner ihr Territorium auch
mit dem Einsatz von Pershing-II-Raketen ebenso einem sowjetischen Gegenschlag
auslieferten, wie mit dem Einsatz strategischer Nuklearraketen. Auf diese Weise

 Bozo, France, the Euromissiles, and the End of the Cold War, S. 206.
 Raimond, Choix, S. 92 f.
 Bozo, France, the Euromissiles, and the End of the Cold War, S. 207.
 Siehe dafür Kapitel 2.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 16. Oktober 1986, S. 186 – 190.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 16. Oktober 1986, S. 187, 190.
274 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

spitzte er die Diskussion auf die viel grundsätzlichere Frage zu, ob die amerika-
nische Administration überhaupt dazu bereit sei, das Risiko eines Schlages gegen
amerikanisches Territorium in Kauf zu nehmen, um Europa zu verteidigen. Da
hatte Mitterrand erwiesener Maßen seine Zweifel. Gegenüber der Premierminis-
terin hob er hervor: Einzig die Präsenz amerikanischer Truppen in Europa stelle
noch einen hinreichenden Schutz dar. Im Umkehrschluss entlarvte dies die Eu-
roraketen als nutzlos und die Nulllösung als akzeptabel.
Zweitens nährte der französische Präsident die Zweifel an der amerikani-
schen Sicherheitsgarantie mithilfe rhetorischer Strategien, indem er derartige
Sorgen verbalisierte und gleichzeitig rechtfertigte: „On peut donc être inquiet.“¹⁰²
Es scheint gerade so, als wollte er diese Zweifel durch Wiederholungen ins Be-
wusstsein einschreiben: „S’il n’y avait pas de doute sur l’engagement américain,
s’il n’y avait vraiment pas de doute, il n’y aurait jamais de guerre.“¹⁰³ Mit der
Wiederholung und der Formulierung als irrealer Konditionalsatz rechtfertigte er
im Gegenteil diese Zweifel, anstatt sie zu zerstreuen. Es steht zu vermuten, dass
Mitterrand in dieser Unterredung ein weiteres Ziel verfolgte. Die Zweifel an der
amerikanischen Sicherheitsgarantie ergänzte er um das Zukunftsszenario einer
vollständigen Abhängigkeit von den Entscheidungsträgern in Washington. Er
wies Thatcher darauf hin, dass Shultz dem französischen Außenminister signa-
lisiert habe, die amerikanische Unterstützung für die Nicht-Berücksichtigung der
atomaren Drittpotentiale nicht auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten zu können.
Im Anschluss erschuf Mitterrand das absurde Szenario, bei der Fabrikation von
Waffen künftig die Zustimmung des amerikanischen Senats einholen zu müssen.
Auch wenn Mitterrand Europa hier noch nicht als drittes Ordnungsmodell und
denkbare Alternative zu einer europäischen Abhängigkeit explizierte, versuchte er
doch subtil, ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Er instrumentalisierte und nährte
Thatchers Zweifel an der amerikanischen Partnerschaft, vor deren Hintergrund
europäische Kooperationen und Autonomiebestrebungen gerechtfertigt waren,
die in der Tat in den Wochen und Monaten nach Reykjavik an Fahrt aufnahmen.
Gegenüber dem deutschen Bundeskanzler hob der französische Präsident am
28. Oktober 1986 ebenfalls deutlich hervor, dass er im Gegensatz zu anderen
europäischen Staats- und Regierungschefs die Nulllösung befürworte. In Anwe-
senheit seines Premierministers Jacques Chirac wollte sich Mitterrand aber of-
fenbar nicht ausführlicher zu dem Thema Abrüstung äußern.¹⁰⁴ Nachdem die
Konservativen aus den legislativen Wahlen am 16. März 1986 als Sieger hervor-

 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 16. Oktober 1986, S. 188.


 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 16. Oktober 1986, S. 189.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 28. Oktober 1986, S. 197 f.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 275

gegangen waren, hatte François Mitterrand Jacques Chirac zum Premierminister


ernannt, sodass er sich die Exekutive seitdem mit einer konservativen Regierung
teilen musste. Obwohl Mitterrand mit seiner Publikation Réflexions sur la politique
extérieure de la France, ungeachtet des Wahlergebnisses die Außenpolitik als
domaine reservé des Präsidenten proklamiert hatte,¹⁰⁵ führte diese Zeit der so-
genannten Cohabitation zu zahlreichen Konflikten und internen Machtkämpfen
zwischen dem sozialistischen Präsidenten und der konservativen Regierung. Im
folgenden Teilkapitel soll im Kontext der Europapolitik erneut auf die Konse-
quenzen der Cohabitation eingegangen werden. An dieser Stelle ist vor allem zu
beachten, dass sich die innenpolitischen Umstände nachhaltig auf die franzö-
sisch-sowjetischen Beziehungen und die Wahrnehmungen der französischen
Haltung zu den Abrüstungsverhandlungen auswirkte. Nach ihrer Zusammenkunft
im Sommer 1986 gab es in den folgenden 28 Monaten keine Begegnung zwischen
François Mitterrand und Michail Gorbatschow. Zum einen konzentrierte sich der
Generalsekretär seinerseits auf den Dialog mit den USA sowie seine innenpoliti-
schen Reformen, zum anderen aber veranlasste die Cohabitation den französi-
schen Präsidenten dazu, vorerst von weiteren Gipfeltreffen abzusehen. Anders als
Jacques Chirac, der nach Moskau reiste, verzichtete Mitterrand in der Perspektive
der 1988 anstehenden Präsidentschaftswahlen auf Treffen mit der sowjetischen
Führung.¹⁰⁶
Der Generalsekretär übte auf inoffiziellem Weg subtile Kritik an französischen
Regierungsvertretern. Am Rande eines Empfangs im Kreml am 7. November 1986
sprach er den französischen Botschafter Pagniez auf die französischen Reaktio-
nen nach dem Reykjavik-Gipfel an „en disant sur le ton de la boutade que l’on
s’était demandé si nous étions contre le désarmement nucléaire.“¹⁰⁷ Als Pagniez
daraufhin auf das Gespräch zwischen den beiden Außenministern in Wien ver-
wies, unterbrach Gorbatschow ihn jedoch

en marquant qu’il avait été informé par M. Chevardnadze de la teneur de cette conversation et
qu’il connaissait d’ailleurs bien notre position sur l’arme nucléaire puisqu’elle lui avait été
exposée en juillet par le Président de la République.¹⁰⁸

 Dumas, Affaires étrangères, S. 243; Mitterrand, François: Réflexions sur la politique extéri-
eure de la France. Introduction à vingt-cinq discours 1981– 1985. Paris 1986.
 Védrine, Mondes, S. 384.
 ADMAE 1935-INVA 6670, MAE, TD Moscou 3757, Quelques remarques de M. Gorbatchev,
8. November 1986.
 ADMAE 1935-INVA 6670, MAE, TD Moscou 3757, Quelques remarques de M. Gorbatchev,
8. November 1986.
276 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

In einer Presseschau stellte der Botschafter regelmäßig die Kritikpunkte sowjeti-


scher Massenmedien an den Reaktionen westeuropäischer Regierungen zusam-
men.¹⁰⁹ Um die Jahreswende 1986/1987 nahm die sowjetische Kritik an der fran-
zösischen Verteidigungspolitik sowie öffentlichen Stellungnahmen zu, die sich
häufig auf Äußerungen des französischen Premierministers Jacques Chirac be-
zogen.¹¹⁰ Die konservative Regierung forcierte beispielsweise eine Modernisie-
rung der französischen Kurzstreckenwaffen. François Mitterrand stellte sich den
Bestrebungen entgegen, die Reichweite und Feuerkraft dieser Waffen zu einem
Zeitpunkt zu erhöhen, zu dem sich ein noch äußerst fragiler Abrüstungsprozess in
Gang zu setzen begann.¹¹¹ Im Wahlkampf um die Präsidentschaft 1988 nutzte er
sein Veto gegen diese Modernisierung, um sich als Unterstützer des INF-Vertrags
und gewissermaßen als Friedensstifter zu inszenieren und Jacques Chirac dem-
gegenüber als Unterstützter des Rüstungswettlaufs und implizit als Kriegstreiber
zu diskreditieren.¹¹²
Die sowjetische Führung war im Frühjahr 1987 davon überzeugt, dass
Frankreich die Abrüstung ablehnte und ihre Initiativen nach dem Reykjavik-Gipfel
behinderte. Umso unverständlicher erschien ihr dies, als doch bereits im August
1986 die Forderung nach den Drittpotentialen fallen gelassen worden war. Dar-
über hinaus wurde der französischen Politik ein negativer Einfluss auf die an-
deren Alliierten unterstellt. Frankreich suche eine stärkere Integration der NATO
und habe eine „europäische Geschäftsstelle“ der NATO reaktiviert – gemeint war
die Westeuropäische Union. Die Erhöhungen, die im militärischen Gesetzesent-
wurf der Regierung vorgesehen waren, seien aus der Perspektive eines sich ab-
zeichnenden Abrüstungsvertrags nicht zu rechtfertigen.¹¹³ All dies zusammen-
genommen zeigt, dass die Umstände der Cohabitation für Misstrauen in Moskau
verantwortlich waren. Angesichts sich widersprechender Haltungen und Stel-
lungnahmen von Präsident und Regierung entstand ein widersprüchlicher Ein-
druck der offiziellen französischen Linie. Eine Intensivierung der deutsch-fran-
zösischen und europäischen Abstimmung und Kooperation in Sicherheitsfragen

 ADMAE1935-INVA 6652, MAE, TD Moscou 3897, Pagniez, Après Reykjavik: Critique des Eu-
ropéens, 20. Novembre 1986.
 Vgl. u. a. ADMAE 1935-INVA 6670, République française, Ambassade de France en URSS,Yves
Pagniez an Jean-Bernard Raimond, Interview de M. Chirac au „Point“, 6. Oktober 1987; siehe dazu
weiter: ADMAE 1935-INVA 6670, MAE, TD Moscou 1641, Dépêche TASS sur la politique de défense
du gouvernement français, 9. Mai 1987; ADMAE 1935-INVA 6670, MAE, TD Moscou 4067, Reunion
de l’UEO. Discours du Premier Ministre, 6. Dezember 1986.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 346 f.
 Mitterrand, François: Lettre à tous les Français. o.O. 1988. S. 9 f.
 ADMAE 1935-INVA 6670, MAE, TD Moscou 1663, Propos soviétiques sur la paix et critiques de
la politique de défense de la France, 11. Mai 1987.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 277

schien den Eindruck zu untermauern, dass die französischen Akteure Gegner der
Abrüstungspolitik waren. Dies löste bei Michail Gorbatschow insofern Misstrauen
aus, als seine wachsende Vertrautheit mit François Mitterrand nach ihren Treffen
1985 und 1986 ebenso irritiert wurden wie sein Vermögen, den französischen
Präsidenten einzuschätzen. Insgesamt zeigt sich hier, wie fragil und anfällig für
Irritationen und Störungen Prozesse der Vertrauensbildung sind. Gorbatschows
Erinnerungen an die französische Rolle im Abrüstungsprozess der Jahre 1986/
1987 ist beinahe vollständig von der Erfahrung der Cohabitation überlagert. Seine
Erinnerungen grundsätzlich vertrauensvoller und konstruktiver Beziehungen zu
François Mitterrand werden in dieser Zeit nahezu vollständig ausgeblendet und
stehen im Widerspruch zu anderen Erinnerungen:

Bald nach Reykjavik trat in den bilateralen Beziehungen zu Frankreich eine gewisse Dis-
tanziertheit ein, da die französische Regierung am Konzept der nuklearen Eindämmung
ungeachtet ihrer erklärten Unterstützung des Neuen Denkens festhielt. Diese Unvereinbar-
keit der Grundsätze führten in praktischen Fragen zu Widersprüchen und inkonsequenten
Entscheidungen.¹¹⁴

Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass sich Gorbatschow aus-


schließlich an Reaktionen, Stellungnahmen, Entscheidungen und Zwiegespräche
mit der französischen Regierung im Allgemeinen und mit Jacques Chirac im Be-
sonderen erinnert, der eine zu François Mitterrand konträre Haltung in Abrüs-
tungsfragen einnahm. „Die Kluft zwischen Worten und Taten der französischen
Führung“ erschien Gorbatschow „immer größer“,¹¹⁵ da Mitterrand zu diesem
Zeitpunkt auf persönliche Begegnungen mit dem Generalsekretär verzichtete und
dessen Wahrnehmung insofern nicht relativieren konnte.
Nicht nur in der Erinnerung zeitgenössischer Akteure wurden die Reaktionen
der konservativen Regierung unter Chirac als offizielle Haltung des französischen
Staates wahrgenommen. Die eingangs zitierte These von John W. Young oder
solche von Julie Newton zeigen, dass aus den speziellen politischen Umständen
der Cohabitation keine differenzierte Wahrnehmung französischer Positionen
folgte. Newton hebt ausschließlich ablehnende Reaktionen auf Gorbatschows
Abrüstungsinitiativen zwischen 1985 und 1987 hervor. Eine Differenzierung zwi-
schen verschiedenen französischen Akteuren und Haltungen sucht man bei ihr
vergebens. Stattdessen geht Newton von einer einheitlichen Position des fran-
zösischen Staates gewissermaßen als Kollektivakteur aus. Aus diesem Grund
vermag sie auch nicht Mitterrands konstruktive Rolle im Zustandekommen des

 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 648 f.


 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 649.
278 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

INF-Vertrags wahrzunehmen, die im weiteren Verlauf des Kapitels noch Gegen-


stand der Untersuchung sein wird. Mit den Dokumenten, die sie ihren Analysen
zugrunde legt, ist eine Dekonstruktion der französischen Positionen freilich auch
nicht zu leisten.¹¹⁶ Dies führt letztlich zu einem Perpetuieren zeitgenössischer
Wahrnehmungen. Mit diesem Exkurs auf die innenpolitischen Umstände in
Frankreich zwischen 1986 und 1988 wird hingegen die Entstehung eines solchen
Narrativs verständlich.
Ein Durchbruch in den amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen kündigte
sich an, als Michail Gorbatschow in einer Fernsehansprache am 28. Februar 1987
ein separates Abkommen über die Euroraketen in Aussicht stellte, das er anbot,
unabhängig von SDI oder den französischen und britischen Systemen zu ver-
handeln.¹¹⁷ Damit beseitigte er wesentliche Hindernisse, die sich in den vergan-
genen Jahren immer wieder zum Stolperstein für ein Abkommen erwiesen hatten.
Wenige Tage später gab Mitterrand Julij Woronzow am 3. März 1987 dezidiert im
Namen Frankreichs sein Einverständnis zu Gorbatschows Angebot und einer
Nulllösung in Europa und bat ihn, den Generalsekretär darüber in Kenntnis zu
setzen.¹¹⁸ Die sowjetische Forderung, spätestens bei Verhandlungen über Raketen
kürzerer Reichweite die Drittpotentiale zu berücksichtigen, wurde von dem
französischen Präsidenten anscheinend kaum noch als Risiko wahrgenommen.
Er konstatierte, dass die Forderung für die sowjetische Seite unvermeidbar sei.
Lakonisch fügte er dem hinzu „A nous de refuser, c’est tout.“¹¹⁹ Diese Gelassen-
heit, die seine bisherige Habachtstellung in der Frage der Drittpotentiale ver-
drängte, deutet darauf hin, dass Mitterrands Bedrohungsperzeptionen merklich
abgebaut worden waren. Es lässt den Schluss zu, dass bei ihm nunmehr ein
Prozess wachsenden Vertrauens einsetzte, der aber zunächst auf die Person Mi-
chail Gorbatschow beschränkt blieb.
Sodann avancierte François Mitterrand auch bei den europäischen Verbün-
deten zum Vermittler des amerikanisch-sowjetischen Abkommens. Seine Zu-
sammenkunft mit Margaret Thatcher am 16. Oktober 1986 wurde bereits an frü-
herer Stelle analysiert. Für die Akzeptanz der Nulllösung durch die britische und
bundesdeutsche Regierung war zudem ein Zusammentreffen zwischen Mitterrand
und Kohl auf dem Schloss Chambord am 28. März 1987 von zentraler Bedeutung.
Anhand dieses Beispiels sollen zunächst die Ängste des deutschen Bundes-
kanzlers herausgestellt werden, um anschließend zu zeigen, welche Maßnahmen

 Newton stützt sich ausschließlich auf Memoiren insbesondere sowjetischer Provenienz;
Newton, Gorbachev, S. 301, 303.
 Loth, Helsinki, S. 244.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 3. März 1987, S. 280 f.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 3. März 1987, S. 281.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 279

der Präsident ihnen entgegensetzte. Kohls Misstrauen bezog sich vor allem auf
Gorbatschows Intentionen hinter den Abrüstungsinitiativen, da er fürchtete, der
Generalsekretär werde alsbald eine Neutralisierung Deutschlands vorantrei-
ben.¹²⁰ Nach wie vor bestimmten also Perzeptionen Kohls Wahrnehmung, die
nicht weit von den deutschen Befürchtungen während der Euroraketenkrise ab-
wichen; seine Erwartungen waren vielmehr nachhaltig von den Erfahrungen der
Jahre 1979 – 1983 geprägt. Damit unterstellte er nicht nur Gorbatschow, grund-
sätzlich im Fahrwasser einer klassischen sowjetischen Sicherheitspolitik zu fah-
ren; vielmehr demonstrierte dies seine anhaltende Sorge um mögliche neutra-
listische Tendenzen der deutschen Öffentlichkeit, denen der Bundeskanzler mit
einer schnelleren Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen jedwede
Grundlage entziehen wollte.
Wie die Gesprächsaufzeichnungen belegen, basierte Mitterrands Überzeu-
gungsstrategie auf drei taktischen Komponenten. Erstens begegnete er dem
gängigen Argument von Nulllösungs-Gegnern, der Abzug der Pershing-II-Raketen
führe zu einer Entkopplung der amerikanischen und europäischen Verteidigung,
mit purem Pragmatismus. Wer die Nulllösung ablehne, sei gegen Abrüstung.¹²¹
Zudem stellte er Kohls grundsätzlichen Befürchtungen um ein rüstungspoliti-
sches Gleichgewicht zwischen Ost und West entgegen, dass ein wirkliches
Gleichgewicht erst in der strategischen Rüstung zwischen den USA und der So-
wjetunion hergestellt werden könne: „Le découplage est dans la tête du peuple et
du gouvernement américaines, pas dans les systèmes d’armes.“¹²² Damit trans-
formierte Mitterrand eine drohende découplage rhetorisch von einem selbst ver-
ursachten Risiko im Falle einer akzeptierten Nulllösung zu einer von außen
kommende Gefahr, die sich dem Einfluss der Europäer entzog, weil er sie auf ei-
nen Bewusstseinszustand der amerikanischen Bevölkerung und dessen Regie-
rung zurückführte. Zudem ließ er die amerikanischen Rückzugstendenzen so er-
scheinen, als seien sie längst eine Realität ungeachtet eines Gleichgewichts in
unterschiedlichen Waffensystemen.
Was eine Ablehnung der Abrüstung grundsätzlich bedeute, legte der fran-
zösische Präsident zweitens unter Rückgriff auf strategische Gefühlspolitik dar.
Mithilfe eines imaginierten Szenarios, das die Zerstörungswucht eines nuklearen
Krieges in Europa veranschaulichte, entlarvte er die Vorstellung eines begrenzten
Nuklearkrieges als Illusion. Einzig die Totalität eines nuklearen Krieges könne
eben diesen verhindern – Mitterrand legte Kohl also die Sinnhaftigkeit der nu-

 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 28. März 1987, S. 299.


 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 28. März 1987, S. 300 f.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 28. März 1987, S. 302.
280 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

klearen Abschreckung dar und zog daraus insgesamt den Schluss: „J’ai donc dit:
je suis pour l’option zéro.“¹²³ Der anschauliche Entwurf eines nuklearen Krieges
diente dazu, Schrecken und Angst vor einem solchen Zukunftsszenario zu evo-
zieren, um einen Mittelstreckenvertrag demgegenüber als verheißungsvoller er-
scheinen zu lassen.
Drittens stellte Mitterrand neben der Nulllösung noch eine weitreichendere
Zukunftsalternative in Aussicht: Europa als unabhängiges Ordnungsmodell. Die
zuvor bereits angedeutete Unausweichlichkeit einer découplage trieb er noch auf
die Spitze: Die amerikanische Präsenz auf dem europäischen Kontinent sei not-
wendig, aber auch davon hinge eine Entkopplung nicht ab. Indem er diese Vor-
stellung als Illusion inszenierte, widersprach er seinen eigenen Äußerungen ge-
genüber Margaret Thatcher im Oktober 1986, denen zufolge die amerikanische
Truppenpräsenz in Europa gleichsam die letzte Bastion der amerikanischen Si-
cherheitsgarantie darstellte. In diesem Zusammenhang ist es von untergeordneter
Bedeutung, welche der beiden Äußerungen tatsächlich Mitterrands persönlicher
Überzeugung entsprachen. Interessanter ist, dass ihm die praktische Negierung
des amerikanischen Schutzes dazu diente, den Nährboden für seine entschei-
dende Botschaft zu bereiten: „Il nous faut par ailleurs vingt ans pour organiser
l’Europe.“¹²⁴ Aufgrund von Kohls Ausführungen, eine engere Integration von
Deutschland und Frankreich zu suchen, sowie dessen Engagement der Vorjahre
wusste der Präsident um die Erwartungen des Bundeskanzlers und sah diese als
Chance für Europa. Kohls Ängste sollten durch Mitterrands alternatives Zu-
kunftsangebot aufgefangen und produktiv in europäisches Selbstvertrauen um-
gewandelt werden, um dadurch eine solide Grundlage für den Ausbau der euro-
päischen Kooperation zu schaffen. Damit speiste sich der Integrationsprozess nur
teilweise aus Angst vor einem amerikanisch-sowjetischen Kondominium, da diese
vielmehr zum Motor für Vertrauensbildung wurde – für wechselseitiges ebenso
wie für Selbstvertrauen. Diese Strategie diente nicht mehr dazu, interpersonales,
individuelles Vertrauen zu generieren. Vielmehr nutzte er dieses in dem Fall als
politische Ressource, um Kohls Vertrauen von einer persönlichen Ebene auf die
deutsch-französische Kooperation und die europäische Konstruktion zu über-
tragen. Bedrohungsperzeptionen im Kontext der Ost-West-Beziehungen wurden
so in gewisser Weise mit der Bildung eines europäischen Selbstvertrauens über-
schreiben.
Mit dieser Strategie gelang es Mitterrand zum einen, Kohl grundsätzlich von
einer Unterstützung des INF-Vertrages zu überzeugen. Obendrein erhielt er dessen

 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 28. März 1987, S. 301.


 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 28. März 1987, S. 303.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 281

Zustimmung zu Absprachen zwischen Attali, Teltschik und Charles Powell, um


gegenüber den Amerikanern eine gemeinsame französisch-deutsch-britische
Haltung vertreten zu können. Damit war einerseits ein Schritt einer gemeinsamen
europäischen Interessenvertretung gegenüber den Amerikanern und einer Neu-
justierung der transatlantischen Beziehungen getan. Andererseits betont Attali
nachträglich, dass diese Unterhaltung eine Diskussion zwischen ihm Teltschik
und Powell in Gang setzte, die letztlich zur britischen und deutschen Akzeptanz
der einfachen und doppelten Nulllösung beitrug.¹²⁵
Dieses Gespräch ist damit ein weiteres Beispiel für Mitterrands Vertrauens-
bildung zweiter Ordnung: Eingangs war bei Helmut Kohl die Unsicherheit zu groß,
als dass er dem Abzug amerikanischer Raketen von deutschem Territorium hätte
zustimmen können. Diese ergab sich erstens aus seinem Misstrauen gegenüber
der eigenen Öffentlichkeit und Bevölkerung und zweitens aus seinem Misstrauen
gegenüber Gorbatschows Intentionen. Mit Vertrauensbildung zweiter Ordnung
half Mitterrand die Lücke zwischen Gewissheit und Ungewissheit zu verringern,
sodass sie zwar nicht durch Vertrauen in die Person Michail Gorbatschow aber
durch Vertrauen in die Fortentwicklung der deutsch-französischen und europäi-
schen Kooperation überbrückt werden konnte. Auf diese Weise eröffnete der
französische Präsident dem Bundeskanzler mit einer Alternative zur Ablehnung
der Nulllösung neue Handlungsoptionen. Nachdem sich am 13. und 14. April eine
amerikanisch-sowjetische Einigung über die doppelte Nulllösung abzeichnete,¹²⁶
unterrichtete Hans-Dietrich Genscher Roland Dumas auf inoffiziellem Weg, dass
das Kabinett noch keine Entscheidung zugunsten der Nulllösung gefällt hatte,
sondern der Bundeskanzler nach wie vor zögere. Der deutsche Außenminister
drängte Dumas dazu, dass Mitterrand einen wiederholten Überzeugungsversuch
unternahm.¹²⁷ Hier manifestiert sich, dass in den Jahren der Cohabitation inoffi-
zielle deutsch-französische Kontakte umso wichtiger wurden. Die enge Zusam-
menarbeit, die Genscher und Dumas während ihrer gemeinsamen Zeit als Au-
ßenminister hatten entwickeln können, zahlte sich in dieser Phase aus. Diese
informellen Kontakte zwischen Elysée, Kanzleramt und Downing Street erklären
neben den bereits genannten Faktoren auch die Entstehung der These, französi-
sche Akteure hätten in der Abrüstung keine produktive Haltung eingenommen.
Während sich Mitterrand die Exekutive mit einer konservativen Regierung teilte,
wurde versucht, die institutionalisierten Kommunikationswege über das Außen-
ministerium zu umgehen. Daher liefen viele Abstimmungen während dieser

 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 28. März 1987, S. 303.


 Vgl. Loth, Helsinki, S. 245.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 341.
282 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

Phase über inoffizielle Kontakte. Welche Rolle der Faktor Persönlichkeit bezie-
hungsweise Vertrautheit dabei spielte, soll im folgenden Abschnitt 4.2 näher
ausgeführt werden.
Allein auf Mitterrands Überzeugungskünste lässt sich die Annahme der
doppelten Nulllösung durch die anderen Westeuropäer wohl nicht zurückführen.
Dafür dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass Gorbatschow angesichts des
europäischen Zögerns sein Angebot nochmals aufstockte und auch die sowjeti-
schen Raketen im asiatischen Teil der Sowjetunion in ein Abkommen ein-
schloss.¹²⁸ Im August 1987 akzeptierte auch Helmut Kohl die doppelte Nulllösung
und den Abbau der Pershing-I-Raketen, die er ursprünglich als Sicherheitsga-
rantie hatte halten wollen. Am 8. Dezember 1987 wurden mit der Unterzeichnung
des INF-Vertrages durch Ronald Reagan und Michail Gorbatschow amerikanische
und sowjetische Raketen von einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern
eliminiert und künftige Inspektionen vereinbart.¹²⁹ Die équipe Mitterrand hatte
diesen Vertrag erwiesenermaßen nicht nur passiv unterstützt, sondern durch
mannigfaltige Vermittlungsaktionen zwischen den Supermächten einerseits und
gegenüber westeuropäischen Akteuren andererseits an dessen Zustandekommen
einen nicht zu verachtenden Anteil.
Insgesamt lassen sich bisherige Forschungsergebnisse zu den Abrüstungs-
verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion revidieren und diffe-
renzieren. Als Mitinitiator der Neuen Détente ab Sommer 1984 hatte Mitterrand
durch seine Empathie und Vertrauensbildung zweiter Ordnung sowie seine In-
szenierung als unabhängige dritte Partei seinen Handlungsspielraum ausgewei-
tet.¹³⁰ Mit wachsender Vertrautheit zwischen Mitterrand und dem Generalsekretär
wurde eine größere beiderseitige Erwartungssicherheit geschaffen, die jedoch bei
Gorbatschow durch die Umstände der Cohabitation eine Irritation erfuhr. Auch
wenn die Maßnahmen der konservativen Regierung den Abrüstungsprozess zu
torpedieren drohten, trugen sie unter anderem dazu bei, dass Gorbatschow in
noch gesteigertem Maße um das Vertrauen der Westeuropäer warb. Den durch die
Inszenierung gewonnenen Handlungsspielraum konnte der Präsident als politi-
sche Ressource nutzen. Sowohl Reagan als auch Gorbatschow bestätigten Mitt-
errand in seiner Rolle als Vermittler zwischen Moskau und Washington. In dieser
Funktion ergänzte er den wieder aufgenommenen Dialog um seine eigenen per-
sönlichen Eindrücke und Einschätzungen. Dadurch unterstützte er den Aufbau
von Vertrautheit und Vertrauen zwischen Reagan und Gorbatschow und führte

 Loth, Helsinki, S. 245.


 Soutou, Guerre de Cinquante Ans, S. 682.
 Siehe dafür Kapitel 3.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 283

beiden ihre jeweiligen Handlungsspielräume vor Augen. Sicherlich stellte Gor-


batschows Entscheidung, SDI und die Verhandlungen über strategische Rüstung
von einem Abkommen um die Euroraketen zu separieren, den entscheidenden
Durchbruch zu einer Vertragsunterzeichnung dar. So wird es auch weitestgehend
in der Forschung gesehen.¹³¹ Um sich die Unterstützung der Westeuropäer und
hier insbesondere die des französischen Präsidenten zu sichern, war allerdings
die Aufgabe der langjährigen Forderung, den Drittpotentialen in einem Abkom-
men Rechnung zu tragen, mindestens ebenso wichtig. Es war ein wesentlicher Akt
der Vertrauensbildung, der Mitterrand nachhaltig von Gorbatschows Entschlos-
senheit überzeugte. Dieser uneingeschränkten Überzeugung bedurfte es für
Mitterrand, um sich bei seinen europäischen Partnern ebenfalls für die Unter-
stützung einer doppelten Nulllösung in Europa einsetzen zu können. Es gilt
Frédéric Bozo zuzustimmen, dass Mitterrand 1987 von Gorbatschows „Neuem
Denken“ überzeugt war und er nicht davon ausging, dass die französische Ab-
schreckung von einem Abkommen über die Euroraketen untergraben würde. Die
analysierten Gespräche mit Thatcher und Kohl belegen zudem noch einmal ein-
drücklich, dass bei Mitterrand an der verteidigungsstrategischen Kopplung zwi-
schen den USA und Europa ohnehin erhebliche Zweifel bestanden.¹³² Um hin-
reichend zu verstehen, welche Motive Mitterrand zur Unterstützung des INF-
Vertrags motivierten, gilt es, den Zusammenhang zwischen Ost-West-Konflikt und
europäischer Integration mitzudenken. Die Abrüstung zwischen den beiden Su-
permächten war für Mitterrand eine wesentliche Voraussetzung für sein lang-
fristiges Ziel eines unabhängigen Europas.¹³³ Vor seiner Wiederwahl 1988 insze-
nierte sich Mitterrand als Unterstützer der friedlichen Abrüstung zwischen
Reagan und Gorbatschow. Sieht man von der Intention ab, Wählerstimmen zu
sammeln, fällt bei seinem Lettre à tous les Français auf, dass er die Konstituierung
einer europäischen Identität in verschiedenen politischen Bereichen mit der
Abrüstung in engen Zusammenhang stellte. Er beteuerte, den INF-Vertrag vorbe-
haltlos unterstützt zu haben und dies auch in Hinblick auf eine fünfzigprozentige
Reduzierung der amerikanischen und sowjetischen strategischen Rüstung, sowie
ein Kräftegleichgewicht in der konventionellen und chemischen Rüstung zu tun.
Abrüstung und Sicherheit waren für Mitterrand zwei Seiten einer Medaille –

 Vgl. Brown, Archie: The Gorbachev revolution and the end of Cold War. In: Leffler,/Westad
(Hrsg.), Cambridge History, S. 262; Loth, Wilfried: Willy Brandt, Michail Gorbatschow und das
Neue Europa. In: Wir sind auf dem richtigen Weg. Willy Brandt und die europäische Einigung.
Hrsg. von Wilkens, Andreas. Bonn 2010. S.422; Soutou, Guerre de Cinquante Ans, S. 681; Leffler,
Mankind, S. 397.
 Bozo, France, the Euromissiles, and the End of the Cold War, S. 208.
 Mitterrand, Lettre, S. 19 f.
284 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

Entspannung zwischen Ost und West eine Voraussetzung für seine langfristigen
Zukunftsaussichten. Für eine Überwindung des Jalta-Systems bedurfte es eines
grundlegenden Wandels der Ressource internationaler Beziehungen von Angst
vor gegenseitiger Vernichtung zu Vertrauen. Dadurch würde sich auch eine
Chance ergeben, die Asymmetrien in den transatlantischen Beziehungen zu be-
seitigen und Europa zu einem unabhängigen Ordnungsmodell aufzubauen.
Mitterrand erkannte sehr schnell die Chancen, die sich für eine Stärkung west-
europäischer Solidarität aus dem erschütterten Vertrauen seiner europäischen
Partner in die amerikanische Sicherheitsgarantie nach dem Reykjavik-Gipfel er-
öffnete. Die Intensivierung der deutsch-französischen Kooperation und der Aus-
bau Westeuropas soll Gegenstand des folgenden Abschnitts sein.

4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere


Zukunft.“¹³⁴
Auf der Grundlage von deutsch-französischen Solidaritätserfahrungen zwischen
1981 und 1984 war es bei dem Europäischen Ratstreffen von Fontainebleau im Juni
1984 gelungen, die Blockaden innerhalb der EG zu überwinden und eine Vertie-
fung der Gemeinschaft auf den Weg zu bringen. Der folgende Abschnitt widmet
sich der Frage, welche Synergieeffekte der Wandel in Ost und West sowie seine
Wahrnehmung bei der équipe Mitterrand und französischen Diplomaten für den
europäischen Integrationsprozess entwickelten. Zwei spezifische Momente wirk-
ten als Stimulatoren für eine weitere Intensivierung der deutsch-französischen
und europäischen Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheit und Verteidigung:
Am 26. März 1985 offerierte der amerikanische Verteidigungsminister Caspar
Weinberger den europäischen Verbündeten, an den Forschungen zu SDI zu par-
tizipieren, und räumte ihnen für eine Antwort 60 Tage ein, um das Angebot zu
prüfen.¹³⁵ Damit wurde französischen Bemühungen um deutsch-französische
sowie europäische Kooperation ein Schub versetzt. Eine Weiterentwicklung in
den Bereichen Technologie, Industrie und Wissenschaft wirkte sich auch auf
Fragen von Sicherheit und Verteidigung aus. Zweitens wurde bereits deutlich,
dass die Beinahe-Ergebnisse von Reagan und Gorbatschow in Reykjavik bei den
westeuropäischen Regierungen Überraschung, Schrecken und Verunsicherung
ausgelöst hatten. Diese Erfahrung unterstützte die Suche nach Möglichkeiten zur

 Mitterrand, Lettre, S. 16.


 Aufzeichnungen des Ministerialdirigenten Schauer, 28. März 1985. In: AAPD 1985, Dok. 82,
S. 432.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 285

europäischen Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen ebenfalls. Beide Momente


beförderten auf verschiedenen politischen Ebenen – bi- wie multilateral – Aus-
tausch und Abstimmung zwischen den Europäern. Die Analysen dieses Teilka-
pitels dienen dazu, diese beiden Ausgangsthesen zu belegen.
Die Vertiefung der Gemeinschaft und ihr institutioneller Ausbau im An-
schluss an das europäische Ratstreffen in Fontainebleau war aus Sicht von
François Mitterrand zunächst einmal eine wichtige Voraussetzung für strukturelle
Veränderungen in den internationalen Beziehungen. Für die Herausforderungen,
die auf die europäischen Gesellschaften in einem Prozess des Zusammenwach-
sens zukommen würden, sollte die (west‐)europäische Integration stark und
möglichst unumkehrbar gemacht werden. Als französischen Repräsentanten im
Ausschuss zur Weiterentwicklung der europäischen Institutionen und Zusam-
menarbeit benannte François Mitterrand auf Vorschlag von Roland Dumas den
ihm nahestehenden Maurice Faure. Dieser hatte als ehemaliger Minister, Staats-
sekretär für Außenpolitik und Unterhändler wie Unterzeichner der Römischen
Verträge, diplomatische und europapolitische Erfahrungen vorzuweisen.¹³⁶ Mitt-
errand und Faure standen in engem Kontakt vor wichtigen Entscheidungen des
Ausschusses, der nach dessen Vorsitzenden James Dooge benannt wurde. Wenige
Tage bevor in einer wichtigen Sitzung des Dooge-Ausschusses dessen politischer
Bericht diskutiert werden sollte, ersuchte Maurice Faure François Mitterrand um
eine Audienz für den 20. November 1984, um die Arbeiten mit dem Präsidenten zu
besprechen und abzustimmen.¹³⁷
Neben den Arbeiten innerhalb des Ausschusses fand zudem eine deutsch-
französische Abstimmung auf Ebene der Berater von französischem Präsidenten
und deutschem Bundeskanzler über die Ziele statt, die der Dooge-Ausschuss er-
reichen sollte. Am 19. September reiste Pierre Morel mit Instruktionen von Mitt-
errand beispielsweise zu einer geheimen Arbeitssitzung nach Bonn. Der Besuch
diente dazu, sowohl Zielvorstellungen abzustimmen als auch ein weiteres Vor-
gehen festzulegen. Der deutsche und französische Repräsentant sollten demnach
ihre Arbeiten in dem Komitee auf die Umsetzung einer gemeinsamen Politik ori-
entieren, wobei Außenpolitik, Sicherheitspolitik und Wirtschafts- und Wäh-
rungspolitik im Vordergrund standen. Zudem erfolgte eine Verständigung über
horizontale Themen wie das Mehrheitsstimmrecht. Drittens wurde durch die
Berater ein praktisches Vorgehen festgelegt, das dabei helfen sollte, die zuvor
abgestimmten Ziele zu verwirklichen. Dabei wird ersichtlich, dass Morel und

 AN, AG/5(4)/PM/8, Ministère des Affaires Européennes, Cabinet du Ministre, Robert Boulay,
Communiqué, 22. Juli 1984.
 AN, AG/5(4)/PM/8, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel, Note
pour Monsieur le Président, Maurice Faure et le Comité Spaak, 15. November 1984.
286 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

seine bundesdeutschen Gesprächspartner sich nicht nur auf eine geheime bila-
terale deutsch-französische Abstimmung konzentrierten. Vielmehr sollten davon
weitere bilaterale Kontakte deutscher und französischer Vertreter mit Ge-
sprächspartnern anderer Mitgliedstaaten wie zum Beispiel Belgien und den Nie-
derlanden ausgehen. Unterhalb der Ebene des eigens für diese Fragen geschaf-
fenen Ausschusses dienten also bilaterale Konsultationen auf Beraterebene einer
Harmonisierung der verschiedenen Vorstellungen. Sie sollten es den deutsch-
französischen Repräsentanten erleichtern, ihre Überschneidungspunkte durch-
zusetzen, die dann möglichst in den Zwischenbericht des Dooge-Ausschusses für
die Staats- und Regierungschefs eingehen sollten. Außerdem wurde erwogen, im
Januar 1985 eine gemeinsame deutsch-französische Initiative für den Europäi-
schen Rat im März 1985 zu erarbeiten.¹³⁸
Tatsächlich wurde die Abstimmung des Dooge-Berichts vom März auf das
Mailänder Ratstreffen am 28. und 29. Juni 1985 vertragt. Dafür fanden auf Berater-
Ebene vorbereitende deutsch-französisch-italienische Gespräche statt, die vor
den anderen Mitgliedstaaten streng geheim gehalten werden sollten. Auf diese
Weise versuchte die italienische Ratspräsidentschaft durch „ein abgestimmtes
Vorgehen mit dem Tandem D[eutschland] und F[rankreich]“¹³⁹ den Erfolg des
europäischen Gipfels sicherzustellen. Die Briten sollten „wegen ihrer abwei-
chenden Interessenlage“ bewusst aus diesen Konsultationen herausgehalten
werden.¹⁴⁰
Die Aushandlungsprozesse über verschiedene Vorschläge zur künftigen in-
stitutionellen Ausgestaltung der Europäischen Gemeinschaft um den Gipfel in
Mailand sollen hier nicht im Detail dargestellt werden.¹⁴¹ Durch die Beispiele
sollte das Augenmerk vor allem auf zwei Punkte gelegt werden: Zum einen wurde
die Arbeit der Experten im Ausschuss der europäischen Außenminister und
Staats- und Regierungschefs durch ein engmaschiges bi- und multilaterales
Konsultationsnetz ergänzt. Diese Arbeitspraktiken, die einen Harmonisierungs-
versuch der unterschiedlichen Positionen darstellten, sollten Erfolg generieren,
wenn die ausgearbeiteten Vorschläge zur Abstimmung gestellt wurden. Gleich-

 AN, AG/5(4)/PM/8, Schéma de réflexion franco-allemand, Anhang zu Présidence de la


République, Le Conseiller technique, Pierre Morel, Note pour le Président de la République,
Comité Spaak: Schéma de réflexion franco-allemand, 20. September 1984.
 Ministerialdirigent Trumpf, z. Z. Rom an Staatssekretär Ruhfus, 7. Juni 1985. In: AAPD 1985,
Dok. 151, S. 790.
 Ministerialdirigent Trumpf, z. Z. Rom an Staatssekretär Ruhfus, 7. Juni 1985. In: AAPD 1985,
Dok. 151, S. 793.
 Siehe dafür: Loth, Europas Einigung, S. 261– 269; Védrine, Mondes, S. 395 f.; Dumas, Affaires
étrangères, S. 291– 296.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 287

zeitig war aber nicht ausgeschlossen, dass eben diese Arbeitspraktiken einen
gegenteiligen Effekt verursachten, wie es beim Europäischen Ratstreffen in Mai-
land der Fall war: Ein durch Mitterrand und Kohl vorgelegter Vertragsentwurf über
eine Europäische Union sorgte insbesondere bei den Benelux-Staaten für Miss-
trauen, weil er einen Akzent auf die intergouvernementale Methode legte, und
wurde letztlich nur mit Mühe angenommen.¹⁴²
Zum anderen zeigt sich, wie wichtig die Faktoren Persönlichkeit und Ver-
trautheit für das Fortkommen im europäischen Integrationsprozess waren. Die
Ernennung von Maurice Faure als französischer Repräsentant im Dooge-Aus-
schuss muss im Kontext der équipe Mitterrand verstanden werden.¹⁴³ Wie Hubert
Védrine bezeugt, verstanden sich Mitterrand und Faure sehr gut und teilten die
gleiche Vision von Europa.¹⁴⁴ Dies mag auch daran liegen, dass Faure (Jahrgang
1922) eine ähnliche politische Sozialisation erfuhr wie François Mitterrand. Ein
anderes Beispiel bieten in dem Zusammenhang die Beziehungen zwischen Hans-
Dietrich Genscher und Roland Dumas. Durch eine enge Zusammenarbeit und
Konzentration auf „das Machbare“¹⁴⁵ trugen sie mit der Unterstützung von Jac-
ques Delors dazu bei, dass bei dem Europäischen Ratstreffen in Luxemburg am 2.
und 3. Dezember 1985 die Übereinkunft erreicht wurde, den Römischen Verträgen
eine Einheitliche Europäische Akte hinzuzufügen. Die Maßnahmen zur wirt-
schaftlichen Liberalisierung (gemeinsamer Binnenmarkt, freier Verkehr von Wa-
ren, Personen und Kapital) sollten durch die Stärkung der Institutionen und ein
politisches Europa ausbalanciert werden.¹⁴⁶ Persönliche Vertrautheit war neben
anderen Faktoren konstitutiv für die Einigung über den Kompromiss der Euro-
päischen Akte, die „nach Jahren der Stagnation eine weitgehende Verwirklichung
des Binnenmarktes ermöglichen und damit auch eine neue Dynamik in den an-
deren Integrationsbereichen“¹⁴⁷ begünstigen sollte.
Der Bedeutung der Faktoren Persönlichkeit und Vertrautheit für seine Euro-
papolitik war sich François Mitterrand durchaus bewusst. Die bereits im voran-
gegangenen Teilkapitel thematisierte Cohabitation wirkte sich auch auf die fran-
zösische Europapolitik aus. Im Herbst 1985 ernannte Mitterrand seine Beraterin
Elisabeth Guigou zur Secrétaire générale du Comité interministériel pour les
questions communautaires. ¹⁴⁸ Dieser dem Premier Minister zugeordnete Posten

 Siehe dafür: Loth, Europas Einigung, S. 262; Dumas, Affaires étrangères, S. 293.
 Vgl. Kapitel 1.
 Védrine, Mondes, S. 394.
 Loth, Europas Einigung, S. 265.
 Vgl. Loth, Europas Einigung, S. 265 – 267.
 Loth, Europas Einigung, S. 269.
 Guigou, Femme, S. 62.
288 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

besaß einen großen Einfluss auf die Definition der Europapolitik, da im Ratsse-
kretariat die europäischen Ministerratstreffen vorbereitet wurden. Auf diese Weise
stellte Mitterrand im Hinblick auf die legislativen Wahlen 1986 sicher, dass der
Posten im Falle einer konservativen Regierungsmehrheit nicht mit einem Berater
des Premierministers besetzt und er nach wie vor Zugang zu Informationen und
Einfluss auf die Definition der französischen Europapolitik besitzen würde. Zu-
gleich behielt Guigou ihren Status als Beraterin des Präsidenten.¹⁴⁹ Einer ähnli-
chen Motivation folgte wohl auch die Wahl von Roland Dumas zum Präsidenten
der Kommission für Außenpolitik in der Assemblée Nationale im Oktober 1986,
die ihn zu einem „interlocuteur obligé de mon successeur au Quai d’Orsay“¹⁵⁰
machte. So erhielt Mitterrand durch die persönliche Verbindung zu Dumas wei-
terhin einen Überblick über die internationalen Beziehungen als Grundlage für
außenpolitische Entscheidungen. Diesen versuchte die konservative Regierung
unter anderem nämlich zu verstellen, indem die Übermittlung von Noten aus dem
Außenministerium an den Elysée in hohem Maße eingeschränkt wurde. Neben
diesen zwei zentralen Motiven – Informationsgewinnung und Wahrung von
Einfluss – kam wohl noch ein drittes Anliegen hinzu: Es sollte vermieden werden,
dass Frankreich offiziell mit zwei Stimmen sprach und dadurch die Erwartungen
der europäischen Partner irritierte. Mit der Wahrung eines höchstmöglichen
Maßes an Kontinuität in der französischen Außenpolitik sollte das Vertrauen auf
europäischer Ebene gewahrt bleiben. Diese Annahme lässt sich auch dadurch
belegen, dass Mitterrand dem konservativen Premierminister Jacques Chirac ei-
nen eigenen Sitz bei den europäischen Ratstreffen verweigerte. Chirac versuchte
das Amt des Premierministers zu nutzen, um sich in Hinblick auf die Präsident-
schaftswahlen 1988 international zu profilieren. Freilich wirkte auch hier für
Mitterrand das Motiv sehr stark, den Einfluss seines erwarteten Kontrahenten
1988 zu beschränken. Darüber hinaus jedoch hatte er in seinen ersten Amtsjahren
die Erfahrung gemacht, wie hinderlich Misstrauen zwischen europäischen Mit-
gliedstaaten für ein Fortkommen im europäischen Integrationsprozess war. Daher
war es für ihn ausgeschlossen, entgegen der allgemeinen Regel das Recht auf
einen dritten Sitz einzufordern, während alle anderen sich mit zwei begnügen
müssten.¹⁵¹
Diese drei Motive dürfen nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Wenn
beispielsweise Hans-Dietrich Genscher und Roland Dumas ihre engen Bezie-
hungen der Vorjahre in inoffiziellen Kontakten fortsetzten und Genscher seinen

 Guigou, Femme, S. 62; Védrine, Mondes, S. 398 f.


 Dumas, Affaires étrangères, S. 326.
 Dumas, Affaires étrangères, S. 326 – 330.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 289

ehemaligen französischen Amtskollegen über Kontakte und den Meinungsaus-


tausch zwischen Chirac und Kohl auf dem Laufenden hielt, erfuhr Mitterrand über
diesen Kommunikationsweg von Vorschlägen des Premiers, die dieser nicht mit
dem Präsidenten abgesprochen hatte.¹⁵² Für Historiker stellt diese Form der in-
offiziellen Kommunikation oftmals eine Herausforderung dar. Gespräche öffent-
licher Funktionsträger wie Berater oder Diplomaten lassen sich über Regie-
rungsdokumente durchaus rekonstruieren. Bei Kontakten auf nicht offizieller,
vielmehr privater und freundschaftlicher Basis ist man dagegen in der Regel auf
persönliche Aufzeichnungen der Akteure angewiesen. Hubert Védrine bezeugt,
dass die Beziehungen auf der Beraterebene von Elysée und Kanzleramt in den
Jahren zwischen 1984 und 1988 „quotidienne, confiante, organique“¹⁵³ wurden.
Die Erkenntnis, dass Vertrauensbildung auf unterschiedlichen politischen Ni-
veaus stattfand, erhielt während der Phase der Cohabitation eine Konkurrenzdi-
mension. Im Vorfeld des deutsch-französischen Gipfels im November 1987 und
dem anstehenden europäischen Ratstreffen in Kopenhagen, wies Elisabeth Gui-
gou auf eine Annäherung der Berater in Matignon und Kanzleramt hin und schlug
Mitterrand vor, bei dem nächsten Gipfel auch auf eine Annäherung der Berater
von Elysée und Kanzleramt zu dringen. Als Chirac und Kohl sich scheinbar darauf
verständigten, ihre Positionen einander anzunähern, sah Guigou dringenden
Handlungsbedarf, um einen Alleingang von Kohl und Chirac zu verhindern. Sie
empfahl, den Bundeskanzler daran zu erinnern, dass eine gemeinsame deutsch-
französische Position für das Europäische Ratstreffen in Kopenhagen auf dem
nächsten deutsch-französischen Gipfel am 12. und 13. November definiert wer-
de.¹⁵⁴
Die Verlagerung der außenpolitischen Kommunikation auf inoffizielle Kon-
takte und auf die Beraterebene war notwendig für außenpolitische Entschei-
dungsprozesse, die durch hinreichende Informationen fundiert sein mussten. Sie
erleichterten es Mitterrand zudem, die Definitionshoheit der Außen- und Si-
cherheitspolitik zu verteidigen und die Kontinuität im außenpolitischen Kurs als
Basis von Vertrautheit und damit Vertrauen gegenüber der französischen Diplo-
matie zu bewahren. In vollem Umfang konnte dieser Anspruch jedoch nicht er-
reicht werden, wie die Analysen der französischen Reaktionen während des Ab-
rüstungsprozesses gezeigt haben. Einige deutsche Gesprächspartner versuchten,
die französische Zweistimmigkeit in den Jahren 1986 – 1988 teilweise auszunut-
zen, um der französischen Seite Konzessionen abzuringen, zu denen der Präsi-

 Siehe Dumas, Affaires étrangères, S. 337– 339.


 Védrine, Mondes, S. 407.
 AN, AG/5(4)/CD/186, Présidence de la République, Elisabeth Guigou, Note pour le Président
de la République, Votre voyage en Allemagne. Conseil de Copenhague, 17. Oktober 1987.
290 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

dent nicht bereit war. Bevor darauf jedoch näher eingegangen werden kann, soll
zunächst ein Fokus auf die eingangs erwähnten Ursachen gelegt werden, die die
Aufmerksamkeit auf Fragen der Sicherheit, Verteidigung und Technologie ver-
schoben.
Als am 26. März über Caspar Weinberger das Angebot an die europäischen
Alliierten erging, sich an den Forschungen zu SDI zu beteiligen, war die équipe
Mitterrand bereits intensiv mit den Vorbereitungen eines europäischen Äquiva-
lents beschäftigt, um die europäischen Kräfte zu bündeln, anstatt sie in den
Dienst der USA zu stellen. Das Bewusstsein für technologischen Rückstand und
das Bedürfnis nach Hochtechnologie für die Modernisierung der Gesellschaft war
bei der sozialistischen Regierungsmannschaft nicht erst mit Reagans Rede vom
23. März 1983 gereift.¹⁵⁵ Im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft wurden ab
1983 auch eine Reihe industrieller Kooperationsprogramme entwickelt.¹⁵⁶ Hinter
den Initiativen stand die Intention, Frankreich und Europa im Bereich der Tech-
nologie und darüber auch die europäische Industrie wettbewerbsfähig zu ma-
chen. Dieses Bedürfnis wurde durch Reagans Ankündigung von SDI akzentuiert,
denn selbst ungeachtet der sicherheitspolitischen Effekte, die sich möglicher-
weise überhaupt nicht realisieren ließen, erkannte Jacques Attali, dass die USA in
der technologischen Entwicklung dadurch einen ungeheuren Sprung machen
würden. Als Attali bei dem vorbereitenden Treffen für den Bonner G7-Gipfel vom
15. bis 17. Februar 1984 bewusst wurde, dass die amerikanische Administration
diesen Gipfel dazu nutzen wollte, eine einhellige Unterstützung der Alliierten für
SDI medial zu inszenieren, sah er dringenden Handlungsbedarf und unternahm
eine Initiative gegenüber dem Präsidenten. Nach dessen Zustimmung konstitu-
ierte sich eine „équipe improvis铹⁵⁷, durch die innerhalb kürzester Zeit das
spätere EUREKA-Programm entwickelt wurde.¹⁵⁸
Interessant ist, dass das amerikanische SDI-Programm in den internen Pa-
pieren des Elysée vom Frühjahr 1985 nicht ausschließlich aus sicherheitspoliti-
schen Erwägungen abgelehnt wurde. Zwar fürchtete Hubert Védrine schon, dass
eine französische Beteiligung die Grundpfeiler ihrer eigenen Sicherheitsdoktrin
zu unterlaufen drohte. Die équipe Mitterrand sah jedoch den technologischen
Bereich auch als Möglichkeit, eine Emanzipation der Europäer voranzubringen.
Als gewissermaßen aus der Not der Stunde geborene Initiative hofften Mitterrand

 Vgl. dazu Kapitel 3.


 Die Kooperationsprogramme liefen unter den Abkürzungen BRITE, RACE, ESPRIT, JET; siehe
dafür: Chaput, France, S. 201.
 Dazu zählten Jacques Attali, Hubert Védrine, General Jean Saulnier, Jean-Louis Bianco, Jean-
Daniel Lévi, Pierre Morel, Yves Stourdzé; siehe dafür: Chaput, France, S. 201.
 Vgl. Chaput, France, S. 192– 201.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 291

und seine Berater durch EUREKA eine europäische Alternative zum Angebot der
amerikanischen Administration anbieten zu können, um der europäischen Ko-
operation mit der Technologie einen neuen Bereich zu eröffnen. Aus der Vor-
stellung heraus, dass die technologische Kooperation konstitutiv für die Stärkung
einer europäischen Identität sein würde, wurde das Angebot der Amerikaner auch
nicht auf eine technologische Notwendigkeit, sondern vielmehr auf diplomati-
sche Hintergedanken zurückgeführt. Zudem bezweifelte Védrine, dass französi-
sche Unternehmen tatsächlich auch einen Nutzen von der entwickelten Techno-
logie haben würden, was letztlich dem französischen Bedürfnis entgegenstand,
über eine Zusammenarbeit in der Forschung die Modernisierung der französi-
schen und europäischen Industrie und Gesellschaft zu unterstützen.¹⁵⁹
In diesem Zusammenhang sind die vorherigen Ausführungen für zwei Be-
obachtungen von zentraler Bedeutung: Erstens stellte das amerikanische Ko-
operationsangebot eine Initialzündung für bilaterale und multilaterale Abstim-
mungsversuche der europäischen Verbündeten über SDI dar. Dabei wird die
Intention der équipe Mitterrand offenkundig, eine gemeinsame europäische
Antwort respektive Ablehnung des amerikanischen Kooperationsangebots zu
entwickeln und stattdessen alle Potentiale auf europäische Projekte zu konzen-
trieren. Zweitens wird die These aufgestellt, dass aus den Verhandlungen um die
technologische Zusammenarbeit und Weltraumpolitik eine engere deutsch-fran-
zösische Zusammenarbeit in Fragen der Sicherheit und Verteidigung erwuchs.
Eine Dynamisierung der bilateralen Kooperation lässt sich daher ebenfalls auf das
amerikanische Angebot zurückführen. Schon bevor den europäischen Alliierten
eine Zusammenarbeit bei SDI angeboten wurde, war das Forschungsprogramm
Gegenstand deutsch-französischer Abstimmungen. In ihren Analysen kamen die
deutschen und französischen Außen- und Verteidigungsminister zu dem Schluss,
dass die europäischen Interessen in dieser Frage und in Zusammenhang mit der
technologischen Herausforderung nur gemeinsam gewahrt bleiben könnten.
Deswegen plädierten sie für eine „begrenzte Abstimmung mit den USA“ sowie
eine „Harmonisierung zwischen den europäischen Partnern und ihren Industri-
en“.¹⁶⁰ Europäische Anstrengungen sollten sich darauf richten, „den europäi-
schen Einfluss gebündelt zur Geltung zu bringen.“¹⁶¹ Strategisch inszenierte Ro-
land Dumas die Entscheidung über das amerikanische Angebot, als stünde die

 AN, AG/5(4)/EG/71, Hubert Védrine, Note, Initiative de Défense Stratégique, April 1985.
 Ministerialdirektor Pfeffer, z. Z. Paris an das Auswärtige Amt, 28. Februar 1985. In: AAPD
1985, Dok. 53, S. 289.
 Ministerialdirektor Pfeffer, z. Z. Paris an das Auswärtige Amt, 28. Februar 1985. In: AAPD
1985, Dok. 53, S. 290.
292 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

europäische Eigenständigkeit damit unwiderruflich auf dem Spiel: Es drohe eine


„vollständige Abhängigkeit von den USA“ und nehme den Europäern jede
„Möglichkeit zur Selbstbehauptung gegenüber der Sowjetunion“.¹⁶² Damit be-
diente sich der französische Außenminister eines bedrohlichen Zukunftsszena-
rios. Die von den französischen Gesprächspartnern favorisierte Alternative einer
Bündelung des europäischen Potentials erschien demgegenüber alternativlos.
Zwar hatten Mitterrands Berater das offizielle Angebot der amerikanischen Ad-
ministration bereits erwartet, da General James Alan Abrahamson, der Direktor
des SDI-Forschungsprogramms, Gesandte nach Paris und in andere europäischen
Hauptstädte und zu Rüstungsunternehmen geschickt hatte.¹⁶³ Zu diesem Zeit-
punkt drohte es aber die Pläne der équipe Mitterrand zu unterlaufen, die hinter
den französischen und europäischen Forschungsbemühungen seit 1981 standen,
da das amerikanische Angebot in der französischen Industrie durchaus auf In-
teresse stieß.¹⁶⁴ Damit setzte es die équipe Mitterrand unter Zugzwang.
In einem Gespräch am 23. März 1985 drängte General Jean Saulnier den
deutschen Botschafter mehrfach dazu, „daß die Europäer nun gezwungenerma-
ßen eine Einstellung zu der SDI-Initiative finden müßten.“¹⁶⁵ Mit einer Reihe von
Fragen und Begriffen wie beispielsweise „Büchse der Pandora“ schuf er rheto-
risch einen Moment höchster Ungewissheit. Dem amerikanischen Präsidenten
unterstellte er indirekt durch „einen so spektakulären Schritt auf einem so
überaus sensiblen Terrain ohne jede Konsultation der Verbündeten“ (gemeint war
Reagans Rede vom 23. März 1983) die Welt dem schier nicht zu bewältigenden
Risiko höchster Kontingenz auszusetzen. Zwei Fliegen schlug Saulnier sprich-
wörtlich mit einer Klappe, denn der vermeintlich verantwortungslose Präsident
erschien so obendrein als Ignorant europäischer Interessen, der seine Alliierten
nicht auf Augenhöhe behandelte. Damit vollzog Saulnier gleichzeitig eine
Transformation der Unsicherheit, die er nicht mehr durch das Verhalten der
Amerikaner ausgelöst, sondern vielmehr im unmöglich zu kalkulierenden Ver-
halten der Amerikaner selbst angelegt sah: Die Intentionen in Washington seien
völlig unklar, Pentagon und Weißes Haus überdies gespalten, Antworten von
Abrahamson auf unzählige, unbeantwortete Fragen „vage und unbefriedi-

 Ministerialdirektor Pfeffer, z. Z. Paris an das Auswärtige Amt, 28. Februar 1985. In: AAPD
1985, Dok. 53, S. 290.
 Védrine, Mondes, S. 362; Chaput, France, S. 199.
 Botschafter Schoeller, Paris, an das Auswärtige Amt, 25. März 1985. In: AAPD 1985, Dok. 80,
S. 426.
 Botschafter Schoeller, Paris, an das Auswärtige Amt, 25. März 1985. In: AAPD 1985, Dok. 80,
S. 426.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 293

gend“.¹⁶⁶ Das konstruierte Bild verantwortungsloser, unberechenbarer Akteure in


Washington, die sich um eine partnerschaftliche Behandlung ihrer Verbündeten
nicht scherten, liest sich als Appell, mit dem Mitterrands Militärberater den
Handlungsdruck auf die Bundesregierung erhöhen wollte. Der deutsche Bot-
schafter durchschaute dessen Absichten, „unverzü glich in einen engen Gedan-
kenaustausch mit uns einzutreten und gemeinsam an einer europä ischen Antwort
auf die neue Situation zu arbeiten“¹⁶⁷.
Im Kreis der Westeuropäischen Union fanden bei der Ministerratstagung am
22. und 23. April 1985 Beratungen zu SDI und den damit verbundenen Heraus-
forderungen statt. Nachdem Mitterrand am 25. März 1985 bereits die Unterstüt-
zung von Helmut Kohl für EUREKA eingeholt hatte und es Dumas auch schnell
gelungen war, seinen bundesdeutschen Amtskollegen zu überzeugen,¹⁶⁸ stellte
der französische Außenminister den Entwurf bei der Ministerratstagung der WEU
vor. Schnell stellte sich die Frage, welcher institutionelle Rahmen adäquat für
Überlegungen einer europäischen Technologiegemeinschaft sein könnte. Bei dem
Treffen verständigten sich die Teilnehmer darauf, dass grundsätzlich ein Interesse
an einer koordinierten Reaktion auf das amerikanische Angebot bestand, dafür
jedoch zunächst eine jeweils eigene Position festgelegt werden müsse. Deshalb
sollten Delegationen zu bilateralen Gesprächen nach Washington entsendet
werden, über die im Anschluss daran ein Austausch zwischen den europäischen
Partnern stattfinden sollte. Ziel dieser nationalen, bi- wie multilateralen Bemü-
hungen sollte eine Koordinierung der Europäer sein – explizit wurde betont, dass
dies nicht mit einer kollektiven Antwort der Europäer zu verwechseln sei.¹⁶⁹
Der bundesdeutsche Außenminister Genscher legte bei der Sitzung aus-
drücklich Wert darauf, dass das Treffen nicht als eine Art Gegenpol zu den Ge-
sprächen mit den Amerikanern verstanden werden könnte, um nicht der unter-
stellten sowjetischen Strategie in die Karten zu spielen.¹⁷⁰ Schwerer wog wohl
noch das Motiv, kein Misstrauen in der amerikanischen Administration auf sich zu
ziehen. Das amerikanische Kooperationsangebot brachte die deutsche Bundes-
regierung nämlich in einen Zweispalt zwischen amerikanischen Alliierten und

 Botschafter Schoeller, Paris, an das Auswärtige Amt, 25. März 1985. In: AAPD 1985, Dok. 80,
S. 427.
 Botschafter Schoeller, Paris, an das Auswärtige Amt, 25. März 1985. In: AAPD 1985, Dok. 80,
S. 428.
 Chaput, France, S. 207.
 Aufzeichnungen des Ministerialdirektors Pfeffer, 24. April 1985. In: AAPD 1985, Dok. 98,
S. 515.
 Aufzeichnungen des Ministerialdirektors Pfeffer, 24. April 1985. In: AAPD 1985, Dok. 98,
S. 512.
294 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

französischem Partner – keinen von beiden wollte Helmut Kohl brüskieren. Oh-
nehin hatte SDI in der Bundesrepublik seit 1983 zu einer Polarisierung der si-
cherheitspolitischen Debatte beigetragen.¹⁷¹ Als Mitterrand bei dem G7-Treffen in
Bonn vom 2. bis 4. Mai 1985 eine französische Beteiligung an SDI ausschloss,¹⁷²
verzichtete Kohl darauf, dem französischen Präsidenten in seiner Ablehnung
beizuspringen, um nicht in einen diplomatischen Gegensatz zu den USA zu ge-
raten. Zwar war zu diesem Zeitpunkt in Bonn hinsichtlich des Beteiligungsan-
gebotes noch keine Entscheidung gefallen; allerdings versuchte der Bundes-
kanzler sich einer bindenden Entscheidung zwischen SDI und EUREKA zu
entziehen.¹⁷³ Nach dieser Erfahrung begann die équipe Mitterrand auf verschie-
denen politischen Niveaus, den Druck auf die bundesdeutschen Partner zu er-
höhen. Während die Bemühungen unter anderem von Saulnier zuvor darauf ge-
richtet waren, überhaupt eine Abstimmung der europäischen Positionen zu SDI
zu erwirken, ging es dem Präsidenten und seinen Beratern nun darum, die
Bundesregierung von der Idee einer Beteiligung an SDI abzubringen und dem-
gegenüber einer europäischen Kooperation Priorität einzuräumen. Am 22. Mai
legte der französische Präsident Hans-Dietrich Genscher gegenüber dar, dass er
von der Seriosität des amerikanischen Angebotes zur Zusammenarbeit bei SDI
nicht überzeugt war. Bemerkenswert an seiner Charakterisierung des amerika-
nisch-europäischen Verhältnisses als eines zwischen „Kolonisator[]“ und „Kolo-
nialisierten“¹⁷⁴ ist weniger der „anti-amerikanische […] Tonfall“¹⁷⁵. Vielmehr noch
übersetzte es Mitterrands Erfahrungen der von ihm als asymmetrisch wahrge-
nommenen Beziehungen in plastische Sprache.
Da sich die Zusammenarbeit zwischen deutscher und französischer Wirt-
schaft schwierig gestaltete, sollte eine deutsch-französische Arbeitsgruppe aus
jeweils zwei Industriellen, Bankiers und Technologieexperten gegründet wer-
den.¹⁷⁶ Die Zurückhaltung der deutschen Wirtschaft begründete Genscher ge-
genüber Dumas mit den Unterschieden der beiden Wirtschaftssysteme; das
deutsche stünde dem amerikanischen näher als dem französischen. Dies sei auch
der Grund für die Schwierigkeiten bei der rüstungspolitischen Zusammenarbeit.

 Vgl. Chaput, France, S. 208 f.


