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Herausgegeben von
Eckart Conze,
Julia Angster,
Marc Frey,
Wilfried Loth und
Johannes Paulmann
Band 44
Frederike Schotters
Frankreich und
das Ende des
Kalten Krieges
Gefühlsstrategien der équipe Mitterrand
1981–1990
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für
Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein sowie der freundlichen Hilfe der FAZIT-Stiftung
und des Graduiertenkollegs „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch
Zukunftshandeln“.
ISBN 978-3-11-059564-2
e-ISBN (PDF) 978-3-11-059741-7
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-059320-4
ISSN 2190-149X
www.degruyter.com
Für Papa
Dank
Am Ende einer Reise, wie diese Studie sie war, steht ein Blick zurück. Von den
ersten Anfängen dieser Dissertation bis zum fertigen Buch war es ein spannender,
lehrreicher, mitunter nicht immer einfacher Weg. Den erfolgreichen Abschluss
verdanke ich nicht zuletzt der Unterstützung zahlreicher Weggefährt*innen. An
erster Stelle gilt mein besonderer Dank meinem akademischen Lehrer und Dok-
torvater Wilfried Loth. Mit seinem Wissen, seiner Ruhe, seinen fachlichen und
praktischen Ratschlägen und nicht zuletzt seinem unerschütterlichen Vertrauen
in meine Fähigkeiten hat er diese Arbeit betreut und den notwendigen Rahmen für
ihr Gelingen geschaffen. Für das Zweitgutachten sowie ihre Gesprächsbereitschaft
und die Begleitung meiner Dissertation danke ich außerdem herzlich Claudia
Hiepel.
Ich empfinde es als große Ehre, dass meine Arbeit in den Studien zur Inter-
nationalen Geschichte erscheint und danke den Reihenherausgeber*innen Eckart
Conze, Julia Angster, Marc Frey, Wilfried Loth und Johannes Paulmann für die
Aufnahme in die Reihe. Als kompetenter Ansprechpartnerin beim Verlag Walter
de Gruyter sei außerdem Rabea Rittgerodt sowie ihrem Kollegen Florian Hoppe für
die Unterstützung bei der Drucklegung gedankt.
Die Entstehung dieses Buches und die umfassenden Recherchen in den Pa-
riser Archiven wurden durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das
Deutsche Historische Institut in Paris finanziell gefördert und ermöglicht. Hier hat
mich vor allem Christian Wenkel dabei unterstützt, die Herausforderungen der
Pariser Archivlandschaft zu meistern, und mir mit fachlichem Rat zur Seite ge-
standen. Mein Dank gilt außerdem den vielen freundlichen Mitarbeiter*innen in
den Archives nationales de France und den Archives diplomatiques du Ministère
des affaires étrangères, die mir mit Rat und Tat bei den Recherchen geholfen
haben.
Die Drucklegung dieser Arbeit wurde mir durch die finanzielle Unterstützung
von Seiten der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissen-
schaften, der FAZIT-Stiftung sowie des Graduiertenkollegs „Vorsorge,Voraussicht,
Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln“ erheblich erleich-
tert. Allen drei Institutionen danke ich an dieser Stelle herzlich dafür.
Für den Entstehungsprozess, das Reifen dieser Arbeit sowie das Ausfeilen von
Argumenten habe ich von konstruktiven Anregungen profitiert, die ich in dem
Kolloquium von Guido Thiemeyer und den Konferenzen von Peter Hoeres und
Anuschka Tischer sowie Florian Greiner erhalten habe.
Unverzichtbar waren zudem zahlreiche Gespräche mit Kolleg*innen, die über
die Zeit zu Freund*innen wurden und mir dabei geholfen haben, so manche
VIII Dank
Hürde zu nehmen. Für ein sorgfältiges Lektorat, inhaltliche Anregungen und stets
ein offenes Ohr danke ich meinen Kolleg*innen und Freund*innen Christiane
Bub, Jan-Hendryk de Boer, Christopher Friedburg, Anja Hoppe, Alina Juckel,
Andreas Nehrlich, Kyra Palberg, Teresa Schröder-Stapper, Annalena Sieß, Helen
Wagner und Andrew van Ross.
Auf dem bisweilen steinigen Weg zum Ziel der Promotion hatte ich stets die
grenzenlose Unterstützung und Rückendeckung meiner Eltern Beate und Thomas
Gehlhar sowie von meiner Schwester und ihrem Mann Anne-Kathrin Gehlhar und
Julian Lotz. Ich danke ihnen von Herzen dafür, dass sie niemals an dem Gelingen
gezweifelt und mit mir gelacht, geweint, gebangt und gefeiert haben. Die mit
Abstand größte Stütze war mir mein Mann Philipp, der den gesamten Weg ge-
meinsam mit mir gegangen ist, Lasten mit mir geteilt, Probleme diskutiert, an
Übersetzungen gefeilt und mir in schwierigen Momenten durch sein Vertrauen die
notwendige Zuversicht zurückgegeben hat. Gewidmet ist dieses Buch meinem
Papa, der mein Interesse an Geschichte geweckt und mich bis hier her begleitet
hat, das gedruckte Ergebnis aber leider nicht mehr aufschlagen wird.
https://doi.org/10.1515/9783110597417-001
X Abkürzungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis IX
Einleitung 1
Forschungsstand 13
Methodik und Materialgrundlage – Wie kann eine Geschichte der
internationalen Beziehungen heute geschrieben werden? 19
Bibliographie 439
Ungedruckte Quellen 439
Gedruckte Quellen 440
Darstellungen 443
Personenregister 458
Einleitung
„[R]egarder l’avenir; l’Europe est la grande aventure de notre génération.“ ¹
Als François Mitterrand am 10. Mai 1981 die Wahl um die französische Präsi-
dentschaft gewann, sah sich die neue und unerfahrene Regierungsmannschaft
um den ersten sozialistischen Präsidenten der V. Republik vor massive außen-
und sicherheitspolitische Herausforderungen gestellt. Verschiedene Ereignisse
und Entwicklungen hatten dazu beigetragen, dass die politischen Akteure den
Übergang von den 1970er zu den 1980er Jahren als tiefgreifende Krise empfanden:
Nicht nur war die Ära der Entspannungspolitik ab Ende der 1970er Jahre einer
neuen Konfrontation zwischen Ost und West gewichen, sondern auch die trans-
atlantischen Beziehungen gestalteten sich weniger harmonisch: Anstatt einen
Schulterschluss zwischen den westlichen Bündnispartnern schienen die Span-
nungen zwischen Ost und West vielmehr Konflikte innerhalb der Atlantischen
Allianz zu verstärken und die Solidarität zwischen den Partnern zu bedrohen.
Zunehmend erschwerend wirkte sich darauf auch die wirtschaftliche Krise und
ansteigende Arbeitslosigkeit aus, mit deren Bewältigung die europäischen Re-
gierungen in Folge der Ölpreiskrisen und den sozioökonomischen Veränderungen
in den 1970er Jahren sowie einer wachsenden wirtschaftlichen Konkurrenz aus
Asien zu kämpfen hatten. Hinzu kam noch, dass sich Mitterrand nicht nur mit
gegenwärtigen Krisenphänomenen konfrontiert sah, sondern auch mit einer
künftigen Herausforderung für die internationale Staatengemeinschaft rechnete:
Er trat sein Amt in der Erwartung eines gewaltigen politischen Umbruchs an, da er
davon ausging, dass die Sowjetunion auf mittelfristige Sicht zu geschwächt sein
würde, um die Dominanz über ihre Satellitenstaaten aufrechterhalten zu können.²
François Mitterrand zu Roland Dumas zitiert nach Dumas, Roland: Coups et Blessures. 50 ans
de secrets partagés avec François Mitterrand. Paris 2011. S. 142.
Vgl. Mitterrand, François: Über Deutschland. Frankfurt am Main/Leipzig 1996. S. 10; Gespräch
François Mitterrand mit Helmut Schmidt am 7. Oktober 1981 überliefert bei Attali, Jacques: Ver-
batim 1981– 1986. Paris 2011. S. 125; In der deutschen Überlieferung, weniger pointiert überliefert:
„Die objektiven und subjektiven Tatsachen, die ihr heute entgegenstehen – vor allem die Existenz
des sowjetischen Imperiums –, könnten sich eines Tages schneller verändern, als man heute
denkt.“ Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Latche am
7. Oktober 1981. In: Akten der Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland [AAPD] 1981,
Dok. 287. München 2012. S. 1544. Zudem formulierte François Mitterrand in einem Gespräch mit
dem deutschen Bundespräsidenten Karl Carstens am 13. Juli 1981 sehr konkrete Zweifel, dass das
„sowjetische Weltreich“ im Jahr 2000 noch existieren würde, vgl. dazu: Gespräch des Bundes-
präsidenten Carstens mit Staatspräsident Mitterrand am 13. Juli 1981. In: AAPD 1981, Dok. 200,
München 2012. S. 1072; siehe dazu insgesamt auch Kapitel 1.
https://doi.org/10.1515/9783110597417-002
2 Einleitung
Für den Krisenbegriff vgl. weiterführend: Mergel, Thomas (Hrsg.): Krisen verstehen. Historische
und kulturwissenschaftliche Annäherungen. Frankfurt am Main 2011; Koselleck, Reinhart: Kritik
und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg 1959.
Im weiteren Verlauf wird auf die Anführungszeichen verzichtet. Das erste Kapitel wird zeigen,
aus welchen Akteuren sich die équipe Mitterrand zusammensetzte.
Diese Bezeichnung ist auf zeitgenössische französische Wahrnehmungen der Ursprünge der
Ost-West-Teilung zurückzuführen und steht aus diesem Grund in Anführungszeichen. Im weiteren
Verlauf soll bei „System von Jalta“ oder „Jalta-System“ auf die Anführungszeichen verzichtet
werden, in dem vollen Bewusstsein, dass der Begriff französische Wahrnehmungen impliziert.
Einleitung 3
Frankreich als eine künstliche Staatenordnung, die durch die USA und die So-
wjetunion etabliert worden war, ohne europäische Interessen zu berücksichti-
gen.⁶ Die Konzeption der französischen Entspannungspolitik stand in der Tradi-
tion Charles de Gaulles und richtete sich darauf, die beiden Teile Europas
zusammenzuführen und von der Bevormundung der beiden Supermächte zu
befreien. Obwohl also die Überwindung der Blockkonfrontation integraler Be-
standteil und langfristiges Ziel der französischen Sicherheitspolitik war, trat sie
aufgrund aktueller politischer Herausforderungen bisweilen in den Hintergrund,
wenn sie als potentielles Risiko wahrgenommen wurde.
Diese Studie geht von der zentralen Frage aus, wie Akteure der internatio-
nalen Beziehungen Krisen wahrnehmen und welche Möglichkeiten zur Bewälti-
gung sie diesen entgegenstellen. Dafür ist es gleichsam notwendig, Realitäts-
wahrnehmungen historischer Akteure zu erforschen. Es wird davon ausgegangen,
dass Erfahrungen Perzeptionen vorstrukturieren, von denen konkrete Zukunfts-
erwartungen abgeleitet werden. Angst und Vertrauen werden in dieser Studie als
generalisierte Zukunftserwartung verstanden, die Einfluss auf politische Ent-
scheidungsprozesse nehmen.⁷ Von Interesse ist dabei auch die Frage, in welchem
Verhältnis strukturelle Bedingungen und individuelle Wahrnehmungen stehen.
Da davon ausgegangen werden muss, dass Zukunftserwartungen und politische
Pläne oftmals von anderen Ereignissen und Entwicklungen überrascht werden,
gilt es gleichsam auch konzeptionelle Wandlungsprozesse und Adaptionsleis-
tungen der équipe Mitterrand zu erforschen. Die französische Sicherheitspolitik
bietet gerade deshalb einen interessanten Untersuchungsgegenstand, da die
équipe Mitterrand nicht nur bereits erfahrene Dimensionen von Sicherheitspolitik
wie Bündnissicherung und Rüstungskontrolle zu managen hatte.Vielmehr wurde
der von François Mitterrand auf mittelfristige Sicht erwartete politische Umbruch
zu einer spezifischen Herausforderung, die bis dato keine konkrete Rolle für die
Definition der französischen Außen- und Sicherheitspolitik gespielt hatte. Für
Die Forschung weiß inzwischen auch um die Rolle, die einzelne europäische Staatschefs sowie
Prozesse (west‐)europäischer Integration bei der Verfestigung der Spaltung Europas gespielt
haben: Siehe dazu: Loth,Wilfried: Der Krieg, der nicht stattfand. Ursprünge und Überwindung des
Kalten Krieges. In: Wie Kriege entstehen. Zum historischen Hintergrund von Staatenkonflikten.
Hrsg. von Wegner, Bernd. Paderborn [u. a.] 2000. S. 291; Loth, Wilfried: Europas Einigung. Eine
unvollendete Geschichte. Frankfurt am Main 2014.
Eine konkrete Konzeptualisierung von Angst und Vertrauen folgt im methodischen Teil der
Einleitung.
4 Einleitung
Historiker⁸ eröffnet sich damit eine Perspektive darauf, wie neben die Sicherung
des Status Quo die Suche nach einer alternativen Zukunft trat.
Die Krise der Entspannung und das Ende des Kalten Krieges haben das In-
teresse von Zeitgenossen und Historikern gleichermaßen erregt. Narrative zum
Ende des Kalten Krieges sind sehr mannigfaltig und disparat.⁹ Bevor eine Phase
zunehmender Spannung an der Wende von den 1970er zu den 1980er Jahren in
den Fokus der Historiographie rückte, wurde zuvor bereits intensiv zur Entspan-
nungspolitik und ihren Ursprüngen geforscht.¹⁰ Diese war zwar in einer Reihe von
Ost-West-Verträgen zu Beginn der 1970er Jahre gegipfelt, schließlich aber seit Mitte
der 1970er durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren im Niedergang
begriffen.¹¹
Die Phase zwischen 1979 und 1984 wird bisweilen verkürzt mit dem Schlag-
wort „Zweiter Kalter Krieg“ oder „New Cold War“ versehen. Abgesehen davon,
dass diese Bezeichnung tatsächlich auf zeitgenössische Wahrnehmungen und
Zuschreibungen zurückgeht und durch die Forschung zum Teil unreflektiert
Darauf wiesen zuletzt hin: Bresselau von Bressensdorf, Agnes: Frieden durch Kommunika-
tion. Das System Genscher und die Entspannungspolitik im Zweiten Kalten Krieg 1979 – 1982/83.
Berlin/Boston 2015. S. 3; Niedhart, Gottfried: Der Ost-West-Konflikt. Konfrontation im Kalten Krieg
und Stufen der Deeskalation. In: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010). S. 588; Zu einem reflek-
tierten Umgang mit Metaphern des Kalten Krieges siehe auch: Loth, Wilfried: Langer Frieden oder
Fünfzigjähriger Krieg? Der Kalte Krieg in historischer Perspektive. In: Militär, Staat und Gesell-
schaft in der DDR. Forschungsfelder – Ergebnisse – Perspektiven. Hrsg. von Ehlert, Hans/Rogg
Matthias. Berlin 2004. S. 67– 82; Im weiteren Verlauf soll bei „Zweiter Kalter Krieg“ oder „New Cold
War“ auf die Anführungszeichen verzichtet werden, in dem vollen Bewusstsein, dass der Begriff
zeitgenössische Wahrnehmungen impliziert.
Vgl. Brown, Archie: Der Gorbatschow-Faktor. Wandel einer Weltmacht. Frankfurt am Main
[u. a.] 2000; Altrichter, Helmut: Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums.
München 2009; Leffler, Mankind; Grachev, Andrei: Gorbachev’s Gamble. Soviet Foreign Policy
and the End of the Cold War. Cambridge 2008; Zubok, Vladislav M.: A Failed Empire. The Soviet
Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev. Chapel Hill 2007.
Vgl. u. a. Rödder, Andreas: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung. München 2011;
Rödder, Andreas: Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung. München
2009; Bange, Oliver/Lemke, Bernd (Hrsg.): Wege zur Wiedervereinigung. Die beiden deutschen
Staaten in ihren Bündnissen 1970 bis 1990. Oldenburg 2013; Plato, Alexander von: Die Vereini-
6 Einleitung
Prozessen lange Zeit wenig Bedeutung beigemessen wurde, begann sich der Fo-
kus der Historiographie ab Mitte der 2000er Jahre von den bilateralen Bezie-
hungen zwischen den USA und der Sowjetunion sowie dem Wettrüsten und der
Rüstungskontrolle zu lösen. Vielmehr sollte der Rolle west- und osteuropäischer
Akteure sowie der Bedeutung von europäischen Prozessen wie der europäischen
Integration und paneuropäischen Prozessen wie dem KSZE-Prozess Rechnung
getragen werden.¹⁵ Diesem Perspektivwechsel nahmen sich Mitte der 2000er Jahre
eine Reihe von Tagungen und Sammelbänden an, sodass das Ende des Kalten
Krieges heute als Ergebnis von Prozessen gilt, die ihren Ursprung in den 1970er
Jahren fanden.
Nachdem der Krisendiskurs der 1970er Jahre bereits eine Revision erfahren
hat,¹⁶ bemüht sich die Forschung in Ansätzen inzwischen um die Historisierung
der 1980er Jahre.¹⁷ Aktuell wendet sich die Forschungsliteratur verstärkt der Krise
der Entspannungspolitik zu, die den historischen Kontext von Mitterrands
Amtsantritt im Mai 1981 bildete.¹⁸ Während sich Leopoldo Nuti der Krise der
gung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die internen
Gesprächsprotokolle. Berlin 2002.
Vgl. Bozo, Frédéric/Rey, Marie-Pierre/Ludlow, N. Piers/Nuti, Leopoldo (Hrsg.): Europe and the
End of the Cold War. A reappraisal. London/New York 2008; Bange/Niedhart (Hrsg.), Helsinki
1975; Bilandžić, Vladimir/Dahlmann, Dittmar/Kosanović, Milan (Hrsg.): From Helsinki to Bel-
grade. The First CSCE Follow-up Meeting and the Crisis of Détente. Göttingen 2012.
Vgl. Hiepel, Claudia (Hrsg.): Europe in a Globalising World. Global Challenges and European
Responses in the „long“ 1970s. Baden-Baden 2014; Jarausch, Konrad H. (Hrsg.): Das Ende der
Zuversicht. Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008; Villaume, Poul/Mariager, Rasmus/
Porsdam, Helle (Hrsg.): The „Long 1970s“. Human Rights, East-West Détente, and Transnational
Relations. London/New York 2016; Doering-Manteuffel, Anselm/Raphael, Lutz: Nach dem Boom.
Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2010; Raithel, Thomas (Hrsg.): Auf dem
Weg? Die Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren. München 2009; Black, Jeremy:
Europe since the seventies. London 2009; Ferguson, Niall/Maier, Charles S./Erez, Manela/Sar-
gent, Daniel J. (Hrsg.): The Shock of the Global. The 1970s in Perspective. Cambridge 2010.
Vgl.Wirsching, Andreas: Abschied vom Provisorium 1982– 1990. München 2006; Hansen, Jan:
Abschied vom Kalten Krieg? Die Sozialdemokraten und der Nachrüstungsstreit (1977– 1987).
Berlin/Boston 2016.
Vgl. Nuti, Leopoldo (Hrsg.): The Crisis of Détente in Europe. From Helsinki to Gorbachev, 1975 –
1985. London/New York 2009; Gassert, Philipp/Geiger, Tim/Wentker, Hermann (Hrsg.): Zweiter
Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und in-
ternationaler Perspektive. München 2011; Gotto, Bernhard/Möller, Horst/Mondot, Jean/Pelletier,
Nicole (Hrsg.): Nach „Achtundsechzig“. Krisen und Krisenbewusstsein in Deutschland und
Frankreich in den 1970er Jahren. München 2013; Peter, Matthias/Wentker, Hermann (Hrsg.): Die
KSZE im Ost-West-Konflikt. Internationale Politik und gesellschaftliche Transformation 1975 –
1990. München 2012; Altrichter, Helmut/Wentker, Hermann (Hrsg.): Der KSZE-Prozess.Vom Kalten
Krieg zu einem neuen Europa 1975 bis 1990. München 2011; Becker-Schaum, Christoph/Gassert,
Einleitung 7
Vgl. Nuti, Leopoldo: The Origins of the 1979 Dual Track Decision. In: Nuti (Hrsg.), Crisis of
Détente, S. 57; Geiger, Tim: Der NATO-Doppelbeschluss. Vorgeschichte und Implementierung. In:
Becker-Schaum [u. a.] (Hrsg.), „Entrüstet euch!“, S. 54.
Vgl. Loth, Helsinki, S. 191 f.
Becker-Schaum, Christoph/Gassert, Philipp/Klimke, Martin/Mausbach, Wilfried/Zepp, Mari-
anne: Einleitung. Die Nuklearkrise der 1980er Jahre. NATO-Doppelbeschluss und Friedensbe-
wegung. In: Becker-Schaum [u. a.] (Hrsg.), „Entrüstet euch!“, S. 9.
Vgl. Geiger, NATO-Doppelbeschluss, S. 57.
Für einem Überblick zur Entstehung des NATO-Doppelbeschlusses siehe: Nuti, Origins,
S. 57– 71.
Einleitung 9
te – die schon vor der Aufstellung sowjetischer SS-20-Raketen im Gange war – und
zugleich Folgen der Détente aus den 1960er und 1970er Jahren, weil die sowjeti-
schen Raketen in eine Grauzone der Abrüstungsvereinbarungen fielen.²⁸
In seiner bündnispolitischen Dimension sollte der NATO-Doppelbeschluss
der inneren Geschlossenheit des westlichen Bündnisses dienen, provozierte aber
stattdessen Auseinandersetzungen in den transatlantischen Beziehungen. Der
Ruf der Europäer nach einem strategischen Gleichgewicht wurde durch die
amerikanische Administration als Forderungen nach mehr amerikanischen Nu-
klearwaffen in Europa fehlinterpretiert.²⁹ Der amerikanische Präsident Jimmy
Carter war zudem darauf bedacht, das Vertrauen in seine Führungsfähigkeit
wieder herzustellen, und trieb auch deshalb die Modernisierung taktischer Nu-
klearwaffen vehement voran, die aus dieser Perspektive als ein politischer Akt
erscheint und den Zusammenhalt der Allianz stärken sollte.³⁰
Die Krise um die Euroraketen zog allerdings auch gewaltige sozioökonomi-
sche Folgen nach sich,³¹ als sich insbesondere in der Bundesrepublik eine starke
Friedensbewegung formierte, die eine Aufstellung neuer Raketen in Westeuropa
zu verhindern suchte. Diese gesellschaftliche Dimension wirkte ihrerseits auf die
bündnis- und außenpolitische zurück, indem der Druck der Friedensbewegung
auf die Regierungen Westeuropas zu Konflikten innerhalb der Allianz führte. Dass
die Sowjetunion die Friedensbewegung im Kampf um die Euroraketen zu in-
strumentalisieren versuchte, bewirkte bei den Ländern der Atlantischen Allianz
außenpolitisch ein härteres Auftreten gegenüber dem Osten. Es zeigt sich also, wie
hier gesellschaftliche, bündnis- und außenpolitische Faktoren in einem engen
Wechselverhältnis zueinanderstanden.
Für die außenpolitische Dimension spielte auch die militärische eine zentrale
Rolle: Durch eine Reihe von Ereignissen fühlten sich die Vereinigten Staaten in die
Defensive gedrängt, während sich der Kommunismus und die Sowjetunion ganz
Vgl. Nuti, Origins, S. 68; Bange, Oliver: SS 20 und Pershing II. Waffensysteme und die Dyna-
misierung der Ost-West-Beziehungen. In: Becker-Schaum [u. a.] (Hrsg.), „Entrüstet euch!“,
S. 71– 87; Geiger, NATO-Doppelbeschluss, S. 54– 70.
Zur Rolle eines amerikanisch-deutschen Missverständnisses bei der Entstehung des NATO-
Doppelbeschlusses siehe: Haftendorn, Helga: Das doppelte Missverständnis. Zur Vorgeschichte
des NATO-Doppelbeschlusses von 1979. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 33 (1985) 2.
S. 244– 287; Zur Revision dieser These siehe außerdem: Lutsch, Andreas: Die Bundesrepublik
Deutschland als „nicht-nukleare Mittelmacht“ und der NATO-Doppelbeschluss (1978 – 1979). In:
Medien der Außenbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg.von Hoeres, Peter/Tischer,
Anuschka. Köln/Weimar/Wien 2017. S. 389 – 412.
Geiger, NATO-Doppelbeschluss, S. 60.
Neben den bereits zuvor genannten Studien siehe außerdem: Greiner, Bernd/Müller, Christian
Th./Weber, Claudia (Hrsg.): Ökonomie im Kalten Krieg. Hamburg 2010.
10 Einleitung
Reaktionen auf das Kriegsrecht in Polen zeigen können,³⁸ wurde von den West-
europäern während der Krise der Détente die Notwendigkeit umso stärker
wahrgenommen, „to deal with Washington on more equal terms“³⁹. An dieser
Stelle wirkten entspannungs- mit wirtschafts- und bündnispolitischen Faktoren
zusammen: Jüngste Studien haben gezeigt, dass die 1970er Jahre keineswegs ein
dunkles Zeitalter der europäischen Integration waren, wie Zeitgenossen und
frühere Studien angenommen haben.⁴⁰ Zum einen wurde unlängst von Claudia
Hiepel bemängelt, dass der Zusammenhang von europäischer Integration und
Globalisierung bisher nicht konsequent von Historikern als Kategorie genutzt
wurde.⁴¹ Die Ursprünge der Single European Act des Jahres 1986, die die Aufnahme
neuer Politikfelder und institutionelle Reformen der EG anstieß, werden von den
Autoren des Bandes Europe in a Globalising World in den 1970er Jahren verortet,
wodurch die Geschichte der 1970er und frühen 1980er eher als „a history of em-
powerment than of stagnation and decline“⁴² erscheine. Institutionelle und po-
litische Entwicklungen der EG in den 1970er Jahren werden so im Lichte von
Globalisierungseffekten betrachtet, die durch die politischen Akteure als bisher
nicht gekannte Herausforderungen wahrgenommen wurden. Für die National-
staaten und EG-Akteure bedeutete dies, mit einer zunehmenden Interdependenz
umgehen zu lernen. Zum anderen fordern Patel/Weisbrode die Transformationen
in den Beziehungen zwischen Europa und den USA in einen globaleren Kontext
zu stellen.⁴³ So verweisen sie darauf, dass Fortschritte in der europäischen Inte-
gration nicht nur Resultat vom Ende des Ost-West-Konfliktes waren, sondern
gerade auch dessen Stimuli. Die Rolle der EG bei der Beendigung des Ost-West-
Konfliktes sei größer als ihr bisher zugesprochen werde.⁴⁴
Aus den unterschiedlichen Krisendimensionen und den Erkenntnissen der
beiden letztgenannten Bände ergibt sich ein Interaktionsfeld zwischen Globali-
sierung, europäischer Integration, transatlantischen Beziehungen und Ost-West-
Vgl. Tavani, Sara: The Détente Crisis and the Emergence of a Common European Foreign
Policy. The „Common European Polish Policy“ as a Case Study. In: Hiepel (Hrsg.), Europe, S. 50;
Sjursen, United States.
Tavani, Détente Crisis, S. 50.
Vgl. Patel, Kiran Klaus/Weisbrode, Kenneth: Introduction. Old Barriers, New Openings. In:
European Integration and the Atlantic Community in the 1980s. Hrsg. von Patel, Kiran Klaus/
Weisbrode, Kenneth. New York 2013. S. 4; Hiepel (Hrsg.), Europe; Varsori, Antonio/Migani, Guia
(Hrsg.): Europe in the International Arena during the 1970s. Entering a Different World. Brüssel
2011.
Hiepel Claudia: Introduction. In: Hiepel (Hrsg.), Europe, S. 11.
Hiepel, Introduction, S. 14.
Patel/Weisbrode, Introduction, S. 4.
Patel/Weisbrode, Introduction, S. 8.
12 Einleitung
Forschungsstand
Hansen, Abschied.
Vgl. Gaddis, Der Kalte Krieg; Stöver, Der Kalte Krieg.
Einschlägig zur Außenpolitik von Charles de Gaulle siehe: Vaïsse, Maurice: La Grandeur.
Politique étrangère du général de Gaulle, 1958 – 1969. Paris 1998; Für eine Gesamtdarstellung der
französischen Außenpolitik siehe:Vaïsse, Maurice: La puissance ou l’influence? La France dans le
monde depuis 1958. Paris 2009; Zur Dekonstruktion etablierter Mythen siehe: Loth, Wilfried:
Charles de Gaulle. Stuttgart 2015.
14 Einleitung
Vgl. Lappenküper, Ulrich: Mitterrand und Deutschland. Die enträ tselte Sphinx. Mü nchen 2011;
Schwarz, Hans-Peter: Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten. Berlin
1998; Hildebrand, Klaus: Wiedervereinigung und Staatenwelt. Probleme und Perspektiven der
Forschung zur deutschen Einheit 1989/90. In: VfZ 52 (2004) 2. S. 193 – 210; Praus, Angelika: Das
Ende einer Ausnahme. Frankreich und die Zeitenwende 1989/90. Marburg 2014; Newton, Julie M.:
Gorbachev, Mitterrand, and the Emergence of the Post-Cold War Order in Europe. In: Europe-Asia-
Studies 65 (2013) 2. S. 290 – 320; Cohen, Samy (Hrsg.): Mitterrand et la sortie de la guerre froide.
Paris 1998. S. 372.
Zuletzt erschienen: Waechter, Matthias: Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing auf der
Suche nach Stabilität in der Krise der 70er Jahre. Bremen 2011; Hiepel, Claudia: Willy Brandt und
Georges Pompidou. Deutsch-französische Europapolitik zwischen Aufbruch und Krise. München
2012; Petter, Dirk: Auf dem Weg zur Normalität. Konflikt und Verständigung in den deutsch-
französischen Beziehungen der 1970er Jahre. München 2014.
Einen ereignisgeschichtlichen Überblick über Mitterrands Verhältnis zu Deutschland wurde
durch Ulrich Lappenküper vorgelegt, in dem jedoch dessen Anspruch, die „Sphinx“ Mitterrand zu
enträtseln nicht restlos eingelöst wird; siehe Lappenküper, Mitterrand und Deutschland.
Zu bilateralen Beziehungen siehe außerdem: Cogan, Charles: Alliées eternels, ami ombra-
geux. Les Etats-Unis et la France depuis 1940. Brüssel 1999; Newton, Julie M.: Russia, France and
the Idea of Europe. London 2004.
Soutou, Georges-Henri: L’Alliance incertaine. Les rapports politico-stratégique franco-alle-
mands, 1954– 1996. Paris 1996.
Forschungsstand 15
Bozo, Frédéric: La France et l’OTAN. De la guerre froide au nouvel ordre européen. Paris 1991.
S. 17.
Siehe auch Badalassi, Nicolas: En finir avec la guerre froide. La France, l’Europe et le pro-
cessus d’Helsinki, 1965 – 1975. Rennes 2014; Chaput, Paul: La France face à l’initiative de défense
stratégique de Ronald Reagan (1983 – 1986). Paris 2014.
Vgl. Heyde, Veronika: Frankreich im KSZE-Prozess. Diplomatie im Namen der europäischen
Sicherheit. Berlin/Boston 2017; Heyde, Veronika: Ambiguous Détente. The French Perception of
Stability at the End of the Seventies. In: Hiepel (Hrsg.), Europe, S. 69 – 87; Heyde, Veronika: Nicht
nur Entspannung und Menschenrechte. Die Entdeckung von Abrüstung und Rüstungskontrolle
durch die französische KSZE-Politik. In: Peter/Wentker (Hrsg.), KSZE, S. 83 – 98; Heyde, Veronika:
Entspannung, Menschenrechte, Abrüstung. Die KSZE-Politik Frankreichs in den 1970er Jahren. In:
Gotto [u. a.] (Hrsg.), Nach „Achtundsechzig“, S. 105 – 119.
16 Einleitung
Ein widersprüchliches Bild von Mitterrands Politik wird gewiss dadurch er-
zeugt, dass seine Aktionen sich beizeiten widersprachen. Allerdings sollte eine
Analyse nicht bei dieser Feststellung stehen bleiben, sondern vielmehr nach den
Motiven des französischen Präsidenten und nach seiner politischen Konzeption
fragen. Die ambivalenten Impulse scheinen nämlich gerade der Tatsache ge-
schuldet, dass sich Mitterrand mit der Bewältigung einer doppelten Krise kon-
frontiert sah, die ihn einem Dilemma zwischen Bündnissicherung und Entspan-
nungspolitik aussetzte. Überzeugende Erklärungen für Mitterrands vermeintliche
Widersprüchlichkeit liefert Elke Bruck, indem sie sie auf widerstreitende Wahr-
nehmungsmuster zurückführt.⁶⁸
Zu Mitterrands ersten Amtsjahren wurde ein aufschlussreicher Sammelband
vorgelegt,⁶⁹ dessen Beiträge auf Grundlage aussagekräftiger Archivdokumente
Einzelfacetten von Mitterrands Sicherheitspolitik, wie bilaterale Beziehungen,
verteidigungs- oder europapolitische Aktionen untersuchen. Allerdings werden
diese Einzelbeiträge nicht hinreichend zueinander in Interaktion gestellt, wenn-
gleich dies dem Rahmen der Publikation geschuldet ist. Eine Studie zu Mitter-
rands Sicherheitspolitik muss insgesamt darüber hinausgehen und die europäi-
sche Dimension seiner Politik im Kontext und Wechselverhältnis von Ost-West
und transatlantischen Beziehungen sowie Globalisierungseffekten verstehen.
Dafür liefern diese Beiträge bereits wichtige grundlegende Erkenntnisse. Frédéric
Bozo hat darauf verwiesen, dass Mitterrands Vorstellungen auf den geopoliti-
schen Vorstellungen von einem vereinten strategischen Europa Charles de Gaulles
gründeten.⁷⁰ Obwohl er auch auf Mitterrands Vermittler-Rolle zwischen Ronald
Reagan und Michail Gorbatschow aufmerksam macht,⁷¹ hat er doch bisher weder
dessen Vermittlungsstrategien erforscht, noch konnte er den ambivalenten Ein-
druck französischer Politik während der Cohabitation erklären, als Mitterrand
sich die Exekutive mit einer konservativen Regierung unter Jacques Chirac teilte.
Die deutsche Wiedervereinigung stellt einen der bislang am kontroversesten
diskutierten Aspekte in der Historiographie zu François Mitterrand dar, bei dem
sich grob zwei Forschungsstränge gegenüberstehen. Einige Autoren attestieren
dem französischen Präsidenten entweder außenpolitische Fehlentscheidungen
oder unterstellen ihm beharrlich, eine deutsche Wiedervereinigung nur wider-
willig akzeptiert zu haben.⁷² Sie vertreten die These, Mitterrand habe diese blo-
ckieren wollen oder gar versucht, mit Magaret Thatcher und Michael Gorbatschow
zu konspirieren.⁷³ Diese Thesen gründen auf einem methodischen Problem, da
sich die Autoren wenig für Perzeptionen und Handlungsmotive interessieren und
sich nicht von der überholten Grundannahme lösen können, wonach „die Ge-
schichte internationaler Beziehungen im Kern im Ringen um Macht aufgehe“⁷⁴.
Umso erstaunlicher sind diese Schlussfolgerungen, da bereits Publikationen
vorgelegt wurden, die zeigen konnten, dass Mitterrand sich keineswegs gegen
eine deutsche Wiedervereinigung gestellt hat, sondern vielmehr versuchte, diese
durch ein aktives Vorantreiben der europäischen Integration abzusichern, um so
potentiellen künftigen Konflikten vorzubeugen.⁷⁵ Frédéric Bozo hat zu dieser
Thematik eine umfassende Gesamtdarstellung vorgelegt, die als Standardwerk
gelten kann.⁷⁶ Durch Elke Bruck wurde 2003 eine politikwissenschaftliche Arbeit
zu Mitterrands Verhältnis zu Deutschland mit einem Schwerpunkt auf dem Um-
bruch von 1989 – 1992 vorgelegt.⁷⁷ Zwar stützt sich diese nicht auf eine Auswer-
tung der Akten von Elysée und Quai d’Orsay, überzeugt aber sowohl hinsichtlich
der theoretisch-methodischen Ausrichtung als auch hinsichtlich der Fragestel-
lung. Indem Bruck einen kognitionsgeleiteten und sozialpsychologischen Ansatz
wählt, gelingt es ihr, Mitterrands mitunter sehr widersprüchliche deutschland-
bezogene Wahrnehmungsschemata herauszuarbeiten und deren Wandel und
Einfluss auf deutschland-, europa- und sicherheitspolitische Entscheidungen des
Staatspräsidenten zu untersuchen. Individuelle Wahrnehmungs- und Deutungs-
muster stehen bei Bruck zwar ausdrücklich im Vordergrund, allerdings be-
schränkt sie sich auf die Person François Mitterrand ebenso wie auf sein Bild von
Deutschland. Die vorliegende Arbeit fügt Mitterrands Perzeptionen der Realität
insgesamt in ein größeres personales Umfeld seiner Regierungsmannschaft ein
und beschränkt sich nicht ausschließlich auf deutschlandbezogene Denkbilder.
Durch ihren theoretischen Ansatz und die Abkehr von der realistischen Schule
kommt Elke Bruck insgesamt zu einer überzeugenden Lesart von Mitterrands
tionalen Beziehungen hat eine sehr lange Tradition, die tief in der Außenpolitik
Frankreichs verwurzelt ist. Sie weist eine stark nationalstaatlich orientierte Aus-
richtung mit einer Konzentration auf nationale Interessen auf.⁸⁰ Diese Charakte-
ristik ist strukturell in der Entwicklung der französischen Geschichtsschreibung
der internationalen Beziehungen begründet. In Frankreich gab es seit jeher eine
besonders enge Interdependenz zwischen Forschung und nationalem Selbstver-
ständnis und die langjährige nationalstaatliche Verengung erwuchs auch aus der
Auseinandersetzung mit nationalen Problemen. Hinzu kommt außerdem, dass
die enge Verbindung von Politik, Gesellschaft und Zeitgeschichtsforschung sich
auch institutionell niederschlug und die Bindung von Forschung und Lehre an
den Staat stärker ist als in anderen Ländern.⁸¹
Allerdings blieb die französische Schule internationaler Beziehungen seit
ihrem Gründervater Albert Sorel im 19. Jahrhundert, der noch vorwiegend die
Kontinuität nationaler Interessen und das Ringen um Hegemonie und Gleichge-
wicht im Blick hatte, nicht unberührt von methodischen Innovationen.⁸² Durch
das Theoriemodell der forces profondes von Pierre Renouvin und methodischen
Neuerungen durch Jean-Baptiste Duroselle wurden zahlreiche Einflussfaktoren
auf die Außenpolitik, wie innenpolitische oder geographische Faktoren, in
Rechnung gestellt.⁸³ Damit entwickelte sich die französische Schule nicht nur von
einer reinen Diplomatiegeschichte zur Geschichte der internationalen Bezie-
hungen. Auch der Einfluss der Annales machte sich bemerkbar, indem die longue
durée gegenüber kurzfristigen Abläufen politischer Ereignisse integriert wurden.
Die französische Schule ist gekennzeichnet von den forces profondes und der
Rolle des Individuums in außenpolitischen Entscheidungsprozessen. Diese Tra-
dition weist einige methodologische Schwierigkeiten auf, indem sie häufig in der
Sichtweise der realistischen Schule verhaftet bleibt. Weiterhin problematisch ist
auch, dass mit dem Primat nationaler Interessen ein Desinteresse an der Erfor-
schung multilateraler Interaktionen im internationalen und europäischen System
historischen Prozessen gefragt wird. Zugleich darf der Fokus dabei nie auf nur
einem Akteur alleine liegen; viel wichtiger ist es, Akteure in einem Interaktions-
verhältnis zu sehen.⁹⁵ Damit geht diese Arbeit insgesamt sowohl hinsichtlich der
Fragestellung als auch in ihrem Verständnis von Außenpolitik über die Ansätze
der konventionellen Diplomatiegeschichte hinaus.
Es gibt bereits vergleichbare Studien, die die Strategien eines oder mehrerer
Akteure erforschen, mit Herausforderungen in den internationalen Beziehungen
und insbesondere während der Krise der Entspannung zu Beginn der 1980er Jahre
umzugehen. Unlängst legte Agnes Bresselau von Bressensdorf eine Studie vor, in
der sie die medialen Kommunikationsleistungen des langjährigen deutschen
Außenministers Hans-Dietrich Genscher erforscht und nach dessen Krisenma-
nagement im Zweiten Kalten Krieg fragt. Sie kommt nach ihren Untersuchungen
zu dem Ergebnis, dass Genscher bündnisinterne Konflikte mit einer Verzöge-
rungstaktik versuchte zu entschärfen und attestiert ihm „entspannungspoliti-
sche[s] Verständnis“, da seine Kommunikationsfähigkeit bei der Zuspitzung von
Krisen nicht ab-, sondern zugenommen habe.⁹⁶ Arbeiten dieser Art lassen sich
Untersuchungen zu den Strategien anderer Akteure, wie beispielsweise der vor-
liegenden zu François Mitterrand gegenüberstellen: Auf diese Art und Weise zeigt
sich, wie Akteure der internationalen Beziehungen unterschiedliche Handlungs-
strategien und Bewältigungsmechanismen für spezifische Herausforderungen
entwickeln. Mit diesem Ansatz lassen sich bi- und multilaterale Konfliktkonstel-
lationen erklären, wenn diese Strategien beispielsweise zu inkompatiblen
Handlungsimpulsen führten.
Die Theorielandschaft in der Disziplin der internationalen Beziehungen hat
eine breite Ausdifferenzierung erfahren und sich schon seit geraumer Zeit von
Prämissen der konventionellen Diplomatiegeschichte und realistischen Schule
verabschiedet. Diese Studie schließt sich der Annahme an, dass eine theoretische
Engführung von Außenpolitik als Verfolgung nationalstaatlicher Interessen, zu
keinen validen Forschungsergebnissen führen kann. Sie soll daher durch ver-
schiedene methodische Grundannahmen aufgebrochen werden: Erstens darf sich
die Analyse von Außenpolitik nicht allein auf staatliche Akteure beschränken.
Prämissen traditioneller Außenpolitik-Geschichte werden also auch dadurch er-
weitert, dass nichtstaatliche Akteure bei der Analyse von außenpolitischem
Handeln in Rechnung gestellt werden. Durch ein Interaktionsverhältnis von In-
nen- und Außenpolitik sowie politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher
Vgl. Frevert, Ute: Angst vor Gefühlen? Die Geschichtsmächtigkeit von Emotionen im
20. Jahrhundert. In: Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte. Hrsg. von Nolte, Paul/Hettling,
Manfred/ Kuhlemann, Frank-Michael/Schmuhl, Hans-Walter. München 2000. S. 95 f.; Aschmann,
Nutzen und Nachteil, S. 26.
Vgl. Aschmann, Nutzen und Nachteil, S. 14 f.
Vgl. Frevert, Ute: Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen? In: Geschichte und Ge-
sellschaft 35 (2009). S. 202 f.; Zu dem Wandel von Gefühlskulturen siehe außerdem: Frevert, Ute/
Scheer, Monique/Schmidt, Anne/Eitler, Pascal/Hitzer, Bettina/Verheyen, Nina/Gammerl, Benno/
Bailey, Christian/Pernau, Margit (Hrsg.): Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der
Moderne. Frankfurt/New York 2011.
Frevert, Angst, S. 102.
Für Forschungsüberblicke zur Emotionsgeschichte siehe: Hitzer, Emotionsgeschichte; Hitzer
gibt einen Überblick über die Vielzahl methodisch-theoretischer Zugänge in der Geschichtswis-
senschaft und liefert ausgewählte empirische Beispiele. Für einen zeitgeschichtlichen Fokus
siehe: Verheyen, Nina: Geschichte der Gefühle. Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 18.06.
28 Einleitung
Vertrauen, Liebe, Wut, Scham oder Ehre erregen die Aufmerksamkeit von Emo-
tionshistorikern.¹²⁷
Hinsichtlich der Wirkmächtigkeit von Emotionen stellt der politische Bereich
„nicht etwa eine Ausnahme, sondern mehr als alle anderen ein Feld sorgfältig
inszenierter Gefühls-Strategien“¹²⁸ dar. Darüber, dass Emotionen und Vernunft
keine Gegensätze bilden, sondern Emotionen vielmehr integraler Bestandteil von
rationalem Handeln sind, herrscht in der Forschung jenseits der realistischen
Schule inzwischen weitestgehend Konsens.¹²⁹ Stattdessen ist davon auszugehen,
dass die Trennlinie zwischen dem, was als rational oder irrational betrachtet wird,
vom Kontext abhängig und sozial konstruiert ist.¹³⁰ Die Untersuchung von Emo-
tionen als politischer Faktor in den internationalen Beziehungen hat gegenwärtig
Konjunktur. Bisher gibt es allerdings nur wenig empirische und methodische
Forschung zu Emotionen in der Diplomatie – zumindest kaum zufriedenstellende
Erkenntnisse darüber, was Gefühle in den internationalen Beziehungen bewirken,
Siehe u. a. Springer, Anne/Janta, Bernhard/Münch, Karsten (Hrsg.): Angst. Gießen 2011;
Moïsi, Dominique: La géopolitique de l’émotion. Comment les cultures de peur, d’humiliation et
d’espoir façonnent le monde. Paris 2008; Sunstein, Cass R.: Gesetze der Angst. Jenseits des
Vorsorgeprinzips. Frankfurt am Main 2007; Bourke, Joanna: Fear. A cultural history. London 2005;
Delumeau, Jean: La Peur en Occident (XIVe–XVIIIe siècles). Une cité assiégée. Paris 1978; Für
einen ausführlichen Überblick über Studien zu Angst siehe: Hitzer, Emotionsgeschichte,
S. 16 – 30.
Siehe u. a. Misztal, Barbara A.: Trust in Modern Societies. The Search for the Bases of Social
Order. Cambridge 1996; Frevert, Ute: Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne. München
2013; Gammerl, Benno: Eine makellose Liebe? Emotionale Praktiken und der homophile Kampf
um Anerkennung. In: Männer mit „Makel“. Männlichkeiten und gesellschaftlicher Wandel in der
frühen Bundesrepublik. Hrsg. von Gotto, Bernhard/Seefried, Elke. Berlin 2017. S. 104– 113; Ro-
senwein, Barbara (Hrsg.): Anger’s Past. The social uses of an emotion in the Middle Ages. Ithaka
[u. a.] 1998; siehe ferner: Kessel, Martina: Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in
Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 2001; Menninghaus,
Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt am Main 2002.
Frevert, Angst, S. 96.
Vgl. u. a. Aschmann, Nutzen und Nachteil, S. 10; Kreis, Reinhild: Arbeit am Beziehungs-
status. Vertrauen und Misstrauen in den außenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik
Deutschland. In: Diplomatie mit Gefühl. Vertrauen, Misstrauen und die Außenpolitik der Bun-
desrepublik Deutschland. Hrsg. von Kreis, Reinhild. Berlin/München/Boston 2015. S. 9; Loth,
Angst und Vertrauensbildung, S. 30; Frevert, Was haben Gefühle, S. 197; Hitzer, Emotionsge-
schichte, S. 6; Bourke, Joanna: Fear and Anxity. Writing about Emotion in Modern History. In:
History Workshop Journal 55 (2003). S. 124; Stein, Threat Perception, S. 378.
Vgl. Aschmann, Nutzen und Nachteil, S. 18; Frevert, Ute: Rationalität und Emotionalität im
Jahrhundert der Extreme. In: Das 20. Jahrhundert vermessen. Signaturen eines vergangenen
Zeitalters. Hrsg. von Sabrow, Martin/Weiß, Peter Ulrich. Göttingen 2017. S. 115 – 140.
30 Einleitung
beklagte jüngst Bernhard Gotto.¹³¹ Diesem Befund stehen vermehrt Appelle und
Impulse gegenüber, die „Gefühlsdimension zwischenmenschlicher Kommunika-
tion“ und Gefühle als „eine Schlüsselkategorie in den internationalen Bezie-
hungen auf allen Ebenen“ ernst zu nehmen.¹³² So gibt Jan Plamper Anstoß, über
eine „Emotionsgeschichte der Diplomatie“¹³³ nachzudenken und beispielsweise
emotionscodiertes Sprechen und Handeln in der Diplomatie zu untersuchen,
indem man sich dem Vokabular unter emotionshistorischer Perspektive zuwen-
det. Ebenso von Interesse seien Emotionen, die als Handlungsmotive wirken,
allerdings schwerer zugänglich sind.¹³⁴
In der Historiographie der internationalen Beziehungen werden Emotionen
daher nun zunehmend als eigenständige Einflussfaktoren von politischem Han-
deln berücksichtigt.¹³⁵ Eine systematische Studie zu der spezifischen Rolle von
Emotionen für außenpolitisches Handeln beziehungsweise eine Monographie, in
der der Zugriff über Emotionen methodisch fruchtbar gemacht werden konnte,
wurde bisher allerdings noch nicht vorgelegt. Gleichwohl gibt es viele Überle-
gungen in kleineren Beiträgen und Sammelbänden, die sich diesem Thema öff-
nen. Insbesondere „Angst und [das] Problem ihrer Einhegung“¹³⁶ wurde in
jüngster Zeit zum beherrschenden Gefühl des Kalten Krieges erhoben. Dies stellt
zwei Kategorien gegenüber, die für die Analyse außenpolitischen Handelns in der
Ära des Kalten Krieges wesentlich sind und auch in Wilfried Loths Aufsatz Angst
und Vertrauensbildung nutzbar gemacht werden.¹³⁷ Sowohl auf Angst als auch auf
Vertrauen konzentrieren sich bisher jene Beiträge zu den internationalen Bezie-
hungen, die einen emotionshistorischen Zugang verfolgen.¹³⁸ Auch in den
Vgl. Miard-Delacroix, Hélène: Kalkulation und Emotion. Der Élysée-Vertrag vom 22. Januar
1963. In: Vergleich und Verflechtung. Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert. Hrsg. von
Leonhard, Jörn. Berlin 2015. S. 127– 141.
Vgl. Lappenküper, Ulrich: Prekäres Vertrauen. François Mitterrand und Deutschland seit
1971. In: Kreis (Hrsg.), Diplomatie, S. 83 – 96.
Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 4. Aufl.
Frankfurt am Main 2000. S. 355.
Vgl. Bormann [u. a.], Theoretische Überlegungen, S. 30 f.
32 Einleitung
Zukunft ausgelöst wird.¹⁴³ Ähnlich wie bei der perzipierten Realität, die den Status
von Realität einnimmt, spielt es keine Rolle, ob es sich um berechtigte oder un-
berechtigte Ängste – also eine reale oder eingebildete Bedrohung – handelt.¹⁴⁴
Hier lässt sich an Reinhard Koselleck anschließen, mit dessen Namen die un-
trennbare Verbindung von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont assoziiert
wird.¹⁴⁵ Denn auch die Erwartung einer Bedrohung und damit die ausgelösten
Ängste können auf früheren Erfahrungen beruhen. Dem liegen sowohl eigene als
auch tradierte Erfahrungen zugrunde, wodurch persönliche und kollektive Trau-
mata in diese Ängste vor sogenannten known unknowns einfließen. Aber auch
sogenannte unknown unknowns können Ängste auslösen, wenn sich Erwartungen
nicht mehr aus dem Erfahrungswissen ableiten lassen.¹⁴⁶
Dieses Verhältnis von Erfahrung und Erwartung gilt in ähnlicher Weise für
Vertrauen.¹⁴⁷ Reinhild Kreis weist darauf hin, dass auch Vertrauen eine historische
Dimension besitzt.¹⁴⁸ Da es ähnlich wie Angst auf Erfahrungen der Vergangenheit
basiert, lassen sich der Aufbau von Vertrauen sowie dessen Ursprünge erforschen.
In Vertrauen manifestieren sich die aus Erfahrungen abgeleiteten Erwartungen an
die Zukunft, die sich durch ein hohes Maß an Sicherheit beziehungsweise ver-
meintlicher Gewissheit auszeichnen. Bernhard Gotto empfiehlt, eine soziologi-
sche Ebene zu berücksichtigen und Vertrauen als eine generalisierte Erwar-
tungshaltung bei Unsicherheit über das Verhalten anderer zu verstehen. Indem
man Erwartungen zum Gegenstand der Analyse mache, gewinne man feste Kri-
terien, um „Vertrauen dingfest zu machen“ und handle sich nicht „all die Un-
schärfen ein, die den Quellenbegriff Vertrauen vieldeutig machen“.¹⁴⁹ Daher
schließt sich diese Studie der Schlussfolgerung von Ute Frevert und Reinhild Kreis
Sebastian Haak empfahl ebenfalls, für eine Analyse von Angst die Zeitebenen Vergangenheit
(Erfahrung) und Zukunft (Erwartung) in einen Zusammenhang zu stellen: Haak, Sebastian:
Nuclear fear, konventionelle Kriege und die Instrumentalisierung von Angst in den USA nach dem
Zweiten Weltkrieg. In: Bormann [u. a.] (Hrsg.), Angst, S. 185 – 202.
Vgl. Loth, Angst und Vertrauensbildung, S. 31; Bormann [u. a.], Theoretische Überlegungen,
S. 31.
Für den Zusammenhang von Erfahrung und Erwartung siehe Kapitel 1.
Vgl. Loth, Angst und Vertrauensbildung, S. 31; Zu known unknowns und unknown unknowns
siehe: Bröckling, Ulrich: Dispositive der Vorbeugung: Gefahrenabwehr, Resilienz, Precaution. In:
Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr. Hrsg. von Daase,
Christopher/Offermann, Philipp/Rauer, Valentin. Frankfurt am Main 2012. S. 95 f.; Scheller, Ben-
jamin: Kontingenzkulturen – Kontingenzgeschichten: Zur Einleitung. In: Die Ungewissheit des
Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte. Hrsg. von Becker, Frank/Scheller, Benjamin/
Schneider, Ute. Frankfurt/New York 2016. S. 14, 16.
Vgl. Frevert, Vertrauensfragen, S. 16 f.
Kreis, Arbeit, S. 9 f.
Gotto, Kommentar, S. 99 f.
Methodik und Materialgrundlage 33
an, dass das Verständnis der Spieltheorie und rational choice-Theorie, in der
Vertrauen ausschließlich auf Kalkulation und Berechenbarkeit – also einem rein
strategischen Verständnis – basiere, zu kurz greift. Erstens, so das Argument von
Kreis, werde dadurch die historische Dimension, also der Prozess der Vertrau-
ensbildung, verschleiert. Zweitens sieht die rational choice-Theorie nur eine Seite
von Vertrauen, wenn sie den emotionalen Gehalt negiert und stattdessen auf
wechselseitige Interessen und Berechenbarkeit als dessen Grundlagen ver-
weist.¹⁵⁰ Berechenbarkeit oder – um es mit Niklas Luhmann auszudrücken –
Vertrautheit und Vertrauen mögen zwar korrelieren, allerdings lässt sich von dem
einen nicht auf das andere schließen. Gewissheit über kalkulierte, potentiell
schädliche Entwicklungen würde in einem rein rationalen Verständnis bei-
spielsweise auch als Vertrauen gelten, obwohl diese auch Misstrauen und Ängste
auslösen könnte.¹⁵¹ Der entscheidende Unterschied ergibt sich aus der Bewertung
der erwarteten Zukunft, also dem Verhältnis, das Individuen dazu einnehmen.
Aus diesem Grund gilt es, in der Auseinandersetzung mit Vertrauen sowohl den
emotionalen als auch den strategischen Moment zu berücksichtigen, da beides
kaum voneinander zu trennen ist.
Für Erwartungen an die Zukunft spielt Wissen eine entscheidende Rolle.
Denn dadurch, dass das Verhalten anderer prinzipiell nicht vorhersagbar ist,
entstehen Wissens- beziehungsweise Sicherheitslücken in zwischenstaatlichen
Beziehungen, die im Kalten Krieg Ängste ausgelöst haben und durch Vertrauen
überwunden werden konnten.¹⁵² Niklas Luhmann versteht Vertrauen gar als eine
Vorwegnahme der Zukunft, in der man das Risiko eingehe, in der Zukunft ent-
täuscht zu werden.¹⁵³ Vertrauen könne in Misstrauen umschlagen, wenn Wis-
senslücken oder die Unsicherheit über das Verhalten des anderen zu groß werde,
als diese Lücke noch durch Vertrauen überbrückt werden könnte.¹⁵⁴
Auf der Handlungsebene lösen Ängste Abwehr- bzw. Bewältigungsmecha-
nismen aus, um diese zu überwinden.¹⁵⁵ In den internationalen Beziehungen und
insbesondere der Epoche des Kalten Krieges eröffnet Wilfried Loth zwei Per-
spektiven mit Ängsten umzugehen. Dabei erweist sich die erste als kontrapro-
duktiv, da Machtakkumulation zur Einschüchterung des Gegners die Akteure
schnell in ein Sicherheitsdilemma führe. Eine tatsächliche Chance, Ängste zu
überwinden und ein Gefühl von Sicherheit zu etablieren, biete sich dagegen
zweitens nur durch Vertrauensbildung.¹⁵⁶ Dadurch ist zugleich auf den Zusam-
menhang der Kategorien Angst und Vertrauen hingewiesen, an den diese Studie
anknüpfen möchte. Prinzipiell wird der Aufbau von Vertrauen als Mittel ver-
standen, um Ängste und Feindbilder abzubauen und ein Klima der Entspannung
zu etablieren. Vertrauen in diesem Sinne als operatives Ziel von politischem
Handeln zu verstehen, stellt eine von drei möglichen Analysekategorien von
Vertrauen dar, die in dem Sammelband Diplomatie mit Gefühl entwickelt wer-
den.¹⁵⁷ Auf Angst lässt sich dieses Verständnis insofern übertragen, als auch
Angst im Sinne einer Einschüchterungspolitik ein Ziel von politischem Handeln
sein kann. Hierbei spielen Imagination und Phantasie durchaus eine Rolle, da
diese Politik auf möglichen künftigen Szenarien basiert. Diese Analysekategorie
steht in engem Zusammenhang mit dem, was Ute Frevert als „Gefühlspolitik“
definiert. Diesen aus dem 19. Jahrhundert stammenden Begriff bezeichnet sie
entgegen dem zeitgenössischen Verständnis keineswegs als gefühlvolle Politik,
sondern vielmehr als Politik mit und um Gefühle – also eine „Interessenpolitik
mit ‚gefühlvollen Deductionen‘“¹⁵⁸. Durch Gefühlspolitik sollen nicht private Ge-
fühle ausgedrückt, sondern durch Inhaber eines politischen Amtes kommuniziert
werden. Ihre Dekonstruktion erfordert daher auch immer eine Analyse von Ge-
fühlskommunikation. Diese werde laut Frevert dadurch zu einer Politik, die Ge-
fühle inszeniere, adressiere, erzeuge und in den Dienst nehme, um Beziehungen
zwischen Staaten und Völkern zu verbessern.¹⁵⁹ Ob es jeweils um Verbesserung
dieser Beziehungen geht, ist äußerst fraglich, grundsätzlich dient Gefühlspolitik
aber dazu, Gefühle zu beeinflussen und zu instrumentalisieren. Diese Kategorie
wird in der vorliegenden Arbeit jeweils dann entscheidend sein, wenn die Be-
wältigung oder Erzeugung von Ängsten und der Aufbau von Vertrauen zum
operativen Ziel der französischen Akteure wurden, um sie als politische Ressource
zu nutzen.
Daneben lässt sich Vertrauen – aber auch Angst – zweitens als individuelle
zwischenmenschliche Empfindungen analysieren und wird in dem Fall als Motiv
für politisches Handeln verstanden.¹⁶⁰ Gefühle stiften Beziehungen zwischen Ak-
teuren und ermöglichen oder erschweren ihre Kommunikation.¹⁶¹ Sie sind also
Ressourcen sozialer Bindungen. Außerdem beeinflussen sie, wie bereits ange-
deutet wurde, das Denken und Handeln von Akteuren und spielen daher eine
Für den Aufbau und die Strukturen der präsidentiellen Archive siehe: Bos, Agnès/ Vaisse,
Damien: Les Archives présidentielles de François Mitterrand. In: Vingtième Siècle. Revue d’his-
toire 86 (2005). S. 71– 79; Carle, Françoise: Les Archives du Président. Mitterrand intime. Paris
1998.
Zu den Arbeitspraktiken im Elysée vgl. Kapitel 1; siehe ferner: Védrine, Hubert: Les mondes
de François Mitterrand. À l’Élysée 1981– 1995. Paris 1996. S. 39 – 41.
38 Einleitung
An dieser Stelle ist es notwendig, kurz auf eine Problematik hinzuweisen, die
den Dokumenten um Mitterrands Präsidentschaft zugeschrieben wird. Frédéric
Bozo diagnostizierte in seinen Forschungen ein negatives Image der französi-
schen Politik am Ende des Kalten Krieges. Dafür machte er mehrere Faktoren
verantwortlich: Zum einen resultiere es aus Fehlperzeptionen der nationalen und
internationalen (insbesondere der deutschen) Presse, also einem zeitgenössi-
schen Bild der französischen Politik.¹⁷⁴ Zusätzlich angeheizt sah er dies durch
Enthüllungen und Polemiken am Ende von Mitterrands Präsidentschaft, in denen
Skandale um seine Vichy-Vergangenheit oder sein Privatleben die Sicht auf die
Präsidentschaft insgesamt – inklusive der Außenpolitik – getrübt haben. Als
dritten Faktor nennt er die Publikation des dritten Bandes von Jacques Attalis
Tagebüchern. In diesen „toxic Verbatim“ kommentiere Mitterrands langjähriger
Vertrauter und spezieller Berater Dokumente „of dubious authenticity“. Viele
Belege seien zweifelhaft und nicht verifizierbar. Zudem habe er sich selbst Do-
kumente zugeschrieben, die er nicht verfasst habe, Schätzungen, Kürzungen oder
Hinzufügungen vorgenommen.¹⁷⁵ Attali habe damit nicht nur die frühe Literatur
zu Mitterrand „kontaminiert“, sondern auch die Erinnerung anderer zeitgenös-
sischer Akteure.¹⁷⁶ Was klingt wie eine Verschwörungstheorie, perpetuiert Vor-
würfe, die schon früher an Attali herangetragen wurden. Bereits die Publikation
des ersten Bandes seiner Verbatim sorgte zeitgenössisch für einen Skandal, weil
man Attali vorwarf, das Buch ohne Mitterrands Einwilligung oder der Autorisie-
rung zur Reproduktion geheimer Archive veröffentlicht zu haben. Pierre Joxe und
Pierre Hassner zogen schließlich bei einem Kolloquium zu Frankreich und dem
Ende des Kalten Krieges die Zuverlässigkeit der von Attali publizierten Dokumente
in Zweifel.¹⁷⁷ Die Journalisten Pierre Favier und Michel Martin-Roland hatten
privilegierte Einsicht in die Dokumente des Generalsekretärs im Elysée Jean-Louis
Bianco und geben an, mehr als die Hälfte der Seiten von Verbatim seien auf diese
reproduzierten Dokumente zurückzuführen. Immerhin bezeugen diese Autoren
damit, dass die Aufzeichnungen aus Verbatim den offiziellen Dokumenten ent-
sprechen; wenngleich dies gewiss nicht ihre Absicht war. Sie bezichtigen ihn des
Betruges, da Attali nicht wie im Prolog behauptet ausschließlich seine eigenen
Aufzeichnungen verwendet habe, zudem seien seine Kommentare häufig zwei-
felhaft.¹⁷⁸
Andere Autoren setzen die Authentizität von Attalis Dokumenten nicht höher
oder geringer an als bei anderen Gesprächsnotizen.¹⁷⁹ Dieser Ansicht schließt sich
diese Studie an, und zwar aus zwei Gründen: Erstens verwehrt sie sich damit
gegen diesen Kampf um die Deutungshoheit und lässt sich nicht zum Instrument
der einen oder anderen Sinnstiftung machen. Indem dieser Konflikt, der unter-
schiedlichen zeitgenössischen Perzeptionen und Rivalitäten entsprang, wieder
und wieder kolportiert und damit versucht wird, einer möglichen Deutung von
vornherein die Authentizität abzusprechen, wird er durch die historische For-
schung fortgesetzt. Ein Autor macht sich damit automatisch zum Instrument.
Stattdessen wird vorgeschlagen, eine Historisierung zeitgenössischer Wahrneh-
mung vorzunehmen. Zweitens trägt diese Arbeit nämlich Geschichtsdeutungen in
ihrer Vielfalt Rechnung und klassifiziert Attalis Publikation als Selbstzeugnis, bei
denen – vielleicht mehr als bei anderen Quellengattungen – subjektive Erfah-
rungen und Deutungen zum Ausdruck kommen. Wie aber auch bei jeder anderen
Quellengattung üblich und nötig, werden an Selbstzeugnisse und in diesem Fall
an Attalis Tagebücher quellenkritische Standards angesetzt. Letztlich sollten sich
auch Historiker ihrer Perspektivität bewusst sein und der Tatsache Rechnung
tragen, dass es unterschiedliche mehr oder weniger plausible Erzählungen über
die Vergangenheit gibt, zu denen sowohl die der Akteure als auch die von His-
torikern zählen. Daher versucht diese Studie diesen Rivalitäten und Konflikten um
die Authentizität von Attalis Dokumenten wenig Raum zu geben. Da die Tage-
bücher nicht den Anspruch einer historisch-kritischen Quellenedition erheben,
sondern vielmehr Erlebtes und Erfahrenes dokumentieren sollen, stellen sie nicht
nur eine wertvolle Quelle dar, um die unterschiedlichen sich mitunter wider-
sprechenden Perzeptionen der Akteure zu rekonstruieren. Sie verlangt vom His-
toriker vielmehr auch, die Plausibilität der Erzählung jeweils von Fall zu Fall
kritisch zu hinterfragen und zu erklären und nicht von vornherein zu disqualifi-
zieren.
Favier, Pierre/Martin-Roland, Michel: La Décannie Mitterrand. Bd. 3: Les défis (1988 – 1991).
Paris 1996. S. 41.
Siehe u. a. Loth, Wilfried: Helmut Kohl und die Währungsunion. In: VfZ 62 (2014) 4. S. 460,
Fußnote 12; Saunier, Georges: Eurêka: un projet industriel pour l’Europe, une réponse à un défi
stratégique. In: Journal of European Integration History 12 (2006) 2. S. 57– 74; Lappenküper,
Mitterrand und Deutschland; Praus, Ende.
Methodik und Materialgrundlage 41
sich mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows 1985 eine neue Chance eröffnete.
Da Mitterrand und seine Mannschaft in dem neuen Generalsekretär der KPdSU
diese Chance zur Revitalisierung der Entspannungspolitik sehr schnell erkann-
ten, analysiert Kapitel vier, durch welche Strategien der französische Präsident die
Vertrauensbildung zwischen Ost und West unterstützte. Die drei Themen-
schwerpunkte – Überwindung von Feindbildern, Ausbau Westeuropas und Auf-
bau paneuropäischer Kooperationsstrukturen – sollen zeigen, wie die équipe
Mitterrand einen Strukturwandel internationaler Staatenbeziehungen anstrebte.
François Mitterrand stand zwar in der Erwartung eines politischen Umbruchs
der Nachkriegsordnung, allerdings basierten seine Überlegungen erstens auf ei-
nem längerfristigen Zeitfenster und zweitens einer politischen Konzeption, die
eher einen evolutionären Umbau der bestehenden Staatenwelt vorsah. Die Tat-
sache, dass eine langfristig erwartete Zukunft 1989 zu einer unmittelbaren wurde,
gefährdete die Umsetzung dieser Vision und löste nicht nur bei Mitterrand Ängste
vor militärischen Auseinandersetzungen in Europa aus. Kapitel fünf untersucht,
wie die équipe Mitterrand angesichts der Revolutionen in Osteuropa und dem
Prozess der deutschen Wiedervereinigung versuchte, nach einer anfänglichen
Überraschung zu einer konstruktiven Rolle zurückzufinden und welche Ideen und
Strategien sie entwickelte, diesen erwarteten und doch überraschenden Umbruch
zu steuern und eine neue Ordnungsstruktur zu gestalten. Während der Zusam-
menbruch der Nachkriegsordnung zwar unmittelbare Gestaltungschancen eröff-
nete, wurde Mitterrands Handlungsspielraum von zwei Seiten eingeschränkt: Der
französische Präsident musste nicht nur Wege finden, eigene Ängste zu bewäl-
tigen, sondern sah auch die Notwendigkeit, auf Ängste anderer Staaten Rücksicht
zu nehmen. Zweitens gerieten seine Vorstellungen einer künftigen Staatenord-
nung in Widerstreit zu den Konzepten anderer Akteure. Kapitel fünf analysiert
dieses Ringen um eine neue Ordnung und sucht nach den Ursachen der Konflikte.
Der Untersuchungszeitraum endet 1990 mit der Charta von Paris, die den Ost-
West-Konflikt offiziell für beendet erklärte. Die geostrategischen Voraussetzungen
hatten sich entschieden verändert und forderten spätestens ab Mitte 1990/Anfang
1991 mit dem Verschwinden des östlichen Feindbildes (und mit dem 2. Golfkrieg
sowie dem späteren Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens) neue sicher-
heitspolitische Maßnahmen. Dadurch wandelten sich auch die Szenarien poten-
tieller künftiger militärischer Auseinandersetzungen. Nationalitätenkonflikte und
Bürgerkriege erforderten viel eher mobile und schnell einsatzbereite Streitkräfte.
Es lässt sich also mit dem Beginn der 1990er Jahre eine sicherheitspolitische Zäsur
konstatieren, mit der diese Untersuchung schließt.
Insgesamt liefert diese Studie einen Beitrag dazu, die unterschiedlichen Be-
wältigungsstrategien der Akteure am Ende des Kalten Krieges zu erforschen.
Somit handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit nicht nur um eine Geschichte
Methodik und Materialgrundlage 43
des letzten Jahrzehnts des Kalten Krieges. Sie öffnet vielmehr eine Perspektive auf
die Zukunftsvisionen und -planungen von Akteuren für die Zeit nach dem Ost-
West-Konflikt. Sie wird somit zu einer „Vorgeschichte der Gegenwart“¹⁸⁰ und
öffnet den Blick für Kontinuitäten gegenüber dem viel benannten politischen
Umbruch von 1989 – 1991.
Vor einer Analyse der politischen Impulse von François Mitterrand und seiner
équipe gilt es, einige Vorbedingungen dieser Politik zu erklären. Möchte man sie
verstehen, kommt man nicht umhin, nach den Wahrnehmungen und Deutungs-
mustern der handelnden Personen zu fragen, deren Ursprung und Genese ihrer-
seits selbst einer Erklärung bedürfen. Die Regierungsübernahme der Sozialisten
markierte keineswegs den Ausgangspunkt ihrer außenpolitischen Konzeptionen.
Diese hatten sich vielmehr in langwierigen Prozessen herausgebildet und wurden
von verschiedenen Seiten beeinflusst. Daher müssen ihre Vorstellungen, Ideen
und Handlungsimpulse in den Kontext verschiedener Bedingungsfaktoren von
Politik eingebettet werden. Das erste Kapitel steht damit unter der leitenden
Fragestellung, ob François Mitterrand das Amt des Präsidenten 1981 mit einer
klaren politischen Konzeption antrat und welche Zukunftserwartungen, Über-
zeugungen und Kompetenzen aus vergangenen Erfahrungen abgeleitet wurden.
Wie Georges Saunier herausgearbeitet hat, präsentierte sich François Mitterrand
bei öffentlichen Auftritten ebenso wie bei Gesprächen mit politischen Verhand-
lungspartnern gerne als ein Europäer der ersten Stunde, indem er seine Teil-
nahme am Europäischen Kongress in Den Haag im Jahr 1948 hervorhob.¹ Die
Selbstinszenierung als überzeugter Europäer soll in diesem Kapitel kritisch hin-
terfragt werden. In einem ersten Schritt werden dafür Mitterrands Vorstellungen
von Europa und die aus seiner Sicht notwendigen Bedingungen für eine stabile
Friedensordnung analysiert und auf seine Wahrnehmungen der internationalen
Situation im Jahr 1981 bezogen. Diese Vorstellungen und Wahrnehmungen müs-
sen dabei in ein Netz aus verschiedenen Faktoren eingebettet werden, die Einfluss
auf die Erkenntnisgewinnung bei François Mitterrand nahmen. Dafür wird in ei-
nem zweiten Schritt nach konzeptionellen Ursprüngen und Einflüssen auf seine
politischen Vorstellungen gefragt. Hierbei spielen erstens Kontinuitäten und
Brüche zu politischen Konzeptionen der Vergangenheit eine Rolle. Maßgeblich für
Mitterrands Realitätsperzeptionen sind zweitens seine persönliche und politische
Sozialisation. Wurden beispielsweise in der Vergangenheit bereits Erfahrungen
mit Unsicherheit gemacht und welche Handlungskompetenzen wurden dadurch
erworben? Drittens hatte sein personelles Umfeld Einfluss auf die Definition und
Vgl. dazu Saunier, Georges: „J’y étais, j’y croyais“, François Mitterrand et le Congrès de La Haye.
In: Le „Congrès de l’Europe“ à La Haye (1948 – 2008). Hrsg. von Guieu, Jean-Michel/Le Dréau,
Christophe. Brüssel [u. a.] 2009. S. 375 – 391.
https://doi.org/10.1515/9783110597417-003
1.1 Vorüberlegungen 45
Umsetzung seiner Politik. Es gilt also zu klären welche Akteure zur équipe Mitt-
errand zählten und welche Sozialisationsprozesse diese ihrerseits durchliefen.
Aufgrund der Kombination von Persönlichkeiten, die durch spezifische Arbeits-
praktiken und soziale Ressourcen verbunden waren, wird dieses Akteursgeflecht
im weiteren Verlauf auch als équipe Mitterrand bezeichnet. Neben diesen drei
Grundbedingungen für die Ausbildung von Vorstellungen und konzeptionellen
Überlegungen kamen noch äußere Einflussfaktoren für die Führung von Außen-
politik hinzu. Dafür müssen vorab sowohl die Spezifika des französischen poli-
tischen Systems erklärt werden als auch die Rahmenbedingungen für Außenpo-
litik um 1981. Die Globalisierung und Multilateralisierung von Außenpolitik
stellen beispielsweise ebensolche Rahmenbedingungen von Politik am Ausgang
des 20. Jahrhunderts dar. Zugleich wurde die Souveränität der Exekutiven von
verschiedenen Seiten wie einer kritischen Öffentlichkeit, Nichtregierungsorgani-
sationen oder politischen Verhandlungspartnern anderer Staaten eingeschränkt.
In diesem Netz aus unterschiedlichen Interessenvertretern galt es, den politischen
Kurs auszuhandeln.
Zwei theoretische Konzepte bieten sich als Grundlage der Analyse an: Zum
einen helfen zwei analytische Kategorien weiter, die Reinhart Koselleck als „Er-
fahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ bezeichnet hat.² Vor allem für den
Abschnitt, der sich mit der sozialisatorischen Prägung von Mitterrand und seinen
Weggefährten auseinandersetzt, erweisen sich Kosellecks Überlegungen zu Er-
fahrungsraum und Erwartungshorizont als weiterführend. Diese vermitteln für
sich keine historische Wirklichkeit, sondern sind vielmehr als „Bedingungen
möglicher Geschichte“ und „Erkenntniskategorien“ zu verstehen, „die die Mög-
lichkeit einer Geschichte begründen helfen.“³ Unter „Erfahrung“ versteht Kosel-
leck gegenwärtige Vergangenheit, „deren Ereignisse einverleibt worden sind und
erinnert werden können.“⁴ Erwartung dagegen sei ihm zufolge vergegenwärtigte
Zukunft und ziele auf das noch nicht Erfahrene und „nur Erschließbare“⁵. Diese
beiden Begriffe sind insofern aufeinander bezogen, als sie nicht ohne einander
existieren können: „Keine Erwartung ohne Erfahrung, keine Erfahrung ohne Er-
wartung.“⁶ Geschichte werde durch die Erfahrungen und Erwartungen der han-
delnden Personen konstruiert, indem sie in einer Gegenwart den Zusammenhang
von Vergangenheit und Zukunft herstellen. Da sie Zeitebenen gewissermaßen
ineinander verschränken, seien diese beiden Begriffe also geeignet, historische
Zeit zu thematisieren. Sie bieten sich gerade deswegen für die empirische For-
schung an, weil sie „inhaltlich angereichert, die konkreten Handlungseinheiten
im Vollzug sozialer oder politischer Bewegungen leiten.“⁷ Bezogen auf das vor-
liegende Forschungsprojekt lässt sich also festhalten, dass Erfahrungen von Ak-
teuren – sowohl kollektive als auch individuelle – entscheidend zur Konstruktion
ihrer Zukunftserwartungen beitrugen. Dabei gibt es unterschiedliche Möglich-
keiten für Akteure, sich in ein Verhältnis zum Ungewissen des Zukünftigen zu
setzten: Wie im methodischen Teil der Einleitung bereits angedeutet wurde,
handeln Akteure nicht rein rational. Emotionen gehen in die Erwartungen der
Zukunft und damit auch in das Handeln der politischen Akteure in der Gegenwart
ein. Allerdings irrt, wer davon ausgeht, dass es sich bei Erfahrungen oder Er-
wartungen um statische Entitäten handelt. Obwohl freilich die Ereignisse der
Vergangenheit nicht veränderbar sind, so unterliegt doch die Erfahrung, die da-
von abgeleitet wird, einem Wandel und kann sich durch neu gemachte Erfah-
rungen verändern. Überraschungen, bei denen das Erwartete nicht beziehungs-
weise anders eintritt, durchbrechen laut Koselleck den Erwartungshorizont und
„stifte[n] also neue Erfahrung“⁸. Die Begriffe Erfahrung(‐sraum) und Erwar-
tung(‐shorizont) sind insofern geeignete Instrumentarien, um historischen Wan-
del zu erklären und die Faktoren von individuellem Handeln und strukturellen
Prozessen in der Analyse zu verknüpfen. Diese theoretischen Grundlagen eignen
sich als Instrumente, um politisches Handeln beziehungsweise den Umgang von
Akteuren mit spezifischen Herausforderungen zu untersuchen und die Entste-
hung neuer Handlungsstrategien und Verhaltensmuster zu erklären. Bezogen auf
François Mitterrand und seine équipe ist davon auszugehen, dass sowohl kol-
lektive Erinnerungsbestände als auch individuelle Erfahrungen der Vergangen-
heit – verstanden als Sozialisation – Einfluss sowohl auf die Wahrnehmung ge-
genwärtiger Realität als auch die Erwartungen an die Zukunft hatten.
Zum anderen lassen sich Mitterrands Vorstellungen von Europa, die einen
elementaren Bestandteil seiner Zukunftserwartungen darstellten, besser verste-
hen, wenn man sich an dem Theoriemodell der vier Antriebskräfte europäischer
Integration von Wilfried Loth orientiert. Die europäischen Bewegungen nach dem
Ende des Zweiten Weltkrieges zielten darauf, die Funktionsdefizite der Natio-
nalstaaten zu überwinden. Das Scheitern der Versailler Ordnung, die Erfolge der
Revisionspolitik und schnellen Siege der Nationalsozialisten steigerten als
schmerzhafte Erfahrungen der Unsicherheit das Verlangen nach kollektiver Si-
cherheit. Die Defizite des nationalen Ordnungssystems in Europa wiederum
schlüsselt Loth in vier unterschiedliche Kategorien auf: Erstens galt es, das Pro-
blem zwischenstaatlicher Anarchie einzuhegen, die in den beiden Weltkriegen zu
verheerender Gewaltentfesselung geführt hatte. Damit verbunden war zweitens
die Friedenssicherung in Europa durch die Einbettung der deutschen Frage, die
als potentielles Risiko für den Frieden gesehen wurde. Drittens zielte eine wirt-
schaftliche Integration der europäischen Staaten auf die Entwicklung von Pro-
duktivkräften im industriellen Zeitalter, da eine wechselseitige Abschottung
langfristig zu einem Verlust an Produktivität führte. Viertens motivierte das Auf-
streben neuer Supermächte die Europäer dazu, durch gemeinsames Auftreten
nach Selbstbehauptung zu streben. Im Verlauf der Geschichte europäischer In-
tegration waren diese Antriebskräfte nicht immer gleich stark, standen aber in
Interaktion zueinander und sind daher als Erklärung geeignet, warum zu be-
stimmten Zeitpunkten Fortschritte in der Integration bestimmter Bereiche erzielt
wurden. Dieses Modell ist insofern auch geeignet, die Motive von François Mitt-
errand und seiner Mannschaft zu untersuchen und thematisch zu systematisie-
ren. Gleichzeitig vermag es Interessenkonflikte zwischen den verschiedenen eu-
ropäischen Interessenvertretern zu erklären, wenn diese im gleichen Moment
durch unterschiedliche Antriebskräfte motiviert wurden, europäische Integration
in verschiedenen Bereichen voranzutreiben.⁹
Europäische Bewegungen waren während des Zweiten Weltkrieges und un-
mittelbar danach keineswegs nur ein westeuropäisches Phänomen; allerdings
unterdrückte Stalin im Osten Europas jedwede Pläne für zwischenstaatliche Zu-
sammenschlüsse. Die Einigung Westeuropas drohte im aufziehenden Kalten Krieg
die Spaltung Europas zu vertiefen. Insofern war die Idee für einen europäischen
Zusammenschluss unter Ausschluss Osteuropas im Winter 1946/1947 noch wenig
populär. Insbesondere die französischen Europaanhänger schreckten davor zu-
rück, die Blockbildung zu fördern. Populärer hingegen war die Konzeption eines
Europas der Dritten Kraft, das vermittelnd auf die beiden neuen Weltmächte hätte
einwirken können. Diese Konzeption wird im Folgenden noch näher erläutert,
wenn strukturelle Einflüsse auf Mitterrands Vorstellungen untersucht werden. Sie
zielte auf ein unabhängiges Europa, in dem weder Osteuropa zum sowjetischen
Einflussbereich noch Westeuropa zum westlichen Block unter amerikanischer
Führung zählen sollten. Letztlich führte aber die sowjetische Ablehnung des
Marshall-Plans weitestgehend zu der Überzeugung, dass die europäische Eini-
Zum Modell der Vier Antriebskräfte siehe Loth, Europas Einigung, S. 9 – 11; Erstmals aufgestellt
in: Loth, Wilfried: Beiträge der Geschichtswissenschaft zur Deutung der Europäischen Integra-
tion. In: Theorien Europäischer Integration. Hrsg. von Loth, Wilfried/Wessels, Wolfgang. Opladen
2001. S. 96 – 98; siehe für die methodische Anwendung des Modells ferner: Thiemeyer, Guido:
Europäische Integration. Motive – Prozesse – Strukturen. Köln/Weimar/Wien 2010.
48 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand
sich dabei um ein Konglomerat verschiedener Aspekte, die sich zu einer Idee über
die Grundmechanismen internationaler Beziehungen verdichteten und aus denen
langfristige Zukunftserwartungen abgeleitet wurden. Friedenssicherung schien
für François Mitterrand verschiedene Dimensionen zu umfassen: Es lassen sich in
seinen Äußerungen immer wieder machtpolitische Überlegungen nachweisen, in
denen Hegemonie und Gleichgewicht zu Ordnungskategorien werden. Kurz vor
seinem Tod fasste er dies folgendermaßen zusammen: Demnach brauche Macht
immer ein Gegengewicht, denn „[w]enn man der Macht ausgesetzt ist, versucht
man, es so einzurichten, daß [sic] man ihren Exzessen nicht ausgeliefert ist.“¹²
Durch Gegenkräfte der Macht solle verhindert werden, dass Menschen ihre Macht
bis zum Ende ausspielen. Daher müsse man „also Sicherungen einbauen und das
richtige Gleichgewicht herstellen.“¹³ Hierbei bleibt zunächst unklar, was Mitter-
rand konkret unter „Gleichgewicht“ versteht. Die realistische Schule würde von
einer gleichen Machtverteilung unter der Abwesenheit eines Hegemons ausgehen.
Demgegenüber mag Mitterrand unter „Gleichgewicht“ aber auch die Stabilität
zwischenstaatlicher Beziehungen frei von Anarchie und Willkür verstanden ha-
ben. Während ersteres als Verständnis von „balance of power“ Hegemonie und
Gleichgewicht zu Ordnungsfaktoren internationaler Beziehungen erhebt, wird das
zweite als „balance of satisfaction“ in der deutschen Forschung auch mit dem
Begriff „Äquilibrium“ bezeichnet.¹⁴ Das Wort „Sicherungen“ liefert einen Hinweis
darauf, dass sich seine Vorstellungen durchaus im Sinne Wolfram Pytas auslegen
lassen, der das Gegensatzpaar Hegemonie und Gleichgewicht aufbricht, indem
„Sicherungen“ beziehungsweise normative Prämissen und Kooperation zwi-
schenstaatliche Anarchie einhegen können, wenngleich machtpolitische Unter-
schiede bestehen bleiben.¹⁵ Die hier aufgestellte These, dass Mitterrand eben
diesem Denken folgte, muss durch eine Analyse seiner Gleichgewichtsvorstel-
lungen im Laufe dieser Arbeit hinreichend belegt werden. Zur aktiven Friedens-
sicherung spielten für Mitterrand darüber hinaus eine wirtschaftliche Dimension
und Dialog eine entscheidende Rolle: So erklärte er dem deutschen Bundesprä-
sidenten Karl Carstens unmittelbar nach seinem Amtsantritt, wer einen Krieg
verhindern wolle, der müsse „Gedanken- und Warenaustausch pflegen und zu-
sammenarbeiten“¹⁶. Mitterrands Grundverständnis hinsichtlich der Funktions-
mechanismen internationaler Beziehungen basierte also auf drei wesentlichen
Faktoren: Der gegenseitigen Kenntnis voneinander durch Dialog, Kooperations-
strukturen und normativen Prämissen dieser Zusammenarbeit, der sich alle
Partner verpflichtet fühlen.
Im Wahlkampf um die Präsidentschaft hatte François Mitterrand als Oppo-
sitionsführer die Außenpolitik von Valéry Giscard d’Estaing als „eine Politik ohne
Grundsätze“¹⁷ kritisiert. Er warf der Regierung vor, „dem augenblicklichen Ge-
sprächspartner gefällig zu sein“ und „sich mit den Gegebenheiten abzufinden“.¹⁸
Aber Realismus bestehe nicht darin, dem Augenblick der Zukunft den Vorzug zu
geben, kritisierte Mitterrand. Giscard d’Estaing habe in einer Zeit der Spannungen
durch sein Treffen mit Leonid Breschnew der „Position des Aggressors“ in die
Karten gespielt.¹⁹ Nicht nur Mitterrand als Oppositionspolitiker kritisierte Giscard
d’Estaing für dessen Entscheidung, den Generalsekretär der Kommunistischen
Partei der Sowjetunion (KPdSU) am 19. Mai 1980 in Warschau zu treffen. Auch
Außenminister André François-Poncet hatte dem Präsidenten von dieser Reise
abgeraten.²⁰ Mitterrand hielt es im Hinblick auf die historische Bedeutung und
Außenwirkung des Treffens für völlig einerlei, welche Intentionen und Ziele sein
Kontrahent damit verband.²¹ Er selbst als Präsidentschaftskandidat setze auf eine
nüchterne Politik gegenüber der Sowjetunion und unterstellte Giscard d’Estaing
damit implizit, sich durch Emotionen leiten zu lassen. An der traditionellen
rhetorischen Strategie, das Verhältnis zwischen französischem und sowjetischem
Volk als Freundschaft zu bezeichnen, hielt Mitterrand ebenso fest, wie an beste-
henden Verträgen, „[a]ber Schöntuerei sei keine Basis für Freundschaft.“²² Er
inszenierte sich selbst damit als Realpolitiker, der durch einen nüchternen Um-
gang mit der sowjetischen Führung bessere Verhandlungsergebnisse erzielen
würde, wenn diese erst einmal verstünde, „daß [sic] ein ‚Nein‘ von uns auch ein
Gespräch des Bundespräsidenten Carstens mit Staatspräsident Mitterrand, 13. Juli 1981. In:
AAPD 1981, Dok. 200, S. 1070.
Interview François Mitterrands mit Michel Tatu in Le Monde, 31. Juli 1980. In: Mitterrand,
François: Der Sieg der Rose. Düsseldorf/Wien 1981. S. 196; Die französische Originalausgabe er-
schien 1980, die Publikation ist daher in den Kontext des Wahlkampfes um die französische
Präsidentschaft zu stellen: Mitterrand, François: Ici et Maintenant. Paris 1980.
Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 196.
Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 196 f.
Heyde, Frankreich im KSZE-Prozess, S. 367.
Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 196 f.
Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 204.
1.2 Zukunftserwartungen und Realitätsperzeptionen 51
Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 204.
Védrine, Mondes, S. 167.
Zum sowjetischen Umgang mit Menschenrechten siehe u. a. Saal, Yuliya von: KSZE-Prozess
und Perestroika in der Sowjetunion. Demokratisierung, Werteumbruch und Auflösung 1985 –
1991. München 2014. S. 45 – 47.
Védrine, Mondes, S. 107 f.
Mitterrand, Sieg, S. 207.
Védrine, Mondes, S. 81.
52 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand
nicht klar Stellung bezog.²⁹ Er unterstellt ihm damit einerseits riskante Politik und
andererseits mangelnde Weitsicht. Fast mochte es so aussehen, als würde Giscard
d’Estaing nichts Geringeres als den Frieden in Europa aufs Spiel setzen, wohin-
gegen der Wähler von dem sich als Realpolitiker inszenierenden Präsident-
schaftskandidaten François Mitterrand offensichtlich etwas anderes erwarten
durfte. Mitterrand nutzte hier Emotionen der Wähler als politische Ressource,
indem er die Erwartungen weiter Teile der Öffentlichkeit bediente. Ganz im Sinne
von Freverts Verständnis von Gefühlspolitik wird dem Wähler eine Bedrohung
suggeriert und dadurch Angst evoziert.³⁰ Indem er selbst auf die Risiken auf-
merksam machte, signalisierte er aber gleichzeitig einen Ausweg aus der Angst.
Entschieden sich die Wähler für ihn, würde die Bedrohung hypothetisch bleiben.
Erstmal in der Regierungsverantwortung sah sich François Mitterrand mit der
Bewältigung facettenreicher Krisenerscheinungen konfrontiert. Wie in der Ein-
leitung gezeigt wurde, waren die Themen Ost-West-Beziehungen, Wirtschaft und
Europa, die Elisabeth du Réau benennt, zweifellos Teilaspekte davon. Es wäre
demgegenüber verkürzt, von einer dreifachen Krise zu sprechen.³¹ In den Ost-
West-Beziehungen war der Antagonismus der Blöcke bis 1975 durch die Ent-
spannungspolitik gemildert worden, wohingegen danach der sowjetische Ex-
pansionismus aus Sicht westlicher Analytiker zu einer wachsenden Bedrohung
wurde. Kommunistische Erfolge in Somalia, Angola, Südjemen, Vietnam, Kuba
und Nicaragua verstärkten diesen Eindruck. Auch der Einmarsch der Sowjetunion
in Afghanistan 1979 schien den sowjetischen Expansionismus einmal mehr unter
Beweis zu stellen. Ronald Reagan versuchte durch seine „Politik der Stärke“ und
eine konfrontative Politik gegenüber der Sowjetunion das angekratzte Selbstver-
trauen der amerikanischen Bevölkerung wiederaufzubauen. Demgegenüber ver-
suchten Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt, die Errungenschaften der
Détente und ihre Kommunikationskanäle aufrechtzuerhalten.³² Die westlichen
Staats- und Regierungschefs waren sich uneinig, ob die Verhängung des Kriegs-
rechts in Polen und Unterdrückung der Solidarność-Bewegung im Dezember 1981
auf Druck des Kremls erfolgt war.³³ Der Verdacht stand allemal im Raum und trug
nicht zur Verbesserung der Ost-West-Beziehungen bei. Die Modernisierungsan-
strengungen auf der sowjetischen Seite durch die Aufstellung der SS-20-Raketen
seit Mitte der 1970er Jahre drohten aus westlicher Perspektive zudem das strate-
gische Gleichgewicht auszuhebeln. Das atlantische Bündnis antwortete darauf
Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 203.
Zu dem Verständnis von Gefühlspolitik siehe Einleitung.
Vgl. Du Réau, Engagement, S. 288.
Védrine, Mondes, S. 80.
Vgl. Bresselau von Bressensdorf, Frieden, S. 315.
1.2 Zukunftserwartungen und Realitätsperzeptionen 53
sowjetische Weltreich im Jahre 2000 sehr anders darstellen werde“⁴⁰, wie er dem
deutschen Bundespräsidenten Karl Carstens zwei Monate nach seiner Amts-
übernahme darlegte. Seine Überlegungen gingen über übliche Spekulationen
über den Niedergang der sowjetischen Wirtschaft hinaus, indem seine Vorstel-
lungen recht konkrete Formen annahmen und auf einem spezifischen Zeithori-
zont beruhten. Er zweifelte, ob das sowjetische Weltreich in dieser Form im Jahr
2000 „überhaupt noch existiere“⁴¹. Selbst wenn die Sowjetunion als Großmacht
bestehen bleiben würde, so rechnete er aber doch damit, dass „in den Ländern
Ost- und Mitteleuropas […] der Kommunismus abgebaut“⁴² werde. Er war sich
dabei auch bewusst, dass dies „alle Daten des ‚europäischen Gleichgewichts‘ […]
verändern“ werde und dadurch „möglicherweise auch die ‚Stunde der deutschen
Wiedervereinigung‘ kommen“ könnte, was er aber freilich nicht öffentlich aus-
sprechen werde.⁴³ Einen möglichen Ausweg aus der Unsicherheit, die eine solche
Veränderung aller Koordinaten des europäischen und internationalen Staaten-
systems mit sich bringen würde, stellte für ihn Europa dar – oder besser gesagt ein
neues Europa: „Neue Kräfte werden auftauchen. Ein Frankreich voll Energie mit
klarem Kopf, ein homogenes Europa und ein gewarntes Weltbewusstsein“⁴⁴,
prophezeite er vor seiner Wahl. Auch gegenüber dem deutschen Bundespräsi-
denten beschwor er, dass der europäische Gedanke „der Grundstein für die Zu-
kunftsmöglichkeiten“⁴⁵ sei. Dass die bipolare Welt sich langfristig in ein Staa-
tensystem mit multipolaren Entscheidungszentren wandeln würde, wünschte sich
Mitterrand nicht nur aus sicherheitspolitischen Erwägungen heraus, denn die
gegenwärtige Krise sah er nicht ausschließlich als Krise des Westens, sondern in
einem globalen Maßstab. Dies erforderte aus seiner Sicht „multilaterale Gesprä-
che über finanzielle und wirtschaftliche Probleme sowie [den] Ausbau von Han-
dels- und Warenaustausch“⁴⁶.
Gewiss: Dies darf nicht als Aktionsplan der Sozialistischen Partei missver-
standen werden, denn konkrete Pläne, wie und im Kreis welcher Teilnehmer oder
Gespräch des Bundespräsidenten Carstens mit Staatspräsident Mitterrand, 13. Juli 1981. In:
AAPD 1981, Dok. 200, S. 1072.
Gespräch des Bundespräsidenten Carstens mit Staatspräsident Mitterrand, 13. Juli 1981. In:
AAPD 1981, Dok. 200, S. 1072.
Gespräch des Bundespräsidenten Carstens mit Staatspräsident Mitterrand, 13. Juli 1981. In:
AAPD 1981, Dok. 200, S. 1072.
Gespräch des Bundespräsidenten Carstens mit Staatspräsident Mitterrand, 13. Juli 1981. In:
AAPD 1981, Dok. 200, S. 1072.
Mitterrand, Sieg, S. 214.
Gespräch des Bundespräsidenten Carstens mit Staatspräsident Mitterrand, 13. Juli 1981. In:
AAPD 1981, Dok. 200, S. 1073.
Mitterrand, Sieg, S. 219.
1.2 Zukunftserwartungen und Realitätsperzeptionen 55
wesen, das er sowohl in seinen Ambitionen als auch seiner Geographie limitiert
sah.⁵⁰ Mitterrands Interviewband mit Guy Claisse lässt sich als Beleg dieser These
anführen. Seine Frage, „warum Irland und nicht Österreich, warum Dänemark
und nicht Polen“⁵¹ zur Europäischen Gemeinschaft gehöre, verdeutlicht, dass er
das Europa der Neun gewissermaßen als willkürliches Konstrukt sah. Genug
pragmatisches Verständnis besaß er allerdings, dessen Entstehung auf den
Zweiten Weltkrieg beziehungsweise die Teilung der Welt in zwei Blöcke zurück-
zuführen. Hier manifestiert sich der Unterschied zwischen einem realpolitischen
und pragmatischen Europe communautaire, das sich historisch erklären lässt, und
einem Europe rêvée als europäische Idee. Es zeigt, dass die europäischen Insti-
tutionen in seinem Verständnis eben jene pragmatische Lösung waren, die ab
Ende der 1940er Jahre verfolgt wurde, weil sich eine paneuropäische Lösung als
vorerst nicht realisierbar erwiesen hatte.
Gérard Bossuat stellt fest, dass Mitterrand die europäische Politik aber auf-
grund seiner politischen Wurzeln in der IV. Republik mitgetragen habe, obwohl er
sich nach der Wahl mit Anti-Europäern wie der Kommunistischen Partei oder
Kritikern in seiner eigenen Partei wie Jean-Pierre Chevènement arrangieren
musste. Mitterrands europäische Ansichten sieht er gekennzeichnet von der Su-
che nach einem neuen Weg für Europa nach dem Weltkrieg und dem Scheitern der
Nationalismen. Für die Friedenssicherung von Frankreich und Westeuropas habe
er daher die Europäische Gemeinschaft als essentielles Instrument befürwortet.⁵²
Dem fügt Elisabeth du Réau noch hinzu, dass er Europa auch als Instrument für
die nationale Politik gesehen habe.⁵³ Tatsächlich habe François Mitterrand zwar
den Plan einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft zu Beginn der 1950er
Jahre nicht unterstützt, weil er eine politische, europäische Einigung als Vor-
aussetzung dafür beurteilte.⁵⁴ Anders als Roland Dumas Mitterrands politischer
Weggefährte und späterer Außenminister – stimmte er aber für die Römischen
Verträge über die Europäischen Gemeinschaften.⁵⁵ Während der IV. Republik
vertrat Mitterrand dann nicht das Europa der Föderalisten oder Technokraten.
Stattdessen schwebte ihm in dieser Zeit ein mit Afrika assoziiertes Europa vor, das
gewissermaßen als „un troisième bloc eurafricain“ mit dem Osten friedlich ko-
existieren sollte.⁵⁶ Grundsätzlich leisten die Beiträge von Bossuat, du Réau und
Saunier zwar einen Anstoß, das Bild Mitterrands von einem zufälligen oder ge-
zwungenen Europäer zu korrigieren oder zumindest zu differenzieren. Allerdings
bildet eine historische Studie, die Mitterrands europäische Vorstellungen syste-
matisch im Wandel der Zeit von 1916 – 1996 analysiert und Lern- sowie Um-
denkprozesse erklärt, nach wie vor ein Desiderat. Da die vorliegende Arbeit sich
in erster Linie auf Mitterrands Sicherheitspolitik der 1980er Jahre konzentriert,
kann sie diese Forschungsarbeit freilich nicht leisten und letztlich nur auf diese
Forschungslücke aufmerksam machen. Gleichwohl wird die Analyse seine Motive
zur Unterstützung des europäischen Integrationsprozesses in den 1980er Jahren
herausarbeiten.
Dass die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft nicht seiner Idee von
Europa entsprachen, hinderte Mitterrand nicht daran, sie pragmatisch als gege-
bene Realität und grundsätzlich als Fundament seiner Zukunftsgestaltung an-
zuerkennen. Die existierenden Institutionen könnten „schließlich die Keimzelle
zur Vereinigung der europäischen Völker sein, durch die das Kunstgebilde von
Jalta zerschlagen werden kann.“⁵⁷ Die schwache politische Einheit Europas sah er
nach wie vor als Mangel. Er beklagte die gegenwärtigen Mechanismen als unso-
zial. Anstatt einer großen europäischen Vision würde Europa nur durch die Brille
nationaler Belange gesehen.⁵⁸ Pierre Mauroy schloss sich dem nach dem Regie-
rungsantritt an: Durch einen Niedergang einer einzigen Nation der EG leide die
europäische Kraft in ihrer Gesamtheit. Aus diesem Grund plädierte er für eine
Reorganisation der europäischen Solidarität.⁵⁹
Weder Mitterrands Wahlkampftexte noch die Erklärungen der ersten Regie-
rung enthalten konkrete Überlegungen, wie eine mögliche relance européenne
tatsächlich angestoßen werden konnte. Trotzdem stellt diese Arbeit die These auf,
dass die Wiederbelebung der europäischen Konstruktion das bevorzugte Instru-
ment darstellte, die gegenwärtigen Krisen zu bewältigen. Auf seinem ersten
Treffen des Europäischen Rates in Luxemburg zeigte Mitterrand sich konstruktiv.
Auch wenn sein Vorschlag eines „espace social européen“⁶⁰ nicht sogleich Re-
sonanz bei den europäischen Partnern fand, ist er doch als eine Initiative zu
bewerten, um Europa aus seinen Blockierungen zu befreien. Außerdem wurde ein
gesondertes Ministerium für europäische Angelegenheiten unter André Chan-
dernagor eingerichtet, das dem Außenministerium zugeordnet war. Anstatt von
einem konkreten Projekt für Europa auszugehen, scheint es plausibel, dass
Mitterrand über eine gewisse Idee von Europa verfügte. Ihr lag zwar keine kon-
krete politische Agenda zugrunde und es stellt sich auch die Frage, inwieweit eine
solche angesichts der vielfachen Unwägbarkeiten erfolgversprechend gewesen
wäre. Dennoch beruhte sie auf dem langfristigen Ziel einer europäischen Auto-
nomie. Dafür werden in den folgenden Kapiteln konkrete Belege angeführt. In-
sofern war diese Idee zwar einerseits für Anpassungsleistungen an Entwicklun-
gen der Gegenwart offen. Andererseits musste dadurch die Leistung erbracht
werden, diese Idee in der politischen Wirklichkeit stets mit neuem Leben zu füllen
und ihre Umsetzung konkret zu verfolgen, damit sie nicht Gefahr lief, einfach nur
eine Idee zu bleiben.
Der Wunsch nach größerer europäischer Autonomie ergab sich insbesondere
aus der Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten, deren sicherheitspolitischen
Schutz Pierre Mauroy bei seiner Rede in Zweifel zog. Diese Unwägbarkeit sollte die
Europäer dazu motivieren, nach einer Perspektive für ein politisches Europa zu
suchen und über eine autonome Verteidigung nachzudenken.⁶¹ Mitterrand sah
Bedarf für eine Prüfung der transatlantischen Beziehungen und sprach sich für
eine zeitnahe Gipfelkonferenz aus. Seitens der linksgerichteten Zeitung Humanité
trug ihm dies den Vorwurf eines „Atlantikpaktanhänger[s]“⁶² ein. Im Umgang mit
den Staaten der Sowjetunion vermisste er eine einheitliche Strategie der westli-
chen Verbündeten. Während die Bundesrepublik neue wirtschaftliche und tech-
nische Verträge mit der Sowjetunion eingegangen sei, habe der amerikanische
Präsident Jimmy Carter die Beziehungen auf Eis gelegt. Nach dem Vietnamkrieg
habe die amerikanische Politik an klaren Konturen verloren, was er auf ein ge-
littenes Selbstvertrauen der Amerikaner zurückführte. Mitterrand stellte die Wa-
shingtoner Außenpolitik also in den Kontext amerikanischer Selbstwahrneh-
mungen.⁶³ Mitterrand und Mauroy übten beide Kritik an der amerikanischen
Wirtschaftspolitik. Sie bezichtigten die Amerikaner, einen Wirtschaftskrieg gegen
die Europäer zu führen.⁶⁴ Mauroy sah darin einen Risikofaktor für den Zusam-
menhalt der Allianz, dessen Bande aus seiner Sicht ohnehin locker seien. Mitt-
errand wollte die Europäer nicht unter einer amerikanischen Vormundschaft se-
hen, denn der Atlantikpakt sehe lediglich Konsultationen vor.⁶⁵ Im Hinterkopf
hatte Mitterrand hier wohl wiederholte Versuche der US-Administration, die Eu-
ropäer auf ihre Politik gegenüber den Staaten des Ostblocks zu verpflichten,
wohingegen dies in Europa als Einmischung und Bevormundung empfunden
wurde. Besonders konfliktreich waren in dieser Hinsicht die Auseinanderset-
Zur Entstehung der Westeuropäischen Union und ihrem Verhältnis zur NATO und dem eu-
ropäischen Integrationsprozess siehe: Schell, Peter: Bündnis im Schatten. Die Westeuropäische
Union in den 80er Jahren. Bonn/Berlin 1991. S. 36 – 76.
Mauroy, Cohérence, S. 19.
1966 hatte Charles de Gaulle die französischen Streitkräfte aus der integrierten Kommando-
struktur zurückgezogen. Frankreich blieb zwar trotzdem Mitglied der Atlantischen Allianz setzte
aber auf eine Unabhängigkeit der eigenen Streitkräfte unter ausschließlich französischem Kom-
60 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand
dienen, dass Moskau die westliche Drohung einer Nachrüstung ernst nahm und
sich auf Rüstungsverhandlungen einließ, da eine Spaltung der Allianz keine er-
folgversprechende Alternative darstellte. Durch die Drohung mit einer vermeint-
lich gewissen Zukunft sollte diese also eigentlich abgewendet werden. Dies war
die zentrale Strategie des NATO-Doppelbeschlusses. Mitterrand zeigte sich zu-
versichtlich, dass diese Strategie erfolgreich sein und der Kreml sich auf seriöse
Verhandlungen einlassen würde, und bekräftigte seinen persönlichen Glauben an
ein Abkommen über die Euroraketen.⁶⁹ Für ihn stellten diese Äußerungen im
Wahlkampf bereits eine Legitimationsgrundlage für seinen künftigen politischen
Kurs und die Unterstützung des NATO-Doppelbeschlusses dar. Zudem lässt sich
die westliche Drohung mit der Nachrüstung grundsätzlich als Gefühlspolitik
verstehen, mit der eine ungewisse Zukunft instrumentalisiert und sowjetische
Angst evoziert wurden.
Mitterrands Gefühlspolitik als reinen Populismus zu verstehen, um das Amt
des Präsidenten zu erlangen, wäre verkürzt. Er erkannte tatsächlich zahlreiche
Risiken in der Aufstellung sowjetischer SS-20-Raketen, wie er Helmut Schmidt bei
ihren Zusammenkünften am 24. Mai und 12. Juli 1981 darlegte. Er kritisierte, dass
die Aufstellung der SS-20-Raketen unter seinem Vorgänger kaum zu einer Be-
einträchtigung der französisch-sowjetischen Beziehungen geführt hatte. Demge-
genüber beurteilte Mitterrand die Situation als Bedrohung für den transatlanti-
schen Zusammenhalt und für den Verbleib der Bundesrepublik im westlichen
Bündnis und allgemein für die westeuropäische Sicherheit und den Frieden in
Europa.⁷⁰ Die Analyse im zweiten Kapitel wird dies detaillierter in den Blick
nehmen. An dieser Stelle ist jedoch entscheidend, dass Mitterrand die Bedrohung
durch die SS-20-Raketen ausdrucksvoll vermittelte, um Angst vor diesem Bedro-
hungsszenario als politische Ressource im Wahlkampf zu nutzen.
Indem er die Sowjetunion als „Aggressor“ bezeichnete, hatte Mitterrand ein
Bedrohungsszenario entworfen, dem er Giscard d’Estaing nicht gewachsen sah.
Allerdings erklärte er sowohl im Wahlkampf als auch in seiner ersten Presse-
konferenz im Elysée, dass er der gegenwärtigen Führung in Moskau keine krie-
mando. Für die französische Vertrauensbildung gegenüber den westlichen Verbündeten siehe
Kapitel 2.2.
Mitterrand, Sieg, S. 216, 218.
Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 24. Mai 1981.
In: AAPD 1981, Dok. 153, S. 852; Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident
Mitterrand in Paris, 12. Juli 1981. In: AAPD 1981, Dok. 198, S. 1038 – 1041.
1.2 Zukunftserwartungen und Realitätsperzeptionen 61
gerischen Absichten unterstelle.⁷¹ Das sowjetische Volk habe sehr unter dem
letzten Krieg gelitten und die aktuelle Führung habe dies persönlich erlebt. Diese
Aussagen erzeugen ein ambivalentes Bild.⁷² Insgesamt lässt sich daraus ablesen,
dass er die unmittelbare Drohung eines Krieges in Europa weitaus geringer ver-
anschlagte, als er die Wähler teilweise Glauben machen wollte. Das bedrohliche
Zukunftsszenario findet sich immer dann in seinen öffentlichen Stellungnahmen,
wenn sie direkt mit einer Abgrenzung oder Diffamierung von Giscard d’Estaings
Politik einhergehen. Allerdings hatte er wenig Interesse daran, als „Kalter Krie-
ger“ zu erscheinen. Das Evozieren von Ängsten bei der sowjetischen Führung
sollte gerade so weit getrieben werden, dass sie sich zu Verhandlungen bereit-
fand. Keineswegs sollte dies übersteigerte und irrationale Ängste auslösen, die
auch eine völlige Abschottung der Sowjetunion hätten nach sich ziehen können.
Ebenso wären übersteigerte Ängste der Öffentlichkeit vor einem neuen Krieg
hinderlich für seine Politik gewesen, da dies in der Bevölkerung Forderungen
nach einer konzilianteren Politik gegenüber Moskau hätte auslösen können. Da-
mit lassen sich Mitterrands Relativierungen und ambivalente Stellungnahmen
erklären. Zu keinem Moment stellte er die Grundtendenzen französischer Au-
ßenpolitik, die traditionelle Freundschaft oder Verträge mit der Sowjetunion in-
frage. Vielmehr kritisierte er Giscard d’Estaing dafür, dass dieser sich von der
Sowjetunion emotional habe hinters Licht führen lassen.⁷³
Wenn er auch nicht von einer unmittelbaren Kriegsgefahr ausging, bewertete
er eine militärischen Überlegenheit der Sowjetunion in Europa doch als poten-
tielle, künftige Bedrohung: An der sowjetischen Spitze würden Generationen
nachfolgen, die die Leiden des Zweiten Weltkrieges persönlich nicht erlebt hätten
und für diesen Fall sei ein Kräfteungleichgewicht zu verhüten, aus dem ein Krieg
in Europa entspringen könnte.⁷⁴ Dieses Kräfteungleichgewicht sah er durch die
SS-20-Raketen wachsen und sprach sich in seiner ersten Pressekonferenz des
Elysée im September 1981 nicht nur für eine Begrenzung des Wettrüstens durch
Verhandlungen der beiden Supermächte aus, sondern für Abrüstung – also ins-
gesamt eine Senkung des Rüstungsniveaus.⁷⁵ Dabei zeigte Mitterrand auch ein
Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 202; Conférence de presse du
Président de la République (extraits), 24. Septembre 1981. In: La Politique Etrangère de la France.
Textes et Documents, 1981 (September/Oktober), S. 31.
Für die Entstehung und Erklärung dieses ambivalenten Bildes siehe Kapitel 2.
Interview François Mitterrands mit Michel Tatu, 31. Juli 1980, S. 204.
Conférence de presse du Président de la République (extraits), 24. Septembre 1981. In: La
Politique Etrangère 1981 (September/Oktober), S. 31.
Conférence de presse du Président de la République (extraits), 24. Septembre 1981. In: La
Politique Etrangère 1981 (September/Oktober), S. 31.
62 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand
nale, die ausschließlich der nationalen Abschreckung dienten und nicht ver-
handelbar seien. In der französischen Militärdoktrin der Abschreckung musste
ein potentieller Angreifer mit einem massiven nuklearen Schlag rechnen, was ihn
von einem Angriff auf Frankreich im Vorfeld abhalten sollte. Dies sei mit der
Militärdoktrin der NATO – der Flexible Response – prinzipiell unvereinbar.⁸⁰
Grundsätzlich sprach sich François Mitterrand zwar nicht gegen eine weltweite
Behandlung des Abrüstungsproblems aus. Allerdings müssten dafür gewisse
Prinzipien der Proportionalität der Nukleararsenale gewahrt bleiben.⁸¹
Premierminister Pierre Mauroy und Verteidigungsminister Charles Hernu
benannten 1981 die drei Säulen der nuklearen Streitkräfte und kündigten
gleichzeitig deren Modernisierung an. Säule eins bildete die luftgestützte Abwehr
mit atomar bestückten Überschallbombern des Typs Mirage IV. Die zweite Kom-
ponente umfasste die bodengestützten Mittelstreckenraketen auf dem Plateau
d’Albion und die dritte Säule die seegestützten Streitkräfte, bestehend aus nu-
klearen U-Booten.⁸² Insgesamt legte Charles Hernu drei permanente Prinzipien
der französischen Sicherheitspolitik fest, an die sich die neue Regierung gebun-
den fühlte. Erstens betonte er, die vitalen Interessen Frankreichs zu garantieren.
Sicherheit wurde von ihm allerdings nicht allein als rüstungspolitische Aufgabe
verstanden, sondern auch als diplomatische Verantwortung durch Bemühungen
um Krisen- und Konfliktprävention, Arbeit an der Entspannungspolitik und eine
Förderung der Abrüstung. Zweitens bewahre die Regierung ihre Entscheidungs-
freiheit in Sicherheitsfragen, was nicht gleichbedeutend damit sei, dass sie nur an
sich selbst interessiert sei, denn drittens sei sie gegenüber Verbündeten und
Freunden treu.⁸³
Obwohl die sicherheitspolitische Situation um 1981 eine baldige Auflösung
der bipolaren Staatenordnung nicht unbedingt erwarten ließ, wird in dieser Arbeit
die These aufgestellt, dass die équipe Mitterrand eine Neuordnung der interna-
tionalen Staatenbeziehungen anstrebte. Die Bipolarität sollte zugunsten eines
multipolaren Systems weichen. Dafür bedurfte es aber zunächst der Überwindung
eines dreidimensionalen Hindernisses durch Vertrauensbildung in der Atlanti-
schen Allianz, Entspannungspolitik zwischen Ost und West sowie einer relance
européenne. ⁸⁴
Hernu, Charles: Répondre aux défis d’un monde dangereux. Discours prononcé par M. Charles
Hernu, Ministre de la Défense, devant les auditeurs de l’institut des hautes études de défense
nationale. In: Défense nationale 416 (1981). S. 11.
Mitterrand, Sieg, S. 217.
Mauroy, Cohérence, S. 23; Hernu, Défis, S. 14 f.
Hernu, Défis, S. 21 f.
Siehe dafür insgesamt Kapitel 2 und 3.
64 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand
Die Linie des sozialistischen Präsidenten François Mitterrand beschrieb der Au-
ßenminister Claude Cheysson seinem Amtskollegen Hans-Dietrich Genscher am
12. Juli 1981 folgendermaßen: „Die Verteidigungspolitik der Regierung Mitterrands
läßt sich auf eine kurze Formel zusammenziehen. Sie wird der de Gaulleschen
Politik näher sein als der Politik Pompidous und Giscard d’Estaings.“⁸⁵ Die Sug-
gestion von Kontinuität beziehungsweise Diskontinuität zu Mitterrands Vorgän-
gern gilt es kritisch zu hinterfragen. Die Überwindung der Blockkonfrontation
stellte seit Charles de Gaulle zwar einen integralen Bestandteil und ein langfris-
tiges Ziel der französischen Sicherheitspolitik dar. Aufgrund tagespolitischer
Notwendigkeiten trat die Entspannungspolitik allerdings bisweilen in den Hin-
tergrund, wenn sie – wie beispielsweise im Wahlkampf – die Durchsetzung an-
derer Ziele zu verhindern drohte. In der französischen Konzeption von Entspan-
nungspolitik war eine gewisse Ambivalenz angelegt, da sie ein Überleben im
Kalten Krieg sichern sollte, aber zugleich darauf zielte, die bipolare Ordnung
langfristig zugunsten einer neuen Ordnung zu überwinden. Damit war die Détente
ein Instrument für kurzfristige und langfristige Zukunftsaussichten gleicherma-
ßen. Sie stand zum einen als modus vivendi im Kalten Krieg bereit und besaß zum
anderen einen nicht zu verachtenden transformativen Charakter.⁸⁶ Dieser war
darauf angelegt, die beiden Teile Europas langfristig und auf evolutionäre Weise
zusammenzuführen und von der Bevormundung der beiden Supermächte zu
befreien. Angesichts des Zweiten Kalten Krieges sahen sich die politischen Ak-
teure zu Beginn der 1980er Jahre genötigt, den Status Quo zunächst einmal zu
stabilisieren. Zudem rückte der Aufbau alternativer Sicherheitsstrukturen ver-
stärkt in das Blickfeld und wurde von einer langfristigen zu einer mittelfristig
erwarteten Zukunft, da Mitterrand innerhalb von einer Generation mit einem
Umbruch der internationalen Staatengemeinschaft rechnete.
Gewissermaßen war die Janusköpfigkeit der Détente bereits in der Teilung
Europas angelegt: Die Westeuropäer hatten sich unter den Bedingungen des
heraufziehenden Kalten Krieges dem Dilemma ausgesetzt gesehen, entweder die
Sicherheit Westeuropas zu garantieren und damit eine Vertiefung der Teilung
potentiell in Kauf zu nehmen oder aber an einer paneuropäischen Vision fest-
Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem französischen Außenminister, 12. Juli 1981.
In: AAPD 1981, Dok. 199, S. 1061.
Vgl. dazu u. a. Kieninger, Stephan: Den Status Quo aufrecht erhalten oder ihn langfristig
überwinden? Der Wettkampf westlicher Entspannungsstrategien in den Siebzigerjahren. In: Die
beiden deutschen Staaten in ihren Bündnissen 1970 bis 1990. Hrsg. von Bange, Oliver/Lemke,
Bernd. München 2013. S. 67– 86.
1.3 Ursprünge und Einflüsse 65
zuhalten und damit die Sicherheit der westeuropäischen Staaten aufs Spiel zu
setzen. Die Integration Westeuropas in einen westlichen Block entsprang keiner
historischen Zwangsläufigkeit, denn tatsächlich gab es durchaus auch in Osteu-
ropa Keime für das Streben nach transnationalen beziehungsweise europäischen
Zusammenschlüssen. Verschiedene osteuropäische Föderationspläne nach dem
Zweiten Weltkrieg – wie beispielsweise ein polnisch-tschechoslowakisches oder
ein jugoslawisch-griechisches Konföderations-Abkommen – werden als Vorstufe
einer Föderalisierung zu einer osteuropäischen Union in einem europäischen
Kontext gesehen.⁸⁷ Aufgrund der Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg strebte Stalin
allerdings an, Osteuropa in den sowjetischen Einflussbereich zu integrieren.
Damit schienen die Chancen für eine Realisierung der Föderationspläne zu
schwinden, wohingegen die Einigung auf eine westeuropäische Allianz eher
realisierbar erschien.⁸⁸ Die Vorstellung von einem Europa als Dritte Kraft, die
eingangs bereits eingeführt und von Léon Blum am 20. November 1947 in der
französischen Nationalversammlung vorgestellt wurde, beruhte auf der Weige-
rung, die Teilung der Welt in Ost und West hinzunehmen.⁸⁹ Die Angst vor einem
neuen Krieg motivierte ihn, Europa als Vermittler zwischen den beiden Blöcken
zu konzipieren. Um die Rivalität zwischen den USA und der Sowjetunion zu
mäßigen, bedurfte es eines Machtgewinns, der durch einen Zusammenschluss der
Europäer und eine gemeinsame Organisation erzielt werden sollte. Zugleich sollte
er den Europäern helfen, ihre Eigenständigkeit gegenüber den beiden Super-
mächten zu wahren. Insofern beruhte die Vorstellung der Dritten Kraft auf der
Schaffung eines neuen Machtzentrums in der Weltpolitik, das trotz eines Bünd-
nisses mit den USA seine politische Entscheidungsfreiheit wahren könnte.⁹⁰ Die
Umsetzung dieser Konzeption scheiterte schließlich aufgrund unterschiedlicher
Faktoren; insbesondere verlor die europäische Mediationsrolle gegenüber einer
Verteidigung gegen eine als expansionistisch und bedrohlich wahrgenommene
Sowjetunion an Bedeutung.⁹¹ Allerdings blieben die Selbstbehauptung der Eu-
ropäer sowie die Überwindung der bipolaren Staatenordnung wesentliche An-
Vgl. Loth, Wilfried: Sources of European Integration. The Meaning of Failed Interwar Politics
and the Role of World War II. In: Crises in European Integration. Challenges and Response, 1945 –
2005. Hrsg. von Kühnhardt, Ludger. New York/Oxford 2009. S. 23 f.
Vgl. Loth, Sources, S. 25 f.
Vgl. Loth, Wilfried: Léon Blum und das Europa der Dritten Kraft. In: Europa und die Europäer.
Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte (Festschrift für Hartmut Kaelble zum
65. Geburtstag). Hrsg. von Hohls, Rüdiger/Schröder, Iris/Siegrist, Hannes. Stuttgart 2005. S. 442 f.
Vgl. Loth, Léon Blum, S. 443 f.
Vgl. Loth, Sources, S. 29.
66 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand
leichtern. Andererseits sprach er damit auch die Völker Mittel- und Osteuropas
sowie die Sowjetunion als Europäer an.⁹⁶
Obwohl die Formel Europe européenne auf einen eher langfristigen Zu-
kunftshorizont gerichtet war, lagen ihr doch recht konkrete politische Vorstel-
lungen zugrunde: Konzipiert wurde es als eine eigenständige Organisation zur
Vertretung europäischer Interessen innerhalb des westlichen Bündnisses gleich-
sam einer europäischen Säule. Die Schaffung eines europäischen Entschei-
dungszentrums sollte die westliche Allianz somit zwar modifizieren, aber kei-
neswegs infrage stellen. Da de Gaulle die europäische Entscheidungsfreiheit
durch die Abhängigkeit von der amerikanischen Verteidigung beeinträchtigt sah
und ihr zudem misstraute, bestand der Kern seiner Konzeption aus einer vertei-
digungspolitischen Autonomie Europas. Der Aufbau einer französischen Atom-
streitmacht widersprach diesen Absichten insofern nicht, als diese ursprünglich
eine europäische Funktion erfüllen und es eine Verständigung über eine ge-
meinsame europäische Verteidigungsstrategie geben sollte. Der Aufbau eines
unabhängigen Westeuropa sollte langfristig einen Hebel schaffen, um das System
von Jalta aus seinen Angeln zu heben. Es stellte für Charles de Gaulle somit die
Möglichkeit dar, „einem amerikanisch-sowjetischen Kondominium zu entkom-
men“⁹⁷. Wilfried Loth weist darauf hin, dass vor diesem Hintergrund de Gaulles
Politik des leeren Stuhls oder der Austritt aus der integrierten Kommandostruktur
der NATO mit der Formulierung einer unabhängigen Verteidigungsdoktrin eher
als „Notlösung verstanden werden [muss], die so weder vorprogrammiert war
noch den Intentionen des Generals voll gerecht wurde.“⁹⁸ Diese „Notlösung“
wurde de Gaulle später nicht nur als ein Charakteristikum seiner Politik unter-
stellt. Vielmehr noch schrieb sich die Politik der französischen Unabhängigkeit
strukturell ein und wurde unter seinen Nachfolgern zu einem Grundpfeiler der
französischen Außenpolitik. Auch die Sozialisten unter François Mitterrand
hielten eisern daran fest.⁹⁹
Für die Überwindung der Teilung brauchte es als Voraussetzung ein „Klima
der Entspannung“¹⁰⁰. De Gaulles Konzeption von Entspannungspolitik war ein
Konglomerat an Zielen und Methoden und wird bisweilen unter den Schlagworten
als zentral für die persönliche und politische Sozialisation von François Mitter-
rand bewertet werden. Der Erste Weltkrieg und dessen unmittelbare Folgen
nahmen durch die Erzählungen der Eltern und sein Aufwachsen in der Zwi-
schenkriegszeit Einfluss auf seine Kindheit und Jugend. In noch höherem Maße
wurde er durch seine persönlichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg geprägt.
Während der drôle de guerre war Mitterrand an der Maginot-Linie stationiert. Im
Frühsommer 1940 wurde er bei Verdun von einem Granatensplitter verletzt und
geriet in deutsche Gefangenschaft, während Frankreich im Krieg unterlag und die
Deutschen in Paris einmarschierten. 18 Monate verbrachte Mitterrand in deut-
scher Kriegsgefangenschaft und erfuhr das Alltagsleben in einem Kriegsgefan-
genenlager. Von März bis Dezember 1941 unternahm Mitterrand drei Fluchtver-
suche aus deutscher Gefangenschaft und erst der dritte im Dezember glückte ihm.
Nach seiner Rückkehr nach Frankreich arbeitete er in der Verwaltung des Regimes
von Vichy für die Wiedereingliederung von Kriegsgefangenen.¹⁰⁵ Dabei knüpfte er
parallel Kontakte zu Widerstandsgruppen, schloss sich im November 1942 der
Résistance an und lebte im Untergrund. In seiner Biographie beschreibt Franz-
Olivier Giesbert François Mitterrand als äußerst risikobereit während des Krieges
und als jemanden, der alles auf eine Karte setzte. Durch die Existenzerfahrung
von Krieg, Gefangenschaft und Flucht entwickelte Mitterrand einen spezifischen
Umgang mit Risiko, da er vor der Wahl stand, mit einem Fluchtversuch sein Leben
zu riskieren oder im Falle eines Erfolges umso mehr zu gewinnen. Es ist nicht das
Anliegen dieser Arbeit, die Entscheidungen des jungen Mitterrand zu erklären,
sondern die Erfahrungen herauszuarbeiten, die ihn ganz offensichtlich auch für
seine spätere politische Karriere geprägt haben. Die Bilder, die François Mitter-
rand mit Krieg verband, hängen mit dem zusammen, was er während des Zweiten
Weltkrieges erlebte. Er erfuhr, dass er sich weder auf persönliche Bindungen noch
auf den Bestand gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen verlassen konnte.¹⁰⁶ Mit
Krieg verband François Mitterrand in der Retrospektive den „Zerfall aller gesell-
schaftlichen Strukturen“¹⁰⁷ und den Verlust jeder Orientierung.¹⁰⁸ Seine Schilde-
rungen der Erlebnisse des Krieges in Lothringen – beispielsweise Plünderungen
französischer Städte durch französische Soldaten – machen deutlich, dass für ihn
Krieg Anarchie bedeutete. Die Niederlage Frankreichs habe er als Demütigung
empfunden und sie habe ein Wutgefühl „[g]egen die Art und Weise, wie Frank-
reich regiert worden war“, in ihm ausgelöst.¹⁰⁹
Vgl. Giesbert, Franz-Olivier: François Mitterrand. Die Biographie. Berlin 1997. S. 45 f.
Vgl. Giesbert, François Mitterrand, S. 22– 52.
Mitterrand/Wiesel, Nachlese, S. 120 f.
Mitterrand/Wiesel, Nachlese, S. 101.
Mitterrand/Wiesel, Nachlese, S. 120 f., Zitat S. 119.
70 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand
litischen Karriere,¹¹⁵ was Roland Dumas als typisch für jene Zeit beschreibt, da
das politische Personal der Vorkriegszeit praktisch hinweggefegt worden sei.¹¹⁶
Mitterrand war ein bekannter Führer des Mouvement National des Prisonniers de
Guerre et Déportés (MNPGD) und konnte in allen Départements und Städten auf
die politische Unterstützung ehemaliger Kriegsgefangener zählen. Dies erleich-
terte Mitterrand seine Wahl in die französische Nationalversammlung 1946, in der
er sich der Union Démocratique et Socialiste de la Résistance (UDSR) anschloss.
Um die politische Unterstützung der Gruppe zu gewinnen, hatte Premierminister
Paul Ramadier Mitterrand in der ersten Regierung der IV. Republik einen Minis-
terposten – das Ministère des Anciens Combattants – angeboten. Trotz der schnell
wechselnden Regierungen gehörte François Mitterrand während der gesamten
Zeit der IV. Republik zum Ministerkreis. Damit floss die politische Praxis der IV.
Republik, die weniger durch Zugehörigkeit zu politischen Parteien als vielmehr
durch die politische Programmatik der Abgeordneten gekennzeichnet war, in
Mitterrands Sozialisationsprozess ein. Charakterzüge eines Individualisten, die
Mitterrand durch die Erfahrung von Krieg und Untergrund ausgebildet hatte,
wurden insofern durch die politische Praxis der IV. Republik verstetigt.¹¹⁷
Neben dem Erlernen politischer Praktiken und der Nutzung von politischem
Kapital für den Ausbau einer Machtbasis hatten Mitterrands persönliche und
politische Sozialisation auch Einfluss auf die Ausbildung seiner politischen
Überzeugungen. Die Diskussion, welchem politischen Lager sich Mitterrand zu-
rechnen lässt, ist hier wenig zielführend. Aufgrund seiner politischen Prägung
während der IV. Republik scheint es stattdessen plausibler, dass sich Mitterrand
politischen Dogmen oder gar Ideologien wenig verpflichtet fühlte. Davon zeugt
beispielsweise auch die Tatsache, dass er politische Richtungen immer dann zu
instrumentalisieren versuchte, wenn es ihm in die Karten spielte. Obwohl er sich
zunächst an dem Kampf zur Marginalisierung der französischen Kommunisten
beteiligte, war er doch kein militanter Antikommunist und sah sie später als
potentielle Partner für einen Aufstieg an die Spitze der V. Republik.¹¹⁸
Aus seinen Erfahrungen entwickelte Mitterrand sein persönliches Grundver-
ständnis internationaler Beziehungen, das an früherer Stelle bereits im Kontext
unterschiedlicher Gleichgewichtsvorstellungen eingeführt wurde. Diese Vorstel-
lung über die Ordnung zwischenstaatlicher Beziehungen wird in den folgenden
Duhamel, Eric: François Mitterrand en IVe République. Un parcours exemplaire. In: Histo-
riens et géographes. Revue de l’Association des Professeurs d’Histoire et de Géographie de
l’Enseignement Public 357 (1997). S. 296.
Dumas, Coups, S. 144.
Vgl. Duhamel, Parcours exemplaire, S. 296 – 300.
Vgl. Giesbert, François Mitterrand, S. 100 – 103.
72 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand
konnten. Nicht selten stand die Erwähnung des Zweiten Weltkrieges mit dem
zweiten biographischen Bezug in einem spezifischen Zusammenhang: seiner
Teilnahme an dem europäischen Gipfel von Den Haag am 7. Mai 1948. Diese Zu-
sammenkunft unterstrich den transnationalen gesellschaftlichen Konsens, auf
dem die Europäischen Gemeinschaften später beruhten.¹²¹ Die zu diesem Zeit-
punkt sich zwar bereits abzeichnende, aber noch nicht verfestigte Teilung Euro-
pas, muss auf François Mitterrand als unnatürlich und nach den Erfahrungen der
beiden Weltkriege als traumatisch gewirkt haben. Laut Saunier erfüllte diese
Anspielung im Wesentlichen drei Funktionen: Erstens attestierte sie ihm die
„anciennet铹²² seines europäischen Engagements, zweitens wurden die euro-
päischen Institutionen in einen größeren europäischen Kontext gestellt und
drittens wurden dadurch technokratische Äußerungen zugunsten einer größeren
politischen Vision überwunden. Auch in diesem Fall wurde der biographische
Bezug zur Grundlage von Gefühlspolitik. Mit der Inszenierung als Europäer der
ersten Stunde sollte einerseits Vertrauen in die Ursprünglichkeit seiner europäi-
schen Überzeugungen generiert werden. Andererseits wurde dadurch Europa zum
hoffnungsvollen Ausweg aus zwischenstaatlicher Anarchie stilisiert. Dahinter
verbarg sich die Idee, dass in Den Haag Europäer nach den Gräueltaten des
Zweiten Weltkrieges zusammengekommen waren, um den Groll der Vergangen-
heit zu begraben und den Kontinent gemeinsam wiederaufzubauen.¹²³
sowohl den sozialistischen Aufstieg als auch jenen von François Mitterrand tak-
tisch und konzeptionell vorbereitete. Zweitens sammelte François Mitterrand eine
équipe um sich, die er auf Grundlage verschiedener Kriterien zusammenstellte.
Drittens beruhte speziell die Führung der Außenpolitik auf verschiedenen Vor-
aussetzungen: Hierfür gilt es, die Funktion der präsidentiellen Berater und ihre
Arbeitspraktiken in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus ist das Verhältnis des
Elysée zu anderen für die Außenpolitik relevanten Ministerien zu bestimmen und
eine Rivalität der Ministerien untereinander in Rechnung zu stellen. Ein beson-
deres Augenmerk fällt dabei auf die personellen Verbindungen zwischen den
verschiedenen Institutionen. Schließlich hatten aber auch Akteure jenseits der
politischen Institutionen Einfluss auf den Kurs der Außenpolitik, die es im Fol-
genden zu berücksichtigen gilt.
Marc Lazar stellt heraus, dass die Sozialistische Partei mit Alain Savary ab
1969 und spätestens mit François Mitterrand als Parteivorsitzendem ab 1971 in
eine neue politische Ära eintrat. Mit Mitterrands Strategie einer Linksunion sei die
Partei zu dessen persönlicher Machtbasis geworden; gleichzeitig habe diese aber
zu Spaltungen geführt.¹²⁴ War die UDSR noch eine kleine Partei des linken
Spektrums gewesen, sollte eine Zusammenführung der Linken zur Regierungs-
übernahme der Sozialistischen Partei verhelfen. Für den Wahlerfolg 1981 wurde
unter anderem die Allianz mit den Kommunisten essentiell.¹²⁵ Nach dem Parteitag
von Épinay-sur-Seine vom 11. bis zum 13. Juni 1971 hatte sich François Mitterrand
die Führung einer reformierten und vereinten Sozialistischen Partei gesichert. Die
revolutionäre Orthodoxie seiner Rede erleichterte einigen Mitgliedern zwar ihren
Anschluss, förderte aber zugleich ein überzogenes, politisches Programm. Oh-
nehin schon bestehende Spannungen innerhalb der Partei wurden durch die
Aufnahme von Michel Rocard und seinen Anhängern der Parti socialiste unifié
1975 noch verstärkt.¹²⁶ Das Scheitern der Linken bei den legislativen Wahlen 1978
führte zu Protesten und Auseinandersetzungen auf dem Parteitag von Metz 1979,
bei dem sich François Mitterrand letztlich aber doch als Präsidentschaftskandidat
für 1981 durchsetzen konnte.¹²⁷
Zugleich wurde immer deutlicher, dass die Sozialistische Partei auch kon-
zeptionell neu ausgerichtet und an die politische Realität des Kalten Krieges
angepasst werden musste. Obwohl Mitterrand Absolventen der französischen
Lazar, Marc: La gauche et le défi des changements dans les années 70 – 80. Les cas français
et italien. In: Journal of Modern European History 9 (2011) 2. S. 245, 251.
Dumas, Coups, S. 99, 160.
Vgl. Moreau, Jacques: Le Congrès d’Épinay-sur-Seine du Parti socialiste. In: Vingtième Siècle.
Revue d’histoire 65 (2000). S. 81, 94.
Vgl. Moreau, Congrès, S. 95.
1.4 Die équipe Mitterrand 75
Pierre Morel. Eine dritte Kategorie, die sich innerhalb der équipe Mitterrand auf-
stellen lässt, umfasst langjährige Freunde und politische Kompagnons, denen
François Mitterrand persönliches Vertrauen entgegenbrachte, wie zum Beispiel
Pierre Bérégovoy, Roland Dumas, Régis Debray, Pierre Mauroy, Maurice Faure,
Guy Penne, François de Grossouvre oder André Rousselet.¹³³ Langjährige Vertreter
der Linken, wie Bérégovoy oder Mauroy, hatten Mitterrand dabei geholfen, die
linken Parteien zu einen, und ihn bei seinem Kampf um die Parteispitze unter-
stützt. Mit Roland Dumas verband Mitterrand zudem ähnliche Erfahrungen der
Vergangenheit. Dieser bezeichnet sich in seinen Erinnerungen selbst als „enfant
de la guerre“¹³⁴ und legt Zeugnis über seine Kriegserlebnisse wie Flucht und
Widerstand ab. Auch Dumas war in der Résistance aktiv und beschreibt den
Wechsel von Identitäten und das Gefühl, niemandem vertrauen zu können, in
ähnlicher Weise wie Mitterrand. Insbesondere der Tod seines Vaters, der im März
1944 von den Nationalsozialisten erschossen wurde, scheint sein Leben sehr ge-
zeichnet zu haben. Seine antideutschen Gefühle, die er nach eigenen Angaben
aufgrund seiner Kriegserlebnisse lange gehegt habe, macht er dafür verantwort-
lich, dass er 1981 unter der ersten Regierung Mauroy nicht zum Chef der Diplo-
matie berufen wurde.¹³⁵ Allerdings weist Elisabeth du Réau zu Recht darauf hin,
dass es für die Wahl von Claude Cheysson als ersten Außenminister wohl andere
Gründe gab. Sie argumentiert, dass der Karrierediplomat Cheysson und André
Chandernagor als Ministre délégué für europäische Angelegenheiten aufgrund
ihrer europäischen Überzeugungen ausgewählt wurden.¹³⁶ François Mitterrand
schien Cheysson zuvor wenig gekannt zu haben. Mit ihm gab er der professio-
nellen Wahl gegenüber einer persönlichen den Vorzug, die später durch Roland
Dumas verkörpert wurde, bezeugt Védrine.¹³⁷ In der Tat steht zu vermuten, dass
François Mitterrand sich innerhalb einer ohnehin unerfahrenen Regierung-
mannschaft Cheyssons Expertise sichern wollte. Bei dem ehemaligen Botschafter
konnte er darauf vertrauen, dass ihm das alltägliche Geschäft der Außenpolitik
geläufig war.
Persönlichkeiten wie Hubert Védrine und Jacques Attali verdeutlichen, dass
die aufgestellten Kategorien hier keineswegs als absolute Gebilde verstanden
werden können, sondern teilweise fließend ineinander übergingen. Védrine, 1947
geboren, zählte zwar zu jenen jungen ENA-Absolventen, die als Berater unter
François Mitterrand Karriere machten. Allerdings war er der Sohn von Jean Véd-
rine – einem alten Freund von Mitterrand zur Zeit des Zweiten Weltkrieges,
Weggefährte während der années noires und schließlich Mitarbeiter im Ministère
des Anciens Combattants. ¹³⁸ Über den Vater bestand also gewissermaßen bereits
eine Art der Verbindung oder Vertrautheit, auf der ein Vertrauensverhältnis auf-
gebaut werden konnte. Jacques Attali, der nach 1981 spezieller Berater des Prä-
sidenten wurde, begleitete François Mitterrand bereits seit den 1970er Jahren und
kann als eine Art Universalexperte eingestuft werden, den Hubert Védrine als
Mitterrands „boîte à idée“¹³⁹ bezeichnet. Die Grenze zwischen politischem Weg-
begleiter und Experten erscheint hier ebenfalls fließend. Es gilt außerdem fest-
zuhalten, dass Attali Mitterrand ganz offensichtlich nicht nur Ideen lieferte,
sondern auch junge talentierte Mitarbeiter empfahl. Jean-Louis Bianco, zunächst
Berater und schließlich Generalsekretär im Elysée, Pierre Morel, außenpolitischer
Berater im Elysée und Quai d’Orsay, Laurent Fabius oder Alain Boublil waren
bereits lange Jahre mit Attali bekannt oder gehörten zeitweilig zu dessen Mitar-
beitern, bevor sie für Mitterrand oder eines der Ministerien arbeiteten. Bei dieser
Unterkategorie innerhalb der Akteursgruppe wurde das Vertrauen also gewis-
sermaßen über das Vertrauen in eine dritte Person gestiftet beziehungsweise ex-
pandiert. Die verschiedenen Kategorien, die sich innerhalb der équipe Mitterrand
bilden lassen, verweisen an dieser Stelle auf eine Strategie von François Mitter-
rand, sich beraten zu lassen. Die Art und Weise, Informationen zu sammeln,
beruhte damit auf unterschiedlichen Methoden, wodurch die Erfahrungsräume
verschiedener Generationen kombiniert wurden. Spezifisches Fachwissen und
technokratische Arbeitspraktiken der V. Republik wurden so mit untechnokrati-
schen Arbeitspraktiken verknüpft, die Mitterrand noch aus der IV. Republik ge-
läufig waren. Er war also in der Lage, sich mit der Realität zu arrangieren, indem
er die bestehenden Bedingungen nutzte und durch Kenntnisse der Regierungs-
praxis in der IV. Republik erweiterte. Damit multiplizierten sich nicht nur die
Erfahrungsräume, sondern auch der Erwartungshorizont wurde dadurch ausge-
weitet.
Für Entscheidungsprozesse in der Außenpolitik waren allerdings auch Spe-
zifika des französischen politischen Systems relevant. In Artikel 20 der Verfas-
sung heißt es, dass die Regierung die Politik der Nation bestimme, zu der zu-
nächst einmal auch die Außenpolitik zählt. Der Verfassungsanspruch unterschied
sich allerdings in hohem Maße von der Verfassungswirklichkeit, in der ab 1959 der
französische Präsident eine herausragende Rolle in der Außenpolitik einnahm,
die dadurch informell zur domaine reservé des französischen Staatspräsidenten
Funktion der Berater bestand also in erster Linie darin, Informationen zu sam-
meln und auf dieser Grundlage Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Dazu
zählte es auch, Kontakte zu anderen Institutionen, dem diplomatischen Personal
ausländischer Botschaften, Journalisten oder Think Tanks zu pflegen.¹⁴²
Die Außenpolitik definierte sich, wenn man von der Zeit der Cohabitation
zwischen 1986 und 1988 absieht, in einer ständigen Symbiose von Elysée und
Quai d’Orsay.¹⁴³ Dem Ministère des Affaires Étrangères oblag verfassungsrechtlich
die Verantwortung für die Aktionen des diplomatischen Dienstes. Die Vorberei-
tungen internationaler Zusammentreffen sowie der Repräsentation Frankreichs
fielen ebenfalls in sein Ressort.¹⁴⁴ Die verschiedenen Abteilungen und Dienste
zeichneten sich durch ein hohes Maß an Kontinuität des Personals aus. Prinzipiell
pflegte Claude Cheysson ein gutes Verhältnis zu den beiden Ministres délégues
auprès du Ministre des Relations extérieures – André Chandernagor für europäi-
sche Angelegenheiten und Jean-Pierre Cot für Zusammenarbeit und Entwicklung.