 Chaput, France, S. 181 f.; Dumas, Affaires étrangères, S. 244; Attali, Verbatim 1981– 1986,
2. Mai 1985, S. 958.
 Lappenküper, Mitterrand und Deutschland, S. 215.
 Botschafter Schoeller, Paris, an das Auswärtige Amt, 24. Mai 1985. In: AAPD 1985, Dok. 136,
S. 699.
 Lappenküper, Mitterrand und Deutschland, S. 216.
 Botschafter Schoeller, Paris, an das Auswärtige Amt, 24. Mai 1985. In: AAPD 1985, Dok. 136,
S. 697.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 295

Auf Seiten der Bundesregierung standen also unter anderem Misstrauen gegen-
über dem französischen Wirtschaftspotential einer Selbstverpflichtung im Weg.
Dumas versuchte diese „unbegründete[n] Vorbehalte in deutschen Wirtschafts-
kreisen“ auszuräumen, indem er den Spieß umdrehte und stattdessen die deut-
sche Bereitschaft zur Kooperation infrage stellte.¹⁷⁷ Die Bundesregierung ließ sich
dadurch nicht zu einer schnellen Entscheidung nötigen; Ende Mai herrschte in
Bonn noch keine Klarheit darüber, wie eine Beteiligung an SDI konkret aussehen
könnte. Im Zentrum stand vor allem die Frage, ob man im Falle einer Beteiligung
auch von dem Ertrag der Forschung profitieren würde. Die Bundesregierung hegte
die Vorstellungen, einer gleichberechtigten Partnerschaft und Zusammenarbeit
„zum gegenseitigen Nutzen“¹⁷⁸. Mitterrand nutzte dies, um noch einmal Zweifel
an den amerikanischen Absichten zu sähen: Es bestünde keinerlei Klarheit dar-
über, wie die USA sich eine Beteiligung der Europäer vorstellten. Er habe „kein
Interesse an einer reinen Weitergabe der Technologie“¹⁷⁹. Aus seinem Gespräch
mit dem Bundeskanzler lässt sich Mitterrands Intention herausarbeiten, die hinter
dem EUREKA Programm und seiner Ablehnung stand, auf das amerikanische
Angebot einzugehen:

Man müsse die USA in eine Demandeur-Position bringen. Sie müßten Interesse an der Zu-
sammenarbeit zeigen. Die mangelnde Präzision des Verlangens von Präsident Reagan sei der
Beziehungen zwischen den USA und Europa unwürdig.¹⁸⁰

Die Bemühungen von Mitterrand und seiner équipe, eine europäische Zusam-
menarbeit in der Technologie zu erreichen, die europäische Industrie zu moder-
nisieren und wettbewerbsfähig zu machen, richteten sich letztlich auf eine
Emanzipation der Europäer von den USA und damit insgesamt auf eine Neuver-
handlung der transatlantischen Beziehungen. Aus diesem Grund war es ihm auch
so wichtig, dass die Bundesregierung auf Reagans Kooperationsangebot nicht
eingehen würde. Mit seiner bereits mehrfach analysierten Kommunikationsstra-
tegie der Empathie drückte er Verständnis für Kohls Haltung aus und versuchte
ihn davon zu überzeugen, das amerikanische Angebot auszuschlagen. Nach wie
vor widerstand Kohl den Versuchen der équipe Mitterrand, die es nunmehr über

 Botschafter Schoeller, Paris, an das Auswärtige Amt, 24. Mai 1985. In: AAPD 1985, Dok. 136,
S. 704.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Konstanz, 28. Mai
1985. In: AAPD 1985, Dok. 137, S. 706.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Konstanz, 28. Mai
1985. In: AAPD 1985, Dok. 137, S. 710.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Konstanz, 28. Mai
1985. In: AAPD 1985, Dok. 137, S. 710.
296 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

verschiedene Kommunikationskanäle sowohl mit Druck als auch Empathie und


rationalen Erwägungen versucht hatte. Stattdessen wich der Bundeskanzler
weiter aus, machte aber klar, dass er keinesfalls in Form einer direkten Ablehnung
antworten, sondern vielmehr konkretere Informationen zu einer Beteiligung
einholen werde.¹⁸¹
Während die institutionelle Ausgestaltung von EUREKA in Form eines Se-
kretariats und einer Assoziierung anstatt Eingliederung in die EG Gestalt an-
nahm,¹⁸² offenbarte Horst Teltschik Jacques Attali und Elisabeth Guigou am
20. September 1985, dass die deutsche Industrie eine Zusammenarbeit bei SDI nur
im Rahmen eines Regierungsabkommens mit den USA unternehmen werde.¹⁸³
Dies entsprach wohl nicht den Hoffnungen der équipe Mitterrand, die ihrerseits
kein staatliches Abkommen schloss, französischen Firmen Kontakte zu ameri-
kanischen aber auch schwer untersagen konnte, sofern es sich nicht um ver-
staatlichte Unternehmen handelte.¹⁸⁴ Insofern hatte das amerikanische Angebot
zwar eine Intensivierung der bilateralen, deutsch-französischen Gespräche auf
unterschiedlichen Ebenen angestoßen, die gleichzeitig auch als eine Vorabstim-
mung multilateraler europäischer Diskussionen beispielsweise im Rahmen der
WEU dienen sollten.¹⁸⁵ Bei dem Thema SDI hatte bis zum Herbst 1985 allerdings
keine der eingesetzten Strategien der équipe Mitterrand den erwünschten Erfolg
eingebracht, dass sich die Bundesregierung einseitig zu EUREKA bekannte und
sich von SDI distanzierte.
Dies leitet über zu der These, dass das amerikanische Kooperationsangebot
vom März 1985 letztlich einen Prozess intensivierter deutsch-französischer Zu-
sammenarbeit in Fragen von Sicherheit und Verteidigung in Gang setzte. Die
équipe Mitterrand versuchte mit ihren europäischen Lösungen keineswegs nur zu
verhindern, dass die Europäer sich bei der technologischen Modernisierung in

 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Konstanz, 28. Mai
1985. In: AAPD 1985, Dok. 137, S. 710 f.
 Die technologische Zusammenarbeit im EUREKA-Programm sollte nicht durch die EG er-
folgen, sondern zwar mit der EG verbunden aber auch für Mitglieder außerhalb der EG offen sein;
vgl. zu diesen Überlegungen: Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand
in Konstanz, 28. Mai 1985. In: AAPD 1985, Dok. 137, S. 707; Ministerialdirigent Trumpf, z. Z. Rom an
Staatssekretär Ruhfus, 7. Juni 1985. In: AAPD 1985, Dok. 151, S. 793.
 Gespräch des Ministerialdirektors Teltschik, Bundeskanzleramt, mit dem Sonderberater des
französischen Präsidenten, Attali, 27. September 1985. In: AAPD 1985, Dok. 260, S. 1337.
 Gespräch der Bundesminister Genscher und Wörner mit dem französischen Außenminister
Dumas und Verteidigungsminister Quilès, 7. November 1985. In: AAPD 1985, Dok. 305, S. 1580.
 AN, AG/5(4)/EG/71, MRE, TD Bonn 1159, Entretien avec le Directeur Politique: IDS, 19. Juni
1985; Aufzeichnung des Ministerialdirektors Edler von Braunmühl, 18. Dezember 1985. In: AAPD
1985, Dok. 349, S. 1849 f.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 297

neue Abhängigkeitsverhältnisse zu den USA begaben. Wie bereits deutlich wurde,


stellte das amerikanische SDI-Programm auch die französische Abschreckungs-
doktrin infrage.¹⁸⁶ Da die technologische Entwicklung offenbar in naher Zukunft
die Installation von Raketenabwehrsystemen ermöglichte, konnte ein Gegner
nicht mehr durch die Erwartung eines massiven Gegenschlags von einem Angriff
auf Frankreich abgeschreckt werden. Die französische Strategie hatte sich aber
auf die Prävention eines Angriffs konzentriert und war daher nicht in der Lage
einen massiven Angriff abzuwehren. Die einzige Möglichkeit dieses Defizit aus-
zugleichen bestand darin, ebenfalls ein Frühwarn- und Abwehrsystem zu ent-
wickeln. Eine Beteiligung an SDI war für Mitterrand folglich nicht nur aus
Gründen einer unabhängigen, europäischen, technologischen Entwicklung aus-
geschlossen. Eine strategische Beteiligung an einem amerikanischen Raketen-
abwehrsystem kam für ihn einer Reintegration in die NATO gleich. Unter keinen
Umständen wollte er seine Unabhängigkeit bei der Verteidigung Frankreichs
preisgeben und bei der Abwehr eines Angriffs auf die Entscheidung der Ameri-
kaner angewiesen sein.¹⁸⁷ Daher suchte er in der Bundesregierung einen Koope-
rationspartner, um ein von den Amerikanern unabhängiges System zu entwi-
ckeln, einen Angriff abzuwehren; und aus eben diesem Grund war es der équipe
Mitterrand auch so wichtig, dass sich die deutschen Partner nicht auf das ame-
rikanische Kooperationsangebot einlassen würden. Helmut Kohl war zu Beginn
1986 selbst auch daran interessiert eine, wie er es nannte, „europäische Kom-
ponente“ von SDI zu entwickeln, weil das amerikanische System keine Mittel- und
Kurzstreckensysteme berücksichtige – was die amerikanische Nukleargarantie für
Europa unterlief. Er beharrte allerdings darauf, dass ein europäisches System nur
komplementär und nicht im Gegensatz zu SDI bestehen könne.¹⁸⁸
Um der Bundesregierung eine Zustimmung zu einer deutsch-französischen
Kooperation in der Weltraumpolitik abzuringen, wurden ab Mitte 1985 Überle-
gungen dazu angestellt, wie man deutschen Bedürfnissen in der Verteidigung
besser entgegenkommen könnte. Zeitgleich mit den deutschen Diskussionen, wie
eine Beteiligung an den amerikanischen Forschungen zu SDI aussehen könnte,
wurde in der französischen Öffentlichkeit parteiübergreifend und unter der Be-
teiligung französischer Intellektueller diskutiert, in welcher Form Deutschland
stärker in der französischen Verteidigungsdoktrin berücksichtigt werden könnte.

 Siehe dafür auch Kapitel 3.


 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Baden Baden, 16. Ja-
nuar 1986. In: AAPD 1986, Dok. 10, S. 52.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Baden Baden, 16. Ja-
nuar 1986. In: AAPD 1986, Dok. 10, S. 52 f.
298 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

Durch die französische Regierung wurde diese Diskussion insofern aufgenom-


men, als Verteidigungsminister Charles Hernu am 20. Juni 1985 vor einem bun-
desdeutschen Publikum in Münsingen von gemeinsamen deutsch-französischen
Sicherheitsinteressen sprach. In dem Gespräch der Außen- und Verteidigungs-
minister betonte Hernu mit dem Ziel einer Solidaritätsbekundung, dass er bei der
Rede auch „bewusst eine Verbindung mit dem Begriff ‚vitale Interessen‘ [habe]
herstellen wollen.“¹⁸⁹ Zudem habe er Wörner nicht widersprochen, als dieser
darin eine Abkehr von der Vorstellung Deutschlands als Glacis zu erkennen
glaubte. Als demonstrativer Akt der Vertrauensbildung gab der Verteidigungs-
minister scheinbar, wenn auch eingeschränkte, Einblicke in Teile der französi-
schen Nuklearstrategie. Indem er auf den kleinen Personenkreis verwies, der
überhaupt zu solchen Informationen Zugang habe, wollte er sicherstellen, dass
seine Äußerungen von Wörner und Genscher auch als Vertrauensbeweis ver-
standen wurden. Roland Dumas trieb dies noch auf die Spitze, als er durch einige
Anspielungen suggerierte, Deutschland werde unter Umständen in die „vitalen
Interessen“ Frankreichs eingeschlossen. Eine konkrete Zusage war dies freilich
nicht, vielmehr eine bewusst diffuse Andeutung, durch die den deutschen Ge-
sprächspartnern die Illusion einer Alternative zur Abhängigkeit von den USA in
naher Zukunft angeboten werden sollte.¹⁹⁰
Manfred Wörner wollte die Gunst der Stunde nicht ungenutzt verstreichen
lassen und signalisierte Interesse, die Möglichkeiten und Grenzen der Verteidi-
gungs-Zusammenarbeit öffentlich festzulegen. Konkret drückte er die Hoffnung
aus, deutsch-französische Konsultationsvereinbarung im Falle eines Einsatzes
französischer taktischer Nuklearwaffen von oder auf deutschem Territorium ab-
schließen zu können. Zwar hielt Dumas an der klassischen Argumentation fest,
dass Absprachen im Bereich der taktischen Nuklearwaffen die Entscheidungs-
freiheit des Präsidenten auch im Bereich der strategischen Waffen einschränken
würden. Immerhin aber signalisierte er die Bereitschaft zu Gesprächen über diese
Frage auf höchster politischer Ebene. Die Kommunikation von Empathie und
Vertrauen als rhetorische Strategie von Dumas und Hernu wollte Genscher sei-
nerseits nicht unbeantwortet lassen und distanzierte sich von der Erwartung eines
Ersatzes für die amerikanische Nukleargarantie. Zudem warben Genscher und
Wörner für Vertrauen, indem sie die Absicht abstritten, durch die Beteiligung an

 Aufzeichnungen des Ministerialdirektors Edler von Braunmühl, 27. Juni 1985. In: AAPD 1985,
Dok. 171, S. 896 – 905, Zitat 897.
 Aufzeichnungen des Ministerialdirektors Edler von Braunmühl, 27. Juni 1985. In: AAPD 1985,
Dok. 171, S. 897f.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 299

SDI eine Entwertung der französischen Abschreckungsmacht bewirken zu wol-


len.¹⁹¹
Die Debatten über die französische Sicherheitspolitik und insbesondere die
Frage der Einbeziehungen französischer Nachbarn in den Schutz durch franzö-
sische Nuklearwaffen griffen im Sommer 1985 auch auf die deutsche Presse
über.¹⁹² Von französischen Politologen und Sicherheitsexperten ausgelöst hatte
die Debatte in Frankreich durch Positionspapiere politischer Parteien eine weitere
Akzentuierung erfahren. In dem Positionspapier der Parti socialiste wurde eine
eigenständige europäische Identität und Emanzipation von den USA angestrebt.
Der Ministerialdirigent im Auswärtigen Amt Hans Schauer las darin eine Ver-
schiebung der französischen Abschreckung vom ersten Kreis (Frankreich) auf den
zweiten (Westeuropa). Die nukleare Abschreckung stelle in dem Papier jedoch nur
das äußerste Mittel dar; der Fokus liege im konventionellen Bereich. Insgesamt
konstatierte Schauer mit Verweis auf die deutsch-französische Kooperation und
Konsultationen in Sicherheitsfragen bereits Zeichen „einer neuen Solidarität“¹⁹³.
Wenn es sich bei den Positionspapieren der Parteien auch nur um Beiträge zu der
diskursiven Debatte handelte, glaubte Schauer, dass diese bereits zunehmend
politische Berücksichtigung bei der Regierung fand. Die Rede von Hernu in
Münsingen führte er hier als Beleg an. Die deutsche Seite hoffte vor allem auf die
bisher nicht vorgesehene französische Beteiligung an Einsatzplanungen der
Vorwärtsverteidigung und zweitens auf eine Regelung von Konsultationsmög-
lichkeiten beim Einsatz französischer Nuklearwaffen.¹⁹⁴
Diese deutschen Erwartungen sind insofern für den Analysegegenstand von
Bedeutung, als sie offenbar von der équipe Mitterrand als Möglichkeit gesehen
wurden, durch ein Entgegenkommen in Verteidigungsfragen mehr Solidarität der
Bundesregierung in der Weltraumpolitik auszuhandeln. Bei dem deutsch-fran-
zösischen Gipfel in Bad Kreuznach am 29. Oktober 1984 hatte sie sich mit der
Bundesregierung auf das Projekt eines gemeinsamen deutsch-französischen
Aufklärungssatelliten verständigt.¹⁹⁵ Obwohl die deutsche Seite um das große

 Aufzeichnungen des Ministerialdirektors Edler von Braunmühl, 27. Juni 1985. In: AAPD 1985,
Dok. 171, S. 898 – 902.
 Aufzeichnungen des Ministerialdirigenten Schauer, 22. Juli 1985. In: AAPD 1985, Dok. 202,
S. 1060.
 Aufzeichnungen des Ministerialdirigenten Schauer, 22. Juli 1985. In: AAPD 1985, Dok. 202,
S. 1064.
 Aufzeichnungen des Ministerialdirigenten Schauer, 22. Juli 1985. In: AAPD 1985, Dok. 202,
S. 1066 f.
 Vgl. dazu: Aufzeichnung des Vortragenden Legationsrats I. Klasse von Studnitz, 8. Februar
1985. In: AAPD 1985, Dok. 35, S. 197– 199.
300 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

Interesse der französischen Regierung an dem Projekt wusste, versuchte sie sich
im Verlauf des Jahres 1985 der Ende 1984 gemachten Zusage zu entziehen. Sie sah
zwar die Gefahr, dass ein weiteres Hinauszögern einen Glaubwürdigkeitsverlust
nach sich ziehen würde.¹⁹⁶ Letztlich beschied Helmut Kohl aber, dass für das
Projekt keine finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden könnten. Deutsche
Sicherheits- und Technologieexperten unterstellten der französischen Regierung,
die Kosten für die Modernisierung der französischen force de frappe durch das
gemeinsame Projekt zu Teilen auf die Bundesrepublik umlegen zu wollen. Zudem
war das deutsche Interesse an dem Aufklärungssatelliten nicht so groß, da sie
ihren Aufklärungsbedarf hinreichend durch die Zusammenarbeit mit den USA
gedeckt sahen.¹⁹⁷ Für die Bundesregierung stellte der unabhängige Zugang zu
Aufklärungsinformationen also keine Priorität dar. Außerdem bewertete sie die
französischen Interessen nicht in dem Kontext einer europäischen Emanzipation,
sondern unterstellte ein rein nationales Kalkül.
Am 7. November 1985 gaben Genscher und Wörner bei dem Treffen der
deutsch-französischen Außen- und Verteidigungsminister einen ablehnenden
Bescheid für das Projekt des deutsch-französischen Aufklärungssatelliten. Die
Entscheidung wurde versucht damit zu legitimieren, dass einer Weiterentwick-
lung der Kampfkraft der Bundeswehr Priorität eingeräumt würde, die letztlich
auch den Kooperationsmöglichkeiten mit Frankreich zugutekomme.¹⁹⁸ Am
8. November versuchte Mitterrand deshalb persönlich, Kohls Zustimmung zur
deutsch-französischen Kooperation im kostspieligen Bereich der Weltraumpolitik
zu gewinnen.¹⁹⁹ Dabei setzte er verschiedene Kommunikationsstrategien ein: Zum
einen nutzte er das über die Jahre gewachsene persönliche Vertrauen zum Bun-
deskanzler als politische Ressource, um seinem Gesprächspartner Ratschläge zu
erteilen. Mit der rhetorischen Wiederholung seiner Formulierung „Wenn er selbst
Deutscher wäre…“ empfahl er ihm eine Kooperation im Weltraum und wollte dies
als uneigennützig verstanden wissen. Zum anderen inszenierte er den Weltraum
als einmalige Chance für Deutschland „eine autonome Sicherheitsgewährleitung
unterhalb oder oberhalb des Nuklearen“ zu entwickeln. Mit der Andeutung,

 Aufzeichnungen des Ministerialdirektors Edler von Braunmühl, 27. Juni 1985, Anmerkung 32.
In: AAPD 1985, Dok. 171, S. 904 f.
 Gespräch der Bundesminister Genscher und Wörner mit dem französischen Außenminister
Dumas und Verteidigungsminister Quilès, 7. November 1985, Anmerkung 35. In: AAPD 1985,
Dok. 305, S. 1578.
 Gespräch der Bundesminister Genscher und Wörner mit dem französischen Außenminister
Dumas und Verteidigungsminister Quilès, 7. November 1985. In: AAPD 1985, Dok. 305, S. 1585.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, 8. November 1985. In:
AAPD 1985, Dok. 307, S. 1593 f.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 301

Deutschland befinde sich „inzwischen wieder auf dem Weg, eine größere Macht
zu werden“, nährte er die Hoffnung, dass die Bundesrepublik auch ohne Nukle-
arstreitkräfte in der Verteidigung zu den anderen Mächten aufschließen könne. Er
schuf die Imagination, dass sich in naher Zukunft militärische Strategien ab-
zeichneten, „die nicht auf dem Atom beruhen.“ Mitterrand ging sogar so weit,
„[j]ede Verzögerung“ als vertane Chance für Deutschland darzustellen „seine
strategischen Optionen auszuweiten“. Aber auch als er wiederholt insistierte, der
Weltraum dürfe nicht den Amerikanern alleine überlassen werden, vermochte
dies Kohl in seiner Ablehnung nicht umzustimmen.²⁰⁰
Mitterrand zog daraus offenbar den Schluss, sich in der Verteidigung ko-
operativer zu zeigen, um die Bundesregierung von der französischen Solidarität
zu überzeugen. Als sich Mitterrand und Kohl am 17. Dezember 1985 erneut be-
gegneten, gingen beide mit der Intention in das Gespräch, dem jeweils anderen
ein Zugeständnis abzuringen: Nachdem Mitterrand am 8. November keine Zusage
erhalten hatte, inszenierte der französische Präsident den Weltraum abermals als
eine Art Möglichkeitsraum für die Zukunft, der sich für die Bundesrepublik im
Gegensatz zum nuklearen Bereich gewissermaßen zur freien Gestaltung darbiete.
Anders als beim letzten Mal eröffnete er Kohl auch eine bedrohliche Seite des
Weltraums. Wenn man nämlich diese Chance verstreichen und anderen dieses
Feld überlassen würde, sehe man sich künftig in der Verteidigung mit einer
doppelten Herausforderung konfrontiert: Verteidigung gegen den klassischen
„Frontkämpfer“ und gleichzeitig gegen „den Soldaten im Weltraum“. Mitterrand
machte deutlich, dass Frankreich aufgrund der finanziellen Last nicht den nu-
klearen und Weltraumbereich zugleich bedienen könne.²⁰¹ Helmut Kohl ging
seinerseits mit der Absicht in das Gespräch, dem französischen Präsidenten ein
Einverständnis zu Konsultationsmechanismen im nuklearen Bereich sowie eine
Beteiligung an der Vorwärtsverteidigung zu entlocken. Die bundesdeutschen
Anstrengungen im konventionellen Bereich durch die Bundeswehr, argumentierte
er, seien auch für Frankreich ein unverzichtbarer Teil der Friedenssicherung,
wohingegen die force de frappe Deutschland keinen Schutz bieten könne. Er
stellte daher die Frage zur Diskussion, inwieweit vitale, strategische und sicher-
heitspolitische Interessen angeglichen werden könnten.²⁰²

 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, 8. November 1985. In:
AAPD 1985, Dok. 307, S. 1593 – 1595.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 17. Dezember
1985. In: AAPD 1985, Dok. 347, S. 1822 f.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 17. Dezember
1985. In: AAPD 1985, Dok. 347, S. 1825f.
302 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

Sowohl französischer Präsident als auch deutscher Bundeskanzler kamen in


dem Gespräch aufeinander zu. Kohl signalisierte Bereitschaft, gemeinsame Re-
gelungen in der Weltraumpolitik zu finden, während François Mitterrand zusi-
cherte, Veränderungen in der konventionellen Verteidigung zu prüfen. Im nu-
klearen Bereich versagte er zwar eine Zusammenarbeit; einer engeren
Abstimmung gegenüber zeigte er sich hingegen aufgeschlossen. Bei den kon-
ventionellen Streitkräften war Mitterrand dazu bereit, die Koordination der Ar-
meen durch gemeinsame Ausbildung und Manöver zu verbessern. Hinsichtlich
der für die Bundesrepublik besonders interessanten Frage der Vorwärtsverteidi-
gung seien die Diskussionen noch nicht abgeschlossen.²⁰³ Gerade weil es sich
nicht nur bei der Frage der gemeinsamen Sicherheitsinteressen, sondern der ge-
samten Thematik von Sicherheits- und Verteidigungspolitik um sensible Fragen
handelte, durchwoben sowohl Helmut Kohl als auch François Mitterrand ihre
Sprache durchweg mit rhetorischen Strategien, die zum einen Empathie vermit-
telten, indem sie explizit Verständnis für die Position des anderen ausdrückten.
Zum anderen dienten Begriffe wie „Freundschaft“, „Freund“, „Vertrauensver-
hältnis“ der Vergewisserung gegenseitigen Vertrauens. Ein gewisses Ungleichge-
wicht fällt bei der Verwendung rhetorischer Strategien ins Auge. Helmut Kohl
bediente sich sehr viel häufiger und ausschweifender der Kommunikation von
Vertrauen und Empathie. Dahinter stand das Ziel der Vertrauensbildung, „daß er
der französischen Seite nichts zumuten wolle, was er selbst nicht könne.“²⁰⁴ Ei-
nerseits wollte Kohl zwar durchaus etwas Druck ausüben; andererseits wollte er
aber offenbar vermeiden, dass sich sein Gesprächspartner einem zu großen Druck
ausgesetzt sah und sich auf nationale Lösungen zurückbesann.²⁰⁵ Letztlich wur-
den die Generäle Altenburg und Saulnier damit beauftragt, erstens eine Stärkung
der Zusammenarbeit im konventionellen Bereich sowie zweitens im Weltraum zu
prüfen und drittens über Verfahren zur Abstimmung im nuklearen Bereich
nachzudenken. Bei den nächsten Konsultationen im Februar sollten erste Er-
gebnisse vorliegen, die Mitterrand und Kohl beraten und beschließen wollten. In

 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 17. Dezember
1985. In: AAPD 1985, Dok. 347, S. 1827.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 17. Dezember
1985. In: AAPD 1985, Dok. 347, S. 1827.
 Schauer wollte „vermeiden, daß die französische Regierung durch öffentlichen Druck in eine
Position gerät, in der sie sich zu Klarstellungen genötigt sieht, die zwangsläufig einen Rü ckzug auf
engere nationale Positionen bringen dü rften.“ Siehe dafür Aufzeichnungen des Ministerialdiri-
genten Schauer, 22. Juli 1985. In: AAPD 1985, Dok. 202, S. 1067.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 303

der Pressekonferenz wurde bereits eine gemeinsame Generalstabsausbildung


bekannt gegeben.²⁰⁶
Vor dem Hintergrund deutsch-französischer Solidaritätsbekundungen hatte
sich François Mitterrand schon zuvor entschieden, seinem Besuch bei dem
Hauptquartier der in Deutschland stationierten französischen Truppen in Baden-
Baden am 16. Januar 1986 einen deutsch-französischen Schwerpunkt zu geben. Er
räumte damit dem Aufmarsch deutsch-französischer Truppen und Panzer einen
Vorzug gegenüber einer rein nationalen Ausrichtung ein und legte einen Akzent
auf die bilaterale Kooperation in der Verteidigung. Außerdem folgte er dem Rat
seines Generalstabschefs Forray, den Bundeskanzler zu dem Anlass als Ge-
sprächspartner einzuladen.²⁰⁷ Helmut Kohl und François Mitterrand trafen sich
beim Generalhauptquartier der französischen Truppen und sprachen unter an-
derem erneut über die Frage nach möglichen Konsultationsmechanismen. Pierre
Morel hatte in der Vorbereitung der Zusammenkunft hervorgehoben, dass es
zwischen Paris und Bonn keine nukleare Planungsgruppe geben könne, was ein
deutsches Mitspracherecht bei einem Einsatz der französischen Nuklearstreit-
kräfte kategorisch ausschloss. Stattdessen sollte die direkte sichere Verbindung
zwischen Elysée und Kanzleramt eine effektive Konsultation auf höchstem Niveau
im Krisenfall garantieren.²⁰⁸ Die Studien zur Realisierung einer direkten, sicheren
Videoverbindung gingen laut Védrine voran. Durch diese Technik versprach er
sich eine Direktverbindung für Krisengipfel, die auch eine Annäherung an die
heikle Frage der taktischen Nuklearwaffen erlaube.²⁰⁹ In Baden-Baden stellte
Mitterrand klar, dass in einer Übereinkunft weder Bedingungen für einen Einsatz
französischer Nuklearwaffen behandelt noch konkrete Ziele definiert werden
könnten. Grundsätzlich war er aber bereit, sich über ein Konsultationssystem zu
verständigen, obwohl sich sein militärischer Berater Saulnier sehr zurückhaltend
zeigte, eine ähnliche Absprache zu treffen, wie sie zwischen dem amerikanischen
Präsidenten und dem Bundeskanzler existierte.²¹⁰ Mitterrand wich in dem Ge-

 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 17. Dezember
1985. In: AAPD 1985, Dok. 347, S. 1835.
 AN, AG/5(4)/CD/186, Présidence de la République, Le Général, Chef de l’Etat Major Parti-
culier, General Forray, Note à l’attention de Monsieur le Président de la République, Visite à
Baden-Baden le 16 janvier 1986, 9. Dezember 1985.
 AN, AG/5(4)/CD/186, MAE, Le Directeur des Affaires Politiques, Pierre Morel, Note pour le
Ministre, Rencontre de Baden-Baden entre le Président de la République et le Chancelier: Coo-
pération franco-allemande dans le domaine de la sécurité et de l’espace, 14. Januar 1986.
 AN, AG/5(4)/CD/186, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République: Votre visite à Baden-Baden 16. janvier 1986, 15. Januar
1986.
 Attali, Verbatim 1981– 1986, 16. Januar 1986, S. 1092.
304 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

spräch aus und zog sich darauf zurück, dass er diese Absprache nicht kenne.
Während Mitterrand im nuklearen Bereich nur sehr widerwillig und in einge-
schränktem Maße zu Solidarität bereit war, kam er im konventionellen Bereich
deutschen Erwartungen entgegen.²¹¹
Das Ergebnis der Beratungen von Altenburg und Saulnier wurde im An-
schluss an den deutsch-französischen Gipfel am 27. und 28. Februar 1986 in Paris
in Form einer „Erklärung über ein Abkommen zwischen dem Bundeskanzler der
Bundesrepublik Deutschland und dem Präsidenten der Französischen Republik“
veröffentlicht. Darin versicherte Mitterrand eine operationelle Zusammenarbeit
und ein Vorrücken französischer Truppen bis zur innerdeutschen Grenze zu. Der
Begriff der Vorwärtsverteidigung sollte allerdings vermieden und die französi-
schen Truppen unter keinen Umständen dem Kommando der NATO unterstellt
werden. Auch gab der französische Präsident sein Einverständnis zu Konsulta-
tionen mit dem deutschen Bundeskanzler im Falle eines Einsatzes französischer
Nuklearwaffen auf deutschem Boden, obwohl dieser Bereitschaft sehr enge
Grenzen gesetzt wurden. Zum einen lag dies in der „außerordentliche[n]
Schnelligkeit, mit der solche Entscheidungen zu treffen sind“ begründet; zum
anderen handelte es sich keinesfalls um eine deutsche Ko-Entscheidung, da die
Entscheidung zum Einsatz französischer Nuklearwaffen nicht geteilt werden
könne.²¹²
In Baden-Baden war bereits deutlich geworden, dass Mitterrand für seine
Zugeständnisse in Verteidigungsfragen Kompromisse von Kohl bei der Zusam-
menarbeit in der Weltraumpolitik erwartete. Unumwunden hatte er das Gespräch
von den sicherheitspolitischen Fragen auf dieses Thema gelenkt. Ministerialdi-
rigent Edler von Braunmühl im Auswärtigen Amt hatte im Dezember 1985 darauf
aufmerksam gemacht, dass die Irritation von französischem Vertrauen für die
deutsch-französische Kooperation zum Hindernis werden könnte. Aufgrund der
nicht unbegründeten französischen Feststellung, dass die BRD „im Zweifel der
Zusammenarbeit mit den USA den Vorzug“ gebe, sah er Bedarf für „eine gewisse
gedankliche Nacharbeit, um ein klassisches Denkschema voraussehbaren Ent-

 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Baden-Baden, 16. Ja-
nuar 1986. In: AAPD 1986, Dok. 10, S. 51.
 Vgl. Attali, Verbatim 1981– 1986, 27. Februar 1986, S. 1111 f.; Loth, Europas Einigung, S. 289;
Lappenküper, Mitterrand und Deutschland, S. 225; Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit
Staatspräsident Mitterrand in Baden-Baden, 16. Januar 1986. In: AAPD 1986, Dok. 10, S. 51; Ge-
spräch der Bundesminister Genscher und Wörner mit dem französischen Außenminister Dumas
und Verteidigungsminister Quilès in Paris, 27. Februar 1986. In: AAPD 1986, Dok. 57, S. 325.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 305

wicklungen anzupassen“.²¹³ Erstens machte Braunmühl die deutsche Zurück-


haltung in der Rüstungskooperation für französische Rückzugstendenzen in der
militärischen Zusammenarbeit verantwortlich und bewertete aus dieser Per-
spektive Kohls Vorschlag „zum gemeinsamen Studium aller zivilen und militäri-
schen Aspekte der Weltraumproblematik für Europa“ als „wichtiges Signal“.²¹⁴
Allerdings folgte Braunmühl, anders als es zunächst den Anschein haben könnte,
nicht rein nationalen Motiven in dem Sinne quid pro quo. Vielmehr hielt er die
„sicherheits- und rüstungspolitische Zusammenarbeit mit Frankreich und den
anderen Europäern“ in Bezug auf SDI und EUREKA für alternativlos: „Es geht
darum, ob die Europäer individuell, unkonzentriert und damit zu Bedingungen
drastischer Ungleichheit mit den USA kooperieren oder als starke Einheit part-
nerschaftlicher Gleichheit.“²¹⁵ Helmut Kohl war hingegen nicht zu einem einsei-
tigen Bekenntnis zu einer Kooperation für eine „europäische Verteidigung gegen
Mittelstreckenwaffen“ bereit, das sich der französische Präsident wahrscheinlich
erhofft hatte. Der Bundeskanzler hielt an seinem „sowohl-als-auch“ fest und
betonte, dass für die Bundesrepublik die deutsch-französische Zusammenarbeit
genauso essentiell sei wie die deutsch-amerikanische. Kohl wollte durch ein ei-
genständiges Abwehrsystem nicht in einen Gegensatz zu den USA geraten und
konzeptualisierte es daher „nicht im Gegensatz zu SDI, sondern […] komple-
mentär“. Insofern misstraute er in dem Fall den französischen Intentionen zur
Zusammenarbeit und unterstellte ihr eine antiamerikanische Stoßrichtung. Mitt-
errand konnte es hingegen nicht hinnehmen, dass ein europäisches System in SDI
integriert und Frankreich womöglich nicht an der strategischen Entscheidung
beteiligt würde.²¹⁶
Dies war wohl auch der Grund dafür, weshalb Mitterrand nicht bereit war,
weiter in der Verteidigung der Bundesrepublik zu gehen, als es letztlich bei der
Erklärung der Fall war. Die französische und die deutsche Solidarität stießen hier
an ihre Grenzen. Es ist möglich, dass Mitterrand und Kohl zu der Jahreswende
1985/1986 mehr für eine künftige europäische Eigenständigkeit hätten erreichen
können, wenn sich beide konsequenter engagiert hätten. Überlegungen dazu,
dass die force de frappe irgendwann zum Ausgangspunkt für eine europäische

 Aufzeichnung des Ministerialdirektors Edler von Braunmühl, 18. Dezember 1985. In: AAPD
1985, Dok. 349, S. 1848.
 Aufzeichnung des Ministerialdirektors Edler von Braunmühl, 18. Dezember 1985. In: AAPD
1985, Dok. 349, S. 1846.
 Aufzeichnung des Ministerialdirektors Edler von Braunmühl, 18. Dezember 1985. In: AAPD
1985, Dok. 349, S. 1848.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Baden-Baden, 16. Ja-
nuar 1986. In: AAPD 1986, Dok. 10, S. 52 f., Zitate S. 53.
306 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

Verteidigung werden könnte, gab es bei den Beratern von Mitterrand ohnehin seit
1981.²¹⁷ Die Wahrung der französischen Unabhängigkeit motivierte die équipe
Mitterrand dazu, nicht mit den USA zu kooperieren, sondern eine bilaterale
deutsch-französische Zusammenarbeit mit europäischer Perspektive anzustre-
ben. Mitterrands Festhalten an der Unabhängigkeit war es dann aber auch, die
ihm schließlich im Weg stand. Er war offenbar nicht dazu bereit, diesen Preis
dafür zu zahlen, dass die Europäer – aber vor allem die Bundesregierung – einer
eigenständigen europäischen Komponente von SDI Vorrang gegenüber den
Amerikanern einräumten. Anders als in anderen Kontexten, half der équipe
Mitterrand hier auch ihre Strategie der Inszenierung nicht mehr weiter, da die
Bundesregierung konkrete Regelungen zu einer Beteiligung an der konventio-
nellen Verteidigung und zu Konsultationsmechanismen im nuklearen Bereich
verlangte.
Dies wirft die Frage auf, ob Mitterrand sich nicht bewusst darüber war, dass
sein Beharren auf der Unabhängigkeit der französischen Streitkräfte nicht ver-
einbar mit seiner Erwartung von Solidarität seitens der Bundesrepublik war.
Plausibler als diese Annahme sind zwei andere Gründe, die Mitterrand daran
hinderten, über die vorgesehenen Konsultationen hinauszugehen. Erstens ist
anzunehmen, dass sich Mitterrand selbst im Weg stand. Sein persönliches Miss-
trauen hinderte ihn daran, die strategische Unabhängigkeit aufzugeben. Während
des Krieges und im französischen Widerstand hatte er gelernt, sein Leben nie-
mand anderem anvertrauen zu können, sondern nur durch unabhängige Ent-
scheidungen zu überleben. Mitterrand war sich bewusst, dass es einer Demon-
stration von Kompromissbereitschaft bedurfte, um bei anderen Bereitschaft zu
Solidarität zu wecken; diese Erfahrung hatte er in der Euroraketen- und franzö-
sischen Währungskrise gemacht. Aber auch da war die Unabhängigkeit der
französischen force de frappe für ihn unantastbar gewesen und die Grenze seiner
Solidaritätsbereitschaft erreicht. Schon gar nicht war Mitterrand gewillt, in dieser
existentiellen Frage in Vorleistung zu treten. Wenn Kohl auch seine Ablehnung
eines deutsch-französischen Aufklärungssatelliten revidiert hatte, war er seiner-
seits auch nicht bereit, sich in Baden-Baden eindeutig von einer Kooperation mit
den USA zu distanzieren. Wachsendes Misstrauen der französischen Öffentlich-
keit dahingehend, dass die deutsche Bundesregierung ihre Politik primär nach
nationalen Interessen ausrichte, wollte das Auswärtige Amt zwar ausräumen.²¹⁸ In

 Vgl. Kapitel 2.


 Deshalb schlug Genscher den französischen Partnern eine „noch engere bilaterale Zusam-
menarbeit und Abstimmung“ auf Grundlage des Elysée-Vertrags vor. In der Außenpolitik suchten
Dumas und Genscher nach Möglichkeiten einer intensiveren Kooperation und Zusammenarbeit
der Abteilungen und Diplomaten. Daraus resultierte eine zweite Erklärung im Anschluss an den
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 307

den entscheidenden Fragen war allerdings keine Seite zu einem einseitigen


Schritt bereit, der die deutsch-französische Zusammenarbeit und letztlich euro-
päische Emanzipation unter Umständen sehr viel weiter vorangebracht hätte.
Beiden Seiten war das Risiko offenbar zu groß, dass ein unilateraler Schritt un-
beantwortet bleiben würde. Wechselseitiges Misstrauen erweist sich hier als
Hindernis einer weitreichenden Übereinkunft. Insofern blieb die Vereinbarung
zwischen Präsident und Bundeskanzler weit hinter dem zurück, was Valéry Gi-
scard d’Estaing und Helmut Schmidt einst im Sommer 1980 als deutsch-franzö-
sisches Verteidigungsbündnis entworfen und nicht realisiert hatten.²¹⁹ Als zweiter
Grund hinderte Mitterrand Gorbatschows Misstrauen daran, den nuklearen
Schutz auf die Bundesrepublik auszudehnen. Bei seinem Treffen mit dem Gene-
ralsekretär in Paris hatte Mitterrand diesem versprochen, dass die Bundesrepu-
blik keinen Zugriff auf französische Nuklearwaffen erhalten und der nationale
Charakter der französischen Abschreckung gewahrt bleiben würde. Zum einen
wollte er damit Gorbatschows Ängste vor einer westlichen Bedrohung abbauen.
Zum andern dienten ihm Unabhängigkeit und Vertrauenswürdigkeit als politische
Ressource, bei den amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen als Mittler zu
agieren. Insofern hätte eine weitreichendere Bereitschaft in der Konsultations-
frage seine Glaub- und Vertrauenswürdigkeit unterminiert. Dieses Argument soll
am Ende dieses Teilkapitels wieder aufgegriffen werden.
In seinem eigenen Misstrauen sah sich Mitterrand anscheinend bestätigt, als
die deutsche Bundesregierung während der Cohabitation glaubte, einen vergrö-
ßerten Handlungsspielraum zu erkennen, um mit der französischen Regierung
separate Verhandlungen über den Einsatz französischer Nuklearwaffen zu füh-
ren. Als Horst Teltschik in einem Gespräch mit Genaral Forray, Hubert Védrine
und Jacques Attali auf Grundlage der Erklärung vom 28. Februar 1986 ein Mit-
spracherecht beim Einsatz der französischen Nuklearwaffen einforderte, ging dies
Mitterrand zu weit.²²⁰ Die Bundesregierung versuchte anschließend ihr Glück bei
Gesprächen mit der konservativen Regierung, denen Mitterrand vehement einen
Riegel vorschob.²²¹ Die deutsche Seite hielt dies jedoch nicht davon ab, mit fort-
schreitender deutsch-französischer Kooperation in der Verteidigung immer wie-

deutsch-französischen Gipfel vom 27. und 28. Februar 1986 „über die weitere Verstärkung der
außenpolitischen Zusammenarbeit“; siehe dazu: Gespräch des Bundesministers Genscher mit
dem französischen Außenminister Dumas in Paris, 7. Januar 1986. In: AAPD 1986, Dok. 2, S. 8;
Gespräch der Bundesminister Genscher und Wörner mit dem französischen Außenminister Du-
mas und Verteidigungsminister Quilès in Paris, 27. Februar 1986. In: AAPD 1986, Dok. 57, S. 325.
 Vgl. dazu Loth, Europas Einigung, S. 245f.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 24. Juli 1987, S. 381.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 10. August 1987, S. 391, 3. Oktober 1987, S. 414.
308 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

der zu dieser Frage zurückzukehren; sie gab ihre Versuche nicht auf, den fran-
zösischen Partnern ein größtmögliches Zugeständnis in Hinblick auf die Kon-
sultationen abzuringen. Für den deutsch-französischen Rat für Sicherheit und
Verteidigung am 20. April 1989 wollte Helmut Kohl einen vom französischen
Generalstabschef Maurice Schmitt und deutschem Generalinspekteur Wellershoff
ausgearbeiteten Abkommensentwurf annehmen. Die Vereinbarung vom 28. Fe-
bruar 1986 diente erneut als Grundlage. Hubert Védrine riet Mitterrand davon ab,
ein solches Abkommen zu unterzeichnen, auch wenn dies der absoluten Ge-
heimhaltung unterliegen sollte, da es Mitterrands Entscheidungsfreiheit einzu-
schränken drohe. Zudem erhob er Einwände gegen einen Paragraphen, demzu-
folge französische taktische Nuklearwaffen auf deutsches Territorium vorrücken
könnten. Wenn der Text durch einen Zufall einen Weg in die Öffentlichkeit finden
sollte, fürchtete Védrine, hätte dies sowohl in Frankreich als auch in Deutschland
desaströse Folgen.²²² Mitterrand verweigerte sich bei dem deutsch-französischen
Gipfel einem solchen Abkommen.²²³ Allemal macht dies aber deutlich, dass die
französischen Militärs in den Verhandlungen mit ihren deutschen Kollegen of-
fensichtlich mehrfach die von Mitterrand gesteckten Grenzen überschritten, was
die These stützt, dass Mitterrands persönliches Misstrauen und seine Sorgen um
nachteilige Effekte auf den Entspannungsprozess einer solchen Vereinbarung im
Weg stand.
Die Beispiele zeigen die Grenzen von Prozessen der individuellen Vertrau-
ensbildung auf, die niemals unabhängig von den Erfahrungen der involvierten
Individuen ablaufen. Zugleich offenbaren sie die Komplexität solcher Prozesse,
die einer ständigen Vergewisserung bedurften, da andernfalls Raum für Irrita-
tionen des Erreichten gelassen wurde. Die Irritation wurde beispielsweise von
Dumas bewusst als Kommunikationsstrategie eingesetzt, um Druck auszuüben.
In Teilen der bundesdeutschen Administration wurde sie als Hindernis gesehen,
wenn man sich in der Kooperation des Weltraumsatelliten zu zögerlich zeigte.
Insofern wollte Mitterrand der Bundesrepublik durch verstärktes französisches
Engagement in der Verteidigung Europas langfristig eine alternative Sicherheits-
garantie anbieten, in der der Fokus nicht mehr auf den transatlantischen Bezie-
hungen liegen würde. Zum anderen ging er diesen Weg aber nicht konsequent zu
Ende. Es wurde deutlich, dass der Prozess der Vertrauensbildung sich aus stän-
digen Solidaritätsbekundungen speiste, die im Falle eines Stillstandes eine re-
zessive Wirkung entfalten konnten. Damit ist auf eine gewisse Pfadabhängigkeit

 AN, AG/5(4)/6643, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Secret,


Note pour le Président de la République, Projet d’accord franco-allemand sur les consultations
nucléaires, 13. April 1989.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 20. April 1989, S. 753.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 309

von Prozessen der Vertrauensbildung verwiesen. Bereits entstandenes Vertrauen


drohte verloren zu gehen, wenn Zurückhaltung in anderen Fragen deutlich wurde.
Zögern konnte beim Gegenüber eben auch als nicht hinreichendes Vertrauen
interpretiert werden und auf diese Weise der Entstehung von Misstrauen Vor-
schub leisten. In Momenten, in denen die Solidaritätsbereitschaft an ihre Grenzen
stieß, wurde deshalb nach Ventilen gesucht, um diesen Eindruck zu revidieren.
Für die équipe Mitterrand war es die stärkere Beteiligung an der konventionellen
Verteidigung – für die Bundesrepublik eine engere Zusammenarbeit in der Au-
ßenpolitik. Insofern konzentrierten sich beide Seiten pragmatisch auf Machbares,
das zum Fundament einer weiteren Dynamisierung wurde. Grundsätzlich gilt es,
der zeitgenössischen Einschätzung von Hans-Dietrich Genscher zuzustimmen,
dass SDI einen wesentlichen Faktor darstellte, der „in Europa das Bewusstsein für
eine europäische Technologiezusammenarbeit“ schärfte.²²⁴ Die Analysen zu SDI,
EUREKA und das Bedürfnis nach technologischer Entwicklung für die Moderni-
sierung der europäischen Gesellschaften und Industrien verdeutlichen die Kor-
relationen zwischen europäischem Integrationsprozess und Globalisierung ei-
nerseits, die Claudia Hiepel proklamiert hat, und dem Ost-West-Konflikt
andererseits.²²⁵ Innerhalb dieses Interaktionsfeldes konstituierten sich Wechsel-
beziehungen zwischen dem Wettrüsten zwischen Ost und West, dem technolo-
gischen Rückstand Europas und der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Indu-
strie, dem Streben nach größerer europäischer Eigenständigkeit,
Bündnissicherung und der Neuverhandlungen der transatlantischen Beziehun-
gen.
Die folgenden Ausführungen liefern Belege für die zweite Ausgangsthese
dieses Teilkapitels. Die durch das amerikanische Kooperationsangebot angesto-
ßenen Prozesse erhielten nach dem amerikanisch-sowjetischen Gipfel in Reyk-
javik einen weiteren Schub. Dieser Reykjavik-Effekt förderte Konsultationen unter
den europäischen Verbündeten und bewirkte eine Intensivierung von Treffen
zwischen Paris und Bonn auf Expertenebene. Zudem trafen sich Vertreter der vier
Verbündeten Großbritannien, Italien, Frankreich und der BRD am 11. November
zu Konsultationen in Bonn, nachdem sich der Bundeskanzler beim deutsch-
französischen Gipfel in Frankfurt am 28. Oktober 1986 für eine enge Abstimmung
zwischen Paris, Bonn und London stark gemacht hatte.²²⁶ Kohl hoffte darauf,

 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem französischen Außenminister Dumas in
Wachtenberg-Pech, 21. August 1985. In: AAPD 1985, Dok. 225, S. 1161.
 Hiepel, Introduction, S. 11.
 ADMAE 1935-INVA 6652, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Le
débat stratégique après Reykjavik, 28. November 1986; siehe dazu außerdem: ADMAE 1935-INVA
310 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

Einfluss auf die amerikanische Administration geltend machen zu können, in


Hinblick auf einen möglichen, weiteren amerikanisch-sowjetischen Gipfel Mitte
1987.²²⁷ Zusammengenommen mit der ministeriellen Sitzung der WEU in Luxem-
burg am 13. und 14. November und dem französisch-britischen Gipfel am 21. No-
vember entwickelten die Westeuropäer trotz einiger Differenzen auch überein-
stimmende Haltungen.²²⁸
In der bundesdeutschen Öffentlichkeit beobachtete der französische Bot-
schafter Serge Boidevaix, dass sich die Bedürfnisse nach dem Gipfel in Reykjavik
zu verschieben begannen. Am Vorabend des deutsch-französischen Gipfeltreffens
in Frankfurt am 27. und 28. Oktober 1986 beobachtete er, wie sich der Akzent in der
Presse zunehmend von Fragen der Kultur auf die Themen Sicherheit und Vertei-
digung verlagerte. Deshalb erwartete er, dass diese Frage auch die anstehenden
Konsultationen dominieren werde. Zudem sah er das Bedürfnis steigen, die nu-
kleare Abrüstung um Abrüstung im konventionellen Bereich zu ergänzen.²²⁹ Im
Ergebnis des deutsch-französischen Gipfels wurde die bilaterale, militärische
Kooperation intensiviert. Die gemeinsame Ausbildung von Offizieren sollte in
Zukunft gefördert werden, um Sprachbarrieren zu überwinden. Nach einem ersten
gemeinsamen Militärmanöver 1986 wurde ein weiteres unter der Beteiligung der
FAR für das Jahr 1987 vorgesehen. Der Beitrag der französischen Streitkräfte für
die gemeinsame Verteidigung Europas wurde von deutscher Seite, wie Manfred
Wörner den französischen Partnern signalisierte, als sehr bedeutsam einge-
schätzt.²³⁰ Unmittelbar nach dem amerikanisch-sowjetischen Gipfel in Reykjavik
wurde auf diese Weise in der Öffentlichkeit ein Signal deutsch-französischer
Solidarität mit langfristiger europäischer Perspektive gesendet. Zwar sollte die
NATO auch in Zukunft Garant der westeuropäischen Sicherheit bleiben. Aller-
dings wurden die Fortschritte in der bilateralen, sicherheitspolitischen Koope-
ration als notwendige Etappe zur Errichtung eines geeinten Europa bezeichnet. In
dem nachträglichen Bericht des Gipfeltreffens wurde das gemeinsame Bedürfnis

6652, MAE, TD Diplomatie 28197, Benoît d’Aboville, „Après Reykjavik“ – consultations restreintes
entre pays européens, 13. November 1986.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 28. Oktober 1986, S. 198.
 ADMAE 1935-INVA 6652, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Le
débat stratégique après Reykjavik, 28. November 1986; siehe dazu außerdem: ADMAE 1935-INVA
6652, MAE, TD Diplomatie 28197, Benoît d’Aboville, „Après Reykjavik – consultations restreintes
entre pays européens, 13. November 1986.
 ADMAE 1935-INVA 6786, MAE, TD Bonn 1788, Boidevaix, Coopération en matière de sécu-
rité – presse allemande, 25. Oktober 1986.
 ADMAE 1935-INVA 6786, Résumé des conversations des Ministres de la Défense à l’occasion
des consultations franco-allemandes des 27 et 28 Octobre à Francfort.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 311

explizit hervorgehoben, ein Junktim zwischen nuklearer und konventioneller


Abrüstung herzustellen. Gleichzeitig wurde die Absicht festgehalten, die deutsch-
französische Abstimmung in strategischen und taktischen Konzeptionen sowie
der Kooperation im Bereich der Rüstung zu stärken.²³¹
In den Wochen und Monaten nach Reykjavik stimmten sich die Europäer aber
nicht nur untereinander ab; die außenpolitischen Administrationen bemühten
sich auch um Einschätzungen ihrer amerikanischen Verbündeten. Französische
Diplomaten führten deshalb Gespräche mit Vertretern der amerikanischen Ad-
ministration, um von etwaigen Schritten in den Abrüstungsverhandlungen nicht
noch einmal so unvorbereitet getroffen zu werden, wie es nach Reykjavik der Fall
gewesen war.²³² Mit der Spontanität des amerikanischen Präsidenten wuchsen bei
den europäischen Verbündeten Verunsicherung und Misstrauen, weil die Bere-
chenbarkeit oder, mit Luhmann gesprochen, die Vertrautheit erodierte. Nicht nur
bei den Westeuropäern verbreitete sich Verunsicherung. Analysen der französi-
schen Botschaft beobachteten ähnliche Reaktionen selbst innerhalb der ameri-
kanischen Administration: Um die alte Vertrautheit über amerikanische Absich-
ten zurückzugewinnen, suchte der Botschafter Emmanuel de Margerie das
Gespräch mit Richard Perle, dem Stellvertreter des amerikanischen Verteidi-
gungsministers Caspar Weinberger. Margerie berichtete anschließend von Be-
fürchtungen innerhalb des amerikanischen Regierungsapparates, dass ein ge-
schwächter und zudem in technischen Dossiers wenig versierter Präsident sich
auf ein nachteiliges Abkommen mit der Sowjetunion einlassen könnte. Obwohl
Weinberger im Dezember 1986 eine Aufstellung von SDI favorisiert habe, be-
zweifelte Perle wohl, dass dies alsbald möglich sein werde. Sowohl der Chef von
SDI als auch er selbst, vertraute Perle dem Botschafter an, hätten gegenüber dem
Präsidenten nicht für eine baldige Aufstellung plädiert. Aus innenpolitischen und
außenpolitischen Gründen drängten beide Reagan aber wohl nicht dazu, sich
schnell zu entscheiden. Zum einen sollte im Kongress der Eindruck erweckt
werden, dass bei den Planungen von SDI alles wie vorgesehen laufe, um die Fi-
nanzierung nicht zu gefährden. Zum anderen sollte der Druck auf Moskau auf-
rechterhalten bleiben.²³³ In den Abteilungen des Außenministeriums wurden die
Berichte des Botschafters dazu genutzt, um ein Bild von der amerikanischen

 ADMAE 1935-INVA 6785, MAE, Coopération franco-allemande en matière de sécurité. Bilan
rendu public à l’issue du sommet des 27 et 28 octobre 1986, 29. Oktober 1986.
 ADMAE 1935-INVA 6653, MAE, TD Washington 123/124/125, Margerie, Entretien avec M. Perle,
22. Januar 1987.
 ADMAE 1935-INVA 6653, MAE, TD Washington 123/124/125, Margerie, Entretien avec M. Perle,
22. Januar 1987.
312 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

Administration zu gewinnen, die sich nunmehr gespaltener denn je präsentierte.


Angesichts der Reykjavik-Überraschung in den europäischen Hauptstädten
stellten Gespräche wie dieses ein Mittel dar, die verlorene Vertrautheit zu re-
staurieren und zur alten Erwartungssicherheit zurückzufinden. Dafür spricht
auch, dass in der Botschaft die Eigenschaften und Ambitionen einzelner Berater
genauestens unter die Lupe genommen wurden.²³⁴
George Shultz bemühte sich, das Vertrauen der Verbündeten zurückzuge-
winnen: Als er sich mit einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses der fran-
zösischen Nationalversammlung unter der Leitung von Alain Peyrefitte traf, be-
tonte der amerikanische Außenminister, weiterhin an einer glaubhaften
nuklearen Abschreckung festhalten zu wollen. Zudem werde Washington die
Präsenz amerikanischer Truppen in Westeuropa nicht infrage stellen. Mit dem
Hinweis, dass jeder Angriff auf Westeuropa einen Angriff auf die USA darstelle,
versuchte er, Sorgen einer drohenden découplage entgegenzutreten. Eine unter-
schwellige Kritik an den europäischen Reaktionen konnte er indessen nicht un-
terdrücken: Einerseits würden die USA regelmäßig dafür kritisiert, nicht genug für
die Abrüstung zu tun, andererseits werde aber ein tatsächliches Engagement als
Verringerung amerikanischer Unterstützung beklagt.²³⁵
Insgesamt lässt sich mit Blick auf die europäischen Reaktionen nach dem
Reykjavik-Gipfel konstatieren, dass dieser Multilevel-Konsultationen in Westeu-
ropa in Gang setzte, die Absprachen bei bilateralen Treffen, innerhalb der Vier-
ergruppe oder auch im Rahmen der Westeuropäischen Union umfassten. Gewis-
sermaßen als Ad-hoc-Reaktionen auf den Reykjavik-Schock waren diese noch
nicht systematisiert beziehungsweise in einer Institution zentralisiert. Konsulta-
tionen in eingeschränkterem Rahmen stellten ähnlich einem Schachtelprinzip
Vorabstimmungen für Konsultationen auf dem nächsthöheren Level dar. Insge-
samt dienten diese europäischen Absprachen dazu, neue Vergewisserung zu er-
langen, Einschätzungen abzustimmen und zu harmonisieren, um kollektiv auf die
Amerikaner einwirken zu können. Sie lassen sich als Anzeichen für eine grund-
legende Verunsicherung und Erschütterung des Vertrauens in die amerikanische
Sicherheitsgarantie lesen. Mit ihr wuchs das Bewusstsein für und das Bedürfnis
nach europäischer Abstimmung in Fragen der Sicherheitspolitik und Verteidi-

 ADMAE 1935-INVA 6653, Ambassade de France aux Etats-Uni, Emmanuel de Margerie à Jean-
Bernard Raimond, Entretien avec M. Fritz Ermarth, nouvel assistant auprès du conseiller national
de sécurité pour les questions soviétiques et européennes, 5. Februar 1987.
 ADMAE 1935-INVA 6653, MAE, TD Washington 302, Margerie, Entretien de M. Shultz avec la
délégation de la Commission des Affaires Etrangères de l’Assemblée Nationale conduite par M.
Alain Peyrefitte, 11. Februar 1987.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 313

gung. Insgesamt wurde die WEU von französischen Diplomaten zunehmend als
Vehikel gesehen,

de développer une identité européenne propre dans le domaine de la sécurité et de la dé-


fense: l’Europe doit en effet devenir acteur de son propre destin et non demeurer un objet
passif. C’est le sens de la démarche engagée avec la Charte de l’UEO.²³⁶

Allerdings gingen die Vorstellungen über die Aufgabe und den Sinn der WEU nach
wie vor weit auseinander. Aus Sicht französischer Diplomaten sollte die WEU
nicht zu einer Art Subinstitution der NATO werden, damit die europäischen Mit-
glieder ihre Interessen besser vertreten konnten.²³⁷ Die deutsche Haltung wurde in
dieser Frage zumindest als ambivalent wahrgenommen zwischen dem Wunsch,
eine europäische Säule der Atlantischen Allianz zu schaffen, und der Vision einer
künftigen europäischen Sicherheitsunion.²³⁸ Außerdem wolle die BRD die Rolle
der WEU auf die Definition einer grundsätzlichen Verteidigungspolitik der Euro-
päer beschränken, während die operativen Elemente alleinige Aufgabe der NATO
bleiben sollten. Insofern unterstellten französische Diplomaten der Bundesre-
gierung, Frankreich den strategischen Konzepten der NATO quasi durch die
Hintertür annähern zu wollen, ohne die Frage der Reintegration konkret aufzu-
werfen.²³⁹
Die Entwicklungen der bilateralen Kooperation im Bereich der Sicherheit und
Verteidigung zwischen Paris und Bonn der Jahre 1987 und 1988 müssen ebenfalls
in den Kontext von Reykjavik-Effekt und europäischer Emanzipation gestellt
werden. Wie das vorherige Teilkapitel zeigen konnte, hatte François Mitterrand
Helmut Kohl die Aussicht auf eine alternative Zukunft angeboten, in der die Ge-
nese Europas als drittes Ordnungsmodell die Ungewissheit des amerikanischen
Schutzschirms bewältigen sollte. Damit hatte er das erschütterte Vertrauen in die
amerikanische Sicherheitsgarantie produktiv in ein verstärktes europäisches
Engagement der Bundesrepublik transformieren wollen. Die deutsch-französi-

 ADMAE, 1935-INVA 6789, MAE, Le Directeur Adjoint des Affaires Politiques, session mi-
nistérielle de l’UEO (26 – 27 octobre 1987). Question d’actualité. point 3: „état de la coopération
franco-allemande en matière de sécurité et de défense“ [Hervorhebung im Original], 26. Oktober
1987.
 ADMAE 1935-INVA 6619, Relance de L’UEO, Mai 1988.
 ADMAE 1935-INVA 6790, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, La RFA
et l’UEU, 18. Oktober 1988.
 ADMAE 1935-INVA 6790, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, La RFA
et l’UEU, 18. Oktober 1988.
314 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

sche Zusammenarbeit in sicherheitspolitischen Fragen 1987/1988 wurde einerseits


durch die Erfahrung von Reykjavik stimuliert und speiste sich andererseits aus
deutsch-französischen Solidaritätserfahrungen der Vergangenheit. Es ließ sich an
die Kooperation der Vorjahre anknüpfen, die bereits nach dem amerikanischen
Kooperationsangebot eine neue Dynamik entfaltet hatte. Wenn sie auch einen
bilateralen Ausgangspunkt nahm, implizierte sie doch stets eine europäische
Perspektive. Am 24. Juli 1987 setzten General Forray, Hubert Védrine und Jacques
Attali den Dialog zur deutsch-französischen Kooperation in der Verteidigung mit
Horst Teltschik, Admiral Wolfgang Brost und dem politischen Direktor Hermann
von Richthofen in Bonn fort. Das Treffen diente dazu, die nächsten offiziellen
Zusammenkünfte unter der Perspektive sicherheitspolitischer Fragen vorzube-
reiten. Laut Teltschik stand Helmut Kohl nach wie vor unter dem Eindruck eines
potentiellen Rückzugs der Amerikaner aus Europa. Sein Berater begründete die
Absicht des Bundeskanzlers, die deutsch-französische Kooperation zu stärken
damit, dass die USA auf mittelfristige Sicht Frankreich und der BRD einen grö-
ßeren Anteil der Verteidigung Europas innerhalb der Allianz überlassen würden.
Teltschik scheute selbst nicht vor der Imagination zurück, WEU und EG zu fu-
sionieren; Hermann von Richthofen ging dies jedoch eindeutig zu weit über die
offizielle deutsche Haltung hinaus, der WEU keine zu große Eigenständigkeit
neben der NATO einzuräumen.²⁴⁰
Die beiden Generalstabschefs arbeiteten bereits an dem Entwurf einer ge-
meinsamen deutsch-französischen Brigade, die Helmut Kohl bei einem Frühstück
mit Mitterrand am Rande des G7-Gipfels von Venedig vorgeschlagen hatte.²⁴¹
Luxemburg, die Niederlande und Italien hatten Interesse daran bekundet, einer
solchen Brigade beizutreten und sie insgesamt in die WEU einzugliedern. Zudem
lancierte Teltschik bei dem Treffen die Idee eines deutsch-französischen Rates für
Verteidigung, was Jacques Attali sogleich als Gelegenheit nutzte, um ein Äqui-
valent für Wirtschaftsfragen vorzuschlagen.²⁴² Insgesamt fällt die Eindringlichkeit
von deutscher Seite ins Auge, die sicherheitspolitische Kooperation zwischen
Frankreich und der BRD voranzubringen. Die Angst vor einem amerikanischen
Rückzug in Bonner Regierungskreisen saß tief, daher suchten sie in der deutsch-
französischen Partnerschaft nach alternativer Sicherheit. Erstmals beim 50.
deutsch-französischen Gipfeltreffen am 13. November 1987 in Karlsruhe ange-
kündigt, wurde die Brigade anlässlich der Feierlichkeiten des fünfundzwanzig-

 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 24. Juli 1987, S. 380.