Dies schloss interne Rivalitätskämpfe nicht aus, da sich der Außenminister oft-
mals als Patron der Außenpolitik verstand, dem die Ministres délégues und
Staatssekretäre untergeordnet waren. Direkte Beziehungen zwischen ihnen und
dem Präsidenten oder seinen Beratern waren Cheysson wohl ein Dorn im Auge.¹⁴⁵
Chandernagor bestätigte dies in einem Interview mit Elisabeth du Réau, in dem er
berichtete, dass Cheysson versucht habe, ihn auf Linie zu bringen, seine Versuche
aber schnell aufgegeben habe.¹⁴⁶ Unabdingbar für die Mechanismen internatio-
naler Beziehungen waren außerdem die Analysen äußerer Bedrohungen und
militärischer Kräfteverhältnisse durch das Verteidigungsministerium.¹⁴⁷ Aufgrund
des guten Verhältnisses von Charles Hernu und Claude Cheysson waren die Be-
ziehungen zwischen Verteidigungs- und Außenministerium offenbar sehr har-
monisch. Die beiden trafen sich regelmäßig, häufig auch in Begleitung ihrer Be-
rater François Heisbourg und Bruno Delaye. Angesichts der wachsenden
Interdependenz moderner Wirtschaften spielte der Wirtschafts- und Finanzmi-
nister Jacques Delors ebenfalls eine wichtige Rolle für die Außenpolitik. Regel-
mäßig trafen sich die Finanzminister der Europäischen Gemeinschaft.¹⁴⁸ Der
Premierminister war in außenpolitischen Fragen in einer Zwickmühle, da ihm
zwar – wie bereits erwähnt – laut Verfassung auch die Verantwortung für die
Außenpolitik zukam, diese aber in der Verfassungswirklichkeit zur domaine res-
ervé des Präsidenten geworden war. Der Premierminister leitete die Regierungs-
aktionen, übernahm eine koordinierende Rolle in den Bereichen Militär, Wirt-
schaft und Finanzen und informierte das Parlament über die Arbeit der
Regierung. Das Secrétariat général du Comité interministériel pour les questions de
coopération économique européenne (SGCI) war dem Hôtel Matignon – Sitz des
Premierministers – zugeordnet und koordinierte die Positionen der verschiedenen
Ministerien für europäische Fragen.¹⁴⁹ Obwohl der Premierminister prinzipiell
einen größeren Einfluss in wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten besaß,
sprach er mit dem Präsidenten auch regelmäßig über außenpolitische Themen
und gab Einschätzungen ab. Im Matignon fanden täglich interministerielle Tref-
fen statt, bei denen es zumeist um die Gesamtheit oder aber Einzelaspekte in-
ternationaler Fragen ging. Diese Gespräche waren für eine gute Zusammenarbeit
aller Instanzen und die Kohärenz in der Außen- und Sicherheitspolitik unab-
dingbar. Die Ministerien dürfen also keineswegs als abgeschlossene Organismen
verstanden werden; vielmehr standen ihre Vertreter – Generalsekretär des Elysée,
Kabinettsdirektor des Premierministers, diplomatische und wirtschaftliche Bera-
ter – in einem permanenten Kontakt. Außenpolitische Entscheidungen waren also
aus dieser Perspektive ein „résultat alchimique“.¹⁵⁰
Jenseits der Verantwortlichen für die Definition und die Umsetzung der Au-
ßen- und Sicherheitspolitik versuchten weitere Akteure Einfluss darauf geltend zu
machen. Auf der rein nationalen Ebene zählten institutionelle Akteure wie die
Abgeordneten oder der Conseil Constitutionnel, aber auch Städte und Regionen,
politische Parteien, wirtschaftliche Unternehmen und Organisationen, Banken
sowie Nichtregierungsorganisationen dazu.¹⁵¹ Der neue Parteivorsitzende des PS,
Lionel Jospin, versuchte durch regelmäßige Kontakte zu Präsident und Ministern
ebenso Einfluss zu nehmen, wie unterschiedliche Experten-Gruppen innerhalb
der Partei.¹⁵² Ein besonderes Charakteristikum der Politik an der Schwelle zum
21. Jahrhundert bestand darüber hinaus in der Bedeutung der öffentlichen Mei-
nung als Einflussfaktor. Zu dem Verhältnis von Politik und massenmedialer Öf-
fentlichkeit hat die Historiographie in vergangener Zeit viel Forschungsarbeit
geleistet.¹⁵³ Die Verflechtung von politischer und medialer Sphäre drücken sich
Zwischenbilanz
Der Anspruch des ersten Kapitels war es einerseits, die Bedingungen französi-
scher Außenpolitik im Jahr 1981 zu klären, um zu zeigen, dass die vorliegende
Arbeit François Mitterrand zwar als zentralen Akteur, keineswegs aber als völlig
autark agierenden Politiker begreift. Andererseits galt es vor der Analyse seiner
politischen Handlungsimpulse zu klären, ob er das Amt des Präsidenten mit ei-
nem klaren politischen Konzept antrat. Nach der Untersuchung seines politischen
Werdegangs und den Stellungnahmen rund um die Übernahme der Präsident-
schaft lässt sich festhalten, dass Mitterrands Konzeption weniger als ein konkretes
politisches Programm gesehen werden darf. Viel plausibler erscheint es dagegen,
von einer Kombination aus gewissen Grundüberzeugungen und spezifischen
politischen Kompetenzen auszugehen, die sich in langwierigen Prozessen seiner
medien im Europa des 20. Jahrhunderts. Köln [u. a.] 2010; Arnold, Klaus/Classen, Christoph/
Kinnebrock, Susanne/Lersch, Edgar/Wagner, Hans-Ulrich (Hrsg.): Von der Politisierung der Me-
dien zur Medialisierung des Politischen? Zum Verhältnis von Medien, Öffentlichkeit und Politik im
20. Jahrhundert. Leipzig 2010; Schulz, Andreas: Der Aufstieg der „vierten Gewalt“. Medien, Politik
und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation. In: HZ 270 (2000) 1. S. 65 – 97; Hoeres/
Tischer (Hrsg.): Medien.
Védrine, Mondes, S. 60.
Védrine, Mondes, S. 54, 89.
Védrine, Mondes, S. 91.
82 1 Die Konzeption der équipe Mitterrand
Ja. Ich wurde nach einer fünfunddreißigjährigen politischen Laufbahn gewählt. Ich konnte
auf sieben Jahre Regierungserfahrung zurückblicken, während deren ich mich mit der
Handhabung der Mechanismen vertraut gemacht und das Wesen der zu treffenden Ent-
scheidungen studiert hatte. Danach war ich vierundzwanzig Jahre lang in der Opposition, wo
ich Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken, was ich tun würde, wenn ich an die Macht
käme, und welche Menschen ich auswählen würde, um mir bei der Arbeit behilflich zu
sein.¹⁶²
Mitterrands Worte aus einem Interview mit Elie Wiesel verdeutlichen seinen
Werdegang und die Bedeutung, die dieser für seine Regierungszeit besaß. Dar-
über hinaus verweisen sie aber auch auf den dritten Teilaspekt von Mitterrands
Konzeption. Da er zwar über ein Grundverständnis internationaler Politik und
Führungskompetenzen, nicht aber über das notwendige Fachwissen verfügte,
schuf er um sich herum ein personales System, auf das er sich bei seiner Regie-
rungsarbeit stützen konnte. Akteure dieses Systems suchte er auch schon wäh-
rend seiner Zeit in der Opposition sorgfältig aus. Für den politischen Aufstieg
stützte er sich auf fachlich kompetente sowie taktisch wertvolle Personen und
integrierte diese nach der Amtsübernahme in die équipe Mitterrand. Dabei han-
delte es sich, wie gezeigt, einerseits um Personen, denen er entweder aufgrund
von spezifischem Expertenwissen oder aber aufgrund langjähriger persönlicher
und politischer Freundschaft Vertrauen schenkte. Andererseits war er aber auch
auf Fachpersonal angewiesen, das sich mit den – ihm weitestgehend fremden –
Mechanismen der technokratischen Regierungsarbeit auskannte. Daher inte-
grierte er auch junge und aufstrebende Absolventen der französischen Elite-
schulen in sein System. Bei dem analysierten Akteursgeflecht handelt es sich um
ein Beziehungssystem, bei dem Vertrauen zur sozialen Ressource und grundle-
genden Struktur wurde. Diese Form der sozialen Bindung hatte verschiedene
Ursprünge. Gemeinsame oder ähnliche Erfahrungen in der Vergangenheit stifte-
ten bei Mitterrand ein Vertrauen, das in hohem Maße auf Vertrautheit basierte.
Politische Weggefährten hatten ihre Vertrauenswürdigkeit zweitens durch Fach-
wissen oder drittens durch politische Unterstützung demonstriert. Viertens ver-
traute Mitterrand aber auch Personen, die ihm von Mitarbeitern und langjährigen
Vertrauten empfohlen wurden, die bereits Teil seines Systems waren. Dieses
Vertrauen basierte auf dem Urteil einer dritten Person und kann insofern auch als
Vertrauen zweiter Ordnung bezeichnet werden.
Diese dreiteilige Konzeption war frei von jeder Form von Ideologie oder po-
litischem Dogma und lässt sich vielleicht eher als eine Art pragmatisches Rüst-
zeug verstehen, um sich Herausforderungen jeweils aktuell stellen zu können. Es
zeichnete sich also durch Flexibilität und Adaptionsfähigkeit aus. Damit lassen
sich unter anderem auch die widerstreitenden Urteile über François Mitterrand
erklären. Nicht selten wurden diese zu Werturteilen, indem sie Mitterrand einen
machiavellistischen Umgang mit Macht und einen über allem stehenden Egois-
mus unterstellten.¹⁶³ Zu einem tieferen Verständnis von Mitterrands Politik drin-
gen diese Urteile allerdings nicht vor, da sie ihrer Komplexität nicht gerecht
werden. Als anschlussfähiger erweisen sich Urteile von zeitgenössischen Akteu-
ren wie Hubert Védrine und André Chandernagor oder von Historikern wie Eli-
sabeth du Réau und Georges Saunier. Sie allesamt verstehen Mitterrand als einen
Pragmatiker: Kein Technokrat mit politischer Agenda, kein militanter Sozialist
oder utopischer Moralist sei er gewesen, sondern „pragmatique“ „homme fran-
çais“, „historien“, „géographe“, so Védrine.¹⁶⁴ Zwar als Europäer, aber auch als
absoluten Pragmatiker beschreibt ihn Chandernagor¹⁶⁵; als pragmatischen, hell-
sichtigen und realistischen „Européen de raison“¹⁶⁶ Elisabeth du Réau; als „un
compagnon de route de l’idée européenne“¹⁶⁷ Georges Saunier.
François Mitterrand verfügte 1981 also nicht über ein außenpolitisches Kon-
zept im Sinne eines konkreten politischen Programms. Stattdessen beruhte seine
Konzeption auf Grundvorstellungen internationaler Politik, bestimmten Hand-
lungskompetenzen und einem personalen System. Insgesamt ergab sich daraus
eine Kombination aus politischen Vorstellungen und einem operativen Pragma-
tismus, der ihm ein grundlegendes Handwerkszeug zur Verfügung stellte, welches
ihm erlaubte, sich an den jeweils aktuellen politischen Kontext anzupassen und
Handlungsimpulse zu jedem beliebigen Thema der aktuellen Außenpolitik zu
entwickeln.
Zum Beispiel: Schwarz, Gesicht; Lappenküper, Mitterrand und Deutschland; Praus, Ende;
Hildebrand, Wiedervereinigung.
Védrine, Mondes, S. 84 f.
Chandernagor, Mitterrand et l’Europe, S. 459.
Du Réau, Engagement, S. 285, 294.
Saunier, „J’y étais, j’y croyais“, S. 384.
2 Die Inszenierung eines politischen
Kurswechsels¹
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise
Vgl. dazu auch Schotters, Frederike: Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels? Medien
der relations franco-soviétiques 1981– 1990. In: Hoeres/Tischer (Hrsg.), Medien, S. 413 – 435.
https://doi.org/10.1515/9783110597417-004
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 87
einer Einmischung zu hüten. Seiner Warnung, die sich insbesondere an die so-
wjetische Führung richtete, verlieh er durch ein bedrohlich wirkendes Zukunfts-
szenario eine besondere Plastizität, indem er die Konsequenzen einer solchen
Einmischung deutlich machte: Die Sowjetunion müsse wissen, „daß [sic] sie
damit jede Aussicht auf Verhandlungen über Abrüstung, Entspannung und kol-
lektive Sicherheit einfrieren würde“, was dem Frieden nicht gerade zuträglich sei.²
Dadurch nahm er eine ungewisse Zukunft quasi vorweg, indem er dem Kreml den
Preis vor Augen führte, den er für ein Eingreifen in Polen würde bezahlen müssen.
Auf die implizite Drohung soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.
Auffällig ist aber, dass Mitterrand hier eine vermeintlich gewisse Zukunft sugge-
riert, sollte sich Moskau für ein Eingreifen entscheiden. Daraus lässt sich die
These ableiten, dass Mitterrand durch den Entwurf dieses möglichen aber kei-
neswegs sicheren Szenarios den Entscheidungsprozess der sowjetischen Führung
beeinflussen wollte, indem der Kreml seine entworfene Zukunftsprojektion zur
Entscheidungsgrundlage machen sollte. Hierbei handelt es sich um ein wieder-
kehrendes Handlungsmotiv, dessen sich der französische Präsident häufig be-
diente, um die Entscheidung seiner Verhandlungspartner zu beeinflussen.
Unmittelbar nach der Verhängung des Kriegsrechts einigten sich die Au-
ßenminister Claude Cheysson (Frankreich), Alexander Haig (USA), Peter Car-
rington (Großbritannien) und Hans-Dietrich Genscher (BRD) darauf, keine di-
rekten politischen Maßnahmen als Reaktion zu ergreifen. Als Cheysson dies vor
der französischen Presse bekannt gab, reagierte Mitterrand äußerst verärgert.³
Zwar hatte er selbst nicht vorgesehen, härtere Sanktionsmaßnahmen zu ergreifen,
da er wohl auch davon überzeugt war, dass Jaruzelskis Reaktion womöglich der
einzige Weg gewesen war, ein Eingreifen der Sowjetunion vergleichbar mit der
Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 zu verhindern.⁴ Allerdings
sah er sich durch Cheyssons Maßnahme vor Probleme gestellt: Aufgrund langer
Traditionen habe die französische Öffentlichkeit besonders heftig und emotional
auf die Errichtung des Militärregimes reagiert, erklärte Mitterrand dem deutschen
Botschafter Axel Herbst am 11. Januar 1982.⁵ Mitterrand war zwar dafür, huma-
nitäre sowie Lebensmittelhilfen für Polen fortzuführen; allerdings bereitete ihm
dies innenpolitische Schwierigkeiten. Am 24. Februar 1982 gestand Mitterrand
dem deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt, dass die Massenmedien in
Mitterrand, François: „Die deutsch-französische Freundschaft hängt doch nicht an einer Tasse
Tee.“ In: Stern (1981) 29, 09.07.1981. S. 83.
Attali, Verbatim 1981– 1986, 13. Dezember 1981, S. 167.
Attali, Verbatim 1981– 1986, 14. Dezember 1981, S. 168.
Botschafter Herbst, Paris, an das Auswärtige Amt, 11. Januar 1982. In: AAPD 1982, Dok. 16, S. 68.
88 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 24. Februar
1982. In: AAPD 1982, Dok. 63, S. 322.
AN, AG/5(4)/CD/160, MRE, Centre d’Analyse et de Prévision, Note, L’Allemagne et les relations
Est/Ouest, 12. Januar 1981.
Attali, Verbatim 1981– 1986, 16. Dezember 1981, S. 170.
AN, AG/5(4)/CD/74, Ambassade de France aux Etats-Unis, Résumé de la conversation entre M.
François Mitterrand et M. Ronald Reagan, 12. März 1982.
Attali, Verbatim 1981– 1986, 16. Dezember 1981, S. 170.
Attali, Verbatim 1981– 1986, 4. Januar 1982, S. 175.
Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 13. Januar
1982. In: AAPD 1982, Dok. 20, S. 90.
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 89
Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 13. Januar
1982. In: AAPD 1982, Dok. 20, S. 88 – 96.
Vgl. Loth, Wilfried: Staaten und Machtbeziehungen. In: Die Geschichte der Welt. 1945 bis
heute. Die globalisierte Welt. Hrsg. von Iriye, Akira. München 2013. S. 134.
Der Begriff „découplage“ wurde in französischen Dokumenten zum Schlagwort dieses Ge-
samtzusammenhangs; siehe u. a. AN, AG/5(4)/CD/262, Présidence de la République, Pierre Morel,
90 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
Note pour le Président de la République, L’Etat des négociations de Genève et les START, 10. März
1982.
Vgl. Loth, Helsinki, S. 192.
Loth, Helsinki, S. 192.
ADMAE, 1930-INVA 5641, MRE, Affaires Stratégiques et du Désarmement, Argumentaire sur la
non prise en compte de nos forces nucléaires dans les négociations soviéto-américaines, 18. April
1983; AN, AG/5(4)/CD/392, SGDN, extrait du dossier Conseil, 16. Oktober 1981.
Siehe dafür auch Abschnitt 4.2.
Vgl. für die Entscheidungen und Motivationen der sowjetischen Führung in der Eurorake-
tenkrise: Wettig, Gerhard: Sowjetische Euroraketenrüstung und Auseinandersetzung mit den
Reaktionen des Westens. Motivationen und Entscheidungen. In: Gassert [u. a.] (Hrsg.), Zweiter
Kalter Krieg, S. 51.
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 91
Loth, Angst und Vertrauensbildung, S. 32 f.; vgl. dazu weiterführend: Herz, Internationalis-
mus.
Attali, Verbatim 1981– 1986, 8. Juli 1981, S. 60.
Dumas, Roland: Affaires étrangères I. 1981– 1988. Paris 2007. S. 154.
Védrine, Mondes, S. 116.
Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand, 12. Juli 1981. In: AAPD
1981, Dok. 198, S. 1039 – 1041.
92 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
dann auf gleichem Niveau über Abrüstung zu verhandeln: „Das [Übergewicht der
Sowjetunion in Europa] kann ich nicht akzeptieren, und ich gebe zu, dass
nachgerüstet werden muß [sic], um das Gleichgewicht wiederherzustellen.Von da
an sollte dann verhandelt werden.“²⁶ Bei Helmut Schmidt führte dies zu einigen
Irritationen, der das Missverständnis zunächst auf einen Übersetzungsfehler zu-
rückführte. Darauf angesprochen argumentierte Mitterrand, dass er den NATO-
Doppelbeschluss durchaus unterstütze. Allerdings wollte er die sowjetische Seite
mit der realistischen Drohung einer Raketenaufstellung unter Druck setzen, damit
sie in die Verhandlungen einwillige. Die „ernstgemeinte Androhung könnte […]
die gleiche Wirkung haben wie eine spätere Aufstellung der neuen Waffensysteme
selbst. Dies seien jedoch Vorstellungen, die er nicht öffentlich darlegen könne,“²⁷
erklärte er. Erneut lässt sich hier die Strategie nachweisen, mit einer zwar stets
ungewissen Zukunft aber mit einem als gewiss suggerierten Zukunftsszenario
Politik zu betreiben, um das sowjetische Handeln zu beeinflussen. Es zeigt sich
also, dass Mitterrand Gefühlspolitik als politische Handlungsstrategie einsetzte,
indem er durch eine „ernstgemeinte Androhung“ bei der sowjetischen Führung
Ängste oder zumindest ein Gefühl der Unsicherheit evozieren wollte, um so ihr
Handeln zu beeinflussen.
Um dieses Missverständnis beziehungsweise diese Widersprüchlichkeit von
Mitterrands Äußerungen zu verstehen, muss man berücksichtigen, dass sich seine
Argumentation im Sommer 1981 veränderte. Während des Wahlkampfes, in dem
Stern-Interview und auch noch bei der Pressekonferenz nach dem G7-Gipfel in
Ottawa am 20. und 21. Juni 1981 befürwortete François Mitterrand die Aufstellung
amerikanischer nuklearer Mittelstreckenraketen in Europa, um – wie er sagte –
das europäische Gleichgewicht wiederherzustellen. Sein Berater Pierre Morel hielt
diese Formulierung für äußerst unglücklich. Er beurteilte sie als Risiko, da sie von
anderen ausgenutzt werden könnte, um Frankreich etwas abzuverlangen, was
Mitterrand nicht bereit wäre zu akzeptieren: entweder Frankreichs völlige Inte-
gration in die westlichen Streitkräfte oder seine Neutralität. Mitterrands Äuße-
rungen suggerierten, so Morel, dass das europäische Kräftegleichgewicht vom
globalen Rüstungsgleichgewicht zwischen Ost und West unabhängig sei, das auf
der Kapazität der amerikanischen und sowjetischen strategischen Rüstung be-
ruhte. Die Überlegenheit der Sowjetunion könne ausschließlich durch eine Ver-
bindung zwischen der Verteidigung Westeuropas und einem globalen strategi-
schen Kräftegleichgewicht zwischen den USA und der UdSSR kompensiert
Isoler un espace nucléaire européen ferait, en fin de compte, le jeu des neutralistes et des
Soviétiques, en mettant progressivement en place une zone de statut spécial qui interdirait à
tout jamais aux pays d’Europe occidentale d’affirmer, individuellement et collectivement,
leur personnalité.³⁰
Stattdessen sprach sich Pierre Morel immer wieder für die Kopplung der INF- und
START-Verhandlungen aus. Auf diese Weise wollte er verhindern, dass die so-
wjetische Führung die Genfer Verhandlungen zu Propagandazwecken miss-
brauchte, sondern sich für einen Verhandlungserfolg engagierte. Durch die
Trennung der beiden Verhandlungen sah er auch das Risiko eines amerikanisch-
gische Rüstung (START) zu ergänzen; durch die Kopplung der beiden Verhand-
lungen sollten die französischen Nuklearpotentiale herausgehalten werden.³⁶
Es steht darüber hinaus zu vermuten, dass wiederkehrende französische
Ängste für die Unterstützung des NATO-Doppelbeschlusses eine besondere Rolle
spielten: Die Bundesrepublik Deutschland wurde in den Direktionen des Quai
d’Orsay aufgrund der deutschen Teilung als besonders verwundbares Glied des
westlichen Bündnisses gesehen.³⁷ Die Garantie des amerikanischen nuklearen
Schutzschirms sollte daher dazu beitragen, dass die BRD sich nicht dem stetigen
Druck durch die Sowjetunion ausgesetzt sah. Bonn sollte nicht in die Zwickmühle
geraten, zwischen atlantischer Solidarität und Ostpolitik als fester Bestandteil
deutscher nationaler Interessen wählen zu müssen.³⁸ Es ist davon auszugehen,
dass diese wiederkehrenden, sogenannten „Rapallo-Ängste“³⁹ daher für das En-
gagement zur Wiederherstellung des strategischen Gleichgewichts mitverant-
wortlich waren. Gleichwohl sollten sich diese „Rapallo-Ängste“ in den Diensten
des französischen Außenministeriums und unter den Beratern des Präsidenten in
dem Maße verstärken, wie die sowjetische Seite den Kampf um die Euroraketen
auf eine psychologische Ebene verlagerte. Der Kreml versuchte daher jene deut-
schen Tendenzen zu instrumentalisieren, die einem Arrangement mit Moskau
gewogen waren.
Am 18. November 1981 präsentierte der amerikanische Präsident Ronald
Reagan seinen Vorschlag der sogenannten Nulllösung, der einen Verzicht auf die
Aufstellung der Pershing-II und Marschflugkörper unter der Bedingung vorsah,
dass die sowjetische Führung die bereits installierten SS-20 sowie die älteren SS-4
und SS-5-Raketen abbauen würde. Von der sowjetischen Nachrichtenagentur
TASS wurde er allerdings sogleich als reine Propaganda zurückgewiesen.⁴⁰
Demgegenüber war der Vorschlag von Leonid Breschnew einer erweiterten Null-
Aufzeichnung des Botschafters Ruth, 24. November 1981. In: AAPD 1981, Dok. 341, S. 1847.
Attali, Verbatim 1981– 1986, 6. März 1982, S. 214.
ADMAE, 1930-INVA 5641, TD RPAN Bruxelles 690, Session ministérielle du Conseil atlantique.
Négociation sur les forces nucléaires de portée intermédiaire, 10. Dezember 1981.
Védrine, Mondes, S. 191.
Vgl. Favier, Pierre/ Martin-Roland, Michel: La Décennie Mitterrand. Bd. 1: Les ruptures (1981–
1984). Paris 1990. S. 237.
AN, AG/5(4)/CD/262, MRE, TD Washington 684, Consultations du Directeur Politique à Wa-
shington, 10. März 1982.
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 97
interessiert waren. Andererseits zeigte sich aber auch, dass die Regierungen in
Washington und Moskau dies nicht wirklich unterstützten. Obwohl diese Episode
erst sehr viel später bekannt wurde,⁵² erhöhte François Mitterrand in der zweiten
Jahreshälfte 1982 den Druck, um die amerikanische Administration und die so-
wjetische Führung zu einer größeren Kompromissbereitschaft und Anpassung
ihrer Verhandlungspositionen zu bewegen.
Als Ronald Reagan im Oktober 1982 die Nulllösung noch einmal ins Spiel
brachte, kommentierte Mitterrand, dass ein Gleichgewicht auf dieser Basis nicht
zu erreichen sei: Stattdessen müsse ein Kompromiss zwischen den Positionen
Reagans und Breschnews gefunden werden.⁵³ Nachdem Mitterrand am 11. Oktober
1982 in einer Pressekonferenz in Brazzaville bereits öffentlich versucht hatte, der
Suche nach einem „point moyen“⁵⁴ neue Impulse zu geben, versuchte er auch in
bilateralen Gesprächen auf die beiden Verhandlungsparteien einzuwirken. Ge-
genüber dem neuen amerikanischen Außenminister George Shultz regte Mitter-
rand am 14. Dezember an, es gäbe natürlich noch andere Möglichkeiten als die
Nulllösung von Reagan oder das Einfrieren von Breschnew. Aufgrund der ame-
rikanischen Truppenpräsenz in Europa habe die Sowjetunion nicht die Absicht
alle geplanten 350 SS-20 aufzugeben. Stattdessen empfahl Mitterrand, jenen
Punkt zu suchen, ab dem Moskau nicht mehr in der Lage sein würde, Europa
strategisch zu beherrschen.⁵⁵ Am 20. Dezember versuchte Mitterrand über den
sowjetischen Botschafter auf die Verhandlungsposition des Kremls einzuwirken.
Er sei sowohl gegen die Nulllösung als auch gegen die Vorschläge des neuen
Generalsekretärs der KPdSU Jurij Andropow.⁵⁶ Interessant wäre ein Rückzug der
SS-20 unterhalb einer Zahl von 162. Ein möglicher Vorschlag müsste also oberhalb
von Null und unterhalb der vorgesehenen Zahlen der westlichen Pershing-II und
Marschflugkörper (108 und 464) liegen. Eine Unterscheidung von Pershing-II und
Marschflugkörpern, könne obendrein zu einem späteren Zeitpunkt der Verhand-
lungen anvisiert werden.⁵⁷ Bei dem G7-Gipfel in Williamsburg im Mai 1983 sperrte
sich François Mitterrand vehement gegen jedweden Bezug auf die Nulllösung im
Abschlusskommuniqué, unter anderem weil er diese nicht als einzig mögliches
Als Jurij Andropow am 21. Dezember 1982 den Vorschlag einbrachte, dass die
Sowjetunion in Europa genauso viele Raketen behalten könne, wie Großbritan-
nien und Frankreich, antwortete Mitterrand darauf mit dem Maxim französischer
Unabhängigkeit. Stattdessen stellte er strenge Bedingungen für eine französische
Beteiligung an den Verhandlungen auf. Insgesamt hatte er im Jahr 1983 große
Mühe, sich gegen derartige Forderungen zur Wehr zu setzen.⁶³ Die Idee, die So-
wjetunion könne eine den französischen und britischen Nuklearraketen ent-
sprechende Anzahl an Vektoren in Europa erhalten, erschien durch die sugge-
rierte Symmetrie umso verlockender. Védrine weist allerdings auf einen
Trugschluss hin, da die SS-20-Raketen mit drei Sprengköpfen ausgestattet waren
und zudem auch andere Waffen, die auf sowjetischem Territorium stationiert
waren, in der Lage waren, Westeuropa zu erreichen.⁶⁴ Außerdem wurden fran-
zösische Entscheidungsträger nicht müde zu betonen, dass die force de frappe ein
Instrument der rein nationalen Verteidigung darstellte. Sie sei weder zu den
Streitkräften der NATO zu rechnen, noch sei ihre Kapazität hinreichend, um die
Sicherheit der europäischen Verbündeten zu garantieren.⁶⁵ Über den Erwerb der
Mittel, die Planung sowie die Entscheidung ihres Einsatzes könne ausschließlich
auf nationaler Ebene entschieden werden.⁶⁶ Insgesamt basierte die französische
Doktrin, die sowohl eine direkte als auch indirekte prise en compte ausschloss, auf
vier Prinzipien: dem rein nationalen Charakter der force de frappe, ihrer unein-
geschränkten Unabhängigkeit, der Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung
und keiner annähernden Vergleichbarkeit mit den Potentialen der beiden Su-
permächte.
Die sowjetische Forderung einer prise en compte entwickelte aus französi-
scher Sicht insofern eine gefährliche Eigendynamik, als sie sich auch an die
westliche Öffentlichkeit richtete. Gerade zu Beginn der Verhandlungen berichtete
der Chef der amerikanischen Verhandlungs-Delegation den verbündeten Au-
ßenministern, dass die Sowjetunion bisher keine neuen Vorschläge eingebracht
habe, sondern vor allem erst einmal die Biegsamkeit der westlichen Standpunkte
ADMAE, 1930-INVA 5641, TD RPAN Bruxelles 690, Session ministérielle du Conseil atlantique.
Négociation sur les forces nucléaires de portée intermédiaire, 10. Dezember 1981.
Vgl. Gassert, Philipp/Geiger, Tim/Wentker, Hermann: Zweiter Kalter Krieg und Friedensbe-
wegung: Einleitende Überlegungen zum historischen Ort des NATO-Doppelbeschlusses von 1979.
In: Gassert [u. a.] (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg, S. 7.
Vgl. Baulon, Risque, S. 177 f.
AN, AG/5(4)/CD/160, Présidence de la République, Hubert Védrine, Note pour le Secrétaire
Général, 25. Mai 1981.
102 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
fragen. Der Generalsekretär des Elysée Pierre Bérégovoy hielt diesen Vorschlag für
äußerst interessant und gab ihn zwei Tage später an den Präsidenten weiter, der
diesem letztlich zustimmte.⁷¹ Am 3. Juni 1981 gab Bérégovoy den Auftrag mit der
Anweisung an das Außenministerium weiter, die Ursachen der pazifistischen und
neutralistischen Tendenzen zu erforschen, ihre aktuelle Kraft einzuschätzen und
einen Ausblick auf potentielle künftige Entwicklungen zu geben. Besonders
wichtig war die Frage danach, in welchem Maße sie in der Lage waren, Einfluss
auf Regierungsentscheidungen hinsichtlich der Außenpolitik und Verteidigung zu
nehmen.⁷² Diese Maßnahme von Mitterrands Mitarbeitern macht den Zusam-
menhang von Wahrnehmen und Handeln, wie er in der Einleitung unter dem
Stichwort „Perzeptionsparadigma“⁷³ eingeführt wurde, überdeutlich.
Angesichts der französischen Verunsicherung versuchte der Vorsitzende des
Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Rainer Barzel, Diplomaten in der fran-
zösischen Botschaft zu beruhigen. Indem er die Friedensbewegung herunter-
spielte, warb er gleichzeitig für Vertrauen in die bundesdeutsche Bündnistreue.
Die Friedensbewegung sei nicht überzubewerten und keinesfalls mit dem Neu-
tralismus zu verwechseln, der den Rückzug der Bundesrepublik aus der NATO
verlange. Das Verhältnis von Friedensbewegung und Bevölkerung sei außerdem
nicht relevant.⁷⁴ Trotzdem hielt man die Friedensbewegung im Elysée weiterhin
für riskant: Hinter der deutschen Stabilität identifizierte Jean-Michel Gaillard
destabilisierende Elemente wie pazifistische Gefühle, wirtschaftlicher und de-
mographischer Niedergang und ein strenger Sparhaushalt. Weil die Bundesre-
publik dadurch ihre Sicherheiten verliere, sah er das Risiko eines deutschen
„dérive neutraliste“⁷⁵ steigen. Zwar warnte er davor, die Situation überzubewer-
ten; eine Wiederherstellung des Kräftegleichgewichts auf dem Verhandlungsweg
sah er allerdings als besseren Ausweg, weil dies nicht nur die Chance barg, die
Ost-West und innerdeutschen Beziehungen zu verbessern. Auch glaubte er, dass
eine Verhandlungslösung die bundesdeutsche Zustimmung zur NATO wieder
stärken könnte.⁷⁶ Der Besuch von Leonid Breschnew vom 23. bis zum 25. No-
vember 1981 in Bonn wurde durch Diplomaten des Quai d’Orsay deshalb kritisch
gesehen. Allerdings richtete sich die Kritik eher auf das Verhalten der USA. Im
französischen Außenministerium sah man es als amerikanische Verantwortung,
den Dialog mit Moskau zu führen, anstatt diesen einem verwundbaren Verbün-
deten zu überlassen.⁷⁷
Bei der Risikokalkulation zur Umsetzung des Nachrüstungsbeschlusses
wurden dezidiert auch emotionale Faktoren mit einbezogen. Emotionale Strö-
mungen in der deutschen Öffentlichkeit wurden auf ein tiefes Trauma zurück-
geführt, das die Zeit des Nationalsozialismus in das deutsche kollektive Ge-
dächtnis eingeschrieben habe. Außerdem sei die Angst vor einem nuklearen Krieg
weit verbreitet. Die équipe Mitterrand erkannte, dass die Opposition zur Rake-
tenaufstellung Helmut Schmidt, neben wirtschaftlichen Turbulenzen und Kon-
flikten innerhalb der Regierungskoalition, innenpolitische Schwierigkeiten be-
reitete.⁷⁸ An dieser Stelle offenbart sich eine in der Einleitung bereits angedeutete
Kategorie von Emotionen in den internationalen Beziehungen. Empathie wurde
bei den Diplomaten des Quai d’Orsay und den Beratern im Elysée zu einer poli-
tischen Strategie.⁷⁹ Durch die Zuschreibungen von Perzeptionen und Emotionen
sollte es ermöglicht werden, Handlungsfolgen abzuleiten. Hier wird der Zusam-
menhang von Wahrnehmen und Handeln nicht nur indirekt durch die Akteure
vorausgesetzt. Vielmehr zeigen sie ein Bewusstsein dafür, indem sie explizit nach
Perzeptionen, Emotionen und deren Ursprüngen forschen und sie damit als Motiv
und Ressource für politisches Handeln ernst nehmen.
Bestätigt sahen Diplomaten im Quai d’Orsay diese Befürchtungen in den
parteiinternen Auseinandersetzungen rund um den SPD-Parteitag in München
vom 19. bis zum 23. April 1982.⁸⁰ Bereits im Vorfeld hatte eine wahre Papier-
intermédiaire, Datum unleserlich. Die Note entstand wahrscheinlich zu Jahresbeginn 1982 auf
jeden Fall aber vor dem SPD-Parteitag in München im April 1982.
Vgl. Notz, Anton: Die SPD und der NATO-Doppelbeschluß. Abkehr von einer Sicherheitspo-
litik der Vernunft. Baden-Baden 1990. S. 112– 123.
Godesberger Programm. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Beschlossen vom außerordentlichen Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in
Bad Godesberg vom 13. bis zum 15. November 1959. https://www3.spd.de/scalableImageBlob/
1816/data/godesberger_programm-data.pdf (05.04. 2016).
2.1 Französische Risikokalkulation in der Euroraketenkrise 105
AN, AG/5(4)/CD/160, MRE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégiques
et du Désarmement, Sous-Direction Affaires Stratégiques et des Pactes, Position du SPD visant à
la prise en compte des forces françaises dans la négociation de Genève sur les forces de portée
intermédiaire, Datum unleserlich. Die Note entstand wahrscheinlich zu Jahresbeginn 1982 auf
jeden Fall aber vor dem SPD-Parteitag in München im April 1982.
Vgl. Notz, SPD, S. 127; Zu den Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluss inner-
halb der SPD siehe außerdem: Boll, Friedhelm/Hansen, Jan: Doppelbeschluss und Nachrüstung
als innerparteiliches Problem der SPD. In: Gassert [u. a.] (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg, S. 203 – 228;
Hansen, Abschied.
AN, AG/5(4)/CD/262, MRE, Vernier-Palliez, TD Washington 655, Visite de M. le Président de la
République. Fiche sur les relations au sein de l’Alliance Atlantique, 9. März 1982.
106 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
zwischen Ost und West aussprach. Experten in der SPD seien davon überzeugt,
hieß es, dass das Vorankommen der Diskussionen chancenlos bliebe, wenn man
nicht zu Konzessionen gegenüber der Sowjetunion bereit sei.⁸⁸ Im Jahr 1983 nä-
herte sich die offizielle Haltung der SPD dem linken Flügel der Partei an. Im
Kontext des Bundestagswahlkampfes im Jahr 1983 forderte der SPD-Kanzlerkan-
didat Hans-Jochen Vogel eine Ausweitung der Verhandlungsziele in Genf und
befürwortete prinzipiell auch eine Berücksichtigung der französischen und bri-
tischen Nuklearstreitkräfte.⁸⁹ Damit drohten die französischen und britischen
Atomstreitkräfte zum Schlüssel für ein Abkommen zu avancieren, das die Auf-
stellung neuer Raketen noch verhindern könnte. Auch zwischen Kanada und
Frankreich kam es im Juni 1983 zu Irritationen, als sich der kanadische Pre-
mierminister Pierre Trudeau und Vize-Premierminister Allan MacEachen bei dem
G7-Treffen in Williamsburg gegen den Paragraphen im Kommuniqué ausgespro-
chen hatten, der den Einbezug dritter Nuklearsysteme in Genf ablehnte.⁹⁰ Da
Mitterrand in dieser Frage unter keinen Umständen zu Kompromissen bereit war,
drohte diese aufgrund von Interessenkonflikten zwischen den Partnern zwi-
schenzeitlich das westliche Bündnis zu spalten.
Die Auseinandersetzungen um die Berücksichtigung der Drittpotentiale zei-
gen, welchem Dilemma sich die französische Sicherheitspolitik angesichts der
Euroraketenkrise gegenübersah. Die französische Politik bewegte sich auf einem
schmalen Grad, zwischen Bündnissolidarität und Wahrung politischer Autono-
mie. Die politische Entscheidungsfreiheit, die durch die Unabhängigkeit der
französischen Streitkräfte garantiert wurde, war nicht zuletzt ein Mittel, um den
Entscheidungen der USA nicht auch in anderen politischen Bereichen durch ein
Abhängigkeitsverhältnis ausgeliefert zu sein.⁹¹ Jean-Philippe Baulon bringt dieses
doppelte Risiko prägnant auf den Punkt, indem er es als ständigen Drahtseilakt
AN, AG/5(4)/CD/160, MRE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégiques
et du Désarmement, Sous-Direction Affaires Stratégiques et des Pactes, Position du SPD visant à
la prise en compte des forces françaises dans la négociation de Genève sur les forces de portée
intermédiaire, Datum unleserlich. Die Note entstand wahrscheinlich zu Jahresbeginn 1982 auf
jeden Fall aber vor dem SPD-Parteitag in München im April 1982.
Siehe dazu u. a. AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Direction des Affaires Politiques, Service des Af-
faires Stratégiques et du Désarmement, Sous-Direction Affaires Stratégiques et des Pactes, Note,
Entretien du Président de la République avec M. Vogel. Questions stratégiques, 11. Januar 1983;
AG/5(4)/6523, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine, Note pour le
Président de la République, Développement sur le problème des euromissiles du 12 au 19 janvier,
19. Januar 1983.
ADMAE, 1930-INVA 5641, MRE, TD Diplomatie 26839, Consultations politiques franco-cana-
dienne, 15. Juni 1983.
Siehe dafür Abschnitt 2.2 und Kapitel 3.
108 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
Gewaltdrohung durch Moskau zu fürchten hatte. Wie die Note von Pierre Morel
demonstriert hat, hegte dieser gar die Vorstellung, dass die Unabhängigkeit der
französischen force de frappe in einer entfernten Zukunft als Nukleus für eine
unabhängige europäische Verteidigung dienen könnte, um eine politische Auto-
nomie Europas zu garantieren.⁹⁶ Dies war ein weiterer Grund dafür, sich einer
Berücksichtigung in den Verhandlungen beharrlich zu verschließen. Aus den
unterschiedlichen Vorstellungen dies- und jenseits des Atlantiks resultierten
Konflikte und Herausforderungen innerhalb des Bündnisses, die im folgenden
Abschnitt 2.2 analysiert werden. Gleichzeitig hatte die Vertrauensbildung nach
Westen aber auch Konsequenzen für die französische Ostpolitik, die in Ab-
schnitt 2.3 dekonstruiert wird.
Wie Jean-Phlippe Baulon betonte, war die Entscheidung zu größerer atlanti-
scher Solidarität nicht ohne Ambiguität, da sie sich langfristig darauf richtete, die
Blöcke zu überwinden und Europa von jedweder Vormundschaft durch die Su-
permächte zu befreien.⁹⁷ Die Solidarität des westlichen Bündnisses zu stärken,
scheint allerdings auf den ersten Blick nicht gerade vereinbar mit der eingangs
aufgestellten These, dass Mitterrand das System von Jalta und die Antagonie der
Blöcke überwinden wollte. Stellt man in Rechnung, dass er die Stabilität des
Status Quo als notwenige Voraussetzung für den Aufbau neuer Sicherheits-
strukturen sah, wird seine Politik zu Beginn der 1980er Jahre verständlicher und –
wenn auch ambivalent – weniger widersprüchlich. Die europäische Konstruktion
rückte sehr früh in den Fokus der équipe Mitterrand, um auf deren Grundlage eine
Umstrukturierung der internationalen Staatengemeinschaft anzustoßen. Nicht
nur war sie ein traditioneller Anker für die BRD im westlichen Bündnis, der an-
gesichts der pazifistischen und womöglich neutralistischen Strömungen umso
wichtiger war.⁹⁸ Durch Mitterrands Mannschaft im Elysée wurde auch ganz klar
die französische Verantwortung dafür übernommen, ein Abgleiten der deutschen
Ostpolitik zu verhindern. Im Sinne des Modells der vier Antriebskräfte europäi-
scher Integration stand die deutsche Frage als Motiv hinter der Absicht, die
deutsch-französischen Beziehungen, die europäische Konstruktion und eine
künftige europäische Verteidigung als Präventionsmechanismen zu nutzen.⁹⁹
Dies deutet darauf hin, dass die Bündnissicherung weniger darauf gerichtet war,
den Status Quo langfristig zu erhalten, sondern vielmehr, diesen als doppelten
Boden für den Aufbau neuer Strukturen zu stabilisieren.
Die Analysen dieses Abschnitts öffnen den Blick auf zwei unterschiedliche
Kommunikationsebenen. Erstens liefen Kommunikationsprozesse innerhalb der
französischen Administration ab, an denen der Präsident, Minister und Berater
sowie Funktionäre verschiedener Institutionen, insbesondere das Außenminis-
terium, partizipierten. Auf dieser Ebene wurde Empathie als politische Hand-
lungsstrategie, also die gezielte Erforschung und Zuschreibung beziehungsweise
Unterstellung von Perzeptionen und Emotionen dafür genutzt, um politische
Handlungsimpulse zu entwickeln. Davon wurde zweitens die Kommunikation
gegenüber anderen Akteuren abgeleitet. Empathie in der Außenkommunikation
wurde dann vor allem als Kommunikationsstrategie gegenüber anderen Akteuren
zu einer politischen Handlungsform. Die Art und Weise der Kommunikation, man
könnte auch sagen der Gefühlspolitik, variierte je nach Adressatenkreis. Diese
Kommunikationsebene wird vor allem in den folgenden Abschnitten in den
Vordergrund gestellt. Zusammenfassend lassen sich von den bisherigen Er-
kenntnissen drei Konsequenzen für die französische Sicherheitspolitik ableiten:
Erstens wurde durch Vertrauensbildung versucht, den Zusammenhalt der Atlan-
tischen Allianz zu stärken. Zweitens wurde das dadurch ausgelöste Misstrauen im
Osten in Kauf genommen. Drittens wurde durch die Vorstellung, in Zukunft eu-
ropäische Lösungen zu suchen, die französische Verantwortung anerkannt und
übernommen. Der folgende Anschnitt wendet sich den Handlungsstrategien zu,
mit denen die équipe Mitterrand das Vertrauen im westlichen Bündnis wieder-
herzustellen versuchte. Um das Bild westlicher Solidarität zu differenzieren und
der Komplexität der Beziehungen gerecht zu werden, werden außerdem die Ur-
sachen und Folgen transatlantischer Konflikte erforscht, die die Vertrauensbil-
dung erschwerten.
Die Wahl von François Mitterrand hatte das Vertrauen der atlantischen Partner in
die französische Bündnissolidarität erschüttert. Insbesondere in Washington
lösten die Wahl eines sozialistischen Präsidenten sowie die Beteiligung der
Kommunisten an der Regierung einige Wochen später große Sorgen aus. Da der
Bündniszusammenhalt angesichts der Euroraketenkrise ohnehin auf eine
schwere Probe gestellt wurde und gleichzeitig aus Sicht von François Mitterrand
unverzichtbar war, um diese Herausforderungen zu meistern, galt es durch ge-
zielte Maßnahmen, das Vertrauen in die französische Bündnissolidarität wie-
derherzustellen. Eine besondere Herausforderung bestand darin, dass diese
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 111
rhetorischer Mittel, die auf der einen Seite der Vertrauensbildung dienten aber auf
der anderen auch als politische Ressource genutzt werden sollten, um die poli-
tische Bedeutung Frankreichs zu stärken. Dahinter stand die Absicht, den
Handlungsspielraum der französischen Akteure zu erweitern: Die Inszenierung
französischer Vertrauenswürdigkeit diente nicht ausschließlich der Bündnissi-
cherung. François Mitterrand wollte gleichsam auch verhindern, dass sein Land in
der westlichen Gemeinschaft aufgrund von Misstrauen wirtschaftspolitisch iso-
liert würde. Nicht selten sahen sich Vertreter der sozialistisch-kommunistischen
Regierung in den ersten Monaten der Frage ausgesetzt, welcher Unterschied
konkret zwischen der französischen Wirtschaftspolitik und jenen der kommu-
nistischen Länder bestehen würde.¹⁰² Henry Kissinger gegenüber versicherte
François Mitterrand daher bei dessen Besuch in Latché am 3. August 1981, dass er
jeden Versuch einer Marginalisierung des sozialistischen Frankreichs im Keim
ersticken würde.¹⁰³
Um die Trennung der beiden Kategorien Vertrauen als Ziel operativer Politik
und Vertrauen als rhetorische Strategie in der vorliegenden Arbeit etwas abzu-
schwächen,¹⁰⁴ wird an dieser Stelle Vertrauensbildung durch Kommunikation
über verschiedene Kommunikationskanäle untersucht und dabei die Anwendung
unterschiedlicher kommunikativer und rhetorischer Strategien herausgearbeitet.
Differenziert werden hierbei die Kommunikation in der Öffentlichkeit durch öf-
fentliche Stellungnahmen des Präsidenten oder von Regierungsmitgliedern und
die Kommunikation in bi- oder multilateralen Face-to-Face Kontakten auf ver-
schiedenen diplomatischen Ebenen. Davon gilt es außerdem symbolische
Handlungen abzugrenzen, die die Verlässlichkeit der französischen Entschei-
dungsträger unter Beweis stellen sollten. Als symbolischer Akt der Vertrauens-
bildung ließe sich beispielsweise anführen, dass François Mitterrand Ronald
Reagan im Juli 1981 von der Existenz des sowjetischen Agenten Farewell in
Kenntnis setzte, der dem französischen Geheimdienst wichtige Informationen
und Dokumente des KGB übermittelte. Bei der Gelegenheit versicherte der fran-
zösische Präsident seinem Amtskollegen, dem Weißen Haus Informationen über
sowjetische Agenten in den USA weiterzugeben.¹⁰⁵ Ebenso ließe sich auch die
Geste einordnen, dass François Mitterrand die französischen Häfen für amerika-
nische U-Boote öffnete und zudem die Bedingungen dafür lockerte, dass NATO-
I shall certainly be very happy to go to the United States at the earliest opportunity. I have
been very happy to visit the U.S. I have a kindred feeling for the American people, and I have
been there quite often in a private capacity.¹¹⁰
Durch die bewusste Artikulation von positiven Gefühlen gegenüber den Verei-
nigten Staaten wurde versucht, eine Verbundenheit zu suggerieren und zu ver-
stetigen. Sie ist daher in diesem Kontext als eine rhetorische Strategie zu identi-
fizieren, die der Vertrauensbildung diente. Sie ist gleichermaßen auch als
Gefühlspolitik im Sinne von Ute Frevert zu verstehen,¹¹¹ Politik mit Gefühlen zu
betreiben, um dadurch nicht nur Gefühle zu inszenieren, sondern auch zu evo-
zieren. Diese Art der Gefühlspolitik sollte in dem spezifischen Moment den
Grundstein für die Entwicklung wechselseitigen Vertrauens legen und gute Be-
ziehungen stiften. Dafür war es entscheidend auch die Authentizität dieser Ge-
fühle zu vermitteln, um das Vertrauen zu festigen. Im Time Magazine machte
François Mitterrand im Oktober 1981 von der gleichen Strategie Gebrauch: Er
präsentierte sich als Freund Amerikas; die französisch-amerikanischen Bezie-
hungen beurteilte er als gut. Politische Unterschiede, die er im Bereich der La-
Mitterrand, François: Excerpts from Interview with François Mitterrand, by James Reston. In:
The New York Times, 4. Juni 1981. http://www.nytimes.com/1981/06/04/world/excerpts-from-in-
terview-with-francois-mitterrand.html?pagewanted=all&pagewanted=print (14.04. 2016).
Frevert, Gefühlspolitik.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 115
Mitterrand, François: An Interview with Mitterrand. In: Time Magazine 118 (1981) 16,
19. Oktober 1981. S. 43.
Mitterrand, Interview Mitterrand Time Magazine, S. 43 f.
Mitterrand, Interview Mitterrand Time Magazine, S. 44.
Dumas, Affaires étrangères, S. 72.
116 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
diesem Fall der Außenminister persönlich – , lässt sich als politisches Statement
beurteilen: Dass François Mitterrand den Außenminister unmittelbar nach dem
Amtsantritt nach Washington schickte, hebt erstens hervor, dass es ihm einst-
weilen um die politischen, diplomatischen Beziehungen ging. Zweitens verließ er
sich in diesem Fall nicht auf Kontakte der tieferen diplomatischen Ebenen in der
französischen Botschaft, sondern hielt es für notwendig, die französische
Bündnistreue durch eine stärker autorisierte Kommunikation zu betonen.
Bei Cheyssons Besuch wurde auch verabredet, dass der amerikanische Vize-
Präsident George Bush am 24. Juni zu Konsultationen nach Paris reisen würde.¹¹⁶
Über die an diesen Tag vorgesehene Ankündigung einer kommunistischen Re-
gierungsbeteiligung sollte das Weiße Haus vor dem Besuch informiert werden, um
keinerlei Misstrauen in den französisch-amerikanischen Beziehungen zu schüren.
Daher telefonierte Jacques Attali am 23. Juni 1981 mit Richard Allen, dem si-
cherheitspolitischen Berater von Ronald Reagan, um zu betonen, dass die fran-
zösische Außen- und Sicherheitspolitik von dieser Maßnahme unberührt, die
französische Bündnistreue folglich ungebrochen bleiben würde. Erst nachdem
das Weiße Haus das Festhalten am vereinbarten Besuch von George Bush bestä-
tigte, gab der Generalsekretär des Elysée die Zusammensetzung der zweiten Re-
gierung unter Pierre Mauroy und die Aufnahme von kommunistischen Ministern
bekannt.¹¹⁷ Der Besuch von George Bush einen Tag später konnte auf diese Art
und Weise dazu dienen, etwaige Irritationen in einem persönlichen Gespräch mit
François Mitterrand zu zerstreuen. Laut Roland Dumas habe Bush nach seiner
Rückkehr in Washington die erhitzten Gemüter im Weißen Haus erfolgreich be-
ruhigen können.¹¹⁸
Den ersten persönlichen Kontakt zum amerikanischen Präsidenten konnte
François Mitterrand im Rahmen des G7-Gipfels in Ottawa knüpfen. Bei ihrem
ersten Treffen nach Mitterrands Amtsübernahme am 19. Juli 1981 in Montebello
begrüßte Reagan gleich zu Beginn des Gesprächs dessen klare Positionierung in
der Euroraketenkrise, zur Atlantischen Allianz und den aktuellen sicherheitspo-
litischen Problemen. Der französische Präsident bediente sich auch im persön-
lichen Kontakt der Strategie, die Differenzen, die es ganz offensichtlich zwischen
der französischen und amerikanischen Politik gab, angesichts „beaucoup plus de
points sur lesquels nous sommes d’accord“¹¹⁹ herunterzuspielen. Die Divergenzen
Attali, Verbatim 1981– 1986, 4. Juni 1981, S. 32; Védrine, Mondes, S. 171.
Attali, Verbatim 1981– 1986, 23. Juni 1981, S. 48 f.
Dumas, Affaires étrangères, S. 73.
AN, AG/5(4)/CD/74, Resumé de l’entretien entre le Président de la République et le Président
des Etats-Unis, Montebello, 19 Juli 1981.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 117
der sowjetischen Führung. War der Ton im Zusammenhang mit seinen westlichen
Bündnispartnern empathisch, verständnis- und salbungsvoll, manchmal gar ge-
fühlsbetont, so wechselte er in Bezug auf Moskau schlagartig zu hartem Voka-
bular wie „Aggressor“ oder „expansionistische Operation“ und einem betonten
Pragmatismus. Diese Strategie richtete sich darauf, deutsche Ängste, in einem
nuklearen Krieg zum Schlachtfeld zu werden, nicht nur ernst zu nehmen, sondern
rhetorisch auch so zu kanalisieren, dass der Kreml mit seinen SS-20-Raketen als
Verantwortlicher der Situation erschien. Dadurch ließ er die westliche Nachrüs-
tung gewissermaßen als notwendig und alternativlos erscheinen, der keinerlei
kriegerische, sondern lediglich präventive Intentionen zugrunde lagen. Allerdings
bediente sich François Mitterrand auch hierbei einer gewissen Ambivalenz. Zwar
durften in der Öffentlichkeit keinerlei Zeichen darauf hindeuten, dass er Ver-
ständnis für die sowjetische Politik hatte. Mit der Größe der sowjetischen „Nation“
und des russischen „Volkes“ sollte man dies doch aber bitte nicht „durcheinan-
derbringen“.¹²⁹ Auf die Kommunikationsstrategien gegenüber der sowjetischen
Führung wird im folgenden Abschnitt noch ausführlicher eingegangen.
Die Bündnissolidarität stellte die französische Führung allerdings auch vor
einige Schwierigkeiten. Gemessen an dem Risiko, die politische Entscheidungs-
freiheit in anderen Bereichen durch die deklarierte Solidarität einzuschränken,
war das Risiko des „Atlantizismus“-Vorwurfs noch das geringere Problem. Die
Schwierigkeiten resultierten aus unterschiedlichen Realitätswahrnehmungen
und politischen Vorstellungen und Interessen der Bündnispartner. Die franzö-
sisch-amerikanischen Differenzen in der Wirtschaftspolitik geben den Blick auf
zwei unterschiedliche Verständnisse von Solidarität frei. Um im weiteren Verlauf
der Analyse wieder Bezug darauf nehmen zu können, ist es notwendig, den Be-
griff „Solidarität“ in einem Exkurs theoretisch stärker zu fassen. In der soziolo-
gischen Theorie wird Solidarität gemeinhin als Begriff wechselseitiger Bindungen
und Verpflichtungen beruhend auf Freiwilligkeit sowie als Grundlage sozialer
Integration verstanden, die emotional fundiert Beziehungen zwischen Mitglie-
dern einer Gemeinschaft stiftet. Dies „schließt die Erwartung von gegenseitiger
Hilfe (Hervorhebung im Original) im Bedarfsfall ebenso ein wie die tatsächliche
Bereitschaft dazu.“¹³⁰ Wenn es einer Gemeinschaft an dieser Bereitschaft mangelt,
„muss mit Anomie, also dem Zerfall der sozialen Ordnung gerechnet werden.“¹³¹
Vgl. Grosser, Pierre: Serrer le jeu sans fermer. L’Elysée et les relations franco-soviétiques,
1981– 1984. In: Berstein [u. a.] (Hrsg.), François Mitterrand, S. 263.
Vgl. Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 242.
Attali, Verbatim 1981– 1986, 10. Juli 1981, S. 61; Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 243.
Védrine, Mondes, S. 179.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 123
sich der Wunsch darin, das Erdgasröhren-Geschäft der Europäer mit der Sowjet-
union zu unterbinden.¹⁴⁵
Die bisherigen Untersuchungen machen deutlich, welcher Vorteil sich zu-
nächst daraus ergab, dass dies- und jenseits des Atlantiks unter Bündnissolida-
rität etwas anderes verstanden wurde, da es den gewünschten Effekt hatte, den
Zusammenhalt nach außen zu stärken. Unterschwellig aber führte diese – auf
Missverständnissen beruhende – Einigkeit zu deren Perpetuieren, das letztlich in
Auseinandersetzungen gipfelte. Die Handelsbeziehungen, die die europäischen
Staaten im Bereich der Energie mit der Sowjetunion unterhielten, waren der US-
Administration ein besonderer Dorn im Auge. Ab 1980 waren noch unter Mitter-
rands Vorgänger Giscard d’Estaing Verhandlungen über sowjetische Gasliefe-
rungen aufgenommen worden.¹⁴⁶ Schon bei dem ersten Gespräch zwischen
Mitterrand und Reagan am 19. Juli 1981 zählte dies zu jenen Punkten, die durch
den amerikanischen Präsidenten kritisiert worden waren. Sein Argument richtete
sich darauf, dass dieses Projekt der Sowjetunion materielle Ressourcen liefere, die
diese anschließend in die Rüstung stecken könne. Allerdings hatte Mitterrand
seinem Amtskollegen zu verstehen gegeben, dass er das Erdgas-Geschäft nicht für
ein adäquates Gesprächsthema des französisch-amerikanischen Austausches
hielt. Indem er antwortete, dass es sich dabei um eine europäische, nicht einmal
rein französische Angelegenheit handelte, entzog er sich der bilateralen Diskus-
sion.¹⁴⁷
Die Konsequenzen eines solchen Abkommens mit der Sowjetunion wurden
im Elysée sorgfältig abgewogen. Mitterrands équipe war sich darüber bewusst,
dass der Kreml eine wachsende Interdependenz der Wirtschaft in Ost und West als
Chance sah, künftigen Sanktionen vorzubeugen, da sie auch den westlichen
Staaten Verluste eintragen würden. Mit dem neuen Vertrag über Gasankäufe er-
rechneten Berater im Elysée, würde Frankreich 30 Prozent seines Gases aus der
Sowjetunion beziehen.¹⁴⁸ Die amerikanische Administration ließ keinen Versuch
ungenutzt, die Europäer zu einer Abkehr von den Geschäften zu bewegen. Im
Herbst 1981 reiste eine amerikanische Delegation unter der Leitung von Myer
Rashish nach Europa. Paris stellte dabei nur eine Etappe der Tour durch Europa
dar. Anders als eigentlich angekündigt, nahmen der amerikanische Energie- so-
ADMAE, 1930-INVA 5641, TD RPAN Bruxelles 686, Session ministérielle du Conseil. Session
„très restreinte“ du 10 décembre – intervention du Général Haig, 11. Dezember 1981.
Védrine, Mondes, S. 204.
AN, AG/5(4)/CD/74, Resumé de l’entretien entre le Président de la République et le Président
des Etats-Unis, Montebello, 19. juillet 1981.
AN, AG/5(4)/CD/392, Présidence de la République, Note sur le contrat gaz avec l’Union
Soviétique, 3. Juli 1981.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 125
AN, AG/5(4)/CD/392, Ministère de l’Industrie, Direction des Hydrocarbures, Note, Rencontre
franco-américaine sur le gaz soviétique – Paris 3 novembre 1981, 4. November 1981.
AN, AG/5(4)CD/392, Ministère de l’Industrie, Direction des Hydrocarbures, Note, Rencontre
franco-américaine sur le gaz soviétique – Paris 3 novembre 1981, 4. November 1981.
Attali, Verbatim 1981– 1986, 2. November 1981, S. 148.
Vgl. dazu weiterführend Türk, Henning: The European Community and the Founding of the
International Energy Agency. In: Hiepel (Hrsg.), Europe, S. 357– 372.
AN, AG/5(4)/CD/392, Ministère de l’Industrie, Direction des Hydrocarbures, Note, Rencontre
franco-américaine sur le gaz soviétique – Paris 3 novembre 1981, 4. November 1981.
126 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
Botschafter Herbst, Paris, an das Auswärtige Amt, 11. Januar 1982. In: AAPD 1982, Dok. 16,
S. 67.
Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 13. Januar
1982. In: AAPD 1982, Dok. 20, S. 95.
Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 251.
Védrine, Mondes, S. 204.
AN, AG/5(4)/CD/74, Ambassade de France aux Etats-Unis, Résumé de la conversation entre
M. François Mitterrand et M. Ronald Reagan, 12. März 1982.
AN, AG/5(4)/CD/74, Ambassade de France aux Etats-Unis, Résumé de la conversation entre
M. François Mitterrand et M. Ronald Reagan, 12. März 1982.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 127
AN, AG/5(4)/CD/262, MRE, TD Washington 683, Consultations du Directeur Politique à Wa-
shington, 10. März 1982.
AN, AG/5(4)/CD/262, MRE, TD Washington 683, Consultations du Directeur Politique à Wa-
shington, 10. März 1982.
AN, AG/5(4)/CD/262, MRE, TD Washington 655, Visite de M. le Président de la République.
Fiche sur les relations au sein de l’Alliance Atlantique, 9. März 1982.
AN, AG/5(4)/CD/262, Le Conseiller spécial auprès du Président de la République, Note pour
Monsieur le Président, Rapports économiques franco-américaines: Politique économique, com-
merce Est-Ouest, Nord-Sud, énergie, 10. März 1982.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 129
AN, AG/5(4)/CD/262, Ministre de l’Economie et des Finances, Les taux d’intérêt aux Etats-
Unis, 11. März 1982.
AN, AG/5(4)/CD/262, Le Ministre de l’Economie et des Finances, Note pour le Président de la
République, La politique économique des Etats-Unis et ses conséquences pour le monde occi-
dental, März 1982.
AN, AG/5(4)/CD/262, Présidence de la République, Christian Sautter, Note pour le Président
de la République, Perspectives de l’économie américaine, 11. März 1982.
130 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
AN, AG/5(4)/CD/74, Ambassade de France aux Etats-Unis, Résumé de la conversation entre
M. François Mitterrand et M. Ronald Reagan, 12. März 1982.
AN, AG/5(4)/CD/185, Présidence de la République, Christian Sautter, Note pour [hand-
schriftlich durchgestrichen: Monsieur Pierre Bérégovoy] le Président de la République [hand-
schriftlich hinzugefügt], Le dernier Conseil des Ministres de l’OCDE ou la montée des tensions
ouest-ouest, 13. Mai 1982.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 131
sich aber mit Anschuldigungen der amerikanischen Politik zurück. Diese Rede
dürfte als Barometer für den Wirtschaftsgipfel gesehen worden sein. In diesem
Kontext, wollte Mitterrand in der Öffentlichkeit kein Bild der Uneinigkeit inner-
halb der Allianz erwecken und stattdessen die verbindenden Elemente und
Bündnissolidarität hervorheben.¹⁷⁴ Offenbar setzte Mitterrand noch immer dar-
auf, als Gegenleistung für seine öffentliche Unterstützung des Bündniszusam-
menhalts wirtschaftspolitische Solidarität ernten zu können. Da die équipe Mitt-
errand die wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten nunmehr auch als
sicherheitspolitisches Risiko inszenierte, lässt sich die Übersee-Rede gleichsam
als eine Art Aufschlag für den Wirtschaftsgipfel verstehen.
Im Vorfeld von Versailles und nachdem das europäische Erdgas-Röhrenge-
schäft zu Konflikten in den transatlantischen Beziehungen geführt hatte, diente
das Angebot vom Frühjahr 1982, den NATO-Gipfel 1983 in Paris auszurichten,
nicht nur als vertrauensbildende Geste. Indem die französische Priorität für Si-
cherheitspolitik und Bündnistreue dadurch unterstrichen wurde, sollten Konflikte
in anderen Bereichen ausgeglichen oder in der öffentlichen Wahrnehmung zu-
mindest kaschiert werden. Dadurch sollte ein gutes Klima für die Verhandlungen
geschaffen werden, in denen Schwierigkeiten und Differenzen erwartet wurden.
Bei einem Gespräch mit Claude Cheysson stimmte François Mitterrand zu, die
nächste Sitzung des Atlantischen Rates 1983 in Paris auszurichten. Allerdings
bezog sich dies ausschließlich auf das Treffen der Außenminister. Es kam nicht
infrage, die Sitzung des integrierten Planungsstabes auszurichten, dem Frank-
reich seit 1966 nicht mehr angehörte.¹⁷⁵ Wie eine Randbemerkung von François
Mitterrand bezeugt, legte dieser größten Wert darauf, dass es in dieser Hinsicht
nicht zu Verwechslungen kommen konnte.¹⁷⁶
Die Vorbereitungen auf den Wirtschaftsgipfel verdeutlichen zweierlei: Die
Ausgangslage für Versailles war denkbar schlecht, da dem Treffen durch ihre
Teilnehmer unterschiedliche Erwartungen entgegengebracht wurden. Außerdem
lässt sich aus den akribischen Vorbereitungen und den bilateralen Gesprächen
den wirtschaftlichen Nöten Frankreichs, waren die Ergebnisse von Versailles ein
Fehlschlag.¹⁸² Immerhin war es aber durch die sehr allgemeine Formulierung,
keine Haltung gegenüber der Sowjetunion einzunehmen, die die westliche Si-
cherheitsinteressen gefährden würde, gelungen, die Schaffung einer Kontrollin-
stanz für technische Exporte an den Ostblock zu verhindern.¹⁸³ Da Versailles aber
nicht die ersehnte wirtschaftliche Unterstützung brachte, die die französische
Wirtschaft so dringend benötigte, sah sich Mitterrand gezwungen am 12. Juni 1982
den Franc um 5,75 Prozent abzuwerten, gegenüber einer Aufwertung der Deut-
schen Mark um 4,25 Prozent.¹⁸⁴
Der politische Eklat zwischen den westlichen Verbündeten, der in Versailles
mit Mühe und Not verhindert worden war, brach auf, als die Tinte unter der
Abschlusserklärung noch nicht ganz getrocknet war. Am 18. Juni 1982 verkündete
das Weiße Haus unter Protest des amerikanischen Außenministers Alexander
Haig unilateral die Ausdehnung des Exportverbots an die Sowjetunion gegen
amerikanische Firmen im Ausland sowie ausländische Firmen, die unter ameri-
kanischer Lizenz produzierten – darunter fiel auch jenes Material, das für das
sowjetisch-europäische Erdgasröhren-Geschäft unabdingbar war.¹⁸⁵ Davon, dass
die amerikanische Administration zunehmend zu einer rigideren Politik gegen-
über den europäischen Verbündeten neigte, zeugte auch der Austausch des
amerikanischen Außenministers: Am 25. Juni musste Alexander Haig seinen
Posten für George Shultz räumen. Auf Reagans unilaterale Maßnahme reagierten
Briten, Deutsche, Italiener und Franzosen dieses Mal geeint und hielten an ihren
Verhandlungen mit der Sowjetunion fest.¹⁸⁶ Der Rat der EG-Außenminister er-
klärte das amerikanische Vorgehen für unvereinbar mit internationalem Recht.¹⁸⁷
Gegenüber dem deutschen Bundeskanzler zeigte sich Mitterrand höchst verärgert
über das Auftreten der Amerikaner nach Versailles. Diese hätten nicht das Recht,
zunächst dem Kommuniqué zuzustimmen, um dann die getroffene Regelung
einseitig zu widerrufen, beklagte er. Hier zeigt sich deutlich, dass er offenbar auf
amerikanische Gegenleistungen für seine vertrauensbildenden Maßnahmen ge-
setzt hatte und diese Erwartung nun enttäuscht sah: Seine Vorgänger seien den
Amerikanern gegenüber weitaus unnachgiebiger gewesen und hätten stets die
Erlaubnis verweigert, dass amerikanische U-Boote französische Häfen anlaufen
oder Flugzeuge französisches Territorium überfliegen. Dagegen habe er selbst
sich sehr viel flexibler gezeigt, legte er Helmut Schmidt in dem Gespräch dar.¹⁸⁸
Mitterrands Verbitterung und Frustration angesichts der enttäuschten Erwartung
kommen in den Gesprächsaufzeichnungen unverhohlen zum Ausdruck.
Außenminister Claude Cheysson schien ganz offensichtlich eher dazu ge-
neigt, sich auf einen Kompromiss mit den Amerikanern einzulassen.¹⁸⁹ Er ver-
suchte ab Sommer 1982 einen Dialog mit seinem neuen Amtskollegen George
Shultz zu etablieren. Als Ausweg aus dem drohenden, offenen Konflikt in den
bilateralen Beziehungen sollte eine Übereinkunft in den Wirtschaftsbeziehungen
zwischen Ost und West dienen, auf die die amerikanische Delegation die euro-
päischen Verbündeten im Grunde schon in Versailles hatte verpflichten wollen.¹⁹⁰
Damit Ronald Reagan das unilateral verkündete Embargo ohne Gesichtsverlust
wieder aufheben konnte, sollten die Europäer einer Abstimmung der Alliierten als
Bedingung für jedwede Handelsoperation mit der Sowjetunion – und damit de
facto einer informellen Kontrolle ihrer Exporte – zustimmen.¹⁹¹ Nicht nur
Cheysson war geneigt, diesem Deal zuzustimmen. Vor allem die bundesdeutsche
Regierung hatte nach dem Koalitionswechsel in Bonn ein Interesse daran, einen
versöhnlichen Ton gegenüber Washington anzuschlagen, wie Hans-Dietrich
Genscher Cheysson am 22. Oktober 1982 darlegte.¹⁹² Unter dem Vorsitz von
Lawrence Eagleburger fand am 21. Oktober 1982 ein Treffen der deutschen, fran-
zösischen und britischen Botschafter statt, in dem sich diese auf das sogenannte
Shultz-Papier als Diskussionsgrundlage einigten. Diesem kam allerdings kein of-
fizieller Status zu, sondern es sollte als Non-Paper verhandelt werden. Bei dem
Treffen bestätigte Eagleburger, dass Shultz und Reagan bereit seien, die Sank-
tionen aufzuheben. Voraussetzung dafür sei aber, dass Reagan gegenüber der
amerikanischen Öffentlichkeit auf etwas Substantielles verweisen könne. Gen-
scher begrüßte es ausdrücklich, dass der deutsche und französische Botschafter
den gleichen Standpunkt vertreten hatten. Es bliebe nur noch die Frage, so
Genscher zu Cheysson, ob sich Reagan mit einer allgemeinen Erklärung in der
Öffentlichkeit zufrieden gebe, dass er sich mit den Europäern verständigt habe,
Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Brüssel, 29. Juni
1982. In: AAPD 1982, Dok. 196, S. 1036 f.
Vgl. Mélandri, Pierre: L’Alliance, la „différence“, l’indépendance. Les relations franco-am-
éricaines de 1981 à 1984. In: Berstein [u. a.] (Hrsg.), François Mitterrand, S. 241.
Védrine, Mondes, S. 222 f.
Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 262.
Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem französischen Außenminister Cheysson,
22. Oktober 1982. In: AAPD 1982, Dok. 283, S. 1475 f.
2.2 Vertrauensbildung nach Westen… 135
oder ob er konkrete Punkte der Einigung nennen wolle.¹⁹³ Im Elysée gab es hin-
gegen keinerlei Bereitschaft, sich auf einen solchen Deal einzulassen. Hubert
Védrine empörte sich geradezu über das amerikanische Auftreten: Die persönli-
che Nachricht von Reagan an Mitterrand, in dem dieser darum bat, William Clark
zu empfangen, sei bezeichnend und verdeutliche amerikanisches Unvermögen,
wenn nicht Unwillen, anzuerkennen, dass die Politik der Verbündeten auf eige-
nen nationalen Interessen gründete. Das amerikanische Postulat, einen Kon-
sens – unter amerikanischer Führung – zu erzielen und Diskussionen über Di-
vergenzen zurückzustellen, habe System. Dabei hatte Cheysson ursprünglich
wohl angeregt, Profit aus den Sanktionen zu schlagen, um doch noch einen In-
teressenausgleich zwischen Amerikanern und europäischen Verbündeten zu er-
zielen. Daran jedoch hatten die Amerikaner keinerlei Interesse. Stattdessen hät-
ten sie Cheyssons Vorschläge als Möglichkeit für einen Kuhhandel genutzt, und
das Non-Paper Shultz präsentiert. Die darin aufgestellten Forderungen gingen
noch über jene in Versailles hinaus und verlangten von den Europäern, Ver-
pflichtungen in den Bereichen Technologie-Transfer, Kredit- und Energiepolitik.
Cheysson machte den Elysée darauf aufmerksam, dass die USA die Publikation
eines Textes vorbereiteten, damit Reagan noch vor den Wahlen am 2. November
die Aufhebung der Sanktionen ankündigen konnte. Die Diskussion über politi-
sche Langzeitziele gegenüber der Sowjetunion sei damit, so Védrine, zu einem
amerikanischen Druckinstrument geworden. Sowohl die Bundesrepublik als auch
Großbritannien wollten aber die Gelegenheit nicht verpassen, die Sanktionen zu
beseitigen, und waren dazu bereit, die amerikanischen Bedingungen zu akzep-
tieren.¹⁹⁴
Obwohl Mitterrand diesen Kompromiss kategorisch ablehnte, verhandelte der
Außenminister eigenständig, das Veto des Präsidenten ignorierend weiter. Ob die
bisher in der Memoiren-Literatur aufgestellte Vermutung zutrifft, dass er sich
dabei von der Überzeugung leiten ließ, am Ende die Zustimmung des Präsidenten
zu finden,¹⁹⁵ oder ob er nicht vielmehr die internationale Isolierung Frankreichs
fürchtete, lässt sich an dieser Stelle nicht zweifelsfrei aufklären. Als Cheysson
Mitterrand am 6. November den Entwurf von Reagans Erklärung überbrachte, in
der das Embargo zugunsten einer westlichen Abstimmung aufgehoben wurde,
kam es zu einem schwerwiegenden Missverständnis, da der Außenminister of-
Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem französischen Außenminister Cheysson,
22. Oktober 1982. In: AAPD 1982, Dok. 283, S. 1475 f.
AN, AG/5(4)/CD/265, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, De votre eintretien avec M. William (Bill) Clarck, Con-
seiller du Président Reagan pour les affaires de sécurité nationale, 27. Oktober 1982.
Dumas, Affaires étrangères, S. 90; siehe ebenfalls: Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 262.
136 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
fenbar zu der Überzeugung gelangt war, vom Präsidenten grünes Licht erhalten zu
haben.¹⁹⁶ Als Jurij Andropow das Amt des Generalsekretärs übernahm, bot sich
für das Weiße Haus eine günstige Gelegenheit, die Aufhebung des Embargos
anzukündigen. Am 13. November teile Reagan seinen Verbündeten den Inhalt
eine Stunde vor der geplanten Erklärung mit, in der er die Aufhebung der Sank-
tionen und ein Abkommen der Alliierten über den Ost-West-Handel ankündigte,
das Konsultationen vor jedem Ankauf von Gas, sowie eine Harmonisierung der
Kredit-Politik vorsah. Aus Sicht von François Mitterrand kam dies einer „véritable
intégration économique“ gleich.¹⁹⁷ Obwohl Jacques Attali das Weiße Haus un-
mittelbar von Mitterrands Ablehnung in Kenntnis setzte, verkündete Reagan seine
Entscheidung. Der Quai d’Orsay reagierte prompt mit der Veröffentlichung eines
Kommuniqués, dass Frankreich nicht Teil des von Reagan angekündigten Ein-
verständnisses sei. Die Aufhebung des amerikanischen Embargos wurde aller-
dings zufrieden zur Kenntnis genommen.¹⁹⁸
Diese Episode stellt zum einen ein weiteres Mal die unterschiedlichen Er-
wartungshaltungen der atlantischen Partner unter Beweis. Zum andern zeigte
sich hierin die Problematik, die sich aus unterschiedlichen Haltungen innerhalb
der französischen Administration und ganz speziell zwischen dem Präsidenten
und seinem Außenminister ergab. Darüber hinaus wurde diese Affäre zu einer
wiederholt frustrierenden Erfahrung in den französisch-amerikanischen Bezie-
hungen, die sich dadurch gleichsam auf einem neuen Tiefpunkt befanden. In
einem Telefongespräch mit dem seit Oktober 1982 amtierenden Bundeskanzler
Helmut Kohl machte François Mitterrand seinem Ärger über die amerikanische
Administration Luft.¹⁹⁹ Reagans Erklärung und die Meinungsverschiedenheit
darüber hätten zu einer Unterbrechung des französisch-amerikanischen Mei-
nungsaustausches geführt. Gegen Mitterrands Verstimmung halfen auch Kohls
vermittelnde Worte wenig, er habe Reagan geraten in der Frage des Embargos
beziehungsweise des Ost-West-Handels direkt und intensiv mit Mitterrand zu
sprechen. Er habe, widersprach Mitterrand, Reagan vor seiner Erklärung sowohl
durch Attali als auch durch den Botschafter Vernier-Palliez wissen lassen, dass er
damit nicht einverstanden war. Weder das Junktim zwischen Aufhebung der
Sanktionen und Einigung über ein gemeinsames Vorgehen in Ost-West-Wirt-
schaftsfragen noch der Inhalt der Verhandlungen hatten seine Zustimmung, und
Reagan habe sich im vollen Bewusstsein darüber hinweggesetzt.²⁰⁰
Als Rückkehr zur Normalität beschreibt Jacques Attali schließlich das Ge-
spräch zwischen François Mitterrand und George Shultz am 14. Dezember 1982.²⁰¹
Dokumente belegen, dass dem amerikanischen Außenminister an einem Vier-
augengespräch in sehr eingeschränktem Kreis gelegen war, das im ersten Teil
sogar ganz ohne Protokollanten geführt werden sollte.²⁰² Angesichts der diplo-
matischen Krise zwischen Washington und Paris legte Shultz scheinbar Wert auf
eine möglichst vertrauliche Atmosphäre. Sowohl Shultz als auch Cheysson
schienen dem Treffen hohe Erwartungen entgegenzubringen. Offenbar sollte ein
Gespräch auf höchstem diplomatischen Niveau dabei helfen, das enttäuschte
Vertrauen in den bilateralen Beziehungen wiederaufzubauen. Védrine blieb bei
den Vorbereitungen für das Gespräch hinsichtlich der amerikanischen Absichten
misstrauisch: Die Liste an amerikanischen Kritikpunkten sei lang. Die französi-
sche Kritik richte sich insbesondere darauf, dass die USA unter dem Vorwand
gemeinsamer Interessen des Westens, den Verbündeten ihre Politik aufzwingen
wollten. Zudem würden die Grundlangen von Mitterrands Politik, als Verbündeter
bei voller Souveränität für nationale Interessen einzutreten, in den USA nicht
verstanden. Védrine erwartete auch in Zukunft keinen politischen Kurswechsel in
Washington. Stattdessen warnte er davor, dass die USA der Sowjetunion Ver-
handlungsbedingungen aufzwingen würden, indem sie wirtschaftlichen Druck
ausübten und ihre Verbündeten zwängen, diese Politik mitzutragen.²⁰³ So ganz
klappte es mit dem Retablieren vertrauensvoller Beziehungen in dem Gespräch
tatsächlich nicht. George Shultz legte die bekannten und erwarteten Thesen dar,
während auch François Mitterrand auf seinem Standpunkt beharrte. Nachträglich
gab er sich teilweise auch selbst die Schuld an der Eskalation des Konfliktes.
Retrospektiv betrachtet, hätte er sich nicht noch einmal darauf eingelassen, an
den Gesprächen auf Ebene der Botschafter in Washington teilzunehmen.²⁰⁴
Nichtsdestoweniger ist es plausibel, dass diese diplomatische Krise zu einer
Art Reinigung in den bilateralen Beziehungen geführt hat. Zwar hatte diese nicht
zu einer Annäherung der politischen Standpunkte geführt.Vielmehr hatte sie eine
Telefongespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, 22. November
1982. In: AAPD 1982, Dok. 316, S. 1642 f.
Attali, Verbatim 1981– 1986, 14. Dezember 1982, S. 441.
AN, AG/5(4)/CD/265, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, Entretien et déjeuner avec G. Shultz, 13. Dezember 1982.
AN, AG/5(4)/CD/265, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, Entretien et déjeuner avec G. Shultz, 13. Dezember 1982.
Attali, Verbatim 1981– 1986, 14. Dezember 1982, S. 441.
138 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
gewisse Desillusionierung zur Folge. Die Konflikte waren nur so weit auf die
Spitze getrieben worden, weil beide Seiten sich in ihren Kalkulationen gewissen
Fehlwahrnehmungen hingegeben hatten. Den Amerikanern war durch die Aus-
einandersetzung vor Augen geführt worden, dass die französische Bestätigung der
Bündnissolidarität nicht mit einer Identifizierung mit amerikanischen Interessen
zu verwechseln war.²⁰⁵ François Mitterrand und seine équipe zogen aus diesen
Erfahrungen die Lehre, von den USA keine wirtschaftspolitische Solidarität als
Gegenleistung für sicherheitspolitische Solidarität erwarten zu dürfen. Daraus
resultierte die Erkenntnis, für Auswege aus der wirtschaftlichen Misere Ausschau
nach anderen möglichen Partnern zu halten.²⁰⁶ Ab der erste Jahreshälfte 1983
wurden die enttäuschten Erwartungen an eine nun auf eine andere Weise wahr-
genommene Realität angepasst.
1983 bestand die französische Politik hauptsächlich in dem Drahtseilakt, die
Euroraketenkrise zu überstehen, ohne militärstrategisch in die Verhandlungen
oder wirtschaftspolitisch integriert zu werden. Die Charakteristik des französisch-
amerikanischen Verhältnisses brachte Hubert Védrine in seinen Memoiren mit der
Formulierung „Ami, allié, pas align铲⁰⁷ prägnant auf den Punkt. Trotzdem sollen
die Konfliktpunkte hier keinesfalls überbetont werden. Ihre Untersuchung sollte
in erster Linie dazu beitragen, das Bild des Atlantikers zu dekonstruieren, da
Mitterrands Haltung zu den transatlantischen Beziehungen sehr viel komplexer
war. Zwar lässt sich die These von Pierre Mélandri nicht stützen, dass die wirt-
schaftlichen Beziehungen gegenüber den Ost-West und Nord-Süd-Beziehungen
sekundär gewesen seien.²⁰⁸ Immerhin versank Frankreich in einer wahren Wirt-
schaftskrise und hohen Arbeitslosigkeit, die François Mitterrand zu bekämpfen
hatte. Gleichwohl spielten sich die amerikanisch-französischen Beziehungen
überwiegend vor dem Hintergrund solider Bündnisbeziehungen ab, die auch
niemals grundsätzlich infrage gestellt wurden. Wie der erste Teil dieses Teilka-
pitels gezeigt hat, dienten unzählige Bekenntnisse und Beschwörungsformeln in
der Öffentlichkeit nicht ausschließlich dazu, Vertrauensbildung zu betreiben.
Vielmehr sollte der Weltöffentlichkeit glauben gemacht werden, dass die Atlan-
tische Allianz solide und unteilbar war. Die atlantischen Partner und die Führung
in Moskau sollten davon ebenfalls fest überzeugt sein, um keinerlei Spielraum für
potentielle Spaltungsversuche zu lassen. Insofern dienten die vertrauensbilden-
den Maßnahmen auch dazu, durch Inszenierung Realität zu schaffen. Gleichzeitig
lassen sich anhand der Erfahrungen, die Mitterrand und seine Mannschaft in den
Ähnlich wie in den westlichen Hauptstädten hatte die Wahl des sozialistischen
Präsidenten auch in Moskau Unsicherheit ausgelöst, da mit dem Vorgänger Valéry
Giscard d’Estaing auch dessen Berechenbarkeit gewichen war. Insbesondere die
Ostpolitik hatte dessen Rivale im Wahlkampf genutzt, um sich deutlich zu dis-
tanzieren. Zwar habe sich Mitterrand laut Hubert Védrine der traditionellen
französisch-russischen Verbundenheit verpflichtet gefühlt. Allerdings hatte er
sich im Wahlkampf die öffentliche Meinung in Frankreich zu Nutze gemacht, die
aus verschiedenen Gründen starke antisowjetische Tendenzen aufwies.²⁰⁹ Neben
der bereits analysierten Funktion, nicht in den Verdacht zu geraten, auf Kosten
des westlichen Bündnisses eine Annäherung an die Sowjetunion zu suchen, ist
davon auszugehen, dass er mit der kompromisslosen Rhetorik im Wahlkampf
Erwartungen in der französischen Öffentlichkeit weckte, mit denen er als Präsi-
dent umgehen musste. Mit der Verdammung der sowjetischen Politik und der
Unterstützung des NATO-Doppelbeschlusses hatte er sich also bereits im Wahl-
kampf klar positioniert. Allerdings bedeutete die harsche Kritik an der zu laschen
Entspannungspolitik von Giscard d’Estaing nicht, dass deren Langzeiteffekte als
Ziel französischer Sicherheitspolitik aufgegeben wurden,²¹⁰ sondern vor allem
erst einmal, dass der Handlungsspielraum des neuen Präsidenten und seiner
Regierung dadurch enorm eingeschränkt wurde.
Im Frühjahr 1981 wurden sowohl im Quai d’Orsay als auch im Elysée die
französisch-sowjetischen Beziehungen der 1970er Jahre reflektiert, um eine „po-
litique mitterrandienne spécifique“²¹¹ gegenüber der Sowjetunion zu definieren.
Darüber herrschte in den verschiedenen Institutionen und selbst innerhalb eines
Amtes nicht unbedingt Einigkeit, wie eine Note des Centre d’Analyse et de Prévi-
sion (CAP) nebst einer handschriftlichen Bewertung der darin angestellten
Überlegungen belegt. In der Note, die den bezeichnenden Titel La „carte fran-
Für den Meinungsumschwung in der französischen Öffentlichkeit und Mitterrands Versu-
che, diesen zu instrumentalisieren, siehe Kapitel 1.
Vgl. Grosser, Serrer le jeu, S. 253.
Grosser, Serrer le jeu, S. 253.
140 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
çaise“ dans la politique soviétique ²¹² trägt, wurden die nachteiligen Effekte der
Détente der 1970er Jahre für Frankreich hervorgehoben: In den Außenbeziehun-
gen der Sowjetunion habe Frankreich zwar sicherlich eine Rolle gespielt, aller-
dings wurde der Profit für die französische Außenpolitik in dieser Note infrage
gestellt. Da Frankreich vielleicht als Gesprächs- keineswegs aber als Verhand-
lungspartner anerkannt worden sei, habe sich die französische Regierung zum
Werkzeug der sowjetischen Politik machen lassen. Aus den Analysen wurde der
Schluss gezogen, dass die französisch-sowjetischen Beziehungen künftig einer
pragmatischen Neuausrichtung ohne jegliches Entgegenkommen bedurften. Dies
stellte die bestehenden französisch-sowjetischen Beziehungen keineswegs in-
frage, sondern lässt sich eher als eine Form der bewussten Desillusionierung
verstehen. Der CAP schlug zwar vor, elementare Dinge von französischem Inter-
esse in den Beziehungen zu erhalten, ohne aber die eigene wirtschaftliche und
politische Unabhängigkeit zu gefährden.²¹³ Diese eher antisowjetische Haltung
teilte im September 1981 auch Denis Delbourg, als dieser dem Außenminister zur
Vorbereitung auf ein Gespräch mit dessen Amtskollegen Andrej Gromyko Infor-
mationen über den Stellenwert Frankreichs in der sowjetischen Strategie vorleg-
te.²¹⁴ Er sah Paris aus drei Gründen vornehmlich als Instrument des Kremls, an-
statt als Gesprächspartner auf Augenhöhe: Die sowjetische Führung strebe
danach, die westlichen Bündnispartner gegeneinander auszuspielen, den Ein-
fluss der USA zu kontern und die Autonomiebestrebungen Europas zu unterbin-
den.²¹⁵ Die Überlegungen vom Centre d’Analyse et de Prévision ebenso wie jene
von Delbourg zeugen davon, dass die Détente durch Teile der Administration
primär als Schaden für die nationalen Interessen Frankreichs gedeutet wurde.
Allerdings gilt es zu betonen, dass es sich hierbei lediglich um eine Perspektive
handelt. Nationale Interessen, die als Legitimationsgrundlage für Handlungs-
empfehlungen dienten, stellten keineswegs eine feststehende Größe dar.Vielmehr
war deren Definition und Interpretation variabel, wie in diesem Fall beispiels-
weise eine an Hubert Védrine adressierte handschriftlichen Notiz belegt. Darin
wurde der Note La „carte française“ eine Analyse entgegengestellt, die die posi-
AN, 5AG4/CD/392, MAE, Centre d’Analyse et de Prévision, La „carte française“ dans la po-
litique soviétique: Orientation pour redéfinir des rapports franco-soviétiques, 14. Mai 1981.
AN, 5AG4/CD/392, MAE, Centre d’Analyse et de Prévision, La „carte française“ dans la po-
litique soviétique: Orientation pour redéfinir des rapports franco-soviétiques, 14. Mai 1981.
AN, 5AG4/CD/392, Denis Delbourg, Note pour le Ministre, Entretien avec M. Gromyko,
23. September [1981].
AN, 5AG4/CD/392, Denis Delbourg, Note pour le Ministre, Entretien avec M. Gromyko,
23. September [1981].
2.3 …führt zu Misstrauen im Osten 141
tiven Effekte der Détente hervorhob: Demzufolge stellte diese eine Chance dar,
ideologisch auf den Ostblock einzuwirken und eine „Finnlandisierung“ der
westlichen Räume des sowjetischen Imperiums voranzutreiben.²¹⁶ Es zeigt sich
dadurch nicht nur, dass die Deutung der Détente ambivalent war, sondern dass es
innerhalb der französischen Institutionen verschiedene politische Strömungen
gab, die nationale Interessen unterschiedlich definierten und eine jeweils andere
Ausrichtung der französischen Außenpolitik privilegierten. Der Begriff „Détente“
fungierte dabei jeweils als eine Art kultureller Code, mit dem gewisse Assozia-
tionen aber nicht immer einheitliche Vorstellungen verbunden waren.
In den ersten Monaten fand eine Aushandlung über den neuen Kurs in der
Ostpolitik statt, der bei genauerem Hinsehen eigentlich wenig Veränderungen
aufwies, in der öffentlichen Wahrnehmung aber als Bruch mit der Sowjetpolitik
von Giscard d’Estaing empfunden wurde. Dass François Mitterrand eigentlich die
Zukunftserwartung hegte, langfristig eine Überwindung des Jalta-Systems errei-
chen zu können, wurde bereits mehrfach angeführt und von ihm auch bei seiner
ersten Pressekonferenz im Elysée am 24. September 1981 öffentlich erklärt: „je
souhaite le [sic] disparition simultanée des blocs militaires“²¹⁷. Auf der einen
Seite, die Überwindung der Blockkonfrontation vorantreiben zu wollen, auf der
anderen Seite aber die Erwartungen der Wählerschaft und Befürchtungen der
Verbündeten befrieden zu müssen, stellte die französische Ostpolitik vor eine
schwierige Herausforderung. Diese widersprüchliche Ausgangssituation hatte
dann auch ambivalente Handlungsimpulse zur Folge, die einerseits das Vertrauen
der Verbündeten sicherstellen und andererseits kein zu großes Misstrauen in
Moskau verursachen sollten. Dafür bediente sich der französische Präsident einer
Strategie bewusster Ambivalenz, bei der die sowjetische Verunsicherung wohl-
weislich in Kauf genommen aber gleichzeitig darauf geachtet wurde, den Ge-
sprächsfaden nicht abreißen zu lassen.
Durch Stellungnahmen in der Öffentlichkeit war es prinzipiell möglich, un-
terschiedliche Adressatenkreise gleichzeitig zu erreichen. Die atlantischen Part-
ner wurden durch vertrauensbildende Gesten und Rhetorik von französischer
Bündnistreue überzeugt. Die Verurteilung der aktuellen sowjetischen Politik be-
diente antisowjetische Tendenzen der französischen Öffentlichkeit. Durch öf-
fentliche Stellungnahmen ergab sich zudem die Möglichkeit, der sowjetischen
Führung vor einer Weltöffentlichkeit zu demonstrieren, dass sie die Détente unter
AN, AG/5(4)/CD/392, handschriftliche Notiz an Hubert Vérdine an dem Dokument: MAE,
Centre d’Analyse et de Prévision, La „carte française“ dans la politique soviétique: Orientation
pour redéfinir des rapports franco-soviétiques, 14. Mai 1981.
Conférence de presse du Président de la République (extraits), Palais de l’Elysée, 24. Sep-
tember 1981. In: La Politique Etrangère 1981 (September/Oktober), S. 31.
142 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
Giscard d’Estaing lange genug versucht hatte auszunutzen und in Zukunft mit
einer unnachgiebigeren Politik zu rechnen hatte. Bei seiner Reise in die USA, die
bereits im vorangegangenen Unterkapitel als gezielte Maßnahme der Vertrau-
ensbildung angeführt wurde, erklärte der Außenminister Claude Cheysson vor
amerikanischen Journalisten: „tant que les troupes soviétiques seraient en Af-
ghanistan, on ne saurait s’attendre à ce qu’il y ait des relations normales entre la
France et l’Union Soviétique“²¹⁸ Damit ordnete Cheysson die französisch-sowje-
tischen Beziehungen explizit der afghanischen Frage unter.²¹⁹ Konkret, wurde im
Quai d’Orsay festgestellt, drücke sich die Abkühlung der bilateralen Beziehungen
durch die Suspendierung von politischen Kontakten auf höchster diplomatischer
Ebene aus: Offizielle Besuche der Staatschefs und Außenminister waren bis auf
Weiteres nicht vorgesehen.²²⁰ Glaubt man Hubert Védrine, so war Mitterrand nicht
sehr erfreut darüber, dass sein Außenminister die französisch-sowjetischen Be-
ziehungen regelmäßig mit einer Lösung in Afghanistan verknüpfte,²²¹ da er dies
als Einschränkung des politischen Handlungsspielraums empfunden habe.²²²
Dies erscheint durchaus plausibel, da François Mitterrand selbst sorgsam darauf
achtete, sowohl in öffentlichen Stellungnahmen als auch in persönlichen Ge-
sprächen keine konkreten Bedingungen an eine Wiederaufnahme von Gipfel-
treffen zu knüpfen. Er selbst begnügte sich damit, die Sowjetunion in der Öf-
fentlichkeit für ihre Politik zu verurteilen. In dem bereits angeführten Interview im
Stern vom Juli 1981 beispielsweise machte Mitterrand die Sowjetunion für das
strategische Ungleichgewicht in Europa verantwortlich und bezeichnete ihr Vor-
gehen in Afghanistan als „expansionistische Operation“²²³, die die französische
ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale,
Note, Relations franco-soviétique: Le contexte générale, 9. Juli 1981.
ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Note pour le Directeur d’Europe, Réactions soviétiques à des
déclarations du Ministre, 11. Juni 1981.
ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Note pour le Directeur d’Europe, Sous-Direction d’Europe
Orientale, Note, Relations de la RFA et de la France avec l’URSS, 14. Oktober 1981.
Für Erklärungen von Claude Cheysson siehe u. a. ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction
d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Note, Relations franco-soviétique: Le contexte
générale, 9. Juli 1981; Conférence de presse de M. Claude Cheysson, Ministre des Relations ex-
térieures (extraits),Varsovie 9. Oktober 1981. In: La Politique Etrangère 1981 (September/Oktober),
S. 40; Discours de M. Claude Cheysson, Ministre des Relations extérieures devant l’Assemblé
Nationale, 18. November 1981. In: La Politique Etrangère 1981 (November/Dezember), S. 20; In-
terview accordée par M. Claude Cheysson, Ministre des Relations extérieures au journal „Le
Monde“, 2. Dezember 1981. In: La Politique Etrangère 1981 (November/Dezember), S. 45; Discours
prononcé par M. Claude Cheysson, Ministre des Relations extérieures, au Sénat (extraits), 2. De-
zember 1981. In: La Politique Etrangère 1981 (November/Dezember), S. 48.
Védrine, Mondes, S. 238.
Mitterrand, „Deutsch-französische Freundschaft“, S. 82.
2.3 …führt zu Misstrauen im Osten 143
ADMAE, 1930-INVA 5690, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Fi-
che, URSS, 22. Mai 1981.
2.3 …führt zu Misstrauen im Osten 145
ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, La
presse soviétique et les déclarations du Ministre, 8. September 1981.
ADMAE, 1930-INVA 5690, TD Moscou 1831, Articles de la Pravda et de Temps Nouveau sur la
France, 22. Dezember 1981.
146 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
en.²³² Daraus ergab sich ein umfassend negatives Bild Frankreichs in der medialen
Berichterstattung der Sowjetunion.
Regelmäßig reflektierte das Außenministerium die französisch-sowjetischen
Beziehungen der vergangenen Monate. Circa ein Jahr nach Mitterrands Amtsan-
tritt, wurde festgestellt, dass der Kontext der Beziehungen durch die sowjetische
Invasion in Afghanistan beeinträchtigt sei. Hier schloss sich die Abteilung Europa
des Außenministeriums offenbar voll und ganz der Sichtweise des Ministers an.
Insgesamt aber war sie sich darüber bewusst, dass die entscheidenden Rädchen
der französisch-sowjetischen Kooperation auch weiterhin ungebrochen funktio-
nierten. Auch der politische Dialog sei trotz des Verzichts auf Staatsbesuche nicht
unterbrochen. Die Sowjetunion befinde sich nun, da sie eine Revision der fran-
zösischen Außenpolitik erreichen wolle, in der Rolle eines Bittstellers. Dreierlei
Gefühle wurden der sowjetischen Führung dabei zugeschrieben: große Verunsi-
cherung, Angst und Misstrauen.²³³
Ab dem Frühjahr 1982 ging der Kreml von Misstrauen und Kritik in der Öf-
fentlichkeit zu einer offensiveren Strategie über, indem er in den Massenmedien
eine Kampagne gegen die französischen Atomarsenale lancierte. An früherer
Stelle wurde bereits darauf verwiesen, dass dadurch der Druck auf Paris erhöht
wurde, da diese Forderungen die Friedensbewegung instrumentalisieren und eine
Spaltung der Alliierten bewirken sollte. Ähnlich wie die öffentlichen Stellung-
nahmen französischer Entscheidungsträger, richteten sich also auch die Kom-
mentare der sowjetischen Presse an mehrere Adressatenkreise. Zwar wurde durch
den Druck auch versucht, eine Rückkehr zu den französisch-sowjetischen Be-
ziehungen vor 1981 zu erwirken. Darüber hinaus aber sollte die französische
Politik – und die des westlichen Bündnisses insgesamt – als Feldzug gegen die
Sowjetunion diffamiert und für den Rüstungswettlauf verantwortlich gemacht
werden. Adressat dieser Kampagne waren auch die westlichen Öffentlichkeiten,
um sie für die sowjetische Strategie zu instrumentalisieren. Ab März 1982 wurden
die sowjetischen Forderungen intensiviert, die französischen Atomarsenale in
den Genfer Verhandlungen zumindest indirekt in Rechnung zu stellen.²³⁴ Über
das Jahr 1983 wurde die Intensität der Kampagne für die entscheidende Phase in
der Euroraketenkrise noch gesteigert.²³⁵
ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale,
Note, Bilan de l’image de la France depuis les élections dans la presse soviétique, 28. Januar 1982.
ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale,
Note, Relations franco-soviétiques au premier semestre, 19. April 1982.
Siehe z. B. ADMAE, 1930-INVA 5642, MRE, TD Moscou 387, Négociations de Genève sur les
F.N.I.: Inclusion des „forces tierces“, 12. März 1982.
Siehe dazu insgesamt ADMAE, 1930-INVA 5642.
2.3 …führt zu Misstrauen im Osten 147
Die französische Wirtschaft befand sich in einer schwierigen Situation. Paris hatte großes
Interesse an einer Entwicklung der Handelsbeziehungen mit der Sowjetunion. Nachdem diese an
der Schwelle zu den 1980er Jahren einen Aufschwung erfahren hatten, machte sich aufgrund
stagnierender Exporte 1981/1982 ein französisches Außenhandelsdefizit bemerkbar, das die
französische Regierung auszugleichen suchte; siehe dazu u. a. AN, 5AG4/CD/392, Présidence de la
République, Jean-Michel Gaillard, Note pour Monsieur Bérégovoy, Votre entretien avec Froment-
Meurice, 25. August 1981; ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction
d’Europe Orientale, Note, Relations franco-soviétiques, 22. November 1982; Das Treffen der
Grande Commission, in der Gespräche über Wirtschaftsbeziehungen institutionalisiert worden
waren, sollte daher unter anderem dazu dienen, das französische Außenhandelsdefizit gegen-
über der Sowjetunion zu minimieren.
AN, 5AG4/CD/392, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour Monsieur Bérégovoy, URSS, Résistance afghane, Pologne, 17. Dezember 1981.
148 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale,
Note, Relations franco-soviétiques, 22. November 1982.
ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Fiche pour le Directeur des Affaires Africaines et Malgaches,
29. April 1982.
Dumas, Affaires étrangères, S. 176.
Siehe z. B. ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe
Orientale, Fiche, Relations franco-soviétiques, 28. Juni 1982.
AN, 5AG4/CD/392, Denis Delbourg, Note pour le Ministre, Entretien avec M. Gromyko,
23. September [1981].
150 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
Zagladin,Vadim: Wortbeitrag in Débat. In: Berstein [u. a.] (Hrsg.), François Mitterrand, S. 313.
Zagladin, Débat, S. 313.
Siehe zu den absolvierten und geplanten Kontakten im Bereich der politischen Beziehungen
auf verschiedenen Niveaus: ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction
d’Europe Orientale, Note, Relations franco-soviétiques au premier trimestre 1982, 19. April 1982;
Dumas, Affaires étrangères, S. 176; Grosser, Serrer le jeu, S. 272.
2.3 …führt zu Misstrauen im Osten 151
zudem die latente Drohung, dass die Errungenschaften einer 15 Jahre währenden
Kooperation leicht zunichte zu machen seien.²⁴⁹ Wenn die sowjetischen Diplo-
maten auch nicht, wie intendiert, Einfluss auf die Definition der französischen
Außenpolitik nehmen konnten, so erreichten sie doch immerhin, dass der fran-
zösische Außenminister sich intern für seine Äußerungen rechtfertigte: Die In-
halte dieses inoffiziellen Gesprächs wurden zunächst an den Minister und im
Anschluss daran an die Berater der Präsidenten weitergegeben.²⁵⁰ Cheysson
versah die Note über das Gespräch mit erklärenden Randbemerkungen. Dass er
die französische-sowjetischen Beziehungen als nicht „normal“ qualifiziert habe,
entspreche der Wahrheit, dies, so Cheysson, habe er auch dem Botschafter per-
sönlich mitgeteilt. Dass er die Rückkehr zum gewohnten Rhythmus der Regelung
der afghanischen Frage unterordne, gehe allerdings weiter als seine tatsächliche
Stellungnahme. Entschiedenen Protest erhob der Außenminister gegen die Be-
hauptung, er habe sich dezidiert auf die traditionellen Treffen des Präsidenten mit
Breschnew bezogen. Darüber habe er ebenso wenig ein Wort verloren, wie er auch
Gromykos Einladung in die Sowjetunion nicht explizit ausgeschlagen habe.²⁵¹
Offizielle und institutionelle Treffen wurden von sowjetischen Diplomaten
ebenfalls dazu genutzt, in den ersten Monaten nach Mitterrands Amtsantritt eine
Revision der französisch-sowjetischen Beziehungen zu erreichen. Beispielsweise
drang der sowjetische Botschaftsangehörige Afanassjew in einem Gespräch mit
dem Präsidentenberater Hubert Védrine darauf, dass es keinen Grund gäbe, nicht
bald die Kontakte auf höchster Ebene zwischen den Staatschefs fortzusetzen.
Außerdem setzte er sich für eine Audienz des sowjetischen Botschafters beim
Präsidenten ein.²⁵² Dieser akzeptierte die von Védrine an ihn herangetragene
Erwartung des sowjetischen Botschafters am 25. Juni 1981.²⁵³ Bei einem Treffen mit
dem Direktor für politische Angelegenheiten Jacques Andréani versuchte Stepan
Tscherwonenko am 20. Oktober 1981 ebenfalls, die Position der neuen Regierung
zu sondieren und Einfluss auf den Aushandlungsprozess in Paris zu nehmen:
ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Note
pour le Directeur d’Europe, Réactions soviétiques à des déclarations du Ministre, 11. Juni 1981.
AG/5(4)/CD/392, MAE, Le Cabinet du Ministre, Denis Delbourg, Note pour M. Scheer, 11. Juni
1981.
AN, AG/5(4)/CD/392, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Réactions
soviétiques à des déclarations du Ministre, 11. Juni 1981.
AN, AG/5(4)/CD/392, Présidence de la République, Hubert Védrine, Note pour Monsieur
Bérégovoy, 22. Juni 1981.
AN, AG/5(4)/CD/392, Présidence de la République, Hubert Védrine, Note pour le Président de
la République, 25. Juni 1981.
152 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
Dabei drückte der Botschafter die sowjetische Hoffnung aus, die bilateralen Be-
ziehungen weiterzuentwickeln. Ohne die anderen Facetten minimieren zu wollen,
so bleibe doch der politische Dialog die Achse der Kooperation zwischen der
Sowjetunion und Frankreich, bemerkte er. In dem Gespräch antwortete Andréani
ganz in der Manier Mitterrands ausweichend, indem er zwar Interesse am poli-
tischen Dialog bekundete aber gleichzeitig darauf verwies, dass die französisch-
sowjetischen Beziehungen selbstverständlich nicht vom internationalen Kontext
isoliert werden könnten.²⁵⁴
Die genannten Beispiele machen deutlich, dass die sowjetische Führung
sowohl auf inoffiziellem Weg als auch bei institutionalisierten, offiziellen Kon-
takten auf der Ebene der Botschafter und politischen Direktoren danach strebte,
den Beziehungen ihren einstigen Status zurückzugeben. Die französischen Ge-
sprächspartner nutzten dadurch die Möglichkeit, einerseits weiterhin Interesse
am wechselseitigen Dialog zu signalisieren und auf diese Art und Weise den öf-
fentlichen Kurs gewissermaßen zu relativieren. Andererseits wurde Moskau so
zugleich auf Abstand gehalten, indem man in den Gesprächen an der öffentlichen
Distanzierung von Gipfelgesprächen festhielt. Außerdem wurde die Bedeutung
der persönlichen Kontakte durch den Wegfall der Gipfeltreffen zugleich auf untere
Ebenen verlagert. Persönliche Gespräche jenseits der Öffentlichkeit zeichneten
sich also im Kontext der französisch-sowjetischen Beziehungen durch unter-
schiedliche Funktionen aus: In vertraulicherem Rahmen konnten sanfte Kritik
und Beeinflussungsversuche unternommen oder aber die harte Linie in der Öf-
fentlichkeit abgeschwächt werden. Die diplomatischen Kontakte dienten zudem
als Wegbereiter von Gesprächen auf höheren politischen Ebenen. Standpunkte zu
politischen Fragen wurden ergründet, um zu erfahren, über welche Themen Ge-
spräche auf höheren Ebenen interessant und sinnvoll sein könnten.²⁵⁵ Ihre
Funktion bestand darüber hinaus darin, die Fühler sanft nach einer Veränderung
im politischen Kurs auszustrecken und den Kontakt so lange auf unteren Ebenen
zu halten, bis man ihn wieder auf höheren Niveaus fortsetzte.
Dafür war der Meinungsaustausch als weitere Funktion dieser Gespräche von
entscheidender Bedeutung, für den beispielsweise der Chef des Centre d’Analyse
AN, AG/5(4)/CD/392, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, JPM
[Jean-Pierre Masset], Note, Entretien du Directeur des Affaires Politiques avec M. Tchervonenko,
21. Oktober 1981.
In seinem Bericht circa ein Jahr nach seiner Amtsübernahme gab der französische Bot-
schafter Claude Arnaud Empfehlungen für Themen, bei denen sich ein Meinungsaustausch mit
der Sowjetunion lohnen könnte; ADMAE, 1930-INVA 5690, Ambassade de France en URSS, Claude
Arnaud, Ambassadeur de France en URSS à S. Exc. Claude Cheysson, Ministre des Relations
extérieures, 22. September 1982.
2.3 …führt zu Misstrauen im Osten 153
ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale,
Note, Relations franco-soviétiques au premier semestre, 19. April 1982.
ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Fiche pour le Directeur des Affaires Africaines et Malgaches,
29. April 1982.
ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Cabinet du Ministre, Le Conseiller technique, Denis Del-
bourg, 16. Juni 1982.
ADMAE, 1930-INVA 5690, République française, Ambassade de France en URSS, Claude
Arnaud, Ambassadeur de France en URSS à S. Exc. Claude Cheysson, Ministre des Relations
extérieures, 22. September 1982.
154 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Note pour le Cabinet, Entretien avec le
chargé d’affaires soviétiques, 7. Januar 1983.
ADMAE, 1930-INVA 5690, MRE, Direction d’Europe, Note pour le Cabinet, Entretien avec le
chargé d’affaires soviétiques, 7. Januar 1983.
2.3 …führt zu Misstrauen im Osten 155
Cheysson viertens auf die Unterstützung der USA und kritisierte fünftens die so-
wjetische Führung dafür, die Verhandlungen durch ihre Haltung zu blockieren.²⁶²
Seit dem Beginn des Jahres 1983 sah sich Frankreich einem ansteigenden Druck
ausgesetzt, da die Unabhängigkeit der force de frappe auch seitens der eigenen
Partner teilweise infrage gestellt wurde, um die Verhandlungen in Genf voran-
zubringen. Anfang 1983 sahen sich die französischen Akteure also offensichtlich
genötigt, ihren Standpunkten mit der Autorität des Außenministers mehr Nach-
druck verleihen zu müssen. Da aber im Grunde keinerlei Ergebnisse, Entschei-
dungen oder wechselseitigen Verpflichtungen von den Gesprächen erwartet
wurden, kann der Besuch zudem als ein weiterer Akt der Mitterrand’schen Am-
bivalenz gewertet werden. Daher ist die Überlegung durchaus einen Gedanken
wert, ob Mitterrand die „Entgiftungskur“²⁶³ der französisch-sowjetischen Bezie-
hungen etwas abschwächen wollte, nachdem er sich in der Rede vor dem deut-
schen Bundestag im Januar 1983 unter anderem für ein Festhalten am NATO-
Doppelbeschluss stark gemacht hatte.²⁶⁴ Weil diese Rede allerdings nicht primär
im Kontext der bilateralen französisch-sowjetischen Beziehungen steht, wird sie
im nachfolgenden Kapitel Gegenstand der Untersuchung sein. An dieser Stelle sei
aber bereits vorweggenommen, dass die Rede vielfach recht einseitig als Unter-
stützung der Aufstellung von amerikanischen Raketen in Europa missverstanden
wurde. Gerade aus diesem Grund erfüllte Cheyssons Besuch in Moskau wohl
mehrere Funktionen zugleich und diente unter anderem auch dazu, dieses öf-
fentliche Bild wieder gerade zu rücken und die sowjetische Führung davon zu
überzeugen, weiter nach einem Erfolg in den Verhandlungen zu streben.
In diesem Kapitel wurde die Ambivalenz von Mitterrands Aussagen und
Handlungen, sowie die von Mitgliedern seiner équipe vielfach unter Beweis ge-
stellt. Einige Widersprüche lassen sich darauf zurückführen, dass innerhalb der
Administration Uneinigkeiten über den außenpolitischen Kurs bestanden. Deut-
lich wurde dies insbesondere hinsichtlich des Verständnisses von Détente oder
den unterschiedlichen Sinndeutungen, die dem Verzicht auf Gipfeltreffen zuge-
schrieben wurden. Darüber hinaus wurde auch auf den sehr engen Handlungs-
spielraum angesichts der angespannten internationalen Situation verwiesen. Die
französische Außenpolitik zwischen Westintegration und Ostpolitik glich ange-
sichts dessen einem Drahtseilakt. Eine weitere Erklärung für seine Ambivalenz
ADMAE, 1930-INVA 5641, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires
Stratégiques et du Désarmement, Fiche pour le Ministre: Entretiens de Moscou: Non prise en
compte des forces françaises, 15. Februar 1983.
Übersetzt aus dem Französischen „cure de désintoxication“ bei Favier/Martin-Roland,
Ruptures, S. 271.
Vgl. Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 271.
156 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
der Staatschefs fortzusetzen, und trug dem sowjetischen Außenminister auf, diese
Nachricht dem Generalsekretär der KPdSU Jurij Andropow zu übermitteln.²⁶⁹ Si-
cherlich, dieses Bekenntnis war zwar unverbindlich. Dennoch deutet es darauf
hin, dass Mitterrand jenseits der entscheidenden Phase des NATO-Doppelbe-
schlusses und der Umsetzung der Nachrüstung, bereits an potentielle Folgen der
gegenwärtigen Politik dachte. Er war sich offenbar des Risikos bewusst, das diese
Zukunft für die Ost-West-Beziehungen bereithielt. Erstens bedeuteten Mitterrands
Worte, dass die „perspectives générales“ wieder in den Vordergrund rücken
würden, wenn der Stolperstein der französisch-sowjetischen Beziehungen – die
sowjetische Rüstungsüberlegenheit – erst einmal beseitigt sein würde. Dafür
streckte der französische Präsident vorsorglich schon einmal seine Fühler aus.
Zweitens versuchte Mitterrand, hier eine politische Ausgangslage für die Zeit nach
der Umsetzung des Nachrüstungsprozesses zu schaffen, indem er dem sowjeti-
schen Außenminister eine Intensivierung der bilateralen Beziehungen in Aussicht
stellte.
Das Gespräch mit Andrej Gromyko liefert aber nicht nur aufschlussreiche
Erkenntnisse darüber, wie François Mitterrand sein politisches Handeln kon-
zeptualisierte. Vielmehr lässt sich davon ein weiterer Erklärungsgrund für seine
vielfach benannte Ambivalenz ableiten. Je nachdem, auf welchen zeitlichen Ho-
rizont sich seine Stellungnahmen oder Handlungsimpulse richteten – Bündnis-
sicherung oder Überwindung der Blockkonfrontation, Wiederherstellung des
globalen Gleichgewichts oder Entspannung und Aufbau größeren europäischen
Selbstbewusstseins –, konnten sie mitunter in unterschiedliche Richtung zielen
und in Mitterrands charakteristischer Ambivalenz hervorstehen. Dies lag aller-
dings weniger an einem mangelnden Konzept oder politischer Unentschlossen-
heit, als vielmehr am politischen Kontext, der von 1981 bis 1983 den langfristigen
Zukunftsaussichten von Mitterrand widersprach. Nichtsdestoweniger wurden in
diesen Jahren wichtige Erfahrungen gemacht und Voraussetzungen dafür ge-
schaffen, die langfristigen Ziele weiterzuverfolgen.
Zwischenbilanz
Vgl. dazu u. a. Reagan, Ronald: Erinnerungen. Ein amerikanisches Leben. Berlin 1990.
S. 583 – 586.
160 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
Conférence de presse du Président de la République (extraits), Brazzaville, 11. Oktober 1982.
In: La Politique Etrangère 1982 (Oktober/Dezember), Paris 1982, S. 31.
Védrine, Mondes, S. 108.
162 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
beschadet zu überstehen und die Stabilität des Status Quo zu sichern. Um dies zu
gewährleisten, hielt er es für notwendig, den Zusammenhalt des westlichen
Bündnisses zu stärken. Daher betrieb er mit politischen Gesten und rhetorischen
Mitteln gezielt Vertrauensbildung, um die Reihen der Alliierten zumindest an der
Oberfläche zu schließen. Wie Abschnitt 2.2 gezeigt hat, wurde versucht, scharfe
Konflikte dafür herunterzuspielen. Durch die Analyse wurde herausgearbeitet,
wie François Mitterrand und andere Regierungsmitglieder dafür eine strategische
Gefühlspolitik betrieben. Erstens diente diese als Instrument, Vertrauen bei den
Verbündeten zu evozieren. Das Misstrauen, das diese Vertrauensbildung in
Moskau zur Folge hatte, wurde durchaus wahrgenommen: Empathie als politische
Strategie ermöglichte es, die Wahrnehmungen und Intentionen der sowjetischen
Führung auszuleuchten. Die Abteilungen des Außenministeriums und die Berater
des Präsidenten setzten Empathie systematisch ein, um die Handlungsursachen
oder künftigen Reaktionen anderer Akteure zu kalkulieren. Dies geschah auch in
Hinblick auf die Friedensbewegung oder Perzeptionen, die man bei der ameri-
kanischen oder sowjetischen Führung wahrzunehmen glaubte. Das sowjetische
Misstrauen, das von Mitterrand nicht intendiert war und eigentlich seinen lang-
fristigen Zukunftsaussichten widersprach, wurde während der Euroraketenkrise
allerdings hingenommen, da die Sicherung des Status Quo in diesem Moment für
ihn Priorität besaß. Obwohl diese Handlungsimpulse auf die aktuelle Gegenwart
gerichtet waren, lieferte Mitterrands Konversation mit Andrej Gromyko erste
Hinweise dafür, dass dies nur scheinbar der Fall war. Eigentlich stellte die Ga-
rantie des Status Quo für François Mitterrand eine notwendige Voraussetzung und
Basis dar, eine Transformation der gegenwärtigen Staatenordnung zu fördern. Um
diese These zu stützen, werden in den folgenden Kapiteln weitere Belege ange-
führt werden.
Damit konnte insgesamt geklärt werden, wie der Eindruck einer atlantischen
Wende von Mitterrands Politik entstand und dass es sich dabei vielmehr um ein
Bild – fast eine Illusion – handelte, der Mitterrand mal versuchte zu widerspre-
chen, wenn es darum ging, die französische Unabhängigkeit zu betonen, das er
aber auch mal in Kauf nahm, wenn es seinen Intentionen diente. Dies unterstützt
noch einmal den Befund des ersten Kapitels, dass Mitterrand sein Amt nicht mit
einem außenpolitischen Programm antrat, sondern gewisse Zielvorstellungen mit
einer Strategie zu erreichen versuchte. Eine Strategie unterscheidet sich von po-
litischer Planung insofern, als sie die Kontingenz des Zukünftigen in Rechnung
stellt. Auf diese Art und Weise blieb Mitterrand stets handlungsfähig. Allerdings
ging er damit auch das Risiko ein, womöglich als Wendehals oder Taktiker
wahrgenommen zu werden. Die Ergebnisse dieses Kapitels stützen die These, dass
Mitterrand strategisch handelte, da nicht intendierte Folgen des Handelns zuvor
reflektiert und in Kauf genommen wurden, wenn man glaubte, es verschmerzen zu
Zwischenbilanz 163
können. Das Risiko, dass Mitterrands Stellungnahmen und Politik als atlantisch
wahrgenommen werden könnten, wurde im Elysée durchaus erkannt. Seine Be-
rater sowie Diplomaten des Außenministeriums reflektierten beispielsweise, dass
die Ausrichtung des atlantischen Rates 1983 einige Schwierigkeiten mit sich
brachte. Da es sich um einen etablierten Brauch handelte, dass die Staatschefs zu
dieser Gelegenheit ein Dinner ausrichteten, fürchtete Denis Delbourg, Debatten
über das französische Engagement in der NATO auszulösen, wenn man diesem
Brauch nicht folgte.²⁷⁵ Als es schließlich darum ging, in welcher Form François
Mitterrand als Gastgeber auftreten sollte, empfahl Cheysson dem Präsidenten, die
Sitzung am 9. Mai selbst zu eröffnen, da er der Verantwortliche für die französi-
sche Strategie und Bündnispolitik sei. Es sollten keine Missverständnisse über die
Reichweite des Treffens aufkommen, weshalb sowohl die Rolle der Allianz als
auch ihre Grenzen hervorgehoben werden sollten.²⁷⁶ Jean-Louis Bianco wies da-
gegen darauf hin, dass er darin das Risiko sah, dass seine Ansprache unabhängig
von dessen Inhalt als atlantisch beurteilt werden würde. Védrine teilte diese
Einschätzung, indem er darauf verwies, dass eine Sitzungseröffnung durch den
Präsidenten unvermeidlich Kommentare über Mitterrands Atlantizismus provo-
zieren würde. In dieser Hinsicht würde ein einfacher Toast beim Abendessen
weniger Schwierigkeiten bereiten.²⁷⁷ Daraufhin entschied sich Mitterrand dafür,
wie ein Kommentar von Védrine unter seiner Notiz belegt, die Sitzung durch den
Premierminister Pierre Mauroy eröffnen zu lassen und selbst am Abend eine
Ansprache zu halten. Diese Entscheidung offenbart den Drahtseilakt der fran-
zösischen Diplomatie zwischen Solidarität und Unabhängigkeit. Umso wichtiger
war es, angesichts der symbolischen Botschaft der Bündnissolidarität, die in der
Ausrichtung des Treffens enthalten war, eine Überinterpretation als atlantisme zu
relativieren, indem man die französische Unabhängigkeit betonte: In Mitterrands
Ansprache sollte das Gewicht auf den speziellen Status Frankreichs gelegt wer-
den, das zwar seit 1966 nicht mehr Mitglied der integrierten Kommandostruktur
aber trotzdem ein loyaler Partner der Allianz sei. Angesichts der Kampagne um
die Berücksichtigung der Drittpotentiale bei den Abrüstungsverhandlungen
AN, AG/5(4)/CD/93, MRE, Cabinet de Ministre, Le Conseiller technique, Denis Delbourg, Note
pour Jean-Michel Gaillard, Accueil en France de la session de printemps du Conseil atlantique,
8. November 1982.
AN, AG/5(4)/CD/93, Le Ministre des Relations extérieures, Note pour le Président de la
République (sous couvert de son Conseiller diplomatique), De la réunion du Conseil atlantique,
20. Mai 1983.
AN, AG/5(4)/CD/93, Notiz von Hubert Védrine an der Note, Le Ministre des Relations ex-
térieures, Note pour le Président de la République (sous couvert de son Conseiller diplomatique),
De la réunion du Conseil atlantique, 20. Mai 1983.
164 2 Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels
wurde die Gelegenheit noch einmal genutzt, um die Autonomie der französischen
Abschreckung und den defensiven Charakter der force de frappe zu betonen.²⁷⁸
Möchte man also abschließend eine Bewertung der hier entwickelten For-
schungsergebnisse vornehmen, so zeigt sich, dass es sich bei der oftmals unter-
stellten atlantischen Wende weniger um eine tatsächliche strategische Wende von
Mitterrands Politik handelte, als vielmehr um eine inszenierte. Dies darf keines-
falls als eine von Mitterrand intendierte und angestoßene Inszenierung missver-
standen werden, bei der die Massenmedien zum reinen Werkzeug seiner Politik
wurden. In westlichen Gesellschaften, in denen die Massenmedien auch gerne als
vierte Gewalt bezeichnet werden, ist dies kaum möglich. Vielmehr haben die
Untersuchungen dieses Kapitels gezeigt, dass es sich bei der Inszenierung um die
dynamische Entwicklung eines Bildes handelte, an dessen Konstruktion ver-
schiede Akteure, Wahrnehmungsmuster und Erwartungen Teil hatten. Zum einen
bediente sich François Mitterrand der Massenmedien: Mit Gespür für Fremd-
wahrnehmungen und einer auf Empathie begründeten politischen Strategie kam
er im Wahlkampf den Erwartungen der öffentlichen Meinung und im Amt den
Erwartungen der westlichen Verbündeten entgegen, um seinen politischen
Handlungsspielraum zu erhalten. Die Massenmedien in Ost und West trugen ih-
rerseits eigene Wahrnehmungen und Erwartungen an Mitterrands Stellungnah-
men heran. Diese hatten Einfluss darauf, wie seine Politik wahrgenommen wurde.
Darüber hinaus veränderten und überformten sie diese und provozierten eine
Interpretation in eine bestimmte Richtung, indem sie die Politik in der Bericht-
erstattung mit gewissen Zuschreibungen versahen. Mit ihrer Berichterstattung
wurden die Massenmedien daher selbst zu Akteuren dieser politischen Insze-
nierung.
Aus Sicht von Mitterrand waren damit spezifische Funktionen verbunden. Die
Untersuchungen haben gezeigt, dass die Inszenierung keinem Selbstzweck
diente, sondern funktional war und auf politischem Kalkül beruhte. Denn neben
dem Einzug in den Elysée versprach sich Mitterrand ab 1981 davon, den Zusam-
menhalt des westlichen Bündnisses durch Vertrauensbildung wiederherzustellen.
Die Atlantische Allianz musste dem Druck der offensiven sowjetischen Politik
standhalten, damit die Wiederherstellung des strategischen Gleichgewichts nicht
gefährdet wurde. Bei der Inszenierung bediente sich François Mitterrand einer
doppelten Strategie, die auf Ambivalenz beruhte: Einerseits stellte er sicher, dass
er als Verbündeter der Atlantischen Allianz und Kritiker der aggressiven sowje-
https://doi.org/10.1515/9783110597417-005
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 167
Gespräch des Bundespräsidenten Carstens mit Staatspräsident Mitterrand, 13. Juli 1981. In:
AAPD 1981, Dok. 200, S. 1069.
Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Latche, 7. Oktober
1981. In: AAPD 1981, Dok. 287, S. 1539.
Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Latche, 7. Oktober
1981. In: AAPD 1981, Dok. 287, S. 1539.
Vgl. dazu Loth, Europas Einigung, S. 9.
AN, AG/5(4)/CD/160, Jean Rouvier, Conseiller spécial de la CEE, Note au Président, 13. Oktober
1981.
168 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
Botschafter Herbst, Paris, an das Auswärtige Amt, 11. Januar 1981. In: AAPD 1982, Dok. 16, S. 69.
Siehe dafür auch Kapitel 2.
Mitterrand, „Deutsch-französische Freundschaft“, S. 80 – 84.
Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Brüssel, 29. Juni
1982. In: AAPD 1982, Dok. 196, S. 1039.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 169
Die historische Forschung steht gelegentlich noch immer unter dem Eindruck
zeitgenössischer Wahrnehmungen.¹² Das gängige Narrativ verweist auf eine „re-
lative Zaghaftigkeit, ja sogar gewisse Kälte“¹³ im Verhältnis zwischen Schmidt und
Mitterrand in den ersten Monaten. Die enge Verbindung zwischen Schmidt und
Giscard d’Estaing, den der Bundeskanzler obendrein öffentlich im Wahlkampf
unterstützte, sei laut Dumas auch ein Grund dafür gewesen, dass Mitterrand und
Schmidt zunächst eine gewisse Zurückhaltung zu überwinden hatten.¹⁴ Die bis-
herigen Erkenntnisse sollen keinesfalls demontiert werden, da sich in der Tat
nicht nur Vorstellungen und Wahrnehmungen unterschieden, sondern auch die
politischen Maßnahmen, die die sozialistische und sozialdemokratische Regie-
rungen ergriffen, um mit den Herausforderungen ihrer Zeit umzugehen. Vielmehr
lässt sich der Eindruck anfänglicher Startschwierigkeiten relativieren, indem
nach den Ursachen dieses Bildes gefragt wird. Außerdem gilt es, die Erkenntnisse
historisch einzuordnen, indem die Ursprünge von Konflikten und Missverständ-
nissen, ihre Konsequenzen sowie die Maßnahmen zu ihrer Überwindung und
deren Erfolge untersucht werden. Insbesondere hinsichtlich der Wirtschaftspoli-
tik lagen die französischen Entscheidungen „in vollkommenem Dissens“¹⁵ zu
Bonn und führten bis mindestens Ende 1981 regelmäßig zu Spannungen. Dass es
Schmidt und Mitterrand dennoch gelang, konstruktive Beziehungen zu entwi-
ckeln, wird an späterer Stelle ebenso weiter ausgeführt, wie die politischen Dif-
ferenzen, die sie trennten.
Im europapolitischen Kontext führten deutsch-französische Unstimmigkeiten
dazu, dass das erhoffte Fortkommen der europäischen Konstruktion zunächst
ausblieb. Zwar sollten Mitterrands vertrauensbildende Äußerungen ursprünglich
einen gegenteiligen Effekt entfalten. Der Eindruck eines ins Stocken geratenen
deutsch-französischen Motors hemmte die Entwicklung neuer politischer Dyna-
miken in Europa jedoch. Ohnehin befand sich die Europäische Gemeinschaft zu
Mitterrands Amtsantritt bereits einige Jahre in der Krise: Die EG war laut Roland
Dumas zu Beginn der 1980er durch einen „conflit agro-budgétaire“¹⁶ paralysiert,
womit er die kritischen Fragen zwischen den Mitgliedstaaten auf einen Begriff
bringt. Sowohl bei der Gemeinsamen Agrarpolitik (vor allem die Höhe der
tieren gegenüber der US-Administration als auch dessen Frustration, als sich
diese jeder Solidarität in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen entzog.²⁸
Es war eine unintendierte Folge, dass Mitterrand durch sein Unbehagen vor
einer deutsch-französischen Achse Misstrauen bei der bundesdeutschen Regie-
rung und Öffentlichkeit auslöste. Eigentlich hatte er schon in seinem ersten Ge-
spräch mit Helmut Schmidt am 24. Mai 1981 auf Vertrauensbildung und den ra-
schen Aufbau konstruktiver Beziehungen gesetzt. Er signalisierte dem deutschen
Bundeskanzler seinen Wunsch zu Kontinuität in der deutsch-französischen
Freundschaft und Zusammenarbeit.²⁹ Diese stellte er sogleich in die Perspektive
der longue-durée, indem er seine Erinnerung an den europäischen Kongress in
Den Haag erwähnte. Diese Art der Gesprächsführung diente nicht nur dazu, mit
einer persönlichen Anekdote die Distanz zu seinem Gesprächspartner zu über-
winden und einen schnellen Zugang zueinander zu ermöglichen.³⁰ Es demon-
striert auch, dass er die deutsch-französischen Beziehungen in einen dezidiert
europäischen Kontext stellte. Helmut Schmidt bemühte sich seinerseits ebenfalls
um den Aufbau eines vertrauensvollen Verhältnisses, indem er gleich mehrfach
die deutsche Bereitschaft zur Solidarität in der Währungsfrage und zu Verteidi-
gungsmaßnahmen des Franc signalisierte.³¹
Dass den französischen Entscheidungsträgern schon aufgrund sicherheits-
politischer Erwägungen nicht an bundesdeutschem Misstrauen gelegen sein
konnte, wurde bereits im vorangegangenen Kapitel ausführlich dargelegt. Die
Archivdokumente belegen, dass in Elysée und Quai d’Orsay Verantwortung dafür
übernommen wurde, ein Abgleiten der Bundesrepublik in den Neutralismus zu
verhindern. Nach dem Besuch von Leonid Breschnew in der Bundesrepublik Ende
November 1981 machte Hubert Védrine auf dieses Risiko mit besonderer Deut-
lichkeit aufmerksam. Er wies der Europäischen Gemeinschaft und den bilateralen
Beziehungen zwischen Paris und Bonn die essentielle Rolle zu, einem gefürch-
AN, AG/5(4)/CD/160, Présidence de la République, 31. Dezember 1981, der Verfasser war of-
fensichtlich Hubert Védrine, weil auf dem Blatt handschriftlich vermerkt wurde: „Retour à Védrine
vu Merci PB“ [Pierre Bérégovoy].
AN, AG/5(4)/CD/174, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour Jean-Michel Gaillard, 13. August 1982.
Miard-Delacroix, Kontinuität, S. 546.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 175
denten, in dem Schmidt zudem unzählige Male mit Mitterrands Vorgänger zu-
sammengetroffen war. Insgesamt führt Miard-Delacroix die Verbesserung der
Beziehungen zwischen Mitterrand und Schmidt und schließlich Kohl unter dem
Begriff „Schicksalsgemeinschaft“ unter anderem auf den „Druck der internatio-
nalen Spannungen [zurück], auf die Paris und Bonn mit wechselseitiger Unter-
stützung und verstärkter Solidarität reagierten.“³⁵ Damit macht sie deutlich, dass
konstruktive und vertrauensvolle Beziehungen auf mehr als regelmäßigem Dialog
beruhen. Kooperation basiert vielmehr auf der Bereitschaft zu gegenseitiger So-
lidarität. Jürgen Habermas hat darauf hingewiesen, dass „solidarische Vorleis-
tungen von allen Seiten das Vertrauen [verlangen], dass sich die jeweils andere
Seite in Zukunft reziprok verhalten wird“³⁶. Ohne das Vertrauen, dass der Partner
die eigene Bereitschaft zu Solidarität nicht missbraucht, würde Kooperation ei-
nem Risiko gleichkommen. Mit dem Amtsantritt von Mitterrand musste solches
Vertrauen zwischen ihm und Helmut Schmidt erst aufgebaut werden. Erst
wechselseitige Erfahrung von Solidarität und ein gegenseitiges Kennenlernen
schufen schließlich die Fundamente für Vertrauensbildungsprozesse.
Während sich Mitterrand direkt nach seinem Amtsantritt für ein Festhalten
am NATO-Doppelbeschluss einsetzte und Helmut Schmidt damit den Rücken
stärkte, zeigte sich der Bundeskanzler in der Währungsfrage bei zwei Devalua-
tionen des Franc kooperativ. Die vorliegende Studie grenzt sich nicht zuletzt da-
durch von einem rein strategischen Verständnis der Spieltheorie basierend auf
Kalkulation und Berechenbarkeit ab, indem diese historische Dimension von
Vertrauen berücksichtigt wird. Insgesamt diagnostiziert Miard-Delacroix ein ho-
hes Maß an Kontinuität in den deutsch-französischen Beziehungen und führt dies
auf zwei spezifische Gründe zurück: Erstens wurde sie durch die Bestimmungen
des Elysée-Vertrags und die darin enthaltene Institutionalisierung des Dialogs
garantiert. Zweitens erkennt sie einen offenkundigen politischen Willen zur po-
litischen Kontinuität bei François Mitterrand und seiner Regierungsmannschaft.³⁷
Der Versuch, die deutsch-französische Achse aufzubrechen verdrängte also kei-
neswegs das Bewusstsein für die Bedeutung einer Zusammenarbeit in Hinblick
auf den europäischen Integrationsprozess. Vielmehr sollten die Beziehungen der
europäischen Mitgliedstaaten von einer vertikalen zu einer horizontalen Struktur
gewandelt werden. Als Mitterrand Schmidt am 29. Juni 1982 anvertraute, dass eine
„schwierige Zeit“ anbrechen könnte, wenn eine konservativ geführte Regierung in
Bonn übernähme, machte er damit auch deutlich, dass sich zumindest ein ge-
meinsamer Arbeitsmodus zwischen ihm und dem Bundeskanzler eingestellt
hatte. Eine neuerliche Phase des Kennenlernens würde dagegen Zeit in Anspruch
nehmen.³⁸ Dies lässt darauf schließen, dass in den ersten Monaten gemeinsamer
Arbeit zwischen Schmidt und Mitterrand durch Solidaritätserfahrungen eine ge-
wisse Vertrautheit gewonnen worden war, die durch einen Wechsel im Kanzleramt
von Neuem hätte aufgebaut werden müssen. Vertrautheit wird in dieser Studie im
Sinne von Niklas Luhmann als „relativ sicheres Erwarten“ konzeptualisiert, das
„ein Absorbieren verbliebener Risiken“ ermöglicht. Insofern handelt es sich dabei
zunächst einmal um eine Form von Berechenbarkeit, die sowohl „günstige“ als
auch „ungünstige Erwartungen“ schaffen kann und somit eine Voraussetzung für
Vertrauen und Misstrauen gleichermaßen ist.³⁹
Retrospektiv erwies sich die Amtsübernahme von Helmut Kohl nicht als Ri-
siko, sondern im Gegenteil eher als eine Chance für die deutsch-französischen
Beziehungen vor allem aus europapolitischer Perspektive: Als sich der neue
Bundeskanzler im Oktober 1982 durch die Anknüpfung und Unterstützung der
Genscher-Colombo-Initiative zu profilieren versuchte, erleichterte er Mitterrand
den Einstieg in die Entwicklung konstruktiver Beziehungen, indem er dafür be-
wusst auf den französischen Präsidenten zuging.⁴⁰ Seine politische Orientierung
kam Mitterrands langfristigen Zukunftserwartungen von einer Stärkung der eu-
ropäischen Konstruktion grundsätzlich entgegen, die ihm nach den wirtschafts-
politischen Auseinandersetzungen mit Washington und aufgrund eines drohen-
den Scheiterns der sozialistischen Wirtschaftspolitik umso notwendiger
erschienen. Helmut Kohl kam in eben jenem Moment auf den französischen
Präsidenten zu, als dieser auf der Suche nach einer Alternative zu transatlanti-
scher Solidarität war, um eine Modernisierung der französischen Wirtschaft vor-
anzutreiben. Gleichwohl gilt es, die deutsch-französischen Solidaritätserfahrun-
gen unter Schmidt nicht zu gering zu veranschlagen. Die Vertrautheit, die sich
zwischen Bundeskanzler und Präsident entwickelt hatte, musste unter Kohl zwar
neu generiert werden. Sie stellte aber letztlich eine Grundlage dar, auf der die
deutsch-französischen Beziehungen unter Schmidts Nachfolger anknüpfen
konnten.
Im Vorfeld des deutsch-französischen Gipfels im Februar 1982 analysierte das
Secrétariat Général de la Défense Nationale (SGDN) die innenpolitische Situation
von Bundeskanzler Helmut Schmidt. Detailliert wurden dem Elysée die Probleme
Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Staatspräsident Mitterrand in Brüssel, 29. Juni
1982. In: AAPD 1982, Dok. 196, S. 1039.
Luhmann, Vertrauen, S. 22 f.
Loth, Europas Einigung, S. 254.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 177
des Kanzlers dargelegt: Zwar wurde erwartet, dass sich die Regierungskoalition
nach Schmidts gewonnener Vertrauensfrage am 5. Februar trotz erheblicher
Brüche in der Allianz Schmidt/Genscher noch bis Ende des Jahres 1982 werde
halten können. Dennoch wurden verschiedene Zukünfte imaginiert, um auf jed-
wede mögliche Entwicklung vorbereitet zu sein. Von einem Fortbestehen der so-
zialliberalen Koalition versprach sich das SGDN eine Stärkung der europäischen
und deutsch-französischen Kooperation. Andernfalls hielt man eine christde-
mokratisch geführte Regierung für den wahrscheinlichsten Fall. Es wurde vor-
geschlagen, frühzeitig die Fühler nach einem potentiellen Nachfolger Schmidts
auszustrecken: Dem Parteichef der Christdemokraten Helmut Kohl wurde unter-
stellt, sich bereits darauf vorzubereiten. Die politische Haltung der CDU wurde
analysiert und als atlantisch, europäisch und antisowjetisch charakterisiert,
wodurch sich immerhin das Risiko einer nach Osten abgleitenden BRD mini-
mieren könnte. Insgesamt wurde die politische Ausrichtung der Christdemokra-
ten als „favorable, attentive et très coopérative à notre égard“ beschrieben und
offenbar als Chance für „la recherche d’une ‚unité européenne‘ concernant no-
tamment le domaine de la sécurité“ wahrgenommen.⁴¹ Abgesehen von Mitter-
rands zuvor erwähnten Bedenken hinsichtlich eines Regierungswechsels in Bonn
gab es andere Mitglieder innerhalb der französischen Administration, die die
Haltung der CDU und ihres Parteivorsitzenden als Chance für die Umsetzung ei-
gener Zielvorstellungen sahen. Dies deutet an, dass Prozesse von Vertrauensbil-
dung immer auch eine individuelle Dimension enthalten und daher niemals
eindimensional beschrieben werden können. Was bei Diplomaten im Quai d’Or-
say oder Funktionären in SGDN als gute Voraussetzungen für eine künftige Zu-
sammenarbeit bewertet wurde, musste von François Mitterrand oder seinen Be-
ratern keineswegs in gleicher Weise beurteilt werden.