 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 9. Juni 1987, S. 352; ADMAE 1935-INVA 6790, Ministère de la
Défense, Cabinet du Ministre, Le Chargé de Mission, Christian Connan, La brigade franco-al-
lemande, 20. September 1988.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 24. Juli 1987, S. 380.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 315

jährigen Jubiläums des Elysée-Vertrags am 22. Januar 1988 offiziell geschaffen.²⁴³


Am 22. Januar kamen auch die Planungen der Deutsch-Französischen Brigade
voran, deren Generalstab im Oktober 1988 in Böblingen konstituiert wurde. Die
konkrete Umsetzung der Brigade wurde für 1990 vorgesehen und sollte auch
Einheiten der französischen FAR enthalten.²⁴⁴ Insgesamt diente sie dazu, die In-
struktionsmethoden und taktischen Verfahren einander anzunähern und eine
Harmonisierung der Rüstungsbedürfnisse zu erleichtern „dans la perspective de
l’émergence progressive d’une défense européenne.“²⁴⁵
Die Deutsch-Französische Brigade war ein Symbol für die gemeinsamen Si-
cherheitsinteressen von Paris und Bonn. Insgesamt wurden die Verbindungen
zwischen beiden Armeen enger geknüpft, die als Keimzelle für eine europäische
Verteidigung in der Zukunft dienen sollten. Eine Verständigung über eine ge-
meinsame Verteidigungskonzeption war bislang jedoch noch nicht erreicht wor-
den. Die Brigade enthielt durchaus eine politische Dimension, konnte allerdings
keine große Wirkmacht entfalten. Zwar sollte sie ein partnerschaftliches Be-
wusstsein mit europäischer Perspektive im Bereich der Verteidigung ausdrücken.
In den 1990er Jahren traten ihr zudem andere Mitgliedstaaten der EU bei und sie
wurde der WEU zugeordnet.²⁴⁶ Unmittelbar nach ihrer Gründung richtete sich die
Aufmerksamkeit allerdings vor allem auf andere Herausforderungen. Die Schaf-
fung einer Wirtschafts- und Währungsunion und einer politischen Union, ohne
die es auch keine gemeinsame Verteidigung gegen konnte, gewannen 1989 an
Priorität. Letztlich kam die Deutsch-Französische Brigade „damit über eine
symbolische Funktion nicht hinaus“²⁴⁷, obschon sie die partielle Integration ge-
meinsamer Sicherheitsinteressen zum Ausdruck brachte. Dies war ebenfalls der
Fall bei dem groß angelegten, gemeinsamen deutsch-französisches Militärma-
növer „Kecker Spatz“ am 24. September 1987.
Um in der Annäherung der verteidigungspolitischen Konzeptionen voranzu-
kommen, wurde beim 50. Gipfeltreffen beschlossen, im Rahmen von Zusatzpro-
tokollen zum Elysée-Vertrag von 1963 am 22. Januar 1988 auch den von Kohl in-
itiierten Rat für Sicherheit und Verteidigung sowie dessen wirtschaftspolitisches

 Romer, Jean-Christophe: L’Allemagne, la Belgique, la France et la défense européenne. In:


Ces chers voisins. L’Allemagne, la Belgique et la France en Europe du XIXe au XXIe siècles. Hrsg.
von Dumoulin, Michel/Elvert, Jürgen/Schirmann, Sylvain. Stuttgart 2010. S. 210.
 ADMAE 1935-INVA 6791, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Centrale, Note,
Coopération bilatérale franco-allemande, April 1989.
 ADMAE 1935-INVA 6790, Ministère de la Défense, Cabinet du Ministre, Le Chargé de Mission,
Christian Connan, La brigade franco-allemande, 20. September 1988.
 Romer, Allemagne, S. 211.
 Loth, Europas Einigung, S. 290.
316 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

Äquivalent zu gründen.²⁴⁸ Ersterer setzte sich zusammen aus Staats- und Regie-
rungschefs, Außen- und Verteidigungsministern, Generalstabschef der französi-
schen Armee und Generalinspekteur der Bundeswehr und hatte seinen Sitz in
Paris. Mit dem Rat, der zwei Mal im Jahr zusammentreten sollte, erfuhren Ge-
spräche, die bereits in Form eines Ausschusses in diesem Bereich am Rande der
deutsch-französischen Gipfel geführt worden waren, eine offizielle Institutiona-
lisierung.²⁴⁹ Neben einer gemeinsamen Konzeption in der Verteidigung sollte eine
bilaterale Abstimmung zu Fragen der Rüstungskontrolle und Abrüstung erfolgen
und Entscheidungen hinsichtlich einer stärkeren Kooperation und Integration der
Armeen getroffen werden.²⁵⁰ Der Rat für Sicherheit und Verteidigung trat erstmals
über ein Jahr nach seiner Gründung am 20. April 1989 am Rande des deutsch-
französischen Gipfels zusammen, während sich der Wirtschaftsrat schon vor der
offiziellen Gründung mehrfach inoffiziell getroffen hatte.²⁵¹ Thematisch sollte es
bei ersterem um die Vorbereitungen des Atlantischen Gipfeltreffens gehen, um
eine Harmonisierung der deutschen und französischen Positionen in Abrüs-
tungsfragen zu erzielen.²⁵² Hierin zeigt sich, dass die stärkere sicherheitspoliti-
sche Integration zwischen Deutschland und Frankreich auf eine gemeinsame
Interessenvertretung innerhalb des westlichen Bündnisses abzielte.
Gleichwohl beschränkte sich all dies auf den konventionellen Bereich. Einer
realen Annäherung der verteidigungspolitischen Konzeptionen stand Mitterrands
Beharren auf dem rein nationalen Charakter der französischen force de frappe im
Weg. Nichtsdestoweniger hatte die Abstimmung in dem deutsch-französischen
Rat einen europäischen Fokus und diente einem „renforcement du ‚pilier euro-
péen‘ de l’Alliance Atlantique dans la perspective de la constitution de l’Euro-
pe.“²⁵³. Explizit richtete sich das Vorhaben, die Sicherheitspolitik sowie ihre
strategischen Konzepte einander anzunähern, auf eine „construction européenne

 Védrine, Mondes, S. 414 f.


 ADMAE 1935-INVA 6791, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Centrale, Note,
Coopération bilatérale franco-allemande, April 1989.
 ADMAE 1935-INVA 6790, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Fiche, Conseil
franco-allemand de défense et de sécurité. Evolution des procédures de ratification, Annexe,
14. Oktober 1988.
 ADMAE 1935-INVA 6791, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Centrale, Note,
Coopération bilatérale franco-allemande, April 1989.
 AN, AG/5(4)/6643, Le Conseiller à le Présidence de la République, Confidentiel, Note pour le
Président de la République, Préparation du Conseil de Défense et de sécurité franco-allemand,
14. April 1989.
 ADMAE 1935-INVA 6791, MAE, TD Diplomatie 7002, Rapport sur la coopération franco-al-
lemande (2/2), 12. April 1989.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 317

dans le domaine de la défense et de la sécurité.“²⁵⁴ Die deutsch-französische


Solidarität und Zusammenarbeit waren also als Keimzelle einer eigenständigeren
Rolle der Europäer innerhalb der Allianz konzipiert worden, um diese in eine
günstigere Ausgangsposition innerhalb der Bündnisbeziehungen zu bringen. Im
Spätsommer 1987 übermittelte Elisabeth Guigou Hubert Védrine Ideen von Gérard
Pince, Präsident der Fondation pour l’Europe, für eine europäische Verteidi-
gung.²⁵⁵ Offenbar gerieten diese Vorschläge kurzzeitig in Vergessenheit. Als
Védrine sie im Herbst 1987 schließlich wiederfand, beurteilte er Pinces Ideen als
interessant.²⁵⁶ Wirklich aktuell wurden diese Pläne für François Mitterrand al-
lerdings erst im Frühjahr 1988, als er Alain Holleville bat, für den 13. oder 17. April
1988 einen Termin mit Gérard Pince zu vereinbaren, um mit ihm und Védrine über
dessen Projekt einer europäischen Verteidigung zu sprechen.²⁵⁷ Die Ausarbei-
tungen von Pince deuten nicht nur darauf hin, dass durch Berater des Präsidenten
auch regelmäßig externes Expertenwissen herangezogen wurde, um politische
Handlungsimpulse zu entwickeln. Die langwierigen Kommunikationswege in
diesem Beispiel machen deutlich, dass es sich hierbei nicht um eine Entschei-
dung von hoher Priorität oder die Lösung eines tagespolitischen Problems han-
delte. Gleichwohl belegen diese Dokumente, dass neben dem Tagesgeschäft auch
an langfristigen Zukunftsprojekten gearbeitet wurde, die in diesem Fall eine
Umgestaltung der europäischen und transatlantischen Verteidigungsstrukturen
vorsahen. Pinces Ausführungen sahen eine Umstrukturierung der bestehenden
Verteidigung vor. Anstatt des Binoms, NATO-Streitkräfte unter amerikanischem
Kommando und französische Streitkräfte unter französischem Kommando,
schlug er vor, den bisherigen Rahmen des Nordatlantik-Paktes durch ein neues
Binom zu ersetzen: Europäische Streitkräfte unter europäischem Kommando ei-
nerseits und amerikanische Streitkräfte unter amerikanischem Kommando an-
dererseits. Die Berater im Elysée hoben diesen Vorschlag handschriftlich explizit
hervor. Pince betonte, dass die amerikanischen Streitkräfte bei einer solchen
Lösung den aktuellen Status Frankreichs einnähmen und die europäischen

 ADMAE 1935-INVA 6791, MAE, TD Diplomatie 7002, Rapport sur la coopération franco-al-
lemande (2/2), 12. April 1989.
 AN, AG/5(4)/AH/19, handschriftlicher Vermerk von Elisabeth Guigou an Hubert Védrine auf
dem Brief von Gérard Pince, Président de la Fondation pour l’Europe à Monsieur le Président de la
République vom 27. Juli 1987.
 AN, AG/5(4)/AH/19, handschriftliche Notiz von Hubert Védrine an Elisabeth Guigou, kein
Datum (voraussichtlich vor dem 30. Oktober, am Rand des Papiers war vermerkt worden: „Mme
rentre le week-end prochain 30 oct.“).
 AN, AG/5(4)/AH/19, handschriftliche Notiz von François Mitterrand an A.H. [Alain Holle-
ville], ohne Datum.
318 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

Streitkräfte aus der Verfügungsgewalt der Amerikaner gelöst werden könnten.


Damit kamen seine Überlegungen Mitterrrands Vorstellungen entgegen, beste-
hende Asymmetrien zwischen den Amerikanern und ihren westlichen Bündnis-
partnern auszugleichen. Pince hob hervor, dass durch diesen technischen Umbau
weder das Volumen noch die Zusammensetzung modifiziert werden müssten und
es auch keiner institutionellen Reform bedürfe. Dadurch antizipierte er auch so-
gleich das potentielle Gegenargument, dass es für die Einheit eines europäischen
Verteidigungskommandos zuvor einer politischen Einheit Europas bedürfe. Er
wischte es als unbegründet vom Tisch, indem er darauf verwies, dass die NATO
immerhin auch einem gemeinsamen Kommando unterstehe, obwohl es zwischen
ihren Mitgliedern keine politische Gemeinschaft gebe. Die Vorteile dieses Umbaus
gründete Pince auf politischen Erwägungen: Erstens würde durch eine zweite
Säule ein größeres Gleichgewicht in der Atlantischen Allianz geschaffen. Zweitens
warf Pince in seinen Überlegungen einen Blick über den „Eisernen Vorhang“
hinweg: Ein solches Vorgehen könnte einen ähnlichen Umbau im Warschauer
Pakt anstoßen und auf diese Weise das sowjetische Kommando von dem der
osteuropäischen Staaten lösen. Damit standen seine Vorschläge insgesamt in der
Tradition der französischen Détente-Konzeption, bei der eine Überwindung der
europäischen Teilung zunächst über den Aufbau eigenständiger europäischer
Identitäten in Ost- und Westeuropa funktionierte. Dieser Prozess wurde durch
zwar freundschaftliche aber nicht paternalistische Beziehungen zu den beiden
Supermächten begleitet.²⁵⁸
Die von Mitterrand seit 1982 zunehmend als asymmetrisch wahrgenommenen
transatlantischen Beziehungen sollten durch eine koordinierte europäische In-
teressenvertretung egalisiert, die Ressourcen dieses Verhältnisses somit von
Loyalität und Abhängigkeit auf Solidarität und Partnerschaft umstrukturiert
werden. Pinces Vorstellungen trafen bei den Beratern von Mitterrand zwar auf
fruchtbaren Boden, bedurften zur konkreten Umsetzung aber auch der Bereit-
schaft der französischen Bündnispartner. Alle neuen Impulse in der deutsch-
französischen Verteidigungskooperation vermögen nicht darüber hinwegzutäu-
schen, dass sich die Vorstellungen über den Zweck der bilateralen Kooperation in
Paris und Bonn unterschieden. Wenn beide Seiten sie auch als „le point de pas-
sage obligé de l’édification progressive d’une entité européenne de défense“²⁵⁹

 AN, AG/5(4)/AH/19, Gérard Pince, Proposition d’un projet de défense européenne par la
Fondation pour l’Europe, 27. Juli 1987.
 ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, En-
tretien du Premier Ministre et du Chancelier fédéral. Coopération franco-allemande en matière de
défense et de sécurité, 8. Juli 1988.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 319

verstanden, waren sich die Diplomaten im Außenministerium doch durchaus der


grundlegenden Differenzen bewusst: Es wurde bereits darauf verwiesen, dass den
deutschen Partnern die Intention unterstellt wurde, die Zusammenarbeit in den
Dienst der Allianz zu stellen und dadurch ihre europäische Säule stärken zu
wollen. Dies wurde als Gegensatz zu den französischen Absichten gesehen, in
denen das europäische Vorgehen langfristig „une logique propre“ erfüllen sollte
„même si l’un de ses effets positifs est évidemment de rééquilibrer la relation
transatlantique de sécurité.“²⁶⁰ Diese Divergenzen wirkten jedoch keineswegs als
Hemmnis, sondern wurden akzeptiert und ihre Aushandlung gewissermaßen in
die Zukunft verlegt. In seinem Lettre à tous les Français war offenkundig gewor-
den, dass „Construire l’Europe“²⁶¹ zu einem Kernthema in einer weiteren Amtszeit
von Mitterrand avancieren würde. Er legte die unterschiedlichen Ziele dar, in
deren Richtungen sich die Gemeinschaft seiner Ansicht nach weiterentwickeln
sollte: Gemeinsame Sicherheitspolitik, politische Einheit und gemeinsamer So-
zialraum. Zwar verlegte er die Konstituierung einer gemeinsamen Verteidigung in
eine fernere Zukunft, hob jedoch auch hervor, dass bereits wichtige Grundlagen
dafür geschaffen worden waren. Dabei benannte er die deutsch-französische
Kooperation im Bereich Sicherheit und Verteidigung explizit als „point de dép-
art“²⁶². Die WEU stellte für ihn eine Plattform europäischer Interessen und De-
batten um die künftige Rolle der NATO dar. Damit skizzierte Mitterrand vor der
Präsidentschaftswahl 1988 nicht nur seine Vorstellungen von den transatlanti-
schen Beziehungen, sondern auch eine alternative Ordnungsstruktur der inter-
nationalen Staatengemeinschaft für die Zukunft.
Die Intensivierung der deutsch-französischen Zusammenarbeit in militäri-
schen und strategischen Fragen der Verteidigung ermöglichte auf der einen Seite
neue Solidaritätserfahrungen zwischen Paris und Bonn, die sich jedoch auf
Mitterrand und Kohl, sowie ihr nahes Umfeld beschränkten. Andererseits sorgte
sie vor allem bei Michail Gorbatschow für Unbehagen. Obwohl sich also diese
Solidarität nicht gegen eine dritte Partei, sondern auf die Schaffung einer Basis für
europäisches Selbstvertrauen richtete, bot sie wiederum Anlass für Misstrauen im
Kontext der Ost-West-Beziehungen. Schon bei seinem ersten Besuch in Paris im
Oktober 1985 hatte der Generalsekretär seine Sorgen wegen der deutsch-franzö-
sischen militärischen Kooperation zum Ausdruck gebracht. Zwar hatte Mitterrand

 ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, En-
tretien du Premier Ministre et du Chancelier fédéral. Coopération franco-allemande en matière de
défense et de sécurité, 8. Juli 1988.
 Mitterrand, Lettre, S. 14.
 Mitterrand, Lettre, S. 17.
320 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

ihm versichert, dass der nukleare Bereich ausgespart bleiben würde.²⁶³ Die Eini-
gung in der Frage nach den Konsultationen beim Einsatz der taktischen Nukle-
arwaffen zwischen Mitterrand und Kohl und das Abkommen vom 28. Februar 1986
beunruhigten den Generalsekretär jedoch erneut.²⁶⁴ Die Präsidentenberater Mu-
sitelli und Védrine erkannten Gorbatschows Sorgen und erwarteten, dass Gor-
batschow das Thema bei Mitterrands Reise nach Moskau ansprechen werde.²⁶⁵
Védrine erinnert sich, dass sich der französische Präsident um Vertrauensbildung
bemühte und versicherte, dass die Bundesrepublik keineswegs in die Entschei-
dungen oder Ausarbeitungen der französischen nuklearen Abschreckung einge-
bunden werde.²⁶⁶ Dies stützt die These, dass hinter Mitterrands Zögern, die
deutsch-französische Zusammenarbeit auch im nuklearen Bereich auszudehnen,
sein Bemühen stand, sowjetische Bedrohungsperzeptionen nicht zusätzlich an-
zuregen und so Spannungen auf dem europäischen Kontinent zu verantworten.²⁶⁷
Auch die Revitalisierung der Westeuropäischen Union löste sowjetisches Miss-
trauen aus und wurde als eine Form militärischer europäischer Integration in der
Presse diffamiert, die Charta zur Sicherheit in Europa der WEU scharf verurteilt.²⁶⁸
Die französische Botschaft in Moskau sammelte die Kritikpunkte in der sowjeti-
schen Presse und sendete sie an das Außenministerium in Paris.²⁶⁹ Anhand der
negativen Reaktionen auf das Projekt einer deutsch-französischen Brigade, den
deutsch-französischen Rat für Verteidigung sowie das jüngste Militärmanöver
„Kecker Spatz“ diagnostizierten französische Diplomaten sowjetisches Misstrau-
en gegenüber jedweder europäischen militärischen Kooperation.²⁷⁰
Die bisherigen Analysen lassen zwei Beobachtungen zu: Zum einen lösten die
Abrüstungsinitiativen von Michail Gorbatschow und die Frage nach seinen In-
tentionen aber insbesondere die Beinahe-Ergebnisse von Reykjavik bei den

 Dumas, Affaires étrangères, S. 271.


 Védrine, Mondes, S. 408.
 AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Jean Musitelli et Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, Votre visite en URSS (7– 10 juillet 1986), 5. Juli 1986.
 Védrine, Mondes, S. 408.
 Siehe dazu auch Attali, Verbatim 1986 – 1991, 19. April 1989, S. 752.
 ADMAE 1935-INVA 6619, MAE, TD Moscou 1187, L’URSS et la défense européenne, 8. April
1987.
 ADMAE 1935-INVA 6619, MAE, TD Moscou 1187, L’URSS et la défense européenne, 8. April
1987; ADMAE 1935-INVA 6619, République française, Ambassade de France en URSS, Yves Pa-
gniez, Ambassadeur de France en URSS à son Excellence Monsieur Jean-Bernard Raimond, Mi-
nistre des Affaires Étrangères, Chronique de l’attitude soviétique à l’égard de la „défense eu-
ropéenne“, dépêche TASS du 26 octobre, 31. Oktober 1987.
 ADMAE 1935-INVA 6770, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Note,
L’attitude de l’URSS à l’égard de la RFA, 7. Oktober 1987.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 321

westeuropäischen Regierungen Misstrauen aus und stimulierten insofern


deutsch-französische und multilaterale Absprachen und Kooperationsbemü-
hungen auf unterschiedlichen politischen Ebenen. Dies lässt auf ein wachsendes
Bestreben der europäischen Akteure schließen, sich auch in Fragen der Sicher-
heitspolitik und Verteidigung besser zu koordinieren. Zum anderen sorgte dies
wiederum in Moskau für Misstrauen, da die militärische und sicherheitspolitische
Zusammenarbeit in Westeuropa als gewissermaßen gegenläufig zu den eigenen
Bemühungen um Abrüstung wahrgenommen wurde. Insofern lässt sich ein re-
ziproker Prozess in der Bildung von Misstrauen in Europa konstatieren, das auch
zur nachhaltigen Verstetigung von Feindbildern hätte beitragen können. Dies war
allerdings nicht der Fall. Stattdessen boten diese Anzeichen von Misstrauen so-
wohl für Gorbatschow als auch für Mitterrand Anlass, sich um Vertrauensbildung
in Europa zu bemühen, für die der Abrüstungsprozess zwischen den USA und der
Sowjetunion als grundlegende Bedingung gesehen werden muss. Die neue Ent-
spannung und das sich abzeichnende Ende der Konfrontation rückten die Über-
windung des Jalta-Systems erstmals von einem hypothetischen Ziel in den Bereich
aktiver politischer Maßnahmen. Der folgende Abschnitt untersucht daher den
Aufbau paneuropäischer Solidarität ab 1988.

4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität

Nach Mitterrands Wiederwahl im Mai 1988 wurde die französische Außenpolitik


für eine weitere Amtszeit neu ausgerichtet und an ein sich wandelndes Umfeld
angepasst. Die Prozesse intensivierter deutsch-französischer und europäischer
Kooperation waren in vollem Gange. Seit 1981 hatten sich die Rahmenbedin-
gungen von Außenpolitik zudem entscheidend gewandelt, da mit Gorbatschows
Perestroika und dem Abrüstungsprozess Feindbilder in Ost und West abgebaut
worden waren. Als Konkurrenz und Misstrauen zunehmend einer Entspannung
wichen, sah sich Mitterrand in seiner Vorstellung von evolutionären Verände-
rungen der existierenden Staatenordnung bestätigt. Zudem griffen Gorbatschows
innenpolitische Reformen in den Jahren 1988 und 1989 auf die sowjetischen Sa-
tellitenstaaten über und stießen auch dort einen politischen Reformprozess an.
Die Veränderungen des internationalen Umfeldes hatten eine Erneuerung der
französisch-sowjetischen Partnerschaft und eine Wiederbelebung der französi-
schen Beziehungen zu den Ländern Osteuropas zur Folge.²⁷¹ Ziel dieses Teilka-

 Vgl. Saunier, Georges: France, the east european revolutions and the reunification of Ger-
322 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

pitels ist es, französische und europäische Maßnahmen zu analysieren, durch die
den Staaten des Ostens Solidarität entgegengebracht wurde, und zu erörtern,
welche Intentionen damit verbunden waren. Auf diese Weise soll herausgear-
beitet werden, welche politischen Vorstellungen bei der équipe Mitterrand hinter
Impulsen zu einer paneuropäischen Solidarität standen und in welchem Ver-
hältnis diese zu den Konzeptionen anderer insbesondere amerikanischer Akteure
standen. Mit dem Wandel in Osteuropa eröffnete sich eine Chance zur Überwin-
dung der europäischen Teilung. Neue Impulse in der französischen Ostpolitik
stellten in dem Kontext aber nur eine Seite der ergriffenen Maßnahmen dar. Der
Präsident und seine Berater hielten es außerdem für erforderlich, die europäische
Integration gegen erwartete wirtschaftliche und politische Herausforderungen zu
stärken. Insofern beruhte die Überwindung der europäischen Teilung nach wie
vor auf einer Doppelstrategie. Die französischen Akteure waren sich aber be-
wusst, dass der Ausbau der EG keinesfalls als Abschottung der Westeuropäer
verstanden werden durfte, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, die sich gerade
auflösende Teilung von Neuem zu vertiefen. Impulse zur Beschleunigung des
europäischen Integrationsprozesses werden im Kontext der deutschen Vereini-
gung im folgenden Kapitel detaillierter untersucht und sollen hier hinter der
Analyse paneuropäischer Solidarität zurückstehen. Zuvor gilt es jedoch, die po-
litischen Voraussetzungen dafür zu erklären, da Gorbatschows innen- und au-
ßenpolitische Reformen 1988 und 1989 neue Bedingungen für Beziehungen
zwischen beiden Teilen Europas schufen.
Die Perspektiverweiterung der Mitterrand’schen Außenpolitik ging damit
einher, dass auch Michail Gorbatschow den Europäern größere Aufmerksamkeit
schenkte. Durch einen Lernprozess rückte die Notwendigkeit zur Vertrauensbil-
dung gegenüber den westeuropäischen Ländern stärker in das Bewusstsein des
Generalsekretärs. Die Reaktionen von Vertretern der westeuropäischen Regie-
rungen auf den amerikanisch-sowjetischen Gipfel 1986 lösten auch bei dem Ge-
neralsekretär einen Reykjavik-Effekt aus. Er ergriff daraufhin politische Maß-
nahmen, um deren Ängste zu beschwichtigen. Die Umstellung der Militärdoktrin
des Warschauer Paktes von einer Offensivstrategie unter dem Einsatz von Kern-
waffen auf eine dreiwöchige Phase defensiver Kriegsführung Ende Mai 1987
richtete sich darauf, europäische Bedrohungsperzeptionen abzubauen.²⁷² Wie

many. In: The Revolutions of 1989. A Handbook. Hrsg. von Mueller, Wolfgang/Gehler, Michael/
Suppan, Arnold. Wien 2015. S. 388.
 Loth, Sowjetische Fü hrung, S. 138; Jones, Christopher: Gorbačevs Militärdoktrin und das
Ende des Warschauer Paktes. In: Der Warschauer Pakt. Von der Grü ndung bis zum Zusammen-
bruch 1955 – 1991. Hrsg. von Diedrich, Torsten/Heinemann, Winfried/Ostermann, Christian F..
Berlin 2009. S. 246, 254; Loth, Willy Brandt, S. 424.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 323

Gorbatschows Berater allerdings bald feststellen mussten, bereitete es dem Ge-


neralsekretär erhebliche Schwierigkeiten, diese bei den Militärs tatsächlich
durchzusetzen.²⁷³ Als Akt der Vertrauensbildung ebnete diese Maßnahme aber
den Weg zur konventionellen Abrüstung in Europa, für die sich Gorbatschow ab
Dezember 1987 zunehmend einsetzte.²⁷⁴
Die Beziehungen der Sowjetunion zu den osteuropäischen Satellitenstaaten
unterlagen als inhärenter Teil des „Neuen Denkens“ in der Außenpolitik bereits
seit seinem Amtsantritt 1985 grundlegenden Veränderungen. Anatolij Tschern-
jajew bezeichnete die „sozialistischen Bruderstaaten“ als „millstone around our
neck“²⁷⁵: Gorbatschows neuer Kurs gegenüber den Verbündeten war also einer-
seits wirtschaftlich motiviert, denn den Preis für deren Loyalität sowie die stei-
genden Kosten konnte er nicht mehr ignorieren.²⁷⁶ Andererseits verkam die Auf-
gabe der Unterdrückungspolitik zunehmend zu einem Selbstzweck, in dem Maße,
wie Gorbatschows Ziele sich von einer reinen Effizienzsteigerung zu einer
Transformation des Systems und einem Demokratisierungsprozess wandelten.
Drittens war die Aufgabe der sowjetischen Dominanz in Osteuropa Teil von Gor-
batschows Strategie, das Feindbild Sowjetunion im Westen zu bekämpfen. In
internen Besprechungen wurde Gorbatschows persönliche Ablehnung der
Breschnew-Doktrin immer wieder deutlich.²⁷⁷ Erstmals teilte der neue General-
sekretär den Führern der anderen Warschauer Pakt Staaten am Rande von Kon-
stantin Tschernenkos Beisetzung mit, dass ihre Beziehungen künftig auf Gleich-
berechtigung, Achtung ihrer Souveränität und Unabhängigkeit beruhen
würden.²⁷⁸ Nach diesem inoffiziellen Bekenntnis distanzierte sich Gorbatschow
auf der 19. Parteikonferenz vom 28. Juni bis zum 1. Juli 1988 zum erste Mal auch
öffentlich von der Breschnew-Doktrin, als er sich der parlamentarischen Demo-
kratie und dem Prinzip der freien Wahl verpflichtete und die Selbstverantwort-
lichkeit der Staaten mit der freien Wahl der Staatsform verknüpfte.²⁷⁹ Als in Polen

 Das „Neue Denken“ kommt bei den Militärs nicht an. Interne Analysen von Michail S.
Gorbačevs Beratern, 25. Mai 1988. In: Karner [u. a.] (Hrsg.), Kreml, Dok. 18, S. 177– 179.
 Loth, Willy Brandt, S. 423f.
 Chernyaev, Diary 1988, 21. Dezember 1988, S. 64.
 Grachev, Gorbachev’s Gamble, S. 115f.
 Keine Wiederholung der Ereignisse in Ungarn 1956 bzw. in der Tschechoslowakei 1968.
Gorbačev: „Wie es war, darf es nicht weitergehen.“ Auszug aus Gesprächsnotizen einer Politbü-
rositzung, 3. Juli 1986. In: Karner [u. a.] (Hrsg.), Kreml, Dok. 7, S. 122.
 Vgl. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 839; Brown, Archie: Aufstieg und Fall des Kommunis-
mus. Berlin 2009. S. 698.
 Über den Verlauf der Realisierung der Beschlüsse des XXVII. Parteitags der KPdSU und die
Aufgaben bei der Vertiefung der Umgestaltung, Referat auf der XIX. Parteikonferenz der KPdSU,
28. Juni 1988. In: Gorbatschow (Hrsg.), Reden und Aufsätze, S. 674.
324 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

seit Beginn 1988 die Streikbewegung an Fahrt gewann,²⁸⁰ signalisierte der Kreml
westlichen Gesprächspartnern, dass eine Rückkehr zur Breschnew-Doktrin keine
Alternative mehr darstellen würde. Gorbatschows Berater Nikolaj Portugalow ließ
bei einem Diplomaten der französischen Botschaft fallen, dass die sowjetischen
Autoritäten Wojciech Jaruzelski eine „Carte Blanche“ ließen und sich keinesfalls
in die internen Angelegenheiten Polens einmischen würden.²⁸¹ Gorbatschow und
seine Berater unterstrichen in persönlichen Gesprächen ihre Vertrauenswürdig-
keit, damit das Misstrauen als Folge jahrzehntelanger Erfahrungen mit sowjeti-
scher Politik den neuen Prozess der Vertrauensbildung nicht störte. Der Gene-
ralsekretär benötigte dringend ausländische Unterstützung für seine
Innenpolitik, die er mit einer Rückkehr zur Breschnew-Dokrtin verspielt hätte:
Portugalow verknüpfte das sowjetische Ersuchen um ein „équivalent d’un Plan
Marshall de l’Europe de l’Ouest vers l’URSS“²⁸² mit einer empathischen Kom-
munikationsstrategie: In dem Bewusstsein, dass es nach wie vor Sorgen bei den
Europäern abzubauen gelte, stelle Sicherheit eine wichtige Dimension von Gor-
batschows Bemühungen für ein Gemeinsames Europäisches Haus dar. Die So-
wjetunion sei bereit, ihre konventionellen Potentiale stark zu reduzieren.²⁸³ Aus
Sicht der Westeuropäer war durch den INF-Vertrag die Dringlichkeit gestiegen, das
konventionelle Übergewicht der Sowjetunion in Europa abzubauen. Am Rande
des G7-Gipfels in Toronto am 19. und 20. Juni 1986 drängte Mitterrand gegenüber
Reagan auf einen Ausgleich der konventionellen Rüstung in Europa, da ansonsten
überlegt werden müsse, die Raketen kürzester Reichweite zu modernisieren.²⁸⁴
Konkrete Pläne legte Gorbatschow bereits bei dem amerikanisch-sowjetischen
Gipfeltreffen in Moskau vom 28. Mai bis 2. Juni 1988 vor.²⁸⁵ Bevor Gorbatschow im
Dezember 1988 in seiner Rede vor den Vereinten Nationen einen unilateralen
Schritt in der konventionellen Abrüstung unternahm, wurde rhetorisch auf inof-
fiziellem Weg bei französischen Gesprächspartnern für Vertrauen und Unter-
stützung geworben.

 Brown, Aufstieg, S. 709.


 ADMAE 1935-INVA 6648, MAE, TD Moscou 4087, Politique européenne de l’URSS. Entretien
avec M. Portugalov, 20. September 1988.
 ADMAE 1935-INVA 6648, MAE, TD Moscou 4087, Politique européenne de l’URSS. Entretien
avec M. Portugalov, 20. September 1988.
 ADMAE 1935-INVA 6648, MAE, TD Moscou 4087, Politique européenne de l’URSS. Entretien
avec M. Portugalov, 20. September 1988.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 19. Juni 1988, S. 567.
 Loth, Sowjetische Fü hrung, S. 138.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 325

Bei den Vorbereitungen für Gorbatschows Rede vor der Vollversammlung der
Vereinten Nationen am 7. Dezember 1988 wurde vorgesehen, die Zahl der sowje-
tischen Streitkräfte offenzulegen und diese bedingungslos zu reduzieren.²⁸⁶ Der
Generalsekretär kündigte eine Reduzierung der Bodentruppen des Warschauer
Paktes um 500 000 Mann, den Abbau konventioneller Waffen sowie den Abzug
und die Auflösung von sechs Panzerdivisionen aus der DDR, der Tschechoslo-
wakei und Ungarn bis 1991 an.²⁸⁷ Mit dieser Initiative ließ Gorbatschow der rhe-
torischen Vertrauensbildung gegenüber den Westeuropäern Taten folgen, da al-
lein die Präsenz sowjetischer Truppen in der DDR die Umstellung der
Militärdoktrin des Warschauer Paktes infrage stellte. Eine Aufrechterhaltung der
sowjetischen Dominanz in Osteuropa lag im Widerspruch zu Gorbatschows ver-
trauensbildenden Maßnahmen. Insofern hätte sie nicht nur die Vertrauenswür-
digkeit von Michail Gorbatschow persönlich unterminiert, sondern darüber hin-
aus auch die Glaubwürdigkeit seiner außenpolitischen Initiativen und des
gesamten Reformvorhabens der Perestroika. Daher sollte Gorbatschows unilate-
raler Schritt in der konventionellen Abrüstung seine Aufrichtigkeit unter Beweis
stellen und Vertrauen bei den westeuropäischen Staaten schaffen. Gewalt bezie-
hungsweise die Androhung von Gewalt stellte in seiner Vorstellung künftig kein
Mittel der Außenpolitik mehr dar. Grundsätzlich bedeutete dies eine ansatzweise
Transformation der Ost-West-Beziehungen, indem deren strukturelle Grundlage
Angst durch Vertrauen, Abschreckung langfristig durch Kooperation ersetzt
werden sollte. In Wien begannen daraufhin am 9. März 1989 die Verhandlungen
über die konventionelle Rüstung in Europa, sodass Helmut Kohl Michail Gor-
batschow bei dessen Staatsbesuch in der Bundesrepublik vom 12. bis 15. Juni 1989
versichern konnte, dass mit einem Abkommen in Wien auch die Modernisierung
der Kurzstreckenraketen hinfällig sein würde.²⁸⁸
Im französischen Außenministerium wurde Gorbatschows Hinwendung zu
Europa vorsichtig bis skeptisch beobachtet, weil ihm Hintergedanken unterstellt
wurden. Nach wie vor gingen Diplomaten davon aus, dass die Moskauer Führung
einen Keil zwischen die westlichen Verbündeten treiben und den Aufbau einer
europäischen Verteidigung unterbinden wolle. Kooperationen in Wirtschaft,
Wissenschaft und Technologie wurden lediglich als Versuch einer Imageaufbes-

 Gorbačevs Gedanken zu seiner bevorstehenden Rede vor den Vereinten Nationen. Auf-
zeichnungen einer Sitzung Michail S. Gorbačevs mit seinen Beratern, 21. Oktober 1988. In: Karner
[u. a.] (Hrsg.), Kreml, S. 226.
 Altrichter, Russland, S. 58.
 Loth, Europas Einigung, S. 291.
326 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

serung interpretiert.²⁸⁹ Gorbatschows Vorstellung vom Gemeinsamen Europäi-


schen Haus wurde unter dem Eindruck vergangener Erfahrungen sowjetischer
Europapolitik wahrgenommen: Verstanden als Instrument klassischer sowjeti-
scher Ziele stand hinter der Erwartung die Unterstellung, Europa in einem pan-
europäischen Dialog über Sicherheit von den USA zu isolieren, sodass es der
Sowjetunion ausgeliefert sein würde. Von dieser Wahrnehmung wurde der
Schluss abgeleitet, die sicherheitspolitischen Verbindungen der Westeuropäer
trotz der innen- und außenpolitischen Veränderungen in Moskau fortzusetzen.
Gorbatschows Propagierung eines Gemeinsamen Europäischen Hauses forderte
die Europäer aus Sicht des Quai d’Orsay daher heraus, ihre Konzepte und Ziele in
Sicherheitsfragen klarer zu definieren und auf unterschiedlichen Ebenen – bila-
teral, europäisch und transatlantisch – darüber zu beraten. Die Fortsetzung der
europäischen Integration sollte zwar nicht zu einer Abkehr von dem Ziel führen,
Beziehungen zu den osteuropäischen Ländern aufzubauen. Gleichwohl blieb es
aus Sicht einiger Diplomaten vorrangig, den Ausbau der Gemeinschaft der Zwölf
fortzusetzen, bevor möglicherweise ein gewisser Grad an Integration mit allen
europäischen Ländern unternommen werden könnte.²⁹⁰ Zumindest in Hinblick
auf den letztgenannten Punkt waren Mitterrand und seine équipe der gleichen
Ansicht. Die Berater im Elysée verstanden die sowjetische Priorisierung Europas
auch als Reaktion auf den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf, der einen
gewissen Stillstand in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen zur Folge
hatte.²⁹¹ Hubert Védrine erkannte zwar auch eine antiamerikanische Stoßrichtung
im Gemeinsamen Europäischen Haus, zugleich ging er aber davon aus, dass
Gorbatschow die Bindungen der beiden Teile Europas ernsthaft fördern wollte.²⁹²
Eine gewisse Überschneidung von Gorbatschows Prämissen mit französischen
Langzeitvorstellungen, konnten auch die Diplomaten des Außenministeriums
nicht leugnen. Dies betraf vor allem die Vorstellung von Europa als historisch-
kulturelle Einheit vom Atlantik bis zum Ural, das gemeinsame Erbe aus Renais-

 ADMAE 1935-INVA 6770, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Note,
L’attitude de l’URSS à l’égard de la RFA, 7. Oktober 1987.
 ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Affaires Stratégiques et du Désarmement, Rapports Est-
Ouest: Les enjeux pour notre sécurité, Juni 1988; ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction d’Eu-
rope, Sous-Direction d’Europe Orientale, Bernard Fassier, Fiche, Le concept soviétique de l’Eu-
rope „notre maison commune“, 19. Mai 1988.
 AN, AG/5(4)/CD/414, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Jean Musitelli,
Note pour le Président de la République, Votre entretien avec M. Chevardnadze (lundi 10 octobre,
15 h), 10. Oktober 1988.
 AN, AG/5(4)/CD/414, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, Votre entretien avec M. Chevarnadze [sic] – Questions de
défense et du désarmement, 10. Oktober 1988.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 327

sance und Aufklärung, sowie das Bedürfnis, wirtschaftliche, wissenschaftliche


und technologische Entwicklungen in beiden Teilen Europas zu fördern.²⁹³
Gleichwohl verweisen diese beiden Beispiele noch einmal auf die Komplexität
von Vertrauen in politischen Beziehungen, da es nicht auf allen politischen und
gesellschaftlichen Ebenen gleichstark ausgeprägt war. Da sich Vertrauen aus ei-
ner Erwartungshaltung speist, ist es immer an ein oder mehrere Subjekte ge-
bunden. Die Heterogenität vergangener Erfahrungen führt zu unterschiedlichen
Realitätsperzeptionen und vermag damit auch die Diversität von Zukunftserwar-
tungen und die Komplexität von Vertrauensbildungsprozessen und politischen
Beziehungen zu erklären. Ferner verdeutlicht dies, wie wichtig der Faktor Per-
sönlichkeit und direkter Dialog ebenso wie die wechselseitige Kenntnis vonein-
ander für Vertrautheit und damit auch für Vertrauen ist.
Ab dem Frühjahr 1988 fanden im Elysée und Quai d’Orsay angesichts der
politischen Veränderungen Überlegungen statt, wie eine post-Cold War Ära
strukturiert sein könnte.²⁹⁴ In der französischen Außenpolitik lagen bereits seit
Jahrzehnten Konzepte vor, die sich in die Détente-Vorstellungen eingeschrieben
hatten.²⁹⁵ Der bipolaren Staatenordnung standen in Form von Léon Blums Europa
als Dritte Kraft oder de Gaulles Europe européenne unrealisierte, hypothetische
Alternativen gegenüber, die auf einer paneuropäischen Vorstellung von Europa
beruhten. Demgegenüber wurde das System von Jalta gewissermaßen als trau-
matisch und als künstliche, realpolitische Übergangslösung wahrgenommen.
Wenn es sich auch verbietet von einer rein analogen Umsetzung vergangener
Konzepte auszugehen, ließ sich doch an gewisse Vorlagen und Vorstellungen
anknüpfen. Zwischen 1981 und 1987 waren wichtige Voraussetzungen für eine
eigenständigere Rolle Europas geschaffen worden, obschon es sich um einen
unvollendeten Prozess handelte, der sich zudem auf Westeuropa beschränkte. Mit
Gorbatschows Amtsübernahme und dem Wandel, den er im Ostblock und in den
Ost-West-Beziehungen initiiert hatte, eröffnete sich die Chance, die paneuropäi-
sche Dimension der französischen Détente-Konzeption stärker in den Vorder-
grund zu stellen. Während die Ostpolitik in den Jahren zuvor, vor allem die Be-
ziehungen zwischen Paris und Moskau privilegiert hatte, suchte die équipe
Mitterrand 1988 nach Möglichkeiten, die Beziehungen zu den osteuropäischen
Staaten wiederzubeleben, die Reformbewegungen zu unterstützen und dadurch
eine Annäherung der zwei Europas zu fördern. Dazu zählte beispielsweise die
Überlegung, Gipfeltreffen mit der polnischen und tschechoslowakischen Regie-

 ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale,
Bernard Fassier, Fiche, Le concept soviétique de l’Europe „notre maison commune“, 19. Mai 1988.
 Saunier, France, S. 387.
 Vgl. dazu Kapitel 1.
328 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

rung anzustreben und eine Assoziierung der Länder an die Gemeinschaft der
Zwölf zu prüfen.²⁹⁶ Als adäquates Instrument für eine Überwindung des Jalta-
Systems und Stärkung paneuropäischer Solidarität wurde im Quai d’Orsay explizit
eine „politique de confiance“²⁹⁷ – Vertrauenspolitik – gefördert: Die Grenzen des
Zweiten Weltkrieges durften nicht infrage gestellt werden; als Quelle neuen
Misstrauens auf dem europäischen Kontinent hätte dies eine Vertrauenspolitik
sogleich ausgehebelt. Das Prinzip der Selbstbestimmung galt es dagegen zu be-
kräftigen. Auf dieser Grundlage sollte die Solidarität zwischen den beiden Teilen
Europas auf zwei Weisen entwickelt werden: Vertrauensbildung durch den Hel-
sinki-Prozess und die konventionelle Abrüstung einerseits und Ausbau von Ko-
operationsstrukturen in den Bereichen Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und
Technologie andererseits.²⁹⁸ Die Weise, in der die Diplomaten im Quai d’Orsay
künftige Beziehungen zu Osteuropa konzeptualisierten, stand damit in der Tra-
dition der französischen Détente-Konzeption.²⁹⁹
Ab Ende 1987 und Anfang 1988 begann auch die deutsche Bundesregierung,
ihre Beziehungen mit der Sowjetunion und den Ländern Osteuropas zu intensi-
vieren. Zugleich waren die deutschen Diplomaten darum bemüht, durch diese
Öffnung nach Osten keine alten Ängste vor einer deutschen Unsicherheit oder ein
Abdriften in den Neutralismus zu reaktivieren. Bei dem Besuch von Premiermi-
nister Michel Rocard sollte ein Teil des Gesprächs den deutsch-sowjetischen Be-
ziehungen gewidmet werden, um Zweifel in die bundesdeutsche „fiabilité“ und
„prévisibilité“ zu zerstreuen.³⁰⁰ Ähnliche vertrauensbildende Maßnahmen un-
ternahm der Kanzler zuvor bereits gegenüber Margaret Thatcher.³⁰¹ Tatsächlich
bekräftigte Kohl in dem Gespräch, dass er zwar im Oktober eine Reise nach
Moskau unternehmen werde, Fragen der Ost-West-Beziehungen aber auf Grund-
lage des europäischen Konsenses und insbesondere der „communauté de vue
franco-allemande“ behandeln werde.³⁰² Mit der Rückkehr der Sozialisten an die

 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 16. Mai 1988, S. 544.


 ADMAE 1935-INVA 6680, Dossier de Synthèse, Visite de M. le Président de la République en
URSS (25 – 26 novembre 1988).
 ADMAE 1935-INVA 6680, Dossier de Synthèse, Visite de M. le Président de la République en
URSS (25 – 26 novembre 1988).
 ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Centrale, Note,
La RFA, la France et la politique à l’Est, 18. Mai 1988.
 ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, TD Bonn 1420, Visite officielle du Premier Ministre à Bonn –
Relations Est-Ouest et questions de désarmement (1/2), 13. Juli 1988.
 ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, TD Bonn 1420, Visite officielle du Premier Ministre à Bonn –
Relations Est-Ouest et questions de désarmement (1/2), 13. Juli 1988.
 ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, TD Bonn 1467, Entretien du Premier Ministre avec le Chan-
celier: Discussion au cours du déjeuner de travail (2/2), 19. Juli 1988.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 329

Regierung fand auch das Gespann Genscher-Dumas zu neuer offizieller Effekti-


vität. Die bilaterale Kooperation war durch eine Intensivierung der Kontakte
zwischen den diplomatischen Abteilungen und gemeinsamen Reflexionen zu
außenpolitischen Themen zunehmend auf den Bereich der beiden Außenminister
ausgedehnt worden.³⁰³ Kohl wollte sich mit François Mitterrand und der franzö-
sischen Regierung in der Ostpolitik besser abstimmen und gemeinsame Orien-
tierungen entwickeln, wie er zu Beginn des Jahres über Richard von Weizsäcker
dem französischen Botschafter mitteilen ließ. Anlässlich des fünfundzwanzig-
jährigen Jubiläums des Elysée-Vertrags hatten die beiden Außenminister eine
deutsch-französische Arbeitsgruppe zur Ostpolitik auf dem Niveau hoher Diplo-
maten geschaffen. Bevor die Sozialisten nach den legislativen Wahlen wieder an
die Regierung gelangten, war die Gruppe bereits drei Mal zusammengetreten.
Roland Dumas signalisierte sogleich, an der von seinem Vorgänger geschaffenen
Arbeitspraxis festhalten zu wollen, als er in das Amt des Außenministers zu-
rückkehrte.³⁰⁴ Da bei deutsch-französischen Konsultationen zu diesen Fragen
bereits zuvor oft Informationen geteilt worden waren, erfuhr diese Arbeitspraxis
durch die Schaffung der Arbeitsgruppe de facto eine Institutionalisierung.³⁰⁵ Das
Ziel der Gruppe ging insofern über gemeinsame Analysen und eine Harmonisie-
rung hinaus, als auch Möglichkeiten für gemeinsame Aktionen gesucht und damit
in Ansätzen eine deutsch-französische Ostpolitik ins Auge gefasst wurde.³⁰⁶
Die Bundesrepublik wurde für Moskau aufgrund ihrer wirtschaftlichen Hilfen
tatsächlich zu einem wichtigen Partner, allerdings blieb Frankreich für Gorbat-
schow „the number one political partner in the construction of new European
architecture.“³⁰⁷ Mitterrand war mit der Vorstellung in den Präsidentschafts-
wahlkampf 1988 gezogen, die Kooperationen über den „Eisernen Vorhang“ hin-
weg auszubauen. Schweden, die Schweiz, Norwegen, Finnland und Österreich
partizipierten bereits an EUREKA; Ungarn, Jugoslawien und die Türkei verhan-

 ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Centrale, Note
de présentation, Visite du Premier Ministre à Bonn, 18. juillet 1988, 6. Juli 1988.
 ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Centrale, Note,
La RFA, la France et la politique à l’Est, 18. Mai 1988; ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction
d’Europe, Sous-Direction d’Europe Centrale, Note de présentation, Visite du Premier Ministre à
Bonn, 18. juillet 1988, 6. Juli 1988.
 Vgl. z. B. ADMAE 1935-INVA 6770, MAE, Sous-Direction d’Europe Centrale, copie du message
de M. Genscher à M. J.B. Raimond résumant les impressions de sa visite à Moscou, 12. August 1986;
ADMAE 1935-INVA 6770, German Delegation, Political Consultations in Moscow on 31 October
1986, Brüssel, 4. November 1986.
 ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction d’Europe, Le Sous-Directeur d’Europe Orientale,
Fiche, Groupe franco-allemand sur la politique à l’Est, 18. Mai 1988.
 Grachev, Common European home, S. 214.
330 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

delten über Abkommen mit der Europäischen Gemeinschaft: All dies stilisierte er
als Stunde eines europäischen Erwachens.³⁰⁸ Dafür entwarfen die Berater des
Präsidenten im Sommer 1988 konkrete Vorschläge. Jean Musitelli legte einen
besonderen Fokus auf die kulturpolitische Dimension von Außenpolitik sowie auf
Aktionen, die sich an die Zivilbevölkerung in den osteuropäischen Staaten richten
sollten. Sein wichtigstes Ziel war es, das politische Misstrauen der Bevölkerung zu
unterlaufen. Aus mehreren Ideen aus dem Außenministerium griff er die Grün-
dung einer Fondation pour l’Autre Europe gesondert heraus. Eine Stiftung hielt er
für ein geeignetes Instrument, um öffentliche und private Bemühungen zu ver-
stärken und dadurch kulturelle wie soziale Verbindungen zwischen beiden Teilen
Europas zu knüpfen. Auf diese Weise wollte er beispielsweise den Dialog zwi-
schen Universitäten, Forschungseinrichtungen und Gewerkschaften fördern.
Mitterrand stimmte der handschriftlichen Empfehlung von Jean-Louis Bianco auf
Musitellis Note zu, „que ce peut être un des axes majeurs de votre septennat.“³⁰⁹
Die Idee einer solchen Stiftung sollte Mitterrand im Oktober 1989 vor dem Euro-
paparlament noch einmal aufgreifen, als er die Schaffung einer europäischen
Stiftung anregte, die die Koordinierung von Austauschprogrammen zwischen Ost
und West übernehmen sollte.³¹⁰ Obwohl der französischen Détente-Konzeption
eine paneuropäische Dimension inhärent war, hatten Beziehungen zu den Län-
dern Osteuropas in der ersten Hälfte der 1980er Jahre gegenüber den französisch-
sowjetischen Beziehungen im Hintergrund gestanden.³¹¹ Kontakte zwischen Ost-
und Westeuropa waren vor allem dem Rahmen der KSZE vorbehalten. Ab 1988
allerdings dachten Mitterrands Berater über Möglichkeiten nach, die Beziehungen
zu intensivieren und die Reformbewegungen zu unterstützen, um eine friedliche
Annäherung zu ermöglichen. Zu diesen Unterstützungsmaßnahmen zählten un-

 „Le rêve d’États Unis d’Europe […] commence d’éveiller la conscience des peuples. […] Eh
bien, j’y pense et je le veux.“, Mitterrand, Lettre, S. 19.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Jean Musitelli,
Note pour le Président de la République, Projet de création d’une „Fondation pour l’Autre Eu-
rope“, 25. August 1988.
 Mitterrand, François: Discours de François Mitterrand devant le Parlement européen (25
octobre 1989). In: Journal officiel des Communautés européennes (JOCE). Débats du Parlement
européen. 25.10.1989, n° 3 – 382. S. 161– 163. http://www.cvce.eu/obj/discours_de_francois_mitt-
errand_sur_les_bouleversements_en_europe_de_l_est_strasbourg_25_octobre_1989-fr-e8763523-
d492– 4c2c-b0f4-d3c2449204ab.html (11.05. 2016).
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 28. September 1988, S. 621.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 331

ter anderem auch mehrere Staatsbesuche des Präsidenten in verschiedene


Hauptstädte osteuropäischer Staaten.³¹²
In der Tat setzte sich der französische Präsident aber auch schon 1988 dafür
ein, die kulturelle und wirtschaftliche Eigenständigkeit der osteuropäischen
Völker zu unterstützen, bevor allzu übereilt die politischen Verhältnisse infrage
gestellt oder umgestürzt würden. „C’est par la culture que les révolutions se fer-
ont.“³¹³, offenbarte Mitterrand dem amerikanischen Präsidentschaftskandidaten
Michael Dukakis. Durch eine Beschleunigung lokaler Forderungen, die politische
Umwälzungen zur Folge haben könnten, fürchtete er, Gorbatschows Stellung zu
gefährden. Auch den noch amtierenden amerikanischen Präsidenten Reagan und
dessen Außenminister Shultz wies er darauf hin, die kulturellen und wirtschaft-
lichen Beziehungen zu entwickeln und eine Identitätsbildung der Länder zu
unterstützen. Dagegen warnte er eindringlich vor politischer Aufhetzung.³¹⁴ Auf-
merksam wurden die Erwartungen innerhalb der neuen amerikanischen Admi-
nistration ab 1989 versucht zu kalkulieren. Zwei unterschiedliche Denkschulen
identifizierte Védrine in Washington. Auf der einen Seite sah er jene, die die
Entwicklungen der osteuropäischen Staaten in Richtung Demokratie unterstützen
wollten, ohne die Sowjetunion zu provozieren. Auf der anderen Seite erkannte er
in der Administration aber auch Akteure, die den politischen Umbruch durch die
schnelle Entwicklung freier Wahlen und die Auflösung des Warschauer Paktes
forcieren wollten. Dies entsprach in keiner Weise den Vorstellungen der équipe
Mitterrand.Védrine hielt ein solches Vorgehen für riskant, da er fürchtete, Moskau
zu gewaltsamen Reaktionen zu provozieren. Grundsätzlich erwartete Védrine von
Reagans Nachfolger George Bush zwar nicht, dass er es auf eine Provokation
Moskaus anlegen würde. Dennoch wertete er dessen Forderung, die Truppen des
Warschauer Paktes unverzüglich aus Osteuropa abzuziehen, als Zeichen eines
steigenden Drucks durch Washingtons Hardliner.³¹⁵
Nach den ersten Treffen zwischen Mitterrand und Gorbatschow hatten zwi-
schen 1986 und 1988 zunächst keine weiteren Gipfel stattgefunden. Während der
amerikanisch-sowjetische Dialog bis 1987 für Gorbatschow Priorität genoss und in
Paris zwischen 1986 und 1988 ohnehin die Cohabitation für einige außenpoliti-

 Vgl. Dumas, Roland: Politiquement incorrect. Secrets d’Etat et autres confidences. Carnets
1984– 2014. Paris 2015. S. 174– 177; Attali, Verbatim 1986 – 1991, 16. Mai 1988, S. 544; Saunier,
France, S. 388.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 28. September 1988, S. 621.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 29. September 1988, S. 623.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, Sommet des Sept; Questions Est-Ouest et stratégiques, 13. Juli
1989.
332 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

sche Irritationen gesorgt hatte, fanden die französisch-sowjetischen Beziehungen


ab 1988 zu einer neuen Dynamik. Die Schnelligkeit, mit der Schewardnadse die
erste offizielle Einladung nach Frankreich annahm, interpretierte Hubert Védrine
als Zeichen für sowjetisches Interesse „pour une relance rapide et forte de nos
relations après la stagnation qu’elle ont connue depuis votre visite de juillet 1986
à Moscou.“³¹⁶ Für November plante Mitterrand eine Reise nach Moskau, bei der
Jean Musitelli ein Mindestmaß an europäischer Abstimmung empfahl, da mit den
Besuchen vom italienischen Ministerpräsidenten Ciriaco De Mita und Bundes-
kanzler Helmut Kohl das Risiko eines unkoordinierten „défilé“ bestand.³¹⁷ Gor-
batschow und sein Mitarbeiterstab versuchten unter anderem auch deshalb, die
Beziehungen zu westeuropäischen Staaten zu intensivieren, da sich die neue US-
Administration nach ihrem Amtsantritt sehr zurückhaltend gegenüber der So-
wjetunion zeigte.³¹⁸ Vor dem Treffen von Gorbatschow und Mitterrand machte
Vadim Zagladin Botschafter Yves Pagniez auf sowjetische Perzeptionen des eu-
ropäischen Integrationsprozesses und der Pläne zur Bildung einer Europäischen
Union bis 1992 aufmerksam. Anders als in der Vergangenheit signalisierte er
grundsätzlich Unterstützung des Kremls für den Prozess. Offen sprach er aber
auch die Sorgen an, die die Entwicklungen auslösten. Die sowjetische Führung
fürchtete, dass sich die Europäer künftig auf sich selbst zurückziehen könnten,
während sie selbst im Gegenteil auf den Ausbau von Kooperationsstrukturen
hoffte.³¹⁹ Am 25. November 1988 gab Mitterrand dem Generalsekretär persönlich
eine Antwort auf diese Frage, die Gorbatschow vor allem beschäftigte, weil er
westliche Partner für den Erfolg seiner innenpolitischen Reformen suchte und
brauchte. In seinen Memoiren erinnert er sich daran, dass die Formel des Ge-
meinsamen Europäischen Hauses zwar Anklang bei dem französischen Präsi-
denten gefunden, er jedoch bei ungeklärten Fragen intensiv nachgehakt habe.³²⁰
Insbesondere die Fragen, wie das Konzept umzusetzen sei und wie eine Integra-
tion zwischen Ost und West vorangetrieben werden könnte, schienen Mitterrand
wohl auch zu beschäftigen, weil er und seine équipe selbst Antworten auf die-

 AN, AG/5(4)/CD/414, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note


pour le Président de la République, Votre entretien avec M. Chevarnadze [sic] – Questions de
défense et de désarmement, 10. Oktober 1988.
 AN, AG/5(4)/CD/414, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Jean Musitelli,
Note pour le Président de la République, Votre entretien avec M. Chevardnadze (lundi 10 octobre,
15 h), 10. Oktober 1988.
 Vgl. Leffler, Mankind, S. 424; Gaddis, Der Kalte Krieg, S. 297.
 ADMAE 1935-INVA 6680, MAE, TD Moscou 5432, Visite à Moscou de M. le Président de la
République. Entretien avec M. Zagladine, 23. November 1988.
 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 636.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 333

selben Fragen suchten. Der Ausbau von Kooperationsstrukturen durch „gesamt-


europäische Aktionsprogramme in Umweltfragen und der Anschluss an wissen-
schaftlich-technische Zusammenarbeit der europäischen Staaten an das ‚EU-
REKA-Projekt‘“³²¹ sah der französische Präsident als Möglichkeit, um die Teilung
Europas auszuhebeln. Er offenbarte Gorbatschow seine Vorstellung, eine Staa-
tenordnung auf Solidarität, Kooperation und Vertrauen zu gründen: „En fait, ce
n’est pas le désarmement en soi qui m’intéresse, c’est la paix, et donc l’indé-
pendance de nos peuples dans la coopération.“³²² Mitterrand und Gorbatschow
lagen in ihrer Vorstellung, dass die Androhung von Gewalt einer stabilen Frie-
densordnung im Weg stand, nahe beieinander. Daher waren sie beide bestrebt,
Angst als strukturelles Merkmal internationaler Beziehungen zu ersetzen. Der
Zusammenhang von Erfahrung und Erwartung für die Bildung von Vertrauen
beziehungsweise Angst war beiden offenbar bewusst. Die Erfahrung der Bedro-
hung sollte deshalb gewissermaßen mit Solidaritätserfahrungen durch Zusam-
menarbeit überschrieben werden, die Vertrautheit und Vertrauen stiften würden.
Es war tatsächlich nichts Geringeres als der Wunsch nach einem Strukturwandel
internationaler Beziehungen, der die beiden miteinander verband.
Mit dem beginnenden Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in
Osteuropa mussten beide ihre Vorstellungen an die veränderte Realität anpassen.
Der Grund dafür, dass sie trotz einer grundsätzlichen Nähe in ihren Vorstellungen
unterschiedliche Prioritäten setzten, lag in den kategorisch verschiedenen poli-
tischen Rahmenbedingungen. Während Gorbatschow primär versuchte, seine
Perestroika gegen wachsende innenpolitische Widerstände abzusichern, ging es
Mitterrand darum, die europäische Konstruktion gegen ein befürchtetes Erdbeben
in Osteuropa zu stärken.³²³ Die Abkehr von der Breschnew-Doktrin entfaltete ab
1989 politische Wirkmächtigkeit, als sich die Länder Osteuropas von der kom-
munistischen Herrschaft befreiten.³²⁴ Gorbatschows Rede vor der Vollversamm-
lung der Vereinten Nationen war der Höhepunkt seiner Offensiven, da die An-
griffsfähigkeit des Warschauer Paktes durch seine Ankündigung einer
unilateralen konventionellen Abrüstung erheblich eingeschränkt wurde.³²⁵ Die
politischen Konsequenzen waren weitreichend: Andrei Grachev sieht sie am Ur-
sprung des Umsturzes der kommunistischen Regime in den einstigen Satelliten-
staaten. Rhetorisch hatte Gorbatschow bereits mehrfach die Androhung und den
Einsatz von Gewalt als politisches Instrument ausgeschlossen. Der Abzug der

 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 636.


 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 25. November 1988, S. 662.
 Grachev, Common European home, S. 215.
 Siehe dazu: Brown, Aufstieg, S. 696 – 730.
 Loth, Sowjetische Fü hrung, S. 139.
334 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

sowjetischen Truppen demonstrierte hingegen die Lockerung des imperialisti-


schen Griffs aus Moskau.³²⁶ Damit markiert die Rede zugleich den Wendepunkt
von Gorbatschows Einfluss auf der internationalen Bühne: Die Machtbalance
schien sich zu verschieben und dem Generalsekretär eine Politik aufzudrängen;
während er zuvor mit seinen Initiativen stets in die Offensive gegangen war, sah er
sich nun genötigt, auf die Ereignisse zu reagieren. Als sich 1989 nacheinander
Ungarn, Polen, die DDR, die Tschechoslowakei, Bulgarien, Rumänien und Alba-
nien von der kommunistischen Herrschaft befreiten, hatte dies auch realpoliti-
sche Auswirkungen auf die Sowjetunion, da dies den Zusammenhalt des War-
schauer Paktes und das sicherheitspolitische Bündnis insgesamt ins Wanken
brachte. Die Entwicklungen blieben nicht ohne Folgen für Gorbatschows Innen-
politik, die nun zunehmend scharfer Kritik von zwei politischen Richtungen
ausgesetzt war – den kommunistischen Hardlinern und jenen, denen die Refor-
men nicht weit und schnell genug gingen.
Hinzu kam, dass innerhalb der Sowjetunion nationalistische Forderungen als
Begleiterscheinung der Perestroika an die Oberfläche getragen wurden, die die
sowjetische Zentralgewalt Jahrzehnte unterdrückt hatte. Jacques Blot fragte sich,
wie weit Gorbatschow gehen könnte, um diese Probleme in den Griff zu bekom-
men, ohne das Imperium zu destabilisieren. Überall im Land beobachtete er
ethnische Konflikte und Spannungen, die durch Diskussionen um Minderheiten
und Grenzen entstanden.³²⁷ Über erste Anzeichen für das Anwachsen zentrifu-
galer und nationalistischer Kräfte berichtete der französische Botschafter in
Moskau Ende 1988. Unter den verschiedenen vorstellbaren Szenarien schloss
Pagniez eine erneute Unterdrückung der Nationalitäten aus, da dies dem Prinzip
der Perestroika zuwiderlaufen würde. Eine Akzeptanz der Forderungen, die bei-
spielsweise bei den reicheren baltischen Republiken auf eine wirtschaftliche
Abkopplung von der Union hinausliefen, hielt er allerdings auch kaum für mög-
lich. Eher erwartete er eine institutionelle Erneuerung und Schaffung neuer au-
tonomer, administrativer Strukturen sowie eine grundsätzliche Reformierung und
Dezentralisierung.³²⁸ All dies trug dazu bei, die innenpolitische Situation von
Michail Gorbatschow zu verschärfen. Seine Konzentration verschob sich von der
Außen- auf die Innenpolitik und richtete sich ab 1989 zunehmend darauf, der
Entwicklungen Herr zu werden, um sowohl Bündnissystem als auch Imperium zu
erhalten und zu stabilisieren. Gleichzeitig waren die französischen Diplomaten

 Grachev, Gorbachev’s Gamble, S. 126.


 AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Le Directeur, Jacques Blot, Le réveil de
l’histoire, 16. November 1989.
 ADMAE 1935-INVA 6680, MAE, TD Moscou 5301, Pagniez, Visite en URSS du Président de la
République. Question des nationalités en URSS (2/2), 19. November 1988.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 335

für Gorbatschows innenpolitische Probleme sensibilisiert und beobachteten die


Entwicklungen in der Sowjetunion mit Sorge.
In der Erkenntnis, dass sich die Nachkriegsordnung aufzulösen begann,
stützte sich die französische Außenpolitik auf drei Ziele: Erstens wurde eine
größere Annäherung an Michail Gorbatschow gesucht. Die équipe Mitterrand
bemühte sich zweitens um eine Intensivierung der Ostpolitik in einem europäi-
schen Kontext. Drittens sollten die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft
die Grundlage für eine neue Staatenordnung bilden, weshalb sich Mitterrand und
seine Mannschaft um eine Beschleunigung des europäischen Integrationspro-
zesses bemühten.³²⁹ Eine tatsächliche Veränderung der französischen Außen-
und Sicherheitspolitik stellte dies im Grunde nicht dar. Nach wie vor wurde an
einer doppelten Strategie festgehalten: Die eine Seite umfasste Konzepte und
Maßnahmen zur Annäherung zwischen West- und Osteuropa. Der zweite Teil der
Strategie richtete sich auf die Fortsetzung des europäischen Integrationsprozes-
ses.³³⁰ In Hinblick auf die rasanten Wandlungsprozesse in Europa und der At-
traktivität, die die europäische Konstruktion auf die Länder des Ostens ausübte,
kam ihr eine besondere Funktion als Stabilisator zu.³³¹ Jacques Blot allerdings
bemängelte, dass Westeuropa sich angesichts des Umsturzes in Osteuropa als zu
unbeweglich zeige. Er sah es in alten Strukturen verhaftet, „plus soucieuse de se
protéger que répondre aux défis que lui pose une Europe nouvelle“³³². Dies ver-
weist darauf, dass es innerhalb der französischen Administration auch Vertreter
gab, die sich für eine offensivere Gestaltung der europäischen Transformations-
prozesse einsetzten. Demgegenüber sahen andere die EG dadurch herausgefor-
dert, dass die ehemals kommunistischen Staaten einen Anschluss an die Ge-
meinschaft suchen und dadurch ihren Zusammenhalt schwächen könnten. Der
entscheidende Unterschied zwischen defensiver und offensiver Strategie bestand
in dem zeitlichen Horizont, der für die Entwicklungen vorgesehen war. François
Mitterrand hielt nach wie vor an seinen Vorstellungen einer evolutionären Ent-
wicklung fest, als die Prozesse in Osteuropa revolutionäre Züge annahmen. An-
statt eine neue Strategie zu entwerfen, unternahm die équipe Mitterrand den
Versuch, die alte durch eine Beschleunigung des europäischen Integrationspro-

 Saunier, Georges: Défaire le mur sans défaire l’Europe. La diplomatie française au pied du
mur. In: L’est et l’ouest face à la chute du mur. Question de perspective. Hrsg. von Weinachter,
Michèle. Chergy-Pontoise 2013. S. 75f.
 Vgl. dafür Kapitel 5.
 AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Conception française du rapprochement des deux Europe et de
la solution à la „question allemande“, 30. November 1989.
 AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Le Directeur, Jacques Blot, Le réveil de
l’histoire, 16. November 1989.
336 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

zesses zu aktualisieren.³³³ Parallel ergriff sie Unterstützungsmaßnahmen, um


erstens die politische Stellung von Michail Gorbatschow und zweitens die ost-
europäischen Reformprozesse zu stabilisieren.
Dafür bediente sie sich unterschiedlicher politischer Instrumente und Stra-
tegien. Auf verschiedenen politischen Ebenen wurde der paneuropäische Dialog
bi- wie multilateral vertieft, wofür auch die bestehenden europäischen Institu-
tionen genutzt wurden.³³⁴ Als der Generalsekretär vom 4. bis 6. Juli 1989 zu einem
Staatsbesuch nach Frankreich kam, wurde das persönliche Vertrauen zwischen
Mitterrand und Gorbatschow massenmedial inszeniert. In Live-Interviews im
Fernsehen und Pressekonferenzen sollte die „relation plus assurée et plus con-
fiante entre le Président et Gorbatchev“ zum Ausdruck gebracht werden.³³⁵ Die
Unterzeichnung weitreichender bilateraler Kooperationsverträge in den Berei-
chen Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technologie gewährte außerdem
Unterstützung für den Erfolg von Gorbatschows Reformen.³³⁶ Regelmäßig wurde
im Elysée die innenpolitische Situation der Sowjetunion evaluiert. Von den 1990
anstehenden Wahlen in den sowjetischen Teilrepubliken erwartete die équipe
Mitterrand eine Verschärfung der zentrifugalen Kräfte.³³⁷ Insofern diente die So-
lidarität einer Stabilisierung des Generalsekretärs und sowjetischer Reformpro-
zesse.
Die parlamentarische Versammlung des Europarates wurde für Michail Gor-
batschow am 6. Juli 1989 zur Bühne, um sich für Verbindungen zwischen der
Sowjetunion und dem Rat auszusprechen, die bei vorbereitenden Gesprächen am
19. und 20. Oktober in die Wege geleitet wurden. Auch der Ausbau von Kontakten
zwischen Europarat und den Ländern Osteuropas erfuhr seit dem Sommer 1989
eine Beschleunigung. Am 16. November 1989 unterzeichneten Ungarn und Polen
die Kulturkonvention des Europarates; Ungarn ersuchte gar um einen Beitritt. Die
équipe Mitterrand unterstützte die Entwicklung von Kontakten zwischen Euro-
parat und osteuropäischen Ländern, weil es ihrem Anliegen entsprach, den
Dialog zwischen Ost und West hinsichtlich der Themen Menschenrechte und
Demokratisierung zu vertiefen. Sie schätzte den Europarat als geeigneten Rah-
men, um in diesen Ländern Werte wie Menschenrechte und Demokratie zu stär-

 Siehe dafür Kapitel 5.


 AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Conception française du rapprochement des deux Europe et de
la solution à la „question allemande“, 30. November 1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/48, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Jean Musitelli,
Note pour Jean-Louis Bianco, Programme de la visite de M. Gorbatchev à Bonn, 13. Juni 1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/48, Présidence de la République, Visite officielle en France de M. Mikhail
Gorbatchev (4– 6 Juillet 1989), Textes signés, 5. Juli 1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/48, URSS: Situation intérieure, 28. November 1989.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 337

ken. Auch Gorbatschows Vorschlag in Straßburg, eine Zusammenarbeit in der


Justiz und Menschenrechtsfragen zu fördern, traf auf französische Zustimmung.
Insgesamt beurteilten Mitterrands Berater dies als eine Vollendung der paneu-
ropäischen Bestimmung des Europarats. Die Bereiche Kultur, Umwelt und hu-
manitäre Werte dienten ihrer Ansicht nach am besten der europäischen Identi-
tätsbildung.³³⁸ Denn gerade ein Bewusstseinswandel und europäischer
Identitätsbildungsprozess in Osteuropa waren für sie notwendige Voraussetzun-
gen zur Überwindung der Teilung.³³⁹ Die Stärkung des paneuropäischen Dialogs
im Rahmen des Europarats stellte daher eines der Instrumente dar, das System von
Jalta zu unterlaufen und die Transformationsprozesse zu unterstützen.
Auch die Europäische Gemeinschaft trat als Akteur in Erscheinung, indem sie
eine wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit den Ländern des Ostens
aufnahm. Während der deutschen Ratspräsidentschaft 1988 waren Kooperati-
onsverträge zwischen der EG und dem Rat gemeinsamer Wirtschaftshilfe sowie
zwischen der EG und Ungarn geschlossen worden.³⁴⁰ Als Frankreich in der
zweiten Jahreshälfte 1989 die europäische Ratspräsidentschaft übernahm,
machte die équipe Mitterrand die Zusammenführung der beiden Teile Europas zu
einem ihrer Hauptanliegen.³⁴¹ Der wirtschaftlichen Unterstützung des sowjeti-
schen Reformvorhabens diente ein erster Rahmenvertrag zwischen der Gemein-
schaft und der Sowjetunion über Handel und Kooperation nach dem Vorbild von
Verträgen, die zuvor auch schon mit Ungarn und Polen geschlossen worden wa-
ren. Dafür sollen im kommerziellen Bereich Handelsrestriktionen der Gemein-
schaft gegenüber sowjetischen Waren aufgehoben werden. Durch die Bildung
einer Kommission sollten mögliche Kooperationsprojekte geprüft werden, um den
Erfolg der Perestroika zu unterstützen.³⁴² Dem Leiter der wirtschaftlichen Au-
ßenbeziehungen Jacques Desponts ging die Aufhebung dieser Beschränkungen
offenbar nicht schnell genug, um sich förderlich auf Gorbatschows Reformen
auszuwirken. Anfang Juli 1990 regte er daher an, ihren Abbau zu beschleunigen.
Grundsätzlich war mit dem Abkommen über Handel und wirtschaftliche Zu-

 AN, AG/5(4)/CDM/48, Note, Le Conseil de l’Europe et les pays d’Europe Centrale et Orientale,
28. November 1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Conception française du rapprochement des deux Europe et de
la solution à la „question allemande“, 30. November 1989.
 ADMAE 1935-INVA 6791, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Centrale, Note,
Politique étrangère de la RFA, 10. April 1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Conception française du rapprochement des deux Europe et de
la solution à la „question allemande“, 30. November 1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Conclusion de l’accord CEE–URSS, ohne Datum, entstand im
Kontext der Vorbereitungen von Mitterrands Reise nach Kiew, Ende November/Anfang Dezember
1989.
338 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

sammenarbeit zwischen EG und Sowjetunion vom 18. Dezember 1989 anvisiert


worden, die Beschränkungen bis 1995 völlig zu eliminieren. Am 12. Mai 1990 bat
Moskau um eine Beschleunigung dieses Verfahrens, was Desponts als Geste von
starker symbolischer Tragweite befürwortete, da er es für weitaus schwieriger
hielt, die Sowjetunion mit finanziellen Mitteln der Gemeinschaft zu unterstützen
und bilateraler Handel nur in sehr eingeschränktem Maße möglich war.³⁴³
Im Frühjahr 1990 setzte sich Roland Dumas vor der französischen National-
versammlung für eine Ausweitung der Entwicklungshilfen für Osteuropa ein.³⁴⁴
Bei dem G7-Treffen am 14. Juli 1989 in Paris war ein Aufruf zur finanziellen Un-
terstützung des Reformprozesses im Osten unternommen worden, dem 24 Länder
folgten. Mitterrands Mitarbeiter entwickelten daraus die Idee einer europäischen
Bank zur Modernisierung Osteuropas, an der sich bei der Unterzeichnung am
29. Mai 1990 40 Länder sowie die Europäische Gemeinschaft und die europäische
Investitionsbank beteiligten. Nach dem Vorbild der europäischen Investitions-
bank regte Mitterrand bei seiner Rede vor dem Europäischen Parlament im Ok-
tober 1989 die Schaffung eines Äquivalents für die Entwicklung Osteuropas an.
Dieser 1991 unter der Bezeichnung Europäische Bank für Wiederaufbau und Ent-
wicklung und dem ersten Vorsitzenden Jacques Attali geschaffenen Bank wies
Mitterrand 1989 die Aufgabe zu, die großen Projekte zu finanzieren, indem die
Mitgliedstaaten der Gemeinschaft daran beteiligt würden. Die Gemeinschaft sollte
mit dem Verwaltungsrat der Bank assoziiert werden ebenso wie Polen, Ungarn
und möglicherweise die Sowjetunion.³⁴⁵ Der französische Außenminister machte
sich zudem für weitreichende Unterstützungsmaßnahmen stark: Durch finanzi-
elle Hilfen sollte die Modernisierung von Landwirtschaft und Industrie, Umwelt
und Wirtschaft vorangetrieben werden. Er wollte die Zusammenarbeit aber auch
auf neue Bereiche ausdehnen: Unter dem Motiv „Hilfe zur Selbsthilfe“ schlug er
Kooperationen im Bildungssektor vor, damit den osteuropäischen Ländern bei der
Ausbildung von Kompetenzen und der Entwicklung von Marktwirtschaft unter die
Arme gegriffen würde. Sogar eine Assoziierung der zentral- und osteuropäischen
Staaten mit der Europäischen Gemeinschaft war für ihn vorstellbar, um den Erfolg

 AN, AG/5(4)/CDM/47, Ministre de l’Economie des Finances et du Budget, Ministre du Com-
merce extérieure, Direction des Relations économiques extérieures, Le Directeur des Relations
economiques extérieures, Jacques Desponts, Note pour le Ministre d’Etat, Les modalités de mise
en œuvre d’une aide exceptionnelle à l’URSS, 5. Juli 1990.
 Dumas, Roland: Rede vor der Assemblée Nationale. In: Comptes Rendus des débats au cours
de la IXe législature (1988 – 1993), session ordinaire 1989 – 1990, séance du mardi 10 avril 1990.
S. 197– 202. http://archives.assemblee-nationale.fr/9/cri/1989 – 1990-ordinaire2/008.pdf (14.11.
2016).
 Mitterrand, Discours Parlement européen, Strasbourg, 25. Oktober 1989.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 339

der Reformen zu sichern und die Entwicklung demokratischer Strukturen un-


umkehrbar zu machen.³⁴⁶ Dumas plädierte so dafür, Verantwortung für die
Transformationsprozesse im Osten zu übernehmen. Mehr noch als politisches
Verantwortungsgefühl drücken Dumas’ Rede und die Maßnahmen der Gemein-
schaft allerdings ein neues Selbstverständnis und gewachsenes Selbstbewusst-
sein der Europäer aus, die Gestaltung einer europäischen Friedensordnung selbst
in die Hand zu nehmen.³⁴⁷
Die Auflösung der Nachkriegsordnung stellte ein Moment größter Unge-
wissheit dar, das Risiken und Chancen zugleich barg. Die Stabilisierungsmaß-
nahmen durch wirtschaftliche und finanzielle Hilfen, kulturelle und wissen-
schaftliche Zusammenarbeit sowie Vertiefung des politischen Dialogs waren nur
eine Seite der Bemühungen, eine Staatenordnung nach dem Kalten Krieg zu
konstruieren. Diese Forcierung paneuropäischer Solidarität sollte helfen, den
Entwicklungsrückstand des Ostens gegenüber dem Westen aufzuholen und die-
sen Ländern ihren Weg in die parlamentarische Demokratie zu ebnen. All dies
lässt sich sowohl als präventive Maßnahmen verstehen, Konflikten auf dem eu-
ropäischen Kontinent als Folge der politischen Umbruchsituation vorzubeugen.
Hinter der Solidarität stand bei der équipe Mitterrand über den Wunsch der Un-
terstützung hinaus eine weitreichendere Intention: Die Maßnahmen stellten aus
ihrer Sicht das Fundament neu strukturierter Staatenbeziehungen dar. Als Mitt-
errands Berater beispielsweise das Treffen des Präsidenten mit Michail Gorbat-
schow in Kiew am 6. Dezember 1989 planten, standen Abrüstungsfragen auf der
Gesprächsagenda, um damit die amerikanisch-sowjetische Exklusivität aufzu-
brechen. Bei einer Reise von Roland Dumas nach Moskau waren unter anderem
Konsultationen zwischen einer französischen und sowjetischen Delegation für
den 20. Dezember 1989 vereinbart worden.³⁴⁸ Insbesondere die Verhandlungen
über chemische Waffen hofften Elysée und Quai d’Orsay vom amerikanisch-so-
wjetischen Bilateralismus in einen multilateralen Prozess in Genf zu überfüh-
ren.³⁴⁹ Die bilateralen französisch-sowjetischen Kontakte waren somit auch ein
Instrument, an der Gestaltung einer multipolaren Staatenordnung beteiligt zu
werden. Dahinter stand die Erwartung, Europa vom Objektstatus amerikanisch-

 Dumas, Rede vor der Assemblée Nationale, 10. April 1990.
 Loth, Europas Einigung, S. 231.
 AN, AG/5(4)/CDM/48, Note, Rencontre de Kiev – Questions politico-militaires/désarmement,
ohne Datum, entstand im Kontext der Vorbereitungen von Mitterrands Reise nach Kiew, Ende
November/Anfang Dezember 1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/48, MRE, Sous-Direction du Désarmement, Fiche, Négociation sur les
forces armées classiques en Europe et sur les mesures de confiance et de sécurité. Entretien du
Président de la République avec M. Gorbatchev (Kiev, le 6 décembre 1989), 28. November 1989.
340 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

sowjetischer Gespräche zu befreien und durch eigenständige Initiativen als


handelndes Subjekt der internationalen Beziehungen zu etablieren.
Neben wirtschaftlicher und kommerzieller Zusammenarbeit durch die EG
waren auch durch die Europäische Politische Zusammenarbeit paneuropäische
Initiativen ergriffen worden. Unter spanischer Ratspräsidentschaft in der ersten
Jahreshälfte 1989 hatten erste Kontakte zwischen der EPZ und der Sowjetunion,
auf Ebene der politischen Direktoren, Botschafter und Außenminister stattge-
funden.³⁵⁰ Die französische Ratspräsidentschaft hatte diesen Dialog fortgesetzt.
Neben der grundsätzlichen Funktion, durch Solidarität Ost- und Westeuropa
einander anzunähern, zielte dies, zumindest in den Vorstellungen der équipe
Mitterrand, auf die ersehnte Multipolarisierung der internationalen Beziehungen
ab.³⁵¹ De facto trat die EG hier als eigenständiger außenpolitischer Akteur in Er-
scheinung und versuchte, durch diese Praktiken eine neue multilaterale Realität
zu schaffen.
Mit dem Aufbrechen von Feindbildern und Bedrohungsperzeptionen sowie
dem politischen und gesellschaftlichen Wandel im Osten hatten allerorts Mitar-
beiter in den außenpolitischen Direktionen damit begonnen, konkretere Vor-
stellungen einer künftigen Staatenordnung zu entwickeln, die nicht selten in
Widerstreit zueinander gerieten. Vor der Fondation Saint-Simon legte Hubert
Védrine am 26. April 1989 dar, dass ein finnlandisiertes Westeuropa ebenso ver-
mieden werden müsse, wie ein neutrales wiedervereintes Deutschland. Auch das
Zukunftsszenario einer deutschen Vormacht im Falle einer paralysierten euro-
päischen Konstruktion wünschte sich Mitterrands Berater nicht. Um diese Mög-
lichkeit auszuschließen, leitete der Präsidentenberater konkrete Handlungsfolgen
ab: Erstens plädierte er dafür, den Ausbau der europäischen Konstruktion
schneller voranzutreiben. Zweitens sollte durch eine schnelle Verwirklichung des
gemeinsamen Binnenmarktes und eine gemeinsame Politik im sozialen, audio-
visuellen und Umweltbereich dafür gesorgt werden, dass der europäische Inte-
grationsprozess Rückhalt durch die öffentliche Meinung erfuhr. Drittens machte
sich Védrine für eine Vertrauenspolitik gegenüber der Bundesrepublik stark, in-
dem er sich entschieden gegen kontraproduktive Unterstellungen deutschen

 AN, AG/5(4)/CDM/48, Note, Perspectives du dialogue politique des Douze avec l’Union So-
viétique, ohne Datum; wahrscheinlich November/Dezember 1989 im Vorfeld der Reise nach Kiew;
AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Dialogue politique des Douze avec les pays d’Europe de l’Est,
28. November 1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/48, Note, Perspectives du dialogue politique des Douze avec l’Union So-
viétique, ohne Datum; wahrscheinlich November/Dezember 1989 im Vorfeld der Reise nach Kiew.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 341

Großmachtstrebens aussprach.³⁵² Anschuldigungen würden neues Misstrauen


zwischen den europäischen Partnern schaffen und den angestrebten Prozess
verzögern. Die Implikationen für die deutsche Frage stehen im Zentrum des fol-
genden Kapitels. An dieser Stelle ist vielmehr Védrines Konzeptualisierung in-
ternationaler Beziehungen von Interesse, die für ihn weniger auf staatlicher Ri-
valität als vielmehr auf Kooperation, Solidarität, Vertrauen, Transparenz und
Unterstützung durch eine breite Öffentlichkeit beruhte.Védrine ließ das Bild eines
handlungsfähigen Europas entstehen, das als Vorbild für andere Staaten dienen
könnte:

Dans l’hypothèse de l’Europe en marche, à la concrétisation de laquelle doivent tendre tous


nos efforts, l’Europe de 12 exercerait une attraction imparable sur toute l’Europe de l’Est, le
Maghreb et les pays associés. Elle aurait les moyens d’une politique avec l’URSS qui lui sont
propres. Les zones d’influence des grands pays membres de la Communauté s’additionne-
raient au lieu de se combattre ou de se concurrencer.³⁵³

Aus Sicht von Mitterrands Beratern war eine solche mögliche Zukunft allerdings
zahlreichen Gefahren ausgesetzt: Im Frühjahr 1989 fürchteten sie auch, dass sich
die USA und die Sowjetunion über den Kopf der Europäer hinweg über eine
künftige Staatenordnung verständigen könnten. Das „Trauma von Jalta“, bei dem
sich die Europäer aber insbesondere französische Akteure als passiv Erleidende
der europäischen Teilung empfanden, schien Ursprung dieser Zukunftserwartung
zu sein. Aus dieser von vergangenen Erfahrungen geprägten Wahrnehmung
heraus missfiel es Védrine wohl auch, dass Kissinger, Baker und Kohl sich dafür
aussprachen, die Zukunft Osteuropas zwischen Washington und Moskau zu dis-
kutieren. Er bezichtigte Kissinger einer metternich’schen Weltanschauung: Laut
Kissinger sollte sich die NATO im Kreml dafür einsetzen, seinen Einfluss in Ost-
europa zu stärken. Der Westen sollte sich im Gegenzug dazu verpflichten, keinen
Profit aus der gegenwärtigen Situation zu ziehen. Védrine bezog sich in seiner
Bewertung auf die sogenannte Sonnenfeld-Doktrin, die von Helmut Sonnenfeld
formuliert worden war und auf der Anerkennung legitimer Einflusssphären der
beiden Supermächte beruhte. Védrine blieb äußerst skeptisch, obwohl Baker
betont habe, dass er keinen Kuhhandel über Einflusssphären anstrebe. Er plä-
dierte dafür, die Ausgestaltung der künftigen Rolle osteuropäischer Staaten auf

 Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime und europäischen Annäherungs-
prozesse sah man auch die Lösung der deutschen Frage an Aktualität gewinnen; AN, AG/5(4)/
CDM/35, Exposé d’Hubert Védrine devant la Fondation Saint-Simon, 26. April 1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, Exposé d’Hubert Védrine devant la Fondation Saint-Simon, 26. April
1989.
342 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

keinen Fall Washington und Moskau allein zu überlassen. Stattdessen legte er


François Mitterrand dar, dass die Europäische Gemeinschaft als Akteur eine
entscheidende Rolle übernehmen solle.³⁵⁴
In einem Gespräch mit Gorbatschows Berater Alexander Jakowlew deutete
der in Washington nach wie vor einflussreiche Henry Kissinger in der Tat seine
Vorstellung an, „Fragen zur politischen Entwicklung […] von Fragen der eigent-
lichen Sicherheit zu trennen und zu versuchen, die politische Fortentwicklung
durch die Bewahrung des Status Quo im Bereich der Sicherheit zu ersetzen.“³⁵⁵ „In
Kenntnis der legitimen Sicherheitsinteressen beider Seiten“ bot Henry Kissinger
die Bereitschaft der neuen US-Administration unter George Bush an, „in ver-
traulicher Form diese Fragen zu erörtern.“³⁵⁶ „[M]it Bestimmtheit“ sprach Kis-
singer sich gegen einen vollständigen Abzug der in Westeuropa stationierten US-
Truppen aus – als „Garantie gegen das Abenteuertum der Europäer“ – , weil es für
die Amerikaner erheblich schwieriger sein würde als für die Sowjetunion, im Falle
eines Abzugs nach Europa zurückzukehren.³⁵⁷ Das französische Außenministe-
rium hatte Kenntnisse von diesem Kissinger-Plan. Aus diesem Grund versuchten
Diplomaten fortwährend, die Haltung der amerikanischen Administration zu den
Veränderungen im Ostblock zu ergründen. Mit Unbehagen stellten sie fest, dass
Außenminister James Baker den Kissinger-Plan zumindest zu berücksichtigen
schien.³⁵⁸ Auch die Diplomaten im französischen Außenministerium begannen
mit intensiven Überlegungen zu möglichen Strukturen einer künftigen Staaten-
gemeinschaft. Jean-Marie Guéhenno, Leiter des CAP, legte im Elysée ein Doku-
ment vor, in dem er durch die Veränderung verschiedener Variablen unter-
schiedliche Zukunftsszenarien entwarf.³⁵⁹ Dies allein verdeutlicht bereits das
Bedürfnis der französischen Exekutive nach Vergewisserung als Grundlage für ihr
außenpolitisches Handeln. Allerdings schien es nicht mehr möglich, für die

 AN, AG/5(4)/CDM/35, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note


pour le Président de la République, 6. April 1989.
 Henry Kissinger in Moskau: „Die USA und die Sowjetunion müssen lernen im Gleichgewicht
miteinander zu leben.“ Aufzeichnungen des Gesprächs Aleksander N. Jakovlev mit Henry Kis-
singer, 16. Januar 1989. In: Karner [u. a.] (Hrsg.), Kreml, Dok. 32, S. 271.
 Aufzeichnungen des Gesprächs Aleksander N. Jakovlev mit Henry Kissinger, 16. Januar 1989.
In: Karner [u. a.] (Hrsg.), Kreml, Dok. 32, S. 271.
 Aufzeichnungen des Gesprächs Aleksander N. Jakovlev mit Henry Kissinger, 16. Januar 1989.
In: Karner [u. a.] (Hrsg.), Kreml, Dok. 32, S. 271.
 ADMAE 1935-INVA 6791, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, H.
Reynaud, Fiche, Relation entre l’URSS et les Etats-Unis en perspectives des rapports Est-Ouest,
31. März 1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, MAE, Le Chef du Centre d’Analyse et de Prévision, Jean-Marie Gu-
éhenno, Architecture européenne. Sept propositions, 27. Oktober 1989.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 343

niemals zuvor erfahrenen, politischen Umsturzprozesse Erwartungen künftiger


Entwicklungen abzuleiten. Bei sogenannten unknown unknowns ³⁶⁰ wurden Zu-
künfte also gewissermaßen imaginiert. Diese Form der Vergewisserung schränkte
letztlich die unübersichtliche Zahl an möglichen Handlungsalternativen ein, da
durch die pseudo-mathematische Struktur die Illusion geschaffen wurde, alle
möglichen Entwicklungen vorherzusehen. Von allen (für Guéhenno) denkbaren
Zukünften, leitete er den Dreh- und Angelpunkt künftiger Entwicklungen und
gleichzeitig seine politische Handlungsempfehlung ab: Der Schlüssel liege darin,
ob es den Europäern gelänge, Europa als politischen Pol zu konstituieren; darauf
gelte es alle Anstrengungen zu richten.³⁶¹ Seine Vorschläge umfassten eine Sta-
bilisierungspolitik der EG durch institutionelle Stärkung sowie militärische Ko-
operation. Darüber hinaus verstand er die europäische Konstruktion als globalen
Akteur in einer multipolaren Staatenordnung. Damit richtete sich Guéhenno ex-
plizit gegen die Vorstellung eines „Europe de demain sur le modèle de super-
puissance d’hier.“³⁶²
Folgende Schlussfolgerungen lassen sich aus den Analysen und Diskussio-
nen in Elysée und Quai d’Orsay ziehen: Erstens liefen die Vorstellungen von Di-
plomaten und Präsidentenberatern auf eine Doppelstrategie hinaus, die sich um
die Absicherung des europäischen Integrationsprozesses sorgte. Zum anderen
erfüllte dies zwar eine Stabilisierungsfunktion, um eine Unumkehrbarkeit des
Prozesses zu gewährleisten, stellte aber weder einen Selbstzweck noch eine Ab-
schottung der westlichen Europäer dar. Auf Grundlage des bisher Erreichten
nämlich sollte eine Öffnung nach Osten in Form von paneuropäischer Solidarität
erfolgen. Zweitens ersann die équipe Mitterrand eine prinzipiell andere Staaten-
ordnung, die sich gegen Rivalität richtete und auf Solidarität und Kooperations-
strukturen basierte. In seiner Rede vor dem Europäischen Parlament am 25. Ok-
tober 1989 versuchte Mitterrand die Kräfte der Europäer für die gewaltige
Herausforderung zu mobilisieren. Als amtierender Ratspräsident ging es ihm
darum, Perspektiven für die gegenwärtige Transition von der alten Ordnung hin
zu einem neuen Gleichgewicht zu eröffnen. Dazu beschwor er „une somme
d’imagination, de volonté, d’efforts et de continuité que peu de générations ont
connus avant nous.“³⁶³ Durch Häufung von Ausdrücken wie „liberté“ oder For-
mulierungen wie „Rien n’est écrit d’avance.“ sowie den Anschluss der gegen-

 Siehe dafür Einleitung.


 AN, AG/5(4)/CDM/35, MAE, Le Chef du Centre d’Analyse et de Prévision, Jean-Marie Gu-
éhenno, Architecture européenne. Sept propositions, 27. Oktober 1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/35,MAE, Le Chef du Centre d’Analyse et de Prévision, Jean-Marie Gu-
éhenno, Architecture européenne. Sept propositions, 27. Oktober 1989.
 Mitterrand, Discours Parlement européen, Strasbourg, 25. Oktober 1989.
344 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

wärtigen Ereignisse an die französische Revolution von 1789 eröffnete Mitterrand


rhetorisch einen Gestaltungsspielraum und evozierte ein Gefühl des Aufbruchs
von historischer Tragweite. Die gegenüber den Risiken als schier unüberschätzbar
herausgestellte Chance diente ihm als Rahmen, um sein Publikum zu seinem
Maßnahmenkatalog an konkreten Soforthilfen zu motivieren. Mitterrands Vor-
schläge folgen insgesamt dem Solidaritätsprinzip: Die Mitgliedstaaten der Ge-
meinschaft wurden in seiner Vorstellung zu einem wichtigen Akteur des Wandels,
indem sie eine paneuropäische Verantwortung bei den Entwicklungen in Osteu-
ropa und in der Sowjetunion übernahmen. Insgesamt wird in der Rede deutlich,
dass hinter Mitterrands Aufruf zur Solidarität der Wunsch stand, die internatio-
nalen Beziehungen strukturell zu verändern und neue Formen der Beziehungen
und damit eine neue Ordnung der internationalen Staatengemeinschaft zu ent-
wickeln. Er wandte sich entschieden gegen ein Raisonnement „comme si on était
à l‘époque des diplomaties de balance“³⁶⁴.
Durch die Analysen lässt sich daher insgesamt eine Vorstellung von Mitter-
rand und seiner équipe herausstellen, die auf ein politisches Äquilibrium anstatt
eine balance of power hinauslief. Dies ging einher mit der Ablehnung vertikaler
Abhängigkeitsbeziehungen der kleineren europäischen Staaten von einem He-
gemonen.³⁶⁵ Durch Bereitschaft zu Solidarität von französischer Regierung und
EG wurden Bedingungen für egalitäre Kooperationsstrukturen geschaffen, die
einer neuen Ordnung Stabilität verleihen sollten. Um etwaigen Hegemoniebe-
strebungen vorzubeugen, dienten Zusammenarbeit und die Erfahrung gegensei-
tiger Solidarität der Beseitigung von Asymmetrien. Unterschiedlich ausgeprägte
Stärken und Schwächen wurden in dieser Vorstellung gar nicht geleugnet; Stär-
ken sollten vielmehr investiert werden, um Verantwortung für schwächere Staaten
zu übernehmen. Die Beispiele offenbaren insofern Mitterrands Vorstellung von
den Funktionsmechanismen internationaler Beziehungen. Darüber hinaus hiel-
ten die französischen Akteure nicht nur die politischen Ereignisse für beeinfluss-
und veränderbar. Vielmehr entwickelten sie ihre Konzepte in dem Bewusstsein,
dass auch die Staatenordnung insgesamt kontingent und damit gestaltbar war.
Während die équipe Mitterrand ihren Fokus auf Kooperation und Zusammenarbeit
unter der Akzeptanz von Unterschieden legte, widersprach dies amerikanischen
Ordnungsvorstellungen. Kissingers Überlegungen machen deutlich, dass jenseits
des Atlantiks Asymmetrien selbst zur politischen Ressource wurden, indem
Loyalität zum Strukturelement der Beziehungen wurde. Diese kategorisch ver-

 Mitterrand, Discours Parlement européen, Strasbourg, 25. Oktober 1989.


 Siehe zu den Vorstellungen von Hegemonie und Gleichgewicht auch Kapitel 5 und Einlei-
tung.
Zwischenbilanz 345

schiedenen Vorstellungen gerieten 1989/1990 in einen Widerstreit und setzten


einen Aushandlungsprozess in Gang.³⁶⁶
Grundsätzlich gilt es festzuhalten, dass der Zusammenbruch der politischen
Regime in Osteuropa zwar eine Herausforderung für Mitterrands evolutionäre
Konzeption darstellte, die Teilung in Europa zu überwinden. Allerdings ließ sich
dies bis Ende 1989 mit einer Doppelstrategie aus, erstens, Beschleunigung der
europäischen Integration und, zweitens, Aufbau von Kooperationsstrukturen mit
Osteuropa zunächst noch an die sich wandelnde Realität anpassen. Auf diese
Weise wurde das Gefühl aufrechterhalten, die politischen Entwicklungen mitge-
stalten zu können, ohne dass seine Konzeption von den Ereignissen überholt
wurde. Mitterrands Vorstellung einer geordneten und beeinflussbaren Verände-
rung der internationalen Staatenwelt wurde erst wirklich durch den Fall der
Berliner Mauer gefährdet. Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in
Osteuropa hatte das Ende der Teilung ohnehin von einer langfristig zu einer
mittelfristig erwarteten Zukunft gemacht. Der Mauerfall machte es zu einer un-
mittelbaren Zukunft, der die Karten neu verteilte und schnelle Antworten ver-
langte.

Zwischenbilanz
Hatte Mitterrand in der Diskussion um die Nachrüstung noch versucht, die Entwicklungen in
Frankreichs Sinne zu beeinflussen, mangelte es ihm in dieser Zeit der Abrüstung und Ent-
spannung an jedem Willen zu gestalten. Das Festhalten an der bestehenden Ordnung
überwog gegenüber dem Willen, diese zu verändern. Ein ähnliches Verhalten sollte Mitter-
rand während der Zeitenwende zeigen.³⁶⁷

Diese Zeilen transportieren sowohl ein geläufiges Urteil über den historischen
Akteur François Mitterrand als auch eine wiederkehrende Forschungsthese zur
französischen Außen- und Sicherheitspolitik in der zweiten Hälfte der 1980er
Jahre. Sie kontrastieren eklatant mit den Befunden, die sich durch die Analyse der
zeitgenössischen Regierungsakten ergeben haben. Nachdem Kapitel drei Mitter-
rands Rolle als Mitinitiator des neuen amerikanisch-sowjetischen Dialogs her-
ausgestellt hat, zeigen die Untersuchungen in diesem Kapitel, wie er in den Ge-
sprächen zwischen Reagan und Gorbatschow ab 1985 zum Mittler wurde. Mit
Empathie für die Wahrnehmungen und Erwartungen der Gesprächspartner in
Washington und Moskau gelang es der équipe Mitterrand, eine Strategie zu ent-

 Siehe dafür Kapitel 5.


 Praus, Ende, S. 153 f.
346 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

wickeln, die beiden Verhandlungsparteien neue Handlungsspielräume eröffnete:


Durch Motivation zu Empathie sorgte Mitterrand bei Reagan und Gorbatschow für
ein wechselseitiges Verständnis, als deren Fehlperzeptionen ein gegenseitiges
Verstehen im Kommunikationsprozess verstellten. In gewisser Weise wurde
François Mitterrand zu einem Medium zwischen amerikanischer Administration
und sowjetischer Führung. Allerdings war er nicht nur Überbringer einer Bot-
schaft. Obwohl er nicht als verhandelnde Partei auftrat, war François Mitterrand
insofern Akteur des Dialogs, als er als Vermittler das Überleben des Entspan-
nungsprozesses, die Aushandlung des INF-Vertrags und dessen Akzeptanz durch
die europäischen Verbündeten unterstützte. Die Rollen von Ronald Reagan und
Michail Gorbatschow bei der Aushandlung des INF-Vertrages lassen sich durch
diese Erkenntnisse differenzieren und erheblich relativieren.
Dies führt zu einer weiteren wichtigen Erkenntnis: Bei dem Überwinden von
Bedrohungsperzeptionen, die sich in Form von Ängsten manifestiert haben,
kommt dem Faktor der Persönlichkeit eine entscheidende Rolle zu. Dies zeigte
sich nicht nur darin, dass Mitterrand gleichsam zum ergänzenden Medium des
persönlichen Dialogs zwischen Reagan und Gorbatschow wurde. Auch die un-
terschiedlichen Beurteilungen der Person Michail Gorbatschow bei François
Mitterrand oder Roland Dumas einerseits und den Diplomaten des französischen
Außenministeriums oder Sowjetologen andererseits deuten an, wie wichtig per-
sönliche Kommunikation für die Herstellung von Vertrautheit und Vertrauen ist.
Gorbatschows Bezeichnung des „Neuen Denkens“ in der Außenpolitik bei-
spielsweise erfüllte zwar die Funktion eines Slogans und „public relation trick“³⁶⁸
zur Imageaufbesserung der Sowjetunion. Seine Uneindeutigkeit und Vagheit³⁶⁹
trugen unter anderem dazu bei, innenpolitische Gegner in Schach zu halten. Als
Slogan stiftete der Begriff im westlichen Ausland aber zugleich auch Misstrauen,
da die Erfahrung Sowjetologen und Diplomaten gelehrt hatte, dass Schlagworte
wie „Détente“ und „gemeinsame Sicherheit“ dem Kreml dazu dienten, über ein-
heitliches Vokabular westliche Zustimmung zu divergierenden politischen Kon-
zepten zu gewinnen und diese propagandistisch zu nutzen. Persönliche Kontakte
dürfen aber keinesfalls als Garantie für die Entstehung von Vertrauen verstanden
werden. Jean-Bernard Raimond, der als französischer Botschafter in Moskau die
Veränderungen ab 1985 gewissermaßen von einem Logenplatz beobachten
konnte, zweifelte lange an der Seriosität von Gorbatschows Initiativen. Seine
Wahrnehmung und Erwartung der Veränderung blieb durch vergangene Erfah-

 Zubok, Failed Empire, S. 302.


 Odom, William E.: The Source of „New Thinking“ in Soviet Politics. In: Njølstad (Hrsg.), Last
Decade, S. 147.
Zwischenbilanz 347

rungen mit der sowjetischen Führung geprägt. Daher stellt sich die Frage, welches
zusätzlichen Faktors es bedarf, der den Unterschied ausmacht. Gerade das Be-
wusstsein der eigenen Perspektivität und das Vermögen aus dieser Perspektivität
herauszutreten – also die Fähigkeit zu Empathie – scheinen den Blick für
Wahrnehmungen, Perzeptionen, Emotionen und Erwartungen von Gesprächs-
partnern zu öffnen. Als diplomatische Strategie erleichterte diese Fähigkeit
Mitterrand und seiner équipe 1985, sich von eigenen Bedrohungsperzeptionen der
Vergangenheit zu lösen.
Für die Erforschung europäischer Integrationsprozesse und die Historiogra-
phie zum Ende des Kalten Krieges lassen sich aus den Analysen mehrere Schlüsse
ziehen. Die europäischen Erfahrungen von Reykjavik führten in dreifacher Weise
zu einer Art Reykjavik-Effekt. Erstens stärkte die Erfahrung der Überraschung
sowie eine scheinbare Bestätigung der ohnehin schon lange schwelenden Angst
um einen amerikanischen Rückzug aus Europa das Bedürfnis der Europäer nach
alternativen Sicherheitsstrukturen. Die Jahre 1987 und 1988 waren von einer Dy-
namisierung der deutsch-französischen Kooperation im Bereich Sicherheit und
Verteidigung gekennzeichnet, die aus französischer Sicht langfristig auf eine
europäische Emanzipation von den USA zielte. In dem gesteigerten Bedürfnis
seiner Partner nach alternativen Sicherheitsgarantien erkannte Mitterrand eine
Chance: Er ging ohnehin seit seinen ersten Erfahrungen mit der amerikanischen
Administration zwischen 1981 und 1983 davon aus, dass die Partnerschaft mit den
USA weniger auf Solidarität zwischen Gleichberechtigten als vielmehr auf Loya-
lität zu einem Patron beruhte.³⁷⁰ Nach Reykjavik fand er insbesondere in Helmut
Kohl einen Partner in dem Bestreben, eine stärkere deutsch-französische Ko-
operation zu einer Vorstufe einer europäischen sicherheitspolitischen Integration
zu machen. Für Mitterrand zielte dies darauf, durch eine erhoffte Stärkung eu-
ropäischer Eigenständigkeit die Struktur der transatlantischen Beziehungen
langfristig von Loyalität auf Solidarität umzustellen. Die deutsch-französische
Zusammenarbeit in Sicherheits- und Verteidigungsfragen war bereits aktiviert
worden, bevor sie durch den Reykjavik-Faktor zusätzlichen Schub erhielt. Als
Folge des amerikanischen Angebots an die Europäer, gemeinsam an den For-
schungen zu SDI zu arbeiten, versuchte die équipe Mitterrand, die Bundesrepublik
mit verteidigungspolitischer Solidarität zu überzeugen, einer europäischen For-
schungskooperation den Vorzug zu geben und sich auf eine Zusammenarbeit mit
Frankreich im Bereich Weltraum einzulassen. Die Verteidigungs-Zusammenarbeit
blieb im konventionellen Bereich verhaftet, insofern hatte Mitterrand es selbst zu
verantworten, dass die europäische Emanzipation nicht so weit vorankam, wie es

 Siehe Kapitel 2.


348 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

mit einer Europäisierung der französischen Abschreckung unter Umständen


möglich gewesen wäre. Es ist unerheblich, welcher Aspekt sich stärker auf Mitt-
errands Ablehnung auswirkte: Seine Unfähigkeit, sein eigenes Misstrauen zu
überwinden oder sein Verantwortungsgefühl gegenüber der Sowjetunion und
dem Entspannungsprozess. In beiden Fällen wurde aber Misstrauen in irgendei-
ner Form zum Hindernis einer deutsch-französischen Annäherung der Verteidi-
gungsdoktrinen. Allemal unterstreichen die genannten Beispiele aber nicht nur
die Wechselbeziehungen zwischen Kaltem Krieg und europäischer Integration,
sondern eröffnen den Blick auf ein Interaktionsfeld dreier Themenkomplexe:
europäische Integration, Kalter Krieg und Globalisierung. Mitterrands Bedürfnis
nach europäischer Kooperation in der Technologie war zwar auch durch natio-
nale Erwägungen motiviert, die französische Wirtschaft und Gesellschaft zu
modernisieren. Letztlich glaubte er aber, dass die europäische Industrie und
Wirtschaft nur durch die technologische und wissenschaftliche Kooperation
global gesehen wettbewerbsfähig sein und an neu aufstrebende, wirtschaftliche
Großmächte anschließen konnte. Die zweite Hälfte der 1980er Jahre erscheint aus
dieser Perspektive als Phase eines Bewusstseinswandels, der verschiedene In-
stitutionalisierungs- und Integrationsprozesse in Gang setzte und seine Wurzeln
bereits in Erfahrungen der 1970er Jahre fand. Ein bilateraler deutsch-französi-
scher Kern bildete das Zentrum für die Ausweitung dieser Prozesse auf multila-
terale Zusammenschlüsse.
Zweitens besaßen die durch die Abrüstungsgespräche initiierten europäi-
schen Kooperationen in Sicherheits- und Verteidigungsfragen wiederum Rück-
wirkungen auf die transatlantischen Beziehungen. Shultz’ vertrauensbildende
Gesprächsinitiative bei den Verbündeten lässt darauf schließen, dass die euro-
päischen verteidigungspolitischen Autonomiebestrebungen in Washington kri-
tisch beobachtet wurden, da sie ein Signal für einen amerikanischen Einfluss-
verlust darstellten. 1990 sollte sich der sich hier bereits abzeichnende Konflikt
zwischen Einfluss der USA im Bündnis und eigenständiger Rolle der Europäer
noch zuspitzen.
Drittens stellte sich auch bei Michail Gorbatschow ein Reykjavik-Effekt ein.
Während er sich zuvor auf die bilateralen Verhandlungen mit den USA konzen-
triert hatte und für Sorgen der westeuropäischen Staaten weitestgehend blind
gewesen war, änderte sich dies mit den heftigen europäischen Reaktionen auf den
amerikanisch-sowjetischen Gipfel. Diese lösten bei dem Generalsekretär einen
Bewusstseinswandel aus, seine vertrauensbildenden Maßnahmen auch gegen-
über Westeuropa zu intensivieren. Trotz der anfänglichen Enttäuschung über die
französischen Reaktionen führten also eben diese laut Andrei Grachev dazu,
Gorbatschow für westeuropäische Ängste zu sensibilisieren. Auch wenn die ver-
urteilenden Stellungnahmen der konservativen Regierung in keiner Weise Mitt-
Zwischenbilanz 349

errands Haltung entsprachen, trugen sie offensichtlich dazu bei, dass sich Gor-
batschow ab 1988 stärker den westeuropäischen Ländern zuwandte und die
Abrüstung mit mehr Nachdruck auf den Bereich der konventionellen Rüstung
ausdehnte. Nicht nur hatte er schon vor Reykjavik die klassische Forderung nach
einer Berücksichtigung der Drittpotentiale fallen lassen, sondern er erkannte im
Mai 1987 auch die Notwenigkeit einer Verbindung zwischen der europäischen und
amerikanischen Verteidigung an. Dies demonstrierte seine radikale Abkehr von
der traditionellen sowjetischen Strategie, die Atlantische Allianz zu spalten.³⁷¹
Insofern blieb Gorbatschow seinem Verhandlungsmuster treu, ablehnende Re-
aktionen auf seine Initiative mit einer Aufstockung seines Angebots zu beant-
worten. Auf diese Weise sollten den Reaktionen zugrunde liegende Bedro-
hungsperzeptionen durch Demonstrationen seiner Vertrauenswürdigkeit der
Boden entzogen werden.
Diese Erkenntnisse leiten über zu einigen weiteren theoretischen Erkennt-
nissen in der Auseinandersetzung mit Angst und Vertrauensbildung. Sowohl
Gorbatschows Abrüstungsoffensiven als auch der sich stetig weiterentwickelnde
Prozess deutsch-französischer Kooperation deuten auf ein Charakteristikum in
Prozessen der Vertrauensbildung hin. Die Vertrauenswürdigkeit des Gegenübers
bedurfte einer ständigen Vergewisserung. Zögern barg die Gefahr, dass Zweifel an
der Vertrauenswürdigkeit aufkamen. Um seine Vertrauenswürdigkeit zu demon-
strieren stockte Gorbatschow stetig seine Angebote auf und ging einseitig in
Vorleistung. Im Kontext der deutsch-französischen Zusammenarbeit bedingte das
Zögern des einen die Zurückhaltung des anderen. Um trotzdem eine Spirale des
Misstrauens zu umgehen, suchten Bundesregierung und équipe Mitterrand einen
gemeinsamen Nenner als Ventil. Dies führte zu engerer außenpolitischer Ab-
stimmung und einer fortschreitenden verteidigungspolitischen Zusammenarbeit
jenseits des Nuklearen. Das folgende Kapitel wird auf diese theoretischen Über-
legungen näher eingehen. 1989 kamen bei François Mitterrand beispielsweise
Zweifel an Kohls europäischem Engagement auf, die für kurzzeitiges Nichtver-
stehen zwischen Bundeskanzler und Präsident sorgten. Wenn also hier von einer
gewissen Pfadabhängigkeit ausgegangen wird, bedeutet das keineswegs, dass
diese Entwicklungen als linear verstanden werden. Vielmehr stießen diese Pro-
zesse regelmäßig an ihre Grenzen oder wiesen Ambivalenzen auf. Beispielsweise
muss in diesem Kontext darauf hingewiesen werden, dass Mitterrand durch die
rhetorische Abkehr von der deutsch-französischen Achse Vertrauen bei den
kleineren europäischen Mitgliedstaaten wecken wollte. Aus pragmatischen Er-
wägungen heraus, nämlich um ein Vorankommen zu erleichtern, ließ er sich

 Grachev, Common European home, S. 212.


350 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?

dennoch auf die deutsch-französische Vorreiterrolle ein. Ein Beispiel dafür war
der deutsch-französische Vertragsentwurf einer Europäischen Union für das
Mailänder Ratstreffen. Dies sorgte wiederum bei den kleineren europäischen
Partnern für Misstrauen vor dem deutsch-französischen Kondominium in Europa.
Die Ambivalenz in Mitterrands Handeln und Rhetorik ergab sich aus dem Wunsch
nach gleichberechtigten Beziehungen einerseits und pragmatischen Erwägungen,
dem europäischen Integrationsprozess durch ein deutsch-französisches Tandem
zu neuer Dynamik zu verhelfen, andererseits.
Ambivalenzen wies zudem die deutsch-französische und europäische Ko-
operation in Sicherheits- und Verteidigungsfragen auf. In Washington und Mos-
kau sorgte sie aus unterschiedlichen Gründen für Misstrauen. Es stellt sich die
Frage, warum sich aus dem sowjetischen Misstrauen gegenüber einer „europäi-
schen Militarisierung“ kein neues Sicherheitsdilemma entwickelte. Es steht zu
vermuten, dass das Misstrauen in den diplomatischen Diensten des MID zu die-
sem Zeitpunkt eine geringere politische Wirkmächtigkeit besaß. Gorbatschow
schien durch die persönlichen Beziehungen zwischen ihm und Mitterrand ein
höheres Maß an Vertrauen entwickelt zu haben. Der Faktor von Persönlichkeit
wird hier ebenso deutlich wie der Zusammenhang von Erwartungssicherheit und
Vertrauen. Wird diese Berechenbarkeit irritiert, wie es während der Cohabitation
der Fall war, eröffnete dies einen Raum für potentielles Misstrauen. Die Irrita-
tionen bei Mitterrands Bündnis- und Gesprächspartnern sind dafür verantwort-
lich, dass in der zeitgenössischen Wahrnehmung ein widersprüchliches Bild
französischen Handelns in der Phase der Abrüstung entstand, das die Forschung
bis heute nachhaltig prägt.³⁷²
Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen lässt sich auf zwei ver-
schiedenen Ebenen diagnostizieren. Einerseits begann sich die Ressource der Ost-
West-Beziehungen von Angst zu Vertrauen in dem Maße zu transformieren, wie
die Androhung von Gewalt reduziert und bestehende Bedrohungsperzeptionen
aufgebrochen wurden. Mit der Phase der Abrüstung hatte dieser Wandel gerade
erst begonnen. Für eine nachhaltige Festigung bedurfte es der Weiterentwicklung
und Verstetigung durch Kooperationsstrukturen zwischen Ost und West, die
beispielsweise durch Maßnahmen paneuropäischer Solidarität zu initiieren ver-
sucht wurden. Andererseits hatte daneben ein Strukturwandel der transatlanti-
schen Beziehungen begonnen, der aus Mitterrands Perspektive auf die Beseiti-
gung bestehender Asymmetrien abzielte. Aufgrund verschiedener Konzepte von
Bündnissolidarität dies- und jenseits des Atlantiks sowie unterschiedlicher Kon-
zeptualisierungen der europäischen Rolle insbesondere zwischen Paris und

 Vgl. u. a. Praus, Ende; Newton, Gorbachev.


Zwischenbilanz 351

Bonn, steht zu vermuten, dass die Neuverhandlung der transatlantischen Bezie-


hungen, wie sie Mitterrand vorschwebte, Konflikte und Missverständnisse be-
reithielt. Bislang hatte sich die deutsch-französische und europäische Koopera-
tion auf umsetzbare Kompromisse konzentriert; die Auseinandersetzung über die
Definition der künftigen europäischen Rolle im Atlantischen Bündnis wurde ge-
scheut. Daher stellt sich die Frage, wie sich diese Unstimmigkeiten in den Jahren
1989 und 1990 auswirkten, als ein Umbau der Bündnissysteme auf der Tages-
ordnung stand. Der Konflikt zwischen amerikanischem Loyalitätsverständnis und
französischem Solidaritätsverständnis beruhte de facto auf dem Widerspruch von
vertikalen Abhängigkeitsstrukturen und horizontalen Beziehungen der Verbün-
deten. Dies wirft für die weiteren Untersuchungen die Frage auf, inwiefern es
Mitterrand und seiner équipe gelang, in den Neuverhandlungen internationaler
Beziehungen 1990 Europa als drittes Ordnungsmodell zu etablieren, das – wie
Mitterrand Gorbatschow anvertraut hatte – die „Rolle als Gleichgewichts- und
Stabilitätsfaktor in den internationalen Beziehungen“³⁷³ übernehmen sollte.

 Genscher, Erinnerungen, S. 632.


5 Das Ringen um eine neue Ordnung
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung

Viel ist geschrieben worden über François Mitterrands Verhältnis zur deutschen
Wiedervereinigung. Divergierende Narrative haben in der Vergangenheit dazu
beigetragen, die widersprüchliche Wahrnehmung der historischen Figur François
Mitterrand zu verstetigen, die für Zeitgenossen wie für Historiker nach wie vor
schwer greifbar erscheint. Zeitgenossen sprachen dem französischen Präsidenten
jedwede gestalterische Kraft im Prozess der deutschen Wiedervereinigung ab.¹
Demgegenüber gibt es historiographische Analysen, die Mitterrands aktive Rolle
zwar einräumen, aber keinerlei konstruktives Handeln erkennen,² weil sie davon
ausgehen, der französische Präsident habe die deutsche Wiedervereinigung ab-
gelehnt und nach Möglichkeiten gesucht, diese zu bremsen – gar zu verhindern.³
Wiederum viele Autoren traten an, um diese These zu widerlegen, indem sie ar-
gumentierten, Mitterrand habe vielmehr danach gestrebt, den Prozess zu multi-
lateralisieren und im Rahmen der europäischen Konstruktion abzusichern.⁴ Trotz
der Erkenntnis, dass „[n]othing in diplomatic sources or in French public state-
ments shows any attempt to stop German unification“⁵, zeigt die jüngste Publi-
kation von Angelika Praus,⁶ dass diese Diskussionen nach wie vor nicht abge-
klungen sind. Dies mag auch daran liegen, dass überzeugende Antworten auf
einige Fragen nach wie vor fehlen. Die These von Frédéric Bozo, Mitterrand habe
ein klares Konzept zur Überwindung der europäischen Teilung gehabt, dessen
Umsetzung nach dem Fall der Berliner Mauer herausgefordert worden sei, kann
durch die bisherigen Analysen dieser Arbeit bekräftigt werden. Auch seine aktive
und konstruktive Rolle im Prozess kann angesichts der Regierungsakten kaum
überzeugend bestritten werden. Aber trotz der weitreichenden Akteneinsicht, ist
doch bis dato weitestgehend unklar, welche Strategien und Methoden die équipe
Mitterrand entwickelte, um die von Bozo diagnostizierte anfängliche Überra-

 Vgl. dazu Cohen (Hrsg.), Mitterrand.


 Vgl. Newton, Gorbachev.
 Vgl. u. a. Lappenküper, Mitterrand und Deutschland; Hildebrand,Wiedervereinigung; Schwarz,
Hans-Peter: Helmut Kohl. Eine politische Biographie. München 2012. S. 556 – 566.
 Vgl. Schabert, Weltgeschichte; Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unifi-
cation; Vaïsse/Wenkel (Hrsg.), Diplomatie; Wenkel, Christian: Frankreich und die deutsche Ein-
heit. Entflechtung nationaler Interessen als Grundlage neuer Verflechtung. In: Leonhard (Hrsg.),
Vergleich, S. 201– 220; Saunier, France.
 Saunier, France, S. 391.
 Praus, Ende.

https://doi.org/10.1515/9783110597417-007
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 353

schung durch die Ereignisse Ende 1989 zu überwinden und in konstruktives


Handeln zu transformieren.⁷ Es stellt sich zudem die Frage, welche Faktoren zur
Entstehung des Narrativs beigetragen haben, der französische Präsident habe
sich der deutschen Wiedervereinigung entgegenstellen wollen, und wie sich
dieses langfristig im Forschungsdiskurs etablieren konnte. Dies lässt sich nur
beantworten, wenn nach den Erfahrungen, Realitätswahrnehmungen und Er-
wartungen der historischen Akteure gefragt wird. Obschon sowohl Bozo als auch
Lappenküper bei Mitterrand Sorgen und Ängste diagnostizieren, scheint die
Forschung nach wie vor zu unterschätzen, wie stark diese bei dem Kind des Ersten
und Zweiten Weltkrieges als Antriebskräfte dahingehend gewirkt haben, die
Kontrolle zurückzuerlangen.⁸ In der Einleitung wurde darauf verwiesen, dass
Furcht laut Reinhard Koselleck als einer von vielen Faktoren in Zukunftserwar-
tungen von Individuen einfließt. Angst wird in den folgenden Ausführungen als
ein analytisches Konzept verstanden und als Erwartung einer Bedrohung in der
Zukunft konzeptualisiert. Damit stellt Angst eine mögliche Form für Individuen
dar, sich in ein Verhältnis zur Zukunft zu setzen. Die historische Dimension von
Angst und Misstrauen wird in diesem Untersuchungskontext insofern berück-
sichtigt, als die Analyse auch nach den Erfahrungen fragt, die in die Konstituie-
rung dieser Erwartung einflossen. Das zentrale Anliegen dieses Teilkapitels ist es
daher, die Realitätswahrnehmungen und Zukunftserwartungen in Elysée und
Quai d’Orsay zu analysieren. Zudem wird gefragt, welche Handlungsstrategien
entwickelt wurden, um mit den wahrgenommenen Herausforderungen umzuge-
hen und Ängste zu bewältigen.
Da bereits mehrfach verschiedene außenpolitische Strömungen in der fran-
zösischen Administration nachgewiesen wurden, vermag es kaum zu überra-
schen, dass im Herbst 1989 unterschiedliche Haltungen zur deutschen Frage ei-
nen Deutungskampf führten. Henri Reynaud aus der Abteilung Osteuropa
beispielsweise unterstellte den Deutschen kollektiv, begriffen zu haben, dass der
Schlüssel zur deutschen Frage in Moskau liege. Dem Kreml wiederum warf er vor,
seinerseits Vorteile aus dieser Situation zu ziehen, indem er beispielsweise Druck
auf die Bundesrepublik ausübe, in der Hoffnung, den Zusammenhalt der Atlan-
tischen Allianz zu schwächen.⁹ Die Wahrnehmung Reynauds, der unter anderem
auf Erfahrungen aus der Euroraketenkrise verwies, blieb völlig verhaftet im

 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. xxi, 112.
 Vgl. Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 168 – 170; Lappen-
küper, Mitterrand und Deutschland, S. 265.
 AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’URSS, Henri Reynaud, La
politique allemande de l’URSS, 19. Oktober 1989.
354 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

Denkmuster des Kalten Krieges und der Perzeption einer „alliance incertaine“¹⁰.
Reynaud empfahl eine enge französisch-sowjetische Abstimmung, da beide Sei-
ten in der deutschen Frage seiner Ansicht nach ähnliche Interessen teilten. Dass
es innerhalb der Administration also Gedankenspiele einer französisch-sowjeti-
schen Komplizenschaft gab, lässt sich nicht ausschließen.¹¹ Allerdings standen
dieser Meinung im Quai d’Orsay auch andere Einschätzungen gegenüber, wie die
Analysen des Direktors der Europa-Abteilung, Jacques Blot, belegen: Die offizielle
außenpolitische Linie sollte in seiner Vorstellung den besonderen Beziehungen
zwischen Deutschland und Frankreich Rechnung tragen, in denen er einen ge-
wissen Argwohn beobachtete. Da diese besondere Verbindung für ihn schüt-
zenswert war, empfahl er, die deutsche Zukunft als Teil der französischen Zukunft
zu begreifen. Insgesamt nahm Blot keine rein realistische, sondern vielmehr eine
empathische Haltung ein, die potentielles Misstrauen oder Angst als Faktoren für
Spannungen bei der Ausrichtung der Außenpolitik berücksichtigte. Beispiels-
weise legte er dar, dass die Lösung der deutschen Frage auf die Ängste derjenigen
antworten müsse, die sich von einem vereinten Deutschland bedroht fühlten.
Gleichzeitig müsse aber auch gefragt werden, was für die Bundesrepublik ak-
zeptabel sei, da es für Blot nicht infrage kam, durch die Alliierten Bedingungen zu
diktieren.¹² Das „Neue Denken“ in Gorbatschows Außenpolitik und die Peres-
troika-Reformen hatten Blot offenbar nicht grundsätzlich davon überzeugt, dass
der Kreml in Zukunft bereit sein würde, sicherheitspolitische Konzeptionen der
Vergangenheit – deutsche Neutralität, Polen als Puffer-Staat und Osteuropa als
Sicherheitsgarantie – zu verabschieden. Beide Beispiele legen damit Zeugnis über
die Nachhaltigkeit von Perzeptionen und Ängsten ab, die sich sehr viel langsamer
wandelten als die politischen Rahmenbedingungen. Verschiedene Modelle für
eine künftige deutsche Staatsform legte Jacques Blot in seiner Ausarbeitung vor:
Sowohl die Aufrechterhaltung der staatlichen Souveränität der DDR – mögli-
cherweise nach dem österreichischen Modell – als auch eine Konföderation bei-
der deutscher Staaten war für ihn denkbar, in der beide ihren internationalen
Status behielten. Aus eigenem Misstrauen und seinen Bedrohungsperzeptionen
vermochte Blot sich nicht zu lösen, da er eine gewisse deutsche Dominanz und
potentiellen Revanchismus nicht ausschloss. Das Wort „Wiedervereinigung“
weckte Misstrauen in ihm, weil er fürchtete, dass damit auch deutsche Minder-

 Soutou, Alliance incertaine.


 AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’URSS, Henri Reynaud, La
politique allemande de l’URSS, 19. Oktober 1989.
 AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Le Directeur, Jacques Blot, Réflexions sur la
question allemande, 30. Oktober 1989.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 355

heiten außerhalb des deutschen Territoriums gemeint sein könnten. Obwohl –


oder gerade weil – er insgesamt Bedrohungsperzeptionen als politische Faktoren
ernstnahm, sich jedoch selbst nicht gänzlich von seinem Misstrauen befreien
konnte, plädierte Blot für eine schnellere Stärkung des europäischen Zusam-
menhalts.¹³
Die europäische Konstruktion bildete auch für Präsidentenberater Hubert
Védrine eine Antwort auf die Herausforderung der deutschen Frage. Ohnehin war
es ein zentrales Anliegen François Mitterrands, während der französischen
Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 1989 einen konkreten Zeitplan für
die Schaffung einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion festzuzurren.
Védrine empfahl angesichts der Ereignisse den Ausbau der Gemeinschaft noch
schneller voranzutreiben, um die Bundesrepublik an „die Zwölf“ zu binden und
die geplante WWU schnellstmöglich zu realisieren.¹⁴ Nach Unterzeichnung und
Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte hatte sich eine neue Dynamik
im Aufbau der Gemeinschaft entfaltet, die sich zu großen Teilen aus dem Enga-
gement von Kommissionspräsident Jacques Delors speiste. Ab der Jahreswende
1986/1987 nahm auch das Projekt einer europäischen Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion weiter an Fahrt auf, für deren Umsetzung ein Ausschuss unter Jacques
Delors einen Zeitplan entwarf. Im April 1989 lag dieser Bericht vor, der eine
Umsetzung in drei Stufen vorsah.¹⁵ Die Entwicklungen in Osteuropa veranlassten
die équipe Mitterrand dazu, den europäischen Integrationsprozess zu beschleu-
nigen, um die Kohäsion der europäischen Konstruktion nicht zu gefährden,
sondern stattdessen für die politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen
zu stärken. Entsprechend traditioneller Konzepte der französischen Außenpolitik
veranschlagte Védrine eine deutsche Wiedervereinigung für den Moment, in dem
auch die Teilung von Ost- und Westeuropa aufgehoben sein würde.¹⁶ Seit Charles
de Gaulle war die Vorstellung, die Überwindung der deutschen Teilung in einem
geeinten Europa zu realisieren, Teil der französischen Détente-Vorstellung.¹⁷ Als
Stabilitätsfaktor wollte Védrine auch danach die bestehenden Allianzen kurz-
weilig aufrechterhalten. Zugleich war es für ihn essentiell, dynamischere Bezie-
hungen mit der Sowjetunion anzuregen, weil er konstatierte, dass sie sich durch
die Entwicklungen in Europa bedroht fühle.¹⁸ Sowohl Blot als auch Védrine

 AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Le Directeur, Jacques Blot, Réflexions sur la
question allemande, 30. Oktober 1989.
 Saunier, Défaire le mur, S. 76.
 Vgl. dazu im Detail Loth, Europas Einigung, S. 269 – 284.
 Saunier, Défaire le mur, S. 76.
 Wenkel, Frankreich, S. 207.
 Saunier, Défaire le mur, S. 76.
356 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

machten wahrgenommene Bedrohungsperzeptionen in der einen oder anderen


Form zur Grundlage bei der Definition des außenpolitischen Kurses.
Die Ereignisse in der Nacht vom 9. auf den 10. November schufen eine „new
reality“¹⁹ oder – wie Bertrand Dufourcq es in Retrospektive beschreibt – „ouvrait
une phase d’incertitude quant à la marche à suivre.“²⁰ Diese große Unsicherheit
ergab sich daraus, dass alle Erwartungen enttäuscht wurden oder es zumindest
nicht mehr gewiss schien, dass die europäische Einheit vor der deutschen ge-
schaffen werden könne.²¹ Die Euphorie, die ausgelöst wurde, als die Berliner
Mauer, das Symbol der deutschen und europäischen Teilung, gefallen war, drohte
die Sowjetunion zu verprellen und der Bundesrepublik jeden Anreiz zu nehmen,
sich weiterhin für das Gemeinschaftsprojekt einzusetzen. Zudem war es nicht
ausgeschlossen, dass die friedlichen Veränderungen im Osten in gewaltsame
Auseinandersetzungen umschlugen. Die französische Diplomatie zog daraus
Georges Saunier zufolge ab dem 10. November den Schluss, die europäischen
Fragen auf der Agenda vor die deutsche Wiedervereinigung zu stellen.²² Die Re-
aktionen auf die Ereignisse fielen unterschiedlich aus. Saunier konstatiert sowohl
bei Teilen der Öffentlichkeit als auch in politischen Stellungnahmen von Präsi-
dent und Regierungsvertretern eine Ambivalenz von Enthusiasmus und Verun-
sicherung. Die Früchte der Entspannung manifestierten sich im Freiheitsstreben
der osteuropäischen Bevölkerung; gleichzeitig löste dies Angst vor den unvor-
hersehbaren Folgen aus.²³
Im Umfeld des französischen Präsidenten fanden die ersten Reflexionen der
Ereignisse am Morgen des 10. November statt, als sich die Medienmaschinerie
bereits in Gang gesetzt hatte. Als sich Mitterrand um 16 Uhr zu den Ereignissen der
vergangenen Nacht äußerte, tat er dies in Kopenhagen in der Funktion des eu-
ropäischen Ratspräsidenten und verknüpfte seine Äußerungen mit einer Reihe
von Stellungnahmen zu anderen – europäischen – Fragen, um auf diese Weise
daran zu erinnern, dass die europäische Konstruktion und die Vorbereitungen des
Straßburger Gipfels für ihn Priorität besaßen.²⁴ Durch die Auswertung einer Reihe
von Stellungnahmen arbeitet Saunier Mitterrands Haltung zu einer deutschen
Wiedervereinigung heraus und charakterisiert sie als eben jene Doppelhaltung
aus prinzipiellem Einverständnis und Rücksicht auf einige Bedingungen: Auf die

 Grachev, Common European home, S. 216.


 Dufourcq, Bertrand: 2+4 ou la négociation atypique. In: Politique étrangère 65 (2000) 2. S. 468.
 Vgl. Saunier, France, S. 389 f.
 Saunier, Défaire le mur, S. 78.
 Saunier, Défaire le mur, S. 67; Saunier, France, 390.
 Saunier, Défaire le mur, S. 72.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 357

drei Achsen einer demokratischen, friedlichen Vereinigung in einem europäischen


und internationalen Kontext verwies bereits Frédéric Bozo.²⁵
In den privaten Aufzeichnungen von Jacques Attali manifestieren sich die
großen Ängste, die sich hinter den beherrschten Stellungnahmen des Präsidenten
in der Öffentlichkeit verbargen: Es war für Mitterrand völlig unbegreiflich, wie
Premierminister Michel Rocard angesichts der Ereignisse von einer Stunde des
Friedens sprechen konnte:

C’est tout le contraire qui nous attend! […] Jamais Gorbatchev n’acceptera d’aller plus loin.
Ou alors il sera remplacé par un dur. Ces gens jouent avec la guerre mondiale, sans le voir.²⁶

Legt man die eingangs aufgestellte Definition zugrunde, ist es durchaus legitim,
Mitterrand Ängste ob der Veränderungen zu unterstellen. Da in der DDR nach wie
vor sowjetische Soldaten standen und Gorbatschow harte Appelle an die westli-
chen Staatschefs adressierte, schienen die Sorgen des Präsidenten auch nicht
unbegründet zu sein.²⁷ Aber ungeachtet der Frage, ob sich Mitterrands Ängste auf
eine konkrete oder eingebildete Bedrohung richteten, gilt es, dies bei der Be-
wertung seines Handelns in Rechnung zu stellen. Der sowjetische Generalsekretär
glaubte seinerseits vor dem Mauerfall nicht daran, dass eine Wiedervereinigung
Deutschlands Unterstützung im Westen finden würde. Allerdings ging er davon
aus, dass die westlichen Staatschefs daraufsetzten, der Kreml werde sich dem
entgegenstellen. Er unterstellte ihnen die Erwartung, dass die Sowjetunion mit
der BRD über die deutsche Frage in einen Konflikt geraten und auf diese Weise ein
Zusammengehen von Moskau und Bonn verhindert werden würde. Um sich nicht
zum Handlanger machen zu lassen, wollte Gorbatschow „die Angelegenheit in
einem ‚Dreieck‘ verhandeln, d. h. mit der BRD und DDR, und zwar mit offenen
Karten.“²⁸ Die unmittelbare Reaktion auf den Mauerfall war bei Gorbatschows
Berater Tschernjajew ebenfalls von jener Ambivalenz gekennzeichnet, die Saunier
für die französischen Stellungnahmen nachweist. Der Zusammenbruch der DDR
hatte für Moskau sicherheitspolitische Konsequenzen, da ihr seit ihrer Gründung
eine entscheidende Rolle in der sowjetischen Verteidigung zugekommen war. Die
nächtlichen Ereignisse stellten für Tschernjajew eine Veränderung des – wie auch

 AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Déclaration du Chancelier Kohl (Bundestag, 28. November 1989),
ohne Datum, entstanden Ende November im Kontext des Treffens von Gorbatschow und Mitter-
rand in Kiew; Saunier, Défaire le mur, S. 74; Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German
Unification, S. xxiif.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 10. November 1989, S. 877.
 Saunier, Défaire le mur, S. 76.
 „Die Mauer sollten sie lieber selbst beseitigen.“ Politbürositzungsmitschrift Anatolij S.
Černjaevs, 3. November 1989. In: Karner [u. a.] (Hrsg.), Kreml, Dok. 82, S. 498.
358 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

immer konzeptualisierten – Machtgleichgewichts dar. Im gleichen Atemzug hob


er in geradezu euphorischem Ton Gorbatschows Verdienst hervor, durch den die
Geschichte ihrem natürlichen Verlauf habe folgen können.²⁹
In den Tagen nach dem Mauerfall rang die équipe Mitterrand um eine An-
passung ihrer politischen Planungen an die veränderten Rahmenbedingungen.
Oberste Priorität besaßen dabei Maßnahmen, die zu einer Stabilisierung der
Entwicklungen beitragen würden. Roland Dumas unterstellte den europäischen
Partnern die Erwartung, dass die französische Ratspräsidentschaft Initiative er-
greifen solle. Aus diesem Grund empfahl er François Mitterrand möglichst schnell
darauf zu reagieren. Am Vorabend des amerikanisch-sowjetischen Gipfels auf
Malta sei die „inquiétude diffuse de voir l’avenir de l’Europe faire l’objet des
discussions soviéto-américains“³⁰ umso größer.Von seiner Idee, die europäischen
Staats- und Regierungschefs zu einem informellen Abendessen im Elysée zu
versammeln, versprach er sich, Frankreich als Akteur in den Entwicklungen zu
etablieren. Zum anderen hoffte er diese zu stabilisieren, um eine Beschleunigung
zu vermeiden.³¹ Tatsächlich sollte das Abendessen der europäischen Staats- und
Regierungschefs, das am 18. November 1989 stattfand, nicht „dokumentieren,
dass Frankreich in diesen geschichtsmächtigen Tagen eine hervorragende Rolle
spielte“³². Stattdessen ist es angesichts der Sorgen um ein abermaliges amerika-
nisch-sowjetisches Kondominium plausibler, wie Frédéric Bozo von einer „poli-
tical affirmation of the Community“ auszugehen, die die EG als Akteur in den
Transformationsprozessen etablieren sollte. Den Wunsch, nicht zum Objekt
amerikanisch-sowjetischer Absprachen, sondern vielmehr als handelnder und
gestaltender Akteur an den Entscheidungsprozessen beteiligt zu werden, doku-
mentiert auch Mitterrands Telefonat mit Michail Gorbatschow am 14. November.
Darin offenbarte der Generalsekretär dem französischen Präsidenten, dass die
bundesdeutsche Euphorie in Hinblick auf das Thema Wiedervereinigung ihm
Sorgen bereite. Zudem ging er davon aus, dass er und Mitterrand „a mutual un-
derstanding on this real cardial issue“³³ teilten. Mitterrand verband mit seinem
Anruf nicht etwa die Intention, einen französisch-sowjetischen Interessenaus-

 Chernyaev, Diary 1989, 10. November 1989, S. 50.