Die enge Zusammenarbeit von Quai d’Orsay und Elysée zeigte sich, als
Cheyssons Berater Daniel Bernard Hubert Védrine nach den Stimmverlusten der
SPD bei den Wahlen in Hamburg am 6. Juni nahelegte, Helmut Kohl künftig mehr
Beachtung zu schenken.⁴² Mit seiner Empfehlung bezog er sich auf Denys Gauer
aus der Europaabteilung des Außenministeriums, der angesichts der Wahlen eine
Rückkehr der CDU an die Bundesregierung 1984 für sehr wahrscheinlich hielt. Die
zunehmende Zerrissenheit der sozialliberalen Koalition ließ einen Bruch immer
wahrscheinlicher werden. Außerdem interpretierte Gauer den Stimmenverlust als
am 21. und 22. Oktober 1982 wollte Morel daher dazu nutzen, eine deutsch-fran-
zösische Übereinkunft in den Gemeinschaftsfragen der nächsten zwei Jahre zu
erzielen. Im Vorfeld des ersten Gesprächs zwischen Mitterrand und Kohl machte
Pierre Morel darauf aufmerksam, dass Frankreich 1984 selbst die europäische
Ratspräsidentschaft übernehme. Er schöpfte aus Erfahrungswissen, dass es zu
einem Erfolg in europapolitischen Fragen stets ein deutsch-französisches Ein-
verständnis brauchte. Daher schlug er dem Präsidenten vor, zentrale deutsch-
französische und europäische Fragen zum Hauptthema des Gesprächs zu ma-
chen. Tatsächlich plädierte Morel für Transparenz und Offenheit, indem sowohl
die kritischen Fragen als auch die eigenen Erwartungen unverblümt auf den Tisch
gelegt würden. So empfahl Morel, das deutsch-französische Handelsgleichge-
wicht und die Frage des britischen Beitrags anzusprechen. Kompromissbereit-
schaft in der Beitrittsfrage von Spanien und Portugal verknüpfte er mit der For-
derung, dass Bonn dafür finanzielle, landwirtschaftliche und kommerzielle
Gegenleistungen akzeptieren müsse.⁴⁷ Um sich fachlich vorzubereiten, hatte
Mitterrand bei seinem Berater Morel Informationen darüber angefordert, welchen
Nutzen die Bundesrepublik aus der EG für ihre Industrie und Landwirtschaft zog.
Dieser kam zu dem Schluss, dass das wirtschaftliche Wachstum der BRD direkt
mit der EG zusammenhing, da der Großteil ihrer kommerziellen Überschüsse in
Europa und insbesondere in Frankreich erwirtschaftet würde und die Gemein-
same Agrarpolitik die deutsche Landwirtschaft transformiert habe.⁴⁸
Die Berater Hubert Védrine und Elisabeth Guigou sahen den außerplanmä-
ßigen Besuch von Kohl und Genscher am Abend der neuen Regierungsbildung als
ein Signal der Kontinuität in den deutsch-französischen Beziehungen. Sie
schlugen dem Präsidenten vor, der Übereinkunft vom deutsch-französischen
Gipfel im Februar 1982 einen neuen Impuls zu geben: Eine Zusammenkunft der
deutschen und französischen Außen- und Verteidigungsminister war da zwar
beschlossen aber bisher nicht in die Tat umgesetzt worden. Védrine und Guigou
sahen das Treffen mit Kohl als Gelegenheit, den neuen Bundeskanzler auf ein
Festhalten an dieser Entscheidung zu verpflichten und zudem angesichts wirt-
schaftlicher Fragen auf ein Treffen von Wirtschafts- und Finanzminister Jacques
Delors mit seinem deutschen Amtskollegen im Vorfeld des nächsten Gipfeltref-
fens zu dringen.⁴⁹ In dem Gespräch zwischen Mitterrand und Kohl war es dann
allerdings gar nicht notwendig, den deutschen Bundeskanzler von einem Treffen
der Außen- und Verteidigungsminister zu überzeugen, da dieser das Thema von
sich aus ansprach. Auf diese Weise wurde ein Termin im Vorfeld des nächsten
deutsch-französischen Gipfels für den 20. und 21. Oktober vereinbart.⁵⁰ Helmut
Kohl erleichterte dem französischen Präsidenten den Einstieg in eine künftige
Zusammenarbeit: Schon der schnelle Besuch außerhalb des Protokolls war ein
symbolischer Akt der Vertrauensbildung, der den Stellenwert, den die neue Re-
gierung den deutsch-französischen Beziehungen einräumte, unterstreichen soll-
te. Auf zwei Ebenen – einer inhaltlichen sowie einer methodischen – versuchte
der Bundeskanzler, Bindungen zu François Mitterrand zu knüpfen. Hinsichtlich
der politischen Vorstellungen waren drei Bekenntnisse des neuen Bundeskanzlers
als gezielte Maßnahmen der Vertrauensbildung entscheidend: Zum einen be-
kräftigte er, dass seine Regierung am NATO-Doppelbeschluss festhalten würde
und reagierte damit auf konstante Sorgen in französischen Regierungs- und Di-
plomatenkreisen vor einem Abgleiten der Bundesrepublik nach Osten.⁵¹ Diesem
persönlichen Bekenntnis verlieh er umso größeren Nachdruck und Verbindlich-
keit, als er dies auch in der Öffentlichkeit wiederholte. Anlässlich der Feierlich-
keiten zum fünfundzwanzigsten Jubiläum des Elysée-Vertrags versprach er seine
Treue zum westlichen Bündnis.⁵² Zum anderen pflichtete Kohl der französischen
Argumentation bei, die französischen Atomstreitkräfte nicht in die Genfer Ver-
handlungen zu integrieren.⁵³ Diese Zusage war darauf gerichtet, Solidarität in
einer Frage zu signalisieren, in der sich der französische Präsident einem stei-
genden Druck ausgesetzt sah. Drittens signalisierte Helmut Kohl unmittelbar zum
Gesprächseinstieg nicht nur seinen Wunsch nach Kontinuität in den deutsch-
französischen Beziehungen,⁵⁴ sondern stellte diese darüber hinaus in einen de-
zidiert europäischen Kontext, indem er seine Überzeugung bekundete, dass Eu-
ropa „nur in der Gemeinsamkeit zwischen Deutschland und Frankreich […] eine
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 4. Oktober 1982.
In: AAPD 1982, Dok. 254, S. 1331.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 4. Oktober 1982.
In: AAPD 1982, Dok. 254, S. 1331.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 4. Oktober 1982.
In: AAPD 1982, Dok. 254, S. 1331.
Kohl, Erinnerungen, S. 36.
182 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
zeichnen, das letzterer als „Glücksfall für unsere beiden Völker“ charakterisiert
hat.⁵⁹ Allerdings wäre diese Erklärung alleine für komplexe Mechanismen und
langwierige Prozesse von Vertrauensbildung zu simpel. Daher schuf diese erste
Amtsbegegnung zwischen Mitterrand und Kohl insofern zwar einen guten Ein-
stieg, als es eine grundlegende Vertrautheit begründete. Für ein nachhaltiges
Vertrauensverhältnis bedurfte es allerdings vor allem wechselseitiger Solidari-
tätserfahrungen.
Quai d’Orsay und Elysée entwickelten ein Methodensystem, um in der Zeit
nach diesem ersten Kennenlernen einen Prozess der wechselseitigen Vertrau-
ensbildung anzustoßen. Am 31. Januar 1983 fand unter dem Vorsitz von Bertrand
Dufourcq, dem Leiter der Europaabteilung des Außenministeriums, das Treffen
der neu ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe Image de la France en Allemagne statt.
Ihre Aufgabe war es, das Bild Frankreichs in Deutschland zu analysieren und
Fragen und Kritik aufzunehmen, die über die französische Politik in der deut-
schen Öffentlichkeit kursierten. Einen Zugang für diese Untersuchungen ver-
sprach sich die Gruppe insbesondere über Pressedienste der Botschaften, deut-
sche Korrespondenten in Paris, sowie über Studien und Umfragen über die Kritik
an der französischen Wirtschaftsausrichtung in der deutschen Presse.⁶⁰ Auf diese
Art und Weise wurde versucht, Empathie als diplomatische Strategie in einer
Arbeitsgruppe zu institutionalisieren. Die Analyse von Kritikpunkten sollte eine
Harmonisierung der Beziehungen erleichtern, indem sie zur Grundlage gezielter
Vertrauensbildung gemacht wurde. Am 15. März 1983 traf sich die Gruppe ein
weiteres Mal. Nachdem zuvor die Analyse im Zentrum gestanden hatte, wurden
anschließend konkrete Maßnahmen von den Erkenntnissen abgeleitet. Auf ihnen
gründete eine Argumentation in den Bereichen Wirtschaft und Sicherheit, die auf
die deutsche Kritik reagierte. Die Analysen ergaben, dass vor allem bei den
deutschen Korrespondenten in Paris ein kritisches Frankreichbild verbreitet sei,
da ihnen selten der Kontakt zu ranghohen französischen Politikern gewährt
würde. Um dem entgegenzuwirken, sollte Jacques Delors der Vorschlag unter-
breitet werden, sich persönlich mit betroffenen Journalisten zu treffen. Als zweite
Maßnahme wurden Interviews von einigen Ministern in der deutschen Presse in
Betracht gezogen.⁶¹ Hierin manifestiert sich das Bewusstsein, dass nachhaltiges
und vor allem politisch nutzbares Vertrauen nicht auf die Staats- und Regie-
rungschefs alleine begrenzt bleiben durfte, sondern die Bekämpfung von sehr viel
AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Centre d’Analyse et de Prévision, Michel Duclos, Note, Allemagne:
l’avis de trois experts (J. Rovan, B. Spinelli, J. Dumoulin), 16. März 1983.
184 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
Botschafter Herbst, Paris, an das Auswärtige Amt, 16. Oktober 1982. In: AAPD 1982, Dok. 275,
S. 1427 f.
Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 22. Oktober 1982. In: AAPD 1982, Dok. 284,
S. 1484 f.
Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 22. Oktober 1982. In: AAPD 1982, Dok. 284,
S. 1486.
Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 22. Oktober 1982. In: AAPD 19822, Dok. 284,
S. 1487.
Siehe u. a. AN, AG/5(4)/CD/160, Président de la République, François Mitterrand à Son Ex-
cellence Monsieur Helmut Schmidt, Chancelier de la République Fédérale d’Allemagne, 13. Januar
1982; AN, AG/5(4)/CD/160, Bundesrepublik Deutschland, Der Bundeskanzler an Seine Exzellenz,
den Staatspräsidenten der Französischen Republik, François Mitterrand, 4. Februar 1982; Loth,
Europas Einigung, S. 248.
186 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
könnten auch schon am 29. April von General Lacaze oder Andréani selbst dar-
gelegt werden. Hinsichtlich der taktischen Nuklearwaffen empfahl der politische
Direktor keine grundsätzlich abgeneigte, sondern eher unverbindliche Haltung.
Er nahm an, dass die Umstrukturierung der französischen Streitkräfte den deut-
schen Erwartungen soweit entgegenkamen, dass sie die französische Konzeption
über den Gebrauch taktischer Nuklearwaffen akzeptieren würden.⁷⁴ Das neue
Militärprogramm sollte also einen doppelten Zweck erfüllen: Erstens richtete es
sich darauf, deutschen Erwartungen nach einem gesteigerten französischen En-
gagement in der Verteidigung der BRD und des europäischen Kontinents entge-
genzukommen. Diese Demonstration hatte die Bildung von Vertrauen zum poli-
tischen Ziel. Indem man diese Forderungen befriedigte, sollte zweitens der
französische Handlungsspielraum im nuklearen Bereich gewahrt bleiben, um die
Entscheidungsautonomie nicht anzutasten und Konflikte mit den Partnern zu
vermeiden.
Aus Sicht von Hubert Védrine barg der anstehende Meinungsaustausch über
Sicherheits- und Verteidigungsfragen große Schwierigkeiten: Die deutschen Fra-
gen könnten einerseits nicht unbeantwortet bleiben, stünden aber andererseits
der Tatsache entgegen, dass sich der Gebrauch der französischen Nuklearwaffen
jedweder Form von Abstimmung entziehen würden. Der Bundeskanzler habe dies
zwar grundsätzlich akzeptiert, gleichwohl gelte dies nicht für andere Vertreter der
deutschen Administration. Védrine schlug deshalb vor, die Gespräche in den
konventionellen Bereich zu verlagern, um einer Einschränkung der französischen
Entscheidungsautonomie vorzubeugen und die deutschen Partner durch das
Aufzeigen von Grenzen nicht zu verärgern.⁷⁵ Die französische Solidarität stieß an
ihre Grenzen, sobald die französischen Nuklearwaffen davon betroffen waren. Der
Austausch in Sicherheits- und Verteidigungsfragen setzte die équipe Mitterrand
also einem Dilemma aus. Er diente zwar dazu, durch die Bereitschaft zur Ko-
operation in der BRD ein Solidaritäts- und Sicherheitsempfinden zu fördern.
Gleichzeitig barg er das Risiko von Frustration und Konflikt, da es nach wie vor
Fragen gab, in denen die équipe Mitterrand nur eingeschränkt zu Gesprächen
bereit war. Aufgrund dieses Drahtseilaktes, machte Védrine sich dafür stark, dass
der Präsident vor dem Treffen der Außen- und Verteidigungsminister exakte
AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Le Directeur des Affaires Politiques, Jacques Andréani, Note pour le
Ministre, Echanges de vues franco-allemands sur les questions de défense et de sécurité, 18. April
1983.
AN, AG/5(4)/CD/161, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, Echanges de vue franco-allemands sur la défense et la
sécurité, 25. April 1983.
188 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
Konturen einer Abstimmung mit Cheysson und Hernu festlegen sollte. Am 16. Mai
bestünde dann für Mitterrand und Kohl die Möglichkeit, nach den Berichten der
Minister Bilanz über die ersten Monate der Gespräche zu ziehen.⁷⁶
Bevor der deutsch-französische Meinungsaustausch über Sicherheit und
Verteidigung stattfand, versuchte Michel Duclos aus dem CAP über den Staats-
minister im Auswärtigen Amt, Alois Mertes, vorzufühlen, wie die Schaffung der
Force d’Action Rapide in Bonn aufgenommen wurde. Grundsätzlich wurde die FAR
auf deutscher Seite als Fortschritt der französischen Kapazität konventioneller
Verteidigung in Europa und der BRD wahrgenommen. Dennoch diagnostizierte
Duclos auch Vorbehalte, da die deutschen Partner vor der Annahme des Gesetzes
nicht ins Vertrauen gezogen worden waren. Außerdem stieß er auf Skepsis und
Zweifel an der operativen und finanziellen Kapazität der FAR. Für die Fortsetzung
des Dialogs empfahl Duclos wie Védrine, nukleare Fragen auszuklammern und
sich auf den konventionellen Bereich zu konzentrieren, indem man beispiels-
weise die Modalitäten für einen Einsatz der FAR klärte.⁷⁷ Es ist ein weiteres Indiz
dafür, dass die Umstrukturierung der französischen Armee im Frühjahr 1983 zwar
vordringlich der Vertrauensbildung in die verteidigungspolitische Solidarität
Frankreichs diente, um neutralistischen Tendenzen entgegenzuwirken. Aller-
dings wurde die Kapazität der konventionellen Verteidigung wohl auch deshalb
erhöht, um Fragen nach dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen die Grundlage zu
entziehen.
Vollständig ging dieses Kalkül indessen nicht auf. Bei dem Zusammentreffen
der deutschen Kommission für Sicherheit und Verteidigung am 29. April 1983
machte Adréani deutlich, dass die Abschreckung der NATO und jene Frankreichs
nicht fusioniert werden könnten. Als der deutsche General Wolfgang Altenburg
eine Vorwarnung im Falle eines Einsatzes von taktischen Nuklearwaffen auf
deutschem Territorium explizit ansprach, erteilte sein französischer Kollege
Lacaze dem eine deutliche Absage. Fragen im Zusammenhang mit einem nuklear
geführten Kampf machten jedwede Vorabstimmung inakzeptabel. Stattdessen
wurde noch einmal die Bedeutung der FAR hervorgehoben, die einen erheblichen
Beitrag zur Verunsicherung eines Gegners leiste, da ihr Einsatz schnell durch-
führbar sei und keinerlei Verteidigungsmittel (auch keine nuklearen) a priori
ausschließe.⁷⁸ Denis Delbourg erkannte aber trotz dieser heiklen Fragen keinerlei
Anzeichen dafür, dass ein Risiko für ein Abgleiten des Gesprächsprozesses be-
stünde. Ganz im Gegenteil bemerkte er ein wachsendes Vertrauensklima.⁷⁹ Waren
aus dem französischen Dilemma, der deutschen Seite etwas anbieten zu wollen
und ihr gleichzeitig nicht das liefern zu können, was sie erhoffte, keine deutsch-
französischen Konflikte erwachsen, so ergaben sich doch Schwierigkeiten an
anderer Front. Der Quai d’Orsay war keineswegs blind für die Kritik, die die
deutsch-französische Kooperation im militärischen Bereich in Ländern des Ost-
blocks auslöste, sowie Irritationen bei Partnern der Atlantischen Allianz.⁸⁰
Insgesamt lässt sich feststellen, dass mit dem Amtsantritt von Helmut Kohl,
die Kooperation in militärischen Fragen an Fahrt aufnahm. Interesse dazu be-
stand auf französischer Seite bereits seit 1981 und unter Helmut Schmidt waren
mit der Entscheidung zu Gesprächen der Außen- und Verteidigungsminister
wichtige Voraussetzungen geschaffen worden, die allerdings erst unter seinem
Nachfolger eine tatsächliche Umsetzung erfuhren. Die Intensivierung des Mei-
nungsaustauschs entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einer stetig enger
werdenden Kooperation, die in den folgenden Kapiteln weiteren Untersuchungen
unterzogen wird. Der Meinungsaustausch und die Umstellung der französischen
Armee zur Bekundung verteidigungspolitischer Solidarität mit der BRD fanden
auch einen symbolischen Ausdruck, als François Mitterrand den deutschen
Bundespräsidenten Carstens am 5. Januar 1983 dazu einlud, die in der BRD sta-
tionierten französischen Streitkräfte zu besuchen.⁸¹ Den Besuch, der am 30. Mai
1983 stattfand, stilisierte der französische Präsident als Symbol einer „profonde
solidarité qui lie nos deux nations.“⁸²
Als Zeichen der Solidarität haben Zeitgenossen und Historiker auch die Rede
des französischen Präsidenten vor dem Deutschen Bundestag am 20. Januar 1983
anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums des Elysée-Vertrags interpretiert. Vor-
wiegend wurde sie bisher allerdings als Plädoyer für die Umsetzung des NATO-
AN, AG/5(4)/6523, handschriftliche Notiz „copies – Gl Saulnier Ch. Hernu“ auf einer Seite mit
dem Titel „2/Défense, sécurité, solidarité.“
AN, AG/5(4)/6523, Présidence de la République, Le Secrétaire Général Adjoint, Ch. Sautter,
19. Januar 1983.
AN, AG/5(4)/6523, Sous-dossier „Texte de Jacques Delors“, Quelques thèmes européens pour
le discours du Président de la République devant le Bundestag (en dehors des développement
concernant les relations bilatérales entre la RFA et la France).
AN, AG/5(4)/6523, Sous-dossier „Texte initial Cabinet I. Défense, sécurité, solidarité II. Com-
munauté“: Auf der ersten Seite „Défense, sécurité, solidarité“ findet sich die handschriftliche
Notiz: „Partie remise au Président par J.L. Bianco à 17 h 15. Le Président travaille actuellement sur
ce projet.“.
Siehe Attali, Verbatim 1981– 1986, 20. Januar 1983, S. 456; Kohl, Erinnerungen, S. 104.
Kohl, Erinnerungen, S. 104.
Vgl. dazu unter theoretischen Gesichtspunkten Jureit, Erfahrungsaufschichtung.
192 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
Krise der EG. Die Lösung dieser Probleme wird dann zur Voraussetzung für den
dritten thematischen Teil, in dem er die Zukunft Europas beziehungsweise seine
Vision eines neuen Europas entwirft, die geradezu als Lösungsansatz für die
gegenwärtigen Probleme erscheint.
Methodisch bediente sich François Mitterrand einer Gefühlspolitik auf ver-
schiedenen Ebenen: Eine Dimension umfasste Vertrauensbildung gegenüber
seinem Publikum, indem er erstens seine Treue zur Atlantischen Allianz versi-
cherte,¹⁰¹ und immer wieder unter der Verwendung rhetorischer Strategien –
insbesondere die häufige Verwendung des Begriffs „Solidarität“¹⁰² – die Solida-
rität zwischen Deutschland und Frankreich oder zwischen den Europäern be-
schwor. Zweitens versuchte er, durch Formulierung wie „meine deutschen
Freunde“¹⁰³ oder „Ihrem ganzen Volk, dem großen, edlen und mutigen Volk, das
wir Franzosen kennengelernt haben“¹⁰⁴ Vertraulichkeit zu suggerieren und damit
bei seinem Publikum auch zu evozieren. Drittens diente das Einflechten per-
sönlicher Erinnerungen wie beispielsweise seine Teilnahme bei dem Europäi-
schen Kongress in Den Haag dazu, die Distanz zu seinem Publikum zu über-
winden und die Glaubwürdigkeit seiner Argumente und Vertrauenswürdigkeit
seiner Person unter Beweis zu stellen.¹⁰⁵ Eine weitere Dimension seiner Ge-
fühlspolitik umfasste das Evozieren negativer Gefühle: Dazu diente die Verwen-
dung einer stark emotionalisierten Sprache („Meine Damen und Herren unsere
Völker hassen den Krieg, unter dem sie und die anderen Völker Europas so viel
gelitten haben.“¹⁰⁶ Hervorhebung durch die Autorin F.S.). Sie richtete sich darauf,
zunächst diese negativen Gefühle zu assoziieren, um sie anschließend zu kana-
lisieren und Befürworter für seine Vorstellungen zum Kräftegleichgewicht zu re-
krutieren. Eine weitere Strategie machte eine ungewisse Zukunft zur Grundlage
seiner Gefühlspolitik: Rhetorisch entwarf er ein düsteres Zukunftsszenario, in
dem Gesellschaften „Zersplitterung und Brüche“ drohen, die „an die Auflö-
sungserscheinungen erinnern, die in den dreißiger Jahren in unseren Ländern
auftraten.“¹⁰⁷ Er malte die „Angst vor der Arbeitslosigkeit“ oder „Sorgen um […
Vgl. Mitterrand, François: Rede vor dem Deutschen Bundestag am 20. Januar 1983. In:
Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht 142. Sitzung. S. 8987.
Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8986 f., 8989 f.
Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8991.
Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8991.
Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8991; vgl. hierzu auch: Saunier, „J’y étais, j’y
croyais“, S. 386.
Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8987.
Mitterrand, Bundestagsrede, 20. Januar 1983, S. 8989.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 195
die] eigene Zukunft“ an die Wand.¹⁰⁸ Die Schreckensszenarien, durch die er eine
ungewisse Zukunft als gewisse Folge falscher Entscheidungen in der Gegenwart
inszenierte, ließen den Ausweg, den er seinem Publikum im Anschluss anbot, als
einzige alternative Zukunft erscheinen: „die europäische Dimension“ als einzige
Möglichkeit, Europa noch aus der Krise zu führen. Seine Alternative war die von
Morel empfohlene und von den Zeitgenossen wenig beachtete Groß-Initiative für
Europa auf der Grundlage von Solidarität in verschiedenen Bereichen: Die
Schaffung eines „neue[n] Europa der Industrie“, „finanzielle Solidarität“, Zu-
wendung einer „sozialen Dimension“ in Europa.¹⁰⁹ Kurz: Ein Europa mit der
Perspektive „auf allen Gebieten eines Tages frei zu werden von äußeren Bedro-
hungen“ und in der Lage „sich selbst in die Hand zu nehmen.“¹¹⁰ François Mitt-
errand stellte als Ziel all dieser europäischen Initiativen nichts Geringeres als eine
europäische Unabhängigkeit in Aussicht.
Ein regelrechter Ausbruch seiner eigenen Gefühle und der Ausdruck von
Empathie mit antizipierten Gefühlen der Deutschen am Ende der Rede sollte nicht
nur die Bindungen zu seinem Publikum festigen. Vielmehr wollte er durch die
Kommunikation eigener Emotionen bei seinen Zuhörern eben diese Gefühle als
starkes Bindeelement in Bezug auf eine durch und durch europäische Zukunft
hervorrufen: Sie selbst sollten das Verbundenheitsgefühl zu Europa empfinden,
das Mitterrand mit gefühlvollen Deduktionen inszenierte:
Wie soll ich in Worte fassen, was ich, ohne daß es Worte dafür gäbe, in meinem tiefsten
Inneren empfinde und was ich dennoch versuchen muß, zum Ausdruck zu bringen.¹¹¹
Damit will ich verdeutlichen, wie sehr, was ich sage, eigenes Erleben ist, was ich vor dem
Deutschen Bundestag zum Ausdruck bringe, von mir selbst empfunden wird.¹¹²
[…] spüre ich tief in mir selbst, welches die Empfindungen der in der Teilung lebenden
Deutschen sein können. Weil ich ein verwüstetes Europa erlebt habe, spüre ich, welche
Empfindungen die auseinandergerissenen Völker haben können, und ich meine, daß es auf
alle diese Fragen keine andere Antwort gibt: Nicht durch Trennung, nicht durch Sehnsucht,
nicht durch einen sich leicht verschlimmernden Nationalismus, nicht durch Isolierung und
nicht durch Fehleinschätzungen werden wir diese Wege finden, die den von uns vertretenden
Völkern Nutzen bringen, sondern in der Einheit, der Gemeinschaft, der Freundschaft und
dem Verständnis.¹¹³
Die französische Presse interpretierte die Rede als „un ralliement à l’option zéro
de Reagan“¹¹⁴ und der amerikanische Präsident legte sie als Dienst an der At-
lantischen Gemeinschaft aus. Er ließ Mitterrand seine bewundernden Glück-
wünsche zukommen und schrieb: „Your address represents an important con-
tribution to our mutual efforts to strengthen western security and the need, as you
put it, for ‚solidarity and determination’ as the necessary basis for arms control
progress.“¹¹⁵. Dabei ignorierte er beharrlich Mitterrands erklärte Absicht, die
französische militärische und diplomatische Unabhängigkeit zu wahren. Die
zeitgenössischen Interpretationen verweisen darauf, wie an die Rede herange-
tragene Erwartungen ihre Wahrnehmung beeinflussten. Helmut Kohl hatte anders
als der amerikanische Präsident – zumindest in der Retrospektive – begriffen,
dass „Fragen der Sicherheit und der Zukunftsperspektiven der Europäischen
Gemeinschaft […] im Mittelpunkt seiner Rede [standen]“¹¹⁶. Obwohl Jean-Philippe
Baulon der zeitgenössischen Interpretation eines „allignement sur la position
américaine“ widerspricht und die Rede für komplexer hielt als ein atlantisches
Glaubensbekenntnis, rückte er sie doch primär in die Perspektive einer Unter-
stützung Kohls in der Frage um die Euroraketen.¹¹⁷
Insgesamt gilt es festzuhalten, dass die Bedeutung von Mitterrands Rede im
Deutschen Bundestag bisher durch Zeitgenossen wie Historiker völlig verkannt
wurde, da sie weniger ein Beitrag zu den zeitgenössischen Diskursen um die
Mittelstreckenraketen war. Vielmehr entwarf sie eine Vision für ein „Europa von
Morgen“, eine große Initiative also, die Mitterrands Berater Pierre Morel als not-
wendige Antwort auf die schwierige Situation der BRD vorgeschlagen hatte.¹¹⁸
Alles in Allem bedarf die Rede von François Mitterrand im Deutschen Bundestag
daher einer grundlegenden Neubewertung. Zwar hat Hélène Miard-Delacroix
bereits auf ihre starke europäische Ausrichtung verwiesen.¹¹⁹ Dieser Gedanke
wurde allerdings bisher nicht weit genug entwickelt, um der Bedeutung der Rede
hinreichend gerecht zu werden. Sie muss noch viel stärker als ein Versuch gese-
hen werden, der Bundesrepublik (der Regierung, den Abgeordneten, sowie der
deutschen Öffentlichkeit) ein Zukunftsangebot zu machen. Zwar lieferte Mitter-
Favier/Martin-Roland, Ruptures, S. 229; vgl. außerdem: Dumas, Affaires étrangères, S. 162 f.
AN, AG/5(4)/6523, From White House to the Elysée Palace, his Excellency François Mitter-
rand, President of the French Republic, Paris, via blue Channels, 26. Januar 1983.
Kohl, Erinnerungen, S. 106.
Baulon, Risque, S. 178, 181.
AN, AG/5(4)/6523, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel, Note
pour Jean-Louis Bianco, Discours au Bundestag: Nécessité et modalités d’une grande initiative,
17. Januar 1983.
Miard-Delacroix, Kontinuität, S. 552.
3.1 Deutsch-französische Vertrauensbildung 197
rand lediglich vage Ideen für eine künftige Orientierung Europas. Im Zusam-
menhang mit der Empfehlung von Pierre Morel, der die Entwicklungen in
Deutschland mit Sorge beobachtete, erscheint diese Rede jedoch als Ausgangs-
punkt einer Groß-Initiative für Europa. Sie sollte gewissermaßen das Fundament
für ein stärkeres Verbundenheitsgefühl der BRD zu Frankreich und zu Europa
schaffen. Konkrete Vorschläge waren auch gar nicht beabsichtigt, da zunächst der
Boden für künftige Initiativen bereitet werden sollte: In der Hochphase der Eu-
roraketenkrise und der sowjetischen Offensive auf die westeuropäische insbe-
sondere die bundesdeutsche Öffentlichkeit, machte Mitterrand ein Angebot für
eine alternative Zukunft, indem er eine Vision erzeugte und Gefühle evozierte, die
diese Überzeugung festigen sollten. Er bot ihnen gewissermaßen einen Ausweg
aus den aktuellen Spannungen an, indem er ihre gegenwärtigen Sorgen in ein
stärkeres europäisches Engagement zu kanalisieren versuchte. Durch das Evo-
zieren von Gefühlen wollte er Unterstützter für seine Zukunftsvision von Europa
gewinnen. Mit diesen Erkenntnissen sollen die bisherigen Ergebnisse der For-
schung weniger negiert als ergänzt werden. Baulon hatte keineswegs Unrecht, die
Rede auch als Unterstützung für die Haltung der von Kohl geführten Bundesre-
gierung zu interpretieren.¹²⁰ Diese Erfahrung von Solidarität dürfte bei ihr auch
die Bereitschaft gestärkt haben, dem französischen Partner in einem krisenhaften
Moment beizustehen und Unterstützung zu gewähren.
Eine Gelegenheit dazu erhielt sie im Frühjahr 1983. Trotz zweimaliger Ab-
wertungen des Franc im Oktober 1981 und Juni 1982 und einer Rückkehr zur
Sparpolitik im Juni 1982 fand die französische Währung nicht zu neuer Stabilität.
Die Periode zwischen Sommer 1982 und März 1983 war von einer Unsicherheit und
schwankenden Währung gekennzeichnet.¹²¹ Der Druck, das Europäische Wäh-
rungssystem (EWS) zu verlassen oder dies durch eine nochmalige Abwertung zu
vermeiden, wuchs im Frühjahr 1983. In den Erinnerungen zahlreicher zeitgenös-
sischer beteiligter Akteure erscheint die Diskussion als eine Debatte zwischen
zwei Lagern. Befürworter einer neuen Abwertung in Verbindung mit Sparmaß-
nahmen standen jenen gegenüber, die ein Verlassen des EWS präferierten und auf
nationale Maßnahmen zur Gesundung der Wirtschaft setzten.¹²² Dass zwischen
diesen beiden Lagern keine eindeutige Linie verlief zeigt schon, dass beispiels-
weise Pierre Bérégovoy, einst Generalsekretär des Elysée und seit 1982 Minister für
soziale Fragen, ein kurzweiliges Ausscheiden aus dem EWS befürwortete. Kom-
biniert mit internen Sparmaßnahmen sollte dies ermöglichen, mit einer gestärk-
ten industriellen Wettbewerbsfähigkeit zurückzukehren.¹²³ In den Darstellungen
der Zeitgenossen hat es zudem den Anschein, dass François Mitterrand regel-
mäßig Argumenten von Gegnern und Befürwortern für den Verbleib im EWS zu-
hörte und bis zum letzten Moment nicht eindeutig Stellung bezog, zu welcher
Lösung er selbst tendierte. Dieser Eindruck eines Kampfes zwischen zwei Lagern
wurde bereits durch Jean-Charles Asselains Beobachtung relativiert, dass die
Linie ab März 1983 entgegen einer Dramatisierung der Debatte über ein Verlassen
des EWS eher einer Synthese geglichen habe.¹²⁴
Plausibler als Mitterrands Zögern als Unentschlossenheit zu deuten, ist es,
dieses als Teil der Strategie zu begreifen. Roland Dumas berichtet, dass die
französische Regierung für eine erneute Abwertung des Franc die Zustimmung
der europäischen Partner benötigte und den Deutschen dafür eine größtmögliche
Aufwertung der DM abringen mussten. Nachdem Jacques Delors Gespräche in
Bonn geführt hatte, erschien die deutsche Haltung in dieser Frage nicht besonders
ermutigend.¹²⁵ Helmut Kohl berichtet in seinen Memoiren von einer sehr gehei-
men Initiative von François Mitterrand. Über den Staatssekretär des französischen
Finanzministeriums Michel Camdessus und dessen deutschen Amtskollegen
habe er ein persönliches Schreiben übermittelt, in dem er angedeutet habe, dass
Frankreich vor einer schwerwiegenden Entscheidung stünde, bei der die Rolle
Deutschlands in der Europapolitik und speziell in der Währungsfrage entschei-
dend sei. Ihm (Kohl) sei klar gewesen, dass Mitterrand damit auf eine Verände-
rung des Wechselkurses zur Stabilisierung des Franc zielte.¹²⁶ Entgegen der ein-
helligen Meinung der europäischen Finanzminister und des
Notenbankpräsidenten autorisierte Helmut Kohl Gerhard Stoltenberg, direkt mit
Paris zu verhandeln. Er erteilte seinem Finanzminister „über alle Bedenkenträger
hinweg […] die Weisung, sich für eine Aufwertung der D-Mark einzusetzen“, weil
er es für notwendig hielt, „unseren französischen Nachbarn und ihrem Präsi-
denten in einer schwierigen Lage zu helfen.“¹²⁷ Kohls Erinnerungen stimmen in
seiner Sicht mit den Berichten von Roland Dumas überein.¹²⁸ Jacques Delors
führte in Brüssel äußerst schwierige Verhandlungen, da die französische Seite
sich für eine Abwertung des Franc um 3 und eine Aufwertung der DM um 9
Prozentpunkte einsetzte. Da die übrigen Finanzminister dies hingegen ablehnten,
drohte Delors damit, dass der Präsident sich womöglich zu einem Verlassen des
EWS genötigt sehen könnte.¹²⁹
Die Überlegung, das Europäische Währungssystem zu verlassen, stand al-
lerdings in völligem Gegensatz zu Mitterrands europapolitischen Absichten, die
sich im Zuge der Bundestagsrede bereits andeuteten und die im Verlauf dieses
Kapitels noch weiter herausgearbeitet werden. Erstens argumentiert Asselain,
dass mit einem Austritt aus dem EWS die äußeren Beschränkungen keineswegs
verschwunden wären und eine schwankende Währung kein adäquater Ersatz zur
Sparpolitik sein konnte.¹³⁰ Zweitens hatte Mitterrand langfristig kein Interesse an
einem Signal nationaler Alleingänge und Abschottung, das seinen Initiativen
Richtung einer relance europeenne sicherlich nicht förderlich gewesen wäre. Was
François Mitterrand hingegen dringend brauchte, war eine bessere Verhand-
lungsposition. Da sich die Pariser Regierung eigentlich eher in der Position eines
Bittstellers befand und somit schlecht Bedingungen stellen konnte, diente die
Drohung mit einem Verlassen des EWS, das durch das Zögern des Präsidenten als
glaubhaftes Bedrohungsszenario im Raum stand, dazu, den französischen
Handlungsspielraum gegenüber den europäischen Partnern und insbesondere
der Bundesrepublik zu erhöhen.
Écoutant les uns et les autres, donnant le sentiment qu’il hésitait, laissant penser tour à tour
qu’il penchait pour un bord ou pour l’autre, inquiétant les uns, rassurant les autres, il a
conduit la navire à son bord, évitant les écueils.¹³¹
profilieren versuchte, hätte der Verlust des französischen Partners das Umsetzen
seiner Absichten allemal schwieriger gemacht. Förderlich wirkte sich diese Epi-
sode auch für den Prozess der deutsch-französischen Vertrauensbildung aus.
Nachdem Mitterrand und die französische Regierung in den vergangenen Mo-
naten um die Demonstration verteidigungspolitischer Solidarität bemüht gewe-
sen waren, machten sie nun ihrerseits die Erfahrung von Solidarität in wäh-
rungspolitischen Fragen. Für die deutsch-französische Abstimmung und die
relance européenne der folgenden Monate war dies ein entscheidender Faktor.
Darüber hinaus führte diese Inszenierung aber auch zu der Etablierung eines
wirkmächtigen Narrativs, das die Entscheidung im März 1983 zu einer Entschei-
dung für Europa stilisierte. Mitterrands ehemalige Beraterin Elisabeth Guigou
bezeichnete die Entscheidung als einen historischen Moment, indem Frankreich
„est alors entrée de plain-pied dans l’Europe.“¹³³ Roland Dumas stellt es ebenfalls
so dar, dass dadurch der monetäre Kurs gehalten und das Überleben der Linken
an der Regierung gesichert werden konnte. Damit habe sich Mitterrand definitiv
für Europa und gegen die Abschottung entschieden.¹³⁴ Die Wirkmächtigkeit dieser
nachträglichen Rationalisierung zeigt sich darin, dass auch in der historischen
Forschung dieser Moment als „choix de l’Europe“¹³⁵ oder „tournant communau-
taire de mars 1983“¹³⁶ bezeichnet wird. Es soll an dieser Stelle keineswegs ange-
zweifelt werden, dass der Verbleib Frankreichs im Europäischen Währungssystem
eine zunehmende europapolitische Dynamisierung begünstigte. Allerdings wird
die These aufgestellt, dass die Entscheidung weniger offen war, als es in der öf-
fentlichen Diskussion und Darstellung den Anschein hatte. Vielmehr war das
Zuspitzen der Debatte Teil von Mitterrands Strategie, um seinen Verhandlungs-
partnern vor Augen zu führen, was auf dem Spiel stand. Ohne also ein tatsäch-
liches Ass für die Verhandlungen im Ärmel zu haben, wurde gewissermaßen
durch einen Bluff der Verhandlungsspielraum vergrößert.
Die Untersuchungen dieses Kapitels haben ergeben, dass zwischen François
Mitterrand und Helmut Schmidt ein zaghafter Prozess der Vertrauensbildung
einsetzte, der eher im Bereich der Erwartbarkeit verhaftet blieb und nicht zum
Aufbau von nachhaltigem Vertrauen führte. Er war vor allem durch ein gegen-
seitiges Kennenlernen und durch Lernprozesse der in der Regierungspraxis un-
erfahrenen Sozialisten gekennzeichnet. Mit dem Amtsantritt von Helmut Kohl
konnte an diese Vorleistungen angeknüpft werden. Gleichwohl sind die Erfah-
Guigou, Elisabeth: Une femme au cœur de l’Etat. Entretiens avec Pierre Favier et Michel
Martin-Roland. Paris 2000. S. 58.
Dumas, Affaires étrangères, S. 116, 141.
Asselain, Expérience socialiste, S. 412.
Bossuat, Faire l’Europe, S. 163.
3.2 Vollzug der Nachrüstung und die Wahrung französischer Unabhängigkeit 201
rungen der ersten Amtsjahre als historische Dimension jenes Vertrauens von
Bedeutung, das sich auf individueller Ebene zwischen einzelnen deutschen und
französischen Akteuren zu entwickeln begann. Der Koalitionswechsel in Bonn fiel
mit dem Moment höchster Frustration in den französisch-amerikanischen Be-
ziehungen zusammen.¹³⁷ Da Mitterrand sich nach den Erfahrungen der ersten
anderthalb Jahre nach neuen Partnern für die Modernisierung der französischen
Wirtschaft umsah, entwickelte sich eine Interessenkongruenz zwischen Mitter-
rand und Kohl, die zu einer Entfaltung neuer Dynamik in den deutsch-französi-
schen Beziehungen mit europapolitischer Perspektive beitrug. Dennoch wäre es
unterkomplex von deutsch-französischem Vertrauen im Allgemeinen zu spre-
chen; vielmehr muss bei der Untersuchung von individuellem Vertrauen der
Komplexität von Akteursgeflechten Rechnung getragen werden. Es darf nicht die
Illusion eines konstanten und bei allen Akteuren gleichermaßen ausgeprägten
Vertrauens entstehen. Ihre Bildungsprozesse sind auch keineswegs linear, viel-
mehr mehrdimensional und verzeichnen unterschiedliche Geschwindigkeiten in
Hinblick auf verschiedene Personenkreise oder der betreffenden politischen
Fragen.
eine Teilaufstellung westlicher Raketen sowie eine partielle Reduzierung der so-
wjetischen SS-20 vorsah. Er ging davon aus, dass die sowjetische Führung dies
ablehnen würde.¹⁴⁰ Eine Kompromisslösung wäre für den französischen Präsi-
denten zwar wünschenswert, dennoch setzte er nicht alles auf diese eine Karte.
Für den Fall, dass es zu keiner Einigung in Genf kommen würde, musste sicher-
gestellt werden, dass die Umsetzung des Nachrüstungsbeschlusses nicht am
Widerstand der bundesdeutschen Öffentlichkeit und letztlich an einem negativen
Votum der deutschen Bundestagsabgeordneten scheiterte. Da es offiziell den
Status französischer Unabhängigkeit zu wahren galt, blieb dafür nur der inoffi-
zielle Weg. Die Strategie der équipe Mitterrand beruhte insofern auf einer Kom-
bination aus offizieller Demonstration französischer Unabhängigkeit und inoffi-
ziellen Versuchen, das Abstimmungsergebnis in der Bundesrepublik zu
beeinflussen.
Die erste Kontaktaufnahme zwischen Kohl und Mitterrand hatte ein Einver-
ständnis in sicherheitspolitischen Fragen offenbart, da der neue Bundeskanzler
dem französischen Präsidenten sogleich seine Treue zur Allianz und dem NATO-
Doppelbeschluss versichert hatte. Die Umsetzung des Nachrüstungsbeschlusses
war allerdings trotzdem alles andere als sicher. Nicht nur brauchte der Bundes-
kanzler für den Beschluss zur Nachrüstung die Zustimmung des Parlaments; 1983
standen auch vorgezogene Bundestagswahlen ins Haus. Wie er François Mitter-
rand nachträglich darlegte, war die Nachrüstungsfrage sein wesentliches Motiv
dafür, die Wahlen von 1984 vorzuziehen, damit Gegner seiner Regierung ihm
nicht vorwerfen konnten, „kein direktes Mandat für die entsprechenden Ent-
scheidungen“ zu besitzen.¹⁴¹ Das französische Außenministerium beobachtete
unaufhörlich die Entwicklungen in der Bundesrepublik und die Haltungen in
Bezug auf den NATO-Doppelbeschluss der unterschiedlichen politischen Rich-
tungen. Bereits vor dem Koalitionswechsel in Bonn hatte der linke Parteiflügel der
SPD an Kraft gewonnen. 1983 konstatierten Mitarbeiter des Quai d’Orsay, dass sich
die offizielle Haltung der Sozialdemokraten und die ihres Kanzlerkandidaten
Hans-Jochen Vogel grundlegend von der Bundesregierung und den Amerikanern
unterscheide und sich stattdessen immer mehr am linken Flügel orientiere. Daher
wurde die Durchreise von Vogel als Chance gesehen, ihm die französische Sicht in
AN, AG/5(4)/CD/161, MAE, Direction des Affaires Politiques, Note, Comptes Rendus des
entretiens des Directeurs Politiques allemand et français (Bonn – 23 février), 25. Februar 1983
[handschriftlich geändert in 23. Februar 1983].
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Brüssel. In: AAPD
1983, Dok. 71, S. 358.
3.2 Vollzug der Nachrüstung und die Wahrung französischer Unabhängigkeit 203
dieser Frage zu erläutern.¹⁴² Bei ihrer Begegnung machte François Mitterrand ihm
seine Position deshalb noch einmal deutlich: Ein Gleichgewicht sei weder mit
Reagans Nulllösung noch mit Andropows Moratoriums-Vorschlägen zu errei-
chen.¹⁴³
Die sowjetische Führung hatte ihrerseits einen Kampf um die öffentliche
Meinung in der Bundesrepublik in Angriff genommen. Den Besuch von Andrej
Gromyko in Bonn interpretierte das Centre d’Analyse et de Prévision als aktiven
Eingriff in den bundesdeutschen Wahlkampf, da sich der sowjetische Außenmi-
nister für Vogel als Wunschkandidaten für das Bundeskanzleramt aussprach.¹⁴⁴
Im SGDN wurden ähnliche Schlüsse aus Gromykos Besuch in Bonn gezogen: Ihm
wurde unterstellt, mit seinen Erklärungen die klassischen sowjetischen Ziele zu
verfolgen und den Druck in einem Maße zu erhöhen, um eine Regierungsüber-
nahme der Sozialdemokraten zu unterstützen.¹⁴⁵ Die französischen Akteure
blieben nicht indifferent und versuchten, sich ihrerseits zu engagieren. Anstatt
sich an dem Kampf um die öffentliche Meinung zu beteiligen, setzten sie aller-
dings darauf, die Vertreter der SPD eher inoffiziell von einem Kurswechsel zu
überzeugen und über verschiedene Kanäle Einfluss auf die Positionen der Sozi-
aldemokraten zu nehmen. Den Kanzlerkandidaten hatte der Präsident persönlich
zu überzeugen versucht. Verteidigungsminister Hernu sprach am 1. März 1983 mit
Hans-Jürgen Wischnewski, um ihn vom französischen Standpunkt in Sicherheits-
und Verteidigungsfrage zu überzeugen. Da die SPD nachdrücklich den Einbezug
der französischen Atomarsenale befürwortete, um ein Abkommen in Genf zu er-
möglichen, war die Ablehnung einer prise en compte zentrales Thema des Ge-
sprächs. Hernu unterstrich die Plausibilität des französischen Standpunktes, in-
dem er das französische Engagement bei der Verteidigung Deutschlands
herausstellte. Neben der Beteiligung mit konventionellen Streitkräften, sei der
nukleare Unsicherheitsfaktor der force de frappe doch ebenso von Vorteil für die
Bundesrepublik, wohingegen eine Rückkehr Frankreichs in die NATO einer Ent-
kopplung Vorschub leisten würde. Als er daran appellierte, dass Deutschland und
Frankreich mit einer Stimme sprechen müssten, weil Andropow nicht nur einen
Keil zwischen die USA und Europa sondern auch zwischen Paris und Bonn treiben
AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégiques
et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Entretien du
Président de la République avec M. Vogel. Questions stratégiques, 11. Januar 1983.
Attali, Verbatim 1981– 1986, 21. Januar 1983, S. 453.
AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Centre d’Analyse et de Prévision, Note, Gromyko à Bonn, 19. Ja-
nuar 1983.
AN, AG/5(4)/CD/161, Premier Ministre, Secrétariat Générale de la Défense Nationale, Pre-
miers réflexions sur la visite de M. Gromyko à Bonn du 16 au 18 janvier 1983, 20. Januar 1983.
204 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
dix ans.“¹⁴⁹ Bevor jedoch eine neuerliche diplomatische Krise zwischen Wa-
shington und Paris ausgelöst wurde, mit der Reagans Sicherheitsberater William
Clark Jacques Attali in einem vertraulichen Gespräch am Rande der Verhand-
lungen drohte, gelang es, einen Kompromiss für die Abschlusserklärung zu er-
zielen. Darin konnte die französische Unabhängigkeit gewahrt bleiben und die
Nulllösung fand in dem Text keine Erwähnung mehr.¹⁵⁰ Um ähnliche Auseinan-
dersetzungen bei der Ministerratstagung der NATO zu vermeiden, die Mitterrand
als Gastgeber ausrichtete, arbeiteten die Berater des Präsidenten sowie der Au-
ßenminister und dessen Mitarbeiter auf Hochtouren an einem akzeptablen Ent-
wurf für ein Abschlusskommuniqué.¹⁵¹ Nach der Durchsicht eines Entwurfs gab
der französische Präsident am 10. Juni vor, einen Bezug zum NATO-Doppelbe-
schlusses vom 12. Dezember 1979 nur dann zu unterzeichnen, wenn Frankreich
davon explizit ausgeschlossen würde.¹⁵² Sowohl der G7-Gipfel als auch die Mi-
nisterratstagung verdeutlichen den diplomatischen Drahtseilakt in der Hoch-
phase der Euroraketenkrise, um die Politik französischer Unabhängigkeit nicht
ihrer Glaubwürdigkeit zu berauben.
Zwischen dem französischen Präsidenten und Helmut Kohl waren grund-
sätzliche Standpunkte der künftig christdemokratisch geführten Bundesregierung
zwar bereits in ihrem ersten Gespräch geklärt worden. Dies hieß aber nicht, dass
in den Administrationen des Außenministeriums jedwedes Misstrauen vor der
„alliance incertaine“¹⁵³ beseitigt war. Der Besuch des Bundeskanzlers Kohl und
seines Außenministers Genscher in Moskau erweckte Argwohn in der Abteilung
für strategische Angelegenheiten im Quai d’Orsay. Entgegen in Paris vorliegenden
Informationen, dass sich Moskau nach wie vor gegen jede Aufstellung amerika-
nischer Raketen sperre, habe der Bundeskanzler den Wunsch der Sowjetunion
nach einem Abkommen unterstrichen. Das Verschweigen sowjetischer Härte, so
wurde gefürchtet, könnte bei Teilen der öffentlichen Meinung zu dem Schluss
führen, dass letztlich die amerikanische und nicht sowjetische Unnachgiebigkeit
für ein Scheitern der Verhandlungen verantwortlich sein könnte. Wenn auch die
Haltung von Bundeskanzler und Außenminister in der Frage der Drittpotentiale
ebenfalls geklärt war, wurde es nicht gerne gesehen, dass die Frage von einigen
anderen Personen in Bonn thematisiert wurde.¹⁵⁴ Als Hans-Dietrich Genscher sich
dann auch noch auf den Nitze-Kwizinskij-Kompromiss vom vergangenen Jahr
bezog, löste dies in der französischen Botschaft Sorgen vor einem Meinungsum-
schwung in Bonn aus.¹⁵⁵ Dieses Beispiel verdeutlicht die Vielschichtigkeit und
unterschiedlichen Geschwindigkeiten oder auch völlige Gegensätzlichkeit von
Prozessen der Vertrauensbildung auf verschiedenen diplomatischen Ebenen. Für
die Analyse von bilateralem Vertrauen bedeutet es, dass sie nicht auf einer Un-
tersuchung der Regierungsebene beschränkt bleiben darf, sondern der Komple-
xität diplomatischer Apparate Rechnung getragen werden muss.
Die Bundesregierung war ihrerseits um die Beseitigung von potentiellem
Misstrauen bei den französischen Partnern bemüht. Dem französischen Außen-
minister wurde zum Beispiel eine Kopie des Briefes weitergeleitet, den Genscher
im August 1983 an seinen Amtskollegen Andrej Gromyko schrieb. Mit dieser Geste
brachte er zum Ausdruck, dass er keinerlei Geheimnisse vor seinem Amtskollegen
in den Fragen der bundesdeutschen Ostpolitik habe. Außerdem versuchte Gen-
scher, potentielles Misstrauen zu zerstreuen, das seiner Position in der Frage der
Drittpotentiale entgegengebracht werden könnte. Zweitens nämlich wurde in
diesem Brief die vollständige Solidarität deutlich, die Genscher der französischen
Haltung in der Frage um die Drittpotentiale entgegenbrachte, indem er die so-
wjetische Forderung nach einer prise en compte und eben nicht Mitterrands
Weigerung als Hindernis für einen Verhandlungserfolg herausstellte. Zudem
übernahm er die französische Argumentation, warum eine solche Forderung nicht
in europäischem Interesse und daher abzulehnen sei.¹⁵⁶ Der französische und
deutsche Außenminister teilten regelmäßig ihre Informationen zu Ostpolitik und
Abrüstungsgesprächen, um ein derartiges Misstrauen, das in Teilen der Admi-
nistrationen verbreitet war, zumindest auf der Ebene der Entscheidungsträger
auszuräumen. Seine Vertrauenswürdigkeit stellte Genscher unter anderem da-
durch unter Beweis, dass er Informationen mit seinem Amtskollegen teilte. So
AN, AG/5(4)/CD/162, MRE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégi-
ques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Le débat
FNI et la RFA, 12. Juli 1983.
AN, AG/5(4)/CD/162, Ambassade de France à Bonn, Service de Presse, Panorama de la presse
allemande (Semaine du 18 au 24 juillet 1983), 25. Juli 1983.
AN, AG/5(4)/CD/162, Der Geschäftsträger der Bundesrepublik Deutschland, Werner Rouget,
Ministre Plénipotentiaire, an Claude Cheysson, Ministre des Relations extérieures, 25. August
1983, daran angehängt eine Kopie des Briefes von Hans-Dietrich Genscher an Andrej Gromyko.
3.2 Vollzug der Nachrüstung und die Wahrung französischer Unabhängigkeit 207
AN, AG/5(4)/CD/162, Brief von Hans-Dietrich Genscher an Claude Cheysson, 13. September
[1983].
AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Centre d’Analyse et de Prévision, M.D. [=Michel Duclos], Note
pour le Ministre, Le SPD et les euromissiles, 27. Juni 1983.
ADMAE, 1930-INVA 4890, Ambassade de France à Bonn, Dépêche d’Actualité, Le „mouve-
ment pacifiste“ en Allemagne et la préparation de l’„automne chaud“, 20. Juli 1983.
AN, AG/5(4)/CD/161, MRE, Centre d’Analyse et de Prévision, M.D. [=Michel Duclos], Note
pour le Ministre, Le SPD et les euromissiles, 27. Juni 1983.
208 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
um sechs bis acht Monate einsetzte, versuchte Jacques Andréani ihn und Manfred
Schulte zu überzeugen, sich nicht der Hoffnung hinzugeben, dass ein Aufschub
der Entscheidung einen Verhandlungserfolg einbringen könnte. Apel wollte damit
einem Abkommen nach dem Typ Nitze-Kwizinskij noch eine Chance einräumen
und westliche Verhandlungsbereitschaft demonstrieren. Mit diesen Illusionen
wollte Andréani aufräumen, da es aus seiner Sicht lediglich zu einer Schwächung
der amerikanischen Verhandlungsposition führen und Moskau dazu veranlassen
würde, weitere Konzessionen zu verlangen.¹⁶¹ Mit dem Abschuss der südkorea-
nischen Passagiermaschine hätten die Sowjets die amerikanische Administration
in große Verlegenheit gebracht, argumentierte er. Obwohl sie den Dialog in der
Entscheidungsphase des NATO-Doppelbeschlusses hatte intensivieren wollen,
sehe sie sich nun aufgrund der öffentlichen Empörung zu antisowjetischen Re-
aktionen genötigt. Claude Cheysson übernahm es persönlich mit der Autorität
seines Amtes, den Druck auf Apel und Schulte zu erhöhen. Hans Apel ließ sich
davon scheinbar wenig beeindrucken und stellte fest, dass ein „Nein“ der SPD zur
Aufstellung auch ohne seine Stimmen oder die von Schmidt und Schulte sicher
sei.¹⁶²
Ein Scheitern des Nachrüstungsbeschlusses im Bundestag war also durchaus
ein realistisches Zukunftsszenario, falls es in den Regierungsfraktionen abtrün-
nige Stimmen geben würde. Dazu sollte es schließlich jedoch nicht kommen; in
einer Resolution des Bundestages vom 22. November 1983 wurde der Nachrüs-
tungsbeschluss angenommen.¹⁶³ Am Vorabend der Abstimmung waren in Bonn
schon die möglichen Konsequenzen einer solchen Entscheidung in den Blick
gerückt. Es wurde nicht mehr darüber diskutiert, ob ein Verhandlungserfolg noch
im Bereich des Möglichen lag, sondern wie die sowjetische Führung auf ein
Scheitern reagieren würde. Egon Bahr hoffte, dass es nicht zu einem vollständigen
Abbruch der Verhandlungen käme, da sowjetische Gesprächspartner ihm ge-
genüber eher von einer „Unterbrechung“ gesprochen hätten.¹⁶⁴ Mit dem Be-
schluss zur Nachrüstung brach die sowjetische Delegation die Verhandlungen
über Mittelstreckenraketen trotzdem ab und zog sich vom START-Verhandlungs-
tisch zurück. In seiner öffentlichen Erklärung am 24. November 1983 machte Juri
AN, AG/5(4)/CD/162, MAE, Direction des Affaires Politiques, Entretien du Directeur des Af-
faires Politiques avec M. Apel, député SPD au Bundestag, ancien Ministre de la Défense, et M.
Schulte, 18 Octobre 1983, 18. Oktober 1983.
AN, AG/5(4)/CD/162, MRE, Le Directeur des Affaires Politiques, Comptes Rendus de la con-
versation du Ministre avec MM. Apel et Schulte, 18. Oktober 1983.
Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht 10. Wahlperiode 36. Sitzung, Plenarproto-
koll 10/36, 22. November 1983, S. 2590 – 2592.
ADMAE, 1930-INVA 4890, MRE, TD Bonn 1832, FNI – Etat d’esprit à Bonn, 13. Oktober 1983.
3.3 Relance européenne 209
Vgl. ADMAE, 1930-INVA 5641, Youri Andropov à son Excellence M. François Mitterrand,
Président de la République française, Traduction non-officielle, 24. November 1983; angeheftet:
Déclaration du Secrétaire Général du CC du PCUS, Président du Présidium du Soviet Suprême de
l’URSS Youri Andropov, 24. November 1983.
Wettig, Sowjetische Euroraketenrüstung, S. 63.
Védrine, Mondes, S. 288.
210 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
Modell der Vier Antriebskräfte – nach wie vor ein wesentliches Motiv für ein
Forcieren europäischer Integration blieb.
Als sich die sozialistische Regierungsmannschaft noch auf der Suche nach
einem außenpolitischen Kurs befunden hatte, glaubte Jean-Michel Gaillard im
September 1981, mit einer Aufwertung der europäischen Konstruktion der deut-
schen Friedensbewegung eine Alternative entgegenstellen zu können. Deshalb
empfahl er, einen Weg zu suchen, den ersehnten Aufschwung der französischen
Wirtschaft mit dem Genscher-Colombo-Plan in Einklang zu bringen. Er knüpfte
außerdem an die Perspektiven an, die der Premierminister vor dem Institut des
Hautes Études de la Défense Nationale präsentiert hatte und brachte ein Europa
als politisches Ensemble mit autonomer Verteidigung erneut ins Spiel.¹⁶⁸ Obwohl
Gaillard verhindern wollte, dass diese wichtige Frage durch eine zu langfristige
Perspektive an Bedeutung einbüßte, wurde sie 1981 jedoch vorerst nicht konkret
weiterverfolgt. Es lag wohl vor allem daran, dass der politische Kontext für
konkrete europäische Initiativen denkbar ungünstig war, solange die ungelösten
Fragen den Weg verstellten und darüber hinaus andere Krisen die Aufmerksam-
keit absorbierten. Dennoch offenbart Gaillards Vorschlag einerseits die Konti-
nuität der deutschen Frage als wesentliche Antriebskraft europäischer Integrati-
onsprozesse. Andererseits wurden bereits zu Beginn des Jahres 1981 langfristige
europapolitische Perspektiven entworfen, an die sich später anknüpfen ließ,
wenn sich die politischen Rahmenbedingungen günstiger gestalteten.
Die Bedingungen für derartige Ideen schienen sich bis 1983 und 1984
grundlegend zu verändern. Die Erfahrungen und Lehren der ersten Amtsjahre
hatten Mitterrands Suche nach europäischen Lösungen begünstigt. Durch die
Entscheidung im März 1983 zu einer dritten Abwertung des Franc gekoppelt an
eine neue Sparpolitik sowie eine anschließende Regierungsumbildung hatten
nicht nur Vertreter einer Austeritätspolitik an Einfluss gewonnen. Auch europä-
isch orientierte Kräfte waren dadurch gestärkt worden, wie unter anderem auch
die Berufung von Elisabeth Guigou in den präsidentiellen Beraterstab unter-
streicht. Im Frühjahr 1983 konstituierte sich eine informelle Gruppe aus Mitar-
beitern des Elysée und anderen Ministerien, die für einen industriellen Auf-
schwung in Europa zuständig waren. Im August 1983 legte Laurent Fabius, der
nach der Regierungsumbildung das Amt des Premierministers übernommen
hatte, dem Präsidenten die Bedeutung der europäischen Kooperation dar, wenn
Europa nicht zum Vasallen der USA oder Japans werden wolle – was zeigt, dass
die équipe Mitterrand auch durch das Bedürfnis der Selbstbehauptung gegenüber
würde. SDI wurde für den französischen Präsidenten und seine Regierung da-
durch zu einer strategischen Herausforderung für die unabhängige französische
Abschreckung. Gleichzeitig waren die politischen und diplomatischen Implika-
tionen nicht geringer als die strategischen, weil Mitterrand mit seiner strikten
Ablehnung dieses Projekts in einen Gegensatz zu der US-Administration geriet.¹⁷³
Die sicherheitspolitischen und diplomatischen Fragen waren aber nur eine
Seite der Medaille. Die Ankündigung von SDI stellte die Europäer vor die Ent-
scheidung zwischen zwei Zukunftsszenarien – zumindest wurde es aus franzö-
sischer Sicht auf diese binäre Entscheidung reduziert. Zwar bot die US-Adminis-
tration den europäischen Regierungen an, sich an den Forschungsprogrammen
zu beteiligen. Die équipe Mitterrand sah jedoch das Risiko, eine mögliche Mo-
dernisierung von Industrie und Gesellschaft mit dem Preis wachsender Abhän-
gigkeit von den USA bezahlen zu müssen. Die Alternative, für die sich Mitterrand
und seine Mitarbeiter vehement einsetzten, bestand in einer Bündelung der eu-
ropäischen Kräfte in einem eigenständigen Forschungsprogramm. Die Entwick-
lung neuer Technologien war unabdingbar, um die französische Wirtschaft und
Gesellschaft zu modernisieren. Insofern entdeckten die französischen Sozialisten
ihr Interesse daran nicht erst mit Reagans Rede im März 1983; ganz im Gegenteil
war 1981 nicht nur das Centre d’Études des Systèmes et des Technologies Avancées
(CESTA), sondern auch ein Ministerium für Forschung und Technologie geschaf-
fen worden, das Jean-Pierre Chevènement übernommen hatte.¹⁷⁴ Die Ankündi-
gung von SDI hatte allerdings zur Folge, französischen Projekten neuen Schwung
zu verleihen und Mitterrand und seine Mitarbeiter bei ihrer Suche nach euro-
päischen Kooperationspartnern unter Zugzwang zu setzen, denn die Bundesre-
publik und Großbritannien waren ernsthaft daran interessiert, auf das Koopera-
tionsangebot von Washington einzugehen.¹⁷⁵ Aus der Sicht von Mitterrand und
seiner Mannschaft reduzierte sich der Handlungsspielraum auf die zwei zuvor
genannten Möglichkeiten: Gegenüber einer drohenden Abhängigkeit erschien es
ihnen attraktiver, die Flucht nach vorn anzutreten und Impulse für eine euro-
päische Kooperation in den Bereichen Wissenschaft, Technik und Industrie zu
setzen. Die Zukunftsperspektive eines unabhängigen Europas wurde somit in
verschiedenen politischen Bereichen als Ausweg wahrgenommen. Schon bei den
Vorbereitungen der Bundestagsrede von François Mitterrand hatte Pierre Morel
geglaubt, der schwierigen wirtschafts- und sicherheitspolitischen Situation in der
AN, AG/5(4)/6523, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel, Note
pour Jean-Louis Bianco, Discours au Bundestag: Nécessité et modalités d’une grande initiative,
17. Januar 1983.
Loth, Europas Einigung, S. 255.
AN, AG/5(4)/6523, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel, Note
pour Monsieur le Président – Sous-couvert de M. J. L. Bianco, célébration du 20ème anniversaire
du traité franco-allemand: État des principales affaires communautaires, 19. Februar 1983.
Loth, Europas Einigung, S. 255.
AN, AG/5(4)/CD/161, Der Bundeskanzler, Helmut Kohl an seine Exzellenz den Präsidenten
der Französischen Republik, François Mitterrand, 21. April 1983.
214 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
vor. Dahinter stand bei ihm zum einen die Intention, die Wettbewerbsfähigkeit der
Gemeinschaft zu stärken. Zum anderen diente der Anspruch, „nach außen stärker
als bisher gemeinsam aufzutreten und zu handeln“, seinem Ziel, „unsere Partner
in der Welt dazu zu bringen, auch ihre Verantwortung und ihre Pflichten stärker
wahrzunehmen.“¹⁸¹ Motiviert wurde er ganz offensichtlich von dem Wunsch, als
asymmetrisch empfundene Beziehungen zu anderen Partnern – die er nicht näher
benannte – auszugleichen. Seine Anspielung auf die deutsche Unterstützung in
der Währungsfrage im März 1983 führte Kohl hier sowohl als Beleg für die euro-
päische Orientierung seiner Regierung an als auch als Erinnerung an deutsche
Solidaritätsbereitschaft. Nachdem Kohl davon überzeugt war, seine „tatsächliche
Bereitschaft“¹⁸² zu Solidarität in der Währungsfrage unter Beweis gestellt zu ha-
ben, trug er nun an Mitterrand die Erwartung heran, sich „reziprok [zu] verhal-
ten“¹⁸³. Er stellte zwar keine explizite Forderung, die Erinnerung an seinen Bei-
stand in einem für Frankreich äußerst kritischen Moment sollte jedoch eine
ähnliche Wirkung entfalten. Kohl hoffte auf französische Unterstützung, um beim
Ratstreffen in Stuttgart vom 17. bis zum 19. Juni Fortschritte zu erzielen.
Da Mitterrand bereit war, das von Bonn vorgeschlagene Verfahren zur Re-
formierung der Agrarpolitik zu akzeptieren, gelang es in Stuttgart, eine Reform
der Agrarpolitik, die Erhöhung der Eigeneinnahmen und die Regelung der Bei-
tragsfragen auf den Weg zu bringen.¹⁸⁴ Die „Feierliche Deklaration zur Europäi-
schen Union“¹⁸⁵ stellte zwar noch keine endgültige Lösung der kritischen Fragen
dar und blieb hinter dem Genscher-Colombo-Plan von 1981 zurück. Trotzdem
bekundeten die europäischen Staats- und Regierungschefs darin ihre Bereit-
schaft, zu einer Stärkung und Vertiefung der EG, und einer Erweiterung auf neue
politische Bereiche, mit dem Ziel, die Gemeinschaft langfristig zu einer Euro-
päischen Union umzubauen. Zudem gelang es, ein Verhandlungspaket zu
schnüren, nach dem die Reform der Agrarpolitik, die Erhöhung der Eigenein-
nahmen sowie die britische Beitragsfrage künftig zusammen verhandelt werden
sollten. Der Stuttgarter Rat stellte insofern eine Erfahrung erfolgreicher Zusam-
menarbeit dar. Sie trug zur wechselseitigen Erwartung einer verlässlichen Part-
AN, AG/5(4)/CD/161, Der Bundeskanzler, Helmut Kohl an seine Exzellenz den Präsidenten
der Französischen Republik, François Mitterrand, 21. April 1983.
Bayertz, Begriff, S. 12.
Habermas, „Für ein starkes Europa“, S. 87.
Vgl. Loth, Europas Einigung, S. 255.
Feierliche Deklaration zur Europäischen Union. Stuttgart 19. Juni 1983. In: Bulletin der Eu-
ropäischen Gemeinschaften, Juni 1983 Nr. 6. S. 26 – 32. http://www.cvce.eu/de/obj/feierli-
che_deklaration_zur_europaischen_union_stuttgart_19_juni_1983-de-a2e74239-a12b-4efc-b4ce-
cd3dee9cf71d.html (09.09. 2016).
3.3 Relance européenne 215
nerschaft bei. Dieses wachsende individuelle Vertrauen schlug sich in einer In-
tensivierung der persönlichen Gespräche zwischen Mitterrand und Kohl nieder
und wirkte sich insgesamt auf die Dynamik der bilateralen Zusammenarbeit
aus.¹⁸⁶
In den Fragen der Sicherheit und Verteidigung fanden seit 1982 regelmäßige
Treffen der zuständigen deutschen und französischen Minister statt. Der Be-
schluss zur Nachrüstung war gerade vor zwei Tagen angenommen worden, da
sendete Genscher bei dem deutsch-französischen Gipfel am 24. November 1983 in
dem Gespräch der Außen- und Verteidigungsminister konkrete Signale für eine
Stärkung der deutsch-französischen Kooperation in den Fragen Sicherheit und
Verteidigung und eröffnete dabei auch eine europäische Perspektive.¹⁸⁷ Sowohl in
Bonn als auch in Paris wurde in der bilateralen Kooperation nach Kompensati-
onspotential für die Konsequenzen der Nachrüstung gesucht. Sie war als Vorbild
und Ausgangspunkt für eine Ausdehnung auf die europäische Ebene gedacht.
Langfristig zielten die Initiativen auf eine europäische Emanzipation in den ver-
schiedenen politischen Bereichen. Charles Hernu plädierte zum Beispiel auch für
ein eigenes Informationssystem, um sich von den Informationen anderer, und
insbesondere denen der USA, unabhängig zu machen.¹⁸⁸ Der deutsche Außen-
minister war sich bewusst, dass eine Stärkung der europäischen Rolle innerhalb
des atlantischen Bündnisses von Deutschland und Frankreich ausgehen musste.
Genschers einzige Einschränkung, dass diese nicht im Widerspruch zu den USA
stehen dürfe, wurde von den französischen Protokollanten scheinbar überhört.¹⁸⁹
Eine Zunahme der Zusammenarbeit zwischen den deutschen, französischen und
britischen Verteidigungsministern löste allerdings bei den anderen europäischen
Bündnispartnern, insbesondere den Italienern, Besorgnis aus. Da Cheysson diese
trilaterale Zusammenarbeit nicht auf die Italiener ausweiten wollte, schlug er für
das Jahr 1984 ein Ministertreffen im Rahmen der Westeuropäischen Union (WEU)
in Rom vor, „um so den italienischen Empfindlichkeiten gerecht zu werden.“¹⁹⁰
Seit 1972 hatte es keine politischen Konsultationen in diesem institutionellen
Rahmen mehr gegeben. Die Westeuropäische Union war mit dem Beitritt
Deutschlands und Italiens am 23. Oktober 1954 aus dem Brüsseler Pakt hervor-
gegangen, der am 17. März 1948 von Frankreich, Großbritannien, Belgien, den
Niederlanden und Luxemburg unterzeichnet worden war. Sie bestand aus zwei
Gremien, einem Ministerrat der Verteidigungsminister der Mitgliedsstaaten und
einem Ständigen Rat mit Vertretern auf Botschafterebene. Zudem beschäftigte
sich eine parlamentarische Versammlung, bestehend aus Abgeordneten der Ver-
tragspartner, mit militärischen Belangen. Die politischen Zuständigkeiten der
WEU blieben allerdings äußerst begrenzt, was vor allem an der Schwierigkeit lag,
eine eigenständige Rolle neben den anderen bestehenden Organisationen zu
übernehmen, insbesondere der sicherheitspolitisch übergeordneten Rolle der
NATO. Obschon der Brüsseler Pakt mit dem Bekenntnis zu wirtschaftlicher, so-
zialer und kultureller Zusammenarbeit über einen rein militärischen Beistands-
pakt hinausgegangen war, wurden diese Fragen de facto durch andere Organi-
sationen übernommen (EEC, EGKS, Europarat). Nach der Regelung der Saarfrage
blieb die Rolle der WEU weitestgehend auf Rüstungskontrolle beschränkt und
diente als Konsultationsforum zwischen den Mitgliedstaaten der EG und Groß-
britannien. Mit der Schaffung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit
(EPZ) 1970 und dem bevorstehenden EG-Beitritt Großbritanniens (1973) wurden
die politischen Konsultationen der WEU 1972 eingestellt.¹⁹¹ Manfred Wörner un-
terstützte Cheyssons Idee, die WEU als Ventil für die Sorgen der übrigen euro-
päischen Partner zu nutzen. Regelmäßige Treffen hielt er allerdings für schwierig
und präzisierte, dass ihre Reaktivierung in erster Linie einer symbolischen Geste
dienen könne. Der Moment für die Ankündigung eines Treffens der Verteidi-
gungsminister im Rahmen dieses europäischen Beistandspaktes, der noch dazu
eigentlich seit beinahe zwölf Jahren ruhte, musste sehr sorgfältig ausgewählt
werden; dessen war sich der französische Außenminister sehr wohl bewusst. Um
zu vermeiden, dass sie als Beitrag zum Wettrüsten interpretiert werden würde,
sollte die Ankündigung keinesfalls in die Phase der Raketenaufstellung fallen.¹⁹²
Gespräch der Bundesminister Genscher und Wörner mit dem französischen Außenminister
Cheysson und Verteidigungsminister Hernu, 24. November 1983. In: AAPD 1983, Dok. 356, S. 1774.
Vgl. Brandstetter, Gerfried (Hrsg.): Die Westeuropäische Union. Einführung und Dokumente.
Wien 1999. S. 15 – 23.
AN, AG/5(4)/CD/162, MRE, Le Directeur des Affaires Politiques, 3e Réunion ministérielle
franco-allemande sur les questions de stratégie et de sécurité, Bonn 24 novembre 1983, 28. No-
vember 1983.
3.3 Relance européenne 217
Konkreter wurden die Pläne zu einer Wiederbelebung der WEU bei dem Ge-
spräch zwischen Jacques Andréani und Franz Pfeffer. Am 22. Dezember 1983 er-
läuterte Andréani seinem deutschen Gesprächspartner „die französischen Über-
legungen zur Verstärkung der europäischen Komponente in der Sicherheitspolitik
und insbesondere der WEU“¹⁹³. In diesem Gespräch wurden Ideen über mögliche
Gesprächsthemen ausgetauscht und versucht, Argumente aus dem Weg zu räu-
men, die auf deutscher Seite ein Engagement in diese Richtung hemmen könnten.
Dabei wird deutlich, dass die Erwartungen gegenüber der WEU auf beiden Seiten
des Rheins differierten. Andréani warb dafür, die WEU „vom Staub der Zeit [zu]
reinigen und etwas mehr zu nutzen“, da es sein könnte, „daß wir diese Organi-
sation eines Tages dringender nötig haben würden als heute.“¹⁹⁴ Weil Cheysson
und Hernu dies auch nach außen demonstrieren wollten, stellte der Direktor der
politischen Abteilung im Quai d’Orsay „eine weit in die Zukunft reichende Per-
spektive“¹⁹⁵ vor. Wohl aus pragmatischen Gründen zog die équipe Mitterrand den
Rahmen der WEU in dem Fall der EG vor. Mit ihren sieben Mitgliedern gegenüber
zehn hielt sie ein Treffen der Verteidigungsminister für eher realisierbar. Mitter-
rand, Cheysson und Hernu waren also bestrebt, mögliche Hindernisse für einen
Ausbau der sicherheitspolitischen Kooperation zwischen den europäischen
Staaten von vornherein zu umgehen. Die WEU bot sich als eine bereits bestehende
Institution dafür an, ohne dass ein zu großer Aufwand betrieben werden musste.
Im Gegensatz dazu existierte in der Europäischen Gemeinschaft kein vergleich-
bares Gremium und hätte daher vermutlich langwierige Diskussionen mit den
anderen Mitgliedstaaten erfordert, bevor ein Treffen der Verteidigungsminister
überhaupt zustande gekommen wäre. Die nach wie vor zahlreichen ungelösten
Fragen in der EG machten einen Erfolg nicht gerade aussichtsreicher.
Außerdem sollte die deutsch-französische Zusammenarbeit den Kern der
europäischen Kooperation darstellen. Eine Diskussion neuer strategischer, rüs-
tungs- und rüstungskontrollpolitischer Entwicklungen im deutsch-französischen
Ausschuss für Verteidigung und Sicherheit diente einer Harmonisierung der
Standpunkte. Besonders am Herzen lag der équipe Mitterrand die Entwicklung
eines Aufklärungssatelliten-Programms und eine Studie zum amerikanischen
SDI-Projekt. Die FAR schlug Andréani als Gesprächsthema vor, das über die bi-
laterale Tagesordnung auch auf andere europäische Partner ausgedehnt werden
und letztlich in der WEU besprochen werden könnte.¹⁹⁶ Andréanis Ausführungen
deuten darauf hin, dass der Ausbau der bilateralen Kooperation als Vorbild be-
Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 2. Januar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 1, S. 4.
Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 2. Januar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 1, S. 5.
Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 2. Januar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 1, S. 5.
Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 2. Januar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 1, S. 4.
218 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 2. Januar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 1, S. 7.
Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 23. Januar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 16, S. 84.
3.3 Relance européenne 219
Aufhebung noch im Jahr 1984 anstrebe. Obwohl es noch andere kritische Fragen
gab, bestätigte Pfeffer, dass damit das deutsche Hauptargument gegen eine Re-
aktivierung der WEU beseitigt sein würde.¹⁹⁹
Védrine kritisierte wenig später, dass man der Bundesrepublik voreilig der-
artige Zugeständnisse gemacht habe, ohne daraus politisches Kapital zu schla-
gen. Mit der Übernahme der europäischen Ratspräsidentschaft suchte Hubert
Védrine nach politischen Trumpfkarten, um den französischen Handlungsspiel-
raum zu erweitern. Er sah Paris in der Position eines Bittstellers, der „beaucoup à
demander et peu à concéder“²⁰⁰ habe. Daher versuchte er, strategisch deutsche
Erwartungen an die französische Regierung zu kalkulieren und identifizierte
verschiedene Punkte: eine (für den Präsidenten unmögliche) Präzisierung über
die Bedingungen eines Einsatzes der französischen Abschreckungsstreitkräfte,
Präzisierungen über mögliche Bedingungen für einen Einsatz der FAR, Aufhe-
bung der konventionellen Rüstungsbeschränkungen anlässlich des zwanzigjäh-
rigen Jubiläums der WEU, Fortschritte in Richtung einer europäischen, politischen
Union. Die schlechten Karten, die die französische Regierung aus Sicht von
Védrine auf der Hand hielt, empfahl er daher besonders geschickt auszuspielen.
Indem sie keine substantiellen Angebote mache, sondern vielmehr Köder streue
und begehrte Antworten nach und nach durchsickern lasse, sollten den deut-
schen Verhandlungspartnern möglichst viele Zugeständnisse in Gemeinschafts-
fragen abgerungen werden.²⁰¹ Bereits bevor der Präsidentenberater diese Strate-
gie in Erwägung gezogen hatte, regte General Lacaze die deutsche
Vorstellungskraft über künftige Kooperationsmöglichkeiten an – freilich ohne
konkrete Zusagen zu machen: Unter vier Augen wies er Generaldirektor Pfeffer
darauf hin, dass der WEU-Vertrag juristisch bindender sei als jener der NATO. In
seinen Aufzeichnungen hob Pfeffer diese Äußerung als bemerkenswert hervor:
Bisher habe die französische Doktrin darauf gesetzt, im Ernstfall autonome Ent-
scheidungen treffen zu können, „was sich mit dem Wortlaut des NATO-Vertrags,
nicht aber mit dem Wortlaut des WEU-Vertrags in Einklang bringen [lasse].“²⁰²
Lacazes Andeutung sollte nicht als freiwillige Einschränkung in der französischen
Unabhängigkeit missverstanden werden; vielmehr diente sie wohl als Anreiz für
die deutschen Partner, Bemühungen eher auf den Ausbau deutsch-französischer
Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 2. Januar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 1, S. 6.
AN, AG/5(4)/CD/185, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, 31. Januar 1984.
AN, AG/5(4)/CD/185, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, 31. Januar 1984.
Aufzeichnung des Ministerialdirektors Pfeffer, 23. Januar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 16, S. 83.
220 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
AN, AG/5(4)/CD/162, Le Professeur Jean Rouvier, Conseiller spécial de la CEE, Note pour le
Président de la République sur l’urgente nécessité d’une décision dans les rapports franco-alle-
mands, 15. Oktober 1983.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand auf Schloß Ludwigshöhe,
2. Februar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 30, S. 168 f.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand auf Schloß Ludwigshöhe,
2. Februar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 30, S. 169.
222 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
im Herbst eigeleitet werden“ sollten.²⁰⁸ Für den Moment zählte allerdings nur,
langfristigen Perspektiven überhaupt eine Chance zu geben, indem man die Eu-
ropäische Gemeinschaft aus der Sackgasse manövrierte, die den Weg zu längst
überfälligen Reformen verstellte. Diese gemeinsame Absicht wirkte sich als star-
kes Band für ihre Komplizenschaft und der Suche nach Kompromissen auf eu-
ropäischer Ebene aus. Die Erfahrungen von wechselseitiger Solidarität waren für
das individuelle Vertrauen zwischen Mitterrand und Kohl konstitutiv. Der ideo-
logische Aspekt gemeinsamer Zukunftsvorstellungen wirkte sich förderlich darauf
aus.
Die deutsch-französische Abstimmung entwickelte bei den Vorbereitungen
der französischen Ratspräsidentschaft eine neue Dynamik. Sie ging nicht aus-
schließlich von französischer Seite aus, sondern profitierte auch davon, dass
sowohl Hans-Dietrich Genscher als auch Helmut Kohl ihre Unterstützung zusi-
cherten: In einem Brief an Claude Cheysson schlug Genscher vor, für Januar noch
einmal ein Treffen zwischen den Außen- und Finanzministern zu vereinbaren.
Zwischen Genscher, Stoltenberg, Cheysson und Delors sollten zunächst jene
Fragen gelöst werden, die zwischen Frankreich und Deutschland noch immer in
der Schwebe waren; explizit benannte er das Thema der europäischen Agrarpo-
litik. Eine gemeinsame Haltung hielt Genscher für notwendig, damit Frankreich
und Deutschland in der Lage waren, „de donner des nouvelles impulsions à
l’unification européenne.“²⁰⁹ Außerdem unterstützte Genscher die französischen
Bestrebungen zu einer gemeinsamen Politik in der Technologie, damit Europa
nicht zu einer Industrieregion zweiten Rangs werde.²¹⁰ Er kam in dieser Hinsicht
den Bestrebungen von Mitterrands équipe entgegen, eine Kooperation in Industrie
und Forschung ins Zentrum einer relance européenne zu stellen, die den euro-
päischen Partnern mit dem Memorandum Une nouvelle étape pour l’Europe: un
espace de l’industrie et de la recherche bereits unterbreitet worden war.
Der Bundeskanzler versicherte Mitterrand im Vorfeld des Brüsseler Ratstref-
fens vom 19. und 20. März 1984 seine Bereitschaft, der französischen Ratspräsi-
dentschaft zu einem Erfolg zu verhelfen. Mitterrand machte daraufhin deutlich,
dass für einen durchschlagenden Erfolg eine „vertrauliche Vereinbarung zwi-
schen allen drei Staaten“ (gemeint waren Frankreich, Großbritannien und die
Bundesrepublik) unerlässlich sei und bat Kohl deswegen, sich zu den strittigen
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 24. Februar 1984.
In: AAPD 1984, Dok. 59, S. 310.
AN, AG/5(4)/CD/162, Traduction de courtoisie d’une lettre de HD Genscher à C Cheysson,
Télégramme, 30. Dezember 1983.
AN, AG/5(4)/CD/162, Traduction de courtoisie d’une lettre de HD Genscher à C Cheysson,
Télégramme, 30. Dezember 1983.
3.3 Relance européenne 223
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand auf Schloß Ludwigshöhe,
2. Februar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 29, S. 158.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 24. Februar 1984.
In: AAPD 1984, Dok. 59, S. 310.
Dumas, Affaires étrangères, S. 209.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand auf Schloß Ludwigshöhe,
2. Februar 1984. In: AAPD 1984, Dok. 29, S. 161.
Dumas, Affaires étrangères, S. 210.
Mitterrand, François: Rede in Den Haag am 7. Februar 1984. In: Europa-Archiv (1984) 7. S.
D195–D199
224 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
sische Europa mit „einer verlassenen Baustelle“, was er nicht als Produkt des
Zufalls sehen wollte; vielmehr machte er „einen langsamen Abbau des Willens“
für diese Situation und eine Rückwärtsentwicklung in Europa in den vergangenen
zehn Jahren dafür verantwortlich.²¹⁷ Der größte Teil seiner Rede konzentrierte sich
auf die Zukunftsaussichten für Europa: Er stimmte darin nicht nur generell einer
Erweiterung der Gemeinschaft auf Spanien und Portugal zu, der er sich zuvor
durch die Aufstellung konkreter Bedingungen widersetzt hatte, sondern gab
konkrete Impulse dafür, in welche Richtungen sich die Gemeinschaft in den
kommenden Jahren entwickeln sollte: Er machte sich stark für einen europäi-
schen Forschungs- und Industrieraum, der bereits an früherer Stelle erwähnt
wurde. Obwohl Europa über ausreichend Mittel verfüge, seien die Potentiale
bisher nicht koordiniert worden. Anstatt sich auf Zusammenarbeit einzulassen,
hätten die europäischen Staaten der Konkurrenz den Vorzug gegeben. Von einer
künftigen Bündelung der europäischen Kräfte machte er „unsere Existenz als
Zivilisation“²¹⁸ und die Konkurrenzfähigkeit der europäischen Staaten abhängig.
Außerdem setzte er sich für die Schaffung eines sozialen und kulturellen euro-
päischen Raums ein.²¹⁹ Hinsichtlich einer europäischen Verteidigung wurde
Mitterrands Zurückhaltung deutlich: Er erteilte der Vorstellung, dass eine euro-
päische Allianz in baldiger Zukunft die Atlantische ersetzen könne, eine deutliche
Absage. Mit dieser auf Vertrauensbildung bei den amerikanischen Verbündeten
zielenden Aussage, wollte er gefürchteten amerikanischen Rückzugstendenzen
aus Europa nicht noch Vorschub leisten. Darüber hinaus räumte er jedwede
Hoffnungen darauf, dass Frankreich den atomaren Schutz seiner europäischen
Verbündeten übernehmen könnte, bis auf den letzten Zweifel aus. In dieser
Hinsicht war seine Botschaft deutlich: Einer Kooperation stimmte er grundsätz-
lich zu, aber weder dehne Frankreich seine Abschreckung auf Europa aus, noch
„kann die Entscheidung über den Einsatz der französischen Atomwaffen […] ge-
teilt werden.“²²⁰ Stattdessen schlug er eine europäische Weltraumgemeinschaft
als Antwort auf die militärischen Herausforderungen vor und stellte die Begrün-
dung einer politischen europäischen Einheit in Aussicht. Dabei wird Mitterrands
grundlegende Haltung gegenüber Prozessen europäischer Integration deutlich: Er
plädierte dafür, den Gemeinschaftsinstitutionen „die Kohärenz zu geben, die ih-
nen fehlt“ und setzte sich damit für eine Stärkung und Vertiefung nach Innen ein,
bevor eine Ausweitung im Bereich der Verteidigung unternommen werden soll-
te.²²¹ Auf diese Weise schloss er ein verteidigungspolitisches Europa nicht prin-
zipiell aus. Stattdessen verschob er es in eine ferne Zukunft und versuchte, ihre
Befürworter so für seine Agenda zur Stärkung der Gemeinschaftsinstitutionen zu
gewinnen. Mit dieser Rede versuchte Mitterrand nicht nur, der Zukunft ein kon-
kreteres Gesicht zu geben, sondern seine Partner auch von einem europäischen
Aufbruch zu überzeugen, indem sie durch die imaginierte Zukunft ihre Orientie-
rungslosigkeit überwinden und die Anstrengungen auf ein gemeinsames Ziel
fokussieren konnten. Welches dieses konkret auch immer sein möge, blieb zu-
nächst unklar, denn Mitterrands Rede schuf nur die Illusion einer gemeinsamen
Zukunft, die hinreichend offen war, dass die anderen Mitgliedstaaten sie mit ihren
eigenen Erwartungen füllen konnten. Als ein strukturelles Merkmal von Mitter-
rands Zukunftsszenario lässt sich daher eine strategische Offenheit identifizieren,
da es den nach wie vor divergierenden Vorstellungen der Partner gerecht werden
sollte.
Trotz der intensiven deutsch-französischen Abstimmung, der französischen
Anstrengungen, die unterschiedlichen Haltungen zu harmonisieren, und einer
beträchtlichen Zahl an Kompromissen, die bei dem Gipfel erzielt wurden, erfolgte
bei dem Brüsseler Ratstreffen am 19. und 20. März 1984 nicht der erhoffte
Durchbruch. Nach dem Scheitern des Athener Gipfels hob auch Mitterrand die
Sitzung auf, ohne dass sich die Staats- und Regierungschefs auf Ergebnisse oder
ein Abschlusskommuniqué hätten einigen können. Margaret Thatchers Weige-
rung, die ihr angebotene Höhe der britischen Rückerstattungsbeträge vom euro-
päischen Budget zu akzeptierten, war einer der unüberwundenen Konfliktpunk-
te.²²² Als François Mitterrand am Tag nach dem Gipfel für ein Fernsehinterview vor
die Kameras trat, bemühte er sich in mehrfacher Hinsicht um Schadensbegren-
zung.²²³ Es war Verarbeitung des Misserfolgs und Vorbereitung neuer Verhand-
lungen zugleich – nach dem Gipfel in Brüssel war vor dem Gipfel in Fontaine-
bleau. Das Interview zielte darauf, Mitterrands Handeln als Ratspräsident in der
Öffentlichkeit zu legitimieren, die Ergebnisse zu beschönigen und den Druck auf
Großbritannien zu erhöhen. Helmut Kohl erinnerte sich in seinen Memoiren an
etwas, das François Mitterrand unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Brüssel am
21. März 1984 völlig aus dem Bewusstsein verdrängt zu haben schien – zumindest
gewannen seine Aussagen dadurch an Dramatik, dass er die Unstimmigkeiten, die
es mit den Iren auf dem Gipfel über die Frage der Milchquote gab, unter den Tisch
fallen ließ.²²⁴ Auf diese Weise gelang es ihm, Großbritannien das Scheitern für den
Gipfel alleine zur Last zu legen, das als einziger Mitgliedstaat – und das betonte
Mitterrand gleich mehrfach – aus einem breiten Konsens ausgeschert sei. Umso
erdrückender und leichtsinniger wirkt Thatchers Verhalten bei dem Gipfel, weil
Mitterrand beteuerte, dass man sich ansonsten in allen Punkten einig gewesen
sei. Mit einer kleinen Schönheitskorrektur der Realität lud er Thatcher eine
schwere Verantwortung auf und machte zugleich Hoffnungen auf die Zukunft,
weil der Gipfel, an den die Erwartungen so groß gewesen waren, dadurch im-
merhin nicht als absoluter Misserfolg erschien. Dies leitet über zu einem weiteren
Punkt: Der Konsens der Neun gegen Großbritannien rechtfertigt seine Entschei-
dung, den Gipfel ohne Ergebnis aufzuheben. Demgegenüber habe er lieber auf
eine Einigung um jeden Preis verzichtet, die er als „Faktor der Zerstörung Euro-
pas“ diffamiert. Zusammen „mit den anderen acht Ländern“ habe er sich dafür
entschieden, „die Uneinigkeit in Kauf zu nehmen“.²²⁵ Der Verweis auf die Rü-
ckendeckung der anderen acht Partner diente nicht nur zur Legitimation seines
Handelns, sondern zielte darauf, die britische Premierministerin zu isolieren und
den Druck zu erhöhen. Außerdem stellte die Relativierung des Scheiterns einen
Akt der Vertrauensbildung gegenüber den europäischen und insbesondere den
französischen Bürgern dar. Mit der Aufhebung des Treffens ohne Verhandlungs-
ergebnis hatte Mitterrand das Risiko in Kauf genommen, dass die EG in der Öf-
fentlichkeit ein weiters Mal als handlungsunfähig wahrgenommen wurde. In
Hinblick auf die anstehenden Europawahlen und nunmehr zwei aufeinander
folgenden gescheiterten Gipfeln, sah Mitterrand sich genötigt, das Image der
Europäischen Gemeinschaft zu verteidigen und sich zugleich als französischer
Präsident innenpolitisch zu rechtfertigen. Er wandte sich direkt an die französi-
schen Bauern, und entwarf ein Krisenszenario, das den Gemeinsamen Markt als
alternativlose Lösung erscheinen lassen sollte.
Ob nun Planung oder Strategie – dies erscheint angesichts des gescheiterten
Gipfels zunächst bedeutungslos. Trotz einer Strategie, die kontingente Ereignisse
in Rechnung stellt, war es schließlich nicht gelungen, die Konflikte zu überwinden
und die Gemeinschaft durch Reformierung für die Herausforderungen der Zukunft
auszurüsten. Ein weiteres Mal waren die Staats- und Regierungschefs auf der
Stelle getreten. Allerdings integrierte Mitterrand mit dieser nachträglichen Ra-
tionalisierung in dem Fernsehinterview das Scheitern in seine Strategie. Miss-
Kohl, Erinnerungen, S. 283; Runderlaß des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Steinkühler,
22. März 1984. In: AAPD 1984, Dok. 88, S. 436.
Mitterrand, Fernsehinterview, 21. März 1984, S. D276.
3.3 Relance européenne 227
lungene politische Planung wäre passé gewesen und hätte einer grundlegend
neuen Planung bedurft. Indem er die Alternative als Zerstörungsakt deutete,
stellte er sein Handeln und das Scheitern des Gipfels als notwendig dar. Trotz der
unerwarteten beziehungsweise unerwünschten Entwicklungen in Brüssel blieb er
handlungsfähig, weil er seine Strategie daran anpasste. Dadurch erhöhte er al-
lerdings auch den Einsatz für das nächste Zusammentreffen der europäischen
Staats- und Regierungschefs.
Das Abkommen vom 31. März bei dem Gipfel der europäischen Agrarminister,
in dem die Produktionsmengen für Milch festgelegt wurden, kostete, wie Roland
Dumas bezeugt, Frankreich zwar viel. Er bewertete es dennoch als einen Erfolg für
Europa. Die Lösungen der Konflikte in der Gemeinsamen Agrarpolitik demon-
strierten die Machbarkeit eines Kompromisses und förderten gewiss auch Helmut
Kohls Bereitschaft bei den Währungsausgleichszahlungen Abstriche hinzuneh-
men, die den französischen Bauern sehr schadeten, während sie den deutschen
nutzten. Helmut Kohl schloss sich erneut gegen die Einstellung seines Finanz-
ministers Stoltenberg der Haltung seines Außenministers an und signalisierte
Kompromissbereitschaft in der Frage der Währungsausgleichszahlungen, um der
französischen Präsidentschaft zum Erfolg zu verhelfen.²²⁶ Die Verhandlungs-
erfolge in der Gemeinsamen Agrarpolitik lesen sich nicht nur als Ertrag deutsch-
französischer Solidarität, sondern auch als wegbereitend für das europäische
Ratstreffen in Fontainebleau. An dessen Vorabend blieb als einzige noch unge-
löste Frage der britische Beitrag zum Gemeinschaftsbudget übrig. Für die Stra-
tegie, die Kanzleramt und Elysée auf französischen Impuls ausarbeiteten, war
diese Tatsache entscheidend.
Mit dem Brüsseler Scheitern war der Druck auf den französischen Präsidenten
und seine équipe gestiegen, in Fontainebleau einen Durchbruch zu erzielen.
Dabei verließen sie sich nicht auf die Hoffnung, dass auch der Druck auf Pre-
mierministerin Thatcher hinreichend gestiegen war, sodass sie endlich ein An-
gebot über die Rückerstattungsbeträge akzeptieren würde. Ohne eine alternative
Strategie könnte der Gipfel in Fontainebleau auch lediglich zu einer Verlängerung
des Brüsseler Treffens werden. In zwei Punkten änderte Mitterrand daher seine
Strategie: Erstens gab er der Zukunft Europas ein konkreteres Gesicht: Am
16. April 1984 empfing er Altiero Spinelli, den Berichterstatter des Projekts zu
einer Europäischen Union vom Europäischen Parlament. Bei dieser Gelegenheit
übergab Spinelli Mitterrand ein Dokument mit Überlegungen zu einer möglichen
AN, AG/5(4)/PM/8, Parlement Européen, François Bordry an Monsieur Pierre Morel, Con-
seiller technique, Présidence de la République, 18. April 1984.
AN, AG/5(4)/PM/8, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Note pour Mon-
sieur le Président, Entretien avec M. Dankert: Projet de traité sur l’Union européenne, 16. April
1984.
AN, AG/5(4)/PM/8, Altiero Spinelli, Député au Parlement européen, Quelques réflexions
concernant la possibilité d’une initiative européenne du Président de la République, 16. April
1984.
Mitterrand, François: Rede des französischen Staatspräsidenten, François Mitterrand, vor
dem Europäischen Parlament am 24. Mai 1984. In: Europa-Archiv (1984) 12. S. D332.
3.3 Relance européenne 229
Die Alternative, die sich jetzt stellt, heißt: Entweder wir überlassen anderen auf unserem
Kontinent oder außerhalb unseres Kontinents die Entscheidung über aller, und somit auch
unser, Schicksal, oder aber wir vereinigen alle Talente und Fähigkeiten, alle schöpferischen
Möglichkeiten, die materiellen, geistigen und kulturellen Mittel, die aller zusammen aus
Europa eine Zivilisation gemacht haben, damit Europa […] endlich das wird, was es ei-
gentlich ist.²³⁵
Dieses Beispiel verdeutlicht eine Strategie, der sich die équipe Mitterrand in ver-
schiedenen Kontexten bediente: Das Drohen mit einer möglichen Zukunft, durch
das die Alternative alternativlos erscheint. Insgesamt wurde damit der Horizont
an denkbaren Handlungsimpulsen scheinbar geschlossen, indem die Illusion
einer binären Entscheidung zwischen Zukunft A und Zukunft B erzeugt wurde.
Seine Initiative für ein Europa der Zukunft war allerdings nur eine Seite von
Mitterrands Strategie. Während Robert Armstrong, Thatchers Kabinetts-Sekretär,
Jacques Attali sowie Sir Geoffrey Howe und Roland Dumas neue Kompromiss-
vorschläge für die britischen Rückerstattungsbeträge ausarbeiteten, überlegten
sich die Mitarbeiter des Präsidenten zweitens ein potentielles Krisenszenario für
den Fall, dass die Premierministerin ein weiteres Mal alle Verhandlungen würde
platzen lassen: Ein Europa ohne Großbritannien. Dumas bezeugt, dass Mitterrand
zunächst skeptisch gewesen sei, schließlich aber grünes Licht gegeben habe. Da
die Römischen Verträge keinen Ausschluss vorsahen, entwickelte Guy Legras die
Idee, eine neue Gemeinschaft neben der EG zu gründen. Damit wurde britischen
Erpressungsversuchen ein entscheidendes Druckmittel entzogen. Dieses Krisen-
szenario wurde daraufhin mit Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher abge-
stimmt. Nach der Regelung der Gemeinsamen Agrarpolitik und den Währungs-
ausgleichszahlungen war die Entente zwischen Paris und Bonn stärker als zuvor.
Während Genscher und Dumas an einer gemeinsamen Strategie arbeiteten, wurde
zwar auf Diskretion Wert gelegt. Bewusst wurde aber wohl in Kauf genommen,
dass Gerüchte durchsickerten und die Premierministerin Wind von den Plänen
einer Alternative bekam.²³⁶ Das Drohen mit einer möglichen, für Großbritannien
wenig verheißungsvollen Zukunft wurde auch hier strategisch eingesetzt. Indem
an der Entschlossenheit, notfalls ohne Großbritannien voranzugehen, kein
Zweifel blieb, wurde dies für Thatcher zu einem realistischen Bedrohungsszena-
rio. Mitterrands Kompromisslosigkeit wurde für sie zu einem unkalkulierbaren
Risiko transformiert, weil sich der Einsatz seit Brüssel erhöht hatte. Zudem hatte
sie dort bereits die Erfahrung gemacht, dass Mitterrand im Zweifelsfall bereit war,
es darauf ankommen zu lassen und die Sitzung auch ohne Ergebnis aufzuheben.
Mit dieser Strategie gelang es, bei dem Gipfel in Fontainebleau nach
schwierigen Verhandlungen mit der britischen Premierministerin schließlich ei-
nen Verhandlungserfolg zu erzielen. Dadurch wurden nicht nur die Streitfragen
zwischen den Mitgliedstaaten überwunden, sondern auch die Türen zu einer
Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft aufgestoßen. Der Europäische
Rat beschloss die Bildung von zwei Ausschüssen, die mit der konkreten politi-
schen Ausarbeitung beauftragt wurden. Ein Ausschuss für ein „Europa der Bür-
ger“ sollte an der Förderung von grenzüberschreitendem Waren- und Personen-
verkehr und dem Aufbau eines europäischen Bewusstseins arbeiten. Der „Ad-hoc-
Ausschuss für institutionelle Fragen“ wurde damit beauftragt, „Vorschläge zum
besseren Funktionieren der europäischen Zusammenarbeit im Gemeinschafts-
bereich“, der EPZ und „anderen Bereichen“ zu unterbreiten.²³⁷ Die Staats- und
Regierungschefs bekundeten außerdem ihre Absicht, den gemeinsamen Bin-
nenmarkt zu vollenden sowie der wissenschaftlichen und technischen Koopera-
tion neue Impulse zu geben.²³⁸ Da bereits verschiedene Initiativen zu einer Re-
formierung und Erweiterung der Gemeinschaft vorgelegen hatten, konnte sich
nach der Auflösung der wechselseitigen Blockierungen auch deshalb eine neue
Dynamik entfalten, weil Mitterrand es verstanden hatte, einen konkreten Zu-
kunftsentwurf zu unterstützen und als Verheißung gegenüber einer Fokussierung
auf nationale Belange zu präsentieren.
Als Pierre Morel im September 1984 feststellte, dass die Bundesrepublik ei-
nige Arbeiten im institutionellen Ausschuss blockierte, schlug er vor, die pro-
blematischen Fragen bei dem Treffen von Kohl und Mitterrand in Verdun zu be-
sprechen. Die deutsche Haltung, erklärte Morel, sei innenpolitisch motiviert, da
Kohl aufgrund der Nominierung von Jacques Delors zum Kommissionspräsiden-
ten viel Kritik hatte einstecken müssen. Innerhalb der Gemeinschaft verursachte
dies ein Klima der Spannungen. Zudem habe der Bundeskanzler auch seinen
Kandidaten nicht als Vorsitzenden des Ad-hoc Komitees durchsetzen können, der
sich mit den institutionellen Fragen befasste. Deswegen schlug er vor, auf dem
nächsten deutsch-französischen Gipfel in Bad Kreuznach Ende Oktober 1984 ein
politisches Signal zu senden und bereits in Verdun, am Rande der Gedenkfeier
zum Ersten Weltkrieg einige kritische Fragen anzusprechen.²³⁹ Die Dynamik der
relance européenne war also durchaus anfällig für neue Störungen. Um jedwede
Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Fontainebleau (25. und 26. Juni 1984). In:
Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Juni 1984 Nr. 6. S. 10 – 12.
Loth, Europas Einigung, S. 257 f.
AN, AG/5(4)/PM/8, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel, Note
pour Jean-Louis Bianco et Jacques Attali, Brusquerie et rigidité allemandes au sein de la Com-
munauté, 18. September 1984.
232 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
Mit dem Votum des Deutschen Bundestages am 22. November 1983 war die Auf-
stellung amerikanischer Raketen auf bundesdeutschem Territorium beschlossene
Sache. Zwei Tage später am 24. November 1983 beauftragte François Mitterrand
seinen Außenminister, Kontakt zum sowjetischen Botschafter Julij Woronzow
aufzunehmen und eine Reise des Präsidenten nach Moskau vorzubereiten.²⁴¹
Hatte Mitterrand dem Wunsch der sowjetischen Führung nach persönlichen Ge-
sprächen der Staatsspitzen zuvor stets widerstanden, stellt sich die Frage, was
den französischen Präsidenten nun dazu bewegte, seine Entscheidung zu ändern.
Die folgenden Ausführungen haben zum Ziel, die Bedingungen und Intentionen
von Mitterrands Besuch in Moskau zu analysieren und am Schluss eine Bewer-
tung der Ergebnisse vorzunehmen.
Die politischen Rahmenbedingungen hatten sich seit 1981 grundlegend ver-
ändert. Obwohl mit dem Beginn der Nachrüstung die Kopplung der europäischen
und amerikanischen Verteidigung wiederhergestellt werden sollte, war das Risiko
einer Spaltung der Atlantischen Allianz nach wie vor nicht beseitigt: Diplomaten
im Quai d’Orsay sahen den Bündniszusammenhalt immer noch gefährdet, weil
die INF-Krise auch die START-Verhandlungen blockierte und mit Reagans An-
kündigung von SDI bereits eine Fortsetzung des Wettrüstens im Weltraum in
Aussicht war.²⁴²
Das Verhalten der sowjetischen Führung wurde ebenfalls problematisiert:
Nachdem Jurij Andropow im Februar 1984 verstorben war, wurden die Entschei-
dungen unter seinem Nachfolger Konstantin Tschernenko als Zeichen einer po-
litischen Verhärtung und Unnachgiebigkeit gedeutet. Dieser Schluss wurde aus
dem Boykott der sowjetischen Sportler bei den Olympischen Spielen in Los An-
geles und einer neuen Offensive in Afghanistan gegen die Provinz Panshir ge-
zogen. Auch die Verfolgung der Ehefrau von Andrej Sacharow, Jelena Bonner
schien den Verdacht weiter zu erhärten.²⁴³ Jacques Andréani konstatierte ab April
1984 ein „durcissement soviétique“: Er hatte zwar erwartet, dass sich die So-
wjetunion nach dem Beschluss der Nachrüstung zurückziehen werde. Allerdings
hatte er wohl damit gerechnet, dass diese Verhandlungspause nicht von langer
Dauer sein würde. Anfang Juni 1984 sah er sich genötigt, sein Urteil zu revidieren.
Zwar empfand er die sowjetische Politik nicht als bedrohlich, jedoch sah er die
Gefahr, dass die Moskauer Führung sich dadurch in eine Sackgasse manövrierte,
aus der ein Ausweg zunehmend schwieriger wurde.²⁴⁴ Bei den Vorbereitungen von
Mitterrands Staatsbesuch erkannte die Europaabteilung des Quai d’Orsay im
Kreml keinerlei Bereitschaft, zu einem Dialog mit Washington zurückzukehren.
Pierre Morel führte die sowjetischen Schwierigkeiten nicht in erster Linie auf
politische, militärische oder wirtschaftliche Ursachen zurück. Vielmehr sah er
ihren Ursprung psychologisch begründet. Er diagnostizierte ein tief verwurzeltes
und andauerndes Misstrauen gegenüber der externen Welt und insbesondere den
USA.²⁴⁵ Das Verhalten der sowjetischen Führung erklärte er mit deren Selbst- und
Fremdwahrnehmungen, wodurch Empathie gewissermaßen zu einer strategi-
schen Grundlage von politischem Handeln wurde.
Moskau hatte wohl in der Tat nicht damit gerechnet, dass die Bundesregie-
rung den Nachrüstungsbeschluss tatsächlich umsetzen würde – zumindest hatte
sie keine alternative Strategie entwickelt, als die Friedensbewegung für den Druck
auf die westlichen Regierungen zu instrumentalisieren. Als sie damit letztlich am
22. November 1983 offenkundig gescheitert war, war sie zu neuen Entscheidungen
unfähig. Sowjetische Medien begannen, Kriegsangst zu schüren, woraus Gerhard
Wettig den Schluss zog, dass „die sowjetische Führung die Bevölkerung auf einen
möglichen militärischen Konflikt vorbereiten [wollte], der, wie Andropow und
nervöse Funktionäre in seiner Umgebung befürchteten, akut drohte.“²⁴⁶ Es deutet
darauf hin, dass die sowjetischen Entscheidungen während der INF-Verhand-
lungen im Wesentlichen von irrationalen Vernichtungsängsten beeinflusst wur-
AN, AG/5(4)/PM/98, Premier Ministre, Secrétariat Général de la Défense Nationale, Fiche,
Que signifie le boycott des jeux olympiques par les Soviétiques?, 9. Mai 1984.
ADMAE, 1930-INVA 5698, MRE, Le Directeur des Affaires Politiques, Jacques Andréani, Note,
Les relations Est-Ouest au printemps 1984, 6. Juni 1984.
AN, AG/5(4)/PM/98, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel,
Note pour Jean-Louis Bianco, Quelques réflexions sur l’URSS et les relations franco-soviétiques,
18. Juni 1984.
Wettig, Sowjetische Euroraketenrüstung, S. 63; siehe dafür auch: Zubok, Failed Empire,
S. 275.
234 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
den, sodass sie durch die sowjetische Führung als Existenzkampf wahrgenom-
men wurden. In dem Fall mag es überraschen, dass sie sich scheinbar aus-
schließlich auf die Strategie verließ, Teile der westlichen Öffentlichkeit zu in-
strumentalisieren, anstatt sich mit einem alternativen Plan in den Verhandlungen
konstruktiver zu zeigen. Zwei Erklärungen kommen dafür infrage: Erstens ist
davon auszugehen, dass die sowjetischen Militärs und Hardliner sich auf
Grundlage ihres politischen Einflusses einem Abzug sowjetischer Systeme er-
folgreich in den Weg stellten. Hinzu kommt vermutlich zweitens, dass die Ängste
vor kriegerischen Absichten des Westens und die Erfahrungen des Zweiten
Weltkrieges so tief verwurzelt waren, dass sie jeder Bereitschaft einer Teilabrüs-
tung der SS-20-Raketen im Weg standen, weil es einer Entblößung der Verteidi-
gung gleichgekommen wäre. Der Weg über die westliche Öffentlichkeit war aus
dieser Sicht mit den geringsten Kosten verbunden. Von Mitterrands Beratern und
den Diplomaten im Außenministerium wurden diese Tendenzen erkannt und
Entscheidungen der sowjetischen Außenpolitik als Indikator für eine Dramati-
sierung der Situation interpretiert. Die Konsequenzen der Nachrüstung wurden
also einerseits als riskant bewertet und ein dringender Handlungsbedarf abge-
leitet, um die sowjetische Führung zu einer Rückkehr zum Dialog zu bewegen.
Die politische Situation eröffnete andererseits neue Möglichkeitsräume für
die französische Politik: Ende Juni 1984 wurde als günstiger Zeitpunkt für Mitt-
errands Reise empfohlen.²⁴⁷ Schon unmittelbar nach der Abstimmung im Bun-
destag, als die Konsequenzen noch abzuwarten blieben, wies Cheysson bei Ge-
sprächen der deutschen und französischen Außen- und Verteidigungsminister
und politischen Direktoren darauf hin, dass Franzosen und Europäern künftig
eine entscheidende Rolle zwischen den beiden Supermächten zukäme: Er sah sie
als Medium, durch das die sowjetische Führung bei einer Rückkehr zum Ver-
handlungstisch ihr Gesicht wahren könne.²⁴⁸ Genscher stimmte mit seinem
Amtskollegen überein und erklärte seine Absicht, in der amerikanischen Admi-
nistration jene Repräsentanten unterstützen zu wollen, die Verhandlungen mit
AN, AG/5(4)/EG/195, MRE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Note de
Synthèse, Visite de Monsieur le Président de la République en URSS (20 – 23 juin 1984), 12. Juni
1984.
„Nous avons des raisons de penser que nous pourrons jouer un rôle utile le moment venu
pour sauver la face des Soviétiques en vue de la reprise des négociations. Il faut laisser passer
quelque temps.“ AN, AG/5(4)/CD/162, MRE, Le Directeur des Affaires Politiques, 3e Réunion
ministérielle franco-allemande sur les questions de stratégie et de sécurité, Bonn 24 novembre
1983, 28. November 1983.
3.4 Die Rückkehr zur Détente 235
AN, AG/5(4)/CD/162, MRE, Le Directeur des Affaires Politiques, 3e Réunion ministérielle
franco-allemande sur les questions de stratégie et de sécurité, Bonn 24 novembre 1983, 28. No-
vember 1983.
AN, AG/5(4)/PM/98, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel,
Note pour Jean-Louis Bianco, Quelques réflexions sur l’URSS et les relations franco-soviétiques,
18. Juni 1984.
AN, AG/5(4)/EG/195, Premier Ministre, Secrétariat d’État, Centre d’Études prospectives et
d’informations internationales, Groupe de réflexion sur les rapports est-ouest, Réunion du 15. juin
1984, Faut-il s’évertuer à relancer les relations franco-soviétiques?, 18. Juni 1984.
236 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
AN, AG/5(4)/CD/74, Présidence de la République, Comptes Rendus des entretiens entre le
Président Reagan et le Président Mitterrand à la Maison Blanche, 22. März 1984.
AN, AG/5(4)/CD/74, Présidence de la République, Comptes Rendus des entretiens entre le
Président Reagan et le Président Mitterrand à la Maison Blanche, 22. März 1984.
3.4 Die Rückkehr zur Détente 237
Breschnew und Andropow hätten gemerkt, dass ihr diplomatisches Vorgehen von
der Armee konterkariert worden sei. Um Reagan zu überzeugen, setzte François
Mitterrand eine Form von Gefühlspolitik ein, die an dieser Stelle als Erziehung zu
Empathie bezeichnet werden soll. Er ermunterte seine amerikanischen Ge-
sprächspartner dazu, aus ihrer eigenen Perspektivität herauszutreten, indem er
versuchte, sie für die Selbst- und Fremdwahrnehmungen der sowjetischen Füh-
rung und die daraus resultierenden Ängsten zu sensibilisieren. De facto zielte dies
darauf, eine rein realpolitische Sicht zu unterlaufen, weil er Wahrnehmungen und
Emotionen eine Wirkung in politischen Entscheidungsprozessen zuschrieb. Ro-
nald Reagan zog in Erwägung, dass die sowjetische Führung tatsächlich Ängste
vor den USA hegen könnte. Einen Abbau der Verteidigungsmaßnahmen hinzu-
nehmen, kam für ihn zwar nicht infrage, aber immerhin erkannte er die Not-
wendigkeit, Moskau durch die Demonstration von Friedenswillen zu beruhigen.²⁵⁴
Von kriegerischen Absichten der Sowjetunion zeigte sich Mitterrand wenig
überzeugt, da sie in der Vergangenheit selten als Aggressor aufgetreten sei. Viel
eher stünde doch zu befürchten, dass die Sowjets die USA als Aggressor wahr-
nehmen würden und begründete dies mit dem russischen Einkreisungskomplex.
Damit versuchte François Mitterrand, seinen Amtskollegen darin zu bestärken,
die sowjetischen Bedrohungsperzeptionen zu berücksichtigen, um daraus resul-
tierenden Ängsten entgegenzutreten. Er warnte Reagan vor neuen Provokationen,
da die Sowjets vor allem durch Angst zum Krieg getrieben würden. Eine Ein-
schätzung des politischen Handlungsspielraums für die amerikanische Admi-
nistration lieferte Mitterrand gleich mit, als er ein Zeichen der Vertrauensbildung
empfahl, aber sogleich hinterherschob, „rien ne pourra être fait d’utile avant la fin
de l’année.“²⁵⁵ Diese Erkenntnisse werfen ein neues Licht auf Reagans Bemü-
hungen, sich ab Ende 1984 für ein persönliches Treffen mit dem Generalsekretär
der KPdSU einzusetzen. Es scheint gerade so, dass Mitterrand Reagan zu der
Einsicht verhalf, dass „[v]iele Männer an der Spitze der Sowjet-Hierarchie […]
aufrichtig Angst vor Amerika und den Amerikanern [hatten].“²⁵⁶
Hatte Mitterrand die antisowjetischen Tendenzen in der französischen Öf-
fentlichkeit im Wahlkampf noch geschickt nutzen können, wurden sie ihm zu-
nehmend zum Hindernis. Im Zusammenhang mit der offiziellen Ankündigung der
Reise bereitete eine Affäre um sowjetische Menschenrechtsverletzungen den
französischen Diplomaten erhebliche Schwierigkeiten. Im Mai 1984 gelangten
AN, AG/5(4)/CD/74, Présidence de la République, Comptes Rendus des entretiens entre le
Président Reagan et le Président Mitterrand à la Maison Blanche, 22. März 1984.
AN, AG/5(4)/CD/74, Présidence de la République, Comptes Rendus des entretiens entre le
Président Reagan et le Président Mitterrand à la Maison Blanche, 22. März 1984.
Reagan, Erinnerungen, S. 618; vgl. außerdem: Zubok, Failed Empire, Empire, S. 275.
238 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
ADMAE, 1930-INVA 5698, MRE, TD Diplomatie 33386, Message à Georges Shultz, 27. Juni
1984.
AN, AG/5(4)/CD/147, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, Afghanistan, 9. Mai 1984.
AN, AG/5(4)/CD/147, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République, 11. Mai 1984.
3.4 Die Rückkehr zur Détente 239
diese Kritik nicht ignoriert werden, da der sowjetische Dissident bereits zu einem
Symbol geworden war. Aus diesem Grund legte Roland Dumas mit dem Einver-
ständnis des Präsidenten Mitte Mai das Schicksal der Sacharows in der franzö-
sischen Nationalversammlung dar. Zudem informierte er den Kreml über Mitter-
rands Absicht, die Frage bei seinem Besuch in Moskau anzusprechen, was dort für
Beunruhigung sorgte.²⁶⁰ Die Moskau-Reise wurde in der Öffentlichkeit in einer
Weise vorbereitet, die eine doppelte Erwartung erzeugte. Die Demonstration von
Dialogbereitschaft wurde schon vor dem Antritt der Reise an französische Un-
nachgiebigkeit rückgebunden.
Auch die Erwartungen der sowjetischen Führung wurden durch Mitarbeiter
des Quai d’Orsay vorab kalkuliert, um diplomatischen Fallen auszuweichen.
Unter anderem wurde ihr unterstellt, eine Rückkehr zu privilegierten Beziehungen
und der Entspannungspolitik erwirken zu wollen.²⁶¹ Diese Analysen wurden im
Elysée als Grundlage genommen,²⁶² um die Vieraugengespräche vorzubereiten.
Semantische Warnungen der Diplomaten wurden beispielsweise berücksichtigt,
als Mitterrand in Moskau von der Freundschaft zwischen dem sowjetischen und
französischen Volk sprach, anstatt sie auf eine staatliche Ebene zu heben.²⁶³ Bei
dem offiziellen Dinner im Kreml verband er vertrauensbildende Maßnahmen mit
dem Motiv der Selbsterhaltung: Indem er den defensiven Charakter der franzö-
sischen force de frappe betonte, wollte er sie nicht nur legitimieren, sondern auch
sowjetische Ängste und Feindbilder abbauen. Um seinen Argumenten und seiner
Friedfertigkeit besondere Glaubwürdigkeit zu verleihen, untermauerte er seine
Erzählungen mit persönlichen Kriegserinnerungen.²⁶⁴ Dieses Stilmittel von
François Mitterrand, das Georges Saunier sehr häufig in öffentlichen Stellung-
nahmen und Gesprächen mit anderen Staates- und Regierungschefs nachgewie-
sen hat, diente in diesem Fall auch dazu, die Distanz zu seinen sowjetischen
Zuhörern zu überwinden. Aufgrund des hohen Durchschnittsalters im Politbüro
der KPdSU hatten die meisten unter ihnen den Zweiten Weltkrieg selbst bewusst
Erfolg: Sie habe demonstriert, dass der Dialog auf Gipfelebene wiederaufge-
nommen werden könne, ohne die Haltung der Unnachgiebigkeit aufzugeben.²⁶⁹
François Mitterrand und seine Mannschaft brachten den Gesprächen mit der
sowjetischen Führung mehrere Erwartungen entgegen. Es stand nicht im Vor-
dergrund, mit konkreten Verhandlungsergebnissen nach Paris zurückzukehren.
Die zentrale Botschaft, die durch und bei dem Besuch gesendet werden sollte, war
die Demonstration französischer Unabhängigkeit, die sowohl an Washington als
auch an Moskau gerichtet war. Die Analysen von Guigou, Védrine und Morel ha-
ben deutlich gezeigt, dass die Inszenierung französischer Unabhängigkeit künf-
tige Handlungsspielräume eröffnen sollte. Ein weiteres Ziel, das Mitterrands Be-
rater mit der Reise verbanden, war die Anerkennung der europäischen Realität
durch die sowjetische Führung.²⁷⁰ Roland Dumas bezeugt, dass die europäische
Konstruktion im Verhältnis von Paris und Moskau eine entscheidende Rolle
spielte: Ein unabhängiges Frankreich brauchte im Rücken ein starkes Europa
„non aligné“.²⁷¹ Die Anerkennung der europäischen Realität war also komple-
mentär zur Inszenierung französischer Autonomie. Schon bei den Vorbereitungen
des Gipfels, hatte sich Claude Cheysson überrascht gezeigt, dass die französische
Botschaft für die Gespräche nicht die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und
der Europäischen Gemeinschaft vorgesehen hatte. Auch wenn es die Sowjets in
Verlegenheit brachte, beurteilte Cheysson dieses Gesprächsthema als unum-
gänglich.²⁷² Am Vorabend des europäischen Ratstreffens in Fontainebleau wurde
in Moskau also auch die Karte der europäischen Ratspräsidentschaft ausgespielt.
Das CAP plädierte dafür, dem Kreml vor Augen zu führen, dass die europäische
Realität unausweichlich war. Die Sowjets sollten zwar verstehen, dass ihr inter-
nationales Auftreten in erheblichem Maße dazu beigetragen hatte. Gleichwohl
sollten die europäischen Autonomiebestrebungen weder das Misstrauen der so-
wjetischen Führung erregen, noch als politisches Instrument gegen die USA
missbraucht werden.²⁷³ Cheysson hatte dem sowjetischen Botschafter Woronzow
signalisiert, dass Europa als Gesprächsthema auf die Agenda gesetzt werden
AN, AG/5(4)/PM/98, MRE, TD Diplomatie 33905, Visite de M. le Président des la République
en URSS, 29. Juni 1984.
AN, AG/5(4)/EG/195, Présidence de la République, Hubert Védrine et Elisabeth Guigou, Note
pour le Président, Les enjeux de votre visite en URSS, 19. Juni 1984; AN, AG/5(4)/PM/98, Présid-
ence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel, Note pour Jean-Louis Bianco,
Quelques réflexions sur l’URSS et les relations franco-soviétiques, 18. Juni 1984.
Dumas, Affaires étrangères, S. 172.
ADMAE, 1930-INVA 5698, MRE, TD Diplomatie 29767, Thèmes de discussion pendant la visite
présidentielle, 10. Juni 1984.
AN, AG/5(4)/PM/98, MRE, Centre d’Analyse et de Prévision, Note, Comment parler de l’Eu-
rope aux Soviétiques? Eléments de réflexion, 6. Juni 1984.
242 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
sollte.²⁷⁴ Der französische Botschafter machte sich dafür bei Andrej Gromyko
ebenfalls stark, der dem schließlich zustimmte.²⁷⁵ In Moskau plädierte Außen-
minister Claude Cheysson dann dafür, dass die sowjetischen Gesprächspartner
die Existenz der Europäischen Gemeinschaft als Realität und unabhängige Kraft
anerkennen.²⁷⁶ Die EG ließe sich nicht auf den gemeinsamen Markt reduzieren,
vielmehr verfüge sie über Kompetenzen, die ihr von den Mitgliedstaaten über-
tragen würden. Die Suche nach Anerkennung der Europäischen Gemeinschaft bei
der Moskauer Führung beruhte auf zwei Wünschen: Erstens ist davon auszuge-
hen, dass die Eigenständigkeit der Gemeinschaft auch nur dann wirklich effektiv
wurde, wenn sie als solche anerkannt wurde. Indem sich der französische Au-
ßenminister zweitens der europäischen Eigenständigkeit verpflichtete, wurde
auch sein individueller Handlungsspielraum größer. Er sprach mit einer explizit
europäischen Stimme, immerhin reiste die französische Delegation als Inhaber
der Ratspräsidentschaft nach Moskau. Als gewissermaßen eigenständige Kraft
sollte auch das sowjetische Misstrauen gegenüber den USA und der NATO un-
terlaufen werden.
Die dritte Intention richtete sich darauf, Bereitschaft zum Dialog mit der so-
wjetischen Führung zu signalisieren, auf den François Mitterrand zuvor verzichtet
hatte. Dies demonstrierte, dass der Gesprächsfaden zwischen Ost und West trotz
der Umsetzung des Nachrüstungsbeschlusses und dem „Übergangsjahr“ auf-
grund der amerikanischen Präsidentschaftswahlen nicht abriss.²⁷⁷ Zum einen
wurden die Bedingungen abgeklopft, die Tschernenko und Gromyko an eine
Wiederaufnahme der Abrüstungsgespräche knüpften. Kurz erwogen Védrine und
Guigou gar, als indirekter Mittler Ronald Reagans aufzutreten und dessen Wunsch
nach Verhandlungen auszudrücken. Sie sahen dann aber wohl wieder davon ab,
weil sie sich erinnerten, wie die Sowjets auf ein ähnliches Vorgehen von Hans-
Dietrich Genscher „avec une extrême violence“ reagiert hätten.²⁷⁸ Außerdem hätte
dies in einem Widerspruch zur zentralen Botschaft französischer Unabhängigkeit
gestanden, schließlich sollte Mitterrand laut Gergorin auch nicht auf die Rolle
ADMAE, 1930-INVA 5698, MRE, TD Diplomatie 29767, Thèmes de discussion pendant la visite
présidentielle, 10. Juni 1984.
ADMAE, 1930-INVA 5698, MRE, TD Moscou 1394, Entretien avec M. Gromyko (2/2), 11. Juni
1984.
AN, AG/5(4)/PM/98, MRE, TD Moscou 1564, Visite du Président de la République en URSS –
entretien du Ministre avec M. Gromyko – (1/2), 22. Juni 1984.
Übersetzt aus dem Französischen „année d’intermède“; siehe Védrine, Mondes, S. 251.
AN, AG/5(4)/EG/195, Présidence de la République, Hubert Védrine et Elisabeth Guigou, Note
pour le Président, Les enjeux de votre visite en URSS, 19. Juni 1984.
3.4 Die Rückkehr zur Détente 243
AN, AG/5(4)/EG/195, Premier Ministre, Secrétariat d’Etat, Centre d’Etudes prospectives et
d’informations internationales, Groupe de réflexion sur les rapports est-ouest, Réunion du 15 juin
1984, Faut-il s’évertuer à relancer les relations franco-soviétiques?, 18. Juni 1984.
AN, AG/5(4)/PM/98, MRE, TD Moscou 1562, Visite de M. le Président de la République en
URSS. Premier entretien avec M. Tchernienko. (2/3), 22. Juni 1984.
Attali, Verbatim 1981– 1986, 20. Juni 1984, S. 777– 780.
244 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
letztlich zu der Aufstellung der Pershing-II-Raketen geführt hatte, befand sich die
Sowjetunion indessen in einer defensiven Position und Mitterrand musste nicht
befürchten, als demandeur nach Moskau zu reisen. Mit den Reisen nach Wa-
shington und Moskau gelang es schließlich, den französischen Präsidenten zu
seinen Bedingungen als Akteur der Ost-West-Beziehungen zu etablieren. Die so-
wjetische Presse versuchte, den Besuch von François Mitterrand, der jahrelang
einem Gipfeltreffen widerstanden und nun immerhin nach Moskau gekommen
war, als Erfolg und Kursänderung der französischen Außenpolitik zu verkaufen.²⁸²
Dass die sowjetische Führung letztlich aber den Eklat scheute und die empfun-
dene Demütigung hinnahm, verdeutlicht, dass sie auf der Suche nach einem
Ausweg aus der Konfrontation war und eine Rückkehr zur Entspannung über den
Kontakt zu westeuropäischen Staatschefs suchte.
Drittens nutzte Mitterrand die inszenierte Unabhängigkeit als politische
Ressource, um seinen Handlungsspielraum auszuweiten. Sie war eine Voraus-
setzung für Mitterrands Rolle als Vermittler zwischen den Supermächten, die er
sowohl in Washington als auch in Moskau eingenommen hatte. Die strategische
Gefühlspolitik sollte beiden Supermächten einen Perspektivwechsel erleichtern,
um sie zu einer Rückkehr an den Verhandlungstisch zu bewegen. François Mitt-
errand erwies sich nicht nur als empathisch für amerikanische und sowjetische
Selbst- und Fremdwahrnehmungen, sondern erscheint im Angesicht dieser
Quellen vielmehr auch als Wegbereiter und Mitinitiator der Neuen Détente ab
1985.
Zwischenbilanz
In mehrfacher Hinsicht hat die équipe Mitterrand in der ersten Jahreshälfte 1984
ihren politischen Handlungsspielraum im Beziehungsgeflecht der internationa-
len Staatengemeinschaft ausgeweitet; Somit kann das Jahr berechtigterweise als
eine Art Scharnierjahr betrachtet werden.²⁸³ Wie ist ihr das geglückt – bezie-
hungsweise welche spezifischen Strategien und Instrumente wurden dafür ein-
gesetzt? Diese auf den ersten Blick recht banal anmutende These einer Auswei-
tung des politischen Handlungsspielraums ergibt sich nach der Analyse einer
ansonsten recht komplexen Gemengelage. Es hat sich gezeigt, dass die équipe
Mitterrand mit der deutschen Bundesregierung am Ursprung der relance eu-
ropéenne stand und im Kontext der Ost-West-Beziehung eine Rückkehr zur Ent-
spannungspolitik förderte. Im Zentrum der Untersuchung standen in beiden
Kontexten das Aufbrechen von Perzeptionen, die Überwindung von Misstrauen
und Feindbildern und das Bemühen um Vertrauen, Kooperation und Dialog.
Zwischen den europäischen Bündnispartnern behinderte das Misstrauen gegen-
über einer deutsch-französischen Achse aus Mitterrands Sicht eine ertragreiche
Kooperation auf europäischer Ebene. Dass er durch die Beseitigung dieses Miss-
trauens bei den kleineren europäischen Staaten stattdessen Misstrauen bei den
deutschen Partnern auslöste, war eine unintendierte Folge seines Handelns und
bedurfte wiederum vertrauensbildender Maßnahmen in Bonn. Im Kontext des
Ost-West-Dialogs waren wechselseitiges Misstrauen und manifestierte Feindbilder
ein Hindernis für eine nachhaltige Entspannung. Zwar stand die französische
Détente bis 1984 hinter der Euroraketenkrise zurück. Dass Mitterrand nur wenige
Tage nach dem Nachrüstungsbeschluss die lange ausgesprochene Einladung
nach Moskau annahm, stützt jedoch die These aus dem zweiten Kapitel: Mitter-
rand vollzog 1981 keinen politischen Kurswechsel, vielmehr diente ihm die In-
szenierung dazu, den Status Quo auf Grundlage eines strategischen Gleichge-
wichts zu stabilisieren. Das Misstrauen im Kreml gegenüber ihm und der
sozialistischen Regierung nahm er solange in Kauf. Mit dem Votum des Deutschen
Bundestages zur Aufstellung amerikanischer Raketen auf deutschem Boden vom
November 1983 war diese Bedingung erfüllt. Für Mitterrand war damit auch das
wesentliche Hindernis beseitigt worden, persönlich mit der sowjetischen Führung
zu sprechen. Der Abbruch der Verhandlungen zwischen den USA und der So-
wjetunion machte Bemühungen um eine neue Entspannung allerdings gleich-
zeitig umso notwendiger, denn mit der Erhöhung des Rüstungsniveaus war neue
Ungewissheit erzeugt worden. Das Misstrauen der sowjetischen Führung stand
nun einer Entspannung zwischen Ost und West im Wege, derer es als Voraus-
setzung auch für die Emanzipationsprozesse in Europa bedurfte. Daher stellt sich
die Frage, welcher vertrauensbildenden Strategien sich der französische Präsi-
dent in beiden Kontexten konkret bediente. Welche Rückschlüsse lassen sich
daraus wiederum allgemein über Mechanismen und Bedingungen von Vertrauen
ziehen? Die Blockierungen in der EG und die festgefahrene Konfrontation zwi-
schen Ost und West reduzierten zwar die Zahl möglicher Handlungsimpulse, sie
führten bei Mitterrand und seiner équipe aber keineswegs dazu, sich diesem
Schicksal zu fügen und auf bessere Zeiten zu hoffen. Der abgebrochene Dialog der
Supermächte bot einen Ansatzpunkt für François Mitterrand, die bisherige Kon-
stellation auszuhebeln. Im Kontext der europäischen Konstruktion wurden in
scheinbar aussichtslosen Situationen schlicht alternative Zukunftsszenarien
imaginiert.
246 3 Relance européenne und die Rückkehr zur Détente
Zu dem Verhältnis von Vertrautheit und Vertrauen und Misstrauen siehe auch Luhmann,
Vertrauen, S. 22 f.
Zwischenbilanz 247
als Vorstufe für eine Kooperation auf europäischer Ebene fungieren sollte. Dar-
über hinaus ist zweitens das Bewusstsein, über gemeinsame Zielvorstellungen zu
verfügen, für die Bereitschaft zu Kompromissen ebenso förderlich wie dafür, sich
auf Vertrauensbildung einzulassen. Es war ein historischer Zufall, dass Mitter-
rands Orientierung sich 1982 veränderte und mit der Übernahme einer Regierung
in Bonn zusammenfiel, die ebenfalls nach europäischen Lösungen der zeitge-
nössischen Herausforderungen suchte. Gleichwohl wirkte sich diese Interessen-
kongruenz als förderlich für ihre Zusammenarbeit aus. Obwohl bei Mitterrands
Reise nach Moskau weder auf französischer noch auf sowjetischer Seite von
Vertrauen gesprochen werden kann, so einte sie die Suche nach einem Ausweg
aus der Konfrontation und begünstigte die Bereitschaft, sich zumindest auf einen
Dialog einzulassen. Drittens nämlich, bedarf es für Vertrauensbildung einer
Transparenz und gegenseitigen Kenntnis voneinander, was Dialog voraussetzt.
Die vom französischen Außenministerium ins Leben gerufene Arbeitsgruppe
Image de la France en Allemagne zeigt, dass Empathie für deutsche Selbst- und
Fremdwahrnehmungen zu einem besseren Verständnis der deutschen Verhand-
lungspartner beitrug. Die Nachforschungen dieser Gruppe isolierten mangelnde,
gegenseitige Kenntnis als Ursache für Kritik und Misstrauen gegenüber der
französischen Regierung.
Für eine Neubewertung von Mitterrands Präsidentschaft lässt sich aus den
Überlegungen ein klarer wissenschaftlicher Ertrag ableiten: Nicht nur konnte sein
politisches Handeln, wie beispielsweise die Bundestagsrede 1983 als Evozieren
eines europäischen Gefühls, neu eingeordnet werden. Es lassen sich auch neue
Thesen über das Verhältnis von Mitterrands kurzfristigen und langfristigen Zu-
kunftsaussichten bilden.
Erstens: Obwohl in der Euroraketenkrise die Stabilisierung des Status Quo im
Vordergrund stand, spielte der Aufbau größerer europäischer Eigenständigkeit
von Beginn an eine zentrale Rolle in Mitterrands Politik. Mit den Erfahrungen der
ersten Amtsjahre gewann eine europäische Unabhängigkeit zusätzliche Bedeu-
tung. Insofern lässt sich die Phase zwischen 1981 und 1984 insgesamt als eine Zeit
von Lernprozessen verstehen, in der die unerfahrene sozialistische Regierungs-
mannschaft innenpolitisch wie außenpolitisch in der Realität ankam. Dies führte
zu der intensiveren Suche nach europäischen Lösungen. Mit der Kombination hier
vorgestellter Strategien gelang es, durch die relance européenne Mitterrands po-
litischen Handlungsspielraum auszuweiten. Hier manifestiert sich die Wechsel-
wirkung von europäischer Integration und Ost-West-Beziehungen: Durch die
Überwindung der Blockierungen eröffneten sich neue Zukunftsperspektiven wie
die Etablierung Europas als drittes Ordnungsmodell. Indem sich Mitterrand und
Cheysson in Moskau für die Anerkennung der europäischen Integration einsetz-
ten, wurde auch ihr individueller Handlungsspielraum größer, denn sie sprachen
Zwischenbilanz 249
explizit mit einer europäischen Stimme und verliehen ihren Argumenten dadurch
ein größeres Gewicht. Die Wiederbelebung der europäischen Kooperation stärkte
insofern auch das europäische Selbstbewusstsein gegenüber den Supermächten.
Zweitens: Mit den politischen Entwicklungen der Jahre 1983 und 1984 war die
Differenz zwischen langfristigen und kurzfristigen Zukunftsaussichten geringer
geworden. Die Nachrüstung hatte Mitterrand politische Handlungsspielräume
eröffnet, die er zuvor verstellt sah. Indem Mitterrand die entstandene Lehrstelle
im amerikanisch-sowjetischen Dialog nach dem Abbruch der Verhandlungen
einnahm und Perspektiven verschob, versuchte er, der amerikanischen und so-
wjetischen Führung Handlungsoptionen zu eröffnen, die diese zuvor nicht
wahrgenommen hatten. Durch Anregungen zum Perspektivwechsel weitete er
also auch die Handlungsspielräume der amerikanischen und sowjetischen Füh-
rung. Gegenüber 1981 war es Mitterrand so gelungen, als eigenständiger Akteur
die Bühne der Ost-West-Beziehungen zu betreten.
Drittens soll die Bedeutung des historischen Zufalls gegenüber dem strate-
gischen Handeln der Akteure nicht negiert werden. Die Strategien von Mitterrand,
seinen Beratern und Diplomaten im Außenministerium entfalteten auch deshalb
eine Wirkung, weil sie nicht zuletzt aufgrund historischer Zufälle auf fruchtbaren
Boden fielen. Dass Mitterrand beispielsweise in Helmut Kohl, Hans-Dietrich
Genscher oder anderen Akteuren auf europäischer Ebene, wie Altiero Spinelli,
verlässliche Partner fand, deren Wahrnehmungen und Zielvorstellungen einen
Schnittkreis aufwiesen, begünstigte eine erfolgreiche Zusammenarbeit.
4 Ein Strukturwandel internationaler
Beziehungen?
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente
Mit der Nachrüstung waren für François Mitterrand wichtige Voraussetzungen für
die Initiierung eines neuen Entspannungsprozesses zwischen Ost und West ge-
schaffen worden. Schon während der Genfer Verhandlungen – aber umso stärker
nach deren Abbruch – hatte der französische Präsident versucht, eine vermit-
telnde Rolle zwischen Moskau und Washington einzunehmen, um ihnen neue
Handlungsspielräume aufzuzeigen. Die bisherigen Ergebnisse dieser Studie er-
zeugen die Erwartung, dass die équipe Mitterrand auch nach der Wiederaufnahme
der Verhandlungen ab 1985 eine konstruktive Rolle einnahm. Diese Hypothese
kontrastiert allerdings mit der Forschungsmeinung „that West Europeans were
less willing than Reagan to rush into agreement with the Kremlin.“¹ Die Ge-
schichtsschreibung zur Neuen Détente ist geprägt von einer Marginalisierung der
europäischen Akteure. Sofern diese überhaupt eine Berücksichtigung in den
Analysen fanden, dominierte lange die Erzählung, der zufolge die europäischen
Regierungen im Abrüstungsprozess eine wenig konstruktive bis ablehnende
Haltung einnahmen.² Angesichts zeitgenössischer Stellungnahmen und Regie-
rungsakten lassen sich diese Annahmen nicht halten. Urteile von Zeitgenossen
weisen mit Blick auf die französische Rolle darüber hinaus eine gewisse Undif-
ferenziertheit und sogar Widersprüchlichkeit auf: Während sich Michail Gorbat-
schow zwar einerseits an vertrauensvolle und konstruktive Beziehungen zu
François Mitterrand erinnert, meinte er doch während der Aushandlung des INF-
Vertrages auch einen Gegensatz zwischen französischer Rhetorik und politischem
Handeln zu beobachten.³ Dieser Antagonismus in der zeitgenössischen Wahr-
nehmung ist erklärungsbedürftig und erfordert es, die These der Forschung vom
Zögern der Westeuropäer zu hinterfragen. Es gilt nicht nur, das entsprechende
Bild zu revidieren, sondern auch zu differenzieren und dekonstruieren, um seine
Young, John W.: Western Europe and the end of the Cold War, 1979 – 1989. In: The Cambridge
History of the Cold War. Bd. 3: Endings. Hrsg. von Leffler, Melvyn P./Westad, Odd Arne. Cambridge
2010. S. 305.
Seit Mitte der 2000er Jahre findet die europäische Perspektive in der Geschichtsschreibung zum
Ende des Kalten Krieges in zunehmendem Maße Berücksichtigung. Für detailliertere Ausfüh-
rungen siehe Einleitung; vgl. u. a. Bozo [u.a] (Hrsg.), Europe.
Gorbatschow, Michail: Erinnerungen. Berlin 1995. S. 648 f.
https://doi.org/10.1515/9783110597417-006
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 251
Vgl. Gaddis, Der Kalte Krieg; Loth, Wilfried: Die Rettung der Welt. Entspannungspolitik im
Kalten Krieg 1950 – 1991. Frankfurt/New York 2016; Soutou, Guerre de Cinquante Ans; Stöver, Der
Kalte Krieg.
ADMAE 1930-INVA 5672, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Note,
Les relations américano-soviétiques (voyage du Ministre à Washington), 25. Januar 1985.
252 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
Anatolij Tschernjajew war zunächst im MID beschäftigt und wurde später einflussreicher au-
ßenpolitischer Berater von Michail Gorbatschow; Chernyaev, Diary 1985, 26. Februar 1985,
S. 20 – 23.
Siehe dazu Loth, Wilfried: Die sowjetische Fü hrung, Michail Gorbatschow und das Ende des
Kalten Krieges. In: Deeskalation von Gewaltkonflikten seit 1945 (Frieden und Krieg. Beiträge zur
Historischen Friedensforschung 7). Hrsg. von Hauswedell, Corinna. Essen 2006. S. 129.