 AN, AG/5(4)/CDM/35, MAE, Le Ministre d’Etat, Roland Dumas, Note à l’attention de Monsieur
le Président de la République, Situation en Europe, 12. November 1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, MAE, Le Ministre d’Etat, Roland Dumas, Note à l’attention de Monsieur
le Président de la République, Situation en Europe, 12. November 1989.
 Lappenküper, Mitterrand und Deutschland, S. 262.
 Record of Telephone Conversation between Mikhail Gorbachev and Francois Mitterrand No-
vember 14, 1989. NSA, Document No. 18. http://nsarchive.gwu.edu/NSAEBB/NSAEBB293/
doc18.pdf (30.01. 2017).
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 359

gleich zu erzielen. Vielmehr suchte er den direkten Kontakt zu Gorbatschow aus


zwei spezifischen Gründen: Erstens versuchte er sich einen Überblick über die
Lage zu verschaffen und dazu zählten für ihn auch Gorbatschows Wahrneh-
mungen und Erwartungen, um die Risiken der Situation besser einschätzen zu
können. Zweitens beteuerte der französische Präsident, jede Form von Spaltung
vermeiden zu wollen. Die Frage der Grenzen sei bisher nicht gestellt worden und
er hoffe, dass die DDR keine übereilten Aktionen unternehmen werde, die die
Situation destabilisieren könnten.³⁴ Der persönliche Dialog mit Gorbatschow
diente also auch der gegenseitigen Versicherung von Vertrauen, die verhindern
sollte, dass sich die sowjetische Führung in Ängste hineinsteigerte, die im Zwei-
felsfall Panikreaktionen auslösen könnten. Um in engem persönlichen Kontakt zu
bleiben, drängte Mitterrand auf ein baldiges Treffen mit dem Generalsekretär.³⁵
In aufeinanderfolgenden Phasen des deutschen Wiedervereinigung-
sprozesses waren jeweils unterschiedliche Ängste und darauf bezogene Bewäl-
tigungsstrategien dominant im Handeln von François Mitterrand und seiner
Mannschaft. Das soll keineswegs heißen, dass sie sich ausschließlich in der je-
weiligen Phase identifizieren lassen. Der Mauerfall verstärkte erstens Mitterrands
Angst vor einem deutschen Alleingang und die Befürchtung der vergangenen
Monate, Kohl könne nationalen Belangen gegenüber einer europäischen Solida-
rität den Vorzug geben. Diese Befürchtungen steigerten sich durch Kohls An-
kündigung seines Zehn-Punkte-Plans am 28. November 1989 zu einer kurzfristi-
gen Panik vor einer Beschleunigung der Entwicklungen. Um das Heft des
Handelns insbesondere in Hinblick auf innenpolitische Schwierigkeiten in der
Hand zu halten, arbeitete Kohl mit seinen engsten Mitarbeitern einen mehrstu-
figen Plan aus, der schließlich in die Einheit Deutschlands münden sollte. Von
seiner Rede im Bundestag wurden andere Mitglieder der Bundesregierung in
gleicher Weise überrascht wie die europäischen Partner und der Kreml.³⁶ Mitter-
rand bediente sich einer Bewältigungsstrategie, die er auch in der Vergangenheit
bereits mehrfach eingesetzt hatte: Das suggestive Drohen mit einer ungewissen
und gefährlichen Zukunft schlug nach dem Zehn-Punkte-Plan angesichts von
Mitterrands Panik gar kurzweilig in eine impulsive Reaktion einer explizit arti-
kulierten Drohung gegenüber bundesdeutschen Politikern um.

 Telephone Conversation between Mikhail Gorbachev and Francois Mitterrand November 14,
1989.
 Telephone Conversation between Mikhail Gorbachev and Francois Mitterrand November 14,
1989.
 Vgl. Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 122 f.; Schabert,
Weltgeschichte, S. 416 f.; Schwarz, Helmut Kohl, S. 532– 535, 559.
360 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

Zweitens verbargen sich hinter Mitterrands Sorgen um eine Beschleunigung


nicht nur Ängste um die Vollendung des europäischen Integrationsprozesses,
sondern auch jene vor neuem Misstrauen also gewissermaßen eine Angst vor der
Angst in Europa. Ein wiedervereintes Deutschland ohne Einbindung in eine eu-
ropäische Konstruktion drohte Misstrauen bei seinen Nachbarn vor dem Wie-
dererstarken deutscher Macht zu wecken. Ein potentieller Kontrollverlust schien
auch gewaltsame Auseinandersetzungen in seiner Wahrnehmung nicht auszu-
schließen. Die Angst vor einer Beschleunigung und dem Risiko eines potentiell
gewaltsamen Kontrollverlustes war drittens eng mit seiner Befürchtung ver-
knüpft, Gorbatschow könne durch diese Entwicklungen destabilisiert und wo-
möglich durch einen sowjetischen Hardliner ersetzt werden. Diese gefährdeten
insofern auch die Umsetzung von Gorbatschows Reformprojekt sowie die neue
Entspannung zwischen Ost und West. Zur Bewältigung der zwei letztgenannten
Kategorien bediente sich Mitterrand der Strategie Empathie zweiter Ordnung.
Seine westlichen Partner versuchte er, für Gorbatschows Probleme zu sensibili-
sieren. Diese Strategie setzte er ebenfalls in der darauffolgenden Phase ein, als die
Bedingungen der deutschen Wiedervereinigung verhandelt wurden und der
französische Präsident immer wieder dafür plädierte, die historisch gewachsenen
Ängste vor einer deutschen Großmacht in Rechnung zu stellen.
Am 22. November 1989 trat François Mitterrand als europäischer Ratspräsi-
dent nur wenige Wochen nach seiner Rede am 25. Oktober abermals vor das Eu-
ropaparlament in Straßburg, um – wie er sagte – von dem außerordentlichen
Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs am 18. November 1989 zu
berichten.³⁷ Die politischen Rahmenbedingungen hatten sich mit dem Fall der
Berliner Mauer nunmehr drastisch verändert. Umso mehr mag es verwundern,
dass Mitterrand wenig Neues im Verhältnis zum 25. Oktober 1989 zu berichten
wusste und er der deutschen Frage in seiner Rede praktisch kaum Raum ge-
währte. Bedenkt man, dass Helmut Kohl nach ihm ebenfalls über die Entwick-
lungen in Osteuropa vor dem Europaparlament sprechen wollte, diente seine
Fokussierung auf Europa und die unterlassene Thematisierung der deutschen
Frage dazu, den europäischen Integrationsprozess vor den deutschen Eini-
gungsprozess zu setzen, den Kohl seinerseits in der Rede ansprach. Mitterrands
grundlegende Intention war es herauszustreichen, dass es „keine andere Alter-
native zwischen der Öffnung nach Osten und der Vollendung des gemeinschaft-

 Mitterrand, François: Rede von François Mitterrand vor dem Europaparlament (Straßburg,
22. November 1989). In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften. Verhandlungen des Euro-
päischen Parlaments. 22.11.1989, n° 3 – 383/187. S. 187– 192. http://www.cvce.eu/obj/re-
de_von_francois_mitterrand_uber_die_demokratischen_reformen_in_osteuropa_stra%C3 %
9Fburg_22_november_1989-de-d3f2ecb3-a49c-4960-af84-dc035d9bc63a.html (24.10. 2016).
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 361

lichen Aufbauwerks gibt“. Dezidiert wandte er sich gegen eine Priorisierung na-
tionaler Interessen, da es nicht darum gehen könne, „sich auf sich selbst zu-
rückzuziehen.“³⁸ Dieser Solidaritäts-Appell erfüllte eine Doppelfunktion, da die
Unterstützung der Entwicklung des Ostens und die Stärkung der Gemeinschaft
von Mitterrand gewissermaßen als Binom zusammengefasst wurden. In seinem
Verständnis nämlich musste der Umbruch in Europa durch eine Vertiefung der
europäischen Integration im Westen unterstützt werden.³⁹ In dem Maße wie die
Ereignisse im Osten fortschritten, sollte

im gleichen Tempo und warum nicht sogar noch etwas schneller, […] das Europa der Ge-
meinschaft, um den Ereignissen voraus zu sein, sich noch über den bisher beschlossenen
Grad hinaus festigen und möglichst rasch seine Identität in seinen Strukturen finden.⁴⁰

Hier formulierte Mitterrand sein zentrales Anliegen für das europäische Rats-
treffen im Dezember in Straßburg. Um das Risiko eines Kontrollverlustes zu
mindern und um übersteigerte Euphorie einerseits und Ängste vor künftigen
Entwicklungen andererseits zu beruhigen, plädierte Mitterrand für „Abstand von
den Empfindungen und Emotionen der ersten Stunden, bevor man beginnt, die
Dinge zu durchblicken.“ Nichts anderes als eine Rückkehr zur Rationalität for-
derte er hier ein, obwohl er doch selbst in seinen weiteren Ausführungen danach
strebte, Gefühle zu evozieren und politisch zu instrumentalisieren. Die Legitimität
derartiger „Empfindungen und Emotionen“ unterstrich er mit gezielter Gefühls-
kommunikation, indem er eigenen Glücksgefühlen, tiefer Bewegung und Stolz
angesichts der Ereignisse Ausdruck verlieh. Seine persönlichen Empfindungen
inszenierte Mitterrand geradezu, um die Glaubwürdigkeit seines persönlichen
europäischen Engagements zu steigern. Dieses sei für ihn eben „nicht nur […] die
Erfüllung einer Pflicht“. Darüber hinaus setzte Mitterrand auch die Strategie ein,
Gefühle zu evozieren: Anders als bei früheren Gelegenheiten entwickelte er ein
bedrohliches Zukunftsszenario hier allerdings nicht mehr, um vor diesem Hin-
tergrund einen Ausweg in eine verheißungsvolle Zukunft aufzuzeigen. Nachdem
er zuvor die ihm vorstellbaren europäischen Entwicklungsmöglichkeiten und ein
Zusammenwachsen der beiden Teile Europas in Aussicht gestellt hatte, schloss er
seine Rede vielmehr mit einem erschreckenden Szenario, das damit gleichsam als
Mahnung stehen blieb. Er zeigte dadurch nicht nur auf, was durch riskantes po-
litisches Verhalten aufs Spiel gesetzt werde, sondern kommunizierte zwischen
den Zeilen eine Drohung. Diese schien sich weniger an das Auditorium als viel-

 Mitterrand, Rede im Europaparlament, Straßburg 22. November 1989.


 Saunier, France, S. 389.
 Mitterrand, Rede im Europaparlament, Straßburg 22. November 1989.
362 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

mehr an Helmut Kohl zu richten, der nur wenige Minuten nach ihm ans Red-
nerpult trat. Denn

nichts von alledem [werde] geschehen […], wenn wir nicht fähig sind, in einigen Tagen
miteinander, innerhalb der Gemeinschaft, bei den grundlegenden Vorhaben zu Ergebnissen
zu gelangen, die es unserem Europa ermöglichen werden, sich mit den Instrumenten einer
Wirtschafts- und Währungspolitik auszustatten, den Instrumenten einer Sozialpolitik und
denen einer Umweltpolitik. Dies wird nicht geschehen, wenn wir uns nicht an den Zeitplan
und die Vorgehensweise halten, die wir bereits beschlossen haben, und den Binnenmarkt
vollenden.⁴¹

Um unmissverständlich zu bleiben, fügte er dem hinzu: „Dies ist es, meine Damen
und Herren, was ich von dem Europäischen Rat in Straßburg erwarte.“⁴²
Die Strategie der Drohung sollte man nicht als eine Form von Ablehnung der
deutschen Wiedervereinigung missverstehen. Die Intentionen gilt es grundsätz-
lich von der Strategie und der darin mitschwingenden inszenierten Botschaft zu
separieren. Es gab keinen Moment, in dem die équipe Mitterrand ihre grundle-
gende Haltung aufgab, dass der Wunsch der Deutschen nach einer Wiederverei-
nigung legitim, aber mit den zuvor benannten Bedingungen zu verknüpfen sei.
Das Drohen lässt sich vielmehr als eine Reaktion verstehen, die von Misstrauen
gegenüber den Absichten des Bundeskanzlers geprägt war. Um dies zu erklären,
gilt es, die historische Dimension von Misstrauen zu berücksichtigen, die zur
Konstituierung von Mitterrands Erwartungen im Spätherbst 1989 beitrug. Der
Argwohn vor einem möglichen deutschen Alleingang hatte sich über mehrere
Monate aufgebaut. Erste Anzeichen dafür, dass die deutsche und französische
Haltung durch Kohls innenpolitische Schwierigkeiten in einen Gegensatz zu ge-
raten drohten, sah die équipe Mitterrand bereits im Frühjahr 1989. Durch verloren
gegangene Wahlen in Berlin und Hessen geriet der Bundeskanzler unter innen-
politischen Druck. Aus Gesprächen mit ihm berichtete der französische Bot-
schafter Boidevaix nach Paris, dass die Zustimmungswerte der Koalition abnäh-
men, obwohl die Situation der Bundesrepublik im Allgemeinen gut sei.
Schwierigkeiten bereitete der Regierung vor allem die Unterbringung und Aus-
bildung immigrierter Deutschstämmiger aus Osteuropa sowie deren Integration in
den Arbeitsmarkt.⁴³ Mit den Verpflichtungen, die die DDR bei der KSZE-Folge-

 Mitterrand, Rede im Europaparlament, Straßburg 22. November 1989.


 Mitterrand, Rede im Europaparlament, Straßburg 22. November 1989.
 AN, AG/5(4)/CD/187, MAE, TD Bonn 117, Situation générale en RFA. Contrastes de politique
intérieure, 17. Januar 1989; ADMAE, 1935-INVA 6791, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction
d’Europe Centrale, Note, La RFA au printemps 1989: L’avenir de la coalition chrétienne-libérale en
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 363

konferenz in Wien eingegangen war, begann das Grenzregime der DDR zu ero-
dieren, wodurch über das Jahr 1989 eine steigende Zahl an Menschen die DDR
verließ. Durch die Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze am 27. Juni 1989
sollte sich der Flüchtlingsstrom nochmals verstärken.⁴⁴ Am 12. April strukturierte
Helmut Kohl sein Kabinett um; seine Rede vor dem Deutschen Bundestag am
27. April 1989 beurteilte Boidevaix als Versuch, das Scheitern der Wahlen zu
überspielen.⁴⁵ Präsidentenberaterin Elisabeth Guigou zog am 28. April den
Schluss, dass sich der Kanzler trotz seines persönlichen Engagements für Europa
zu politischen Entscheidungen genötigt sehen könnte, die eine gemeinsame
deutsch-französische Haltung ausschließen würden. Hinsichtlich eines Vorge-
hens gegen Automobilverschmutzung beispielsweise habe Kohl eine nationale
Lösung angekündigt, obwohl sich Mitterrand dezidiert für eine europäische ein-
gesetzt habe. Guigou empfahl daher eine umfassende Evaluation der deutschen
Situation und Anpassung von Mitterrands Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik
mit den wichtigsten Ministern, um im Vorfeld der nächsten Zusammentreffen eine
klare Linie zu definieren.⁴⁶ Im Frühjahr 1989 machte die équipe Mitterrand die
Erfahrung, dass Kohl aus innenpolitischen Gründen nationale Lösungen euro-
päischen vorzog. Das Vertrauen in sein europäisches Engagement erhielt durch
diese Erfahrung, die Mitterrands Wahrnehmung der künftigen Monate struktu-
rierte, erste Risse.
Es gilt zudem zu beachten, dass Helmut Kohl sich seinerseits durch die Be-
richterstattung der französischen Presse missverstanden fühlte, wodurch sich das
Misstrauen im Herbst 1989 als reziprok erwies. Am 22. Juni 1989 beklagte er sich
bei François Mitterrand darüber, dass Teile der französischen Öffentlichkeit an
der bundesdeutschen Solidarität im europäischen Integrationsprozess zweifel-
ten.⁴⁷ Aus drei Gründen sind diese Erkenntnisse für die Analyse von Bedeutung.
Erstens hatte dieses durch die Presse lancierte Misstrauen Einfluss auf die

question, 10. April 1989; Note de Jean-Marie Guéhenno, Chef du Centre d’Analyse et de Prévision,
La relation franco-allemande, 30. April 1989. In: Vaïsse/Wenkel (Hrsg.), Diplomatie, S. 55 – 60.
 Vgl. Süß, Walter: Die Wiener KSZE-Folgekonferenz und der Handlungsspielraum des DDR-
Sicherheitsapparates 1989. In: Peter/Wentker (Hrsg.), KSZE, S. 228 – 231; Wenkel, Christian: Auf
der Suche nach einem „anderen Deutschland“. Das Verhältnis Frankreichs zur DDR im Span-
nungsfeld von Perzeption und Diplomatie. München 2014. S. 490.
 AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, TD Bonn 955, Evolution après la déclaration de politique générale
du Chancelier, 28. April 1989.
 AN, AG/5(4)/EG/212, Le Chargé [sic] de Mission auprès du Président de la République, Eli-
sabeth Guigou, Note pour le Président de la République, Quelques réflexions à la suite du discours
du Chancelier Kohl devant le Bundestag, 28. April 1989.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Paris, 22. Juni 1989. In:
DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 8, S. 307.
364 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

Wahrnehmung bei der Bundesregierung. Kohls Unzufriedenheit mit der „Presse


unserer Partnerländer“⁴⁸ war ein wiederkehrendes Gesprächsthema in deutsch-
französischen Konsultationen. In gewisser Weise verursachte das in der Presse
kommunizierte Misstrauen spätestens dann persönliches Misstrauen bei Helmut
Kohl, als er sich von seinen europäischen Partnern nach dem Mauerfall im Stich
gelassen fühlte.⁴⁹ Dazu mag beigetragen haben, dass das Misstrauen in der
massenmedialen Berichterstattung beispielsweise von Jacques Delors als politi-
sche Ressource genutzt wurde. Anspielungen auf Zweifel an der deutschen Zu-
verlässigkeit nutzte er, um Kohl unter Druck zu setzen und auf einen Erfolg des
Straßburger Ratstreffens hinzuarbeiten. Kohl bemühte sich sichtlich darum, das
Vertrauen in die Verlässlichkeit seiner Partnerschaft zu restaurieren: Am 5. Okto-
ber 1989 versicherte er Kommissionspräsident Jacques Delors, dass er zum Erfolg
des Straßburger Ratstreffens beitragen wolle: Zum einen liege ihm die Weiter-
entwicklung der Europäischen Gemeinschaft am Herzen. Zum anderen wolle er
dem französischen Staatspräsidenten auch aus persönlichen Gründen helfen. Um
seine Vertrauenswürdigkeit zu bekräftigen, beteuerte er, dass in keinem Fall der
Eindruck entstehen dürfe, dass die deutsche Einheit oder die Zusammenarbeit mit
Osteuropa für die Bundesrepublik „eine Alternative zur europäischen Integration“
darstelle. Es sei kein „Entweder-Oder“, sondern ein „Sowohl-als-auch“.⁵⁰ Insofern
überspitzte die Presse einerseits das Misstrauen französischer Eliten gegenüber
der Bundesregierung, indem dieses in den öffentlichen Diskus überführt wurde.
Dieses blieb andererseits nicht ohne Wirkung auf deutscher Seite, die sich da-
durch von den europäischen Partnern vor den Kopf gestoßen fühlte. Die Öffent-
lichkeit wurde hier zu einem Akteur in einem deutsch-französischen Missver-
ständnis.
Zweitens sah sich die équipe Mitterrand in den folgenden Wochen in ihrem
Misstrauen scheinbar bestätigt. Am 13. Oktober hatte Kohls enger Mitarbeiter
Joachim Bitterlich Elisabeth Guigou noch die Botschaft übermittelt, dass der
Bundeskanzler in Straßburg der Vereinbarung über den Zusammentritt einer
Regierungskonferenz zur Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion zu-
stimmen werde, auf die François Mitterrand große Mühen während der franzö-
sischen Ratspräsidentschaft richtete. Als Kohl bei einem Abendessen mit Mitter-
rand am 24. Oktober ausweichend auf die Frage nach einem Datum für den
Zusammentritt der Regierungskonferenz reagierte, weckte dies Mitterrands oh-

 54. Deutsch-französische Konsultationen, Bonn, 2./3. November 1989. In: DzD, Sonderedition
Deutsche Einheit, Dok. 70, S. 474.
 Vgl. dazu Schwarz, Helmut Kohl, S. 557.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Präsident Delors, Bonn, 5. Oktober 1989. In: DzD,
Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 58, S. 443.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 365

nehin schon schwelendes Misstrauen.⁵¹ Bestätigt wurde dies zusätzlich, als Kohl
das Datum bei dem deutsch-französischen Gipfel am 2. und 3. November in eine
noch entlegenere Zukunft verschieben wollte und sich auf innenpolitische Fragen
zurückzog.⁵² Kohls Beteuerungen, in „Straßburg zu einer großen Anstrengung
bereit“ zu sein, um den Einigungsprozess bis 1992 unumkehrbar zu machen,⁵³
erschienen der équipe Mitterrand zusehends als leere Lippenbekenntnisse. Zwar
hatte Helmut Kohl sich in parteiinternen Machtkämpfen gegen die Gegner einer
Währungsunion und den Druck der deutschen Bundesbank behaupten können.
Allerdings reifte bei ihm das Bedürfnis, angesichts der Herausforderungen durch
die osteuropäischen Reformen auch die politische Integration Europas voranzu-
treiben und dadurch gleichsam einen stabilen Rahmen für eine deutsche Wie-
dervereinigung zu schaffen.⁵⁴
Drittens war das Misstrauen der europäischen Partner der Bundesregierung
nicht entgangen. Nach dem Mauerfall bemühte sie sich über verschiedene Kom-
munikationskanäle um Vertrauensbildung. Der französische Botschafter Boide-
vaix berichtete von einer Unterredung mit Hans-Dietrich Genscher am Rande ei-
nes Empfangs, bei der der Außenminister auf einen breiten politischen und
parteiübergreifenden Konsens für die Stärkung der EG verwies. Seiner Ansicht
nach werde die Wiedervereinigung vor allem außerhalb Deutschlands zu einem
größeren Thema gemacht als es tatsächlich sei.⁵⁵ Horst Teltschik betonte bei ei-
nem Symposium am 23. November, dass sich die Einheit Deutschlands nur in
einer neuen Architektur Europas vollziehen könne. Außerdem versuchte er, das
Misstrauen dem deutschen europäischen Engagement gegenüber auszuräumen,
indem er die französischen Sorgen explizit ansprach: Er persönlich habe einem
Berater des Präsidenten am Vorabend des 12er-Dinners am 18. November die
europäischen Überzeugungen von Helmut Kohl und Willy Brandt versichert.
Darüber, dass auch Michail Gorbatschow über die Entwicklungen in der DDR
„außerordentlich beunruhigt“⁵⁶ war, war sich der Bundeskanzler nach dem
Mauerfall ebenfalls bewusst. Angesichts all dessen wirkt die Verkündung von

 Loth, Europas Einigung, S. 285 – 287.


 54. Deutsch-französische Konsultationen, Bonn, 2./3. November 1989. In: DzD, Sonderedition
Deutsche Einheit, Dok. 70, S. 475.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Präsident Delors, Bonn, 5. Oktober 1989. In: DzD,
Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 58, S. 445.
 Loth, Helmut Kohl, S. 463 – 466.
 AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, TD Bonn 2419, Boidevaix, Entretien avec M. Genscher, 17. November
1989.
 Telefongespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Premierministerin Thatcher, 10. November
1989. In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 81, S. 506.
366 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

Kohls Zehn-Punkte-Plan am 28. November 1989 geradezu leichtsinnig. Er ging


damit sehenden Auges das Risiko ein, das Misstrauen seiner Partner wie auch das
der Länder im Osten zu verstärken und Ängste zu wecken. Aus rein innenpoliti-
schem Kalkül nahm Kohl dies in Kauf. Gleichwohl zeigen die hier analysierten
Beispiele, dass die deutsch-französischen Interessenkonflikte im Herbst 1989 auf
Missverständnissen, Fehlperzeptionen und unterschiedlichen Vorstellungen über
die Geschwindigkeit der deutschen und europäischen Entwicklungen beruhten,
die ihren Ursprung bereits im Frühjahr 1989 fanden. Dies hat auf die Überliefe-
rung eben dieser Fehlperzeptionen Einfluss genommen, die zum Teil bis in die
Gegenwart durch die Forschungsliteratur perpetuiert werden.
Mitterrand war in den Tagen nach dem Mauerfall insgesamt behutsam vor-
gegangen, um den Prozess nicht künstlich zu beschleunigen und nach wie vor am
französischen Konzept festhalten zu können, die europäische Einheit auf be-
schleunigtem Weg vor einer deutschen Einheit zu realisieren. Kohls Zehn-Punkte-
Plan lief diesem Bestreben entgegen und besaß zudem das Potential, Gorbat-
schows politischer Stellung zu schaden. Alle Bedingungen, die für Mitterrand
entscheidend waren – insbesondere die Frage der deutschen Grenzen –, wurden
in Kohls Rede nicht angesprochen. Diese drohte daher nicht nur bei den osteu-
ropäischen Nachbarn Angst vor deutschem Großmachtstreben zu wecken.⁵⁷ Ely-
sée und Quai d’Orsay bewerteten Kohls Rede vor dem Deutschen Bundestag als
„reprise en main politique de la ‚question allemande‘ par la chancellerie“⁵⁸ zu
einem Zeitpunkt als Paris die europäische Vertiefung voranbringen wollte. Da-
durch schien die deutsche Wiedervereinigung zu einer Priorität auf Bonns poli-
tischer Agenda zu werden, während Paris europäische Prioritäten setzte.⁵⁹ Ber-
trand Dufourcq bezeugt in der Retrospektive, dass Kohls Zehn-Punkte-Plan vor
allem deshalb so negativ in Paris aufgenommen wurde, weil die europäische
Konstruktion darin keinerlei Erwähnung fand, zu einem Zeitpunkt, zu dem Kohl
den Zusammentritt der Regierungskonferenz zur Schaffung einer Wirtschafts- und
Währungsunion ohnehin schon hinauszuzögern schien. Weder François Mitter-
rand noch dessen Berater oder französische Diplomaten waren im Vorfeld kon-
sultiert oder informiert worden.⁶⁰ Georges Saunier bezeichnet den Zehn-Punkte-
Plan auch als Wendepunkt der französischen Diplomatie, da sich François Mitt-
errand ab diesem Zeitpunkt dafür einsetzte, dass die Bundesregierung sich mit
den Fragen und Konsequenzen einer deutschen Wiedervereinigung auseinan-

 Saunier, France, S. 391.


 Saunier, Défaire le mur, S. 79.
 Saunier, Défaire le mur, S. 79.
 Dufourcq, 2+4, S. 468.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 367

dersetzte.⁶¹ Hinsichtlich der Strategie und der zur Realisierung eingesetzten Me-
thoden lässt sich jedoch Kontinuität feststellen, wenngleich sich die Intensität der
Drohungen von einer diffusen Suggestion bedrohlicher Zukunftsaussichten in
eine explizite Androhung möglicher Konsequenzen steigerte: Am 30. November
ließ Mitterrand in einem Gespräch mit Genscher die Imagination entstehen,
Deutschland sähe sich womöglich einer Tripelallianz zwischen Frankreich,
Großbritannien und der Sowjetunion gegenüber. Damit erschuf er das Bild einer
internationalen Isolation. Hinter dem expliziten Bezug auf die Jahre 1913 und 1939
stand zudem eine Anspielung auf drohende kriegerische Auseinandersetzun-
gen.⁶² Seine Reaktion fiel auch deshalb so heftig aus, weil Kohl in seinem per-
sönlichen Schreiben am Vortag seiner Rede noch Zweifel am „positiven Verlauf
der ersten Stufe“ des Delors-Plans zur Schaffung der WWU geäußert hatte.⁶³ In
Kohls persönlicher Vorlage für das Straßburger Ratstreffen, die er dem französi-
schen Präsidenten als Anlage zukommen ließ, verschob er den Beginn der Re-
gierungskonferenz nunmehr auf Anfang 1991.⁶⁴
Die explizite Drohung, mit einer Beschleunigung in der deutschen Wieder-
vereinigung den Zusammenschluss einer Tripelentente zu riskieren, lässt sich
grundsätzlich als kalkulierte Drohung in den Kontext von Mitterrands Gefühls-
politik stellen. Die Intensität der Drohung lässt jedoch beinahe auf einen Ge-
fühlsausbruch schließen, der den Präsidenten dazu veranlasste, den Ton zu
verschärfen. In den Memoiren von Genscher erscheint sein Dialog mit Mitterrand
weniger explizit und konfrontativ als in der Überlieferung von Jacques Attali.⁶⁵
Beinahe mag es so erscheinen, als wollte Mitterrand bei dem deutschen Außen-
minister Empathie erzeugen für „die europäischen Partner, die sich in Zukunft
achtzig Millionen Deutschen gegenüber sähen.“⁶⁶ Die Andeutung „neue[r] privi-
legierte[r] Bündnisse“ in Europa und ein potentieller Rückfall „in die Vorstel-
lungswelt von 1913“⁶⁷ lässt sich aber auch als strategischer Versuch deuten, Angst
zu evozieren und diese als politische Ressource zu nutzen. Ob der französische

 Saunier, Défaire le mur, S. 79.


 Loth, Europas Einigung, S. 293 f.; Attali,Verbatim 1986 – 1991, 30. November 1989, S. 894; siehe
auch: Letter from Mr. Powell (No 10) to Mr. Wall, 20. Januar 1990. In: Documents on British Policy
1989 – 1990, Dok. 103, S. 217.
 Schreiben des Bundeskanzlers Kohl an Staatspräsident Mitterrand, Bonn, 27. November 1989.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 100, S. 566.
 EG-Gipfel in Straßburg am 8. und 9. Dezember 1989, Arbeitskalender für das weitere Vorgehen
bis 1993. In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 100 A, S. 567.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 30. November 1989, S. 894; Genscher, Hans-Dietrich: Erinne-
rungen. Berlin 1995. S. 676 – 679.
 Genscher, Erinnerungen, S. 678.
 Genscher, Erinnerungen, S. 678.
368 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

Präsident nun Angst oder Empathie erzeugen wollte, lässt sich aufgrund der
unterschiedlichen Überlieferungen, die in den jeweils subjektiven Wahrneh-
mungen der Akteure begründet liegen, nicht zweifelsfrei klären. Der intendierte
Effekt war aber der gleiche: Die Suggestion einer für die Bundesrepublik be-
drohlichen Zukunftserwartung sollte ihre Regierung hinreichend unter Druck
setzten, sich auf das Datum der Regierungskonferenz zu verständigen. Eine Folge
dieser Gefühlspolitik war aber auch, dass andere Akteure dies als ernst gemeinte
Drohung auslegten beziehungsweise als Gegnerschaft zur deutschen Vereinigung
werteten. Der Grund dafür sind widerstreitende Wahrnehmungen der Ereignisse
und unterschiedliche Erwartungen, die an Mitterrands Handeln herangetragen
wurden. Die britischen Akteure beispielsweise trugen an Mitterrand die Erwar-
tung heran, dass er sich vor einer großen deutschen Wirtschaftsmacht fürchte.
Deswegen rechneten sie damit, dass er ihre Ablehnung teile und Thatchers Vor-
schlägen gegenüber, die einen langen Transitionsprozess zur deutschen Einheit
anstrebte, aufgeschlossen sein werde. Diese Perzeption trug letztlich dazu bei,
dass britische Protokollanten bei dem Gespräch zwischen Thatcher und Mitter-
rand am 20. Januar 1989 die Zurückhaltung des Präsidenten als Zustimmung in-
terpretierten, gemeinsam den Prozess zu verlangsamen. Im Detail soll das Ge-
spräch an dieser Stelle nicht analysiert werden. Allerdings zeigt sich doch, dass
Mitterrand durch seine Instrumentalisierung von Perzeptionen und Emotionen
selbst dazu beitrug, dass sich diese verstetigen konnten.⁶⁸
Einiges spricht dafür, dass Mitterrand nach Kohls Rede vor dem Bundestag
von seinen eigenen Ängsten überwältigt wurde, die in seiner Sozialisation be-
gründet liegen.⁶⁹ Die Angst vor einem deutschen Alleingang und vor einem Ver-
lust aller Ordnungsstrukturen rief bei ihm Erinnerungen an seine Erfahrungen
von Gewalt und Anarchie im Zweiten Weltkrieg wach. Mitterrand hatte zudem
aber auch Angst vor der Angst, die die Assoziation einer deutschen Großmacht bei
anderen europäischen Staaten schüren würde, bevor durch die Europäische
Union ein Stabilitätsfaktor geschaffen worden war. Durch die Schaffung einer
Wirtschafts- und Währungsunion sollte das wirtschaftliche Potential der Bun-
desrepublik nicht zuletzt nach dem Solidaritätsprinzip in die europäische Ge-
meinschaft eingehegt werden. Besonders heikel war für François Mitterrand die
Grenzfrage. Sein Misstrauen Kohls Intentionen gegenüber hatte auch in dieser
Frage eine historische Dimension, da dieser bei einem Gespräch mit Mitterrand

 Siehe dazu Minute from Mr. Hurd to Mrs. Thatcher, 16. Januar 1990. In: Documents on British
Policy 1989 – 1990, Dok. 99, S. 209; Letter from Mr. Powell (No 10) to Mr. Wall, 20. Januar 1990. In:
Documents on British Policy 1989 – 1990, Dok. 103, S. 217.
 Vgl. dafür Kapitel 1.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 369

am 22. Juni 1989 beispielsweise auf eine deutsche Minderheit in Polen verwiesen
hatte, die sich auf circa 300 000 in Polen lebende Deutsche belief, „deren Le-
bensbedingungen verbessert werden müßten.“⁷⁰ Für Mitterrand wirkte Kohls
Verhalten, als sei der Bundeskanzler bereit, eine Beschleunigung der Entwick-
lungen zu fördern, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für den europäischen
Kontinent zu nehmen. All diese Ängste zusammengenommen, standen hinter
dem inszenierten und imaginierten Zukunftsszenario eine Tripelallianz. Diese
kaum rationale Ad-Hoc Reaktion mag auf deutscher Seite verstanden worden
sein, als sei Mitterrand als Repräsentant einer der vier Siegermächte bereit, ein
Veto gegen die deutsche Wiedervereinigung einzulegen. Zusammengenommen
mit anderen Faktoren, wie der bereits erwähnten medialen Berichterstattung oder
Mitterrands Reisen in die DDR und nach Kiew, die im weiteren Verlauf dieses
Kapitels Gegenstand der Analyse sein werden, nährte dies die in der deutschen
Presse verbreitete Wahrnehmung, der französische Präsident agitiere gegen den
Einigungsprozess. Indem sich Mitterrand am 28. November Äußerungen gegen-
über der Presse verweigerte, ließ er umso mehr Raum „für Mutmaßungen und
Spekulationen bezü glich der franzö sischen Einstellung zur deutschen Einheit“⁷¹.
Zum anderen wird hier die These aufgestellt, dass das irrationale Drohen gewis-
sermaßen als Panikreaktion anschließend wieder als kalkuliertes Drohen in
Mitterrands Strategie integriert wurde. Zwar erfüllten seine Reisen in die DDR und
nach Kiew auch andere Zwecke, wie Frédéric Bozo nachgewiesen hat.⁷² Dennoch
wurde hingenommen, dass dies der deutschen Wahrnehmung zur Bestätigung
gereicht wurde, weil es für die Absichten von Mitterrand und seiner équipe
durchaus förderlich war, die deutsche Seite unter Druck zu setzten, zum euro-
päischen Konsens zurückzukehren und die genannten Bedingungen zu akzep-
tieren.
Diese Strategie schien von Erfolg gekrönt, da sie bei Kohl offensichtlich zur
Erkenntnis führte, „dass er in der Währungsfrage nun doch ein größeres innen-
politisches Risiko eingehen musste, wenn er den nötigen Spielraum für die Ge-
staltung des Wiedervereinigungsprozesses behalten wollte.“⁷³ Er schlug daher die
Empfehlungen seines Mitarbeiters Joachim Bitterlich aus, der dem Bundeskanzler
Anfang Dezember einen deutschen Alleingang in Straßburg nahelegen wollte. Er
empfahl ihm, als erster das Wort zu ergreifen, um seinen „Gesamtansatz erläutern
und damit das ‚Gesetz des Handelns‘ an sich ziehen“ zu können. Gar zog er in

 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Paris, 22. Juni 1989. In:
DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 8, S. 306.
 Wenkel, Suche, S. 495.
 Siehe Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 134– 143.
 Loth, Europas Einigung, S. 294.
370 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

Erwägung, Kohls Plan diskret einigen Regierungschefs vorzulegen, um sich deren


Rückendeckung in Straßburg zu sichern.⁷⁴ Mitterrand hatte Helmut Kohl am
1. Dezember noch einmal unmissverständlich klar gemacht, dass er sich einer
Festlegung widersetzen werde, „wonach die 1. Sitzung der Konferenz im De-
zember (1990) stattfindet.“⁷⁵ Anstatt sich auf eine Konfrontation einzulassen,
lenkte Kohl am 6. Dezember ein und ließ dem Präsidenten über seine Mitarbeiter
die Botschaft zukommen, dass er in Straßburg einem Zeitplan zustimmen werde,
bei dem die Regierungskonferenz unter italienischer Präsidentschaft vor Ende
1990 eröffnet werde.⁷⁶
Obwohl es der équipe Mitterrand insgesamt doch um die Beteiligung aller
europäischen Staaten an den Veränderungsprozessen ging, weisen die internen
Analysen auch eine gewisse Ambivalenz auf. Jacques Blot empfahl eindringlich,
die französische Rolle im Prozess zu behaupten. Dabei sah er Präsident und Re-
gierung einem gewissen Handlungsdruck ausgesetzt, weil sie nur noch bis zum
Ende des Jahres 1989 durch die europäische Ratspräsidentschaft beteiligt werden
würden. Viel Zeit sah er also nicht, Bedingungen zu schaffen, unter denen
Frankreich auch weiterhin eingebunden sein würde. Dem Leiter der Europaab-
teilung schwebte etwa die Einführung eines Übergangsprozederes bei der Wei-
tergabe der Ratspräsidentschaft vor, durch das eine Möglichkeit zur Einfluss-
nahme bestehen bleibe, wenn man den Stab der Präsidentschaft bereits
abgegeben habe.⁷⁷ Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass es der équipe
Mitterrand zwar grundsätzlich darum ging, die politische Rolle der EG zu stärken,
um sicherzustellen, dass europäische Interessen bei den Gesprächen der Super-
mächte Beachtung finden würden. Gleichzeitig vertraute Mitterrands équipe aber
nicht darauf, dass andere europäische Staaten – respektive die irische Ratsprä-
sidentschaft ab 1990 – diese Interessen in ähnlich zufriedenstellender Weise
vertreten würden wie sie selbst. Zwei primäre Ziele verfolgte sie daher akribisch in
den verbleibenden Wochen des Jahres 1989: Erstens galt es, die Erwartungen und
Handlungsspielräume von Michail Gorbatschow zu ergründen und eine Ab-
schottung oder Konfrontation durch die Entstehung von Misstrauen oder Angst zu

 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I Bitterlich an Bundeskanzler Kohl, Bonn, 2./3. De-
zember 1989. In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 108, S. 598.
 Schreiben des Staatspräsidenten Mitterrand an Bundeskanzler Kohl vom 1. Dezember 1989.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 108 A, S. 599.
 Schabert, Weltgeschichte, S. 424.
 AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Le Directeur, Jacques Blot, Réunification al-
lemande et processus européen, 4. Dezember 1989.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 371

vermeiden. Zweitens sollte der deutsche Wiedervereinigungsprozess europäisiert


und multilateralisiert werden. Diesem Zweck diente auch Mitterrands Reise in die
DDR vom 20. bis zum 22. Dezember 1989.
Den ursprünglichen Rahmen dieser Reise bildete die in Abschnitt 4.3 analy-
sierte Wiederbelebung der französischen Ostpolitik als Antwort auf den Paris-
Besuch von Erich Honecker im Januar 1988.⁷⁸ Christian Wenkel diagnostiziert eine
Diskrepanz zwischen deutscher Wahrnehmung beziehungsweise älteren For-
schungsergebnissen der Reise einerseits und neuen Quellenbefunden anderer-
seits, mit der er erklärt, wie sich die deutsche Wahrnehmung zu „einer [sich]
hartnäckig haltenden Legende“⁷⁹ verfestigen konnte: Erstens habe die Erinnerung
an 1918 und 1945 die Erwartung überlagert und auf diese Weise ein allgemeines
Misstrauen gegenüber der französischen Deutschlandpolitik in der BRD ausge-
löst. Gewissermaßen spiegelbildlich brachten Vertreter der DDR Mitterrand die
Erwartung entgegen, durch den Besuch die staatliche Souveränität der DDR zu
bekräftigen. In dem Kontext führte dies zweitens in Bonn insofern zu Irritationen,
als die wahrgenommene französische Politik nicht dem tatsächlichen deutsch-
französischen Kräfteverhältnis entsprochen habe. Drittens macht Wenkel eine
fehlende Kommunikationsstrategie für die Wahrnehmungsschwierigkeiten ver-
antwortlich. Aufgrund mangelnder Eindeutigkeit von Mitterrands Aussagen
stützte sich die deutsche Bewertung auf einen relativ begrenzten Kreis der fran-
zösischen Meinungselite und ihre Befürchtungen.⁸⁰ Sehr überzeugend wird in
dieser Analyse die Verbindung von Erfahrung und Erwartung nutzbar gemacht. In
einem Punkt jedoch lassen Quellenbefunde gerade durch die Analyse von Mitt-
errands Außen- und Sicherheitspolitik in der Zusammenschau der 1980er Jahre
auch eine andere Lesart zu. Ganz im Gegenteil könnte man auch die Hypothese
aufstellen, dass gerade Mitterrands Uneindeutigkeit Teil seiner Kommunikati-
onsstrategie war, die einen bestimmten Zweck erfüllen sollte und in der die
deutschen Wahrnehmungen und Erwartungen politisch nutzbar gemacht wur-
den.
Ende Oktober 1989 signalisierte Roland Dumas seinem Amtskollegen in der
DDR, Oskar Fischer, dass im November ein konkretes Datum für die Reise des
französischen Präsidenten übermittelt werden solle. Dumas und Diplomaten des
Quai d’Orsay präferierten einen Termin im Dezember oder Januar. Zudem empfahl

 AN, AG/5(4)/CD/187, Présidence de la République, Le Conseiller diplomatique, Loïc Hen-


nekinne Note pour le Président de la République,Visite d’Etat en RDA et à Berlin (20 – 22 décembre
1989), 19. Dezember 1989.
 Wenkel, Frankreich, S. 204.
 Wenkel, Frankreich, S. 202– 204.
372 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

ein diplomatischer Berater Mitterrands, die Reise bei der offiziellen Ankündigung
gemeinsam mit jener nach Ungarn im Februar oder März 1990 bekannt zu geben.⁸¹
Der symbolische Aussagewert der Reise sollte dadurch zweifellos „in den Kontext
einer neuen franzö sischen Ostpolitik“⁸² anstatt einer französischen Deutsch-
landpolitik gestellt werden. Nach dem Fall der Berliner Mauer hatte es François
Mitterrand jedoch plötzlich eilig, einen Termin für ein Treffen mit der DDR-Füh-
rung zu vereinbaren: Seinen Mitarbeitern gab er die Anweisung „Fixer la date la
plus proche.“⁸³ Sowohl Helmut Kohl als auch Michail Gorbatschow wollte Mitt-
errand dagegen im Glauben lassen, dass der Besuch bereits von langer Hand
geplant gewesen sei und er ihn trotz der Ereignisse nicht habe absagen wollen.
Entschieden widersprach er den Darstellungen der Presse, er habe im Sinne einer
deutsch-französischen Rivalität vor dem deutschen Bundeskanzler in die DDR
reisen wollen.⁸⁴ Der Grund, weshalb Mitterrand die Terminsuche beschleunigen
wollte, war das Ende der französischen Ratspräsidentschaft zum Jahreswechsel.
Mitterrand zog es vor, „nicht alleine in seiner Funktion als französischer Präsi-
dent, sondern zusätzlich mit einer europäischen Legitimität“⁸⁵ in die DDR zu
reisen. Sein Hauptanliegen bestand laut Bozo und Wenkel darin, die deutsche
Entwicklung mit der europäischen in Einklang zu bringen, um einen deutsch-
deutschen Bilateralismus zu verhindern und einen europäischen Rahmen für die
deutsche Einheit zu schaffen.⁸⁶ Die internen Vorbereitungen der Reise legen
Zeugnis über die Intention von Mitterrands Beratern ab, abermals die EG als
Akteur zu etablieren und damit den deutsch-deutschen Annäherungsprozess in
den Kontext des europäischen Annäherungsprozesses zu stellen: Der Besuch des
Präsidenten sollte dazu genutzt werden, zahlreiche bilaterale Kooperationsver-
träge zwischen der DDR und Frankreich abzuschließen. Unter anderem war es
vorgesehen, ein zweites französisches Kulturzentrum in der DDR zu eröffnen
sowie die Handelsbeziehungen zwischen Frankreich und der DDR zu intensivie-

 AN, AG/5(4)/CD/187, Présidence de la République, le Conseiller diplomatique, Note pour le


Président de la République, Visite en République Démocratique Allemande, 26. Oktober 1989.
 Wenkel, Suche, S. 492.
 AN, AG/5(4)/CD/187, handschriftliche Bemerkung von François Mitterrand an dem Dokument:
MAE, Timsit, TD Berlin 3029, Projet de visite à Berlin et en RDA de M. le Président de la République,
13. November 1989.
 Arbeitsfrühstück des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Straßburg, 9. De-
zember 1989. In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 117, S. 629; Gespräch Gorbačevs mit
dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 6. Dezember 1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.]
(Hrsg.), Michail Gorbatschow, S. 271.
 Wenkel, Frankreich, S. 211.
 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 143; Wenkel, Frankreich,
S. 213.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 373

ren, dessen Volumen weit hinter jenes des innerdeutschen Handels zurückfiel.
Neben den erwarteten positiven Effekten für die französische Industrie, sollte auf
diese Weise demonstriert werden, dass die Entwicklungen in der DDR nicht nur
eine exklusive Hinwendung zur Bundesrepublik, sondern eine grundsätzliche
Öffnung der DDR zu den Ländern der Gemeinschaft zur Folge hatten.⁸⁷ Der po-
litische Dialog zwischen Frankreich und der DDR wurde gegenüber den Themen
Wirtschaft und Kultur vernachlässigt.⁸⁸ Dafür war weniger der bilaterale als
vielmehr ein europäischer Rahmen vorgesehen: Elisabeth Guigou schlug vor,
beim Besuch die bisher nicht überbrachte Nachricht zu übermitteln, einen poli-
tischen Dialog zwischen der Gemeinschaft der Zwölf und der DDR einführen zu
wollen. Im Sommer 1989 hatte die DDR-Führung die französische Präsidentschaft
um dieses Anliegen ersucht, woraufhin die EG-Außenminister bei ihrem Treffen
im Château d’Esclimont am 14. Oktober beschlossen hatten, ein jährliches Treffen
zwischen dem Außenminister der DDR und dem jeweiligen Außenminister der
europäischen Ratspräsidentschaft zu etablieren.⁸⁹ Indem die EG zum politischen
Gesprächspartner der DDR wurde, wurde ein deutsch-deutscher Bilateralismus
vermieden.
Die Berater des Präsidenten kalkulierten sorgfältig die Erwartungen der ver-
schiedenen politischen und gesellschaftlichen Kräfte in der DDR. Die DDR-Füh-
rung, so Loïc Hennekinne, hoffe auf eine feierliche Bestätigung ihres Status als
souveräner und unabhängiger Staat, um die Asymmetrien in Verhandlungen mit
der BRD zu reduzieren. Weite Teile der politischen Führung, der oppositionellen
Bewegungen und der Intellektuellen sprachen sich ihm zufolge für den Erhalt
einer ostdeutschen Identität aus, wohingegen die Mehrheit der Bevölkerung und
insbesondere die Jugend die deutsche Einheit ersehne.⁹⁰ Zweifellos wusste der
französische Präsident daher um die Gefahr, dass sein Besuch durch die DDR-
Führung politisch instrumentalisiert werden könnte. Aus eben diesem Grund

 AN, AG/5(4)/CD/187, Présidence de la République, Le Conseiller diplomatique, Loïc Hen-


nekinne, Note pour le Président de la République, Visite d’Etat en RDA et à Berlin (20 – 22
décembre 1989), 19. Dezember 1989; AN, AG/5(4)/CD/187, Présidence de la République, Le Con-
seiller technique, Marc Boudier, Note pour Monsieur le Président, Votre visite en RDA. Quelques
précisions sur la situation économique et les relations commerciales avec notre pays, 19. De-
zember 1989.
 Wenkel, Suche, S. 498.
 AN, AG/5(4)/CD/187, Le Chargé [sic] de Mission auprès du Président de la République, Eli-
sabeth Guigou, Note pour le Président de la République, Votre voyage en RDA. Relations entre la
Communauté européenne et la RDA, 18. Dezember 1989.
 AN, AG/5(4)/CD/187, Présidence de la République, Le Conseiller diplomatique, Loïc Hen-
nekinne, Note pour le Président de la République, Visite d’Etat en RDA et à Berlin (20 – 22
décembre 1989), 19. Dezember 1989.
374 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

lehnte er es ab, deren Wunsch zu entsprechen und ein Interview, dass er dem
Fernsehen der DDR gegeben hatte, am Abend vor Helmut Kohls Reise in die DDR
am 19. Dezember 1989 auszustrahlen. Damit schlug er die Empfehlung von Jean-
Louis Bianco in den Wind und entschied sich für eine Ausstrahlung am 20. De-
zember, zu einem Zeitpunkt, an dem er selbst schon in der DDR angekommen sein
würde.⁹¹ Aber auch einer politischen Indienstnahme durch die Bundesrepublik
verweigerte sich François Mitterrand, indem er es ablehnte, am 22. Dezember
gemeinsam mit Helmut Kohl durch den geöffneten Grenzübergang am Branden-
burger Tor zu gehen.⁹²
Aber gerade weil Mitterrand um die Perzeptionen in DDR und BRD wusste,
lässt sich der Spekulationsspielraum, den der französische Präsident durch un-
eindeutige Signale ließ, kaum als misslungene Kommunikation beurteilen. Viel
plausibler ist es daher, die Unklarheit als Teil der Strategie zu begreifen und der
Reise in die DDR verschiedene Intentionen zu unterstellen. Zum einen wurde
durch die Analysen hinreichend belegt, dass es Mitterrands Anliegen war, das
deutsche Einheitsstreben zu multilateralisieren und die EG als Akteur an diesem
Prozess zu beteiligen. Zum anderen nahm Mitterrand die ihm entgegengebrachte
Kritik in Kauf, dadurch die DDR zu stabilisieren. Dies mag ihm nicht ungelegen
gewesen sein und ist vergleichbar mit seiner Inszenierung einer atlantischen
Wende nach seinem Amtsantritt oder den Drohungen gegenüber Thatcher, not-
falls auch ohne Großbritannien weitere Schritte im europäischen Integrations-
prozess zu gehen.⁹³ Ohne die Spekulationen der medialen Berichterstattung zu
dementieren, ließ der Präsident es zu, dass man sich in der Einschätzung der
französischen Haltung auf eine französische Meinungselite stützte, die aus ihrer
Ablehnung keinen Hehl machte. Vielmehr könnte man gar so weit gehen, dass er
diese Erwartungen als politische Ressource nutzte. Um die Bundesregierung unter
Druck zu setzen, den Vereinbarungen von Straßburg treu zu bleiben und einen
deutschen Alleingang in der deutschen Frage zu unterlassen, ließ die équipe
Mitterrand das diffuse Drohszenario einer französischen Gegnerschaft zur deut-
schen Einheit im Raum stehen.
Mitterrands Treffen mit Gorbatschow in Kiew, das auf eine Initiative des
französischen Präsidenten zurückging,⁹⁴ hatte diese Wahrnehmungen bereits am

 AN, AG/5(4)/CD/187, Présidence de la République, Service de Presse, Nathalie Duhamel, Note


à l’attention du Président, 12. Dezember 1989.
 Wenkel, Suche, S. 497; Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification,
S. 143.
 Siehe dazu Kapitel 2 und 3.
 Record of Telephone Converstaion between Mikhail Gorbachev and Francois Mitterrand, 14
November 1989; Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 375

6. Dezember 1989 zusätzlich genährt. Grundsätzlich dienten die Gespräche dazu,


die Erwartungen des sowjetischen Generalsekretärs zu vermessen. Sie stehen
damit in Zusammenhang mit zwei zentralen Ängsten des Präsidenten: seiner
Angst um die politische Stellung des Generalsekretärs und damit verbunden jener
vor gewaltsamen Auseinandersetzungen auf dem europäischen Kontinent.⁹⁵ Loïc
Hennekinne wies François Mitterrand vor der Abreise nach Kiew auf die Probleme
hin, mit denen sich Michail Gorbatschow aufgrund der Reformprozesse in der
Sowjetunion auseinandersetzte. Vor allem die Wirtschaft und die Frage der Na-
tionalitäten drohten dessen Handlungsspielraum einzuschränken. Hennekinne
diagnostizierte eine Diskrepanz zwischen der internationalen Bekanntheit und
der Verunsicherung, die seine Politik im Innern der Sowjetunion ausgelöst habe.
Wenn es Gorbatschow nicht gelänge, nach den Parlamentswahlen in den Teilre-
publiken 1990 ein Mindestmaß an Konsens beziehungsweise nationaler Kohäsion
zu schaffen, war Mitterrands Berater pessimistisch, dass Gorbatschow bei seinem
Wunsch, dass Imperium zusammenzuhalten, erfolgreich sein würde.⁹⁶ Der Elysée
sah das „Neue Denken“ in der Außenpolitik insgesamt auf eine harte Probe ge-
stellt. Dass die deutsche Frage durch die Entwicklungen plötzlich ganz oben auf
der politischen Agenda zu stehen schien, löste Sorge um den territorialen Status
Quo und die geopolitische Stabilität in Europa aus. Dem Kreml, so spekulierten
Mitterrands Mitarbeiter, ginge es um die Achtung der Nachkriegsrealitäten und
die Wahrung des Siegermachtsstatus. Aber trotz Gorbatschows innenpolitischer
Schwierigkeiten schrieben sie ihm nach wie vor Möglichkeiten zur außenpoliti-
schen Einflussnahme auf die Veränderungsprozesse in Europa zu, da sie ihn auf
Augenhöhe mit den USA sahen.⁹⁷ Diese Analysen drücken eine Erwartungshal-
tung von Mitterrands Umfeld aus. Sie schätzten die außenpolitische Machtbasis
und den Handlungsspielraum des Generalsekretärs größer ein, als er sich
schließlich erweisen sollte. Auf diese Weise lässt sich erklären, dass François
Mitterrands Erwartungen insofern enttäuscht wurden, als er im Januar feststellen
sollte, dass Gorbatschow dem Auftreten Helmut Kohls und George Bushs wenig
entgegenzustellen hatte. Auch Gorbatschows Haltung zur deutschen Frage wurde

6. Dezember 1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 62, S. 266; Bozo,
Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 134.
 AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Conception française du rapprochement des deux Europe et de la
solution à la „question allemande“, 30. November 1989.
 AN, AG/5(4)/CD/412, Présidence de la République, Le Conseiller diplomatique, Loïc Hen-
nekinne, Note pour le Président de la République, Situation en Union Soviétique, 5. Dezember
1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Derniers développements de la politique extérieure soviétique,
28. November 1989.
376 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

anhand vergangener Aussagen zu kalkulieren versucht. Obwohl Moskau die ter-


ritoriale Nachkriegsordnung nicht infrage stellte, weil dies das Risiko schwerer
Spannungen in Europa barg, zog die équipe Mitterrand den Schluss, dass eine
Annäherung beider deutscher Staaten im Rahmen der europäischen Konstruktion
dadurch nicht ausgeschlossen sei. Zudem nahmen Mitterrands Berater noch ei-
nen gewissen Handlungsspielraum wahr, auf Gorbatschows Position Einfluss zu
nehmen, da die sowjetische Position noch nicht eindeutig definiert schien.⁹⁸
Auch in Kiew diente die französische Ratspräsidentschaft als Legitimati-
onsgrundlage des Treffens. Aber die offizielle Darstellung, den politischen Dialog
der EG mit der Sowjetunion im Kontext der Ost-West-Beziehungen stärken zu
wollen, erfüllte nicht nur Inszenierungszwecke.Vielmehr wurde er in Hinblick auf
den amerikanisch-sowjetischen Dialog und angesichts des Treffens von Gorbat-
schow und Bush auf Malta am 2. und 3. Dezember wiederum als Instrument ge-
sehen, durch die Etablierung der EG als Akteur in den Ost-West-Beziehungen ein
amerikanisch-sowjetisches tête-à-tête zu unterlaufen. Zwei weitere miteinander
verknüpfte Gründe kamen hinzu: In seiner Rede vor dem Europaparlament im
Oktober hatte Mitterrand angeregt, der Sowjetunion einen Beobachtungsstatus
bei der GATT zu gewähren, was George Bush beim amerikanisch-sowjetischen
Gipfel auf Malta befürwortete. Präsidentenberater Marc Boudier schlug vor, Gor-
batschow in Kiew zu versichern, dass Mitterrand sich beim europäischen Rats-
treffen in Straßburg dafür einsetzen werde, diesen Vorschlag zu unterstützen.⁹⁹
Erstens diente dieses demonstrative Unterstützungsangebot dazu, beim Gene-
ralsekretär einerseits Vertrauen in seinen Gesprächspartner und andererseits in
europäische Kooperationsangebote zu generieren. Denn zweitens stellte der
Ausbau der Kooperationen mit der Sowjetunion, wie es durch die Aufhebung von
Handelsrestriktionen durch die Europäische Gemeinschaft geschah,¹⁰⁰ ein Mittel
dar, dem sowjetischen Reformprozess Unterstützung zu gewähren und dadurch
Gorbatschows Position zu stabilisieren. Mit der Bereitschaft zu Solidarität war in
Hinblick auf Mitterrands Zukunftsvorstellungen wohl auch die Erwartung ver-
bunden, dass Gorbatschow die EG als eigenständigen Akteur anerkannte.
Die Kooperationsangebote in einer Zeit der Krise waren eine Demonstration
von Solidarität und sollten die Bildung von Vertrauen zwischen Ost und West

 AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, L’URSS et la question allemande, 29. November 1989.