Dumas, Affaires étrangères, S. 251– 260.
Védrine, Mondes, S. 373.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 253
auf den Moment ein, in dem die sowjetische Führung einen Ausweg aus der
Konfrontation suchen würde.¹⁰ Insofern erwarteten Mitterrand und seine Mitar-
beiter geradezu Veränderungen in Moskau, ohne zu wissen, wie diese konkret
aussehen würden. Die Wahrnehmung des ersten offiziellen Gesprächs war von
dieser Erwartung beeinflusst, die darin gleichsam eine Bestätigung fand. Dies
kontrastierte mit den Perzeptionen und Erwartungen französischer Experten und
Sowjetologen, die erhebliche Zweifel daran hegten, dass das sowjetische System
überhaupt einen Reformer hervorbringen könne. Ihre Skepsis gegenüber Michail
Gorbatschow ist nicht nur durch Memoiren von ehemaligen Akteuren belegt,
sondern soll im Verlauf dieses Kapitels anhand spezifischer Situationen nach-
gewiesen werden.¹¹
Der Wandel sowjetischer Politik unter Michail Gorbatschow begann mit
personellen Umstrukturierungen, durch die er sich neue Handlungsspielräume
erschließen konnte.¹² Nicht nur westliche Akteure waren von der Nominierung
des eher unbekannten Eduard Schewardnadse zum neuen Außenminister über-
rascht.¹³ Dies galt auch für das sowjetische MID und im Politbüro regten sich
leichte Widerstände.¹⁴ Sowohl von Tschernjajew als auch von Dumas wurde die
Ernennung aber als Indikator für das Ende von Gromykos außenpolitischem
Monopol sowie Gorbatschows Absicht gedeutet, seinen persönlichen Einfluss auf
internationale Fragen zu sichern.¹⁵
Seine erste Auslandsreise in der Funktion als Generalsekretär führte Michail
Gorbatschow vom 2. bis 5. Oktober 1985 nach Paris, unmittelbar bevor er Anfang
November zum ersten amerikanisch-sowjetischen Gipfeltreffen seit 1979 nach
Genf reisen würde. Die französische Botschaft in Moskau versuchte im Vorfeld, die
sowjetischen Erwartungen an das Treffen mit dem französischen Präsidenten zu
ergründen. In einem vorbereitenden Gespräch hatte Anatolij Adamischin signa-
lisiert, dass es Gorbatschow nicht nur um einen Meinungsaustausch ginge, son-
dern er auf der Suche nach Themen sei, bei denen Resultate erzielt werden
könnten: Entspannung, Wettrüsten und europäische Sicherheit. Unter dem Ein-
druck vergangener Erfahrung wurde daraus die Erwartung abgeleitet, dass die
sowjetische Seite in öffentlichen Stellungnahmen eine gemeinsame Rückkehr zu
Détente und eine Verurteilung der Militarisierung des Weltraums herausstellen
wolle, obwohl Adamischin nicht auf die Unterzeichnung eines Kommuniqués
bestanden hatte.¹⁶ Die Europaabteilung des Quai d’Orsay beobachtete, dass der
Einfluss des Militärs auf die inneren Angelegenheiten seit Gorbatschows Amts-
antritt durch Personalwechsel zurückgedrängt worden war. Dennoch wurde da-
von ausgegangen, dass Gorbatschows Ziele nicht in einem grundsätzlichen Ge-
gensatz zur Armee stünden, da erwartet wurde, dass diese mittelfristig von einer
Verbesserung des wirtschaftlichen Systems profitieren würde.¹⁷ Dahinter verbarg
sich die Erwartung, dass Gorbatschow mit seinen außen- und sicherheitspoliti-
schen Initiativen für eine Einschränkung des Wettrüstens intendierte, im Rüs-
tungswettlauf langfristig wieder konkurrenzfähig zu werden. Grundsätzlich be-
fand sich die Sowjetunion seit den 1970er Jahren in einer sich zuspitzenden
strukturellen Krise; Gorbatschows ehemaliger Berater Georgi Schachnasarow
bezeichnete sie daher auch als „hochgerüstetes Entwicklungsland“¹⁸.
Der Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik, von wirtschaftlichem wie
gesellschaftlichem Verfall und sicherheitspolitischen Bedrohungsperzeptionen
muss bei der Einordnung von Gorbatschows Initiativen und einseitigen Schritten
nach seiner Amtsübernahme mitgedacht werden. Allerdings interpretierten Di-
plomaten des Außenministeriums beispielsweise Gorbatschows Ankündigung
eines Moratoriums für die Aufstellung von Mittelstreckenraketen (April 1985) so-
wie ein Moratorium für nukleare Tests (August 1985) ihrerseits auch wiederum aus
einer Wahrnehmung, die von anhaltenden Bedrohungsperzeptionen bestimmt
war.¹⁹ Ein wenig offener zeigten sich die Berater des Präsidenten in ihren Er-
wartungen von Gorbatschows Besuch, obwohl auch sie sich auf vergangene Er-
fahrungen mit der sowjetischen Führung stützten. Hubert Védrine und Elisabeth
Guigou unterstellten Gorbatschow ebenfalls, weiterhin auf klassische, sowjeti-
gegen.²⁵ Im Centre d’Analyse et de Prévision sah man den Druck auf SDI steigen, da
das Pentagon aufgrund von vorherrschendem Misstrauen in der Industrie
Schwierigkeiten hatte, Vertragspartner zu finden.²⁶ Außerdem, so Védrine, lagen
in der Administration unterschiedliche Erwartungen vor. Während Reagan die
nukleare Abschreckung nicht ersetzen, sondern restaurieren wollte, strebten
Shultz, Weinberger, Burt, Perle und Yonas ganz im Gegenteil eine amerikanische
Überlegenheit an. Da also Reagans Umfeld in der Lage sein wollte, einen sowje-
tischen Erstschlag auf die amerikanischen bodengestützten Raketen abzuwehren,
wurde die Strategie der Mutual Assured Destruction unterlaufen.²⁷ Ein aus SDI
resultierendes neues strategisches Ungleichgewicht zugunsten der USA war einer
der Gründe, weshalb Mitterrand eine vorsichtige Haltung zu der Initiative ein-
nahm. Seine Zurückhaltung wurde vor der Weltöffentlichkeit offenkundig, als er
bei dem G7-Treffen in Bonn Anfang Mai 1985 eine französische Beteiligung aus-
schloss. Er zweifelte an einer gleichberechtigten Partnerschaft zwischen USA und
Europäern und wollte die Europäer zudem keine neuen Abhängigkeitsverhält-
nisse eingehen sehen. Zum anderen wurden französische Sorgen um den Bünd-
niszusammenhalt wieder akut, da Mitterrand in seiner Ablehnung isoliert war
und auch Bundeskanzler Kohl sich auf Reagans Angebot eingelassen hatte. Die
französische Ablehnung von SDI sollte nicht als Annäherung an die Sowjetunion
und schwacher Punkt in der Atlantischen Allianz missverstanden werden.²⁸
Aus diesem Grund achtete François Mitterrand bei Gorbatschows Besuch
sorgfältig darauf, dass die sowjetische Delegation den amerikanisch-französi-
schen Gegensatz nicht in einem Maße ausspielte, dass es den Zusammenhalt der
Verbündeten gefährdete. Unter vier Augen gestand der französische Präsident
dem sowjetischen Generalsekretär: „Bien sûr, je ne veux pas forcer la dose à
l’égard des alliés américaines qui déjà, n’ont pas une bonne opinion de moi.“²⁹
Schon im Vorfeld des Gipfels warnten die Berater den Präsidenten, das Vertrauen
der Verbündeten nicht aufs Spiel zu setzen und damit politischen Gegnern in die
Hände zu spielen. Elisabeth Guigou warnte davor, dem Kreml ein schriftliches
Einverständnis über einen Kredit zu geben, wie Pierre Bérégovoy es eigentlich
vorgesehen hatte. Sie fürchtete, dass sie sowjetische Führung das Schriftstück
verbreiten und Frankreich bei seinen Partnern in eine unangenehme Situation
bringen könnte. Jean-Louis Bianco fügte hinzu, dass die Angelegenheit von po-
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand auf dem Flug nach Berlin,
10. Oktober 1985. In: AAPD 1985, Dok. 277, S. 1431.
ADMAE 1930-INVA 5672; MAE, TD Moscou 3708, Raimond, M. Gorbatchev à la veille du
sommet de Genève, 17. November 1985.
Luhmann, Vertrauen, S. 22.
Grachev, Andrei: From the common European home to European confederation. François
Mitterrand and Mikhail Gorbachev in search of the road to a greater Europe. In: Bozo [u.a] (Hrsg.),
Europe, S. 208 f.
260 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
Für eine Reihe von Provokationen durch die amerikanische Administration siehe Loth, Hel-
sinki, S. 239.
AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Le Général, Chef de l’Etat-Major Parti-
culier, Général Forray Note à l’attention de M. le Président de la République, Equilibre stratégique
entre USA et URSS, Accord SALT – Décision du Président Reagan, 12. Juni 1986; Loth, Helsinki,
S. 239.
AN, AG/5(4)/MGM/75, Présidence de la République, Hubert Védrine, Note pour le Président de
la République, Salt II, 16. Juni 1986.
Raimond, Choix, S. 90.
262 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
SALT II und nicht die Rüstungskontrolle insgesamt infrage stellen.⁵⁵ Damit führte
Védrine Reagans Entscheidung sowie dessen schwankenden Kurs zwischen Ent-
spannung und neuer Konfrontation auf unterschiedliche Wahrnehmungen und
interne Machtkämpfe der Administration zurück. Es deutete darauf hin, dass der
amerikanische Präsident offensichtlich alle Seiten in der amerikanischen Admi-
nistration zufrieden stellen wollte. Er zeigte sich empfänglich für Stimmungen
und ließ sich bei Entscheidungen nicht selten von Gefühlen leiten.⁵⁶ Védrines
Analysen waren entscheidend, um eine Strategie für die Gespräche mit Reagan
am 4. Juli 1986 zu entwickeln.
Diese Umstände innerhalb der US-Administration waren auch für die fran-
zösische Regierung nicht ohne Risiko: Während es 1980/1981 noch um die Wie-
derherstellung eines rüstungsstrategischen Gleichgewichts gegangen sei, zielten
Teile der amerikanischen Administration nun auf Überlegenheit, urteilte Védri-
ne.⁵⁷ Dies entsprach in keiner Weise Mitterrands Vorstellungen, in denen ein
globales Kräftegleichgewicht zur Grundlage von Entspannungspolitik bestehend
aus Vertrauensbildung und Abrüstung werden sollte, um langfristig die Teilung
zwischen Ost und West zu überwinden. Ganz im Gegenteil drohten diese Maß-
nahmen eher ein neues Sicherheitsdilemma zu schaffen und damit das System
von Jalta zu perpetuieren.⁵⁸ Dies würde nicht zuletzt den europäischen Emanzi-
pationsprozess gefährden, da die europäische Abhängigkeit von der amerikani-
schen Schutzmacht weiterbestehen würde und die Amerikaner sich veranlasst
sehen könnten, uneingeschränkte Loyalität einzufordern. Aus der Spaltung der
US-Administration resultierte also auch das alte französische Dilemma zwischen
Entscheidungsautonomie und Bündniszusammenhalt.
Daher empfahl Védrine Mitterrand, sich künftig gegenüber dem amerikani-
schen Präsidenten, dem Kongress und der Öffentlichkeit für Verhandlungen und
Rüstungskontrolle einzusetzen.⁵⁹ Zwei Punkte hob er hervor: Verteidigung des
ABM-Vertrags und Widerstand gegen eine Berücksichtigung französischer
Atomstreitkräfte in jedweder Form. Als Védrine nämlich realisierte, dass die
Lossagung von SALT II irreversibel zu sein schien, zweifelte er insgesamt daran,
Je ne suis pas de ceux qui refusent la crise, mais je pense qu’il serait erroné de le pousser à
l’échec. Négocier n’est pas un acte de faiblesse. Si c’était le cas, nous ne le recommanderions
pas. C’est vous qui avez la réponse. Telle est ma position. Je dirai la même chose à Gorba-
chev.⁶⁵
Auf diese Weise stellte er Verhandlungen und nicht Unnachgiebigkeit als eine
Position der Stärke heraus und entzog den Argumenten der Hardliner ihre
Grundlage. Darüber hinaus versuchte Mitterrand in dem Gespräch zu ergründen,
wie weit Reagan bei den Verhandlungen bereit sein würde zu gehen. Mitterrand
eruierte also gewissermaßen Gorbatschows Handlungsspielraum, da die équipe
Attali, Jacques: Verbatim 1986 – 1991. Pais 2011. 6. Juli 1986, S. 111– 113.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 6. Juli 1986, S. 113.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 6. Juli 1986, S. 112.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 265
deten. Sie bezogen sich dabei auf ein Gespräch mit Anatolij Dobrynin, den sie für
den „véritable inspirateur“ von Gorbatschows Ost-West-Politik hielten. Dieser
nämlich habe dem französischen Botschafter Pagniez signalisiert, dass Gorbat-
schow Mitterrand nach dessen Gesprächen in Washington nach seinen Ein-
schätzungen zum aktuellen Stand der Ost-West-Beziehungen fragen wolle.⁷⁰ Die
Inszenierung als unabhängige Partei 1984 hatte also Früchte getragen und konnte
von Mitterrand nunmehr als politische Ressource genutzt werden. Auf diese Weise
wurde er zum Medium eines indirekten amerikanisch-sowjetischen Dialogs, der
dazu diente wechselseitige Perzeptionen zu dekonstruieren. In ihrer Analyse der
gegenwärtigen Situation stellten Musitelli und Védrine fest, dass Gorbatschow
seine Initiativen zwar stetig multipliziere, bis dato allerdings nichts vorgeschlagen
habe, was ernsthaft das Interesse der Amerikaner erregt hätte. Noch dazu stelle
der Generalsekretär sehr weitreichende Bedingungen.⁷¹ Sensibel steckten die
Berater Mitterrands Handlungsspielraum für das Treffen ab: Zur Vorsicht mahnten
sie, weil Gorbatschow die französische und sowjetische Position als Konvergenz
inszenieren könne, was Paris amerikanisches Misstrauen eintragen würde. Al-
lerdings könne Mitterrand Gorbatschow deutlich machen, dass er auch bei Rea-
gan an eine Akzeptanz des ABM-Vertrags appelliert habe. Mit Verweis darauf, dass
Thatcher und Kohl eine ähnliche Haltung eingenommen hätten, sollte einem
Instrumentalisierungsversuch zusätzlich vorgebeugt werden.⁷²
Michail Gorbatschow ging es bei dem Treffen mit Mitterrand tatsächlich nicht
darum, einen europäischen Verbündeten zu instrumentalisieren, um die Reagan-
Administration unter Druck zu setzen. Vielmehr wollte er verstehen, warum seit
seinem Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten keine Fortschritte erzielt
wurden und wodurch es gelingen könnte, zu einem substantiellen Abkommen
vorzudringen.⁷³ Gorbatschow erinnert sich selbst daran, dass bei ihm zu diesem
Zeitpunkt die anfänglichen Hoffnungen nach dem Genfer Gipfeltreffen schwan-
den, eine Wende in den internationalen Beziehungen einzuleiten. „Umso wich-
tiger“ erschien ihm „der konstruktive Dialog mit Frankreich.“⁷⁴ Der Generalse-
kretär versuchte, dem Prozess wechselseitiger Vertrauensbildung zwischen ihm
und Mitterrand neue Impulse zu geben. Es wurde ein Schwerpunkt auf die Ent-
wicklung persönlicher Beziehungen gelegt, um so an die Vertrautheit anzu-
knüpfen, die bei ihrem ersten Gipfel in Paris initiiert worden war. Der französische
Botschafter Pagniez fand es bemerkenswert, dass Mitterrand ein zweites Abend-
essen angeboten wurde, was kaum üblich war. Als Ersatz für eine Reise nach
Stawropol, bei der es Gorbatschow aufgrund terminlicher Schwierigkeiten un-
möglich gewesen wäre, den französischen Präsidenten zu begleiten, wurde Mitt-
errand ein gemeinsamer Tag in Moskau und Umgebung vorgeschlagen. Pagniez
interpretierte es als Versuch, „de mettre en relief la place des relations person-
nelles dans sa rencontre avec le Président.“⁷⁵ Sicherlich hatte Gorbatschow auch
ein Interesse daran, aus dem Besuch des französischen Präsidenten innenpoli-
tisches Kapital zu schlagen. Zugleich fällt auf, dass es ihm wichtig war, Mitterrand
auch bei dem Rahmenprogramm des Gipfeltreffens zu begleiten. Mit Blick auf
Gorbatschows „Neues Denken“ in der Außenpolitik und seiner Überzeugung von
dem Konzept der gemeinsamen Sicherheit lassen sich seine Motive ableiten:
Durch gemeinsame Erfahrungen sollte ein höheres Maß an Vertrautheit als his-
torische Dimension von Vertrauen zwischen ihm und Mitterrand gestiftet wer-
den.⁷⁶ Die Negativerfahrungen der Vergangenheit, die für westliche Bedro-
hungsperzeptionen verantwortlich waren, sollten so durch neue Erfahrungen
überschrieben werden und auf diese Weise Feindbilder aufbrechen und Angst
durch Vertrauen als Basis für die französisch-sowjetischen Beziehungen ersetzen.
Diese Absichten trafen bei François Mitterrand insofern auf fruchtbaren Bo-
den, als auch ihm Vertrauensbildung ein wesentliches Anliegen in seinen Ge-
sprächen mit Michail Gorbatschow war. Es war ihm wichtig, über die deutsch-
französischen Beziehungen zu sprechen und dem Generalsekretär begreiflich zu
machen, wie weit die Kooperation in Fragen von Sicherheit und Verteidigung
reichte. Sehr deutlich hob er hervor, dass konventionelle Streitkräfte, eine Präsenz
der FAR auf deutschem Territorium, gemeinsame Manöver, eine gemeinsame
militärische Ausbildung und Informationen über nukleare Gefahren in Gesprä-
chen zwischen Paris und Bonn thematisiert wurden. Allerdings wies er seinen
sowjetischen Gesprächspartner ausdrücklich darauf hin, dass weder eine Inte-
gration französischer Streitkräfte in die NATO noch eine deutsche Beteiligung an
der Entscheidung zum Einsatz der französischen Nuklearstreitkräfte zur Debatte
standen. „Il n’y a donc pas de modification de la stratégie de dissuasion française,
pas de défense au-delà du territoire français.“⁷⁷. Auch wenn das deutsche Mili-
tärkommando es sich wünsche, verlange Bundeskanzler Kohl dies von ihm nicht.
Eindringlich wiederholte Mitterrand: „je le répète, la couverture française auto-
matique de l’Allemagne ne m’a jamais été demandée par les Allemands. Je voulais
que vous le sachiez.“⁷⁸ Damit honorierte Mitterrand Gorbatschows Ersuchen um
Vertrauen seinerseits mit Transparenz. Gleichzeitig sollte die auf größere euro-
päische Eigenständigkeit zielende deutsch-französische Kooperation im Bereich
Sicherheit und Verteidigung nicht Quelle neuen Misstrauens bei der sowjetischen
Führung werden. Der französische Präsident legte Wert darauf, dass seine so-
wjetischen Gesprächspartner die Zusammenarbeit nicht als Schritte einer Mili-
tarisierung verstanden, die Deutschland in letzter Instanz womöglich noch einen
Zugang zu Nuklearwaffen verschaffen könnte. Mit diesen Ausführungen war noch
eine zweite Intention verbunden: Wie schon in Washington drang Mitterrand auch
in Moskau noch einmal auf die französische Unabhängigkeit. Er habe nicht vor,
die globalen Verhandlungen zu behindern. Aber auch wenn es jemals ein ame-
rikanisch-sowjetisches Abkommen über ein Einfrieren der französischen Atom-
arsenale geben würde, würde er sich daran nicht gebunden fühlen. Sogleich of-
fenbarte er Gorbatschow: „Nous ne voulons pas dépendre des Américains.“⁷⁹
Am wichtigsten war aber sicherlich drittens Mitterrands Intention, eine Ver-
mittlungsfunktion im Kommunikationsprozess zwischen amerikanischer Admi-
nistration und sowjetischer Führung einzunehmen, um den Boden für ein Ab-
kommen zu bereiten. Mit einem realistischen Blick auf die
Verhandlungspositionen der Supermächte stellte Mitterrand fest, dass keine Basis
für eine Übereinkunft bestehe, solange die USA SDI nicht aufzugeben bereit seien
und Moskau dies gleichzeitig zu einer Bedingung für ein Abkommen machen
würde. Gorbatschow machte Mitterrand auf den engen Zusammenhang seiner
innen- und außenpolitischen Maßnahmen aufmerksam. Er benötige ein ent-
spanntes, außenpolitisches Umfeld für seine Reformen, weil er eine Abrüstung
angesichts eines Wettrüstens im Weltraum nicht rechtfertigen könne. Mitterrand
beantwortete dies mit realpolitischer Argumentation, um Gorbatschow seinen
Handlungsspielraum deutlich vor Augen zu führen: „Tout va tourner autour de la
question: jusqu’où peut-on aller pour l’IDS?“⁸⁰ Damit identifizierte der französi-
sche Präsident SDI als Dreh- und Angelpunkt, als potentiellen Stolperstein für ein
Abkommen. Sein Wissen um die Konflikte und Spaltungen innerhalb der ameri-
kanischen Administration, die Védrine Mitterrand im Vorfeld dargelegt hatte,
Chernyaev, Anatoly S.: My Six Years with Gorbachev. Pennsylvania State 2000 (auf Russisch
erstmals 1993). S. 75 f.
Chernyaev, Six Years, S. 76.
Chernyaev, Six Years, S. 75 f., Zitat S. 76.
Dumas, Affaires étrangères, S. 278.
270 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
sowohl eines Mittlers als auch eines Lehrers, da der Dialog mit dem französischen
Präsidenten Gorbatschow half, die Rhetorik und das Handeln sowie die Funkti-
onsmechanismen der amerikanischen Administration besser zu verstehen. Da es
für einen störfreien Kommunikationsprozess einer gemeinsamen Sprache bedarf,
unterstützte Mitterrand auf diese Weise sowohl den Kommunikations- als auch
den Verhandlungsprozess.
In einem Brief vom 31. Juli 1986 berichtete Mitterrand Reagan von seinen
Eindrücken aus Moskau und versuchte ihn dazu zu bewegen, bei künftigen Vor-
schlägen des Generalsekretärs eine konstruktive und kompromissbereite Haltung
einzunehmen.⁸⁵ Massenmedial wurde der französische Präsident als Vermittler
zwischen den beiden Supermächten und als der westliche Staatsmann inszeniert,
der Gorbatschow am besten kenne. Dass der Generalsekretär den zeitlichen
Umfang ihrer Begegnungen bewusst ausgedehnt habe, wurde in der Öffentlichkeit
hervorgehoben. Das Auftreten als internationaler Akteur ging Hand in Hand mit
der Vertrauensbildung bei den Bündnispartnern. Die Inszenierung als unabhän-
gige dritte Partei, auf deren Meinung man sowohl in Washington als auch in
Moskau Wert legte, wurde nämlich durch Bekenntnisse zur Bündnistreue und zu
engen deutsch-französischen Beziehungen aufgefangen.⁸⁶ Diese Inszenierung als
Unterstützer der Abrüstung hat sich allerdings in der Erzählung nicht durchge-
setzt, wie eingangs herausgestellt wurde. Wie die folgenden Ausführungen zeigen
werden, lag dies vor allem daran, dass die Reaktionen der französischen Regie-
rung auf den amerikanisch-sowjetischen Gipfel in Reykjavik die Erinnerung lange
überlagerten.
Obwohl Mitterrand Gorbatschow sehr deutlich darauf hingewiesen hatte,
dass die Frage um SDI zum Hindernis eines Abkommens avancierte, zog dieser
daraus noch nicht den Schluss, seine Forderung aufzugeben. Stattdessen setzte er
darauf, sein Angebot in Reykjavik so weit aufzustocken, dass der amerikanische
Präsident es nicht ausschlagen konnte, ohne erhebliche Widerstände gegen SDI
in der Öffentlichkeit zu provozieren. Die durch Tschernjajew überlieferten In-
struktionen für das Gipfeltreffen offenbaren Gorbatschows Taktik, Reagan etwas
mit großer Schlagkraft anzubieten. Ähnlich früheren sowjetischen Verhand-
lungsmethoden sollte dadurch im Falle eines Scheiterns die sowjetische Kon-
zessions- und Verhandlungsbereitschaft vor der Weltöffentlichkeit demonstriert
werden – mit dem Unterschied, dass Gorbatschow sich dieser Taktik zur Durch-
setzung anderer strategischer Ziele bediente.⁸⁷ Anders als seine Vorgänger hoffte
er, Reagan dadurch hinreichend unter Druck zu setzten, um zu einem Abkommen
vorzudringen. Für den Gipfel in Reykjavik ließ Gorbatschow auch die umstrittene
Forderung, nach einer Berücksichtigung der britischen und französischen Rake-
ten fallen. Da sich keiner seiner Vorgänger dazu hatte durchringen können, si-
gnalisierte er damit, wie weit er sich von den bisherigen, sowjetischen Verhand-
lungspositionen distanzierte.⁸⁸ Für Gorbatschow war SDI zu diesem Zeitpunkt aus
zwei Gründen nicht verhandelbar: Erstens erhielt er vom Politbüro überhaupt nur
deshalb eine Zustimmung zu dem weitreichenden Kompromisspacket für Reyk-
javik, da es sich äußerlich nicht prinzipiell von Verhandlungstaktiken seiner
Vorgänger unterschied. Er hätte erhebliche Schwierigkeiten gehabt, derartig
asymmetrische Abrüstungsmaßnahmen zu rechtfertigen und sich den Vorwurf
gefallen lassen müssen, sowjetische Sicherheitsinteressen auszuverkaufen.
Zweitens nahm er SDI aus sicherheitspolitischer wie ökonomischer Perspektive
als Existenzbedrohung wahr und war nur deshalb überhaupt zu so weitreichen-
den Vorschlägen bereit.⁸⁹ Beinahe gelang es Ronald Reagan und Michail Gor-
batschow, bei dem Gipfel in Reykjavik am 11. und 12. Oktober 1986 eine Einigung
über eine Halbierung in allen Teilbereichen interkontinentaler Systeme und einen
Verzicht aller amerikanischen und sowjetischen eurostrategischen Raketen. Als
sie darüber hinaus sogar zu einer Verständigung vordrangen, binnen zehn Jahren
alle Atomraketen abzuschaffen, scheiterte eine endgültige Übereinkunft daran,
dass Gorbatschow nach wie vor an seiner Forderung festhielt, SDI aufzugeben
und Ronald Reagan davon vor den Kopf gestoßen die Gespräche abbrach.⁹⁰
Da die nukleare Abschreckung der Grundpfeiler der europäischen Sicherheit
war, zu dessen Aufgabe Reagan in Reykjavik offensichtlich bereit gewesen war,
löste dieses Beinahe-Abkommen Panik bei den europäischen Verbündeten aus.
Auch die französische Diplomatie bildete darin keine Ausnahme.⁹¹ Unmittelbar
nach dem Gipfel in Island liefen die Diskussionen in den Abteilungen des Au-
ßenministeriums auf Hochtouren und sorgten bei den Diplomaten für besorgte bis
schier panische Reaktionen.⁹² Régis de Belenet, außenpolitischer Berater in der
Chernyaev, Anatoly S.: Notes, Gorbachev’s Instructions to the Reykjavik Preparation Group.
3. Oktober 1986. http://www.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB203/Document05.pdf (10.07.
2012).
Chernyaev, Notes, Gorbachev’s Instructions, 3. Oktober 1986.
Vgl. Grachev, Gorbachev’s Gamble, S. 94; Loth, Helsinki, S. 242.
Loth, Helsinki, S. 241– 243.
Vgl. Bozo, France, the Euromissiles, and the End of the Cold War, S. 205.
ADMAE 1935-INVA 6652, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Ren-
272 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
contre de Reykjavik. Premier bilan, 15. Oktober 1986; ADMAE 1935-INVA 6652, MAE, Direction des
Affaires Politiques, Service des Affaires Stratégiques et du Désarmement, Sous-Direction des
Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Reykjavik: premiers leçons politiques, 16. Oktober 1986.
ADMAE 1935-INVA 6652, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Régis
de Belenet, Note, Rencontre de Reykjavik et relations Est-Ouest, 15. Oktober 1986; siehe außer-
dem: ADMAE 1935-INVA 6785, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction Europe Centrale, Note,
Fiche d’entretien du Premier Ministre avec le Chancelier Kohl, 24. Oktober 1986.
ADMAE 1935-INVA 6652, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Ren-
contre de Reykjavik. Analyse, 3. November 1986.
ADMAE 1935-INVA 6652, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Le
débat stratégique après Reykjavik, 28. November 1986.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 273
Bozo, France, the Euromissiles, and the End of the Cold War, S. 206.
Raimond, Choix, S. 92 f.
Bozo, France, the Euromissiles, and the End of the Cold War, S. 207.
Siehe dafür Kapitel 2.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 16. Oktober 1986, S. 186 – 190.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 16. Oktober 1986, S. 187, 190.
274 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
spitzte er die Diskussion auf die viel grundsätzlichere Frage zu, ob die amerika-
nische Administration überhaupt dazu bereit sei, das Risiko eines Schlages gegen
amerikanisches Territorium in Kauf zu nehmen, um Europa zu verteidigen. Da
hatte Mitterrand erwiesener Maßen seine Zweifel. Gegenüber der Premierminis-
terin hob er hervor: Einzig die Präsenz amerikanischer Truppen in Europa stelle
noch einen hinreichenden Schutz dar. Im Umkehrschluss entlarvte dies die Eu-
roraketen als nutzlos und die Nulllösung als akzeptabel.
Zweitens nährte der französische Präsident die Zweifel an der amerikani-
schen Sicherheitsgarantie mithilfe rhetorischer Strategien, indem er derartige
Sorgen verbalisierte und gleichzeitig rechtfertigte: „On peut donc être inquiet.“¹⁰²
Es scheint gerade so, als wollte er diese Zweifel durch Wiederholungen ins Be-
wusstsein einschreiben: „S’il n’y avait pas de doute sur l’engagement américain,
s’il n’y avait vraiment pas de doute, il n’y aurait jamais de guerre.“¹⁰³ Mit der
Wiederholung und der Formulierung als irrealer Konditionalsatz rechtfertigte er
im Gegenteil diese Zweifel, anstatt sie zu zerstreuen. Es steht zu vermuten, dass
Mitterrand in dieser Unterredung ein weiteres Ziel verfolgte. Die Zweifel an der
amerikanischen Sicherheitsgarantie ergänzte er um das Zukunftsszenario einer
vollständigen Abhängigkeit von den Entscheidungsträgern in Washington. Er
wies Thatcher darauf hin, dass Shultz dem französischen Außenminister signa-
lisiert habe, die amerikanische Unterstützung für die Nicht-Berücksichtigung der
atomaren Drittpotentiale nicht auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten zu können.
Im Anschluss erschuf Mitterrand das absurde Szenario, bei der Fabrikation von
Waffen künftig die Zustimmung des amerikanischen Senats einholen zu müssen.
Auch wenn Mitterrand Europa hier noch nicht als drittes Ordnungsmodell und
denkbare Alternative zu einer europäischen Abhängigkeit explizierte, versuchte er
doch subtil, ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Er instrumentalisierte und nährte
Thatchers Zweifel an der amerikanischen Partnerschaft, vor deren Hintergrund
europäische Kooperationen und Autonomiebestrebungen gerechtfertigt waren,
die in der Tat in den Wochen und Monaten nach Reykjavik an Fahrt aufnahmen.
Gegenüber dem deutschen Bundeskanzler hob der französische Präsident am
28. Oktober 1986 ebenfalls deutlich hervor, dass er im Gegensatz zu anderen
europäischen Staats- und Regierungschefs die Nulllösung befürworte. In Anwe-
senheit seines Premierministers Jacques Chirac wollte sich Mitterrand aber of-
fenbar nicht ausführlicher zu dem Thema Abrüstung äußern.¹⁰⁴ Nachdem die
Konservativen aus den legislativen Wahlen am 16. März 1986 als Sieger hervor-
en marquant qu’il avait été informé par M. Chevardnadze de la teneur de cette conversation et
qu’il connaissait d’ailleurs bien notre position sur l’arme nucléaire puisqu’elle lui avait été
exposée en juillet par le Président de la République.¹⁰⁸
Dumas, Affaires étrangères, S. 243; Mitterrand, François: Réflexions sur la politique extéri-
eure de la France. Introduction à vingt-cinq discours 1981– 1985. Paris 1986.
Védrine, Mondes, S. 384.
ADMAE 1935-INVA 6670, MAE, TD Moscou 3757, Quelques remarques de M. Gorbatchev,
8. November 1986.
ADMAE 1935-INVA 6670, MAE, TD Moscou 3757, Quelques remarques de M. Gorbatchev,
8. November 1986.
276 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
ADMAE1935-INVA 6652, MAE, TD Moscou 3897, Pagniez, Après Reykjavik: Critique des Eu-
ropéens, 20. Novembre 1986.
Vgl. u. a. ADMAE 1935-INVA 6670, République française, Ambassade de France en URSS,Yves
Pagniez an Jean-Bernard Raimond, Interview de M. Chirac au „Point“, 6. Oktober 1987; siehe dazu
weiter: ADMAE 1935-INVA 6670, MAE, TD Moscou 1641, Dépêche TASS sur la politique de défense
du gouvernement français, 9. Mai 1987; ADMAE 1935-INVA 6670, MAE, TD Moscou 4067, Reunion
de l’UEO. Discours du Premier Ministre, 6. Dezember 1986.
Dumas, Affaires étrangères, S. 346 f.
Mitterrand, François: Lettre à tous les Français. o.O. 1988. S. 9 f.
ADMAE 1935-INVA 6670, MAE, TD Moscou 1663, Propos soviétiques sur la paix et critiques de
la politique de défense de la France, 11. Mai 1987.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 277
schien den Eindruck zu untermauern, dass die französischen Akteure Gegner der
Abrüstungspolitik waren. Dies löste bei Michail Gorbatschow insofern Misstrauen
aus, als seine wachsende Vertrautheit mit François Mitterrand nach ihren Treffen
1985 und 1986 ebenso irritiert wurden wie sein Vermögen, den französischen
Präsidenten einzuschätzen. Insgesamt zeigt sich hier, wie fragil und anfällig für
Irritationen und Störungen Prozesse der Vertrauensbildung sind. Gorbatschows
Erinnerungen an die französische Rolle im Abrüstungsprozess der Jahre 1986/
1987 ist beinahe vollständig von der Erfahrung der Cohabitation überlagert. Seine
Erinnerungen grundsätzlich vertrauensvoller und konstruktiver Beziehungen zu
François Mitterrand werden in dieser Zeit nahezu vollständig ausgeblendet und
stehen im Widerspruch zu anderen Erinnerungen:
Bald nach Reykjavik trat in den bilateralen Beziehungen zu Frankreich eine gewisse Dis-
tanziertheit ein, da die französische Regierung am Konzept der nuklearen Eindämmung
ungeachtet ihrer erklärten Unterstützung des Neuen Denkens festhielt. Diese Unvereinbar-
keit der Grundsätze führten in praktischen Fragen zu Widersprüchen und inkonsequenten
Entscheidungen.¹¹⁴
Newton stützt sich ausschließlich auf Memoiren insbesondere sowjetischer Provenienz;
Newton, Gorbachev, S. 301, 303.
Loth, Helsinki, S. 244.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 3. März 1987, S. 280 f.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 3. März 1987, S. 281.
4.1 François Mitterrand als Vermittler in der Neuen Détente 279
der Präsident ihnen entgegensetzte. Kohls Misstrauen bezog sich vor allem auf
Gorbatschows Intentionen hinter den Abrüstungsinitiativen, da er fürchtete, der
Generalsekretär werde alsbald eine Neutralisierung Deutschlands vorantrei-
ben.¹²⁰ Nach wie vor bestimmten also Perzeptionen Kohls Wahrnehmung, die
nicht weit von den deutschen Befürchtungen während der Euroraketenkrise ab-
wichen; seine Erwartungen waren vielmehr nachhaltig von den Erfahrungen der
Jahre 1979 – 1983 geprägt. Damit unterstellte er nicht nur Gorbatschow, grund-
sätzlich im Fahrwasser einer klassischen sowjetischen Sicherheitspolitik zu fah-
ren; vielmehr demonstrierte dies seine anhaltende Sorge um mögliche neutra-
listische Tendenzen der deutschen Öffentlichkeit, denen der Bundeskanzler mit
einer schnelleren Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen jedwede
Grundlage entziehen wollte.
Wie die Gesprächsaufzeichnungen belegen, basierte Mitterrands Überzeu-
gungsstrategie auf drei taktischen Komponenten. Erstens begegnete er dem
gängigen Argument von Nulllösungs-Gegnern, der Abzug der Pershing-II-Raketen
führe zu einer Entkopplung der amerikanischen und europäischen Verteidigung,
mit purem Pragmatismus. Wer die Nulllösung ablehne, sei gegen Abrüstung.¹²¹
Zudem stellte er Kohls grundsätzlichen Befürchtungen um ein rüstungspoliti-
sches Gleichgewicht zwischen Ost und West entgegen, dass ein wirkliches
Gleichgewicht erst in der strategischen Rüstung zwischen den USA und der So-
wjetunion hergestellt werden könne: „Le découplage est dans la tête du peuple et
du gouvernement américaines, pas dans les systèmes d’armes.“¹²² Damit trans-
formierte Mitterrand eine drohende découplage rhetorisch von einem selbst ver-
ursachten Risiko im Falle einer akzeptierten Nulllösung zu einer von außen
kommende Gefahr, die sich dem Einfluss der Europäer entzog, weil er sie auf ei-
nen Bewusstseinszustand der amerikanischen Bevölkerung und dessen Regie-
rung zurückführte. Zudem ließ er die amerikanischen Rückzugstendenzen so er-
scheinen, als seien sie längst eine Realität ungeachtet eines Gleichgewichts in
unterschiedlichen Waffensystemen.
Was eine Ablehnung der Abrüstung grundsätzlich bedeute, legte der fran-
zösische Präsident zweitens unter Rückgriff auf strategische Gefühlspolitik dar.
Mithilfe eines imaginierten Szenarios, das die Zerstörungswucht eines nuklearen
Krieges in Europa veranschaulichte, entlarvte er die Vorstellung eines begrenzten
Nuklearkrieges als Illusion. Einzig die Totalität eines nuklearen Krieges könne
eben diesen verhindern – Mitterrand legte Kohl also die Sinnhaftigkeit der nu-
klearen Abschreckung dar und zog daraus insgesamt den Schluss: „J’ai donc dit:
je suis pour l’option zéro.“¹²³ Der anschauliche Entwurf eines nuklearen Krieges
diente dazu, Schrecken und Angst vor einem solchen Zukunftsszenario zu evo-
zieren, um einen Mittelstreckenvertrag demgegenüber als verheißungsvoller er-
scheinen zu lassen.
Drittens stellte Mitterrand neben der Nulllösung noch eine weitreichendere
Zukunftsalternative in Aussicht: Europa als unabhängiges Ordnungsmodell. Die
zuvor bereits angedeutete Unausweichlichkeit einer découplage trieb er noch auf
die Spitze: Die amerikanische Präsenz auf dem europäischen Kontinent sei not-
wendig, aber auch davon hinge eine Entkopplung nicht ab. Indem er diese Vor-
stellung als Illusion inszenierte, widersprach er seinen eigenen Äußerungen ge-
genüber Margaret Thatcher im Oktober 1986, denen zufolge die amerikanische
Truppenpräsenz in Europa gleichsam die letzte Bastion der amerikanischen Si-
cherheitsgarantie darstellte. In diesem Zusammenhang ist es von untergeordneter
Bedeutung, welche der beiden Äußerungen tatsächlich Mitterrands persönlicher
Überzeugung entsprachen. Interessanter ist, dass ihm die praktische Negierung
des amerikanischen Schutzes dazu diente, den Nährboden für seine entschei-
dende Botschaft zu bereiten: „Il nous faut par ailleurs vingt ans pour organiser
l’Europe.“¹²⁴ Aufgrund von Kohls Ausführungen, eine engere Integration von
Deutschland und Frankreich zu suchen, sowie dessen Engagement der Vorjahre
wusste der Präsident um die Erwartungen des Bundeskanzlers und sah diese als
Chance für Europa. Kohls Ängste sollten durch Mitterrands alternatives Zu-
kunftsangebot aufgefangen und produktiv in europäisches Selbstvertrauen um-
gewandelt werden, um dadurch eine solide Grundlage für den Ausbau der euro-
päischen Kooperation zu schaffen. Damit speiste sich der Integrationsprozess nur
teilweise aus Angst vor einem amerikanisch-sowjetischen Kondominium, da diese
vielmehr zum Motor für Vertrauensbildung wurde – für wechselseitiges ebenso
wie für Selbstvertrauen. Diese Strategie diente nicht mehr dazu, interpersonales,
individuelles Vertrauen zu generieren. Vielmehr nutzte er dieses in dem Fall als
politische Ressource, um Kohls Vertrauen von einer persönlichen Ebene auf die
deutsch-französische Kooperation und die europäische Konstruktion zu über-
tragen. Bedrohungsperzeptionen im Kontext der Ost-West-Beziehungen wurden
so in gewisser Weise mit der Bildung eines europäischen Selbstvertrauens über-
schreiben.
Mit dieser Strategie gelang es Mitterrand zum einen, Kohl grundsätzlich von
einer Unterstützung des INF-Vertrages zu überzeugen. Obendrein erhielt er dessen
Phase über inoffizielle Kontakte. Welche Rolle der Faktor Persönlichkeit bezie-
hungsweise Vertrautheit dabei spielte, soll im folgenden Abschnitt 4.2 näher
ausgeführt werden.
Allein auf Mitterrands Überzeugungskünste lässt sich die Annahme der
doppelten Nulllösung durch die anderen Westeuropäer wohl nicht zurückführen.
Dafür dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass Gorbatschow angesichts des
europäischen Zögerns sein Angebot nochmals aufstockte und auch die sowjeti-
schen Raketen im asiatischen Teil der Sowjetunion in ein Abkommen ein-
schloss.¹²⁸ Im August 1987 akzeptierte auch Helmut Kohl die doppelte Nulllösung
und den Abbau der Pershing-I-Raketen, die er ursprünglich als Sicherheitsga-
rantie hatte halten wollen. Am 8. Dezember 1987 wurden mit der Unterzeichnung
des INF-Vertrages durch Ronald Reagan und Michail Gorbatschow amerikanische
und sowjetische Raketen von einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern
eliminiert und künftige Inspektionen vereinbart.¹²⁹ Die équipe Mitterrand hatte
diesen Vertrag erwiesenermaßen nicht nur passiv unterstützt, sondern durch
mannigfaltige Vermittlungsaktionen zwischen den Supermächten einerseits und
gegenüber westeuropäischen Akteuren andererseits an dessen Zustandekommen
einen nicht zu verachtenden Anteil.
Insgesamt lassen sich bisherige Forschungsergebnisse zu den Abrüstungs-
verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion revidieren und diffe-
renzieren. Als Mitinitiator der Neuen Détente ab Sommer 1984 hatte Mitterrand
durch seine Empathie und Vertrauensbildung zweiter Ordnung sowie seine In-
szenierung als unabhängige dritte Partei seinen Handlungsspielraum ausgewei-
tet.¹³⁰ Mit wachsender Vertrautheit zwischen Mitterrand und dem Generalsekretär
wurde eine größere beiderseitige Erwartungssicherheit geschaffen, die jedoch bei
Gorbatschow durch die Umstände der Cohabitation eine Irritation erfuhr. Auch
wenn die Maßnahmen der konservativen Regierung den Abrüstungsprozess zu
torpedieren drohten, trugen sie unter anderem dazu bei, dass Gorbatschow in
noch gesteigertem Maße um das Vertrauen der Westeuropäer warb. Den durch die
Inszenierung gewonnenen Handlungsspielraum konnte der Präsident als politi-
sche Ressource nutzen. Sowohl Reagan als auch Gorbatschow bestätigten Mitt-
errand in seiner Rolle als Vermittler zwischen Moskau und Washington. In dieser
Funktion ergänzte er den wieder aufgenommenen Dialog um seine eigenen per-
sönlichen Eindrücke und Einschätzungen. Dadurch unterstützte er den Aufbau
von Vertrautheit und Vertrauen zwischen Reagan und Gorbatschow und führte
Vgl. Brown, Archie: The Gorbachev revolution and the end of Cold War. In: Leffler,/Westad
(Hrsg.), Cambridge History, S. 262; Loth, Wilfried: Willy Brandt, Michail Gorbatschow und das
Neue Europa. In: Wir sind auf dem richtigen Weg. Willy Brandt und die europäische Einigung.
Hrsg. von Wilkens, Andreas. Bonn 2010. S.422; Soutou, Guerre de Cinquante Ans, S. 681; Leffler,
Mankind, S. 397.
Bozo, France, the Euromissiles, and the End of the Cold War, S. 208.
Mitterrand, Lettre, S. 19 f.
284 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
Entspannung zwischen Ost und West eine Voraussetzung für seine langfristigen
Zukunftsaussichten. Für eine Überwindung des Jalta-Systems bedurfte es eines
grundlegenden Wandels der Ressource internationaler Beziehungen von Angst
vor gegenseitiger Vernichtung zu Vertrauen. Dadurch würde sich auch eine
Chance ergeben, die Asymmetrien in den transatlantischen Beziehungen zu be-
seitigen und Europa zu einem unabhängigen Ordnungsmodell aufzubauen.
Mitterrand erkannte sehr schnell die Chancen, die sich für eine Stärkung west-
europäischer Solidarität aus dem erschütterten Vertrauen seiner europäischen
Partner in die amerikanische Sicherheitsgarantie nach dem Reykjavik-Gipfel er-
öffnete. Die Intensivierung der deutsch-französischen Kooperation und der Aus-
bau Westeuropas soll Gegenstand des folgenden Abschnitts sein.
AN, AG/5(4)/PM/8, Ministère des Affaires Européennes, Cabinet du Ministre, Robert Boulay,
Communiqué, 22. Juli 1984.
AN, AG/5(4)/PM/8, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Pierre Morel, Note
pour Monsieur le Président, Maurice Faure et le Comité Spaak, 15. November 1984.
286 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
seine bundesdeutschen Gesprächspartner sich nicht nur auf eine geheime bila-
terale deutsch-französische Abstimmung konzentrierten. Vielmehr sollten davon
weitere bilaterale Kontakte deutscher und französischer Vertreter mit Ge-
sprächspartnern anderer Mitgliedstaaten wie zum Beispiel Belgien und den Nie-
derlanden ausgehen. Unterhalb der Ebene des eigens für diese Fragen geschaf-
fenen Ausschusses dienten also bilaterale Konsultationen auf Beraterebene einer
Harmonisierung der verschiedenen Vorstellungen. Sie sollten es den deutsch-
französischen Repräsentanten erleichtern, ihre Überschneidungspunkte durch-
zusetzen, die dann möglichst in den Zwischenbericht des Dooge-Ausschusses für
die Staats- und Regierungschefs eingehen sollten. Außerdem wurde erwogen, im
Januar 1985 eine gemeinsame deutsch-französische Initiative für den Europäi-
schen Rat im März 1985 zu erarbeiten.¹³⁸
Tatsächlich wurde die Abstimmung des Dooge-Berichts vom März auf das
Mailänder Ratstreffen am 28. und 29. Juni 1985 vertragt. Dafür fanden auf Berater-
Ebene vorbereitende deutsch-französisch-italienische Gespräche statt, die vor
den anderen Mitgliedstaaten streng geheim gehalten werden sollten. Auf diese
Weise versuchte die italienische Ratspräsidentschaft durch „ein abgestimmtes
Vorgehen mit dem Tandem D[eutschland] und F[rankreich]“¹³⁹ den Erfolg des
europäischen Gipfels sicherzustellen. Die Briten sollten „wegen ihrer abwei-
chenden Interessenlage“ bewusst aus diesen Konsultationen herausgehalten
werden.¹⁴⁰
Die Aushandlungsprozesse über verschiedene Vorschläge zur künftigen in-
stitutionellen Ausgestaltung der Europäischen Gemeinschaft um den Gipfel in
Mailand sollen hier nicht im Detail dargestellt werden.¹⁴¹ Durch die Beispiele
sollte das Augenmerk vor allem auf zwei Punkte gelegt werden: Zum einen wurde
die Arbeit der Experten im Ausschuss der europäischen Außenminister und
Staats- und Regierungschefs durch ein engmaschiges bi- und multilaterales
Konsultationsnetz ergänzt. Diese Arbeitspraktiken, die einen Harmonisierungs-
versuch der unterschiedlichen Positionen darstellten, sollten Erfolg generieren,
wenn die ausgearbeiteten Vorschläge zur Abstimmung gestellt wurden. Gleich-
zeitig war aber nicht ausgeschlossen, dass eben diese Arbeitspraktiken einen
gegenteiligen Effekt verursachten, wie es beim Europäischen Ratstreffen in Mai-
land der Fall war: Ein durch Mitterrand und Kohl vorgelegter Vertragsentwurf über
eine Europäische Union sorgte insbesondere bei den Benelux-Staaten für Miss-
trauen, weil er einen Akzent auf die intergouvernementale Methode legte, und
wurde letztlich nur mit Mühe angenommen.¹⁴²
Zum anderen zeigt sich, wie wichtig die Faktoren Persönlichkeit und Ver-
trautheit für das Fortkommen im europäischen Integrationsprozess waren. Die
Ernennung von Maurice Faure als französischer Repräsentant im Dooge-Aus-
schuss muss im Kontext der équipe Mitterrand verstanden werden.¹⁴³ Wie Hubert
Védrine bezeugt, verstanden sich Mitterrand und Faure sehr gut und teilten die
gleiche Vision von Europa.¹⁴⁴ Dies mag auch daran liegen, dass Faure (Jahrgang
1922) eine ähnliche politische Sozialisation erfuhr wie François Mitterrand. Ein
anderes Beispiel bieten in dem Zusammenhang die Beziehungen zwischen Hans-
Dietrich Genscher und Roland Dumas. Durch eine enge Zusammenarbeit und
Konzentration auf „das Machbare“¹⁴⁵ trugen sie mit der Unterstützung von Jac-
ques Delors dazu bei, dass bei dem Europäischen Ratstreffen in Luxemburg am 2.
und 3. Dezember 1985 die Übereinkunft erreicht wurde, den Römischen Verträgen
eine Einheitliche Europäische Akte hinzuzufügen. Die Maßnahmen zur wirt-
schaftlichen Liberalisierung (gemeinsamer Binnenmarkt, freier Verkehr von Wa-
ren, Personen und Kapital) sollten durch die Stärkung der Institutionen und ein
politisches Europa ausbalanciert werden.¹⁴⁶ Persönliche Vertrautheit war neben
anderen Faktoren konstitutiv für die Einigung über den Kompromiss der Euro-
päischen Akte, die „nach Jahren der Stagnation eine weitgehende Verwirklichung
des Binnenmarktes ermöglichen und damit auch eine neue Dynamik in den an-
deren Integrationsbereichen“¹⁴⁷ begünstigen sollte.
Der Bedeutung der Faktoren Persönlichkeit und Vertrautheit für seine Euro-
papolitik war sich François Mitterrand durchaus bewusst. Die bereits im voran-
gegangenen Teilkapitel thematisierte Cohabitation wirkte sich auch auf die fran-
zösische Europapolitik aus. Im Herbst 1985 ernannte Mitterrand seine Beraterin
Elisabeth Guigou zur Secrétaire générale du Comité interministériel pour les
questions communautaires. ¹⁴⁸ Dieser dem Premier Minister zugeordnete Posten
Siehe dafür: Loth, Europas Einigung, S. 262; Dumas, Affaires étrangères, S. 293.
Vgl. Kapitel 1.
Védrine, Mondes, S. 394.
Loth, Europas Einigung, S. 265.
Vgl. Loth, Europas Einigung, S. 265 – 267.
Loth, Europas Einigung, S. 269.
Guigou, Femme, S. 62.
288 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
besaß einen großen Einfluss auf die Definition der Europapolitik, da im Ratsse-
kretariat die europäischen Ministerratstreffen vorbereitet wurden. Auf diese Weise
stellte Mitterrand im Hinblick auf die legislativen Wahlen 1986 sicher, dass der
Posten im Falle einer konservativen Regierungsmehrheit nicht mit einem Berater
des Premierministers besetzt und er nach wie vor Zugang zu Informationen und
Einfluss auf die Definition der französischen Europapolitik besitzen würde. Zu-
gleich behielt Guigou ihren Status als Beraterin des Präsidenten.¹⁴⁹ Einer ähnli-
chen Motivation folgte wohl auch die Wahl von Roland Dumas zum Präsidenten
der Kommission für Außenpolitik in der Assemblée Nationale im Oktober 1986,
die ihn zu einem „interlocuteur obligé de mon successeur au Quai d’Orsay“¹⁵⁰
machte. So erhielt Mitterrand durch die persönliche Verbindung zu Dumas wei-
terhin einen Überblick über die internationalen Beziehungen als Grundlage für
außenpolitische Entscheidungen. Diesen versuchte die konservative Regierung
unter anderem nämlich zu verstellen, indem die Übermittlung von Noten aus dem
Außenministerium an den Elysée in hohem Maße eingeschränkt wurde. Neben
diesen zwei zentralen Motiven – Informationsgewinnung und Wahrung von
Einfluss – kam wohl noch ein drittes Anliegen hinzu: Es sollte vermieden werden,
dass Frankreich offiziell mit zwei Stimmen sprach und dadurch die Erwartungen
der europäischen Partner irritierte. Mit der Wahrung eines höchstmöglichen
Maßes an Kontinuität in der französischen Außenpolitik sollte das Vertrauen auf
europäischer Ebene gewahrt bleiben. Diese Annahme lässt sich auch dadurch
belegen, dass Mitterrand dem konservativen Premierminister Jacques Chirac ei-
nen eigenen Sitz bei den europäischen Ratstreffen verweigerte. Chirac versuchte
das Amt des Premierministers zu nutzen, um sich in Hinblick auf die Präsident-
schaftswahlen 1988 international zu profilieren. Freilich wirkte auch hier für
Mitterrand das Motiv sehr stark, den Einfluss seines erwarteten Kontrahenten
1988 zu beschränken. Darüber hinaus jedoch hatte er in seinen ersten Amtsjahren
die Erfahrung gemacht, wie hinderlich Misstrauen zwischen europäischen Mit-
gliedstaaten für ein Fortkommen im europäischen Integrationsprozess war. Daher
war es für ihn ausgeschlossen, entgegen der allgemeinen Regel das Recht auf
einen dritten Sitz einzufordern, während alle anderen sich mit zwei begnügen
müssten.¹⁵¹
Diese drei Motive dürfen nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Wenn
beispielsweise Hans-Dietrich Genscher und Roland Dumas ihre engen Bezie-
hungen der Vorjahre in inoffiziellen Kontakten fortsetzten und Genscher seinen
dent nicht bereit war. Bevor darauf jedoch näher eingegangen werden kann, soll
zunächst ein Fokus auf die eingangs erwähnten Ursachen gelegt werden, die die
Aufmerksamkeit auf Fragen der Sicherheit, Verteidigung und Technologie ver-
schoben.
Als am 26. März über Caspar Weinberger das Angebot an die europäischen
Alliierten erging, sich an den Forschungen zu SDI zu beteiligen, war die équipe
Mitterrand bereits intensiv mit den Vorbereitungen eines europäischen Äquiva-
lents beschäftigt, um die europäischen Kräfte zu bündeln, anstatt sie in den
Dienst der USA zu stellen. Das Bewusstsein für technologischen Rückstand und
das Bedürfnis nach Hochtechnologie für die Modernisierung der Gesellschaft war
bei der sozialistischen Regierungsmannschaft nicht erst mit Reagans Rede vom
23. März 1983 gereift.¹⁵⁵ Im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft wurden ab
1983 auch eine Reihe industrieller Kooperationsprogramme entwickelt.¹⁵⁶ Hinter
den Initiativen stand die Intention, Frankreich und Europa im Bereich der Tech-
nologie und darüber auch die europäische Industrie wettbewerbsfähig zu ma-
chen. Dieses Bedürfnis wurde durch Reagans Ankündigung von SDI akzentuiert,
denn selbst ungeachtet der sicherheitspolitischen Effekte, die sich möglicher-
weise überhaupt nicht realisieren ließen, erkannte Jacques Attali, dass die USA in
der technologischen Entwicklung dadurch einen ungeheuren Sprung machen
würden. Als Attali bei dem vorbereitenden Treffen für den Bonner G7-Gipfel vom
15. bis 17. Februar 1984 bewusst wurde, dass die amerikanische Administration
diesen Gipfel dazu nutzen wollte, eine einhellige Unterstützung der Alliierten für
SDI medial zu inszenieren, sah er dringenden Handlungsbedarf und unternahm
eine Initiative gegenüber dem Präsidenten. Nach dessen Zustimmung konstitu-
ierte sich eine „équipe improvis铹⁵⁷, durch die innerhalb kürzester Zeit das
spätere EUREKA-Programm entwickelt wurde.¹⁵⁸
Interessant ist, dass das amerikanische SDI-Programm in den internen Pa-
pieren des Elysée vom Frühjahr 1985 nicht ausschließlich aus sicherheitspoliti-
schen Erwägungen abgelehnt wurde. Zwar fürchtete Hubert Védrine schon, dass
eine französische Beteiligung die Grundpfeiler ihrer eigenen Sicherheitsdoktrin
zu unterlaufen drohte. Die équipe Mitterrand sah jedoch den technologischen
Bereich auch als Möglichkeit, eine Emanzipation der Europäer voranzubringen.
Als gewissermaßen aus der Not der Stunde geborene Initiative hofften Mitterrand
und seine Berater durch EUREKA eine europäische Alternative zum Angebot der
amerikanischen Administration anbieten zu können, um der europäischen Ko-
operation mit der Technologie einen neuen Bereich zu eröffnen. Aus der Vor-
stellung heraus, dass die technologische Kooperation konstitutiv für die Stärkung
einer europäischen Identität sein würde, wurde das Angebot der Amerikaner auch
nicht auf eine technologische Notwendigkeit, sondern vielmehr auf diplomati-
sche Hintergedanken zurückgeführt. Zudem bezweifelte Védrine, dass französi-
sche Unternehmen tatsächlich auch einen Nutzen von der entwickelten Techno-
logie haben würden, was letztlich dem französischen Bedürfnis entgegenstand,
über eine Zusammenarbeit in der Forschung die Modernisierung der französi-
schen und europäischen Industrie und Gesellschaft zu unterstützen.¹⁵⁹
In diesem Zusammenhang sind die vorherigen Ausführungen für zwei Be-
obachtungen von zentraler Bedeutung: Erstens stellte das amerikanische Ko-
operationsangebot eine Initialzündung für bilaterale und multilaterale Abstim-
mungsversuche der europäischen Verbündeten über SDI dar. Dabei wird die
Intention der équipe Mitterrand offenkundig, eine gemeinsame europäische
Antwort respektive Ablehnung des amerikanischen Kooperationsangebots zu
entwickeln und stattdessen alle Potentiale auf europäische Projekte zu konzen-
trieren. Zweitens wird die These aufgestellt, dass aus den Verhandlungen um die
technologische Zusammenarbeit und Weltraumpolitik eine engere deutsch-fran-
zösische Zusammenarbeit in Fragen der Sicherheit und Verteidigung erwuchs.
Eine Dynamisierung der bilateralen Kooperation lässt sich daher ebenfalls auf das
amerikanische Angebot zurückführen. Schon bevor den europäischen Alliierten
eine Zusammenarbeit bei SDI angeboten wurde, war das Forschungsprogramm
Gegenstand deutsch-französischer Abstimmungen. In ihren Analysen kamen die
deutschen und französischen Außen- und Verteidigungsminister zu dem Schluss,
dass die europäischen Interessen in dieser Frage und in Zusammenhang mit der
technologischen Herausforderung nur gemeinsam gewahrt bleiben könnten.
Deswegen plädierten sie für eine „begrenzte Abstimmung mit den USA“ sowie
eine „Harmonisierung zwischen den europäischen Partnern und ihren Industri-
en“.¹⁶⁰ Europäische Anstrengungen sollten sich darauf richten, „den europäi-
schen Einfluss gebündelt zur Geltung zu bringen.“¹⁶¹ Strategisch inszenierte Ro-
land Dumas die Entscheidung über das amerikanische Angebot, als stünde die
AN, AG/5(4)/EG/71, Hubert Védrine, Note, Initiative de Défense Stratégique, April 1985.
Ministerialdirektor Pfeffer, z. Z. Paris an das Auswärtige Amt, 28. Februar 1985. In: AAPD
1985, Dok. 53, S. 289.
Ministerialdirektor Pfeffer, z. Z. Paris an das Auswärtige Amt, 28. Februar 1985. In: AAPD
1985, Dok. 53, S. 290.
292 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
Ministerialdirektor Pfeffer, z. Z. Paris an das Auswärtige Amt, 28. Februar 1985. In: AAPD
1985, Dok. 53, S. 290.
Védrine, Mondes, S. 362; Chaput, France, S. 199.
Botschafter Schoeller, Paris, an das Auswärtige Amt, 25. März 1985. In: AAPD 1985, Dok. 80,
S. 426.
Botschafter Schoeller, Paris, an das Auswärtige Amt, 25. März 1985. In: AAPD 1985, Dok. 80,
S. 426.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 293
Botschafter Schoeller, Paris, an das Auswärtige Amt, 25. März 1985. In: AAPD 1985, Dok. 80,
S. 427.
Botschafter Schoeller, Paris, an das Auswärtige Amt, 25. März 1985. In: AAPD 1985, Dok. 80,
S. 428.
Chaput, France, S. 207.
Aufzeichnungen des Ministerialdirektors Pfeffer, 24. April 1985. In: AAPD 1985, Dok. 98,
S. 515.
Aufzeichnungen des Ministerialdirektors Pfeffer, 24. April 1985. In: AAPD 1985, Dok. 98,
S. 512.
294 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
französischem Partner – keinen von beiden wollte Helmut Kohl brüskieren. Oh-
nehin hatte SDI in der Bundesrepublik seit 1983 zu einer Polarisierung der si-
cherheitspolitischen Debatte beigetragen.¹⁷¹ Als Mitterrand bei dem G7-Treffen in
Bonn vom 2. bis 4. Mai 1985 eine französische Beteiligung an SDI ausschloss,¹⁷²
verzichtete Kohl darauf, dem französischen Präsidenten in seiner Ablehnung
beizuspringen, um nicht in einen diplomatischen Gegensatz zu den USA zu ge-
raten. Zwar war zu diesem Zeitpunkt in Bonn hinsichtlich des Beteiligungsan-
gebotes noch keine Entscheidung gefallen; allerdings versuchte der Bundes-
kanzler sich einer bindenden Entscheidung zwischen SDI und EUREKA zu
entziehen.¹⁷³ Nach dieser Erfahrung begann die équipe Mitterrand auf verschie-
denen politischen Niveaus, den Druck auf die bundesdeutschen Partner zu er-
höhen. Während die Bemühungen unter anderem von Saulnier zuvor darauf ge-
richtet waren, überhaupt eine Abstimmung der europäischen Positionen zu SDI
zu erwirken, ging es dem Präsidenten und seinen Beratern nun darum, die
Bundesregierung von der Idee einer Beteiligung an SDI abzubringen und dem-
gegenüber einer europäischen Kooperation Priorität einzuräumen. Am 22. Mai
legte der französische Präsident Hans-Dietrich Genscher gegenüber dar, dass er
von der Seriosität des amerikanischen Angebotes zur Zusammenarbeit bei SDI
nicht überzeugt war. Bemerkenswert an seiner Charakterisierung des amerika-
nisch-europäischen Verhältnisses als eines zwischen „Kolonisator[]“ und „Kolo-
nialisierten“¹⁷⁴ ist weniger der „anti-amerikanische […] Tonfall“¹⁷⁵. Vielmehr noch
übersetzte es Mitterrands Erfahrungen der von ihm als asymmetrisch wahrge-
nommenen Beziehungen in plastische Sprache.
Da sich die Zusammenarbeit zwischen deutscher und französischer Wirt-
schaft schwierig gestaltete, sollte eine deutsch-französische Arbeitsgruppe aus
jeweils zwei Industriellen, Bankiers und Technologieexperten gegründet wer-
den.¹⁷⁶ Die Zurückhaltung der deutschen Wirtschaft begründete Genscher ge-
genüber Dumas mit den Unterschieden der beiden Wirtschaftssysteme; das
deutsche stünde dem amerikanischen näher als dem französischen. Dies sei auch
der Grund für die Schwierigkeiten bei der rüstungspolitischen Zusammenarbeit.
Auf Seiten der Bundesregierung standen also unter anderem Misstrauen gegen-
über dem französischen Wirtschaftspotential einer Selbstverpflichtung im Weg.
Dumas versuchte diese „unbegründete[n] Vorbehalte in deutschen Wirtschafts-
kreisen“ auszuräumen, indem er den Spieß umdrehte und stattdessen die deut-
sche Bereitschaft zur Kooperation infrage stellte.¹⁷⁷ Die Bundesregierung ließ sich
dadurch nicht zu einer schnellen Entscheidung nötigen; Ende Mai herrschte in
Bonn noch keine Klarheit darüber, wie eine Beteiligung an SDI konkret aussehen
könnte. Im Zentrum stand vor allem die Frage, ob man im Falle einer Beteiligung
auch von dem Ertrag der Forschung profitieren würde. Die Bundesregierung hegte
die Vorstellungen, einer gleichberechtigten Partnerschaft und Zusammenarbeit
„zum gegenseitigen Nutzen“¹⁷⁸. Mitterrand nutzte dies, um noch einmal Zweifel
an den amerikanischen Absichten zu sähen: Es bestünde keinerlei Klarheit dar-
über, wie die USA sich eine Beteiligung der Europäer vorstellten. Er habe „kein
Interesse an einer reinen Weitergabe der Technologie“¹⁷⁹. Aus seinem Gespräch
mit dem Bundeskanzler lässt sich Mitterrands Intention herausarbeiten, die hinter
dem EUREKA Programm und seiner Ablehnung stand, auf das amerikanische
Angebot einzugehen:
Man müsse die USA in eine Demandeur-Position bringen. Sie müßten Interesse an der Zu-
sammenarbeit zeigen. Die mangelnde Präzision des Verlangens von Präsident Reagan sei der
Beziehungen zwischen den USA und Europa unwürdig.¹⁸⁰
Die Bemühungen von Mitterrand und seiner équipe, eine europäische Zusam-
menarbeit in der Technologie zu erreichen, die europäische Industrie zu moder-
nisieren und wettbewerbsfähig zu machen, richteten sich letztlich auf eine
Emanzipation der Europäer von den USA und damit insgesamt auf eine Neuver-
handlung der transatlantischen Beziehungen. Aus diesem Grund war es ihm auch
so wichtig, dass die Bundesregierung auf Reagans Kooperationsangebot nicht
eingehen würde. Mit seiner bereits mehrfach analysierten Kommunikationsstra-
tegie der Empathie drückte er Verständnis für Kohls Haltung aus und versuchte
ihn davon zu überzeugen, das amerikanische Angebot auszuschlagen. Nach wie
vor widerstand Kohl den Versuchen der équipe Mitterrand, die es nunmehr über
Botschafter Schoeller, Paris, an das Auswärtige Amt, 24. Mai 1985. In: AAPD 1985, Dok. 136,
S. 704.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Konstanz, 28. Mai
1985. In: AAPD 1985, Dok. 137, S. 706.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Konstanz, 28. Mai
1985. In: AAPD 1985, Dok. 137, S. 710.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Konstanz, 28. Mai
1985. In: AAPD 1985, Dok. 137, S. 710.
296 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Konstanz, 28. Mai
1985. In: AAPD 1985, Dok. 137, S. 710 f.
Die technologische Zusammenarbeit im EUREKA-Programm sollte nicht durch die EG er-
folgen, sondern zwar mit der EG verbunden aber auch für Mitglieder außerhalb der EG offen sein;
vgl. zu diesen Überlegungen: Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand
in Konstanz, 28. Mai 1985. In: AAPD 1985, Dok. 137, S. 707; Ministerialdirigent Trumpf, z. Z. Rom an
Staatssekretär Ruhfus, 7. Juni 1985. In: AAPD 1985, Dok. 151, S. 793.
Gespräch des Ministerialdirektors Teltschik, Bundeskanzleramt, mit dem Sonderberater des
französischen Präsidenten, Attali, 27. September 1985. In: AAPD 1985, Dok. 260, S. 1337.
Gespräch der Bundesminister Genscher und Wörner mit dem französischen Außenminister
Dumas und Verteidigungsminister Quilès, 7. November 1985. In: AAPD 1985, Dok. 305, S. 1580.
AN, AG/5(4)/EG/71, MRE, TD Bonn 1159, Entretien avec le Directeur Politique: IDS, 19. Juni
1985; Aufzeichnung des Ministerialdirektors Edler von Braunmühl, 18. Dezember 1985. In: AAPD
1985, Dok. 349, S. 1849 f.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 297
Aufzeichnungen des Ministerialdirektors Edler von Braunmühl, 27. Juni 1985. In: AAPD 1985,
Dok. 171, S. 896 – 905, Zitat 897.
Aufzeichnungen des Ministerialdirektors Edler von Braunmühl, 27. Juni 1985. In: AAPD 1985,
Dok. 171, S. 897f.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 299
Aufzeichnungen des Ministerialdirektors Edler von Braunmühl, 27. Juni 1985. In: AAPD 1985,
Dok. 171, S. 898 – 902.
Aufzeichnungen des Ministerialdirigenten Schauer, 22. Juli 1985. In: AAPD 1985, Dok. 202,
S. 1060.
Aufzeichnungen des Ministerialdirigenten Schauer, 22. Juli 1985. In: AAPD 1985, Dok. 202,
S. 1064.
Aufzeichnungen des Ministerialdirigenten Schauer, 22. Juli 1985. In: AAPD 1985, Dok. 202,
S. 1066 f.
Vgl. dazu: Aufzeichnung des Vortragenden Legationsrats I. Klasse von Studnitz, 8. Februar
1985. In: AAPD 1985, Dok. 35, S. 197– 199.
300 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
Interesse der französischen Regierung an dem Projekt wusste, versuchte sie sich
im Verlauf des Jahres 1985 der Ende 1984 gemachten Zusage zu entziehen. Sie sah
zwar die Gefahr, dass ein weiteres Hinauszögern einen Glaubwürdigkeitsverlust
nach sich ziehen würde.¹⁹⁶ Letztlich beschied Helmut Kohl aber, dass für das
Projekt keine finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden könnten. Deutsche
Sicherheits- und Technologieexperten unterstellten der französischen Regierung,
die Kosten für die Modernisierung der französischen force de frappe durch das
gemeinsame Projekt zu Teilen auf die Bundesrepublik umlegen zu wollen. Zudem
war das deutsche Interesse an dem Aufklärungssatelliten nicht so groß, da sie
ihren Aufklärungsbedarf hinreichend durch die Zusammenarbeit mit den USA
gedeckt sahen.¹⁹⁷ Für die Bundesregierung stellte der unabhängige Zugang zu
Aufklärungsinformationen also keine Priorität dar. Außerdem bewertete sie die
französischen Interessen nicht in dem Kontext einer europäischen Emanzipation,
sondern unterstellte ein rein nationales Kalkül.