 AN, AG/5(4)/CD/412, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Marc Boudier,
Note pour Monsieur le Président,Votre visite à Kiev. Problèmes liés à la formation et sujets d’ordre
économique, 5. Dezember 1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Conclusion de l’accord CEE–URSS, ohne Datum, entstand im
Kontext der Vorbereitungen von Mitterrands Reise nach Kiew, Ende November/Anfang Dezember
1989.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 377

fördern. „Ich möchte die schwierige Phase, die jetzt begonnen hat, in einem Klima
der engen Beziehungen zwischen unseren Ländern überwinden – Beziehungen
im Geiste absoluten Vertrauens.“¹⁰¹, vertraute Mitterrand Gorbatschow an. Un-
umwunden kam der französische Präsident nach den üblichen Höflichkeiten auf
die deutsche Frage zu sprechen. Da Mitterrand als Konsequenz der jüngsten Er-
eignisse künftige Schäden erwartete, werden an dieser Stelle drei Faktoren un-
tersucht, die diese Angst verursachten: Sorgen bereitete Mitterrand erstens Gor-
batschows politische Stellung, zweitens ein potentielles Misstrauen zwischen den
Siegermächten und drittens das Misstrauen der europäischen Staaten gegenüber
einem wiedervereinten Deutschland. Hinter allen Faktoren stand Mitterrands
Angst vor „tiefgreifende[n] Störungen auf dem Kontinent“ als „Ergebnis einer
Vereinigung Deutschlands“.¹⁰² Gleich zweimal wiederholte er seine Vision einer
möglichen deutschen Wiedervereinigung, die dem bisherigen französischen Dé-
tente-Konzept treu blieb. Auf Grundlage einer Stabilisierung Westeuropas durch
den europäischen Integrationsprozess sowie Osteuropas sollte in seiner Vorstel-
lung die gemeinsame „Vertiefung des gesamteuropäischen Prozesses“ erfolgen.
Diese „gesamteuropäischen Strukturen“ sollten insgesamt schneller entwickelt
werden als sich die deutsche Einheit realisiere.¹⁰³ „Die Reihenfolge der Prozesse
darf man nicht ändern“, beschwor Mitterrand. Und doch habe nun „[d]ie Rede
Kohls, seine zehn Punkte, […] alles von den Füßen auf den Kopf gestellt.“¹⁰⁴
Die Erwartung, dass die Wiedervereinigung Deutschlands nicht friedlich
verlaufen könnte, stellt den Ursprung all seiner Ängste dar. Zwar bemühte sich
Gorbatschow grundsätzlich darum, Vertrauen in die Abkehr von der Breschnew-
Doktrin zu generieren. Er versicherte, dass diese von allen Staaten des War-
schauer Paktes anerkannt worden und daher kein Einsatz von Gewalt zu be-
fürchten sei. Dass aber Mitterrand gerade die Lage in der DDR große Sorgen be-
reitete, bezeugt sein vorsichtiger Vorstoß: „Ich erlaube mir die Frage: Was kann im
Innern der DDR geschehen?“¹⁰⁵ Grundsätzlich hielt er es nicht für ausgeschlossen,

 Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 6. Dezember


1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 62, S. 266.
 Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 62, S. 267.
 Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 62, S. 267 f.
 Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 62, S. 268.
 Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 62, S. 269.
378 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

dass aus Kohls Brüskierung gewaltsame Auseinandersetzungen erwachsen


könnten. In der französischen Überlieferung dieses Gesprächs bei Jacques Attali
wird an dieser Stelle des Gesprächs deutlich, wie beunruhigt Gorbatschow durch
Kohls Auftritt vor dem deutschen Bundestag war, den er als „künstliches For-
cieren des Wiedervereinigungsprozesses“¹⁰⁶ wertete. Gorbatschow dürfte Mitter-
rands Ängste vor einem Kontrollverlust durch seine eigenen geschürt haben: In
Attalis Überlieferung beschwor Gorbatschow Mitterrand, ihm zu helfen, die
deutsche Wiedervereinigung zu verhindern, weil er seinen Platz andernfalls für
einen Militär werde räumen müssen.¹⁰⁷ Tatsächlich ist dieser direkte Appell zu
einer gemeinsamen Agitation gegen den deutschen Wiedervereinigungsprozess in
keiner anderen Gesprächsaufzeichnung belegt. Dies hat unter anderem dazu
beigetragen, die Glaubwürdigkeit und Authentizität von Attalis Tagebüchern in-
frage zu stellen, anstatt den Ursachen der unterschiedlichen Überlieferungen
nachzugehen.¹⁰⁸ Dass Gorbatschow um seine Stellung fürchtete, da er eine
deutsche Wiedervereinigung aus innenpolitischen Gründen nur schwer akzep-
tieren konnte, kann dagegen kaum bestritten werden. Ob er im Gespräch dem
französischen Präsidenten seine eigenen Ängste offen darlegte oder ob er um
Mitterrands Ängste wusste und diese als politische Ressource nutzen und den
Präsidenten als Verbündeten gewinnen wollte, lässt sich daher nicht zweifelsfrei
klären. Die Wirkung dürfte hingegen die gleiche geblieben sein: Es steht zu ver-
muten, dass sich Mitterrand ungeachtet von Gorbatschows Intentionen in seinen
Ängsten bestätigt sah. Schon unmittelbar nach dem Mauerfall hatte er um Gor-
batschows politische Stellung und eine Rückkehr zur Konfrontation gebangt. Eine
unmittelbare militärische Reaktion in einem der osteuropäischen Länder aber
insbesondere in der DDR und ein potentieller Sturz Gorbatschows bildeten also
zwei wesentliche Faktoren für Mitterrands Angst vor den Konsequenzen.
Der zweite Faktor bezog sich auf Konflikte zwischen den vier Siegermächten
nach dem Zweiten Weltkrieg. Er versicherte, „dass wir und Sie, gemeinsam mit
Großbritannien und den Vereinigten Staaten, für die Europäische Sicherheit
einstehen.“ François Mitterrand wollte also jedwede Spannungen oder einen
möglichen Bruch zwischen den vier Mächten vermeiden. Immerhin war die
deutsche Frage wesentlich für den Bruch der beiden Supermächte nach dem

 Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 6. Dezember


1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 62, S. 269; vgl. dazu auch:
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 6. Dezember 1989, S. 907.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 6. Dezember 1989, S. 907.
 Vgl. dazu Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 158, Fuß-
note 131.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 379

Zweiten Weltkrieg gewesen.¹⁰⁹ Die Überwindung des Ost-West-Konfliktes, der sich


an dieser Frage nicht abermals entzünden sollte, bedurfte eines Vertrauens, das
noch nicht nachhaltig auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen ge-
festigt war. Fühlte sich eine Partei durch die Auflösung alter Gewissheiten ohne
neue Garantien bedroht, war der Prozess der Vertrauensbildung anfällig für Stö-
rungen, wie Gorbatschows bereits gewecktes Misstrauen vor den Intentionen von
Bush und Kohl in diesem Gespräch illustriert. Für Gorbatschow stellten Kohls
zehn Punkte eine offene Brüskierung dar, weil die sowjetische Öffentlichkeit
hinsichtlich der deutschen Frage besonders sensibel war. Um seinen Ärger über
Kohls Eigeninitiative, die das Gegenteil von Verlässlichkeit darstellte und damit
gebildetes Vertrauen zu unterlaufen drohte, machte Gorbatschow vor Mitterrand
keinen Hehl.¹¹⁰ Unter Berücksichtigung von Mitterrands Kriegs- und Nach-
kriegserfahrungen ist es nicht unwahrscheinlich, dass er hier neuen Spaltungen
der vier Mächte vorbeugen wollte. Gleichwohl blieb Mitterrand dieser Absicht im
Gespräch selbst nicht ganz treu. Als Gorbatschow ihm sein Misstrauen vor den
Intentionen der USA anvertraute, hielt er mit seinem eigenen nicht hinter dem
Berg. Anders als in früheren Gesprächen übernahm er in diesem Fall keine
Mittlerfunktion, bediente sich nicht mehr seiner Strategie Empathie zweiter
Ordnung, um Verständigung zu ermöglichen. George Bush verdächtigte er näm-
lich, Kohls aus seiner Sicht verantwortungslosem Auftreten noch Rückendeckung
zu gewähren. Obwohl Mitterrand zwar rational davon ausging, dass die USA es
wohl nicht auf einen Bruch der Grenzen in Europa ankommen lassen würden,
hatte er doch immerhin leise Zweifel.¹¹¹ Dies zeigt sich vor allem darin, dass er
sich nicht mehr um ein wechselseitiges Verständnis der beiden Supermächte
bemühte. Obwohl er doch eigentlich Misstrauen zwischen den Siegermächten
vorbeugen wollte, gelang es ihm hier nicht, sein eigenes zu überwinden oder
zurückzustellen. Knapp eine Woche nach Kohls zehn Punkten lässt dies darauf
schließen, dass Mitterrand ein Getriebener seiner Angst war und dass sein Gefühl
sein Kalkül bisweilen überlagerte. Daraus ergibt sich in diesem Fall eine Wider-
sprüchlichkeit von Mitterrands Handlungsimpulsen. Die Frage nach den Gren-
zen – insbesondere der Oder-Neiße-Grenze – war nämlich drittens Ursache für
Mitterrands Angst vor bewaffneten Konflikten. George Bush befeuerte dies zu-
sätzlich, als er von einer Bestätigung der Grenzen in Europa sprach, anstatt deren

 Vgl. dazu und andern Ursprüngen des Ost-West-Konfliktes: Loth, Teilung der Welt.
 Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 62, S. 270.
 Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 62, S. 267 f.
380 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

Unverletzlichkeit zu erklären.¹¹² Keineswegs lag Mitterrands Haltung eine per-


sönliche Angst vor der Rückkehr einer deutschen, revanchistischen Großmacht
zugrunde. Vielmehr hatte er Angst vor der Angst beziehungsweise davor, dass bei
den deutschen Nachbarn Misstrauen und Angst Konflikte verursachen könnten.
Dieser Aspekt soll später anhand der Grenzfrage analysiert werden.
Den drei Faktoren, die zu Mitterrands Angst vor den Konsequenzen beitrugen,
wurden verschiedene Maßnahmen entgegengestellt, um die erwarteten Schäden
abzuwenden.Wirtschaftliche Kooperation diente einerseits der Stabilisierung von
Gorbatschows Stellung. Andererseits blieb Mitterrand trotz der sich überschla-
genden Ereignisse dem französischen Détente-Konzept treu, indem paneuropäi-
sche Kooperationsstrukturen zur Vertrauensbildung zwischen Ost und West bei-
tragen sollten. Insgesamt standen vertrauensbildende Maßnahmen im Zentrum
aller Bemühungen, durch die Mitterrand hoffte, eine Eskalation vermeiden zu
können. Gerade weil er sein eigenes Misstrauen vor der amerikanischen Admi-
nistration nicht verhehlen konnte, nahm er seinen Bemühungen gewissermaßen
selbst den Wind aus den Segeln, auf ein gemeinsames Vorgehen der vier Sieger-
mächte zu dringen. Damit Gorbatschow sich nicht isoliert fühlte, trat Mitterrand
in Kiew als Freund und Partner des Generalsekretärs auf und wollte zudem Ver-
trauen in seine eigene Person generieren. Intensiv bemühte er sich darum, eine
enge persönliche Bindung zu Gorbatschow aufzubauen. Er betonte „absolut
freimütig“ mit ihm zu sprechen, um seine Vertrauenswürdigkeit zu demonstrie-
ren. Zudem beteuerte er seine Absicht, dass sowohl die westlichen Bündnis-
partner als auch er ständigen Kontakt halten wollten.¹¹³ Damit wollte Mitterrand
wohl nicht nur sicherstellen, am Prozess beteiligt zu werden, wenn die Bedin-
gungen einer deutschen Wiedervereinigung verhandelt würden. Noch wichtiger
erschien es ihm, in diesem Moment zunächst einmal zu vermeiden, dass sich
Gorbatschow isoliert fühlen und darüber neues Misstrauen gegenüber westlichen
Staaten entwickeln könnte.
In der öffentlichen Wahrnehmung setzte sich die Deutung allerdings nicht
durch, dass Mitterrands Reise nach Kiew die Entwicklungen stabilisieren sollte.
Dies lag vor allem an den Erwartungen, die von außen an die französische Hal-
tung herangetragen wurden. Dass Gorbatschow die Ergebnisse des Treffens da-
hingehend deutete, mit Mitterrand einen Verbündeten in der deutschen Frage zu

 Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 6. Dezember


1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 62, S. 268.
 Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 62, S. 268.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 381

haben, verdeutlicht sein Bericht vor dem Zentralkomitee der KPdSU. Ihm war
Mitterrands Beunruhigung nicht entgangen. Insgesamt zog er aus seinen Aus-
führungen den Schluss: „Wie man sieht, sind die Ausführungen, die er formuliert
hat, den unseren äußerst nahe.“¹¹⁴ Am Rande der Gespräche unterhielt sich
Mitterrands Berater Jacques Attali mit Vadim Zagladin, der im Anschluss fest-
stellte, dass die Vorstellung, die Sowjetunion könne sich mit der deutschen
Wiedervereinigung abgefunden haben, „Furcht“, „nahezu Panik“ ausgelöst ha-
be.¹¹⁵ Zudem hielt der Leiter des MID und Berater Gorbatschows Attalis Äußerung
fest: „Frankreich wolle auf keinen Fall eine Wiedervereinigung Deutschlands,
obwohl es sich bewusst sei: Letzten Endes werde sie erfolgen.“ Weiter führte
Zagladin aus: „Und als F. Mitterrand im Laufe des Gesprächs mit M. S. Gorbačev
sich überzeugt habe, dass die UdSSR diese Haltung teile, sei er beruhigt und
‚ermutigt‘ gewesen.“¹¹⁶ In den persönlichen Gesprächsaufzeichnungen zwischen
Präsident und Generalsekretär gibt es dafür allerdings keinen Beleg. Was Mitt-
errand Gorbatschow vermitteln wollte, war nicht ein Bündnis gegen die deutsche
Einheit. Stattdessen signalisierte er ihm, einen Verbündeten unter den westlichen
Partnern zu haben, der seine Sorgen ernst nahm. Da Mitterrand seinen eigenen
Sorgen angesichts von Kohls Hast und der für ihn verantwortungslosen Haltung
der Amerikaner in der Grenzfrage Ausdruck verlieh, sollte Gorbatschow sich auf
internationaler Bühne nicht isoliert von den anderen drei Siegermächten sehen.
Er bemühte sich darum, zunächst den Zusammenhalt im Kreis der Vier zu wahren,
um zu verhindern, dass neue Interessenkonflikte zwischen ihnen aufbrachen.
Paneuropäische Strukturen, soll Attali betont haben, „würden es Deutschland
nicht erlauben, im Alleingang zu handeln und es sogar im Falle einer Wieder-
vereinigung daran hindern, seine hegemonialen Ansprüche zu verwirklichen.“¹¹⁷
Diese Form von Vertrauensbildung, bei der Mitterrand mit Europa einen Ausweg
aus der Angst vor einer deutschen Großmacht aufzeigte, diente dazu, Gorbat-
schow als Partner für seine Détente-Konzeption zu gewinnen. Nach wie vor wollte
der Präsident die europäische Einheit vor der deutschen realisiert sehen. Dass
Mitterrand einen deutschen Alleingang verhindern wollte, ist offensichtlich und

 Gorbačev zu der Wende in Osteuropa: „Demokratisierung und Erneuerung des Sozialismus“.
Rede Michail S. Gorbačev auf dem Plenum des ZK der KPdSU, 9. Dezember 1989. In: Karner [u. a.]
(Hrsg.), Kreml, Dok. 93, S. 594.
 Vermerk über ein Gespräch Zagladins mit dem Berater Mitterrands, Attali am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 63, S. 272.
 Vermerk über ein Gespräch Zagladins mit dem Berater Mitterrands, Attali am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 63, S. 272.
 Vermerk über ein Gespräch Zagladins mit dem Berater Mitterrands, Attali am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 63, S. 272.
382 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

in der Forschung anerkannt. Anhand dieser Gesprächszusammenfassung lässt


sich hingegen nicht zweifelsfrei klären, wer Deutschland aus welchen Motiven
heraus hegemoniale Ansprüche unterstellte. Die Äußerungen von Attali sind er-
klärungsbedürftig, da sie doch wesentlich zur sowjetischen Wahrnehmung und
damit auch zur Konstruktion der Meistererzählung beigetragen haben. Die erste
Hypothese, dass Mitterrand gegen die deutsche Wiedervereinigung agitierte und
Attali dies der sowjetischen Seite explizit vermittelte, soll an dieser Stelle zwar
genannt aber vernachlässigt werden, da andere Dokumente diese Annahme nicht
stützen. Plausibler ist demgegenüber, entweder von einem strategischen oder
zufälligen kommunikativen Missverständnis zwischen französischer und sowje-
tischer Seite auszugehen. So kann es sein, dass Mitterrand und Attali die sowje-
tischen Erwartungen subtil bedienten und die sowjetische Wahrnehmung hin-
nahmen, weil es dem Zweck diente, ein Isolationsgefühl des Kremls zu vermeiden.
In dem Fall wurde der Einsatz von Empathie als Kommunikationsstrategie und
die Erinnerung an das traditionelle Bündnis zwischen Frankreich und der So-
wjetunion, „die am meisten unter der deutschen Aggression gelitten hätten und
am stärksten an ihrer Verhinderung interessiert wären“¹¹⁸, durch Zagladin und
Gorbatschow aufgrund der eigenen Erwartungshaltung fehlgedeutet. Da sich dies
auf einer Wahrnehmungsebene abspielte, lässt sich anhand der Dokumente nicht
klären, an welcher Stelle im Kommunikationsprozess es zu einer Störung kam
oder ob diese gar bewusst forciert wurde. In der Zusammenschau mit den Er-
gebnissen der vorherigen Kapitel, in denen die Instrumentalisierung von Wahr-
nehmungen und Erwartungen zwecks einer Inszenierung untersucht wurde, ist
diese letzte These allerdings am wahrscheinlichsten.
Vier Intentionen lassen sich abschließend für das Treffen in Kiew isolieren:
Vergewisserung, Deeskalation, eine diffuse Drohung und europäische Selbstbe-
hauptung. Die équipe Mitterrand wollte sich versichern, dass aus den Ereignissen
in der DDR kein bewaffneter Konflikt hervorgehen würde. Mit dem Ziel der De-
eskalation und um Gorbatschow das Gefühl einer Isolierung zu nehmen, signa-
lisierte Mitterrand Verständnis, was auf sowjetischer Seite als gemeinsame Hal-
tung fehlgedeutet wurde. Auch versicherte sich Mitterrand, dass Gorbatschow
sich der Forcierung Kohls nicht widerstandslos fügen würde. Wollte Mitterrand
den Prozess zwar keinesfalls aufhalten, behagte es ihm doch gleichsam nicht,
dass sein Konzept durch die Beschleunigung auf den Kopf gestellt worden war.
Außerdem nahm Mitterrand in Kauf, dass sein Treffen mit Gorbatschow als po-
tentielle Drohgebärde verstanden wurde. Am Vorabend des europäischen Rats-

 Vermerk über ein Gespräch Zagladins mit dem Berater Mitterrands, Attali am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 63, S. 272.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 383

treffens in Straßburg, konnte das imaginäre Szenario eines wiederbelebten anti-


deutschen Bündnisses zwischen Frankreich und der Sowjetunion Helmut Kohl
hinreichend unter Druck setzten, damit er in Straßburg definitiv dem Kalender
einer Regierungskonferenz zur Schaffung einer WWU zustimmte. Grundsätzlich
gilt es, die Befunde von Frédéric Bozo zu unterstützen, dass das Treffen den
französischen Akteuren dazu diente, mehr Gewissheit über die sowjetischen
Sorgen und Intentionen in der deutschen Frage zu erlangen sowie den deutschen
Prozess zu kontrollieren. Keineswegs ist der französische Präsident mit der In-
tention nach Kiew gereist, mit Gorbatschow ein Bündnis gegen die deutsche
Vereinigung zu schmieden, was Bozo schon angesichts der sowjetischen Un-
wägbarkeiten und Widersprüche für wenig plausibel hält.¹¹⁹ Während die Ge-
sprächsaufzeichnungen zwar eine gemeinsame Besorgnis aufzeigen, „to mode-
rate German evolution“, liefern sie in der Tat keinen Beleg für eine Politik „to
oppose unification“.¹²⁰ In einem Punkt allerdings überzeugt Bozos Argumenta-
tion nicht: Freilich wollte Mitterrand Kohls Zustimmung zu einer Regierungs-
konferenz in Straßburg, die er wenige Tage zuvor inoffiziell erhalten hatte, nicht
aufs Spiel setzen, indem er mit Gorbatschow gegen die deutsche Einigung kon-
spirierte. Die reine Suggestion konnte dagegen durchaus dienlich sein, indem es
den Druck auf den deutschen Bundeskanzler erhöhte. Denn Argwohn löste das
Treffen bei den deutschen Partnern in jedem Fall aus, „who […] were tempted to
see in the simple fact of the Kiev meeting a sign of collusion against them.“¹²¹
Eine weitere interessante Dimension des Treffens lässt sich aus Grachevs
Ausführungen herauslesen: In den ersten Tagen des Dezembers trafen sich Gor-
batschow und Bush in Malta, was den beiden Supermächten die Chance ein-
räumte, ihre Aktionen zu koordinieren. Mitterrand agierte nicht nur als franzö-
sischer Präsident, sondern im Namen Europas und schlug ein Notfalltreffen mit
Gorbatschow vor, um über Deutschland und Europa zu sprechen.¹²² Malta hatte
insofern Sorgen um ein neues tête-à-tête der Supermächte über die Zukunft Eu-
ropas ausgelöst, als die traumatische französische Jalta-Erfahrung noch nicht
bewältigt war. Auch deshalb war es Mitterrand so wichtig, Gorbatschow in der
Funktion des europäischen Ratspräsidenten zu treffen, um Europa als Akteur auf
der internationalen Bühne zu etablieren. Dass die intendierte Deeskalation durch
Vertrauensbildung bei der sowjetischen Führung mit einer latenten Drohung
gegenüber der Bundesregierung einherging, macht zugleich die Ambivalenz von
Mitterrands Handeln deutlich.

 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 135.
 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 136 f.
 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 137.
 Grachev, Common European home, S. 216.
384 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

Mitterrand knüpfte Gorbatschows politisches Schicksal an die deutsche Frage


und glaubte nicht daran, dass der Generalsekretär die deutsche Wiedervereini-
gung akzeptieren könne, ohne sein Amt zu riskieren. Bei seinen westlichen
Partnern warb der französische Präsident in den folgenden Wochen für ein em-
pathischeres Vorgehen. Am 15. Dezember 1989 fasste er für George Bush seine
Unterredung mit Gorbatschow zusammen, der „a été très dur dans ses propos.“¹²³
Den amerikanischen Präsidenten, der die Grenzfrage als vital anerkannte, mahnte
er eindringlich „Il ne faut pas se retrouver en 1913.“¹²⁴ Das Jahr „1913“, vor dem
Mitterrand um die Jahreswende 1989/1990 wiederholt warnte, fungierte als
Sinnbild für das Aufleben von Nationalismen und den Verlust aller Ordnungs-
strukturen. Es speiste sich aus Mitterrands persönlichen Kontingenzerfahrungen
und Kriegserinnerungen. Es ist zudem möglich, dass eine diskursive Überlage-
rung stattfand, da Jean-Marie Guéhenno in einer Note verschiedene Prognosen für
potentielle Zukunftsalternativen aufgestellt hatte. Unter anderem entwickelte er
darin ein Szenario, in dem der Abschied vom Kommunismus in Zentraleuropa
und der Sowjetunion zu einem langen, chaotischen Prozess wurde und sich kein
europäischer Pol etablieren ließ:

C’est le scénario le plus fluide, celui dans lequel aucune structure ne permet de créer un
ordre européen; la carte du XIXème siècle, d’un XIXème siècle finissant, en poie au bouil-
lonnement des nationalités, réapparaît.¹²⁵

Dieses Szenario entsprach Mitterrands Erwartung eines potentiellen Schadens in


der Zukunft und steht insofern am Ursprung seiner Ängste um die Jahreswende.
George Bush erinnerte er an Gorbatschows innenpolitische Schwierigkeiten und
wies darauf hin, dass dieser im Jahr 1990 einen außenpolitischen Erfolg brauche,
um sich zu stabilisieren.¹²⁶
Auch die europäischen Partner und Helmut Kohl wollte Mitterrand für Gor-
batschows Probleme sensibilisieren: Am Rande des Straßburger Gipfels machte er
den Bundeskanzler darauf aufmerksam, dass eine beschleunigte Entwicklung in
Richtung deutsche Einheit Risiken barg: „In der DDR stehe die sowjetische Armee,

 AN, AG/5(4)/CD/67, Loïc Hennekinne, Entretien François Mitterrand – Bush, 15. Dezember
1989.
 AN, AG/5(4)/CD/67, Loïc Hennekinne, Entretien François Mitterrand – Bush, 15. Dezember
1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, MAE, Le Chef du Centre d’Analyse et de Prévision, Jean-Marie Gu-
éhenno, Architecture européenne. Sept propositions, 27. Oktober 1989.
 AN, AG/5(4)/CD/67, Loïc Hennekinne, Entretien François Mitterrand – Bush, 15. Dezember
1989.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 385

die DDR sei ein Kernland für den Warschauer Pakt.“¹²⁷ Er warb für ein umsichtiges
Vorgehen und Verständnis dafür, dass der Warschauer Pakt „quasi das ‚letzte
Bollwerk‘“¹²⁸ sei. Bewusst ließ er hier wohl auch die Suggestion potentieller mi-
litärischer Auseinandersetzungen in der DDR im Raum stehen, die auf diese Weise
rhetorisch zu einem Risiko von Kohls unvorsichtigem Handeln transformiert
wurden. Sehr viel deutlicher wurde Mitterrand in seiner Kritik an Kohls unem-
pathischem Auftreten durch den Zehn-Punkte-Plan am 4. Januar 1990 in Latché:
Als der Bundeskanzler seine innenpolitische Motivation für sein Vorgehen her-
vorhob und wenig Verständnis für die Reaktionen der französischen Presse und
von Politikern zeigte, entwarf der französische Präsident das bedrohliche Sze-
nario einer sowjetischen Militärdiktatur sowie Assoziationen von Gewalt und
Krieg, wenn man Gorbatschow weiter destabilisiere:

Die Deutschen müßten verstehen […], daß jeder unkluge Schritt Gorbatschow verpflichtet, zu
reagieren oder zu verschwinden. Für ihn, den Präsidenten, wäre das einzige wirkliche Pro-
blem, diesen Widerspruch in Einklang zu bringen. Die Einigung Deutschlands dürfe nicht so
erfolgen, daß die Russen sich verhärten und mit Säbelrassen reagierten. Wir seien am Rande
einer solchen Entwicklung. Gorbatschow sei in Kiew sehr unruhig gewesen, nicht wegen der
Entwicklung an sich, sondern wegen der überstürzten Eile.¹²⁹

In einer Kombination aus Gefühlspolitik durch den Entwurf negativer Zukunfts-


erwartungen und Empathie zweiter Ordnung versuchte Mitterrand Kohl auf die
Konflikte, die aus der Situation erwachsen konnten, aufmerksam zu machen:
Neues Misstrauen und neues Drohen als Reaktion – ein neues Sicherheitsdi-
lemma wie zu Beginn des Kalten Krieges. Er mahnte Kohl zu einem langsameren
Vorgehen und appellierte, er habe Gorbatschows Schicksal in seiner Hand. Damit
erhöhte er rhetorisch den Preis für Kohl, sollte dieser weiterhin auf eine Be-
schleunigung in der deutschen Frage drängen, und inszenierte dessen Handeln
als eine Entscheidung zwischen Krieg und Frieden.¹³⁰ Den Eindruck, dass er sich
einer Wiedervereinigung entgegenstelle, relativierte er durch sein Klagen, dass
seine vorsichtigen Reaktionen von der deutschen Presse als Verrat an der

 Arbeitsfrühstück des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Straßburg, 9.


Dezember 1989. In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 117, S. 630.
 Arbeitsfrühstück des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Straßburg, 9.
Dezember 1989. In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 117, S. 630.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Latché, 4. Januar 1990.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 135, S. 685.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Latché, 4. Januar 1990.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 135, S. 686.
386 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

Freundschaft ausgelegt würden.¹³¹ Deutsches Misstrauen gegenüber der deutsch-


französischen Partnerschaft hielt der französische Präsident im europäischen
Einigungsprozess für ebenso kontraproduktiv wie jenes gegenüber einer deut-
schen Großmacht. Da die Drohstrategie Erwartungen und Perzeptionen bediente,
blieb sie insofern auch uneindeutig, sodass sich Mitterrand im persönlichen
Gespräch von den ihm unterstellten Intentionen distanzieren konnte.
Um die Jahreswende entwickelten sich die Schwierigkeiten in der Sowjet-
union zum Vorteil für die deutsche Frage, weil Michail Gorbatschow mit den
nationalen Unabhängigkeitsbewegungen in den Teilrepubliken befasst war. In
diesem Kontext stellte die deutsche Frage trotz der internationalen Symbolkraft
und dem Potential, die innenpolitische Situation weiter zu verschärfen, keine
politische Priorität für Gorbatschow dar.¹³² Der französische Botschafter Mérillon
analysierte die Probleme des Generalsekretärs und warnte das Außenministeri-
um, ein Risiko bestehe darin, die Sowjetunion zu isolieren und politisch zu
marginalisieren. Zudem drohe mit den Entwicklungen in der deutschen Frage eine
internationale Demütigung.¹³³ Mitterrand hatte auch Kohl darauf hingewiesen,
dass „die Lösung des deutschen Problems nicht ein neues russisches Drama
hervorrufen [dürfe] oder umgekehrt.“¹³⁴ Jacques Attali vertraute er nach dem
Gespräch seine Sorge an, welche Konsequenzen ein übereiltes Vorgehen des
Kanzlers auslösen könnte. Alleine Gorbatschow sah er in der Lage diese zu ver-
hindern, der seinen Platz für einen General werde räumen müssen, wenn er er-
folglos bliebe.¹³⁵ Militärische Einsätze gegen den ausdrücklichen Willen Gorbat-
schows in Georgien 1989 und Berg-Karabach im Januar 1990 deuteten darauf hin,
dass das Militär zunehmend eigenständig agierte.¹³⁶ In Abwesenheit von Gor-
batschow und Schewardnadse hatte Jegor Ligatschow Truppen nach Tiflis ent-
sandt. Dokumente geben Aufschluss darüber, dass sowjetische Militärs auch ge-
gen den ausdrücklichen Wunsch der georgischen KP-Führung, die Entscheidung
hinauszuzögern, für eine gewaltsame Niederschlagung der Demonstrationen dort
plädierten.¹³⁷ Diese Ereignisse demonstrierten, wie schnell es zu militärischen

 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Latché, 4. Januar 1990.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 135, S. 685.
 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 171.
 AN, AG/5(4)/6634, MAE, Mérillon, TD Moscou 165, L’URSS et l’évolution de l’Europe, 12. Ja-
nuar 1990.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Latché, 4. Januar 1990.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 135, S. 687.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 4. Januar 1990, S. 937.
 Siehe dazu Brown, Aufstieg, S. 743 – 747.
 Vgl. dazu Antisowjetische Demonstrationen in Tiflis. Schickt Gorbačev die Sondertruppen
nach Georgien? Konzept-Protokoll der Sitzung des Verteidigungsrates der Georgischen Sowjet-
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 387

Auseinandersetzungen kommen konnte und schienen insofern Mitterrands Angst


zu bestätigen.
Als Gorbatschow am 10. Februar prinzipiell das deutsche Recht auf Wieder-
vereinigung anerkannte, verursachte dies „tiefe Enttäuschung über Gorbatschows
Schwäche“, die ihn aber nicht hinderte, „sich bemerkenswert rasch auf eine ‚neue
deutsche Realität‘ einzustellen.“¹³⁸ Mitterrand hatte bereits aus dem Treffen
zwischen Gorbatschow und dem Regierungschef der DDR Hans Modrow ge-
schlossen, dass der Generalsekretär nunmehr weder über die psychologischen
noch politischen Mittel verfüge, sich einer Wiedervereinigung zu widersetzen.
Erneut rief dies seine Ängste auf den Plan, Gorbatschow werde diese symbolische
Niederlage politisch nicht überleben.¹³⁹ Mitterrands Vermögen, Gorbatschows
außenpolitischen Handlungsspielraum realistisch einzuschätzen, den er durch
seine innenpolitischen Schwierigkeiten stark eingeschränkt sah,¹⁴⁰ wurden im-
mer wieder durch seine Angst um dessen Destabilisierung überlagert. Die rea-
listische Einschätzung veranlasste ihn jedoch immer wieder zu Mahnungen an
seine westlichen Partner zu einem bedachten Vorgehen, um einen Sturz Gorbat-
schows nicht zu befördern, indem man ihn zwang, Bedingungen zu akzeptieren,
die er innenpolitisch kaum werde rechtfertigen können. In den folgenden Wochen
engagierte sich François Mitterrand daher in den Verhandlungen um die Bedin-
gungen für eine deutsche Wiedervereinigung, für die er einen internationalen
Rahmen schaffen wollte. Außerdem wurde nun immer deutlicher, dass die
deutsche Vereinigung sich schneller entwickeln könnte als die Verwirklichung der
europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Dies wurde nicht nur aus Gor-
batschows geringem Handlungsspielraum ersichtlich, sondern auch durch die
Wahlen in der DDR am 18. März 1990, aus denen das Wahlbündnis Allianz für
Deutschland als Sieger hervorging. Gerade durch den europäischen Rahmen für
die deutsche Einheit, hatte Mitterrand aber die Ängste vor der Rückkehr einer
deutschen Großmacht einhegen wollen.
In den ersten Monaten des Jahres 1990 führte die Sorge um einen potentiellen
Rückzug der Amerikaner aus Europa zu der Überzeugung, einem amerikanischen
Isolationismus nicht noch Vorschub leisten zu dürfen. Bei ihrem Treffen auf Malta

republik, 8. April 1989; Der Gewalteinsatz in Tiflis wird vor Ort entschieden. Konzept-Protokoll der
Sitzung des Verteidigungsrates der Georgischen Sowjetrepublik, 8. April 1989; Schock in der
sowjetischen Führung: In Tiflis wird auf Demonstranten geschossen. Krisensitzung am Tag da-
nach: Wer trägt die Verantwortung? Tagebucheintrag Tejmuraz Stepanov-Mamaladzes, 10. April
1989. In: Karner [u. a.] (Hrsg.), Kreml, Dok. 46 – 48, S. 320 – 332.
 Loth, Europas Einigung, S. 296.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 2. Februar 1990, S. 954.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 4. Februar 1990, S. 954 f.
388 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

hatte auch Gorbatschow Bush dargelegt, dass eine amerikanische Truppenprä-


senz in Europa eine Garantie für eine strategische Stabilität darstelle.¹⁴¹ Mit einem
deutschen Ausscheiden aus der NATO allerdings fürchtete Mitterrand, die ame-
rikanischen Rückzugstendenzen zu befördern. Hubert Védrine stellte nach dem
amerikanisch-sowjetischen Gipfel zwar fest, dass Bushs öffentliche Stellung-
nahmen Gorbatschow nicht brüskiert hätten.¹⁴² Bei einer Sitzung im NATO
Hauptquartier am 4. Dezember 1989 wies Bush darauf hin, dass sich die deutsche
Einheit nur im Rahmen von EG und NATO vollziehen könne.¹⁴³ Védrine machte
Mitterrand darauf aufmerksam, dass die Sowjets ein Ausscheiden der DDR aus
dem Warschauer Pakt vielleicht noch akzeptieren könnten. Zweifellos hielt er dies
aber für unmöglich, sollte ein wiedervereintes Deutschland Mitglied der NATO
sein.¹⁴⁴ Am 15. Februar 1990 legte Mitterrand Kohl dar, dass er den sowjetischen
Handlungsspielraum in der Bündnisfrage für begrenzt halte, warnte aber zugleich
davor, den Kreml in die Enge zu treiben. Gorbatschow könne nicht akzeptieren,
dass Ostdeutschland im westlichen Bündnis aufgehe, ohne sich selbst zu ge-
fährden. Die NATO dürfe keinesfalls Profit aus Gorbatschows angeschlagener
Position schlagen, um ihr Gebiet auszudehnen, und damit sowjetischen Einkrei-
sungs- und Isolationsängsten Vorschub leisten.¹⁴⁵ Beim Treffen mit dem Gene-
ralsekretär am 25. Mai 1990 bereitete François Mitterrand den Durchbruch in der
Bündnisfrage vor, der beim Gespräch zwischen Bush und Gorbatschow am 31. Mai
erzielt wurde und eine Einigung zwischen Gorbatschow und Kohl am 15. Juli auf
den Weg brachte.¹⁴⁶ Frédéric Bozo verweist bereits auf die konstruktive Rolle
französischer Akteure während der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen und stellt vor

 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 246; Grachev, Common
European home, S. 218.
 AN, AG/5(4)/CD/412, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, La sécurité de l’Europe après Malte et la réunion de l’OTAN,
6. Dezember 1989.
 Bush, George: Outline of Remarks at the North Atlantic Treaty Organization Headquarters in
Brussels. 4. Dezember 1989. In: Public Papers of President George H. W. Bush 01.07– 31.12.1989.
S. 1644.
 AN, AG/5(4)/CD/412, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, La sécurité de l’Europe après Malte et la réunion de l’OTAN,
6. Dezember 1989.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Paris, 15. Februar 1990.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 187, S. 845 f.
 Vgl. Wenkel, Frankreich, S. 218; Gespräch Gorbačevs mit US-Präsident Bush am 31. Mai 1990
[Auszug]. Aus dem zweiten Gespräch M. S. Gorbačevs mit G. Bush, Washington, Weißes Haus,
31. Mai 1990. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 96; Gespräch Gorbačevs mit
Bundeskanzler Kohl am 15. Juli 1990 [Auszug]. Aus dem Vieraugengespräch M. S. Gorbačevs mit H.
Kohl 15. Juli 1990. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 102.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 389

allem Mitterrands „significant role in persuading the Soviets to accept a unified


Germany’s membership in NATO“¹⁴⁷ heraus. Diese Erkenntnisse haben bis dato
allerdings nicht dazu geführt, nach Mitterrands Strategien zu fragen. Aus diesem
Grund soll das Gespräch zwischen Präsident und Generalsekretär am 25. Mai 1990
untersucht werden, indem nach den Intentionen von François Mitterrand und den
Strategien und Methoden zur Umsetzung der Ziele gefragt wird, um die Ergebnisse
anschließend in den Kontext der Forschung einzuordnen.
Mitterrand reiste im Bewusstsein zum Treffen nach Moskau, dass Helmut
Kohl in der Bündnisfrage Bushs uneingeschränkten Rückhalt genoss.¹⁴⁸ Mitter-
rand verfolgte die Absicht, Gorbatschows Vorstellungen, eine deutsche NATO-
Mitgliedschaft zu verhindern, als „politische Phantasterei“¹⁴⁹ zu entlarven. Schon
beim Arbeitsfrühstück bereitete Mitterrand vor, worauf er in den anschließenden
Arbeitsgesprächen noch einmal in aller Deutlichkeit hinarbeitete. Gorbatschow
sprach die Isolationsängste der Sowjetunion direkt an, die sie veranlassen
könnte, „nach Auswegen [zu] suchen“¹⁵⁰. Mitterrand reagierte darauf und ergriff
vertrauensbildende Maßnahmen: Die vorderste Linie der NATO dürfe nicht in den
östlichen Teil eines geeinten Deutschlands verschoben werden. Er selbst, beteu-
erte Mitterrand, habe diese Forderung gestellt, weil das „Ergebnis der deutschen
Einheit […] nicht die Isolation der Sowjetunion“¹⁵¹ zur Folge haben dürfe. Er
versicherte Gorbatschow, dass Frankreich dies nicht akzeptieren werde, und
versuchte stellvertretend für den Westen insgesamt, das Vertrauen des General-
sekretärs zu gewinnen, indem er dessen Ängsten Rechnung trug. Außerdem riet
Mitterrand Gorbatschow dazu, der Realität ins Auge zu sehen. Seit November
habe sich diese grundlegend verändert und „die in dieser Hinsicht geäußerten
Einwände [wurden] über den Haufen geworfen“¹⁵². Wenn man nicht von den
Entwicklungen abgehängt werden wolle, müsse man versuchen, „Schritt zu hal-
ten“ und sich an die veränderte Geschwindigkeit anzupassen. Für die Fortsetzung
des Gesprächs ließ er die rhetorische Frage offen: „Welche Mittel der Einfluss-

 Bozo, Frédéric: Mitterrand’s France, the End of the Cold War, and German Unification. A
Reappraisal. In: Cold War History 7 (2007) 4. S. 464.
 Schreiben des Bundeskanzlers Kohl an Staatspräsident Mitterrand, Bonn, 23. Mai 1990. In:
DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 286, S. 1144.
 Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 25. Mai 1990.
In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 94, S. 417.
 Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 25. Mai 1990.
In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 94, S. 418.
 Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 25. Mai 1990.
In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 94, S. 418.
 Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 25. Mai 1990.
In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 94, S. 419.
390 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

nahme haben wir also, Drohungen natürlich ausgenommen. Es macht keinen


Sinn, einfach in den Wind zu sprechen.“¹⁵³ Der französische Präsident wollte die
Einschätzung seiner Handlungsspielräume auf Grundlage von Realismus und
Pragmatismus dem Generalsekretär selbst überlassen.
Im Arbeitsgespräch wollte Mitterrand Gorbatschow überzeugen, die NATO-
Mitgliedschaft eines wiedervereinten Deutschlands zu akzeptieren. Erstens nahm
Mitterrand im Gespräch die Rolle eines Realisten ein, um Gorbatschows Vorstel-
lungen als unrealistisch zu entlarven. Wiederkehrend wies er den Generalsekretär
darauf hin, dass es außerhalb seines Handlungsspielraums liege, sich einer
deutschen NATO-Mitgliedschaft zu widersetzen.¹⁵⁴ Mal beteuerte er, dass er per-
sönlich „keinerlei Möglichkeiten“ sehe, „Deutschland zu verbieten, seine Wahl zu
treffen“.¹⁵⁵ Mal beurteilte er Gorbatschows Vorstellungen einer doppelten deut-
schen Bündniszugehörigkeit vorsichtig als aussichtslos.¹⁵⁶ Er machte deutlich,
dass auch er selbst als amerikanischer Verbündeter Bush in der Frage der Alli-
anzen nicht werde überzeugen können.¹⁵⁷ Während er in dieser Hinsicht für eine
realistische Einschätzung des eigenen Handlungsspielraums plädierte, kombi-
nierte er dies mit einer strategischen Gefühlspolitik, die verschiedene Dimen-
sionen implizierte.
Der zweite große Topos des Gesprächs umfasste Mitterrands Absichten und
Versuche, Gorbatschows Vertrauen zu gewinnen. Neben dem eigentlichen Zweck
des Gesprächs erfüllte dies die übergeordnete Funktion, potentielles Misstrauen
in Europa im Keim zu ersticken, indem er einem sowjetischen Isolationsgefühl
entgegenkam.¹⁵⁸ Ähnliche Vorstöße hatte François Mitterrand bereits beim Ar-
beitsfrühstück unternommen.¹⁵⁹ Ferner sollte durch die kommunikative Strategie
auch Mitterrands persönliche Vertrauenswürdigkeit hervorgehoben werden, da-
mit Gorbatschow sich seinem Rat anschloss. Um diese diversen Ziele der Ver-

 Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 25. Mai 1990.
In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 94, S. 420.
 Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 421 f., 426 f., 429.
 Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 421.
 Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 426 f.
 Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 429.
 Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 422, 429.
 Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 25. Mai 1990.
In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 94, S. 418.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 391

trauensbildung zu erreichen, setzte Mitterrand unterschiedliche Instrumente im


Gespräch ein. Durch Gefühlskommunikation, insbesondere der Kommunikation
von Empathie, suggerierte er Gorbatschow, dass er die sowjetischen Ängste
ernstnahm und dass er die Sowjetunion weiterhin als Partner und Freund an der
Seite Frankreichs wissen wollte.¹⁶⁰ Seine eigene Glaubwürdigkeit versuchte er
dadurch zu steigern, dass er seine persönlichen Einschätzungen der Situation gab
und bezeugte, dass er Gorbatschows Sorgen nachempfinden könne.¹⁶¹ Beispiele
aus der Vergangenheit, in denen er für Abrüstung und sowjetische Sicherheits-
interessen eingetreten war, zog er als Beleg seiner Vertrauenswürdigkeit heran.¹⁶²
Mitterrand suggerierte außerdem Bereitschaft zur hypothetischen Unterstützung
der sowjetischen Position, gleichwohl nicht ohne die geringen Aussichten auf
Erfolg zu unterstreichen. Er ließ bewusst offen, ob er persönlich gegen eine
deutsche NATO-Mitgliedschaft war und nutzte auf diese Weise Gorbatschows
Wahrnehmungen und Erwartungen als politische Ressource, indem er diese
Annahme im Raum stehen ließ.¹⁶³ Zwar war dies keineswegs der Fall, muss aber in
den Kontext eines empathischen Vorgehens gestellt werden, zu dem er auch
seinen Verbündeten zuvor geraten hatte. Die Annahme, dass Mitterrand Gorbat-
schow letztlich auch deswegen habe überzeugen können, weil er in der Bünd-
nisfrage an der Seite der USA und Deutschlands stand, obwohl die französische
Haltung doch grundsätzlich nicht im Verdacht stand, pro-NATO zu sein, ist des-
wegen nicht plausibel.¹⁶⁴ Vielmehr stellte er seine eigene Haltung zurück und
machte dadurch auf einer untergeordneten Ebene deutlich, dass dies ohnehin
keine Rolle spielte, sondern allein die Machbarkeit im Vordergrund des Gesprächs
stand. Seine eigene Vertrauenswürdigkeit inszenierte Mitterrand in Abgrenzung
zu den USA und nutzte damit auch Gorbatschows Misstrauen gegenüber der
amerikanischen Administration als Ressource.¹⁶⁵
Drittens: Neben der vertrauensbildenden Kommunikationsstrategie rief
François Mitterrand Jacques Attali gewissermaßen als Zeugen seiner Ausführun-

 Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am


25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 422, 429, 431.
 Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 422 f.
 Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 431.
 Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 429.
 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 254.
 „Aber meine Gesprächspartner hören nicht besonders darauf.“ Zweites Gespräch Gorbačevs
mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.]
(Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 429.
392 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

gen auf, der anhand seiner persönlichen Gespräche in Washington bestätigen


sollte, dass in Bezug auf eine deutsche NATO-Mitgliedschaft kein Handlungs-
spielraum bestehe.¹⁶⁶ Schließlich entwarf der französische Präsident viertens ein
bedrohliches Zukunftsszenario. Darin instrumentalisierte er sowjetische Ängste
vor einer deutschen Großmacht, und ließ demgegenüber eine deutsche NATO-
Mitgliedschaft geradezu als geringeres Übel erscheinen.¹⁶⁷ Das Szenario spiegelte
nicht Mitterrands persönliche Erwartungen wider, sondern steht ebenfalls im
Kontext seiner strategischen Gefühlspolitik, durch eine kommunikative Strategie
Ängste zu evozieren, um Gorbatschow dazu zu motivieren, eine bestimmte
Handlungsoption zu ergreifen.
Nach dem Treffen war sich Mitterrand unsicher, ob es ihm gelungen war,
Gorbatschow tatsächlich zu überzeugen, dass seine Ablehnung in der Bündnis-
frage illusorisch war. Dem Bundeskanzler berichtete der Präsident von seinem
Eindruck, dass Gorbatschow „fest und entschlossen“ gewirkt habe. Er fürchtete
gar, dass dieser eher noch bereit sein werde, neue Spaltungen in Kauf zu nehmen.
Kohl legte er sein Vorgehen dar, dass er Gorbatschow die Unvernunft seiner
Haltung versucht habe deutlich zu machen und die Bereitschaft des Westens si-
gnalisiert habe, Sicherheitsgarantien für die Sowjetunion zu unternehmen.¹⁶⁸
Beinahe gleichzeitig stellten George Bush und James Baker beim amerikanisch-
sowjetischen Gipfel in Washington fest, dass Gorbatschow sich dem Prinzip nicht
mehr widersetzte, Deutschland die freie Bündniswahl zu überlassen. Sodann
wurde über den Sommer 1990 über verschiedene Sicherheitsgarantien für die
Sowjetunion verhandelt und Umstrukturierungen der Verteidigungsbündnisse
sowie eine stärkere Institutionalisierung der KSZE unternommen.¹⁶⁹ Da die si-
cherheitspolitischen Umstrukturierungen über den Untersuchungsgegenstand
der deutschen Wiedervereinigung hinausführen und im Kontext einer Neuver-
handlung der transatlantischen und internationalen Beziehungen insgesamt
stehen, soll dies im folgenden Kapitel wieder aufgegriffen werden. An dieser Stelle
steht die konstruktive Rolle von François Mitterrand in der deutschen Bündnis-
frage zur Diskussion.

 Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am


25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 428.
 Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 428 f.
 Schreiben des Staatspräsidenten Mitterrand an Bundeskanzler Kohl, Paris, 30. Mai 1990. In:
DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 295, S. 1164.
 Dufourcq, 2+4, S. 476; Für die Verhandlungen um die deutsche Bündniszugehörigkeit siehe
im Detail Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 254– 258; Loth,
Helsinki, S. 266 – 270.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 393

Die Methoden des französischen Präsidenten bezeichnet Frédéric Bozo als


„frankness, and a certain brutality“¹⁷⁰. Julie Newton unterstellt ihm eine gewisse
Hinterlist und widerspricht sich in ihrer Argumentation: Einerseits habe Mitter-
rand ihrer Ansicht nach „his own, narrow objectives“¹⁷¹ verfolgt, zu denen sie eine
friedliche, sowjetische Zustimmung zur deutschen NATO-Mitgliedschaft und den
Erhalt von Stabilität im Osten rechnet ebenso wie den Versuch, die Ausdehnung
der Kompetenzen der NATO und der USA im neuen Europa zu beschneiden. Aus
all dem zieht sie den Schluss, Mitterrand „was far less willing to build pan-Eu-
ropean structures than his vague allusions suggest.“¹⁷² Das Gegenteil ist der Fall:
„Sie sehen, dass ich bereit bin, zur Beilegung der sich herausbildenden Kon-
fliktsituationen beizutragen. Was allerdings die von uns erörterte konkrete Frage
[deutscher Bündniszugehörigkeit, Hinzufügung durch die Autorin F.S.] angeht, so
sehe ich einfach nicht, wie Sie Ihre Vorstellungen durchsetzen könnten.“¹⁷³ Diese
beiden Sätze bringen die zentralen Methoden von François Mitterrand zusammen.
Er versah sein Plädoyer für eine realistische Einschätzung des Handlungsspiel-
raums mit einem Maß an Empathie. Gerade weil Gorbatschow ein Partner des
Westens bleiben sollte, durfte der Generalsekretär nicht mit einem fait accompli in
der Bündnisfrage vor den Kopf gestoßen werden. Deswegen war Mitterrand sich
bewusst, dass der Generalsekretär eine deutsche NATO-Mitgliedschaft von sich
aus akzeptieren musste. Zum einen sollte er es selbst nicht als Diktat empfinden.
Zum andern sollte es in der öffentlichen Wahrnehmung nicht als defensive Ent-
scheidung erscheinen, um darüber Gorbatschows Position sowie den Erfolg der
Perestroika nicht zu gefährden. Aus ähnlichen Erwägungen heraus lenkte Gor-
batschow schließlich auch ein. Für ihn war es wichtig, ein der Sowjetunion
freundschaftlich gesinntes Deutschland in der NATO zu wissen.¹⁷⁴ Zudem stand
das Selbstbestimmungsrecht in der Eigenlogik von Gorbatschows „Neuem Den-
ken“. Er konnte dies Deutschland schlecht verwehren, ohne sein Verhältnis zum
Westen grundsätzlich aufs Spiel zu setzen. Als er feststellte, dass seine Maxi-
malforderung einer deutschen Neutralität nicht durchsetzbar war, versuchte er
eine gesamtdeutsche NATO-Mitgliedschaft möglichst teuer zu verkaufen.¹⁷⁵ Gor-
batschows Berater stellte schon Anfang Mai fest: „No matter what, Germany will

 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 253.
 Newton, Gorbachev, S. 294.
 Newton, Gorbachev, S. 312.
 Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 431.
 Grachev, Gorbachev’s Gamble, S. 159.
 Loth, Helsinki, S. 267; Loth, Willy Brandt, S. 432.
394 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

be in NATO.“¹⁷⁶ Diese Ahnung wurde durch das Gespräch mit François Mitterrand
zu einer Gewissheit. Retrospektiv bezeugt Michail Gorbatschow, dass der fran-
zösische Präsident ihm „recht deutlich zu verstehen [gab], daß seiner Meinung
nach unser Wunsch nach Neutralität beziehungsweise nach Mitgliedschaft des
vereinten Deutschland in beiden Militärbündnissen unter den gegebenen Um-
ständen kaum mehr Aussichten auf Erfolg habe.“¹⁷⁷
Unter den Bedingungen für eine deutsche Wiedervereinigung zählte die An-
erkennung der bestehenden Grenzen, insbesondere der Oder-Neiße-Linie, für
François Mitterrand zweifellos zu den elementarsten. Obwohl Helmut Kohl bei
ihren Treffen immer wieder versicherte, dass Deutschland keine Territorien ein-
fordern werde, verärgerte sein Zögern, dies auch öffentlich zu erklären, den
französischen Präsidenten, der wiederholt versuchte, die deutsche Seite zu einer
eindeutigen Positionierung zu drängen.¹⁷⁸ Aus Sorge, sein konservatives Wäh-
lerklientel zu verprellen, wich Helmut Kohl Forderungen nach einer eindeutigen
Stellungnahme durch die bundesdeutsche Regierung immer wieder aus und zog
sich darauf zurück, dass ein wiedervereintes Deutschland die Grenzen bestätigen
werde. Nur ein gesamtdeutsches Parlament werde getroffene Regelungen aner-
kennen, dagegen wolle er „dies nicht als Vorleistung erbringen“¹⁷⁹, auf die der
französische Präsident bestand. In den ersten Monaten des Jahres 1990 brachte
Mitterrand die Grenzfrage unermüdlich immer wieder zur Sprache, während Kohl
in seiner Zurückhaltung verharrte. Am 5. März versuchte der Präsident es mit
Empathie: Er verstehe zwar die Überlegungen des Kanzlers, „aber vom politischen
Standpunkt aus wäre eine klare Absichtserklärung willkommen.“¹⁸⁰ Eine solche
Absichtserklärung wurde vom Deutschen Bundestag am 8. März 1990 angenom-
men und war am 6. März bereits an Gorbatschow übersandt worden: „In diesem
Sinne soll die Grenzfrage in einem Vertrag zwischen einer gesamtdeutschen Re-
gierung und der polnischen Regierung geregelt werden, der die Aussöhnung
zwischen beiden Völkern besiegelt.“¹⁸¹ Der Grund, weshalb diese Frage für
François Mitterrand fundamental war, folgte dem gleichen Motiv, wie sein Einsatz
dafür, den deutschen Wiedervereinigungsprozess nicht künstlich zu forcieren

 Chernyaev, Diary 1990, S. 29.


 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 743.
 Saunier, France, S. 396.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Paris, 15. Februar 1990.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 187, S. 847 f., Zitat S. 848.
 Telefongespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, 5. März 1990. In:
DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 203, S. 912.
 Zitiert nach: Entwurf eines Entschließungsantrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 204 A, S. 913 f.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 395

oder Michail Gorbatschow vor den Kopf zu stoßen: Kohls Weigerung drohte
Misstrauen einem deutschen Revanchismus gegenüber Vorschub zu leisten. Jede
Form von „anti-germanisme“, hielten französische Diplomaten für unvereinbar
mit ihren Interessen in Europa.¹⁸² Roland Dumas machte in einer Rede vor der
französischen Nationalversammlung deutlich, dass Vertrauen allgemein aber
speziell auch gegenüber Deutschland eine wichtige Grundvoraussetzung für
Stabilität auf dem europäischen Kontinent sei.¹⁸³
Dem amerikanischen Präsidenten legte François Mitterrand in Key Largo dar,
dass die Einheit der zwei deutschen Staaten zwar eine deutsche Angelegenheit
sei, die Konsequenzen aber alle beträfen. Was er im Falle mangelhafter Garantien
fürchtete, war „un état d’incertidude et de suspicion“¹⁸⁴ in Europa. Explizit be-
nannte Mitterrand das Misstrauen in den Niederlanden, Belgien, Großbritannien
und Dänemark. Insgesamt kalkulierte Mitterrand im gesamten Verhandlungs-
prozess mit potentiellen Ängsten vor einer deutschen Wiedervereinigung, weil er
sich vor den Konsequenzen fürchtete, die sich aus der Angst der anderen Staaten
vor Deutschland ergeben könnten. Konkrete Maßnahmen, wie die Anerkennung
der Grenzen, eine deutsche Verzichtserklärung auf atomare Waffen sowie Si-
cherheitsgarantien für die Sowjetunion, sollten neuem Misstrauen als Unsicher-
heitsfaktor für die europäische Stabilität den Nährboden entziehen. In Frankreich
gebe es keine Furcht vor einem aggressiven Deutschland: „Nous sommes amis.
Nous avons confiance, il n’y a pas des craintes.“¹⁸⁵, erklärte Mitterrand George
Bush. Im Osten sei dies ein anderer Fall. Es gäbe Besorgnis in Polen, der Tsche-
choslowakei und der Sowjetunion: „On a peur de la présence allemande, de
l’expansion de l’Allemagne, des revendications territoriales, de son armement
atomique.“¹⁸⁶ Für Mitterrand stellten Angst und Misstrauen bereits einen Schaden

 ADMAE 1935-INVA 6124; Ministère de la Défense, Délégation aux Etudes Générales, A. Car-
ton, Note, Synthèse de la note sur le processus d’unification allemande et le nouvel ordre de
sécurité en Europe, 2. Januar 1990.
 „La stabilité du continent exige que l’Allemagne unie ait la confiance de tous, de ses voisins
immédiats comme des autres, y compris l’Union des républiques socialistes soviétiques.“ Dumas,
Rede vor der Assemblée Nationale, 10. April 1990, S. 201.
 AN, AG/5(4)/CD/74, L’Ambassadeur de France aux Etats-Unis, Rencontre de Key Largo entre
le Président Mitterrand et le Président Bush 19 Avril 1990, Compte-Rendu de la Conversation-
Déjeuner, 19. April 1990.
 AN, AG/5(4)/CD/74, L’Ambassadeur de France aux Etats-Unis, Rencontre de Key Largo entre
le Président Mitterrand et le Président Bush 19 Avril 1990, Compte-Rendu de la Conversation-
Déjeuner, 19. April 1990.
 AN, AG/5(4)/CD/74, L’Ambassadeur de France aux Etats-Unis, Rencontre de Key Largo entre
le Président Mitterrand et le Président Bush 19 Avril 1990, Compte-Rendu de la Conversation-
Déjeuner, 19. April 1990.
396 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

dar. Er selbst erkenne ein starkes Deutschland als „réalité historique“ an. Da-
hinter verbarg sich sein Verständnis von Staatenbeziehungen basierend auf Ver-
trauen und Solidarität mit einer Akzeptanz von Asymmetrien. Dies entspricht
dagegen nicht dem oftmals vorausgesetzten und durch Wolfram Pyta zu Recht
angeprangerten Antagonismus von Hegemonie und Gleichgewicht.¹⁸⁷ Insgesamt
zeigt sich in diesen Analysen, dass Mitterrand kein reiner Realpolitiker war. Auch
wenn möglicherweise die Angst vor einer deutschen Großmacht unbegründet
gewesen sein mag, so war sich Mitterrand doch bewusst, dass sie politische
Wirkmächtigkeit entfalten konnte, indem dadurch ein Klima der Angst und des
Argwohns auf dem europäischen Kontinent entstehen könnte. Insofern war Em-
pathie Teil von Mitterrands diplomatischer Strategie, die sich darauf ausrichtete,
„Maßnahmen zur tatsächlichen Reduzierung der wahrgenommenen Bedrohung
zu unternehmen.“¹⁸⁸
Insgesamt basierte die französische Haltung während der gesamten Zwei-
Plus-Vier-Verhandlungen laut Bertrand Dufourcq auf vier Prinzipien:¹⁸⁹ Es sollte
eine Lösung der Vergangenheit erarbeitet werden, die sich in Zukunft weder ju-
ristisch noch politisch infrage stellen ließ; Es wurden jedwede Beschlüsse abge-
lehnt, die die Fortentwicklung der europäischen Konstruktion in Zukunft hemmen
könnten; die Qualität der deutsch-französischen Kooperation und damit auch das
deutsch-französische Vertrauensverhältnis galt es zu schützen; Michail Gorbat-
schow sollte in seiner politischen Stellung nicht destabilisiert werden. Hinzufü-
gen ließe sich nach den Erkenntnissen dieser Untersuchung, dass Mitterrand bei
den Aushandlungen Wert darauflegte, keinen Nährboden für das Misstrauen
kleinerer europäischer Staaten gegenüber Deutschland zu bereiten. Der Aus-
handlungsprozess fand jenseits des Forums der Zwei-Plus-Vier statt, da sich
schnell eine Dynamik vieler bilateraler Kontakte im Rahmen anderer Treffen
entwickelte.¹⁹⁰ Letztlich vollzog sich die deutsche Vereinigung am 3. Oktober 1990
„zu den außenpolitischen Bedingungen, auf denen Mitterrand bestanden hat-
te.“¹⁹¹ Während der gesamten Periode blieb die französische Diplomatie dem
doppelten Vorgehen aus prinzipiellem Einverständnis zu einer Wiedervereinigung
und dem Beharren auf gewissen Bedingungen wie dem europäischen Rahmen
sowie demokratischen und friedlichen Vorzeichen treu. Als deutlich geworden
war, dass sich die Entwicklungen beschleunigten, wurde das französische Kon-
zept insofern an die veränderte Realität angepasst, als sich die Prozesse einer

 Vgl. Pyta, Hegemonie.


 Loth, Angst und Vertrauensbildung, S. 34.
 Dufourcq, 2+4, S. 474.
 Dufourcq, 2+4, S. 476.
 Loth, Europas Einigung, S. 297; siehe dazu außerdem: Dufourcq, 2+4, S. 482.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 397

europäischen und deutschen Vereinigung nunmehr nicht nacheinander, sondern


miteinander vollziehen sollten.¹⁹² Während Gorbatschow in den Jahren zuvor den
Westen durch einseitige Vorleistungen unter Zugzwang gesetzt hatte, sah er sich
ab 1989 dazu gezwungen, auf die Ereignisse zu reagieren. Nach dem Fall der
Berliner Mauer befand sich Helmut Kohl zudem insofern in einer offensiven Po-
sition, als er immer wieder Wirtschaftshilfen an Konditionen der deutschen Ver-
einigung knüpfte. Für seine Position, ein wiedervereintes Deutschland in die
NATO zu führen, genoss er außerdem den Rückhalt von George Bush, wohingegen
Gorbatschow von einer „position of weakness“ aus verhandelte.¹⁹³ François
Mitterrand trat im Prozess zweifellos als französischer Staatspräsident auf, erwies
sich in den Untersuchungen aber doch zugleich als Anwalt derjenigen, die sich
von Kohls Hast vor den Kopf gestoßen fühlen konnten. Die für ihn größte Her-
ausforderung bestand darin, in einer unübersichtlichen Situation neues Spal-
tungspotential zu entschärfen, nachdem die Feindbilder in Ost und West gerade
erst begannen sich aufzulösen. Der Annäherungsprozess war unvollendet und
Vertrauen noch nicht nachhaltig gefestigt und insofern für Störungen anfällig.
Zudem wollte François Mitterrand den Prozess der europäischen Integration un-
umkehrbar machen und das Prinzip von Solidarität in Wirtschafts- und Wäh-
rungsfragen institutionalisieren, bevor Deutschland wiedervereinigt war. Die
Stärkung der westeuropäischen Konstruktion war keineswegs, wie Newton es
darstellt, ein Bruch mit den Vereinbarungen von Kiew.¹⁹⁴ Die Stärkung Westeu-
ropas war eine wichtige Voraussetzung von Mitterrands Konzeption, die euro-
päische Teilung zu überwinden und paneuropäische Kooperationsstrukturen auf
stabiler Grundlage aufzubauen.
Drei zentrale Ängste von François Mitterrand wurden in dieser Analyse her-
ausgearbeitet: Angst vor Angst und Misstrauen, Angst vor einem Sturz Michail
Gorbatschows und – dem gewissermaßen übergeordnet – die Angst vor Gewalt.
Mit einer Kombination verschiedener Strategien sollten die erwarteten Schäden
abgewendet werden. Seine Gefühlspolitik verband Drohen gegenüber Kohl mit
Empathie und Vertrauensbildung gegenüber Gorbatschow und den anderen eu-
ropäischen Staaten. Dies macht deutlich, dass es sich hierbei vor allem um prä-
ventive Maßnahmen zur Abwehr künftiger Konflikte handelte. Demgegenüber
wurde der politische Umbruch prinzipiell nicht nur als Schaden wahrgenommen,
sondern als Chance für eine Umstrukturierung des internationalen Koordina-

 Saunier, Défaire le mur, S. 81.


 Leffler, Mankind, S. 439, 445.
 Newton, Gorbachev, S. 312.
398 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

tensystems, bei der die équipe Mitterrand eine gestalterische Kraft entwickelte.
Dies leitet über zum Untersuchungsgegenstand des folgenden Abschnitts.

5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“¹⁹⁵ –


Ordnungskonzepte im Widerstreit
Am Abend des 31. Dezember 1989 präsentierte François Mitterrand der Welt seine
Idee zur Schaffung einer Europäischen Konföderation. Mit seinem „grand project
for the post-Cold War era“¹⁹⁶ trat er in die Debatte ein, die sich ab der Jahreswende
1989/1990 zwischen unterschiedlichen politischen Ordnungsvorstellungen ent-
zündete. Eingangs zog er eine Analogie zwischen den Ereignissen in Osteuropa
und der französischen Revolution, deren 200. Jubiläum 1989 begangen wurde. Er
stellte zwei Seiten der aktuellen Entwicklungen heraus: Der Sieg von Demokratie
und Freiheit waren Grund zur Euphorie. Gleichzeitig verwies er auf das Drama in
Rumänien, wo der kommunistische Machthaber Nicolae Ceauşescu gewaltsam
gestürzt und gemeinsam mit seiner Frau am 25. Dezember 1989 ermordet worden
war. Damit lässt sich direkt zu Beginn seiner Rede, der von Georges Saunier
herausgearbeitete Dualismus von Euphorie und Vorsicht in Bezug auf den poli-
tischen Umbruch in Osteuropa nachweisen. Mitterrand rief das Risiko für Kon-
flikte und Leid in Erinnerung. Die Erwähnung dieser furchteinflößenden Ereig-
nisse diente ihm anschließend als Portfolio für zwei mögliche Zukunftsszenarien:
Zukunftsentscheidungen wurden dadurch zu binären Entscheidungen zwischen
Zusammenstößen und einem zerfallenden Europa einerseits und andererseits
einem Fortsetzen der europäischen Integration in zwei Etappen: Stärkung der
Gemeinschaft und Schaffung einer Europäischen Konföderation. Um dies beson-
ders plastisch darzustellen, scheute er sich nicht, mit der Erwähnung von 1919
Assoziationen an Krieg und gewaltsame Auseinandersetzungen zu wecken.¹⁹⁷
„L’Europe, c’est évident, ne sera plus celle que nous connaissons depuis un demi-
siècle. Hier dépendante des deux superpuissances, elle va, comme on entre chez
soi, rentrer dans son histoire et sa géographie.“¹⁹⁸ Mitterrands Vorstellung von
Europa nach der Auflösung des Jalta-Systems beruhte auf einer Emanzipation von
den beiden Supermächten. Während in den Jahren zuvor Vorbereitungen zu
größerer Unabhängigkeit Westeuropas von den Vereinigten Staaten getroffen

 Dumas, Rede vor der Assemblée Nationale, 10. April 1990, S. 201.
 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 147.
 Mitterrand, François: Les vœux de M. François Mitterrand. In: Le Monde, 2. Januar 1990. S. 5.
 Mitterrand, Vœux, S. 5.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 399

worden waren, sah Mitterrand in der Umbruchsituation 1989/1990 die Chance und
den richtigen Zeitpunkt, öffentlich dafür einzutreten.
Dieses Kapitel untersucht, welche politischen Ordnungsvorstellungen die
équipe Mitterrand entwickelte, um den politischen Umbruch in Osteuropa in neue
Strukturen zu überführen. Die Überwindung der Spaltungen und der schnelle
Zusammenbruch der kommunistischen Regime wurden daher nicht nur als Ri-
siko, sondern auch als Chance zur aktiven Gestaltung einer neuen Ordnung
wahrgenommen. Im Zuge dessen soll auch diskutiert werden, in welchem Ver-
hältnis die Konzeption der équipe Mitterrand zu den Vorstellungen einer Neu-
ordnung der internationalen Staatengemeinschaft stand, die von anderen Ak-
teuren entwickelt wurden. Mitterrands Neujahrsansprache erfüllte in diesem
Zusammenhang unterschiedliche Funktionen, die zueinander in Interaktion
standen und an dieser Stelle untersucht werden sollen.
[1] Eines der grundlegenden Motive von François Mitterrand, mit der Euro-
päischen Konföderation eine Initiative zur Neustrukturierung der europäischen
Staatenbeziehungen zu unternehmen, trug dem sich abzeichnenden Konflikt
zwischen einer Vertiefung und Erweiterung der europäischen Konstruktion
Rechnung. Eine Erweiterung war aus französischer Sicht nur nach einer inneren
Stärkung möglich. Bis dies erreicht war, wurden in den Direktionen von Elysée
und Quai d’Orsay Überlegungen angestellt, welche Alternativen zu einer Mit-
gliedschaft den osteuropäischen Staaten angeboten werden könnten.¹⁹⁹ Die EG
sollte zwar eine aktive Rolle in den Transformationsprozessen im Osten einneh-
men, ohne jedoch das Risiko einer übereilten Erweiterung in Kauf zu nehmen,
durch die bisherige Errungenschaften aufs Spiel gesetzt werden könnten.²⁰⁰ Ende
Oktober legte Jacques Blot dem Elysée eine detaillierte Analyse zu einer doppelten
Kompensation des politischen Umbruchs vor. Demzufolge sollte der Ausbau der
EG weiter fortgesetzt werden, ohne diese jedoch sogleich aus Gründen des
Gleichgewichts in Europa bis an die Grenzen der Sowjetunion auszudehnen. Um
die Entwicklung der osteuropäischen Länder dennoch zu fördern, entwarf er
kollektive oder bilaterale Zusammenschlüsse im Zentrum Europas, die Verbin-
dungen zur EG einerseits und enge Beziehungen zur Sowjetunion andererseits
unterhalten und dieser gleichzeitig Sicherheitsgarantien verschaffen sollten. Als
Überbau für Gemeinschaft, Zentraleuropa und die Sowjetunion schlug Blot eine
Institutionalisierung der KSZE vor, in deren Rahmen paneuropäische Kooperati-

 AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Le Directeur, Jacques Blot, Réflexions sur la
question allemande, 30. Oktober 1989.
 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 147.
400 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

onsstrukturen zwischen den drei Untergruppen entwickelt werden sollten.²⁰¹


Obwohl Blots Idee vom „ensemble du Centre Europe“ institutionell immerhin ein
wenig ausgereifter war als die Konföderation in Mitterrands Neujahrsansprache,
stellte sie doch eine Vorüberlegung dafür dar. Die Vorstellung von einem neuen
Mitteleuropa, die bisweilen auch erschreckende Assoziationen an die Vergan-
genheit weckte, wurde hier zur Idee einer Puffer- und Übergangsorganisation
entwickelt, die Blot in konkreten Bezug zu anderen Institutionen, Organisationen
und Partnern setzte. Die Verbindungen durch Kooperationsstrukturen verhin-
derten, dass die Gebilde als abgeschlossene Entitäten unverbunden nebenein-
anderstanden, und sollten den osteuropäischen Staaten beim Transformations-
prozess behilflich sein. Auf diese Weise werde vermieden, dass sich die einstigen
sowjetischen Satellitenstaaten auf eigene Faust und isoliert von ihren Nachbarn
zu einem Mitteleuropa-Gebilde zusammenschlössen.²⁰²
In den Überlegungen von Hubert Védrine fungierte die KSZE als Regulation
der osteuropäischen Transformationsprozesse. Er bemerkte, dass die Gesamtheit
der europäischen Staaten in keiner Institution vertreten sei, die adäquat wäre, die
Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen.²⁰³ Im November 1989 begründete
Jacques Blot die Suche nach neuen Regelungen damit, dass die EG Attraktivität
auf den Rest von Europa ausübe, was er für den Zusammenhalt der Mitglied-
staaten für problematisch hielt. In den Planungen für eine künftige Reorganisa-
tion von Beziehungen plädierte er daher für „une conciliation entre cohésion plus
grande des Douze et souplesse relative.“²⁰⁴ Er empfahl, die Konturen einer eu-
ropäischen Zukunft zu skizzieren, in der die EG der essentielle Motor bleibe, deren
Architektur aber zugleich weichere Regeln im Rahmen eines größeren ausge-
söhnten Europas zulasse. Jean-Louis Bianco leitete die konzeptionellen Überle-
gungen an den Präsidenten weiter.²⁰⁵ Es ist davon auszugehen, dass diese Ana-
lysen nicht nur Mitterrands Idee einer Europäischen Konföderation beeinflussten.
Blot machte zugleich auf das Erwachen von Nationalismen in der Sowjetunion

 AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Le Directeur, Jacques Blot, Réflexions sur la
question allemande, 30. Oktober 1989.
 Bozo, Frédéric: The Failure of Grand Design: Mitterrand’s European Confederation, 1989 –
1991. In: Contemporary European History 17 (2008) 3. S. 399.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, Discussion sur l’avenir de l’Europe et compétences des divers
organismes, 16. November 1989.
 AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Le Directeur, Jacques Blot, Le Reveil de
l’histoire, 16. November 1989.
 „Lecture du Président [Hervorhebung im Original] Cette note de J. Blot me paraît mériter
votre lecture. JLB [Jean-Louis Bianco]“; AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Le Direc-
teur, Jacques Blot, Le reveil de l’histoire, 16. November 1989.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 401

und Osteuropa aufmerksam und nährte damit wahrscheinlich auch Angst vor
dem, was der Präsident mit „1913“ und „1914“ assoziierte. Mitterrand war sich des
Risikos bewusst und wies seine Mitarbeiter regelmäßig darauf hin, dass sich mit
dem Zusammenbruch des Ostblocks eine Rückkehr von Nationalismen ankün-
dige.²⁰⁶ Aber nicht nur die Veränderungsprozesse im Osten wurden als Heraus-
forderung des Umbruchs wahrgenommen. Auch der atlantische Status Quo stand
mit dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Frage, die sich nun stellte,
zur Disposition. Die Stärkung der Europäischen Gemeinschaft stellte eine Antwort
zur Bewältigung beider Herausforderungen bereit. Mit zunehmender Emanzipa-
tion von den USA rückte auch die Frage einer europäischen Verteidigung als neues
Feld europäischer Kooperation im Rahmen der EG ins Blickfeld. Eine gemeinsame
Verteidigungs- und Sicherheitspolitik wurde jetzt als logische Vervollständigung
einer politischen Union gesehen.²⁰⁷ Bertrand Dufourcq hielt eine europäische
Antwort auf die Veränderungen innerhalb der Atlantischen Allianz für unver-
meidbar. Die wirtschaftliche und monetäre Integration sowie das soziale Europa
wurden von ihm als wichtige Etappen für die Europäische Union gesehen, in der
jetzt auch eine sicherheitspolitische Dimension nicht mehr fehlen durfte.²⁰⁸ So-
lange eine europäische Integration in der Verteidigung noch nicht existierte,
entwickelte Eric Danon, Berater von Roland Dumas, im April 1990 die Idee von
einem Netz aus Kooperation und Solidarität. Für den Ausbau neuer Kooperatio-
nen unter anderem im Bereich der Rüstung schlug er vor, von der deutsch-fran-
zösischen Partnerschaft auszugehen und beispielsweise Möglichkeiten für eine
französisch-britische Zusammenarbeit zu suchen oder insgesamt im Rahmen der
WEU.²⁰⁹ Obwohl er eine gemeinsame Verteidigung innerhalb der Gemeinschaft
als eine langfristige Perspektive begriff, belegt dies doch erstens die deutsch-
französische Keimzelle einer auf langer Sicht europäischen Verteidigung und
zweitens das grundsätzliche Bedürfnis nach größerer verteidigungspolitischer
Eigenständigkeit in der Zukunft.
Die Annahme, dass die Tage der amerikanischen Präsenz in Europa gezählt
waren, motivierte François Mitterrand und seine équipe dazu, eng mit Helmut
Kohl zusammenzuarbeiten und die Stärkung einer gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik zu forcieren.²¹⁰ Die Währungsunion als für die französischen
Akteure notwenige Ergänzung zum gemeinsamen Binnenmarkt und zur Über-

 Saunier, France, S. 398.


 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 245.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, MAE, Le Directeur des Affaires Politiques, Dufourcq, Note pour le
Ministre d’Etat, Construction européenne et Europe de la Sécurité, 11. Dezember 1989.
 AG/5(4)/CDM/35, Eric Danon, La CEE et la défense, 16. April 1990.
 Loth, Europas Einigung, S. 300 f.
402 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

führung der EG in eine politische Union, in der auch der Flügel einer gemeinsa-
men Außen- und Sicherheitspolitik gestärkt wurde, emanzipierte die Europäer
zunehmend aus ihrer Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten. Insgesamt
sollten dadurch wichtige Grundlagen geschaffen werden, Europa in einer neuen
Staatenordnung als drittes Ordnungsmodell zu etablieren. Angesichts der Ver-
änderungen in Osteuropa wurde die Stärkung der westeuropäischen Konstruktion
gar zur doppelten Notwendigkeit: Europa sollte nicht nur künftig zu einem ei-
genständigen Akteur werden, sondern auch zukunftsfähig für die finanziellen,
wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen einer post-Cold War Ära. Da
für Mitterrands paneuropäische Vorstellung von Europa die Vollendung der
westeuropäischen inneren Stärkung beschleunigt werden musste, bedurfte es „a
kind of ‚waiting room‘ for the Central and Eastern Europeans“²¹¹, für den Mitter-
rand mit der Konföderation einen institutionellen Rahmen vorschlug.²¹² Das Motiv,
eine Alternative zu sofortigen Beitrittsgesuchen der osteuropäischen Länder in die
EG anzubieten, war zweifellos zentral. Die Idee von Assoziierungsabkommen
nach dem Beispiel der Türkei und Österreichs hatte der französische Präsident
dafür bereits in verschiedenen europäischen Hauptstädten angesprochen. Eine
Übergangslösung stellte einerseits eine Alternative dar zwischen dem Beitritt zur
EG und der Mitgliedschaft im COMECON und wurde andererseits als Mittel ge-
sehen, die Bindungen dieser Länder zum COMECON und dem Warschauer Pakt zu
lockern.²¹³
[2] Während die équipe Mitterrand die europäische Konstruktion als Stabili-
tätspol in Europa sah, sollten enge Beziehungen zur Sowjetunion die veränderte
Staatenwelt stabilisieren. Es war fundamental, dass sich die Sowjetunion durch
die oben dargelegten Entwicklungen nicht bedroht fühlte. Durch französisch-
sowjetische Kooperationsverträge, Appelle von Helmut Kohl und François Mitt-
errand zur Unterstützung der Sowjetunion beim G7-Gipfel in Houston vom 8. bis
11. Juli 1990 oder auch einen gemeinsamen Brief, um die nationalen Unabhän-
gigkeitsbewegungen in Litauen zu beruhigen, wurde versucht, Michail Gorbat-
schow die kommerzielle, wirtschaftliche und politische Solidarität des Westens zu
demonstrieren.²¹⁴ Im Elysée wurden Konkretisierungen von Gorbatschows Vor-
stellung eines Gemeinsamen Europäischen Hauses und eine veränderte Haltung
gegenüber der EG als Wunsch nach einer Öffnung gegenüber Westeuropa gelesen.
Nachdem sich im Jahr 1989 die Abkehr von der Breschnew-Doktrin bestätigt hatte,

 Grachev, Common European home, S. 213.


 Vgl. zu Mitterrands paneuropäischen Vorstellungen Kapitel 1 und 4.
 AN, AG/5(4)/6634, Le Chargé de Mission auprès du Président de la République, Quelques
réflexions sur l’organisation future de l’Europe, ohne Datum, vermutlich Anfang Januar 1990.
 Saunier, France, S. 399.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 403

versuchte Gorbatschow in seiner Rede in Straßburg sein Konzept vom Gemein-


samen Europäischen Haus mit konkreteren Projekten auszufüllen. Daraus wurde
der Schluss gezogen, dass Moskau eine paneuropäische Einheit suche, die auf
dem Prozess von Helsinki aufbaue. Vor dem Treffen mit Gorbatschow in Kiew
kalkulierte die équipe Mitterrand die Erwartungen, mit denen der Generalsekretär
anreisen würde. Sie ging davon aus, dass er die territorialen Realitäten als Er-
gebnis des Zweiten Weltkrieges festigen und auf die Anerkennung aller beste-
henden Grenzen und Staaten dringen werde. Es wurde erwartet, dass er sich
wirtschaftspolitisch für Kooperationen zwischen den verschiedenen Organisa-
tionen (EG, AELE, CAEM) und sicherheitspolitisch für eine Auflösung der Alli-
anzen einsetzen werde.²¹⁵ Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in
Osteuropa bedeutete aus Sicht sowjetischer Hardliner nicht nur eine politische
Niederlage, sondern auch einen erheblichen Verlust an nationaler Sicherheit, da
mit Osteuropa gewissermaßen eine Pufferzone wegbrach, auf der Moskau seine
Sicherheit seit 1945 gegründet hatte. Alarmiert schrieb Gorbatschows Berater
Anatolij Tschernjajew im Januar 1990 in sein Tagebuch:

Eastern Europe is pushing away from us completely and there is nothing we can do… It is
becoming more and more evident that the All-European home will get started without us,
without the USSR, which for now (!) can exist in its neighborhood!²¹⁶

Diese Isolations- und Bedrohungsängste hat François Mitterrand sehr deutlich


wahrgenommen und trug ihnen in der Idee einer Europäischen Konföderation
Rechnung.²¹⁷ Das Bewusstsein dieser Ängste, hatte für ihn auch in den Ver-
handlungen über die Bedingungen einer deutschen Wiedervereinigung eine
zentrale Rolle gespielt.
[3] Frédéric Bozo verweist zudem auf die antiamerikanische Stoßrichtung der
Europäischen Konföderation. Sie stellte eine Möglichkeit dar, amerikanische Am-
bitionen einzuschränken, ihren Einfluss über sicherheitspolitische Fragen hinaus
auszudehnen.²¹⁸ Die Erkenntnisse des vierten Kapitels haben gezeigt, dass die
amerikanische Administration angesichts des politischen Umbruchs in Europa
um ihren Einfluss besorgt war, der unter anderem mithilfe des Kissinger-Plans
versucht wurde zu festigen. Hubert Védrine machte François Mitterrand darauf
aufmerksam, dass die politische Affirmation, die das Abendessen der europäi-

 AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, La vision soviétique de l’avenir de l’Europe: la „Maison Com-
mune Européenne“, 29. November 1989.
 Chernyaev, Diary 1990, 21. Januar 1990, S. 7.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 31. Januar 1990, S. 948.
 Bozo, Failure, S. 398 f.
404 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

schen Staats- und Regierungschefs am 18. November im Elysée dargestellt hatte,


Nervosität in Washington ausgelöst habe. Unter anderem forderte die amerika-
nische Administration, ein Protokoll des Treffens in der NATO vorzulegen. Daraus
schloss der Präsidentenberater, dass die Amerikaner die Aushandlung der euro-
päischen Zukunft als Privileg der NATO betrachteten. Sie seien bereits bestrebt,
die Atlantische Allianz in Zukunft zunehmend auf politische anstatt militärische
Fragen auszurichten. Ganz ähnliche Intentionen unterstellte er der Sowjetunion,
die die Akzeptanz des Warschauer Paktes durch eine politische Ausrichtung
steigern wolle. Védrine fürchtete einen Interessenkonflikt und einen Kleinkrieg
zwischen NATO und EG, für den die KSZE gewissermaßen ein Ventil darstellen
könne. In der KSZE als regulierender Überbau seien alle west- und osteuropäi-
schen Staaten ebenso vertreten wie die USA, Kanada und die Sowjetunion. Er
schlug vor, die Prinzipien von Helsinki zur Grundlage und Charta eines „grande
Europe des années 1990“ zu machen.²¹⁹ Bertrand Dufourcq sah aufgrund der
amerikanischen Tendenzen, die Kompetenzen der NATO zu erweitern, ebenfalls
Handlungsbedarf und verlangte eine Vereinigung der Europäer, um den USA ein
politisches Gewicht entgegenzustellen. Eine Konzeption oder ein institutionelles
Gerüst sollte seiner Ansicht nach beiden Dimensionen – der Ost-West- wie der
transatlantischen – Rechnung tragen. Es müsse hinreichend „imaginative“ sein,
„pour répondre à des évolutions dont personne n’aurait osé prévoir l’intensité et
le rythme actuels.“²²⁰ Zugleich glaubte Dufourcq, dass sich dies nur realisieren
lasse, wenn nicht alle bestehenden Prozesse und Organisationen umgestürzt
würden. Drei Ebenen grenzte er daher voneinander ab: Die KSZE sei in der Lage,
die französische Konzeption einer europäischen Evolution mit dem Gemeinsamen
Europäischen Haus zu verbinden und trage gleichzeitig den amerikanischen
Sorgen Rechnung, an den Entwicklungen beteiligt zu bleiben. Neben den Be-
strebungen der Gemeinschaft, sich anderen neutralen Staaten zu öffnen und
Kooperationen mit den Ländern des Ostens zu entwickeln, solle gleichzeitig ein
„noyau de l’Europe intégrée“ bestehen bleiben.²²¹
Die Analysen zeigen sehr deutlich, dass die équipe Mitterrand verschiedene
Konzepte zur Bewältigung des politischen Umbruchs diskutierte und insgesamt
auf der Suche nach einem institutionellen Rahmen war, der all diesen verschie-

 AN, AG/5(4)/CDM/35, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note


pour le Président de la République, Discussion sur l’avenir de l’Europe et compétences des divers
organismes, 16. November 1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, MAE, Le Directeur des Affaires Politiques, Dufourcq, Note pour le
Ministre d’Etat, Construction européenne et Europe de la Sécurité, 11. Dezember 1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, MAE, Le Directeur des Affaires Politiques, Dufourcq, Note pour le
Ministre d’Etat, Construction européenne et Europe de la Sécurité, 11. Dezember 1989.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 405

denen Erwartungen Rechnung trug. Dies war kein leichtes Unterfangen, da sich
dieser erstens in bereits bestehende Institutionen und Organisationen einfügen
musste und die politischen Rahmenbedingungen zweitens einem raschen Wandel
unterlagen. All den oben ausgeführten Erwartungen gerecht zu werden, war
überdies umso schwieriger, wenn eine Initiative nicht nur rein rhetorisch an der
Oberfläche verharren wollte. Dies schien bei Mitterrands Neujahrsansprache je-
doch der Fall zu sein, weil sein Vorschlag viel zu leisten hatte. Es wird daher die
These aufgestellt, dass die Europäische Konföderation zunächst einmal als eine
Art Slogan diente, der auf strategischer Vagheit beruhte. Zum Jahresanfang 1990
werteten französische Diplomaten und Mitarbeiter des Präsidenten die auslän-
dischen Reaktionen aus. Hubert Védrine bezog sich in seinen Auswertungen am
8. Januar auf Stellungnahmen von Journalisten, Diplomaten und andere Per-
sönlichkeiten. Insgesamt stellte er fest, dass allgemein die Notwendigkeit ver-
standen werde, einerseits auf die Forderungen osteuropäischer Länder zu ant-
worten und andererseits eine Alternative zu sowjetischen und amerikanischen
Vorstellungen anzubieten. Auf andere Fragen fanden die Journalisten und Di-
plomaten in Mitterrands Rede dagegen keine Antworten. Vor allem die Zusam-
mensetzung der Konföderation und insbesondere die Art der Beteiligung der
beiden Supermächte blieben unklar. Ebenso erklärte Mitterrand nicht, mit wel-
chen Kompetenzen und Funktionsmechanismen die Konföderation ausgestattet
und in welchem Verhältnis sie zu bereits existierenden Organisationen stehen
sollte. Die Methoden ihrer Umsetzung hatte der Präsident ebenfalls nicht spezi-
fiziert.²²² In der französischen Botschaft in Moskau wurden die sowjetischen
Einschätzungen gesammelt, die grundsätzlich positiv ausfielen, da eine große
Übereinstimmung mit Gorbatschows Gemeinsamen Europäischen Haus voraus-
gesetzt wurde. Das MID hielt Mitterrands Vorschlag für ein Resultat der Gespräche
in Kiew. Aber auch in Moskau stellte sich die Frage nach einer Beteiligung der USA
und der Beziehung zwischen Konföderation und KSZE.²²³ In Belgien wurde Mitt-
errands Idee insgesamt gut aufgenommen. Der belgische Premierminister wies in
einem Fernsehgespräch auf die Gefahr hin, dass die EG an die Peripherie gedrängt
werden könnte, wenn die Länder Osteuropas zu schnell aufgenommen würden.

 AN, AG/5(4)/6634, Le Porte-Parole de la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note


pour le Président de la République, Confédération européenne, 8. Januar 1990.
 AN, AG/5(4)/6634, MAE, TD Moscou 72, Proposition de Mitterrand de confédération eu-
ropéenne, 8. Januar 1990; Für eine Zusammenstellung der sowjetischen und osteuropäischer
Reaktionen siehe außerdem: ADMAE 1935-INVA 6670, MAE, TD Moscou 8, Mérillon,Voeux de M. le
Président de la République – Réaction soviétique, 3. Januar 1990; ADMAE 1935-INVA 6670, MAE,
TD Moscou 72, Mérillon, Proposition de M. Mitterrand de confédération européenne, 8. Januar
1990.
406 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

Für die Belgier, so der Botschafter, bestehe ein grand design vor allem in einem
dritten Ordnungsmodell auf Augenhöhe mit den USA und der Sowjetunion. Der
KSZE-Prozess wurde in Belgien insgesamt zwar als komplementär aber auch als
Übergangslösung der Entwicklungen gesehen.²²⁴
Der stellvertretende Generalsekretär des Elysée Christian Sautter analysierte
die Konföderation aus einer wirtschaftspolitischen Perspektive und antizipierte
mögliche Einwände, die andere Wirtschaftsmächte gegen eine etwaige Zusam-
mensetzung einer künftigen Europäischen Konföderation hegen könnten. Die
Sowjetunion könne es sich seinen Berechnungen zufolge nicht leisten, außerhalb
eines Zusammenschlusses zu stehen, der in etwa das Vierfache an wirtschaftli-
chem Potential entwickle. Die EG könne die Sowjetunion dagegen nur daran
beteiligen, wenn sie einen starken politischen Pol bilde, da die Sowjetunion ein
größeres Wirtschaftspotential besitze als jeder europäische Mitgliedstaat. Da die
USA schon ihre Schwierigkeiten mit der Perspektive eines föderativen Europas
bestehend aus 12 Mitgliedern hätten, das ihrem Wirtschaftspotential um 20 Pro-
zent unterliege, bezweifelte er stark, dass Washington bereit sein könnte, eine
Konföderation ob ohne oder gar mit der Sowjetunion zu akzeptieren.²²⁵ Die in-
nenpolitische Opposition in Frankreich grenzte sich stark von der Konföderati-
onsidee ab. Elisabeth Guigou schob kritische Kommentare auf eine mangelhafte
Lektüre von Mitterrands Rede. Ganz im Gegenteil zur Kritik von Jacques Chirac
und Valéry Giscard d’Estaing gefährde die Konföderation keineswegs die Euro-
päische Gemeinschaft. Zum einen, argumentierte Guigou, habe Mitterrand zwei
Etappen bestehend aus einer Stärkung der EG und einer Assoziierung osteuro-
päischer Länder vorgestellt. Zum anderen hielt sie die Konföderation für eine
Langzeitidee. Als Alternativangebot trage sie dazu bei, die Gemeinschaft vor der
Auflösung zu schützen.²²⁶ Diese unterschiedlichen Erwartungen spiegeln zum
einen wider, dass Mitterrands Vorschlag keine konkreten Ideen einer institutio-
nellen Ausgestaltung zugrunde lagen, sondern er mit der Rede zunächst einmal
auf alle aktuellen Bedürfnisse antworten wollte. Diese Bedürfnisse waren ebenso
heterogen wie die Erwartungen, die von außen an Mitterrands Initiative heran-
getragen wurden. In diesem Kontext reichte die Vagheit der institutionellen
Ausgestaltung den verschiedenen Anforderungen zum Vorteil, da man in ver-

 AN, AG/5(4)/6634, MAE, Nazelle, TD Bruxelles 33, Réactions belges sur l’idée de confédé-
ration européenne et le problème allemand, 10. Januar 1990.
 AN, AG/5(4)/6634, Présidence de la République, Le Secrétaire Général Adjoint, Christian
Sautter, Note pour J.L. Bianco, Soupeser le „Confédération Européenne“, 2. Januar 1990.
 AN, AG/5(4)/6634, Le Chargé [sic] de Mission auprès du Président de la République, Elisa-
beth Guigou, Note pour le Président de la République, Quelques réflexions sur la Confédération
européenne et son articulation avec la Communauté, 11. Januar 1990.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 407

schiedenen Kooperationsbereichen unterschiedliche Partner mal beteiligen, mal


ausschließen wollte. Während Mitterrand die USA bei wirtschaftlichen Angele-
genheiten gerne außen vor lassen wollte, schien dies in sicherheitspolitischen
Fragen eher schwierig. Daher urteilte die équipe Mitterrand „qu’il serait dangereux
de figer trop tôt les structures de la Confédération.“²²⁷
Nachdem François Mitterrand die Konföderationsidee vor den Augen der
Weltöffentlichkeit projiziert hatte, bemühten sich seine Berater darum, diese mit
konkreteren Vorstellungen zu füllen. Am 4. Januar erstellte Bertrand Dufourcq
eine Analyse von Mitterrands Rede. Sehr spezifisch habe der Präsident die ge-
genwärtigen Herausforderungen skizziert, die aus seiner Sicht einer Lösung be-
durften: Konkret umfasse dies die Zukunft der Allianzen, den Rhythmus der Ab-
rüstung, Bedingungen einer deutschen Wiedervereinigung, Kooperationen
zwischen Ost und West sowie Probleme mit Grenzen und Nationalitäten. Den
Rahmen, den er sich zur Lösung dieser Probleme vorstellte, habe der Präsident
mit einer Stärkung der EG und der Europäischen Konföderation ebenso klar be-
nannt wie notwendige Prämissen wie Parteienpluralismus, freie Wahlen, ein re-
präsentatives System und Informationsfreiheit. Dufourcq empfahl aber auch
dringend eine Spezifizierung der strittigen Punkte: Klären wollte er speziell die
Rolle der Supermächte und anderer Organisationen, zeitliche Angaben zur Um-
setzung und Definitionen von allgemeinen Begriffen wie „Austausch“, „Frieden“
und „Sicherheit“. Allerdings wollte er die Konkretisierungen nicht in einer öf-
fentlichen Debatte, sondern lediglich für den internen Gebrauch vornehmen. Er
versprach sich davon ein höheres Maß an Planungssicherheit, da eine eindeutige
Position es erleichtern werde, sich bei den nächsten bi- und multilateralen Treffen
besser für das Projekt einsetzen zu können.²²⁸ Elisabeth Guigou schloss sich
Dufourcqs Urteil an, plädierte allerdings angesichts des sich rasant wandelnden
Umfeldes noch stärker für einen flexiblen, anpassungsfähigen und wandelbaren
Entwurf:

Il me semble aussi que nous n’avons pas intérêt, dans un contexte aussi mouvant à figer
prématurément nos positions par des indications trop précises qui pourraient être dépassées
rapidement par les événements.²²⁹

 AN, AG/5(4)/6634, Le Chargé de Mission auprès du Président de la République, Quelques


reflexions sur l’organisation future de l’Europe, ohne Datum vermutlich Anfang Januar 1990.
 AN, AG/5(4)/6634, MAE, Le Directeur des Affaires Politiques, Bertrand Dufourcq, Note, De la
Confédération européenne et des questions qu’elle pose, 4. Januar 1990.
 AN, AG/5(4)/6634, Le Chargé [sic] de Mission auprès du Président de la République, Elisa-
beth Guigou, Note pour le Président de la République, Quelques réflexions sur la Confédération
européenne et son articulation avec la Communauté, 11. Januar 1990.
408 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

Von der strategischen Offenheit des Konzeptes versprach sie sich, mit praktischen
oder imaginativen Vorschlägen auf akute Bedürfnisse zu antworten und künftige
Entwicklungen zu antizipieren.
Die Arbeitsweisen der équipe Mitterrand werden anhand dieser Beispiele sehr
deutlich. Anstatt auf politische Planung zu setzen, verfolgten sowohl Dufourcq als
auch Guigou eher eine politische Strategie, die den Zufall integrierte, um hand-
lungsfähig zu bleiben. Konkretisierungen unternahm auch die Beraterin lediglich
für den internen Gebrauch. Im wirtschaftlichen Bereich sah sie besonders
schnellen Handlungsbedarf, damit die osteuropäischen Länder keine Forderun-
gen an die Gemeinschaft stellten. Zudem wollte sie um jeden Preis vermeiden,
dass sich die USA in wirtschaftliche, ökologische und technologische Fragen in
Europa einmischten. In diesen Bereichen schlug sie ein separates Abkommen
zwischen EG und USA vor, um sich nicht auf Vorstellungen von James Baker
einlassen zu müssen, die ihrer Meinung nach einer globalen Kontrolle der euro-
päischen Prozesse gleichkamen. Einen solchen Vertragsabschluss wollte sie bis
1993 aufschieben, um Europa durch die zuvor geschaffene WWU eine bessere
Verhandlungsposition zu verschaffen. Im politischen und militärischen Bereich
hielt sie es allerdings kaum für möglich, die USA auf Abstand zu halten, solange
die deutsche Frage und die künftige Rolle der Allianzen nicht geklärt waren. Die
KSZE hob sie als einziges Forum hervor, in dem über diese Fragen gesprochen
werden könne. Tunlichst zu vermeiden galt es aus ihrer Sicht aber, die KSZE in
irgendeiner Form bei der Ausgestaltung der Europäischen Konföderation einzu-
beziehen, da dies den USA ein Kontrollrecht einräumen würde. Auch die Regelung
wirtschaftlicher Kooperation sei nicht Aufgabe der KSZE. Wie Védrine stellte
Guigou fest, dass keine Organisation bisher die Kompetenz besitze, die Bezie-
hungen zwischen den europäischen Ländern zu organisieren. Konkret schlug
Guigou vor, ausgehend von der Europäischen Gemeinschaft durch die Konföde-
ration die wirtschaftlichen Beziehungen zu den osteuropäischen Ländern zu
vertiefen. Insofern stellte die Konföderation für Guigou eine Übergangslösung dar,
zwischen einem Beitritt zur EG und dem einstigen Status als Satellitenstaaten der
Sowjetunion. Sie orientierte sich in ihrem Entwurf an bereits bestehenden Mo-
dellen und schlug vor, sich am Beispiel der Beziehungen zwischen EG und eu-
ropäischer Freihandelszone zu orientieren. In allen anderen Bereichen hielt sie es
aber angesichts der aktuellen Unwägbarkeiten für angebracht, Entscheidungen
nicht zu überstürzen und alle Möglichkeiten des Dialogs in den verschiedenen
bestehenden Organisationen zu nutzen.²³⁰

 AN, AG/5(4)/6634, Le Chargé [sic] de Mission auprès du Président de la République, Elisa-
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 409

Ende Oktober 1989 hatte Mitterrand mit seiner Idee einer Konföderation noch
nicht das Interesse seiner Verbündeten wecken können.²³¹ Bei einer Bewertung
von Mitterrands Neujahrsansprache und der Konföderation insgesamt gilt es in-
dessen zwischen grundsätzlichen Ursachen und konkretem Anlass zu differen-
zieren. Die eingangs herausgestellten Motive für die Konföderation änderten sich
innerhalb von zwei Monaten keineswegs. Eher spitzten sich diese weiter zu, da die
Umsetzung der WWU offensichtlich auch aus anderen Gründen, wie Kohls Zu-
rückhaltung, ungewiss erschien. Mögliche Beitrittsgesuche der osteuropäischen
Staaten sollten ihre Verwirklichung nicht noch als weitere Faktoren behindern,
sondern im Gegenteil dazu führen, den laufenden Prozess zu beschleunigen. Von
einem fertigen Konzept kann bei Mitterrands Initiative keinesfalls die Rede sein.
Vielmehr legt sie Zeugnis darüber ab, dass sich der Präsident einem gewissen
Handlungsdruck ausgesetzt sah. Ausländische wie interne Reaktionen demon-
strieren, dass die Europäische Konföderation bei jedem Akteur unterschiedliche
Assoziationen und Vorstellungen hervorrief. Mit der Vagheit hinsichtlich der
konkreten Ausgestaltung instrumentalisierte François Mitterrand die Wahrneh-
mungen seiner Zuhörer, die an das Konzept ihre eigenen Erwartungen herantra-
gen konnten. Insofern diente die Europäische Konföderation tatsächlich als Slo-
gan, der Interpretationsspielräume offenließ. Die strategische Offenheit des
Konzeptes wurde durch die équipe Mitterrand als notwendig beurteilt, um den
politischen Handlungsspielraum nicht im Vorhinein einzuschränken und von den
politischen Umwälzungsprozessen überholen zu lassen. Hierin liegt der grund-
legende Unterschied zwischen politischer Planung und einer politischen Strate-
gie, die zwar auf gewissen Grundvorstellungen aber keiner konkreten Ausge-
staltung eines künftigen Designs beruhte. Mehr noch als seine eigenen
Vorstellungen zur Neugestaltung einer künftigen Staatenordnung in die Waag-
schale zu werfen, unternahm Mitterrand mit seiner Rede in erster Linie einen
Vorstoß, an den internationalen Entwicklungen zu partizipieren. Dies leitet über
zum konkreten Anlass, der den Präsidenten motivierte, die Konföderation am
Silvesterabend vor einem Millionenpublikum abermals zu lancieren.
Am 12. Dezember 1989 hatte der amerikanische Außenminister James Baker
in Berlin seine Vorstellungen einer künftigen Staatenordnung präsentiert, die er
unter dem Schlagwort Neuer Atlantizismus subsummierte. Seine Initiative soll
umgehend aus französischer Perspektive untersucht werden. Es wird von der
These ausgegangen, dass Mitterrands Europäische Konföderation vom 31. Dezem-

beth Guigou, Note pour le Président de la République, Quelques réflexions sur la Confédération
européenne et son articulation avec la Communauté, 11. Januar 1990.
 Loth, Europas Einigung, S. 292.
410 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

ber 1989 eine Art dritten Weg zwischen Gorbatschows Gemeinsamen Europäi-
schem Haus und Bakers Neuem Atlantizismus darstellte. Insofern vereinte sie
beides: eine bereits zuvor entwickelte aber nicht konkretisierte und eine letztlich
aus der Not heraus lancierte Idee. Neben allen genannten Anforderungen, die sie
leisten musste, stellte die Neujahrsansprache für Mitterrand auch eine Möglich-
keit dar, Initiative zu ergreifen. Als aktiv Handelnder trat er so in die politische
Debatte um die Gestaltung einer internationalen Staatenordnung der Zukunft ein,
anstatt als passiv Erleidender den Entscheidungen der beiden Supermächte
ausgesetzt zu sein.
Waren die Vorstellungen einer institutionellen Ausgestaltung doch ebenso
unspezifisch wie ihr Verhältnis zu anderen Organisationen, so traf dies nicht für
die Vorstellungen der équipe Mitterrand hinsichtlich der ihr zugrunde liegenden
Struktur multilateraler Staatenbeziehungen zu. Die Konföderation war für Mitt-
errand ein Rahmen, „innerhalb dessen alle Staaten gleichberechtigt einander
gegenüberstehen. Die Großen und Kleinen. So wie das in der EG der Fall sei.“ Er
begriff sie als eine lockere Institution „mit wenig verpflichtenden Bestimmun-
gen“.²³² Auf die gleichen Rechte aller Mitglieder legte er hingegen großen Wert. In
seinem Gespräch mit Helmut Kohl am 15. Februar 1990 wurde deutlich, dass sein
tagespolitisches Hauptaugenmerk nach wie vor der Europäischen Gemeinschaft
galt, wohingegen er seine Ausführungen zu der Konföderation unspezifisch als
Zukunft bezeichnete.²³³ Bemerkenswert daran sind zwei Aspekte: Die Konföde-
ration schien sich offenbar völlig in den Kontext der französischen Détente-Vor-
stellung eines evolutionären Zusammenwachsens beider Teile Europas einzufü-
gen. In gewisser Weise stellte sie eine Übertragung der Entspannungspolitik auf
einen gewandelten internationalen Kontext dar und implizierte eine Einordnung
der äußeren Rahmenbedingungen in französische Langzeitvorstellungen – an-
statt Anpassungsleistungen im Konzept erbringen zu müssen. Ferner beruht die
zugrunde liegende Vorstellung nicht auf Beziehungen zwischen gleichmächtigen,
sondern gleichberechtigten Staaten, in der Asymmetrien akzeptiert, aber nicht
zum Anlass für per se unterschiedlich verteilte Befugnisse genommen wurden.
Insofern orientierte er sich an einem Solidaritäts- und nicht an einem Rivalitäts-
prinzip. Dies schloss Abhängigkeitsbeziehungen der kleineren zu den größeren
Staaten aus, sodass sich die Struktur künftiger Staatenbeziehungen auf ein Ver-
ständnis horizontaler anstatt vertikaler Beziehungen stützte.

 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Paris, 15. Februar 1990.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 187, S. 850.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Paris, 15. Februar 1990.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 187, S. 850.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 411

In der französischen Nationalversammlung trat Roland Dumas ebenfalls für


Beziehungen zwischen „Etats égaux“ ein, beruhend auf Freundschaft und Ko-
operation auch gegenüber traditionellen Verbündeten insbesondere den USA.²³⁴
Der Aushandlungsprozess um eine Neustrukturierung der Staatenbeziehungen
wurde mit vertrauensbildender Rhetorik gegenüber den USA verknüpft, da be-
stehende Bündnisse und Freundschaften nicht aufgekündigt, sondern vielmehr
auf Grundlage von Gleichberechtigung ausbalanciert werden sollten. Es vermag
nicht zu überraschen, dass Dumas Stellungnahme an Charles de Gaulles Europe
européenne erinnert. Deswegen ist es zwar nicht grundsätzlich falsch, Mitterrands
Europäische Konföderation in den Kontext von dessen Vorstellung eines „Europa
vom Atlantik bis zum Ural“ zu stellen, greift aber insgesamt zu kurz.²³⁵ So erfüllte
Mitterrands Initiative in der Tat eine ähnliche Funktion wie einst de Gaulles
Entwurf: Auch dieser enthielt eine Vision von einem Europa der Zukunft – eine
Vorstellung, die unter anderem Hoffnung wecken und insbesondere den Deut-
schen Geduld abverlangen sollte.²³⁶ In ähnlicher Weise schuf die Konföderation
eine solche Langzeitvision für die osteuropäischen Staaten, die sich von der
kommunistischen Herrschaft befreiten. Mitterrand ließ gegenüber Helmut Kohl
und George Bush keinen Zweifel daran, dass die Konföderation nicht auf seiner
tagespolitischen Agenda stehe, sondern ein in der Zukunft umzusetzendes Projekt
darstelle, durch das sich die demokratisierten Staaten Osteuropas neu formieren
und den Ländern Westeuropas politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich und
kulturell annähern könnten.²³⁷
Zugleich waren allerdings zwei weitere Funktionen mit der Neujahrsanspra-
che verbunden, die sich einer Analogie zu de Gaulles Europe européenne aufgrund
der prinzipiell anderen politischen Rahmenbedingungen entziehen: Die gesamt-
europäischen Transformationsprozesse sollten in den Kontext bestehender fran-
zösischer Konzepte eingeordnet werden, um Orientierung zu stiften. Erfahrungen
der Vergangenheit wurden hier herangezogen, um neue Erfahrungen einzuordnen
und politisches Handeln zu ermöglichen. Ferner mussten traditionelle Konzepte
mit der grundlegend anderen politischen Situation in Einklang gebracht werden,
die das tatsächliche Ende von Jalta und die grundlegende Neugestaltung des
internationalen Koordinatensystems bereithielt. Dies galt vor allem in Bezug auf

 Dumas, Rede vor der Assemblée Nationale, 10. April 1990, S. 202.
 Bozo, Failure, S. 393.
 Vgl. dazu Kapitel 1.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Paris, 15. Februar 1990.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 187, S. 850; AN, AG/5(4)/CD/74, L’Ambassadeur de
France aux Etats-Unis, Rencontre de Key Largo entre le Président Mitterrand et le Président Bush
19 Avril 1990, Compte-Rendu de la Conversation-Déjeuner, 19. April 1990.
412 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

die Rivalität zwischen Europäischer Konföderation und den Ordnungsvorstellun-


gen anderer Akteure. Denn während die équipe Mitterrand Konzepte entwickelte,
um den Einfluss der Vereinigten Staaten in Europa künftig zu begrenzen, ver-
suchte die amerikanische Administration ganz im Gegenteil, die Zuständigkeiten
der NATO und damit auch den Einfluss Washingtons auf Bereiche jenseits von
Verteidigungsfragen auszudehnen.²³⁸
Nachdem bereits George Bush beim NATO-Treffen in Brüssel am 4. Dezember
von einem New Atlanticism gesprochen hatte, erfuhr dieser Begriff und das, was
sich die amerikanische Administration darunter vorstellte, durch James Baker
eine Spezifizierung. Am 12. Dezember 1989 stellte Baker eine „neue Architektur
für ein neues Zeitalter“ vor dem Berliner Presseclub vor, die „den alten Funda-
menten und Strukturen Platz bieten“ sollte. Drei Aspekte hob er gesondert hervor:
Die NATO müsse „ihre Gültigkeit behalten“ und die EG weitergeführt werden, die
dazu beitrage, „den Westen noch enger zu verflechten und gleichzeitig als offene
Tür zum Osten“ diene. Die neue Architektur solle gleichfalls „einen Rahmen
schaffen – wie den des KSZE-Prozesses – in dem die Teilung Europas überwunden
und der Atlantik überbrückt werden“ könne. In Bakers Beharren, „die Notwen-
digkeit einer aktiven Rolle der Vereinigten Staaten in Europa“ anzuerkennen,
offenbarte sich die Sorge der amerikanischen Administration, im Zuge der
Transformationsprozesse aus Europa gedrängt zu werden und an politischem
Einfluss einzubüßen.²³⁹ Deswegen schlug er vor, „gemeinsam auf ein neues Eu-
ropa und den neuen Atlantizismus hinzuarbeiten.“ Insgesamt zwei weitere Male
wiederholte der amerikanische Außenminister, das neue Europa auf einen
„neuen Atlantizismus“ gründen zu wollen. Dafür stellte er einen Maßnahmen-
katalog zusammen, der erstens „die militärische Komponente verringert und die
politische aufwertet“. Darunter stellte er sich konkret die NATO als „Forum“ der
westlichen Staaten vor, „um Abkommen zwischen Ost und West auszuhandeln,
durchzuführen, zu verifizieren und auszubauen.“ Zweitens legte Baker Funda-
mente dafür, eine künftige Welthüterrolle der USA aufzubauen, indem er ihr durch
„Formulierungen gemeinsamer Haltungen des Westens“ eine größere Rolle in
regionalen Konflikten einräumen wollte. Drittens wollte Baker die NATO in den
Aufbau wirtschaftlicher und politischer Verbindungen zum Osten involvieren und
sie mit der Wahrung von Menschenrechten und dem Aufbau demokratischer In-
stitutionen „im Einklang mit westlichen Sicherheitsinteressen“ betrauen.²⁴⁰ An-

 Vgl. Saunier, France, S. 400 f.


 Baker, James A.: Rede des amerikanischen Außenministers, James A. Baker, vor dem Berliner
Presseclub in West-Berlin am 12. Dezember 1989. In: Europa Archiv (EA) 4/1990. S. D78.
 Baker, Rede Presseclub am 12. Dezember 1989, S. D79.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 413

gesichts der sich ohnehin beschleunigenden Ereignisse sowie der Isolations-


ängste der Sowjetunion kann man Bakers Anregung, dass die „Aussöhnung
ehemaliger Feinde, die sich unter dem Schirm der kollektiven Sicherheit der NATO
vollzogen“ habe, „den Staaten Osteuropas ein attraktives Modell internationale[r]
Beziehungen“ biete, nur als leichtsinnig beurteilen.²⁴¹
Die Berater des Präsidenten waren alarmiert: „Il veut intégrer dans l’Alliance
Atlantique la construction européenne. Cela me paraît dangereux.“²⁴², warnte
Jean-Louis Bianco den Präsidenten. Das Außenministerium war nicht minder
besorgt: Die Rede wurde als Übergang gesehen, die Atlantische Allianz weniger
auf militärische als vielmehr politische Aufgaben auszurichten. Konfliktpotential
in den transatlantischen Beziehungen sah die Politische Abteilung des Quai
d’Orsay darin insofern, als Baker damit neuen Bedingungen für eine Verteidi-
gungsdoktrin auswich. Außerdem wurden seine Stellungnahmen grundsätzlich
als kontraproduktiv für die Suche nach Stabilität in der politischen Umbruch-
phase gewertet. Baker habe die von Bush schon in Brüssel dargelegten Vorstel-
lungen eines unveränderten deutschen Engagements in der NATO aufgenommen.
Französische Diplomaten verstanden dies faktisch als eine Absorbierung der DDR
durch die NATO und damit als Bruch des europäischen Gleichgewichts zum
Nachteil Moskaus und des Warschauer Pakts. Dies sei zwar prinzipiell nicht un-
vereinbar mit den Prinzipien von Helsinki, so aber doch mit dem Ziel einer eu-
ropäischen Stabilität. Insgesamt wurde Bakers Auftritt als Initiative gewertet,
durch die Baker-Doktrin frühzeitig die Spielregeln für eine künftige Debatte
festzulegen.²⁴³ Vor diesem Hintergrund muss Mitterrands Neujahrsansprache als
Initiative verstanden werden, sich den amerikanischen Spielregeln nicht wider-
standslos zu unterwerfen, sondern einen aktiven Aushandlungsprozess zu eröff-
nen. Dies schloss eine Neuverhandlung der transatlantischen Beziehungen ge-
nauso ein wie die Reorganisation der europäischen Staatenordnung. Es galt nun,
die Früchte der Vorbereitungen für eine gleichberechtigtere Partnerschaft zu
ernten, die hinter Mitterrands Europapolitik seit der Jahreswende 1982/1983
standen, anstatt sich vom Neuen Atlantizismus überrumpeln zu lassen.

 Baker, Rede Presseclub am 12. Dezember 1989, S. D80.


 AN, AG/5(4)/CDM/35, handschriftlicher Vermerk von Jean-Louis Bianco auf dem Dokument:
Le Chargé [sic] de Mission auprès du Président de la République, Elisabeth Guigou, Note pour le
Président de la République, Précision sur la partie du discours de M. Baker consacrée aux rela-
tions entre les Etats-Unis et la Communauté Européenne, 14. Dezember 1989.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégi-
ques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Le „nouvel
atlantisme“– portée stratégique, 20. Dezember 1989.
414 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

Der Aushandlungsprozess um eine künftige Staatenordnung fand allerdings


nicht nur in einem internationalen Kontext statt, sondern vielmehr auch inner-
halb der französischen Administration. Verschiedene politische Strömungen
entwickelten unterschiedliche Vorstellungen über eine adäquate Ausgestaltung
der Zukunft. Verteidigungsminister Jean-Pierre Chevènement beispielsweise ori-
entierte sich an der Fortsetzung bereits bekannter und bestehender Strukturen,
indem er dafür plädierte, zu der ursprünglichen Konzeption der Allianz mit den
USA zurückzukehren und in Europa den Akzent auf bilaterale Kooperationen
insbesondere mit der Bundesrepublik zu legen. In seiner Vorstellung diente die
WEU als verteidigungspolitischer Flügel der europäischen Konstruktion und
sollte ein Konzept kollektiver Sicherheit maßstabsgetreu zum gesamten Kontinent
darstellen. Eindringlich setzte er sich dafür ein, die französische Doktrin der
Abschreckung zu bewahren.²⁴⁴ Diplomaten im Quai d’Orsay hingegen votierten
für eine grundlegende Neuverhandlung der transatlantischen Beziehungen, die in
Zukunft zwei Dingen Rechnung tragen sollten: Grundsätzlich dürfe die Legitimität
der Allianz und das amerikanische Engagement in Europa nicht infrage gestellt
werden. Dies hieße aber nicht, dass die europäischen Bestrebungen lediglich zu
einem „sous-ensemble“ der Allianz ohne eine eigene Identität degradiert werden
dürften.²⁴⁵ Deswegen entwarfen Diplomaten ein Sicherheitssystem, das auf einer
militärischen und auf einer politischen Säule und vier konkreten Prinzipien
gründete: Die Wahrung der transatlantischen Sicherheitsverbindungen, die
Fortsetzung der europäischen Konstruktion mit einer politischen Dimension auch
im Bereich der Verteidigung, die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung
und ein politischer Dialog in Europa im Rahmen der KSZE.²⁴⁶
Der Generalstabschef des französischen Präsidenten Jacques Lanxade un-
terrichtete François Mitterrand am 9. April 1990 von seinen Eindrücken bei Ge-
sprächen mit Vertretern aus Pentagon, State Department und National Security
Council in Washington. Bei seinen Gesprächspartnern konstatierte Lanxade eine
erhebliche Beunruhigung ob der Entwicklungen in Europa. Es regten sich Zweifel
an der Verlässlichkeit der deutschen Bundesregierung, da die öffentliche Mei-

 AN, AG/5(4)/CDM/35, Le Ministre de la Défense, Jean-Pierre Chevènement, Note à Monsieur


le Président de la République, Avenir de la défense de l’Europe, 9. April 1990.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégi-
ques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Fiche, L’Alliance
Atlantique et la sécurité en Europe, 19. April 1990.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégi-
ques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Fiche, L’archi-
tecture européenne de sécurité, 20. April 1990.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 415

nung die amerikanische Militärpräsenz infrage stelle. Der französische Admiral


stellte fest, dass der Wunsch, weiterhin Truppen der NATO in Europa zu behalten,
die amerikanische Diplomatie zusätzlich motiviere, den Bedeutungsverlust als
militärische Allianz durch eine Ausdehnung der politischen Funktion zu kom-
pensieren. Die Berater im Weißen Haus wiesen ausdrücklich darauf hin, dass
Präsident Bush im Gespräch mit seinem französischen Amtskollegen am 19. April
1990 an einem Konsens interessiert sei. Lanxade sah persönlich keinerlei Vorteile
darin, wenn sich zu große Spannungen zwischen den USA und Frankreich über
die Rolle der Vereinigten Staaten entzünden würden.Vielmehr glaubte er, dass die
EG und die KSZE von einer gestärkten NATO profitieren würden.²⁴⁷
Die Rolle der NATO war auch die zentrale Frage, auf die sich die Berater des
Präsidenten bei den Vorbereitungen des amerikanisch-sowjetischen Gipfels
konzentrierten. Die Stellungnahmen von Bush und Baker interpretierte Hubert
Védrine als Indiz, dass die amerikanische Administration die NATO zu einem
Direktorium umwandeln wolle, was die französische Politik aus seiner Sicht vor
ein Dilemma stelle. Eine globale Opposition gegen die amerikanischen Projekte
sei undenkbar. Gleichzeitig aber wollte er diese auch nicht widerstandslos hin-
nehmen, da er glaubte, dass die Amerikaner es als Zustimmung für ihren Neuen
Atlantizismus interpretieren würden inklusive der Bestrebungen, die Rolle Euro-
pas zu limitieren. Um dem Dilemma vorerst zu entkommen, schlug der Berater
Mitterrand eine Verzögerungstaktik vor, indem er nicht grundsätzlich wider-
sprechen aber darauf aufmerksam machen könne, dass es die amerikanischen
Vorschläge erst noch zu präzisieren gelte. Er wies darauf hin, dass die europäi-
schen Überlegungen noch nicht weit genug entwickelt seien, aber es müsse
dennoch eine Debatte zwischen den Verbündeten eröffnet werden. Védrine lan-
cierte die Idee, die Stärkung aber vor allem Erneuerung der transatlantischen
Beziehungen durch eine europäisch-amerikanische Charta während des atlanti-
schen Gipfels in Paris im Frühjahr 1991 zu besiegeln. Er hielt dies gleich aus zwei
Gründen für eine attraktive Lösung: Zum einen demonstriere es „la bonne volonté
de la France“²⁴⁸, was de facto auf eine Stärkung des Zusammenhalts und Ver-
trauens der Bündnispartner zielte. Zum anderen könnte Frankreich eine aktive

 AN, AN, AG/5(4)/CDM/35, Présidence de la République, Le Vice Amiral d’Escadre, Chef de
l’Etat-Major Particulier, Lanxade, Note pour Monsieur le Président de la République, Sécurité en
Europe: Position américaine, 9. April 1990.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, Votre rencontre avec le Président Bush; Rôle de l’OTAN,
11. April 1990.
416 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

Rolle in den Neuverhandlungen übernehmen. Védrine hoffte auf Zeit spielen zu


können, um den französischen Handlungsspielraum zu erweitern.²⁴⁹
Obgleich er bisher keine akuten Anhaltspunkte für einen Streit zwischen
Washington und Paris sah, gebe es bei den Amerikanern doch einen gewissen
Argwohn, dass Mitterrand und die französische Regierung die neuen Missionen
der NATO nicht unterstützten.²⁵⁰ In der Tat bestanden aus Védrines Sicht grund-
legende Unstimmigkeiten: Die amerikanische Administration wollte in der NATO
eine gemeinsame Haltung für die KSZE entwickeln – das französische Außen-
ministerium fand sich aber nur zu einem zwanglosen Meinungsaustausch bereit,
der auf sicherheitspolitische Fragen begrenzt wurde. Außerdem widersetzten sich
französische Repräsentanten einer Abstimmung über die Zwei-Plus-Vier-Ver-
handlungen und willigten lediglich in den Austausch von Informationen ein.
Védrine erkannte, dass die amerikanischen Vorstellungen zudem mit europäi-
schen Ambitionen zu kollidieren drohten, die politische Rolle der EG in Zukunft
zu stärken.²⁵¹
Aufgrund der vielen Ungewissheiten, arbeiteten die Berater des Präsidenten
zwar Grundsätze für Mitterrands Gespräch mit Bush aus, allerdings vermieden sie
konkrete Standpunkte dazu, wie eine künftige Ordnung institutionell beschaffen
sein könnte. Insofern blieb die équipe Mitterrand ihrer flexiblen Strategie treu, um
handlungsfähig zu bleiben. Der erste Grundsatz sah eine Stärkung der westeu-
ropäischen Konstruktion insgesamt und speziell im Bereich der Sicherheit vor, da
die Affirmation eines westeuropäischen Pols als Anker- und Stabilitätspunkt der
Evolution in Europa dienen sollte. Der zweite Punkt erfüllte den Zweck von
Védrines Verzögerungstaktik und spiegelt außerdem das von ihm benannte Di-
lemma wider: Die Weiterentwicklung der europäischen Kooperation wurde
grundsätzlich in den Kontext der Allianz eingebettet, um die Amerikaner nicht zu
verprellen. Gleichzeitig wurde die Affirmation Europas aber als Zeichen dekla-
riert, neue Formen der Partnerschaft zu entwickeln.²⁵² Die französische Delega-
tion reiste also nicht mit konkreten Erwartungen und Zielvorstellungen nach
Washington, sondern war sich dessen bewusst, dass zu diesem Zeitpunkt, als die

 AN, AG/5(4)/CDM/35, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note


pour le Président de la République, Votre rencontre avec le Président Bush; Rôle de l’OTAN,
11. April 1990.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, Différends franco-américains, 11. April 1990.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, Différends franco-américains, 11. April 1990.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, Schema d’intervention, 10. April 1990.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 417

Entwicklungen noch immer im Fluss und die europäischen Vorstellungen noch


nicht hinreichend weit entwickelt waren, politische Entscheidungen über eine
Veränderung einer künftigen Staatenordnung nicht getroffen werden konnten.
Das hieß jedoch keineswegs, dass es nicht konkrete Bedingungen gab, die die
équipe Mitterrand in der Zukunft erfüllt sehen wollte und die Mitterrand auch zur
Grundlage seiner Gespräche in Washington machte.
Mit seiner Rede vor der französischen Nationalversammlung leistete Roland
Dumas, einen Beitrag zur Debatte um die europäische Zukunft und das Verhältnis
zu traditionellen und neuen Verbündeten. Im Vorfeld hatte er seinen Redeentwurf
eng mit François Mitterrand abgestimmt.²⁵³ Sehr deutlich werden auch bei ihm die
Strukturen eines künftigen Sicherheitssystems: Ein geeintes und politisches
Westeuropa auf Augenhöhe mit den USA sollte Verbindungen zu Osteuropa un-
terhalten. Europa stand gewissermaßen als drittes Ordnungsmodell zwischen Ost
und West. Dafür bedurfte es insgesamt einer Umstrukturierung der Atlantischen
Allianz. Mitterrand legte Wert darauf, bei der amerikanischen Administration,
nicht das ohnehin schon vorhandene Misstrauen zu nähren, seine Konföderation
enthalte eine antiamerikanische Stoßrichtung. Auf Anweisung des Präsidenten
füllte Dumas seine Rede mit Formulierungen auf, die dieses Misstrauen zer-
streuen sollten.²⁵⁴ Deutlich entstand aber die Botschaft, dass Mitterrand und seine
équipe Sicherheit nicht als Abwesenheit von Krieg beziehungsweise hinreichende
Verteidigung konzeptualisierten: „La sécurité, ce n’est pas la défense.“²⁵⁵ Si-
cherheit bestand für sie aus politischen Kooperationsstrukturen einerseits, die
andererseits durch ein militärisches Gleichgewicht und alle dazugehörigen Me-
chanismen wie vertrauensbildende Maßnahmen, Verifizierungs- und Kontroll-
systeme abgesichert werden sollten.²⁵⁶ Zwischenstaatliches Misstrauen sollte
nicht nur durch Absicherungen im Konfliktfall eingehegt, sondern vielmehr durch
Zusammenarbeit überwunden und durch Vertrauen als Ressource ersetzt werden.
Diese strukturelle Veränderung zwischenstaatlicher Beziehungen zielte auf die
Beseitigung von Risiken, erneut in ein Sicherheitsdilemma zu geraten.

 AN, AG/5(4)/CDM/35, MAE, Le Ministre d’Etat, Roland Dumas, Note à l’attention de Monsieur
le Président de la République, Angehängt ist ein Entwurf für Dumas Rede in der Assemblé Na-
tionale am 10. April 1990, 9. April 1990.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, MAE, Le Ministre d’Etat, Roland Dumas, Note à l’attention de Monsieur
le Président de la République, Angehängt ist ein Entwurf für Dumas Rede in der Assemblé Na-
tionale am 10. April 1990, 9. April 1990; Dumas, Rede vor der Assemblée Nationale, 10. April 1990,
S. 202.
 Dumas, Rede vor der Assemblée Nationale, 10. April 1990, S. 202.
 Dumas, Rede vor der Assemblée Nationale, 10. April 1990, S. 201.
418 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

Attalis Argwohn, dass der Umbau der NATO nach amerikanischen Vorstel-
lungen eine Stoßrichtung gegen größere europäische Eigenständigkeit in Si-
cherheits- und Verteidigungsfragen enthielt,²⁵⁷ schien sich beim amerikanisch-
französischen Gipfel in Key Largo zu erhärten. James Baker legitimierte die
Stärkung der politischen Rolle der NATO mit dem Argument, dass die amerika-
nische Truppenpräsenz in Europa dadurch unterstützt werde. George Bush prä-
zisierte dies durch ein subtiles Drohszenario, dass die Zustimmung der ameri-
kanischen Öffentlichkeit zu einer Militärpräsenz in Europa, an der auch François
Mitterrand weiterhin festhalten wollte, abnehmen werde, wenn die USA nicht in
europäische Angelegenheit involviert würden. Dass in dieser Hinsicht die Pläne
für die Europäische Ratstagung in Dublin amerikanisches Missfallen erregten,
verdeutlicht, wie sehr die amerikanische Administration um ihren politischen
Einfluss in Europa fürchtete: Relativierend schickte Baker voraus: Er wolle den
Mitgliedstaaten der EG keineswegs absprechen, sich untereinander zu konsul-
tieren oder ohne Erlaubnis der USA eigene Positionen zu entwickeln. Sogleich zog
er aber eine Grenze: Wenn beim Europäischen Ratstreffen in Dublin Entschei-
dungen getroffen würden, die die Sicherheit beträfen, verursache dies Probleme.
Da die USA in solchen Fragen involviert sein müssten, gelte es sie grundsätzlich
im Rahmen der NATO zu treffen.²⁵⁸ Eine eigenständigere europäische Rolle wi-
dersprach der amerikanischen Vorstellung, die NATO-Mitglieder hinter einer
starken amerikanischen Führung zu versammeln.
Zwar legte Mitterrand dar, dass die transatlantischen Beziehungen auch in
seiner Vorstellung eine elementare Rolle spielten. Seine Ausführungen lassen
jedoch die kategorisch andere Verfasstheit dieser Beziehungen erkennen: Es be-
dürfe institutionalisierter Kontakte zwischen den Staats- und Regierungschefs der
EG und Verantwortlichen der NATO – zwischen einem künftigen Europa und den
Vereinigten Staaten – in Form von Verträgen und Abkommen.²⁵⁹ Damit griff er
Védrines Empfehlung auf, die transatlantischen Beziehungen auf Grundlage einer
amerikanisch-europäischen Charta zu organisieren.²⁶⁰ Dahinter stand die Vor-
stellung von Kooperation zwischen gleichberechtigten Partnern. Einerseits be-
gegnete Mitterrand auf diese Weise dem amerikanischen Misstrauen, aus Europa

 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 8. April 1990, S. 1009.


 AN, AG/5(4)/CD/74, L’Ambassadeur de France aux Etats-Unis, Rencontre de Key Largo entre
le Président Mitterrand et le Président Bush 19 Avril 1990, Compte-Rendu de la Conversation-
Déjeuner, 19. April 1990.
 AN, AG/5(4)/CD/74, L’Ambassadeur de France aux Etats-Unis, Rencontre de Key Largo entre
le Président Mitterrand et le Président Bush 19 Avril 1990, Compte-Rendu de la Conversation-
Déjeuner, 19. April 1990.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, Schema d’intervention, 10. April 1990.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 419

herausgedrängt zu werden. Andererseits machte er deutlich, dass er die USA nicht


in europäischen Entscheidungen involvieren wollte. Institutionalisierte Kontakte
zwischen einem gestärkten Westeuropa und den USA – und nicht zwischen ein-
zelnen europäischen Staaten und den USA – sollten nach wie vor bestehende
Asymmetrien im Verhältnis der transatlantischen Partnerschaft ausgleichen.
Rhetorisch geschickt stellte Mitterrand der Aussicht auf eine gestärkte NATO
die Idee gegenüber, die Rolle der KSZE aufzuwerten, indem er das Bild eines
Deutschlands als unsicherer und verletzlicher Bündnispartner bemühte und da-
mit amerikanische Perzeptionsmuster instrumentalisierte, die zuletzt vor einigen
Jahren durch die Friedensbewegung eine scheinbare Bestätigung gefunden hat-
ten: Die deutsche Öffentlichkeit sei der NATO mehrheitlich nicht gewogen. An-
gesichts der potentiellen Anfälligkeit für Demagogie könne man sich vorstellen,
dass die militärische Präsenz in künftigen Wahlen ausgespielt werden könne.
Hinsichtlich des französischen Status in der NATO zog sich der französische
Präsident auf den klassischen Dualismus zurück, die französische „spécificit铲⁶¹
und zugleich uneingeschränkte Solidarität mit den Verbündeten zu bekräftigen.
Als die amerikanischen Gesprächsteilnehmer präzisierten, was sie unter einer
politischen Rolle der NATO verstanden, wurde Mitterrands unverhohlene Zu-
rückhaltung bis Ablehnung deutlich. Er entzog sich schließlich einer definitiven
Zusage, die amerikanischen Absichten zu unterstützen. Mit einem diplomatischen
„Nous ne refuserons jamais de parler de ces choses avec vous.“²⁶² wich er aber
auch einer definitiven Absage und einem potentiellen Konflikt zu diesem Zeit-
punkt aus. Im Vorfeld des Besuchs hatte er dies mit seinen Mitarbeitern im Elysée
bereits abgesprochen: Hinsichtlich des zentralen Punktes einer französischen
Reintegration gelte es seinen Standpunkt mit aller Entschlossenheit zu verteidi-
gen. Eine zu starke Opposition in den anderen Fragen hielt er in dem Moment aber
für unnütz.²⁶³ Mit der Überwindung vergangener Feindbilder durch die neue
Entspannung und Abrüstung seit 1985 wurde auch die ursprüngliche Funktion
der NATO als Verteidigungsbündnis gegen die sowjetische Bedrohung infrage
gestellt. Einem Legitimationsverlust der NATO, da man nicht mehr wisse, wer der
Feind sei, wollte Bush mit schnellen Veränderungen des Bündnisses vorbeu-

 AN, AG/5(4)/CD/74, L’Ambassadeur de France aux Etats-Unis, Rencontre de Key Largo entre
le Président Mitterrand et le Président Bush 19 Avril 1990, Compte-Rendu de la Conversation-
Déjeuner, 19. April 1990.
 AN, AG/5(4)/CD/74, L’Ambassadeur de France aux Etats-Unis, Rencontre de Key Largo entre
le Président Mitterrand et le Président Bush 19 Avril 1990, Compte-Rendu de la Conversation-
Déjeuner, 19. April 1990.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 9. April 1990, S. 1010.
420 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

gen.²⁶⁴ Das Vakuum, das von der équipe Mitterrand als Chance erkannt wurde, die
transatlantischen Beziehungen neu zu verhandeln, wurde also in Washington als
Gefahr bewertet, der es durch schnelle Anpassungsleistungen vorzubeugen galt.
Bush ging anschließend in die Offensive. François Mitterrand, der einen
NATO-Gipfel frühestens für Ende 1990 veranschlagte,²⁶⁵ wurde durch den ame-
rikanischen Präsidenten am 3. Mai 1990 über dessen Absicht informiert, einen
solchen Gipfel Ende Juni oder Anfang Juli 1990 abhalten zu wollen. Dieser
rechtfertigte seine Entscheidung damit, die Handlungsfähigkeit der Allianz sowie
ihre Bereitschaft zu demonstrieren, sich den politischen und militärischen Ver-
änderungen in Europa anzupassen.²⁶⁶ Diesen amerikanischen Absichten zur
Umgestaltung der NATO-Aufgaben spielten die Verhandlungen um die deutsche
Wiedervereinigung in die Karten, die sich zunehmend auf die Frage einer künf-
tigen Bündniszugehörigkeit Deutschlands konzentrierten. Als Gorbatschow Ende
Mai seinen grundsätzlichen Widerstand gegen eine deutsche NATO-Mitglied-
schaft aufgab, wurde eine politischere Ausrichtung der NATO als Instrument ge-
sehen, der sowjetischen Seite durch eine Abschwächung der militärischen Auf-
gaben der Allianz entgegenzukommen.²⁶⁷ Weder war die Konstituierung einer
europäischen Verteidigung so weit gediehen, noch hatte zu diesem Zeitpunkt in
Europa eine Auseinandersetzung über die künftige europäische Rolle im Bündnis
stattgefunden. Die Verzögerungstaktik von Védrine hatte der Überrumplungs-
taktik von Bush nicht viel entgegenzustellen. Mitterrands Protest gegen den
amerikanischen Entwurf für eine Abschlusserklärung im Vorfeld des Gipfels, für
die die amerikanische Administration den Verbündeten ohnehin nur wenige Tage
Reaktionszeit zugestand, verhallte unbeachtet.²⁶⁸
Der Präsident erhielt unterschiedliche Handlungsempfehlungen aus seinem
Umfeld. Während Admiral Lanxade trotz seiner Desillusionierung angesichts der
amerikanischen Erwartungen Mitterrand von einer zu starken Opposition abriet,
hielt Verteidigungsminister Chevènement es für dringend notwendig, sich von der
Erklärung zu distanzieren. Aus seiner Sicht war der Interessengegensatz zu groß.

 François Mitterrand quittierte dies mit einem trockenen: „C’est en effet un problème de ne
pas avoir d’ennemi.“ AN, AG/5(4)/CD/74, L’Ambassadeur de France aux Etats-Unis, Rencontre de
Key Largo entre le Président Mitterrand et le Président Bush 19 Avril 1990, Compte-Rendu de la
Conversation-Déjeuner, 19. April 1990.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 26. April 1990, S. 1029.
 AN, AG/5(4)/CDM/35, Antenne spéciale de transmission de l’Elysée, Weißes Haus an Elysée,
Brief von Bush an Mitterrand, 3. Mai 1990.
 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 250.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 29. Juni 1990, S. 1077; Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War
and German Unification, S. 279 f.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 421

Nicht nur werde durch die Erklärung die integrierte Kommandostruktur unter
amerikanischer Führung gestärkt. Die neue Doktrin, die atomare Waffen zu
„Waffen des letzten Rückgriffs“ erklärte, sah er in offenem Widerspruch zur
französischen Abschreckungsdoktrin.²⁶⁹ Tatsächlich waren sowohl Mitterrand als
auch seine Mitarbeiter nicht darauf vorbereitet, zu diesem Zeitpunkt in die lange
erwarteten und vorbereiteten Neuverhandlungen der transatlantischen Bezie-
hungen zu treten. Wenn man so möchte, war dies gewissermaßen eine Nachwehe
der Tatsache, dass Mitterrands Konzept zur Überwindung der europäischen und
deutschen Teilung durch den Mauerfall und die anschließende Beschleunigung
der Entwicklung auf den Kopf gestellt worden war. Zwar hatte die équipe Mitter-
rand sich in den ersten Wochen des Jahres 1990 mit der neuen Realität abge-
funden und durch ein intensiviertes Engagement im europäischen Integrations-
prozess an die neue Geschwindigkeit angepasst. Dass sich die Frage nach einer
künftigen Rolle der NATO stellte, bevor die europäischen Überlegungen dazu weit
entwickelt waren, ergab sich aus dem beschleunigten Prozess der deutschen
Vereinigung. Da das Hauptinteresse aller NATO-Partner zu diesem Zeitpunkt der
sowjetischen Zustimmung zur deutschen NATO-Mitgliedschaft galt, kam der
Umbau der NATO nach den Vorstellungen der équipe Mitterrand zu früh.
Während des Londoner NATO-Gipfels am 5. und 6. Juli 1990 blieb Mitterrand
der Verzögerungstaktik dennoch treu und versuchte zweigleisig zu fahren: Er
unterstützte es prinzipiell, der Sowjetunion ein Signal zu senden, dass die At-
lantische Allianz im Begriff war, sich zu wandeln. Für ihn stellte dies jedoch als
Reaktion auf die aktuellen politischen Umstände lediglich eine Etappe dar.
Grundsätzlich wollte er die Möglichkeit zu weiteren Veränderungen innerhalb der
Allianz in der Zukunft offenhalten. Bereits beim ministeriellen Treffen der NATO in
Turnberry am 7. und 8. Juni 1990 war die französische Delegation mit dem Ziel
angetreten, die transatlantischen Beziehungen von Grund auf neu zu verhandeln,
wie Mitterrand und Dumas es Bush und Baker in Key Largo dargelegt hatten.²⁷⁰ In
den Verhandlungen der Außenminister um die Abschlusserklärung von London
zeigte die amerikanische Delegation allerdings keinerlei Kompromissbereitschaft,
und François Mitterrand fand bei seinen europäischen Verbündeten keine Un-
terstützung, die europäische Rolle im Bündnis aufzuwerten. Die Ergebnisse des
Londoner Gipfels stellten insofern eine vorläufige Niederlage für François Mitt-
errand dar, weil er sie als Negierung einer künftigen europäischen Verteidi-
gungsstruktur wertete. Er distanzierte sich daraufhin von allen Aspekten der
Abschlusserklärung, die das integrierte Kommando betrafen. Darüber hinaus

 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 257 f.
 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 256.
422 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

wurde eine institutionelle Stärkung der KSZE angekündigt, was den geplanten
KSZE-Gipfel in Paris Ende 1990 an Substanz verlieren ließ.²⁷¹
Die Isolierung beim NATO-Gipfel hatte François Mitterrand nicht daran ge-
hindert, nach einer wiedergefundenen Dynamik in seiner Partnerschaft mit Hel-
mut Kohl weiter an den Voraussetzungen für eine künftige Neuverhandlung der
transatlantischen Beziehungen zu arbeiten. Die Erfahrungen der Beschleunigung
im Prozess der deutschen Wiedervereinigung zu Beginn 1990 führten bei Mitter-
rands Beratern dazu, sich beim Präsidenten verstärkt für die Schaffung einer
politischen Union Europas und die Stärkung einer gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik einzusetzen: Im Elysée wurde der Bewusstseinswandel gewis-
sermaßen angestoßen, nachdem sich Kommissionspräsident Jacques Delors
schnell an die Umstände angepasst und am 17. Januar 1990 eine EG-Mitgliedschaft
der DDR öffentlich in Erwägung gezogen hatte. Gleichfalls revitalisierte er die
Debatten um ein politisches Europa, indem er dafür plädierte, die WWU durch
einen Prozess der institutionellen Stärkung der Konstruktion zu begleiten. Eli-
sabeth Guigou folgte zwar nicht Delors Vorschlag einer Föderation, dennoch
empfahl sie Mitterrand nun eine schnelle Initiative für eine politische Union
Europas. Die neue Dringlichkeit erklärt sich erstens aus der Wahrnehmung eines
beschränkten Zeitfensters, in dem die BRD als geteilter Staat noch auf Europa
angewiesen sein werde. Wären beide deutschen Staaten erst wiedervereint, er-
wartete Guigou, dass der deutsche Handlungsspielraum gegenüber dem der an-
deren Europäer wachse.²⁷² Seine Berater drängten den Präsidenten aufgrund
seiner Zurückhaltung fast zu einer gemeinsamen Initiative mit Helmut Kohl. Am
20. März schlug Guigou die Erarbeitung eines Entwurfs mit dem Bundeskanzler
vor; Hubert Védrine regte an, den europäischen Staaten eine gemeinsame Außen-
und Sicherheitspolitik vorzuschlagen.²⁷³ Zweitens führten auch die Wahrneh-
mungen des amerikanischen Neuen Atlantizismus zu einem langwierigen Be-
wusstseinswandel bei Mitterrands Beratern im Elysée. In den Ambitionen, die
NATO politisch auszurichten, las Jacques Attali eine Stoßrichtung gegen eine
Stärkung Europas.²⁷⁴ Da Mitterrand nicht auf das forsche Auftreten der Bush-
Administration vorbereitet gewesen war, sondern erst mit einem gestärkten und
geeinten Europa in die Neuverhandlungen der transatlantischen Beziehungen
hatte eintreten wollen, folgte nach dem NATO-Gipfel eine Desillusionierung, die
Mitterrands équipe produktiv umleitete, indem sie sich nun für die Umsetzung

 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 281, 299.
 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 184 f.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 20. März 1990, S. 994, 23. März 1990, S. 995.
 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 8. April 1990, S. 1009.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 423

einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik als integrale Säule einer po-
litischen Union engagierte, die in der Zukunft womöglich auf den Bereich der
Verteidigung ausgedehnt werden könnte.²⁷⁵
Eine neue Dynamik im europäischen Integrationsprozess profitierte auch
davon, dass die deutsch-französischen Beziehungen nach den Unstimmigkeiten
und Missverständnissen der vergangenen Monate im Frühjahr 1990 zu ihrer alten
Vertrautheit zurückfanden. Dies lag daran, dass sich der Elysée in den ersten
Wochen des Jahres mit der Realität abfand, dass die Wiedervereinigung schneller
verhandelt und erreicht werden würde, als es den ursprünglichen Erwartungen
von Mitterrand und dessen Beratern entsprochen hatte. Helmut Kohl hatte sei-
nerseits aus den Erfahrungen Ende 1989 die Lehre gezogen, sich stärker für Eu-
ropa zu engagieren, um das französische Misstrauen gegenüber seinem euro-
päischen Engagement zu zerstreuen. Auch den anderen Ländern in Europa wollte
er durch eine stärkere Einbindung Deutschlands in die europäische Konstruktion
Ängste vor einer Rückkehr zu deutscher Hegemonie und Revanchismus nehmen.
Sowohl Kohl als auch Mitterrand bemühten sich daher in den ersten Wochen 1990
um eine Rückgewinnung des gegenseitigen Vertrauens und eine Wiederanknüp-
fung an die alte Vertrautheit, indem sie sich gegenseitig ihr europäisches Enga-
gement beziehungsweise das eigene Vertrauen in das europäische Engagement
des anderen und die Bedeutung der deutsch-französischen Partnerschaft versi-
cherten.²⁷⁶ Ihr Gespräch am 15. Februar 1990 wirkt durch die gegenseitige Ver-
gewisserung mithilfe von Freundschafts- und Vertrauensrhetorik fast wie eine Art
klärendes Gespräch der vergangenen Missverständnisse, nach dem sich in den
folgenden Wochen eine neue Dynamik in der deutsch-französischen Zusam-
menarbeit in Hinblick auf den europäischen Integrationsprozess entfalten
konnte.²⁷⁷ Da dazu bereits Forschungsliteratur vorliegt und die Aspekte zum Teil
über den Betrachtungszeitraum und Gegenstand dieser Arbeit hinausführen,
sollen die einzelnen Schritte in diesem Zusammenhang nicht näher untersucht
werden.²⁷⁸ Vielmehr sollen am Ende die Ergebnisse des Jahres 1990 diskutiert und
bewertet werden.

 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 313.
 Schreiben des Staatspräsidenten Mitterrand an Bundeskanzler Kohl, Paris, 17. Januar 1990;
Schreiben des Bundeskanzlers Kohl an Staatspräsident Mitterrand, Bonn, 25. Januar 1990; Tele-
fongespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, 5. Februar 1990. In: DzD,
Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 138, Dok. 147, Dok. 160, S. 694, 718, 757 f.
 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Paris, 15. Februar 1990.
In: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit, Dok. 187, S. 845 f.
 Siehe dazu: Loth, Europas Einigung, S. 297– 309.
424 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

Roland Dumas und François Mitterrand hatten gehofft, das Treffen der 35
Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedstaaten der KSZE würde zum bedeu-
tendsten Ereignis des Jahres avancieren.²⁷⁹ Die Idee eines KSZE-Gipfels stand
Ende 1989 vor allem im Kontext, einen internationalen Rahmen für die deutsche
Wiedervereinigung zu finden, was sich angesichts des beschleunigten Prozesses
bald als obsolet erwies. Letztlich lief es also darauf hinaus, dass beim Gipfel zum
Ende des Jahres die deutsche Einheit lediglich anerkannt und bestätigt werden
konnte.²⁸⁰ Im Dezember 1989 standen zwei verschiedene mögliche Ausrichtung
für einen Gipfel zur Disposition. Während Gorbatschow sich für einen Gipfel aller
35 KSZE-Länder einsetzte, regte Bush – obwohl er dies nicht grundsätzlich ab-
lehnte – einen Gipfel der 23 Länder an, die in Wien über die konventionelle Ab-
rüstung verhandelten.²⁸¹ Nachdem Roland Dumas am 13. April 1990 offiziell die
Initiative an seine Amtskollegen lanciert hatte,²⁸² regte Eduard Schewardnadse
eine Institutionalisierung von Gipfeltreffen der KSZE durch regelmäßige Treffen
auf dem Niveau von Ministern und Experten an. Zwar fand der Vorschlag durch
den stellvertretenden Leiter der Abteilung Zentraleuropa im Quai d’Orsay Unter-
stützung für den Zeitraum zwischen dem Pariser Gipfel und dem 1992 in Helsinki
stattfindenden KSZE-Gipfel. Gegen zu starke Strukturen nach dem Beispiel der
EPZ im Rahmen der EG sprach er sich hingegen aus.²⁸³ Nachdem die Londoner
NATO-Erklärung einer Stärkung der KSZE durch jährliche Gipfeltreffen, sowie
einer Institutionalisierung durch ein Sekretariat, Zentren zur Wahlbeobachtung
und Konfliktverhütung und einer parlamentarischen Versammlung zugestimmt
hatte,²⁸⁴ argwöhnte die équipe Mitterrand, dass der NATO-Gipfel alle wesentlichen
Beschlüsse des Pariser Gipfels vorweggenommen habe, was ihm nach den Vor-
stellungen von Dumas und Mitterrand Schlagkraft hätte verleihen sollen.
Mit der Unterzeichnung des KSE-Vertrags und der Charta von Paris für ein
neues Europa fand der KSZE-Gipfel vom 19. bis 21. November trotzdem das er-

 Attali, Verbatim 1986 – 1991, 31. Januar 1990, S. 948; Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit
Staatspräsident Mitterrand, Paris, 15. Februar 1990. In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit,
Dok. 187, S. 852.
 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 184 f.
 AN, AG/5(4)/CD/412, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, La sécurité de l’Europe après Malte et la réunion de l’OTAN,
6. Dezember 1989.
 ADMAE 1935-INVA 5877, MAE, TD Diplomatie 7409, Proposition française d’accueillir à Paris
une conference des chefs d’état et de gouvernement des pays membres de la CSCE en 1990,
13. April 1990.
 ADMAE 1935-INVA 5877, MAE, Direction d’Europe, Le Directeur-Adjoint, Europe Orientale et
CSCE, Note, Lettre de M. Chevardnadze au Ministre d’Etat, 31. Mai 1990.
 Loth, Europas Einigung, S. 268.
Zwischenbilanz 425

hoffte Echo in der Öffentlichkeit. Das Zeitalter der Konfrontation wurde durch ein
„neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“²⁸⁵ für überwunden
erklärt, wodurch das faktisch bereits offensichtliche Ende des Systems von Jalta
einen offiziellen Status fand. Dadurch waren Ende 1990 zwar die Grundlagen
eines neuen Zeitalters nach dem Kalten Krieg gelegt. Aber weder war eine neue
institutionelle Struktur entstanden, noch war der Status, den Europa in einem
künftigen Gebilde einnehmen würde, geklärt. Insofern stellte das Jahr 1989 zwar
eine – um mit Martin Sabrow zu sprechen – „zeitgenössische […] Erfahrungs- oder
Ordnungszäsur“²⁸⁶ dar; retrospektiv erweist sich die Wende von den 1980er zu den
1990er Jahren in den internationalen Beziehungen aber eher als Umbruchphase.
Es wurden Prozesse in Gang gesetzt, durch die die Aushandlung neuer Bezie-
hungsstrukturen in die 1990er Jahren überführt wurde. Mit dem Ersten Golfkrieg
oder den Auflösungserscheinungen der Sowjetunion zeichneten sich beispiels-
weise bereits Entwicklungen ab, die sich erst in den 1990er Jahren entfalteten.
Gleichwohl war durch die Abrüstung und Vertrauensbildung zwischen Ost und
West die Gefahr einer ständigen Eskalation eingedämmt und das Fundament einer
neuen Staatenordnung geschaffen worden, deren Design Gegenstand von Ent-
wicklungen und Aushandlungsprozessen in den 1990er Jahren war.

Zwischenbilanz

Das Jahr 1990 stellt ein Scharnierjahr im Übergang von einer alten Ordnung zu
einer neuen Unübersichtlichkeit und Ungewissheit dar. Prinzipiell wurde dies von
François Mitterrand nicht ausschließlich als Bedrohung, sondern auch als Chance
gesehen, der gleichwohl Risiken inhärent waren. Mit den französischen Détente-
Vorstellungen verfügte der Elysée über ein Konzept zur Überwindung der euro-
päischen und deutschen Teilung, das durch die Entwicklungen 1989 allerdings
vor die Herausforderung einer schnellen Adaption an einen sich wandelnden
Kontext gestellt wurde. Die Erfahrung der Überraschung durch Mauerfall und
Kohls Zehn-Punkte-Plan bewältigten Mitterrands Berater, indem sie ihre politi-
sche Praxis anpassten und weniger auf politische Planung in der Gestaltung einer
neuen Ordnung setzten als vielmehr auf eine strategische Vagheit und Anpas-
sungsfähigkeit ihrer Initiativen. Im Grunde hatte François Mitterrand seit dem

 Erklärung des KSZE-Treffens der Staats- und Regierungschefs in Paris vom 21. November
1990. Charta von Paris für ein neues Europa. In: Europa Archiv [EA] 4/1990. S. D656.
 Sabrow, Martin: Zäsuren in der Zeitgeschichte. Version 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte,
03.06. 2013. S. 1– 14. http://docupedia.de/zg/sabrow_zaesuren_v1_de_2013 (29.03. 2017).
426 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

Beginn der 1980er Jahre einen Umbruch in der internationalen Staatengemein-


schaft prognostiziert, wiewohl er diesen auch erst zur Jahrtausendwende erwartet
hatte. Drei grundlegende Ziele, die Mitterrands Außenpolitik de facto auch bereits
in den Vorjahren bestimmt hatten, blieben in den folgenden Jahren virulent:²⁸⁷ Die
Fortsetzung des europäischen Integrationsprozesses durch die Schaffung einer
Europäischen Union blieb die wesentliche Voraussetzung für das zweite Ziel:
Weiterhin wurde eine langfristige Umstrukturierung der transatlantischen Be-
ziehungen angestrebt, in deren Verhandlungen Europa als gestärkter Pol eintreten
sollte. Das Risiko, dass sich die Amerikaner langfristig aus Europa zurückziehen
würden, blieb in Mitterrands Erwartung bestehen. Diese motivierte ihn zu einem
gesteigerten Engagement, Europa als drittes Ordnungsmodell aufzubauen und
auch die Dimensionen einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik mit
verteidigungspolitischer Perspektive zu stärken. Das dritte Ziel umfasste die
Umstrukturierung des europäischen Kontinents, die seit 1988 zum integralen Teil
von Mitterrands Außenpolitik geworden war. Hatte 1990 noch die Bewältigung
anderer Herausforderungen im Vordergrund gestanden, engagierte er sich ab 1991
verstärkt für seine Idee einer Europäischen Konföderation, die allerdings letztlich
aufgrund verschiedener Ursachen nicht realisiert werden konnte, die über den
Untersuchungsgegenstand hinausführen und hier nicht weiter aufgearbeitet
werden.²⁸⁸ Dass die Umsetzung der Konföderation als Rahmen für ein evolutio-
näres Zusammenwachsen von Ost- und Westeuropa scheiterte, stellte in dieser
Hinsicht tatsächlich eine Niederlage dar, deren Verantwortung sich jedoch nicht
ausschließlich in Mitterrands Politik finden lässt.²⁸⁹ Letztlich zog der französische
Präsident gegenüber amerikanischen Ordnungsvorstellungen den Kürzeren: Der
Forschheit der Bush-Administration hatte Mitterrand auch deshalb wenig entge-
genzustellen, da erstens die Verwirklichung europäischer Unabhängigkeit nicht
so weit vorangekommen war, wie es Verhandlungen auf Augenhöhe erfordert
hätten. Zweitens fand er beim Londoner NATO-Gipfel bei seinen europäischen
Partnern dafür keine Unterstützung. Insbesondere die deutsche Bundesregierung
setzte sich mit der Bush-Administration im Prozess der deutschen Vereinigung in
gutes Einvernehmen.
Die Untersuchungen dieses Kapitels haben ergeben, dass allen drei außen-
politischen Zielen ein wesentliches Grundverständnis internationaler Beziehun-
gen gemeinsam war: Die Abkehr von Rivalität zugunsten von Kooperation zwi-
schen gleichberechtigten Partnern. Die Stabilität des durch Vertrauen

 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 311.
 Siehe dazu: Bozo, Failure; Grachev, Common European home.
 Bozo bezeichnete es als Mitterrands „most severe failure at the end of the cold war.“ Siehe:
Bozo, Failure, S. 393.
Zwischenbilanz 427

strukturierten Beziehungsnetzes sollte zum einen durch die bestehenden Insti-


tutionen und Organisationen wie KSZE, EG, NATO, aber auch einer neu zu
schaffenden Konföderation abgesichert werden. Zum anderen beruhte diese Vor-
stellung auf einem Solidaritätsprinzip. Die Demonstration der Übernahme von
Verantwortung zielte darauf ab, auf der Gegenseite durch Solidaritätserfahrungen
eine ähnliche Bereitschaft und Erwartung zu generieren. Durch eine Bündelung
von ökonomischem, verteidigungspolitischem, kommerziellem, industriellem,
finanziellem und technologischem Potential sollten Schwachstellen der Partner
ausgeglichen und überwunden werden. In diesem Verständnis zielten Asymme-
trien nicht auf Dominanz gegenüber anderen, sondern darauf, Verantwortung zu
übernehmen und das gemeinsame Potential zu verbessern. Die Bereitschaft,
Verantwortung zu übernehmen, basierte in diesem Fall auf der Erwartung,
ebenfalls Unterstützung zu erfahren, wenn dies nötig sein sollte. Dieses grund-
legende Vertrauen, wollte François Mitterrand in Form von Kooperationsstruktu-
ren festigen und westliche Solidaritätsbereitschaft mit den Ländern des Ostens
demonstrieren.
Bushs und Bakers Neuer Atlantizismus dokumentiert, dass nicht alle Akteure
ihren Vorstellungen internationaler Beziehungen ein Verständnis egalitärer, auf
Solidarität basierender Beziehungen zugrunde legten. Der Gipfel der Atlantischen
Allianz in London zeigte zudem die Grenzen von Mitterrands Handlungsspiel-
raum, da seine Vorstellung auch bei den europäischen Partnern zu diesem Zeit-
punkt wenig Unterstützung fand, sodass sich zumindest in den transatlantischen
Beziehungen das Verhältnis von Patron und Klient vorerst weiter fortsetzte.
Mitterrands Erwartungen blieben damit unvollendet. Inwiefern dies auch in den
1990er Jahren weiter Bestand haben würde, gilt es durch weitere Untersuchungen
zu klären. 1990 stellt in diesem Kontext nur den Übergang zur Entwicklung neuer
Staatenbeziehungen dar. Mit der sich auflösenden Sowjetunion, dem Zerfall Ju-
goslawiens, bewaffneten Konflikten im Nahen Osten sowie aufstrebenden jungen
Wirtschaftsnationen in Asien und Lateinamerika galt es, ein neues Gleichgewicht
erst zu finden. Mag es auch nicht gelungen sein, eine transatlantische Partner-
schaft auf Augenhöhe zu erreichen, so waren doch wesentliche Voraussetzungen
dafür geschaffen worden, dass die Europäer in den 1990er Jahren mehr Verant-
wortung übernehmen konnten und würden. Durch die Bank für Wiederaufbau und
Entwicklung oder in Form von Assoziierungsabkommen zwischen der EG/EU und
zentral- und osteuropäischen Staaten übernahmen sie eine Mitverantwortung für
den Wiederaufbau und Entwicklungshilfen für Osteuropa sowie den Aufbau
neuer Beziehungsstrukturen. Mit wachsendem Selbstbewusstsein der Europäer
trat die EG bei den politischen Umwälzungen Ende der 1980er Jahre in ver-
428 5 Das Ringen um eine neue Ordnung

schiedener Weise als Akteur in Erscheinung und bestätigte damit Trends seit den
1970er Jahren.²⁹⁰
Für historiographische Studien zum internationalen Umbruch Ende der
1980er und Beginn der 1990er Jahre bietet es sich daher an, das Augenmerk auf
die Vorstellungen individueller Akteure zu legen und zu fragen, welche Res-
sourcen sie jeweils für eine Neustrukturierung nutzten. Darüber lassen sich
Konflikte und Missverständnisse in den Aushandlungsprozessen der 1990er Jahre
begreifen. Durch die Rivalität unterschiedlicher Zukunftserwartungen und Ord-
nungsvorstellungen erklären sich auch gewisse „Unvollkommenheiten der Frie-
densordnung“²⁹¹. Während Mitterrand und Gorbatschow zwar beide einen Akzent
auf gemeinsame Sicherheit durch Kooperation und Vertrauen, auf Zusammenar-
beit und Partnerschaft legten, hatte vor allem die Bush-Administration ein sehr
viel realpolitischeres Verständnis internationaler Beziehungen, das auf Macht-
interessen beruhte.
Insgesamt zeigen die Untersuchungen, dass sich der Bewusstseinswandel
vom Ende der Konfrontation und einer eigenverantwortlichen Rolle der Europäer
auf der internationalen Bühne sehr viel langsamer vollzog, als die Ereignisse
politische Gewissheiten infrage gestellt hatten. Dass Valentin Falin den Ausfall
der DDR und das Ende des Warschauer Paktes mit der Zerstörung der sowjeti-
schen Verteidigungsinfrastruktur gleichsetzte,²⁹² demonstriert, dass einstige
Feindbilder nicht etwa neuem Vertrauen gewichen waren. Indem eine neue
Friedensordnung unvollendet blieb, war es nicht gelungen, initiiertes Vertrauen
der Jahre 1985 bis 1990, das sich vor allem auf interpersonaler oberster politischer
Ebene zu entwickeln begonnen hatte, zu institutionalisieren oder auf alle ge-
sellschaftlichen Ebenen nachhaltig durchdringen zu lassen. Dafür war nicht
hinreichend Zeit geblieben, bis der Ostblock als tragende Säule des sowjetischen
Sicherheitsgefühls und Selbstbewusstseins weggebrochen war. Darüber hinaus
haben die Analysen gezeigt, wie selbst über Jahre gebildetes, individuelles Ver-
trauen, wie das zwischen Helmut Kohl und François Mitterrand, anfällig für
Störungen war. Vertrauen im politischen Kontext umfasst also viele Dimensionen
wie Vertrauen auf Regierungsebene, politische Nähe und gesellschaftlichen
Austausch. Insofern basiert zwischenstaatliches Vertrauen – sofern man über-
haupt in einer solch absoluten Kategorie sprechen kann – immer auf unter-
schiedlichen Ebenen, die sich wechselseitig stützen und bedingen.²⁹³ Deutlich

 Vgl. dazu unter anderem Romano, Détente in Europe; Romano, Pan-European Cooperation.
 Loth, Europas Einigung, S. 277.
 Falin, Valentin: Politische Erinnerungen. München 1993. S. 499.
 Vgl. Bluhm, Gesa: Vertrauensarbeit. Deutsch-französische Beziehungen nach 1945. In: Ver-
trauen. Historische Annäherungen. Hrsg. von Frevert, Ute. Göttingen 2003. S. 385.
Zwischenbilanz 429

wurde dies am Beispiel deutsch-französischen Misstrauens im Jahr 1989: Kohls


Argwohn gegenüber einer mangelnden französischen Unterstützung im Wieder-
vereinigungsprozess speiste sich aus der medialen Berichterstattung und wahr-
genommenem Misstrauen hinsichtlich seines europäischen Engagements. Es
handelte sich insofern um einen Prozess wachsenden Misstrauens zwischen
Mitterrand und Kohl, der sich über mehrere Monate erstreckte und in gewisser
Weise von der unteren auf die höhere Ebene übergriff. Indem man Zukunftser-
wartungen wie Vertrauen, Misstrauen oder auch Angst mit ihren historischen
Dimensionen individueller wie kollektiver Erfahrung zu Analysekategorien ge-
schichtswissenschaftlicher Studien macht, gelingt es, auch jene Urteile im Kon-
text der deutschen Wiedervereinigung zu revidieren, die im Sinne der realisti-
schen Schule Macht zu einer Analysekategorie erheben.
Bilanz und Ausblick
Die Frage nach der Rolle von Angst und Vertrauen in den internationalen Be-
ziehungen ist mit Blick auf aktuelle politische Entwicklungen gleichermaßen
aktuell wie relevant. Nicht selten hat man in den vergangenen Jahren Diskus-
sionen um den Ausbruch eines neuen Kalten Krieges vernommen.Wenn sich diese
Arbeit einer solchen Analogie zwar grundsätzlich verweigert, verleiht sie doch
dem Bedürfnis Ausdruck, Konfrontationen der Gegenwart zu verstehen. Mit der
Analyse von Emotionen in den internationalen Beziehungen leistet diese Studie
dazu einen Beitrag und eröffnet zugleich Perspektiven, wie es historischen Ak-
teuren gelungen ist, Auswege aus Konfrontationen zu finden.
Der methodische Zugriff über das „Perzeptionsparadigma“¹ und Emotionen
erwies sich als äußerst fruchtbar. So konnten nicht nur neue Erkenntnisse über
die französische Außen- und Sicherheitspolitik in den 1980er Jahren und den
historischen Akteur François Mitterrand gewonnen werden. Aus den Beispielen
konnte wiederum auch ein Ertrag für eine Weiterentwicklung der methodischen
Konzepte abgeleitet werden.
Als historische Dimension von François Mitterrands politischen Handlungs-
impulsen während seiner Präsidentschaft wurde im ersten Kapitel nach seinen
Erfahrungen gefragt sowie nach den Vorstellungen und Konzeptionen, die daraus
entwickelt wurden. Er verfügte bei seinem Amtsantritt weder über ein konkretes
außenpolitisches Programm noch über spezifisches Fachwissen. Stattdessen
gründete sein Handeln auf gewissen Grundüberzeugungen zu internationalen
Beziehungen, politischen Kompetenzen sowie dem Wissen und den Kompetenzen
anderer politischer Akteure, die er in seine équipe Mitterrand integrierte. Sein
Konzept beruhte also nicht auf politischer Planung oder ideologischen Dogmen,
sondern einer Strategie, die ihn unter wechselnden Bedingungen handlungsfähig
machte. Mitterrand erscheint dadurch grundsätzlich als ein Pragmatiker, der in
der Lage war, sich an politische Rahmenbedingungen anzupassen.
Seine persönliche und politische Sozialisation erwies sich als konstitutiv für
seine Zukunftserwartungen. Die Erfahrungen von Krieg und Résistance lagen als
historische Dimension eines konstanten Misstrauens, Mitterrands schlechtem
Menschenbild zugrunde. Sie waren außerdem elementar für seine Vorstellungen
von Europa. Europa war für François Mitterrand eben kein „Mittel, die Wirtschaft
und den Rang […Frankreichs] auf der Weltbühne zu stärken – und das Macht-
gleichgewicht zum deutschen Nachbarn zu wahren.“² Überzeugt von einer eu-

 Niedhart, Selektive Wahrnehmung.


 Praus, Ende, S. 126.

https://doi.org/10.1515/9783110597417-008
Bilanz und Ausblick 431

ropäischen Idee mehr als von europäischen Institutionen standen hinter seiner
Vorstellung die vier Antriebskräfte europäischer Integration:³ Friedenssicherung,
Einhegung der deutschen Frage, Sicherung von Wohlstand und Selbstbehaup-
tung gegenüber den Supermächten. Seine Vorstellungen beruhten außerdem auf
einem Solidaritätsprinzip und insofern auf egalitären anstatt vertikalen Bezie-
hungsstrukturen. Politische Ordnungsvorstellungen der Vergangenheit – von Ri-
chard Coudenhove-Kalergi und Aristide Briand über Léon Blum und Charles de
Gaulle – flossen als historische Dimension in Mitterrands Zukunftsvorstellungen
ein. Obwohl die europäischen Institutionen nicht seiner Idee von Europa ent-
sprachen, akzeptierte Mitterrand diese doch als politische Realität.
Erfahrungen in den ersten Amtsjahren führten zu einer Anpassung seiner
Vorstellung. Um mit Koselleck zu sprechen, stiftete die Erfahrung der Enttäu-
schung bei Mitterrand neue Erwartungen. Ein entscheidendes Moment stellten
hier die Konflikte mit der amerikanischen Administration dar. Durch sie wurde die
équipe Mitterrand gewahr, dass die US-Administration kategorisch andere Vor-
stellungen von Partnerschaft hegte. Anstatt einem Solidaritätsprinzip folgten
diese einem Loyalitätsprinzip und speisten sich aus Asymmetrien zwischen Eu-
ropäern und amerikanischem Patron. Im Kontext der Ost-West-Beziehungen
nahm François Mitterrand 1982 zwar noch keine Vermittlungsrolle zwischen
Moskau und Washington ein, plädierte gleichwohl aber für einen amerikanisch-
sowjetischen Kompromiss, um in der Frage der Euroraketen zu einem Verhand-
lungsergebnis vorzudringen. Keineswegs sprach er sich einseitig „für die Statio-
nierung amerikanischer Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden aus“⁴, son-
dern präferierte ein globalstrategisches Gleichgewicht durch Verhandlungen.
Die politischen Rahmenbedingungen 1981 setzten die équipe Mitterrand ei-
nem Dilemma aus. Solange Europa noch keine politische und verteidigungspo-
litische Eigenständigkeit erlangt hatte, lief Mitterrand mit einer Stärkung des
Bündniszusammenhalts Gefahr, die französische Unabhängigkeit aufs Spiel zu
setzen oder andernfalls durch die sowjetische Strategie instrumentalisiert zu
werden, die das westliche Bündnis zu spalten versuchte. Eine Stärkung der At-
lantischen Allianz lief zudem seinen langfristigen Zukunftsaussichten zuwider,
die europäische Teilung und die militärischen Bündnisse zu überwinden. Sein
politischer Handlungsspielraum schien durch das Misstrauen, das die Verbün-
deten dem sozialistischen Präsidenten entgegenbrachten, zusätzlich einge-
schränkt. Einen Ausweg aus diesem Dilemma fand François Mitterrand in der
Inszenierung eines politischen Kurswechsels, die ihm den Ruf eines „Atlantikers“

 Vgl. Loth, Beiträge.


 Lappenküper, Mitterrand und Deutschland, S. 350.
432 Bilanz und Ausblick

eintrug. Zugleich wurde dadurch ein neues Dilemma geschaffen, da die Vertrau-
ensbildung bei den Verbündeten Misstrauen bei der sowjetischen Führung zur
Folge hatte. Auf diese Weise gelang es Mitterrand aber immerhin, seine diplo-
matische Unabhängigkeit zu wahren, die er 1984 medienwirksam inszenierte und
bei seiner Vermittlerrolle zwischen Washington und Moskau ab 1984 als politi-
sche Ressource nutzte.
1984 lässt sich aus verschiedenen Gründen als Scharnierjahr begreifen, in
dem sowohl im europäischen Kontext als auch in den Ost-West-Beziehungen
versucht wurde, Perzeptionen und Blockaden zu überwinden. Die Bildung von
Vertrauen sollte sowohl im europäischen Integrationsprozess als auch in der
Entspannungspolitik eine neue Dynamik entfachen. Zuvor gebildetes Vertrauen in
den deutsch-französischen Beziehungen stellte für François Mitterrand eine po-
litische Ressource dar, um gemeinsam mit Helmut Kohl eine relance européenne
anzustoßen. Auch Angst nutzte der Präsident gelegentlich als Ressource, wenn er
durch seine Gefühlspolitik und imaginierte Zukünfte Bedrohungsszenarien ent-
warf. Dies war unter anderem im März 1983 der Fall, als durch eine Inszenierung
die Drohung im Raum stand, Frankreich könne das Europäische Währungssystem
verlassen. Auch Margaret Thatcher wurde im Vorfeld des Ratstreffens 1984 in
Fontainebleau mit dieser Strategie unter Druck gesetzt. Zweitens unterstützte
Mitterrand als unabhängige Partei die amerikanische und sowjetische Führung
dabei, sich aus ihrer Perspektivität zu befreien, und erleichterte ihnen auf diese
Weise ein gegenseitiges Verständnis als Bedrohungsperzeptionen einen Ent-
spannungsprozess verstellten. Sowohl dem Kreml als auch der amerikanischen
Administration eröffnete er neue Handlungsspielräume. Er wurde so nicht nur
Akteur der Ost-West-Beziehungen, sondern auch zum Mitinitiator der Neuen Dé-
tente.
Die Rollen von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow bei der Aushand-
lung des INF-Vertrags lassen sich erheblich relativieren. Durch seine Strategie
Empathie zweiter Ordnung half François Mitterrand dabei, Bedrohungsperzep-
tionen aufzubrechen und den Entspannungsprozess am Laufen zu halten. Zwei
Momente wirkten sich als Motoren der deutsch-französischen Kooperation mit
europäischer Perspektive in der Verteidigung aus: das amerikanische Angebot an
die Europäer, bei den Forschungen zu SDI zusammenzuarbeiten, sowie die Er-
fahrung des amerikanisch-sowjetischen Gipfels in Reykjavik. Gleichwohl wurden
bei der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Verteidigung auch Grenzen
der Solidaritätsbereitschaft deutlich: Für Mitterrand waren diese erreicht, sobald
die Unabhängigkeit der französischen Nuklearwaffen angetastet wurde, und
Helmut Kohl war nicht dazu bereit, in einen diplomatischen Gegensatz zu den
USA zu geraten. Dahinter standen unterschiedliche Vorstellungen über die eu-
ropäische Rolle im westlichen Bündnis. Während die Bundesregierung eine In-
Bilanz und Ausblick 433

tegration in der Atlantischen Allianz bevorzugte, konzeptualisierte die équipe


Mitterrand diese Rolle auf Augenhöhe mit den USA: zwar verbündet aber eigen-
ständig. Diese Beispiele eröffnen ein Interaktionsfeld von Kaltem Krieg, euro-
päischer Integration, transatlantischen Beziehungen und Globalisierung, in dem
diese Prozesse insgesamt zu verorten sind.
Die Erfahrung, dass Solidarität an Grenzen stieß, führte zwar zu enttäuschten
Erwartungen, wurde aber auch umgehend versucht zu kompensieren, indem die
Kooperation in anderen Bereichen intensiviert wurde. Als starkes Motiv wirkte
sich für die Suche nach anderen Möglichkeiten der Zusammenarbeit das Be-
dürfnis aus, sich gegenseitiges Vertrauen zu versichern und Störungen zu ver-
meiden.
Der Reykjavik-Effekt hatte Michail Gorbatschow seinerseits anhaltende Be-
drohungsperzeptionen der Europäer vor Augen geführt, aus denen er politische
Konsequenzen zog. Mit seiner vertrauensbildenden Politik gegenüber Europa
ergab sich eine Chance, die europäische Teilung zu überwinden und ab 1988 den
Aufbau paneuropäischer Solidarität zu fördern. Gleichzeitig setzte diese aber
durch die konventionelle Abrüstung, die Reformen in den osteuropäischen Län-
dern und den sowjetischen Truppenrückzug Prozesse in Gang, die 1989 Mitter-
rands Vorstellungen vom evolutionären Zusammenwachsen der Europäer infrage
stellten.
Der politische Umbruch, den Mitterrand zu Beginn seiner Amtszeit progno-
stiziert hatte, kam letztlich schneller, als er erwartet hatte. Die équipe Mitterrand
übertrug ihr Konzept von Solidarität im westeuropäischen Kontext auf die Be-
ziehungen zu den osteuropäischen Ländern. Die Motive für Kooperationen mit
paneuropäischer Perspektive waren im Grunde die gleichen, wie im Modell der
vier Antriebskräfte europäischer Integration von Wilfried Loth: Durch finanzielle,
wirtschaftliche und kommerzielle Solidarität sollte Entwicklung und Wohlstand
generiert und den osteuropäischen Ländern bei ihren Reformen unter die Arme
gegriffen werden. Dahinter stand das Motiv der Friedenssicherung, um zu ver-
hindern, dass der politische Umbruch zu Spannungen und Konflikten führte.
Nicht nur aus diesem Grund war ihm ein europäischer Rahmen im Zuge der
deutschen Vereinigung so wichtig, der neuem Misstrauen und Angst vor einer
deutschen Großmacht jedes Fundament entziehen sollte. Da die équipe Mitterrand
den Einfluss der beiden Supermächte in Europa insgesamt beschränken wollte,
wurden Mitterrands Handlungsimpulse auch durch das Streben nach europäi-
scher Selbstbehauptung motiviert. Deshalb appellierte er an seine westeuropäi-
schen Partner,Verantwortung für den Reformprozess der osteuropäischen Länder
zu übernehmen.
Im Prozess der deutschen Vereinigung kam Mitterrand eine konstruktive Rolle
zu, indem er mit Empathie für Gorbatschows Bedrohungsperzeptionen und die
434 Bilanz und Ausblick

Angst der osteuropäischen Staaten wiederum für Empathie bei seinen westlichen
Partnern warb. Auf diese Weise gelang es ihm, den Generalsekretär grundsätzlich
aus seinem Isolationsgefühl zu befreien. Gorbatschow konnte aufgrund von
Mitterrands Vertrauensbildung und Vermittlung eine deutsche NATO-Mitglied-
schaft akzeptieren, ohne dass daraus bei ihm neue Bedrohungsperzeptionen er-
wuchsen. Dies stützt die Relativierungen, die Frédéric Bozo hinsichtlich der do-
minanten Rolle von Helmut Kohl und George Bush im Vereinigungsprozess bereits
unternommen hat.⁵
Der Umbau der Atlantischen Gemeinschaft kam für Mitterrands Ziel, die
transatlantischen Beziehungen von Grund auf neu zu verhandeln, jedoch zu früh,
da die europäische Eigenständigkeit zu diesem Zeitpunkt nicht hinreichend weit
entwickelt war. Womöglich wäre dies anders gewesen, wenn Mitterrand sich bei
einer Europäisierung der force de frappe kooperativer gezeigt und mit einem so
weitreichenden Schritt auch Helmut Kohls Solidaritätsbereitschaft hätte steigern
können. Mitterrands eigenes Misstrauen und das Misstrauen von Michail Gor-
batschow hatten den französischen Präsidenten daran gehindert, diesen Schritt
zu unternehmen. Helmut Kohl wollte seinerseits zwar auch eine größere Eigen-
ständigkeit durch eine politische europäische Union erreichen. Er scheute aber
letztlich im Sommer 1990 aufgrund der amerikanischen Unterstützung bei den
Verhandlungen um die deutsche Vereinigung den Konflikt mit der US-Adminis-
tration und verharrte in seinem „Sowohl-als-auch“. Mitterrand blieb daher nur
eine Verzögerungstaktik, die dem forschen Auftreten Bushs wenig entgegenzu-
setzen hatte. Damit waren in den 1980er Jahren zwar wichtige Voraussetzungen
für einen Strukturwandel in den transatlantischen Beziehungen geschaffen
worden. Der Aushandlungsprozess, der in seinen Wurzeln bis in die 1970er Jahre
zurückreichte, blieb insofern aber ein Topos in den 1990er Jahren.
Damit ist die Zäsur 1989 – 1991 in erheblichem Maße relativiert, die sich in
Anbetracht der Kontinuitäten mehr als „Erfahrungszäsur“ denn als „Deutungs-
zäsur“ erweist.⁶ Die 1980er Jahre erscheinen so weniger als „the last decade of the
Cold War“⁷, sondern werden zu einer „Vorgeschichte der Gegenwart“⁸. Wenn der
Ost-West-Konflikt als Ordnungsschema auch an Bedeutung verlor, galt es in den
1990er Jahren, mit den Konsequenzen umzugehen, die sich durch die überwun-
dene Teilung sowie die Auflösung der Sowjetunion ergaben. Die Neuverhandlung
der transatlantischen und internationalen Beziehungsstrukturen war unvoll-
ständig geblieben und wurde in den 1990er Jahren unter anderen Bedingungen

 Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification.
 Siehe dafür: Sabrow, Zäsuren, S. 7.
 Njølstad (Hrsg.), Last Decade.
 Doering-Manteuffel [u.a.] (Hrsg.), Vorgeschichte.
Bilanz und Ausblick 435

fortgesetzt. Immer deutlicher trat zudem die Globalisierung in das Bewusstsein


der Akteure. Angesichts dieser Herausforderungen blieben auch die Antriebs-
kräfte europäischer Integration bestehen. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde
1992 ein Fundamt für eine eigenständigere politische Rolle Europas gelegt, das in
den 1990er Jahren zudem eine paneuropäische Öffnung erfuhr.
Es lassen sich vier zentrale Strategien isolieren, auf denen die équipe Mitt-
errand ihr politisches Handeln gründete. Erstens wurde deutlich, dass politische
Inszenierung jeweils dazu diente, neue Handlungsspielräume zu generieren. Bei
scheinbar alternativlosen Entscheidungen wurden Alternativen imaginiert und
inszeniert, um sich gegenüber anderen Akteuren eine bessere Verhandlungspo-
sition zu verschaffen. Die Diskussionen um ein Verlassen des EWS, die Vorbe-
reitungen des Europäischen Ratstreffens in Fontainebleau 1984 oder die Droh-
strategie gegenüber der Bundesregierung im Kontext der deutschen Vereinigung
lassen sich als Beispiele dafür anführen. Als politische Ressource für die Insze-
nierung dienten der équipe Mitterrand zweitens Erwartungen und Perzeptionen
anderer Akteure, die sie mithilfe von Empathie als diplomatische Strategie kal-
kulierte und unterstellte. Durch die Diplomaten des Außenministeriums wurden
Länderdossiers erstellt, die für die Berater des Präsidenten zur Grundlage von
Handlungsempfehlungen wurden. Durch die Arbeitsgruppe Image de la France en
Allemagne erfuhr diese Strategie sogar kurzweilig eine Institutionalisierung. Hier
schließt sich die Frage nach der Spezifik von Mitterrands Politik an, da Beob-
achtungen anderer Staaten grundsätzlich zum Tagesgeschäft diplomatischer
Dienste weltweit gehören. Mit politischen Analysen gehen aber nicht immer das
Bewusstsein eigener Perspektivität und die Fähigkeit einher, sich daraus gege-
benenfalls zu befreien. Auch im Quai d’Orsay waren dazu nicht alle Diplomaten
und schon gar nicht die französischen Sowjetologen in der Lage. Insofern
zeichnete sich die équipe Mitterrand durch ein hohes Maß an Empathie für Per-
zeptionen und Emotionen anderer Akteure sowie durch das Bewusstsein aus,
dass jene Einfluss auf politisches Handeln nehmen. Damit unterschied sie sich
weitgehend von vielen Realisten in der amerikanischen Administration. Das Bild
des Realpolitikers François Mitterrand lässt sich daher zu Recht infrage stellen.
Drittens gelang es ihm, durch die Strategie Empathie zweiter Ordnung Prozesse
der Vertrauensbildung zwischen amerikanischer und sowjetischer Führung zu
initiieren und zu unterstützen. Bei der Überwindung von Bedrohungsperzeptio-
nen, die sich in Form von Ängsten manifestiert hatten, spielte der Faktor der
Persönlichkeit daher eine entscheidende Rolle. Keineswegs dienten die Erwar-
tungen und Perzeptionen anderer der équipe Mitterrand ausschließlich zur Ver-
trauensbildung; auch Angst wurde gelegentlich zum politischen Ziel. Die vierte
Strategie ist eng verknüpft mit politischer Inszenierung: Durch Gefühlspolitik
evozierte Mitterrand sowohl Vertrauen als auch Angst, um beide als Ressourcen
436 Bilanz und Ausblick

für sein politisches Handeln nutzen zu können. Dabei wurden oftmals die Ver-
gangenheit und die Zukunft zu seinem Instrument. Rhetorisch erschuf er mal
verheißungsvolle, mal bedrohliche Szenarien künftiger Entwicklungen. Erinne-
rungen an Erlebnisse in der Vergangenheit im Allgemeinen oder in Form von ei-
genen biographischen Bezügen wie dem Zweiten Weltkrieg oder dem Europäi-
schen Kongress 1948 in Den Haag evozierten entweder Ängste oder inszenierten
seine persönliche Vertrauenswürdigkeit. Oftmals schuf er dadurch die Illusion
einer „Entweder-Oder-Entscheidung“ und ließ sein eigenes Handeln als alterna-
tivlos erscheinen. Auch rhetorische Strategien fanden in der Gefühlspolitik einen
Einsatz, indem vertrauensvolle Beziehungen entweder rhetorisch inszeniert oder
durch den expliziten Ausdruck von Empathie etabliert werden sollten. Die In-
szenierungs-Strategie trug letztlich erheblich dazu bei, dass François Mitterrand
Zeitgenossen wie Historikern kaum greifbar erschien und ist letztlich auch für den
Mythos einer „Sphinx“ verantwortlich.⁹ Die akzeptierte und teils forcierte Ambi-
valenz lässt sich als ein Charakteristikum von François Mitterrand herausstellen.
Diese Gefühlsstrategien sind es insgesamt auch, durch die sich die Politik von
François Mitterrand und seiner équipe auszeichnete.
Welche Schlüsse lassen sich daraus für das Verhältnis von Emotionen und
Politik einerseits und für Vertrauensbildungsprozesse andererseits ziehen? Dass
Perzeptionen und Emotionen politisches Handeln beeinflussen, ist nicht neu. Um
die Forschungsergebnisse dieser Studie zu systematisieren, lassen sich drei Ka-
tegorien aufstellen, um die Relevanz von Emotionen in politischen Entschei-
dungsprozessen zu fassen: Sie sind erstens ein Motiv für politisches Handeln.
Mitterrands Entscheidungsprozesse im Kontext der deutschen Wiedervereinigung
waren in hohem Maße von verschiedenen Ängsten motiviert, deren historische
Dimensionen analysiert wurden. Zweitens sind Emotionen Ressourcen für poli-
tisches Handeln, die bei seinen Strategien der Inszenierung, Gefühlspolitik und
Empathie zweiter Ordnung eine Wirkung entfalteten. Bei seiner Rolle als Ver-
mittler nutzte Mitterrand das Vertrauen, das ihm sowohl Ronald Reagan als auch
Michail Gorbatschow entgegenbrachten. Emotionen sind drittens oft das Ziel von
politischem Handeln. Die Vertrauensbildung gegenüber Mitterrands westlichen
Verbündeten nach seinem Amtsantritt ist hier das offensichtlichste Beispiel. Pa-
radox ist, dass auch das Evozieren von Ängsten letztlich dem Ziel der Vertrau-
ensbildung dienen konnte, wenn durch Bedrohungsszenarien beispielsweise
Kräfte für solidarisches Verhalten im Kontext des europäischen Integrationspro-
zesses mobilisiert werden sollten. Letztlich dienten diese Szenarien – wie das

 Vgl. Lappenküper, Mitterrand und Deutschland; Schwarz, Gesicht.


Bilanz und Ausblick 437

Drohen in der Euroraketenkrise, gegenüber Thatcher oder während der deutschen


Wiedervereinigung – also dazu, diese präventiv zu verhindern.
Für Prozesse der Vertrauensbildung lassen sich durch diese Studie ver-
schiedene Charakteristika herausstellen. Versteht man, wie eingangs definiert,
Vertrauen als eine sichere Erwartungshaltung in das Verhalten anderer, ist Ver-
trautheit nach Luhmann konstitutiv für Vertrauen und Misstrauen gleichermaßen.
Die gegenseitige Kenntnis und Dialog sind daher nur der erste Schritt von Ver-
trauensbildung, an den sich Erfahrungen von Solidarität anschließen müssen, um
dieses nachhaltig zu festigen. Immer wieder wurden Ambivalenzen der Vertrau-
ensbildung deutlich, als Mitterrands vertrauensbildende Maßnahmen gegenüber
den Verbündeten beispielsweise Misstrauen im Osten auslösten. Auch bei Mitt-
errands Versuch, die Beziehungen der europäischen Mitgliedstaaten zu egalisie-
ren, um Vertrauen in den kleineren Ländern zu generieren, wurde ihm von
deutscher Seite eine antideutsche Stoßrichtung unterstellt. Hier offenbarten sich
ferner die Widersprüche zwischen dem empathischen und dem pragmatischen
Mitterrand. Zwar wurde von ihm Misstrauen der kleineren europäischen Staaten
als Hemmnis für den europäischen Integrationsprozess gesehen. Trotzdem kam er
aus pragmatischen Gründen nicht umhin, den deutsch-französischen Motor und
seine Zusammenarbeit mit Helmut Kohl zu nutzen, um dem Prozess zu neuer
Dynamik zu verhelfen. Außerdem entwickelt sich Vertrauen niemals linear oder
teleologisch und ist anfällig für Störungen. Da Angst, Misstrauen und Vertrauen
als generalisierte Erwartungshaltungen durch vergangene Erfahrungen eine his-
torische Dimension besitzen, kann Angst durch Erfahrungen von Solidarität
durchbrochen werden. Gleichermaßen kann Vertrauen aber auch durch wahrge-
nommene Bedrohungen oder enttäuschte Erwartungen irritiert werden. Angst
und Vertrauen als Zustände zu verstehen, schließt sich daher aus. Gebildetes
Vertrauen bleibt also nicht automatisch bestehen, sondern bedarf durch stetige
Solidaritätsbeweise der Pflege. Vertrauen erweist sich damit nicht ausschließlich
bei François Mitterrand, sondern vielmehr grundsätzlich als „prekär“¹⁰.
Für die Internationale Geschichte empfiehlt es sich nach den Erkenntnissen
dieser Studie, das „Perzeptionsparadigma“¹¹ um ein Emotionsparadigma zu er-
weitern. Dadurch lassen sich nicht nur die Motive historischer Akteure verstehen,
sondern auch ihre Handlungsstrategien analysieren. Mit Kosellecks Kategorien
von Erfahrung und Erwartung lassen sich Emotionen methodisch fassen, ohne
sich den Vorwurf einzuhandeln, historische Akteure gleichsam auf eine psycho-
logische Couch zu legen. Die Dichotomie von Struktur und Handlung wird da-

 Lappenküper, Prekäres Vertrauen.


 Niedhart, Selektive Wahrnehmung.
438 Bilanz und Ausblick

durch insofern aufgelöst, als individuelle historische Akteure im Kontext struk-


tureller Bedingungen ihrer Politik gesehen werden, da sowohl kollektive als auch
individuelle Erfahrungen zur Konstituierung ihrer Erwartungen beitragen. Das
Wissen um die Rolle von Emotionen für politisches Handeln sowie Strategien, mit
denen Bedrohungsperzeptionen entweder aufgebrochen oder geschaffen werden
können, ermöglicht nicht zuletzt eine kritische Auseinandersetzung mit Kon-
frontationen, ihren Ursachen und möglichen Auswegen.
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93
147
160
161
162
174
185
186
187
190
262
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CDM (archives de Caroline de Margerie)


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EG (archives d’Elisabeth Guigou)


71
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Personenregister

Aboville, Benoît d’ 310 Breschnew, Leonid Iljitsch (Leonid Brejnev)


Abrahamson, General James Alan 292 50, 90, 94, 95, 96, 98, 103, 144, 151,
Adamischin, Anatolij 253, 254 153, 158, 173, 237, 323, 324, 333, 377,
Adenauer, Konrad 166, 181 402
Afanassjew 151, 154 Briand, Aristide 68, 83, 431
Allen, Richard 116 Brost, Wolfgang 314
Altenburg, Wolfgang 188, 302, 304 Buckley, James 128
Andréani, Jacques 96, 127, 128, 151, 152, Burt, Richard 96, 256
186, 187, 201, 208, 217, 218, 233 Bush, George 113, 116, 123, 331, 342, 375,
Andropow, Jurij Wladimirowitsch (Youri An- 376, 379, 383, 384, 388, 389, 390, 392,
dropov) 98, 100, 136, 153, 157, 203, 395, 397, 411, 412, 413, 415, 416, 418,
209, 232, 233, 237 419, 420, 421, 422, 424, 426, 427, 428,
Apel, Hans 207, 208 434
Armstrong, Robert 230
Arnaud, Claude 152, 153, 154 Camdessus, Michel 198
Attali, Jacques 39, 40, 76, 77, 96, 113, 125, Carrington, Peter 87
128, 136, 137, 159, 172, 191, 204, 205, Carstens, Karl 1, 49, 54, 167, 189
223, 230, 269, 281, 290, 296, 307, 314, Carter, James (Jimmy) 7, 9, 10, 16, 58
338, 357, 367, 378, 381, 382, 386, 391, Ceauşescu, Nicolae 398
418, 422 Chandernagor, André 57, 76, 79, 85, 172,
223
Badinter, Robert 88 Chevènement, Jean-Pierre 56, 75, 88, 212,
Bahr, Egon 208 414, 420
Baker, James 341, 342, 392, 408, 409, 410, Cheysson, Claude 64, 76, 79, 87, 88, 113,
412, 413, 415, 418, 421, 427 114, 115, 116, 117, 130, 131, 134, 135, 137,
Barzel, Rainer 102 142, 145, 149, 150, 151, 153, 154, 155,
Belenet, Régis de 271, 272 156, 159, 163, 177, 184, 188, 190, 204,
Bérégovoy, Pierre 76, 102, 147, 197, 256 207, 208, 215, 216, 217, 220, 222, 234,
Bernard, Daniel 177 241, 242, 248
Bianco, Jean-Louis 39, 75, 77, 159, 163, 191, Chirac, Jacques 17, 166, 274, 275, 276, 277,
256, 330, 374, 400, 413 288, 289, 406
Bitterlich, Joachim 364, 369 Claisse, Guy 56
Blot, Jacques 334, 335, 354, 355, 370, 399, Clark, William 135, 205
400 Colombo, Emilio 176, 210, 213, 214, 228
Blum, Léon 65, 68, 82, 83, 327, 431 Connan, Christian 314, 315
Boidevaix, Serge 310, 362, 363, 365 Cot, Jean-Pierre 79
Bonner, Jelena 233, 238 Coudenhove-Kalergi, Richard 68, 83, 431
Bordry, François 228
Boublil, Alain 77 Dankert, Pieter (Piet) 228
Boudier, Marc 376 Danon, Eric 401
Boulay, Robert 285 Debray, Régis 76
Brandt, Willy 204, 365 Defferre, Gaston 88
Braunmühl, Gerold Edler von 304, 305 Delaye, Bruno 79

https://doi.org/10.1515/9783110597417-010
Personenregister 459

Delbourg, Denis 140, 149, 153, 163, 183, 234, 242, 249, 257, 281, 287, 288, 293,
189 294, 298, 300, 306, 309, 329, 365, 367
Delors, Jacques 75, 79, 88, 128, 129, 130, Gergorin, Jean-Louis 153, 235, 242
171, 179, 182, 191, 198, 199, 222, 231, Giraud, André 273
287, 355, 364, 367, 422 Giscard d’Estaing, Valéry 10, 15, 50, 51, 52,
De Mita, Ciriaco 332 53, 60, 61, 64, 124, 139, 141, 142, 144,
Desponts, Jacques 337, 338 160, 166, 169, 307, 406
Dobrynin, Anatolij 266 Gorbatschow, Michail Sergejewitsch (Mikhail
Dooge, James 285, 286, 287 Gorbachev) 17, 18, 42, 250, 252, 253,
Dubos, Jean-François 75 254, 255, 256, 257, 258, 259, 260, 261,
Duclos, Michel 101, 188, 207 263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270,
Dufourcq, Bertrand 182, 356, 366, 396, 271, 272, 275, 277, 278, 279, 281, 282,
401, 404, 407, 408 283, 284, 307, 319, 320, 321, 322, 323,
Duhamel, Nathalie 374 324, 325, 326, 327, 329, 331, 332, 333,
Dukakis, Michael 331 334, 335, 336, 337, 339, 342, 345, 346,
Dumas, Roland 56, 71, 76, 91, 116, 123, 348, 349, 350, 351, 354, 357, 358, 359,
148, 169, 198, 200, 223, 227, 230, 239, 360, 365, 366, 370, 372, 374, 375, 376,
241, 252, 253, 257, 269, 281, 285, 287, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 383, 384,
288, 291, 293, 294, 295, 298, 308, 329, 385, 386, 387, 388, 389, 390, 391, 392,
338, 339, 346, 358, 371, 395, 401, 411, 393, 394, 395, 396, 397, 402, 403, 405,
417, 421, 424 410, 420, 424, 428, 432, 433, 434, 436
Dumoulin, J. 183 Gromyko, Andrej 140, 149, 151, 153, 156,
Duroselle, Jean-Baptiste 20 157, 162, 203, 206, 207, 242, 251, 252,
253
Eagleburger, Lawrence 134 Grossouvre, François de 76
Ehmke, Horst 204 Guéhenno, Jean-Marie 342, 343, 384
Ermarth, Fritz 312 Guigou, Elisabeth 75, 179, 200, 210, 240,
241, 242, 254, 256, 287, 288, 289, 296,
Fabius, Laurent 77, 210, 211, 317, 363, 364, 373, 406, 407, 408, 422
Falin, Valentin 428
Fassier, Bernard 326, 327 Haig, Alexander 87, 115, 128, 133
Faure, Maurice 76, 285, 287 Heisbourg, François 79, 204
Ferri, Mauro 228 Hennekinne, Loïc 373, 375
Fischer, Oskar 371 Herbst, Axel 87, 94, 124, 126, 168, 184
Forray, Gilbert 265, 303, 307, 314 Hernu, Charles 62, 63, 68, 75, 79, 88, 159,
François-Poncet, André 50 184, 185, 186, 188, 191, 192, 203, 215,
Froment-Meurice, Henri 145 217, 298, 299
Holleville, Alain 317
Gablentz, Otto von der 101 Honecker, Erich 371
Gaillard, Jean-Michel 102, 210 Howe, Sir Geoffrey 330
Gauer, Denys 177
Gaulle, Charles de 3, 13, 17, 59, 62, 64, 66, Jakowlew, Alexander (Jakovlev, Aleksander)
67, 68, 78, 82, 83, 113, 166, 184, 327, 342
355, 411, 431 Jaruzelski, Wojciech 86, 87, 324
Genscher, Hans-Dietrich 23, 64, 87, 127, Jeanneney, Jean-Marcel 122
134, 176, 177, 179, 184, 185, 205, 206, Jospin, Lionel 80, 204
210, 213, 214, 215, 222, 223, 228, 230,
460 Personenregister

Kissinger, Henry 112, 113, 341, 342, 344, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161,
403 162, 163, 164, 166, 167, 168, 169, 170,
Kohl, Helmut 31, 136, 166, 175, 176, 177, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178,
178, 179, 180, 181, 182, 183, 185, 188, 179, 180, 181, 182, 184, 187, 188, 189,
189, 191, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197,
202, 205, 211, 213, 214, 215, 221, 222, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205,
223, 225, 227, 230, 231, 232, 246, 249, 206, 209, 210, 212, 213, 214, 215, 217,
256, 266, 268, 278, 279, 280, 281, 282, 218, 221, 222, 223, 224, 225, 226, 227,
283, 287, 293, 294, 295, 297, 300, 301, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235,
302, 303, 304, 305, 306, 308, 309, 313, 236, 237, 238, 239, 240, 241, 242, 243,
314, 315, 319, 320, 325, 328, 329, 332, 244, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 251,
341, 347, 349, 359, 360, 362, 363, 364, 252, 253, 255, 256, 257, 258, 259, 260,
365, 366, 367, 368, 369, 370, 372, 374, 261, 262, 263, 264, 265, 266, 267, 268,
375, 377, 378, 379, 381, 382, 383, 384, 269, 270, 273, 274, 275, 276, 277, 278,
385, 386, 388, 389, 392, 394, 395, 397, 279, 280, 281, 282, 283, 284, 285, 287,
401, 402, 409, 410, 411, 422, 423, 425, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 295,
428, 429, 432, 434, 437 296, 297, 299, 300, 301, 302, 303, 304,
Kwizinskij, Julij 97, 158, 206, 207, 208 305, 306, 307, 308, 309, 313, 314, 316,
317, 318, 319, 320, 321, 322, 324, 326,
Lacaze, Jeannou 187, 188, 219 327, 329, 330, 331, 332, 333, 335, 336,
Lafontaine, Oskar 104 337, 338, 339, 340, 341, 342, 343, 344,
Lanxade, Jacques 414, 415, 420 345, 346, 347, 348, 349, 350, 351, 352,
Lassus, Dominique 207 353, 355, 356, 357, 358, 359, 360, 361,
Legras, Guy 230 362, 363, 364, 365, 366, 367, 368, 369,
Lévi, Jean-Daniel 290 370, 371, 372, 374, 375, 376, 377, 378,
Ligatschow, Jegor 386 379, 380, 381, 382, 383, 384, 385, 386,
387, 388, 389, 390, 391, 392, 393, 394,
MacEachen, Allan 107 395, 396, 397, 398, 399, 400, 401, 402,
Margerie, Emmanuel de 311 403, 404, 405, 406, 407, 408, 409, 410,
Masset, Jean-Pierre 150 411, 412, 413, 414, 415, 416, 417, 418,
Mauroy, Pierre 55, 57, 58, 59, 62, 63, 68, 419, 420, 421, 422, 423, 424, 425, 426,
75, 76, 88, 115, 116, 126, 163 427, 428, 429, 430, 431, 432, 433, 434,
Mérillon, Jean-Marie 386 435, 436, 437
Mertes, Alois 188 Modrow, Hans 387
Mitterrand, François 1, 2, 3, 6, 13, 15, 16, Morel, Pierre 76, 77, 92, 93, 99, 101, 109,
17, 18, 19, 23, 24, 31, 35, 36, 37, 39, 41, 158, 178, 179, 190, 195, 196, 197, 212,
42, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 213, 223, 228, 231, 233, 235, 241, 252,
54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 285, 303
66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, Musitelli, Jean 265, 266, 320, 330, 332
77, 78, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88,
89, 90, 91, 92, 93, 94, 96, 97, 98, 99, Nazelle, Xavier Marie du Cauzé de 406
100, 101, 102, 103, 106, 107, 108, 109, Nitze, Paul 97, 108, 158, 206, 207, 208
110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118,
119, 120, 121, 122, 123, 124, 126, 127, Pagniez, Yves 266, 267, 275, 332, 334
129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, Penne, Guy 76
137, 138, 139, 141, 142, 143, 144, 145, Perle, Richard 256, 311
146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, Peyrefitte, Alain 312
Personenregister 461

Pfeffer, Franz 217, 218, 219 Schuman, Robert 181


Pince, Gérard 317, 318 Semjonow, Wladimir 99
Plaisant, François 252 Shultz, George 98, 133, 134, 135, 137, 251,
Pontillon, Robert 75 256, 261, 274, 312, 331, 348
Portugalow, Nikolaj Sergejewitsch 324 Sonnenfeld, Helmut 341
Powell, Charles 281 Sorel, Albert 20
Powell, Colin 367, 368 Spinelli, Altiero 227, 228, 249
Spinelli, B. 183
Raimond, Jean-Bernard 259, 262, 272, 273, Stalin, Josef Wissarionowitsch 47, 65
346 Stoltenberg, Gerhard 198, 222, 227
Ramadier, Paul 71 Stourdzé, Yves 290
Rashish, Myer 124, 125 Strauß, Franz Josef 220
Reagan, Ronald 10, 17, 52, 88, 95, 96, 97,
98, 106, 108, 112, 113, 116, 117, 120, 122, Teltschik, Horst 281, 296, 307, 314, 365
123, 124, 125, 126, 127, 128, 130, 132, Thatcher, Magaret 18, 53, 123, 170, 225,
133, 134, 135, 136, 137, 149, 158, 196, 226, 227, 229, 230, 266, 273, 274, 278,
201, 203, 205, 211, 212, 232, 236, 237, 280, 283, 328, 368, 374, 432, 437
242, 250, 251, 255, 256, 257, 258, 259, Timsit, Joëlle 372
260, 261, 262, 263, 264, 265, 266, 269, Trudeau, Pierre 107, 123
270, 271, 282, 283, 284, 290, 292, 295, Tschernenko, Konstantin 232, 240, 242,
311, 324, 331, 345, 346, 432, 436 252, 323
Renouvin, Pierre 20 Tschernjajew, Anatolij (Chernyaev, Anatoly)
Reynaud, Henri 353, 354 251, 252, 253, 269, 270, 323, 357, 403
Richthofen, Hermann von 314 Tscherwonenko, Stepan 94, 148, 151, 158
Rocard, Michel 74, 88, 171, 328, 357
Rostow, Eugene 96 Védrine, Hubert 51, 70, 75, 76, 77, 78, 81,
Rouget, Werner 206 85, 91, 96, 99, 100, 101, 111, 123, 135,
Rousselet, André 76 137, 138, 139, 140, 142, 147, 151, 156,
Rouvier, Jean 167, 220, 221 159, 161, 163, 173, 174, 177, 179, 187,
Rovan, J. 183 188, 209, 219, 221, 238, 240, 241, 242,
252, 254, 255, 256, 261, 262, 263, 264,
Sacharow, Andrej 233, 238, 239, 240 265, 266, 268, 287, 289, 290, 291, 303,
Saulnier, Jean 191, 292, 294, 302, 303, 304 307, 308, 314, 317, 320, 326, 331, 332,
Sautter, Christian 75, 103, 128, 129, 130, 340, 341, 355, 388, 400, 403, 404, 405,
172, 191, 406 408, 415, 416, 418, 420, 422
Savary, Alain 74 Védrine, Jean 76, 77
Schachnasarow, Georgi 254 Vernier-Palliez, Bernard 105, 106, 136
Schauer, Hans 299, 302 Vogel, Hans-Jochen 107, 202, 203
Schewardnadse, Eduard 252, 332, 386, 424
Schmidt, Helmut 10, 52, 60, 87, 88, 91, 92, Weinberger, Caspar 128, 255, 256, 284,
101, 103, 106, 126, 127, 132, 134, 166, 290, 311
167, 168, 169, 170, 173, 174, 175, 176, Weizsäcker, Richard von 329
177, 178, 181, 184, 185, 189, 200, 208, Wellershoff, Dieter 308
307 Wiesel, Elie 84
Schmitt, Maurice 308 Wischnewski, Hans-Jürgen 203
Schröder, Gerhard 166 Wolfowitz, Paul 128
Schulte, Manfred 208
462 Personenregister

Wörner, Manfred 185, 186, 216, 298, 300, Yonas, Gerold 256
310
Woronzow, Julij 232, 241, 278 Zagladin, Vadim 149, 160, 332, 381, 382

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