Am 7. November 1985 gaben Genscher und Wörner bei dem Treffen der
deutsch-französischen Außen- und Verteidigungsminister einen ablehnenden
Bescheid für das Projekt des deutsch-französischen Aufklärungssatelliten. Die
Entscheidung wurde versucht damit zu legitimieren, dass einer Weiterentwick-
lung der Kampfkraft der Bundeswehr Priorität eingeräumt würde, die letztlich
auch den Kooperationsmöglichkeiten mit Frankreich zugutekomme.¹⁹⁸ Am
8. November versuchte Mitterrand deshalb persönlich, Kohls Zustimmung zur
deutsch-französischen Kooperation im kostspieligen Bereich der Weltraumpolitik
zu gewinnen.¹⁹⁹ Dabei setzte er verschiedene Kommunikationsstrategien ein: Zum
einen nutzte er das über die Jahre gewachsene persönliche Vertrauen zum Bun-
deskanzler als politische Ressource, um seinem Gesprächspartner Ratschläge zu
erteilen. Mit der rhetorischen Wiederholung seiner Formulierung „Wenn er selbst
Deutscher wäre…“ empfahl er ihm eine Kooperation im Weltraum und wollte dies
als uneigennützig verstanden wissen. Zum anderen inszenierte er den Weltraum
als einmalige Chance für Deutschland „eine autonome Sicherheitsgewährleitung
unterhalb oder oberhalb des Nuklearen“ zu entwickeln. Mit der Andeutung,
Aufzeichnungen des Ministerialdirektors Edler von Braunmühl, 27. Juni 1985, Anmerkung 32.
In: AAPD 1985, Dok. 171, S. 904 f.
Gespräch der Bundesminister Genscher und Wörner mit dem französischen Außenminister
Dumas und Verteidigungsminister Quilès, 7. November 1985, Anmerkung 35. In: AAPD 1985,
Dok. 305, S. 1578.
Gespräch der Bundesminister Genscher und Wörner mit dem französischen Außenminister
Dumas und Verteidigungsminister Quilès, 7. November 1985. In: AAPD 1985, Dok. 305, S. 1585.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, 8. November 1985. In:
AAPD 1985, Dok. 307, S. 1593 f.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 301
Deutschland befinde sich „inzwischen wieder auf dem Weg, eine größere Macht
zu werden“, nährte er die Hoffnung, dass die Bundesrepublik auch ohne Nukle-
arstreitkräfte in der Verteidigung zu den anderen Mächten aufschließen könne. Er
schuf die Imagination, dass sich in naher Zukunft militärische Strategien ab-
zeichneten, „die nicht auf dem Atom beruhen.“ Mitterrand ging sogar so weit,
„[j]ede Verzögerung“ als vertane Chance für Deutschland darzustellen „seine
strategischen Optionen auszuweiten“. Aber auch als er wiederholt insistierte, der
Weltraum dürfe nicht den Amerikanern alleine überlassen werden, vermochte
dies Kohl in seiner Ablehnung nicht umzustimmen.²⁰⁰
Mitterrand zog daraus offenbar den Schluss, sich in der Verteidigung ko-
operativer zu zeigen, um die Bundesregierung von der französischen Solidarität
zu überzeugen. Als sich Mitterrand und Kohl am 17. Dezember 1985 erneut be-
gegneten, gingen beide mit der Intention in das Gespräch, dem jeweils anderen
ein Zugeständnis abzuringen: Nachdem Mitterrand am 8. November keine Zusage
erhalten hatte, inszenierte der französische Präsident den Weltraum abermals als
eine Art Möglichkeitsraum für die Zukunft, der sich für die Bundesrepublik im
Gegensatz zum nuklearen Bereich gewissermaßen zur freien Gestaltung darbiete.
Anders als beim letzten Mal eröffnete er Kohl auch eine bedrohliche Seite des
Weltraums. Wenn man nämlich diese Chance verstreichen und anderen dieses
Feld überlassen würde, sehe man sich künftig in der Verteidigung mit einer
doppelten Herausforderung konfrontiert: Verteidigung gegen den klassischen
„Frontkämpfer“ und gleichzeitig gegen „den Soldaten im Weltraum“. Mitterrand
machte deutlich, dass Frankreich aufgrund der finanziellen Last nicht den nu-
klearen und Weltraumbereich zugleich bedienen könne.²⁰¹ Helmut Kohl ging
seinerseits mit der Absicht in das Gespräch, dem französischen Präsidenten ein
Einverständnis zu Konsultationsmechanismen im nuklearen Bereich sowie eine
Beteiligung an der Vorwärtsverteidigung zu entlocken. Die bundesdeutschen
Anstrengungen im konventionellen Bereich durch die Bundeswehr, argumentierte
er, seien auch für Frankreich ein unverzichtbarer Teil der Friedenssicherung,
wohingegen die force de frappe Deutschland keinen Schutz bieten könne. Er
stellte daher die Frage zur Diskussion, inwieweit vitale, strategische und sicher-
heitspolitische Interessen angeglichen werden könnten.²⁰²
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, 8. November 1985. In:
AAPD 1985, Dok. 307, S. 1593 – 1595.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 17. Dezember
1985. In: AAPD 1985, Dok. 347, S. 1822 f.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 17. Dezember
1985. In: AAPD 1985, Dok. 347, S. 1825f.
302 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 17. Dezember
1985. In: AAPD 1985, Dok. 347, S. 1827.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 17. Dezember
1985. In: AAPD 1985, Dok. 347, S. 1827.
Schauer wollte „vermeiden, daß die französische Regierung durch öffentlichen Druck in eine
Position gerät, in der sie sich zu Klarstellungen genötigt sieht, die zwangsläufig einen Rü ckzug auf
engere nationale Positionen bringen dü rften.“ Siehe dafür Aufzeichnungen des Ministerialdiri-
genten Schauer, 22. Juli 1985. In: AAPD 1985, Dok. 202, S. 1067.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 303
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 17. Dezember
1985. In: AAPD 1985, Dok. 347, S. 1835.
AN, AG/5(4)/CD/186, Présidence de la République, Le Général, Chef de l’Etat Major Parti-
culier, General Forray, Note à l’attention de Monsieur le Président de la République, Visite à
Baden-Baden le 16 janvier 1986, 9. Dezember 1985.
AN, AG/5(4)/CD/186, MAE, Le Directeur des Affaires Politiques, Pierre Morel, Note pour le
Ministre, Rencontre de Baden-Baden entre le Président de la République et le Chancelier: Coo-
pération franco-allemande dans le domaine de la sécurité et de l’espace, 14. Januar 1986.
AN, AG/5(4)/CD/186, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Hubert Védrine,
Note pour le Président de la République: Votre visite à Baden-Baden 16. janvier 1986, 15. Januar
1986.
Attali, Verbatim 1981– 1986, 16. Januar 1986, S. 1092.
304 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
spräch aus und zog sich darauf zurück, dass er diese Absprache nicht kenne.
Während Mitterrand im nuklearen Bereich nur sehr widerwillig und in einge-
schränktem Maße zu Solidarität bereit war, kam er im konventionellen Bereich
deutschen Erwartungen entgegen.²¹¹
Das Ergebnis der Beratungen von Altenburg und Saulnier wurde im An-
schluss an den deutsch-französischen Gipfel am 27. und 28. Februar 1986 in Paris
in Form einer „Erklärung über ein Abkommen zwischen dem Bundeskanzler der
Bundesrepublik Deutschland und dem Präsidenten der Französischen Republik“
veröffentlicht. Darin versicherte Mitterrand eine operationelle Zusammenarbeit
und ein Vorrücken französischer Truppen bis zur innerdeutschen Grenze zu. Der
Begriff der Vorwärtsverteidigung sollte allerdings vermieden und die französi-
schen Truppen unter keinen Umständen dem Kommando der NATO unterstellt
werden. Auch gab der französische Präsident sein Einverständnis zu Konsulta-
tionen mit dem deutschen Bundeskanzler im Falle eines Einsatzes französischer
Nuklearwaffen auf deutschem Boden, obwohl dieser Bereitschaft sehr enge
Grenzen gesetzt wurden. Zum einen lag dies in der „außerordentliche[n]
Schnelligkeit, mit der solche Entscheidungen zu treffen sind“ begründet; zum
anderen handelte es sich keinesfalls um eine deutsche Ko-Entscheidung, da die
Entscheidung zum Einsatz französischer Nuklearwaffen nicht geteilt werden
könne.²¹²
In Baden-Baden war bereits deutlich geworden, dass Mitterrand für seine
Zugeständnisse in Verteidigungsfragen Kompromisse von Kohl bei der Zusam-
menarbeit in der Weltraumpolitik erwartete. Unumwunden hatte er das Gespräch
von den sicherheitspolitischen Fragen auf dieses Thema gelenkt. Ministerialdi-
rigent Edler von Braunmühl im Auswärtigen Amt hatte im Dezember 1985 darauf
aufmerksam gemacht, dass die Irritation von französischem Vertrauen für die
deutsch-französische Kooperation zum Hindernis werden könnte. Aufgrund der
nicht unbegründeten französischen Feststellung, dass die BRD „im Zweifel der
Zusammenarbeit mit den USA den Vorzug“ gebe, sah er Bedarf für „eine gewisse
gedankliche Nacharbeit, um ein klassisches Denkschema voraussehbaren Ent-
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Baden-Baden, 16. Ja-
nuar 1986. In: AAPD 1986, Dok. 10, S. 51.
Vgl. Attali, Verbatim 1981– 1986, 27. Februar 1986, S. 1111 f.; Loth, Europas Einigung, S. 289;
Lappenküper, Mitterrand und Deutschland, S. 225; Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit
Staatspräsident Mitterrand in Baden-Baden, 16. Januar 1986. In: AAPD 1986, Dok. 10, S. 51; Ge-
spräch der Bundesminister Genscher und Wörner mit dem französischen Außenminister Dumas
und Verteidigungsminister Quilès in Paris, 27. Februar 1986. In: AAPD 1986, Dok. 57, S. 325.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 305
Aufzeichnung des Ministerialdirektors Edler von Braunmühl, 18. Dezember 1985. In: AAPD
1985, Dok. 349, S. 1848.
Aufzeichnung des Ministerialdirektors Edler von Braunmühl, 18. Dezember 1985. In: AAPD
1985, Dok. 349, S. 1846.
Aufzeichnung des Ministerialdirektors Edler von Braunmühl, 18. Dezember 1985. In: AAPD
1985, Dok. 349, S. 1848.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Baden-Baden, 16. Ja-
nuar 1986. In: AAPD 1986, Dok. 10, S. 52 f., Zitate S. 53.
306 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
Verteidigung werden könnte, gab es bei den Beratern von Mitterrand ohnehin seit
1981.²¹⁷ Die Wahrung der französischen Unabhängigkeit motivierte die équipe
Mitterrand dazu, nicht mit den USA zu kooperieren, sondern eine bilaterale
deutsch-französische Zusammenarbeit mit europäischer Perspektive anzustre-
ben. Mitterrands Festhalten an der Unabhängigkeit war es dann aber auch, die
ihm schließlich im Weg stand. Er war offenbar nicht dazu bereit, diesen Preis
dafür zu zahlen, dass die Europäer – aber vor allem die Bundesregierung – einer
eigenständigen europäischen Komponente von SDI Vorrang gegenüber den
Amerikanern einräumten. Anders als in anderen Kontexten, half der équipe
Mitterrand hier auch ihre Strategie der Inszenierung nicht mehr weiter, da die
Bundesregierung konkrete Regelungen zu einer Beteiligung an der konventio-
nellen Verteidigung und zu Konsultationsmechanismen im nuklearen Bereich
verlangte.
Dies wirft die Frage auf, ob Mitterrand sich nicht bewusst darüber war, dass
sein Beharren auf der Unabhängigkeit der französischen Streitkräfte nicht ver-
einbar mit seiner Erwartung von Solidarität seitens der Bundesrepublik war.
Plausibler als diese Annahme sind zwei andere Gründe, die Mitterrand daran
hinderten, über die vorgesehenen Konsultationen hinauszugehen. Erstens ist
anzunehmen, dass sich Mitterrand selbst im Weg stand. Sein persönliches Miss-
trauen hinderte ihn daran, die strategische Unabhängigkeit aufzugeben. Während
des Krieges und im französischen Widerstand hatte er gelernt, sein Leben nie-
mand anderem anvertrauen zu können, sondern nur durch unabhängige Ent-
scheidungen zu überleben. Mitterrand war sich bewusst, dass es einer Demon-
stration von Kompromissbereitschaft bedurfte, um bei anderen Bereitschaft zu
Solidarität zu wecken; diese Erfahrung hatte er in der Euroraketen- und franzö-
sischen Währungskrise gemacht. Aber auch da war die Unabhängigkeit der
französischen force de frappe für ihn unantastbar gewesen und die Grenze seiner
Solidaritätsbereitschaft erreicht. Schon gar nicht war Mitterrand gewillt, in dieser
existentiellen Frage in Vorleistung zu treten. Wenn Kohl auch seine Ablehnung
eines deutsch-französischen Aufklärungssatelliten revidiert hatte, war er seiner-
seits auch nicht bereit, sich in Baden-Baden eindeutig von einer Kooperation mit
den USA zu distanzieren. Wachsendes Misstrauen der französischen Öffentlich-
keit dahingehend, dass die deutsche Bundesregierung ihre Politik primär nach
nationalen Interessen ausrichte, wollte das Auswärtige Amt zwar ausräumen.²¹⁸ In
deutsch-französischen Gipfel vom 27. und 28. Februar 1986 „über die weitere Verstärkung der
außenpolitischen Zusammenarbeit“; siehe dazu: Gespräch des Bundesministers Genscher mit
dem französischen Außenminister Dumas in Paris, 7. Januar 1986. In: AAPD 1986, Dok. 2, S. 8;
Gespräch der Bundesminister Genscher und Wörner mit dem französischen Außenminister Du-
mas und Verteidigungsminister Quilès in Paris, 27. Februar 1986. In: AAPD 1986, Dok. 57, S. 325.
Vgl. dazu Loth, Europas Einigung, S. 245f.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 24. Juli 1987, S. 381.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 10. August 1987, S. 391, 3. Oktober 1987, S. 414.
308 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
der zu dieser Frage zurückzukehren; sie gab ihre Versuche nicht auf, den fran-
zösischen Partnern ein größtmögliches Zugeständnis in Hinblick auf die Kon-
sultationen abzuringen. Für den deutsch-französischen Rat für Sicherheit und
Verteidigung am 20. April 1989 wollte Helmut Kohl einen vom französischen
Generalstabschef Maurice Schmitt und deutschem Generalinspekteur Wellershoff
ausgearbeiteten Abkommensentwurf annehmen. Die Vereinbarung vom 28. Fe-
bruar 1986 diente erneut als Grundlage. Hubert Védrine riet Mitterrand davon ab,
ein solches Abkommen zu unterzeichnen, auch wenn dies der absoluten Ge-
heimhaltung unterliegen sollte, da es Mitterrands Entscheidungsfreiheit einzu-
schränken drohe. Zudem erhob er Einwände gegen einen Paragraphen, demzu-
folge französische taktische Nuklearwaffen auf deutsches Territorium vorrücken
könnten. Wenn der Text durch einen Zufall einen Weg in die Öffentlichkeit finden
sollte, fürchtete Védrine, hätte dies sowohl in Frankreich als auch in Deutschland
desaströse Folgen.²²² Mitterrand verweigerte sich bei dem deutsch-französischen
Gipfel einem solchen Abkommen.²²³ Allemal macht dies aber deutlich, dass die
französischen Militärs in den Verhandlungen mit ihren deutschen Kollegen of-
fensichtlich mehrfach die von Mitterrand gesteckten Grenzen überschritten, was
die These stützt, dass Mitterrands persönliches Misstrauen und seine Sorgen um
nachteilige Effekte auf den Entspannungsprozess einer solchen Vereinbarung im
Weg stand.
Die Beispiele zeigen die Grenzen von Prozessen der individuellen Vertrau-
ensbildung auf, die niemals unabhängig von den Erfahrungen der involvierten
Individuen ablaufen. Zugleich offenbaren sie die Komplexität solcher Prozesse,
die einer ständigen Vergewisserung bedurften, da andernfalls Raum für Irrita-
tionen des Erreichten gelassen wurde. Die Irritation wurde beispielsweise von
Dumas bewusst als Kommunikationsstrategie eingesetzt, um Druck auszuüben.
In Teilen der bundesdeutschen Administration wurde sie als Hindernis gesehen,
wenn man sich in der Kooperation des Weltraumsatelliten zu zögerlich zeigte.
Insofern wollte Mitterrand der Bundesrepublik durch verstärktes französisches
Engagement in der Verteidigung Europas langfristig eine alternative Sicherheits-
garantie anbieten, in der der Fokus nicht mehr auf den transatlantischen Bezie-
hungen liegen würde. Zum anderen ging er diesen Weg aber nicht konsequent zu
Ende. Es wurde deutlich, dass der Prozess der Vertrauensbildung sich aus stän-
digen Solidaritätsbekundungen speiste, die im Falle eines Stillstandes eine re-
zessive Wirkung entfalten konnten. Damit ist auf eine gewisse Pfadabhängigkeit
Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem französischen Außenminister Dumas in
Wachtenberg-Pech, 21. August 1985. In: AAPD 1985, Dok. 225, S. 1161.
Hiepel, Introduction, S. 11.
ADMAE 1935-INVA 6652, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Le
débat stratégique après Reykjavik, 28. November 1986; siehe dazu außerdem: ADMAE 1935-INVA
310 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
6652, MAE, TD Diplomatie 28197, Benoît d’Aboville, „Après Reykjavik“ – consultations restreintes
entre pays européens, 13. November 1986.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 28. Oktober 1986, S. 198.
ADMAE 1935-INVA 6652, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, Le
débat stratégique après Reykjavik, 28. November 1986; siehe dazu außerdem: ADMAE 1935-INVA
6652, MAE, TD Diplomatie 28197, Benoît d’Aboville, „Après Reykjavik – consultations restreintes
entre pays européens, 13. November 1986.
ADMAE 1935-INVA 6786, MAE, TD Bonn 1788, Boidevaix, Coopération en matière de sécu-
rité – presse allemande, 25. Oktober 1986.
ADMAE 1935-INVA 6786, Résumé des conversations des Ministres de la Défense à l’occasion
des consultations franco-allemandes des 27 et 28 Octobre à Francfort.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 311
ADMAE 1935-INVA 6785, MAE, Coopération franco-allemande en matière de sécurité. Bilan
rendu public à l’issue du sommet des 27 et 28 octobre 1986, 29. Oktober 1986.
ADMAE 1935-INVA 6653, MAE, TD Washington 123/124/125, Margerie, Entretien avec M. Perle,
22. Januar 1987.
ADMAE 1935-INVA 6653, MAE, TD Washington 123/124/125, Margerie, Entretien avec M. Perle,
22. Januar 1987.
312 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
ADMAE 1935-INVA 6653, Ambassade de France aux Etats-Uni, Emmanuel de Margerie à Jean-
Bernard Raimond, Entretien avec M. Fritz Ermarth, nouvel assistant auprès du conseiller national
de sécurité pour les questions soviétiques et européennes, 5. Februar 1987.
ADMAE 1935-INVA 6653, MAE, TD Washington 302, Margerie, Entretien de M. Shultz avec la
délégation de la Commission des Affaires Etrangères de l’Assemblée Nationale conduite par M.
Alain Peyrefitte, 11. Februar 1987.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 313
gung. Insgesamt wurde die WEU von französischen Diplomaten zunehmend als
Vehikel gesehen,
Allerdings gingen die Vorstellungen über die Aufgabe und den Sinn der WEU nach
wie vor weit auseinander. Aus Sicht französischer Diplomaten sollte die WEU
nicht zu einer Art Subinstitution der NATO werden, damit die europäischen Mit-
glieder ihre Interessen besser vertreten konnten.²³⁷ Die deutsche Haltung wurde in
dieser Frage zumindest als ambivalent wahrgenommen zwischen dem Wunsch,
eine europäische Säule der Atlantischen Allianz zu schaffen, und der Vision einer
künftigen europäischen Sicherheitsunion.²³⁸ Außerdem wolle die BRD die Rolle
der WEU auf die Definition einer grundsätzlichen Verteidigungspolitik der Euro-
päer beschränken, während die operativen Elemente alleinige Aufgabe der NATO
bleiben sollten. Insofern unterstellten französische Diplomaten der Bundesre-
gierung, Frankreich den strategischen Konzepten der NATO quasi durch die
Hintertür annähern zu wollen, ohne die Frage der Reintegration konkret aufzu-
werfen.²³⁹
Die Entwicklungen der bilateralen Kooperation im Bereich der Sicherheit und
Verteidigung zwischen Paris und Bonn der Jahre 1987 und 1988 müssen ebenfalls
in den Kontext von Reykjavik-Effekt und europäischer Emanzipation gestellt
werden. Wie das vorherige Teilkapitel zeigen konnte, hatte François Mitterrand
Helmut Kohl die Aussicht auf eine alternative Zukunft angeboten, in der die Ge-
nese Europas als drittes Ordnungsmodell die Ungewissheit des amerikanischen
Schutzschirms bewältigen sollte. Damit hatte er das erschütterte Vertrauen in die
amerikanische Sicherheitsgarantie produktiv in ein verstärktes europäisches
Engagement der Bundesrepublik transformieren wollen. Die deutsch-französi-
ADMAE, 1935-INVA 6789, MAE, Le Directeur Adjoint des Affaires Politiques, session mi-
nistérielle de l’UEO (26 – 27 octobre 1987). Question d’actualité. point 3: „état de la coopération
franco-allemande en matière de sécurité et de défense“ [Hervorhebung im Original], 26. Oktober
1987.
ADMAE 1935-INVA 6619, Relance de L’UEO, Mai 1988.
ADMAE 1935-INVA 6790, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, La RFA
et l’UEU, 18. Oktober 1988.
ADMAE 1935-INVA 6790, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, La RFA
et l’UEU, 18. Oktober 1988.
314 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
Äquivalent zu gründen.²⁴⁸ Ersterer setzte sich zusammen aus Staats- und Regie-
rungschefs, Außen- und Verteidigungsministern, Generalstabschef der französi-
schen Armee und Generalinspekteur der Bundeswehr und hatte seinen Sitz in
Paris. Mit dem Rat, der zwei Mal im Jahr zusammentreten sollte, erfuhren Ge-
spräche, die bereits in Form eines Ausschusses in diesem Bereich am Rande der
deutsch-französischen Gipfel geführt worden waren, eine offizielle Institutiona-
lisierung.²⁴⁹ Neben einer gemeinsamen Konzeption in der Verteidigung sollte eine
bilaterale Abstimmung zu Fragen der Rüstungskontrolle und Abrüstung erfolgen
und Entscheidungen hinsichtlich einer stärkeren Kooperation und Integration der
Armeen getroffen werden.²⁵⁰ Der Rat für Sicherheit und Verteidigung trat erstmals
über ein Jahr nach seiner Gründung am 20. April 1989 am Rande des deutsch-
französischen Gipfels zusammen, während sich der Wirtschaftsrat schon vor der
offiziellen Gründung mehrfach inoffiziell getroffen hatte.²⁵¹ Thematisch sollte es
bei ersterem um die Vorbereitungen des Atlantischen Gipfeltreffens gehen, um
eine Harmonisierung der deutschen und französischen Positionen in Abrüs-
tungsfragen zu erzielen.²⁵² Hierin zeigt sich, dass die stärkere sicherheitspoliti-
sche Integration zwischen Deutschland und Frankreich auf eine gemeinsame
Interessenvertretung innerhalb des westlichen Bündnisses abzielte.
Gleichwohl beschränkte sich all dies auf den konventionellen Bereich. Einer
realen Annäherung der verteidigungspolitischen Konzeptionen stand Mitterrands
Beharren auf dem rein nationalen Charakter der französischen force de frappe im
Weg. Nichtsdestoweniger hatte die Abstimmung in dem deutsch-französischen
Rat einen europäischen Fokus und diente einem „renforcement du ‚pilier euro-
péen‘ de l’Alliance Atlantique dans la perspective de la constitution de l’Euro-
pe.“²⁵³. Explizit richtete sich das Vorhaben, die Sicherheitspolitik sowie ihre
strategischen Konzepte einander anzunähern, auf eine „construction européenne
ADMAE 1935-INVA 6791, MAE, TD Diplomatie 7002, Rapport sur la coopération franco-al-
lemande (2/2), 12. April 1989.
AN, AG/5(4)/AH/19, handschriftlicher Vermerk von Elisabeth Guigou an Hubert Védrine auf
dem Brief von Gérard Pince, Président de la Fondation pour l’Europe à Monsieur le Président de la
République vom 27. Juli 1987.
AN, AG/5(4)/AH/19, handschriftliche Notiz von Hubert Védrine an Elisabeth Guigou, kein
Datum (voraussichtlich vor dem 30. Oktober, am Rand des Papiers war vermerkt worden: „Mme
rentre le week-end prochain 30 oct.“).
AN, AG/5(4)/AH/19, handschriftliche Notiz von François Mitterrand an A.H. [Alain Holle-
ville], ohne Datum.
318 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
AN, AG/5(4)/AH/19, Gérard Pince, Proposition d’un projet de défense européenne par la
Fondation pour l’Europe, 27. Juli 1987.
ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, En-
tretien du Premier Ministre et du Chancelier fédéral. Coopération franco-allemande en matière de
défense et de sécurité, 8. Juli 1988.
4.2 „Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.“ 319
ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires Strat-
égiques et du Désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note, En-
tretien du Premier Ministre et du Chancelier fédéral. Coopération franco-allemande en matière de
défense et de sécurité, 8. Juli 1988.
Mitterrand, Lettre, S. 14.
Mitterrand, Lettre, S. 17.
320 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
ihm versichert, dass der nukleare Bereich ausgespart bleiben würde.²⁶³ Die Eini-
gung in der Frage nach den Konsultationen beim Einsatz der taktischen Nukle-
arwaffen zwischen Mitterrand und Kohl und das Abkommen vom 28. Februar 1986
beunruhigten den Generalsekretär jedoch erneut.²⁶⁴ Die Präsidentenberater Mu-
sitelli und Védrine erkannten Gorbatschows Sorgen und erwarteten, dass Gor-
batschow das Thema bei Mitterrands Reise nach Moskau ansprechen werde.²⁶⁵
Védrine erinnert sich, dass sich der französische Präsident um Vertrauensbildung
bemühte und versicherte, dass die Bundesrepublik keineswegs in die Entschei-
dungen oder Ausarbeitungen der französischen nuklearen Abschreckung einge-
bunden werde.²⁶⁶ Dies stützt die These, dass hinter Mitterrands Zögern, die
deutsch-französische Zusammenarbeit auch im nuklearen Bereich auszudehnen,
sein Bemühen stand, sowjetische Bedrohungsperzeptionen nicht zusätzlich an-
zuregen und so Spannungen auf dem europäischen Kontinent zu verantworten.²⁶⁷
Auch die Revitalisierung der Westeuropäischen Union löste sowjetisches Miss-
trauen aus und wurde als eine Form militärischer europäischer Integration in der
Presse diffamiert, die Charta zur Sicherheit in Europa der WEU scharf verurteilt.²⁶⁸
Die französische Botschaft in Moskau sammelte die Kritikpunkte in der sowjeti-
schen Presse und sendete sie an das Außenministerium in Paris.²⁶⁹ Anhand der
negativen Reaktionen auf das Projekt einer deutsch-französischen Brigade, den
deutsch-französischen Rat für Verteidigung sowie das jüngste Militärmanöver
„Kecker Spatz“ diagnostizierten französische Diplomaten sowjetisches Misstrau-
en gegenüber jedweder europäischen militärischen Kooperation.²⁷⁰
Die bisherigen Analysen lassen zwei Beobachtungen zu: Zum einen lösten die
Abrüstungsinitiativen von Michail Gorbatschow und die Frage nach seinen In-
tentionen aber insbesondere die Beinahe-Ergebnisse von Reykjavik bei den
Vgl. Saunier, Georges: France, the east european revolutions and the reunification of Ger-
322 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
pitels ist es, französische und europäische Maßnahmen zu analysieren, durch die
den Staaten des Ostens Solidarität entgegengebracht wurde, und zu erörtern,
welche Intentionen damit verbunden waren. Auf diese Weise soll herausgear-
beitet werden, welche politischen Vorstellungen bei der équipe Mitterrand hinter
Impulsen zu einer paneuropäischen Solidarität standen und in welchem Ver-
hältnis diese zu den Konzeptionen anderer insbesondere amerikanischer Akteure
standen. Mit dem Wandel in Osteuropa eröffnete sich eine Chance zur Überwin-
dung der europäischen Teilung. Neue Impulse in der französischen Ostpolitik
stellten in dem Kontext aber nur eine Seite der ergriffenen Maßnahmen dar. Der
Präsident und seine Berater hielten es außerdem für erforderlich, die europäische
Integration gegen erwartete wirtschaftliche und politische Herausforderungen zu
stärken. Insofern beruhte die Überwindung der europäischen Teilung nach wie
vor auf einer Doppelstrategie. Die französischen Akteure waren sich aber be-
wusst, dass der Ausbau der EG keinesfalls als Abschottung der Westeuropäer
verstanden werden durfte, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, die sich gerade
auflösende Teilung von Neuem zu vertiefen. Impulse zur Beschleunigung des
europäischen Integrationsprozesses werden im Kontext der deutschen Vereini-
gung im folgenden Kapitel detaillierter untersucht und sollen hier hinter der
Analyse paneuropäischer Solidarität zurückstehen. Zuvor gilt es jedoch, die po-
litischen Voraussetzungen dafür zu erklären, da Gorbatschows innen- und au-
ßenpolitische Reformen 1988 und 1989 neue Bedingungen für Beziehungen
zwischen beiden Teilen Europas schufen.
Die Perspektiverweiterung der Mitterrand’schen Außenpolitik ging damit
einher, dass auch Michail Gorbatschow den Europäern größere Aufmerksamkeit
schenkte. Durch einen Lernprozess rückte die Notwendigkeit zur Vertrauensbil-
dung gegenüber den westeuropäischen Ländern stärker in das Bewusstsein des
Generalsekretärs. Die Reaktionen von Vertretern der westeuropäischen Regie-
rungen auf den amerikanisch-sowjetischen Gipfel 1986 lösten auch bei dem Ge-
neralsekretär einen Reykjavik-Effekt aus. Er ergriff daraufhin politische Maß-
nahmen, um deren Ängste zu beschwichtigen. Die Umstellung der Militärdoktrin
des Warschauer Paktes von einer Offensivstrategie unter dem Einsatz von Kern-
waffen auf eine dreiwöchige Phase defensiver Kriegsführung Ende Mai 1987
richtete sich darauf, europäische Bedrohungsperzeptionen abzubauen.²⁷² Wie
many. In: The Revolutions of 1989. A Handbook. Hrsg. von Mueller, Wolfgang/Gehler, Michael/
Suppan, Arnold. Wien 2015. S. 388.
Loth, Sowjetische Fü hrung, S. 138; Jones, Christopher: Gorbačevs Militärdoktrin und das
Ende des Warschauer Paktes. In: Der Warschauer Pakt. Von der Grü ndung bis zum Zusammen-
bruch 1955 – 1991. Hrsg. von Diedrich, Torsten/Heinemann, Winfried/Ostermann, Christian F..
Berlin 2009. S. 246, 254; Loth, Willy Brandt, S. 424.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 323
Das „Neue Denken“ kommt bei den Militärs nicht an. Interne Analysen von Michail S.
Gorbačevs Beratern, 25. Mai 1988. In: Karner [u. a.] (Hrsg.), Kreml, Dok. 18, S. 177– 179.
Loth, Willy Brandt, S. 423f.
Chernyaev, Diary 1988, 21. Dezember 1988, S. 64.
Grachev, Gorbachev’s Gamble, S. 115f.
Keine Wiederholung der Ereignisse in Ungarn 1956 bzw. in der Tschechoslowakei 1968.
Gorbačev: „Wie es war, darf es nicht weitergehen.“ Auszug aus Gesprächsnotizen einer Politbü-
rositzung, 3. Juli 1986. In: Karner [u. a.] (Hrsg.), Kreml, Dok. 7, S. 122.
Vgl. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 839; Brown, Archie: Aufstieg und Fall des Kommunis-
mus. Berlin 2009. S. 698.
Über den Verlauf der Realisierung der Beschlüsse des XXVII. Parteitags der KPdSU und die
Aufgaben bei der Vertiefung der Umgestaltung, Referat auf der XIX. Parteikonferenz der KPdSU,
28. Juni 1988. In: Gorbatschow (Hrsg.), Reden und Aufsätze, S. 674.
324 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
seit Beginn 1988 die Streikbewegung an Fahrt gewann,²⁸⁰ signalisierte der Kreml
westlichen Gesprächspartnern, dass eine Rückkehr zur Breschnew-Doktrin keine
Alternative mehr darstellen würde. Gorbatschows Berater Nikolaj Portugalow ließ
bei einem Diplomaten der französischen Botschaft fallen, dass die sowjetischen
Autoritäten Wojciech Jaruzelski eine „Carte Blanche“ ließen und sich keinesfalls
in die internen Angelegenheiten Polens einmischen würden.²⁸¹ Gorbatschow und
seine Berater unterstrichen in persönlichen Gesprächen ihre Vertrauenswürdig-
keit, damit das Misstrauen als Folge jahrzehntelanger Erfahrungen mit sowjeti-
scher Politik den neuen Prozess der Vertrauensbildung nicht störte. Der Gene-
ralsekretär benötigte dringend ausländische Unterstützung für seine
Innenpolitik, die er mit einer Rückkehr zur Breschnew-Dokrtin verspielt hätte:
Portugalow verknüpfte das sowjetische Ersuchen um ein „équivalent d’un Plan
Marshall de l’Europe de l’Ouest vers l’URSS“²⁸² mit einer empathischen Kom-
munikationsstrategie: In dem Bewusstsein, dass es nach wie vor Sorgen bei den
Europäern abzubauen gelte, stelle Sicherheit eine wichtige Dimension von Gor-
batschows Bemühungen für ein Gemeinsames Europäisches Haus dar. Die So-
wjetunion sei bereit, ihre konventionellen Potentiale stark zu reduzieren.²⁸³ Aus
Sicht der Westeuropäer war durch den INF-Vertrag die Dringlichkeit gestiegen, das
konventionelle Übergewicht der Sowjetunion in Europa abzubauen. Am Rande
des G7-Gipfels in Toronto am 19. und 20. Juni 1986 drängte Mitterrand gegenüber
Reagan auf einen Ausgleich der konventionellen Rüstung in Europa, da ansonsten
überlegt werden müsse, die Raketen kürzester Reichweite zu modernisieren.²⁸⁴
Konkrete Pläne legte Gorbatschow bereits bei dem amerikanisch-sowjetischen
Gipfeltreffen in Moskau vom 28. Mai bis 2. Juni 1988 vor.²⁸⁵ Bevor Gorbatschow im
Dezember 1988 in seiner Rede vor den Vereinten Nationen einen unilateralen
Schritt in der konventionellen Abrüstung unternahm, wurde rhetorisch auf inof-
fiziellem Weg bei französischen Gesprächspartnern für Vertrauen und Unter-
stützung geworben.
Bei den Vorbereitungen für Gorbatschows Rede vor der Vollversammlung der
Vereinten Nationen am 7. Dezember 1988 wurde vorgesehen, die Zahl der sowje-
tischen Streitkräfte offenzulegen und diese bedingungslos zu reduzieren.²⁸⁶ Der
Generalsekretär kündigte eine Reduzierung der Bodentruppen des Warschauer
Paktes um 500 000 Mann, den Abbau konventioneller Waffen sowie den Abzug
und die Auflösung von sechs Panzerdivisionen aus der DDR, der Tschechoslo-
wakei und Ungarn bis 1991 an.²⁸⁷ Mit dieser Initiative ließ Gorbatschow der rhe-
torischen Vertrauensbildung gegenüber den Westeuropäern Taten folgen, da al-
lein die Präsenz sowjetischer Truppen in der DDR die Umstellung der
Militärdoktrin des Warschauer Paktes infrage stellte. Eine Aufrechterhaltung der
sowjetischen Dominanz in Osteuropa lag im Widerspruch zu Gorbatschows ver-
trauensbildenden Maßnahmen. Insofern hätte sie nicht nur die Vertrauenswür-
digkeit von Michail Gorbatschow persönlich unterminiert, sondern darüber hin-
aus auch die Glaubwürdigkeit seiner außenpolitischen Initiativen und des
gesamten Reformvorhabens der Perestroika. Daher sollte Gorbatschows unilate-
raler Schritt in der konventionellen Abrüstung seine Aufrichtigkeit unter Beweis
stellen und Vertrauen bei den westeuropäischen Staaten schaffen. Gewalt bezie-
hungsweise die Androhung von Gewalt stellte in seiner Vorstellung künftig kein
Mittel der Außenpolitik mehr dar. Grundsätzlich bedeutete dies eine ansatzweise
Transformation der Ost-West-Beziehungen, indem deren strukturelle Grundlage
Angst durch Vertrauen, Abschreckung langfristig durch Kooperation ersetzt
werden sollte. In Wien begannen daraufhin am 9. März 1989 die Verhandlungen
über die konventionelle Rüstung in Europa, sodass Helmut Kohl Michail Gor-
batschow bei dessen Staatsbesuch in der Bundesrepublik vom 12. bis 15. Juni 1989
versichern konnte, dass mit einem Abkommen in Wien auch die Modernisierung
der Kurzstreckenraketen hinfällig sein würde.²⁸⁸
Im französischen Außenministerium wurde Gorbatschows Hinwendung zu
Europa vorsichtig bis skeptisch beobachtet, weil ihm Hintergedanken unterstellt
wurden. Nach wie vor gingen Diplomaten davon aus, dass die Moskauer Führung
einen Keil zwischen die westlichen Verbündeten treiben und den Aufbau einer
europäischen Verteidigung unterbinden wolle. Kooperationen in Wirtschaft,
Wissenschaft und Technologie wurden lediglich als Versuch einer Imageaufbes-
Gorbačevs Gedanken zu seiner bevorstehenden Rede vor den Vereinten Nationen. Auf-
zeichnungen einer Sitzung Michail S. Gorbačevs mit seinen Beratern, 21. Oktober 1988. In: Karner
[u. a.] (Hrsg.), Kreml, S. 226.
Altrichter, Russland, S. 58.
Loth, Europas Einigung, S. 291.
326 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
ADMAE 1935-INVA 6770, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale, Note,
L’attitude de l’URSS à l’égard de la RFA, 7. Oktober 1987.
ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Affaires Stratégiques et du Désarmement, Rapports Est-
Ouest: Les enjeux pour notre sécurité, Juni 1988; ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction d’Eu-
rope, Sous-Direction d’Europe Orientale, Bernard Fassier, Fiche, Le concept soviétique de l’Eu-
rope „notre maison commune“, 19. Mai 1988.
AN, AG/5(4)/CD/414, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Jean Musitelli,
Note pour le Président de la République, Votre entretien avec M. Chevardnadze (lundi 10 octobre,
15 h), 10. Oktober 1988.
AN, AG/5(4)/CD/414, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, Votre entretien avec M. Chevarnadze [sic] – Questions de
défense et du désarmement, 10. Oktober 1988.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 327
ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Orientale,
Bernard Fassier, Fiche, Le concept soviétique de l’Europe „notre maison commune“, 19. Mai 1988.
Saunier, France, S. 387.
Vgl. dazu Kapitel 1.
328 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
rung anzustreben und eine Assoziierung der Länder an die Gemeinschaft der
Zwölf zu prüfen.²⁹⁶ Als adäquates Instrument für eine Überwindung des Jalta-
Systems und Stärkung paneuropäischer Solidarität wurde im Quai d’Orsay explizit
eine „politique de confiance“²⁹⁷ – Vertrauenspolitik – gefördert: Die Grenzen des
Zweiten Weltkrieges durften nicht infrage gestellt werden; als Quelle neuen
Misstrauens auf dem europäischen Kontinent hätte dies eine Vertrauenspolitik
sogleich ausgehebelt. Das Prinzip der Selbstbestimmung galt es dagegen zu be-
kräftigen. Auf dieser Grundlage sollte die Solidarität zwischen den beiden Teilen
Europas auf zwei Weisen entwickelt werden: Vertrauensbildung durch den Hel-
sinki-Prozess und die konventionelle Abrüstung einerseits und Ausbau von Ko-
operationsstrukturen in den Bereichen Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und
Technologie andererseits.²⁹⁸ Die Weise, in der die Diplomaten im Quai d’Orsay
künftige Beziehungen zu Osteuropa konzeptualisierten, stand damit in der Tra-
dition der französischen Détente-Konzeption.²⁹⁹
Ab Ende 1987 und Anfang 1988 begann auch die deutsche Bundesregierung,
ihre Beziehungen mit der Sowjetunion und den Ländern Osteuropas zu intensi-
vieren. Zugleich waren die deutschen Diplomaten darum bemüht, durch diese
Öffnung nach Osten keine alten Ängste vor einer deutschen Unsicherheit oder ein
Abdriften in den Neutralismus zu reaktivieren. Bei dem Besuch von Premiermi-
nister Michel Rocard sollte ein Teil des Gesprächs den deutsch-sowjetischen Be-
ziehungen gewidmet werden, um Zweifel in die bundesdeutsche „fiabilité“ und
„prévisibilité“ zu zerstreuen.³⁰⁰ Ähnliche vertrauensbildende Maßnahmen un-
ternahm der Kanzler zuvor bereits gegenüber Margaret Thatcher.³⁰¹ Tatsächlich
bekräftigte Kohl in dem Gespräch, dass er zwar im Oktober eine Reise nach
Moskau unternehmen werde, Fragen der Ost-West-Beziehungen aber auf Grund-
lage des europäischen Konsenses und insbesondere der „communauté de vue
franco-allemande“ behandeln werde.³⁰² Mit der Rückkehr der Sozialisten an die
ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Centrale, Note
de présentation, Visite du Premier Ministre à Bonn, 18. juillet 1988, 6. Juli 1988.
ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Centrale, Note,
La RFA, la France et la politique à l’Est, 18. Mai 1988; ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction
d’Europe, Sous-Direction d’Europe Centrale, Note de présentation, Visite du Premier Ministre à
Bonn, 18. juillet 1988, 6. Juli 1988.
Vgl. z. B. ADMAE 1935-INVA 6770, MAE, Sous-Direction d’Europe Centrale, copie du message
de M. Genscher à M. J.B. Raimond résumant les impressions de sa visite à Moscou, 12. August 1986;
ADMAE 1935-INVA 6770, German Delegation, Political Consultations in Moscow on 31 October
1986, Brüssel, 4. November 1986.
ADMAE 1935-INVA 6798, MAE, Direction d’Europe, Le Sous-Directeur d’Europe Orientale,
Fiche, Groupe franco-allemand sur la politique à l’Est, 18. Mai 1988.
Grachev, Common European home, S. 214.
330 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
delten über Abkommen mit der Europäischen Gemeinschaft: All dies stilisierte er
als Stunde eines europäischen Erwachens.³⁰⁸ Dafür entwarfen die Berater des
Präsidenten im Sommer 1988 konkrete Vorschläge. Jean Musitelli legte einen
besonderen Fokus auf die kulturpolitische Dimension von Außenpolitik sowie auf
Aktionen, die sich an die Zivilbevölkerung in den osteuropäischen Staaten richten
sollten. Sein wichtigstes Ziel war es, das politische Misstrauen der Bevölkerung zu
unterlaufen. Aus mehreren Ideen aus dem Außenministerium griff er die Grün-
dung einer Fondation pour l’Autre Europe gesondert heraus. Eine Stiftung hielt er
für ein geeignetes Instrument, um öffentliche und private Bemühungen zu ver-
stärken und dadurch kulturelle wie soziale Verbindungen zwischen beiden Teilen
Europas zu knüpfen. Auf diese Weise wollte er beispielsweise den Dialog zwi-
schen Universitäten, Forschungseinrichtungen und Gewerkschaften fördern.
Mitterrand stimmte der handschriftlichen Empfehlung von Jean-Louis Bianco auf
Musitellis Note zu, „que ce peut être un des axes majeurs de votre septennat.“³⁰⁹
Die Idee einer solchen Stiftung sollte Mitterrand im Oktober 1989 vor dem Euro-
paparlament noch einmal aufgreifen, als er die Schaffung einer europäischen
Stiftung anregte, die die Koordinierung von Austauschprogrammen zwischen Ost
und West übernehmen sollte.³¹⁰ Obwohl der französischen Détente-Konzeption
eine paneuropäische Dimension inhärent war, hatten Beziehungen zu den Län-
dern Osteuropas in der ersten Hälfte der 1980er Jahre gegenüber den französisch-
sowjetischen Beziehungen im Hintergrund gestanden.³¹¹ Kontakte zwischen Ost-
und Westeuropa waren vor allem dem Rahmen der KSZE vorbehalten. Ab 1988
allerdings dachten Mitterrands Berater über Möglichkeiten nach, die Beziehungen
zu intensivieren und die Reformbewegungen zu unterstützen, um eine friedliche
Annäherung zu ermöglichen. Zu diesen Unterstützungsmaßnahmen zählten un-
„Le rêve d’États Unis d’Europe […] commence d’éveiller la conscience des peuples. […] Eh
bien, j’y pense et je le veux.“, Mitterrand, Lettre, S. 19.
AN, AG/5(4)/CDM/35, Présidence de la République, Le Conseiller technique, Jean Musitelli,
Note pour le Président de la République, Projet de création d’une „Fondation pour l’Autre Eu-
rope“, 25. August 1988.
Mitterrand, François: Discours de François Mitterrand devant le Parlement européen (25
octobre 1989). In: Journal officiel des Communautés européennes (JOCE). Débats du Parlement
européen. 25.10.1989, n° 3 – 382. S. 161– 163. http://www.cvce.eu/obj/discours_de_francois_mitt-
errand_sur_les_bouleversements_en_europe_de_l_est_strasbourg_25_octobre_1989-fr-e8763523-
d492– 4c2c-b0f4-d3c2449204ab.html (11.05. 2016).
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 28. September 1988, S. 621.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 331
Vgl. Dumas, Roland: Politiquement incorrect. Secrets d’Etat et autres confidences. Carnets
1984– 2014. Paris 2015. S. 174– 177; Attali, Verbatim 1986 – 1991, 16. Mai 1988, S. 544; Saunier,
France, S. 388.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 28. September 1988, S. 621.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 29. September 1988, S. 623.
AN, AG/5(4)/CDM/35, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, Sommet des Sept; Questions Est-Ouest et stratégiques, 13. Juli
1989.
332 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
Saunier, Georges: Défaire le mur sans défaire l’Europe. La diplomatie française au pied du
mur. In: L’est et l’ouest face à la chute du mur. Question de perspective. Hrsg. von Weinachter,
Michèle. Chergy-Pontoise 2013. S. 75f.
Vgl. dafür Kapitel 5.
AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Conception française du rapprochement des deux Europe et de
la solution à la „question allemande“, 30. November 1989.
AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Le Directeur, Jacques Blot, Le réveil de
l’histoire, 16. November 1989.
336 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
AN, AG/5(4)/CDM/48, Note, Le Conseil de l’Europe et les pays d’Europe Centrale et Orientale,
28. November 1989.
AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Conception française du rapprochement des deux Europe et de
la solution à la „question allemande“, 30. November 1989.
ADMAE 1935-INVA 6791, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’Europe Centrale, Note,
Politique étrangère de la RFA, 10. April 1989.
AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Conception française du rapprochement des deux Europe et de
la solution à la „question allemande“, 30. November 1989.
AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Conclusion de l’accord CEE–URSS, ohne Datum, entstand im
Kontext der Vorbereitungen von Mitterrands Reise nach Kiew, Ende November/Anfang Dezember
1989.
338 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
AN, AG/5(4)/CDM/47, Ministre de l’Economie des Finances et du Budget, Ministre du Com-
merce extérieure, Direction des Relations économiques extérieures, Le Directeur des Relations
economiques extérieures, Jacques Desponts, Note pour le Ministre d’Etat, Les modalités de mise
en œuvre d’une aide exceptionnelle à l’URSS, 5. Juli 1990.
Dumas, Roland: Rede vor der Assemblée Nationale. In: Comptes Rendus des débats au cours
de la IXe législature (1988 – 1993), session ordinaire 1989 – 1990, séance du mardi 10 avril 1990.
S. 197– 202. http://archives.assemblee-nationale.fr/9/cri/1989 – 1990-ordinaire2/008.pdf (14.11.
2016).
Mitterrand, Discours Parlement européen, Strasbourg, 25. Oktober 1989.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 339
Dumas, Rede vor der Assemblée Nationale, 10. April 1990.
Loth, Europas Einigung, S. 231.
AN, AG/5(4)/CDM/48, Note, Rencontre de Kiev – Questions politico-militaires/désarmement,
ohne Datum, entstand im Kontext der Vorbereitungen von Mitterrands Reise nach Kiew, Ende
November/Anfang Dezember 1989.
AN, AG/5(4)/CDM/48, MRE, Sous-Direction du Désarmement, Fiche, Négociation sur les
forces armées classiques en Europe et sur les mesures de confiance et de sécurité. Entretien du
Président de la République avec M. Gorbatchev (Kiev, le 6 décembre 1989), 28. November 1989.
340 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
AN, AG/5(4)/CDM/48, Note, Perspectives du dialogue politique des Douze avec l’Union So-
viétique, ohne Datum; wahrscheinlich November/Dezember 1989 im Vorfeld der Reise nach Kiew;
AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Dialogue politique des Douze avec les pays d’Europe de l’Est,
28. November 1989.
AN, AG/5(4)/CDM/48, Note, Perspectives du dialogue politique des Douze avec l’Union So-
viétique, ohne Datum; wahrscheinlich November/Dezember 1989 im Vorfeld der Reise nach Kiew.
4.3 Der Aufbau paneuropäischer Solidarität 341
Aus Sicht von Mitterrands Beratern war eine solche mögliche Zukunft allerdings
zahlreichen Gefahren ausgesetzt: Im Frühjahr 1989 fürchteten sie auch, dass sich
die USA und die Sowjetunion über den Kopf der Europäer hinweg über eine
künftige Staatenordnung verständigen könnten. Das „Trauma von Jalta“, bei dem
sich die Europäer aber insbesondere französische Akteure als passiv Erleidende
der europäischen Teilung empfanden, schien Ursprung dieser Zukunftserwartung
zu sein. Aus dieser von vergangenen Erfahrungen geprägten Wahrnehmung
heraus missfiel es Védrine wohl auch, dass Kissinger, Baker und Kohl sich dafür
aussprachen, die Zukunft Osteuropas zwischen Washington und Moskau zu dis-
kutieren. Er bezichtigte Kissinger einer metternich’schen Weltanschauung: Laut
Kissinger sollte sich die NATO im Kreml dafür einsetzen, seinen Einfluss in Ost-
europa zu stärken. Der Westen sollte sich im Gegenzug dazu verpflichten, keinen
Profit aus der gegenwärtigen Situation zu ziehen. Védrine bezog sich in seiner
Bewertung auf die sogenannte Sonnenfeld-Doktrin, die von Helmut Sonnenfeld
formuliert worden war und auf der Anerkennung legitimer Einflusssphären der
beiden Supermächte beruhte. Védrine blieb äußerst skeptisch, obwohl Baker
betont habe, dass er keinen Kuhhandel über Einflusssphären anstrebe. Er plä-
dierte dafür, die Ausgestaltung der künftigen Rolle osteuropäischer Staaten auf
Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime und europäischen Annäherungs-
prozesse sah man auch die Lösung der deutschen Frage an Aktualität gewinnen; AN, AG/5(4)/
CDM/35, Exposé d’Hubert Védrine devant la Fondation Saint-Simon, 26. April 1989.
AN, AG/5(4)/CDM/35, Exposé d’Hubert Védrine devant la Fondation Saint-Simon, 26. April
1989.
342 4 Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen?
Zwischenbilanz
Hatte Mitterrand in der Diskussion um die Nachrüstung noch versucht, die Entwicklungen in
Frankreichs Sinne zu beeinflussen, mangelte es ihm in dieser Zeit der Abrüstung und Ent-
spannung an jedem Willen zu gestalten. Das Festhalten an der bestehenden Ordnung
überwog gegenüber dem Willen, diese zu verändern. Ein ähnliches Verhalten sollte Mitter-
rand während der Zeitenwende zeigen.³⁶⁷
Diese Zeilen transportieren sowohl ein geläufiges Urteil über den historischen
Akteur François Mitterrand als auch eine wiederkehrende Forschungsthese zur
französischen Außen- und Sicherheitspolitik in der zweiten Hälfte der 1980er
Jahre. Sie kontrastieren eklatant mit den Befunden, die sich durch die Analyse der
zeitgenössischen Regierungsakten ergeben haben. Nachdem Kapitel drei Mitter-
rands Rolle als Mitinitiator des neuen amerikanisch-sowjetischen Dialogs her-
ausgestellt hat, zeigen die Untersuchungen in diesem Kapitel, wie er in den Ge-
sprächen zwischen Reagan und Gorbatschow ab 1985 zum Mittler wurde. Mit
Empathie für die Wahrnehmungen und Erwartungen der Gesprächspartner in
Washington und Moskau gelang es der équipe Mitterrand, eine Strategie zu ent-
rungen mit der sowjetischen Führung geprägt. Daher stellt sich die Frage, welches
zusätzlichen Faktors es bedarf, der den Unterschied ausmacht. Gerade das Be-
wusstsein der eigenen Perspektivität und das Vermögen aus dieser Perspektivität
herauszutreten – also die Fähigkeit zu Empathie – scheinen den Blick für
Wahrnehmungen, Perzeptionen, Emotionen und Erwartungen von Gesprächs-
partnern zu öffnen. Als diplomatische Strategie erleichterte diese Fähigkeit
Mitterrand und seiner équipe 1985, sich von eigenen Bedrohungsperzeptionen der
Vergangenheit zu lösen.
Für die Erforschung europäischer Integrationsprozesse und die Historiogra-
phie zum Ende des Kalten Krieges lassen sich aus den Analysen mehrere Schlüsse
ziehen. Die europäischen Erfahrungen von Reykjavik führten in dreifacher Weise
zu einer Art Reykjavik-Effekt. Erstens stärkte die Erfahrung der Überraschung
sowie eine scheinbare Bestätigung der ohnehin schon lange schwelenden Angst
um einen amerikanischen Rückzug aus Europa das Bedürfnis der Europäer nach
alternativen Sicherheitsstrukturen. Die Jahre 1987 und 1988 waren von einer Dy-
namisierung der deutsch-französischen Kooperation im Bereich Sicherheit und
Verteidigung gekennzeichnet, die aus französischer Sicht langfristig auf eine
europäische Emanzipation von den USA zielte. In dem gesteigerten Bedürfnis
seiner Partner nach alternativen Sicherheitsgarantien erkannte Mitterrand eine
Chance: Er ging ohnehin seit seinen ersten Erfahrungen mit der amerikanischen
Administration zwischen 1981 und 1983 davon aus, dass die Partnerschaft mit den
USA weniger auf Solidarität zwischen Gleichberechtigten als vielmehr auf Loya-
lität zu einem Patron beruhte.³⁷⁰ Nach Reykjavik fand er insbesondere in Helmut
Kohl einen Partner in dem Bestreben, eine stärkere deutsch-französische Ko-
operation zu einer Vorstufe einer europäischen sicherheitspolitischen Integration
zu machen. Für Mitterrand zielte dies darauf, durch eine erhoffte Stärkung eu-
ropäischer Eigenständigkeit die Struktur der transatlantischen Beziehungen
langfristig von Loyalität auf Solidarität umzustellen. Die deutsch-französische
Zusammenarbeit in Sicherheits- und Verteidigungsfragen war bereits aktiviert
worden, bevor sie durch den Reykjavik-Faktor zusätzlichen Schub erhielt. Als
Folge des amerikanischen Angebots an die Europäer, gemeinsam an den For-
schungen zu SDI zu arbeiten, versuchte die équipe Mitterrand, die Bundesrepublik
mit verteidigungspolitischer Solidarität zu überzeugen, einer europäischen For-
schungskooperation den Vorzug zu geben und sich auf eine Zusammenarbeit mit
Frankreich im Bereich Weltraum einzulassen. Die Verteidigungs-Zusammenarbeit
blieb im konventionellen Bereich verhaftet, insofern hatte Mitterrand es selbst zu
verantworten, dass die europäische Emanzipation nicht so weit vorankam, wie es
errands Haltung entsprachen, trugen sie offensichtlich dazu bei, dass sich Gor-
batschow ab 1988 stärker den westeuropäischen Ländern zuwandte und die
Abrüstung mit mehr Nachdruck auf den Bereich der konventionellen Rüstung
ausdehnte. Nicht nur hatte er schon vor Reykjavik die klassische Forderung nach
einer Berücksichtigung der Drittpotentiale fallen lassen, sondern er erkannte im
Mai 1987 auch die Notwenigkeit einer Verbindung zwischen der europäischen und
amerikanischen Verteidigung an. Dies demonstrierte seine radikale Abkehr von
der traditionellen sowjetischen Strategie, die Atlantische Allianz zu spalten.³⁷¹
Insofern blieb Gorbatschow seinem Verhandlungsmuster treu, ablehnende Re-
aktionen auf seine Initiative mit einer Aufstockung seines Angebots zu beant-
worten. Auf diese Weise sollten den Reaktionen zugrunde liegende Bedro-
hungsperzeptionen durch Demonstrationen seiner Vertrauenswürdigkeit der
Boden entzogen werden.
Diese Erkenntnisse leiten über zu einigen weiteren theoretischen Erkennt-
nissen in der Auseinandersetzung mit Angst und Vertrauensbildung. Sowohl
Gorbatschows Abrüstungsoffensiven als auch der sich stetig weiterentwickelnde
Prozess deutsch-französischer Kooperation deuten auf ein Charakteristikum in
Prozessen der Vertrauensbildung hin. Die Vertrauenswürdigkeit des Gegenübers
bedurfte einer ständigen Vergewisserung. Zögern barg die Gefahr, dass Zweifel an
der Vertrauenswürdigkeit aufkamen. Um seine Vertrauenswürdigkeit zu demon-
strieren stockte Gorbatschow stetig seine Angebote auf und ging einseitig in
Vorleistung. Im Kontext der deutsch-französischen Zusammenarbeit bedingte das
Zögern des einen die Zurückhaltung des anderen. Um trotzdem eine Spirale des
Misstrauens zu umgehen, suchten Bundesregierung und équipe Mitterrand einen
gemeinsamen Nenner als Ventil. Dies führte zu engerer außenpolitischer Ab-
stimmung und einer fortschreitenden verteidigungspolitischen Zusammenarbeit
jenseits des Nuklearen. Das folgende Kapitel wird auf diese theoretischen Über-
legungen näher eingehen. 1989 kamen bei François Mitterrand beispielsweise
Zweifel an Kohls europäischem Engagement auf, die für kurzzeitiges Nichtver-
stehen zwischen Bundeskanzler und Präsident sorgten. Wenn also hier von einer
gewissen Pfadabhängigkeit ausgegangen wird, bedeutet das keineswegs, dass
diese Entwicklungen als linear verstanden werden. Vielmehr stießen diese Pro-
zesse regelmäßig an ihre Grenzen oder wiesen Ambivalenzen auf. Beispielsweise
muss in diesem Kontext darauf hingewiesen werden, dass Mitterrand durch die
rhetorische Abkehr von der deutsch-französischen Achse Vertrauen bei den
kleineren europäischen Mitgliedstaaten wecken wollte. Aus pragmatischen Er-
wägungen heraus, nämlich um ein Vorankommen zu erleichtern, ließ er sich
dennoch auf die deutsch-französische Vorreiterrolle ein. Ein Beispiel dafür war
der deutsch-französische Vertragsentwurf einer Europäischen Union für das
Mailänder Ratstreffen. Dies sorgte wiederum bei den kleineren europäischen
Partnern für Misstrauen vor dem deutsch-französischen Kondominium in Europa.
Die Ambivalenz in Mitterrands Handeln und Rhetorik ergab sich aus dem Wunsch
nach gleichberechtigten Beziehungen einerseits und pragmatischen Erwägungen,
dem europäischen Integrationsprozess durch ein deutsch-französisches Tandem
zu neuer Dynamik zu verhelfen, andererseits.
Ambivalenzen wies zudem die deutsch-französische und europäische Ko-
operation in Sicherheits- und Verteidigungsfragen auf. In Washington und Mos-
kau sorgte sie aus unterschiedlichen Gründen für Misstrauen. Es stellt sich die
Frage, warum sich aus dem sowjetischen Misstrauen gegenüber einer „europäi-
schen Militarisierung“ kein neues Sicherheitsdilemma entwickelte. Es steht zu
vermuten, dass das Misstrauen in den diplomatischen Diensten des MID zu die-
sem Zeitpunkt eine geringere politische Wirkmächtigkeit besaß. Gorbatschow
schien durch die persönlichen Beziehungen zwischen ihm und Mitterrand ein
höheres Maß an Vertrauen entwickelt zu haben. Der Faktor von Persönlichkeit
wird hier ebenso deutlich wie der Zusammenhang von Erwartungssicherheit und
Vertrauen. Wird diese Berechenbarkeit irritiert, wie es während der Cohabitation
der Fall war, eröffnete dies einen Raum für potentielles Misstrauen. Die Irrita-
tionen bei Mitterrands Bündnis- und Gesprächspartnern sind dafür verantwort-
lich, dass in der zeitgenössischen Wahrnehmung ein widersprüchliches Bild
französischen Handelns in der Phase der Abrüstung entstand, das die Forschung
bis heute nachhaltig prägt.³⁷²
Ein Strukturwandel internationaler Beziehungen lässt sich auf zwei ver-
schiedenen Ebenen diagnostizieren. Einerseits begann sich die Ressource der Ost-
West-Beziehungen von Angst zu Vertrauen in dem Maße zu transformieren, wie
die Androhung von Gewalt reduziert und bestehende Bedrohungsperzeptionen
aufgebrochen wurden. Mit der Phase der Abrüstung hatte dieser Wandel gerade
erst begonnen. Für eine nachhaltige Festigung bedurfte es der Weiterentwicklung
und Verstetigung durch Kooperationsstrukturen zwischen Ost und West, die
beispielsweise durch Maßnahmen paneuropäischer Solidarität zu initiieren ver-
sucht wurden. Andererseits hatte daneben ein Strukturwandel der transatlanti-
schen Beziehungen begonnen, der aus Mitterrands Perspektive auf die Beseiti-
gung bestehender Asymmetrien abzielte. Aufgrund verschiedener Konzepte von
Bündnissolidarität dies- und jenseits des Atlantiks sowie unterschiedlicher Kon-
zeptualisierungen der europäischen Rolle insbesondere zwischen Paris und
Viel ist geschrieben worden über François Mitterrands Verhältnis zur deutschen
Wiedervereinigung. Divergierende Narrative haben in der Vergangenheit dazu
beigetragen, die widersprüchliche Wahrnehmung der historischen Figur François
Mitterrand zu verstetigen, die für Zeitgenossen wie für Historiker nach wie vor
schwer greifbar erscheint. Zeitgenossen sprachen dem französischen Präsidenten
jedwede gestalterische Kraft im Prozess der deutschen Wiedervereinigung ab.¹
Demgegenüber gibt es historiographische Analysen, die Mitterrands aktive Rolle
zwar einräumen, aber keinerlei konstruktives Handeln erkennen,² weil sie davon
ausgehen, der französische Präsident habe die deutsche Wiedervereinigung ab-
gelehnt und nach Möglichkeiten gesucht, diese zu bremsen – gar zu verhindern.³
Wiederum viele Autoren traten an, um diese These zu widerlegen, indem sie ar-
gumentierten, Mitterrand habe vielmehr danach gestrebt, den Prozess zu multi-
lateralisieren und im Rahmen der europäischen Konstruktion abzusichern.⁴ Trotz
der Erkenntnis, dass „[n]othing in diplomatic sources or in French public state-
ments shows any attempt to stop German unification“⁵, zeigt die jüngste Publi-
kation von Angelika Praus,⁶ dass diese Diskussionen nach wie vor nicht abge-
klungen sind. Dies mag auch daran liegen, dass überzeugende Antworten auf
einige Fragen nach wie vor fehlen. Die These von Frédéric Bozo, Mitterrand habe
ein klares Konzept zur Überwindung der europäischen Teilung gehabt, dessen
Umsetzung nach dem Fall der Berliner Mauer herausgefordert worden sei, kann
durch die bisherigen Analysen dieser Arbeit bekräftigt werden. Auch seine aktive
und konstruktive Rolle im Prozess kann angesichts der Regierungsakten kaum
überzeugend bestritten werden. Aber trotz der weitreichenden Akteneinsicht, ist
doch bis dato weitestgehend unklar, welche Strategien und Methoden die équipe
Mitterrand entwickelte, um die von Bozo diagnostizierte anfängliche Überra-
https://doi.org/10.1515/9783110597417-007
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 353
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. xxi, 112.
Vgl. Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 168 – 170; Lappen-
küper, Mitterrand und Deutschland, S. 265.
AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Sous-Direction d’URSS, Henri Reynaud, La
politique allemande de l’URSS, 19. Oktober 1989.
354 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
Denkmuster des Kalten Krieges und der Perzeption einer „alliance incertaine“¹⁰.
Reynaud empfahl eine enge französisch-sowjetische Abstimmung, da beide Sei-
ten in der deutschen Frage seiner Ansicht nach ähnliche Interessen teilten. Dass
es innerhalb der Administration also Gedankenspiele einer französisch-sowjeti-
schen Komplizenschaft gab, lässt sich nicht ausschließen.¹¹ Allerdings standen
dieser Meinung im Quai d’Orsay auch andere Einschätzungen gegenüber, wie die
Analysen des Direktors der Europa-Abteilung, Jacques Blot, belegen: Die offizielle
außenpolitische Linie sollte in seiner Vorstellung den besonderen Beziehungen
zwischen Deutschland und Frankreich Rechnung tragen, in denen er einen ge-
wissen Argwohn beobachtete. Da diese besondere Verbindung für ihn schüt-
zenswert war, empfahl er, die deutsche Zukunft als Teil der französischen Zukunft
zu begreifen. Insgesamt nahm Blot keine rein realistische, sondern vielmehr eine
empathische Haltung ein, die potentielles Misstrauen oder Angst als Faktoren für
Spannungen bei der Ausrichtung der Außenpolitik berücksichtigte. Beispiels-
weise legte er dar, dass die Lösung der deutschen Frage auf die Ängste derjenigen
antworten müsse, die sich von einem vereinten Deutschland bedroht fühlten.
Gleichzeitig müsse aber auch gefragt werden, was für die Bundesrepublik ak-
zeptabel sei, da es für Blot nicht infrage kam, durch die Alliierten Bedingungen zu
diktieren.¹² Das „Neue Denken“ in Gorbatschows Außenpolitik und die Peres-
troika-Reformen hatten Blot offenbar nicht grundsätzlich davon überzeugt, dass
der Kreml in Zukunft bereit sein würde, sicherheitspolitische Konzeptionen der
Vergangenheit – deutsche Neutralität, Polen als Puffer-Staat und Osteuropa als
Sicherheitsgarantie – zu verabschieden. Beide Beispiele legen damit Zeugnis über
die Nachhaltigkeit von Perzeptionen und Ängsten ab, die sich sehr viel langsamer
wandelten als die politischen Rahmenbedingungen. Verschiedene Modelle für
eine künftige deutsche Staatsform legte Jacques Blot in seiner Ausarbeitung vor:
Sowohl die Aufrechterhaltung der staatlichen Souveränität der DDR – mögli-
cherweise nach dem österreichischen Modell – als auch eine Konföderation bei-
der deutscher Staaten war für ihn denkbar, in der beide ihren internationalen
Status behielten. Aus eigenem Misstrauen und seinen Bedrohungsperzeptionen
vermochte Blot sich nicht zu lösen, da er eine gewisse deutsche Dominanz und
potentiellen Revanchismus nicht ausschloss. Das Wort „Wiedervereinigung“
weckte Misstrauen in ihm, weil er fürchtete, dass damit auch deutsche Minder-
AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Le Directeur, Jacques Blot, Réflexions sur la
question allemande, 30. Oktober 1989.
Saunier, Défaire le mur, S. 76.
Vgl. dazu im Detail Loth, Europas Einigung, S. 269 – 284.
Saunier, Défaire le mur, S. 76.
Wenkel, Frankreich, S. 207.
Saunier, Défaire le mur, S. 76.
356 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
C’est tout le contraire qui nous attend! […] Jamais Gorbatchev n’acceptera d’aller plus loin.
Ou alors il sera remplacé par un dur. Ces gens jouent avec la guerre mondiale, sans le voir.²⁶
Legt man die eingangs aufgestellte Definition zugrunde, ist es durchaus legitim,
Mitterrand Ängste ob der Veränderungen zu unterstellen. Da in der DDR nach wie
vor sowjetische Soldaten standen und Gorbatschow harte Appelle an die westli-
chen Staatschefs adressierte, schienen die Sorgen des Präsidenten auch nicht
unbegründet zu sein.²⁷ Aber ungeachtet der Frage, ob sich Mitterrands Ängste auf
eine konkrete oder eingebildete Bedrohung richteten, gilt es, dies bei der Be-
wertung seines Handelns in Rechnung zu stellen. Der sowjetische Generalsekretär
glaubte seinerseits vor dem Mauerfall nicht daran, dass eine Wiedervereinigung
Deutschlands Unterstützung im Westen finden würde. Allerdings ging er davon
aus, dass die westlichen Staatschefs daraufsetzten, der Kreml werde sich dem
entgegenstellen. Er unterstellte ihnen die Erwartung, dass die Sowjetunion mit
der BRD über die deutsche Frage in einen Konflikt geraten und auf diese Weise ein
Zusammengehen von Moskau und Bonn verhindert werden würde. Um sich nicht
zum Handlanger machen zu lassen, wollte Gorbatschow „die Angelegenheit in
einem ‚Dreieck‘ verhandeln, d. h. mit der BRD und DDR, und zwar mit offenen
Karten.“²⁸ Die unmittelbare Reaktion auf den Mauerfall war bei Gorbatschows
Berater Tschernjajew ebenfalls von jener Ambivalenz gekennzeichnet, die Saunier
für die französischen Stellungnahmen nachweist. Der Zusammenbruch der DDR
hatte für Moskau sicherheitspolitische Konsequenzen, da ihr seit ihrer Gründung
eine entscheidende Rolle in der sowjetischen Verteidigung zugekommen war. Die
nächtlichen Ereignisse stellten für Tschernjajew eine Veränderung des – wie auch
AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Déclaration du Chancelier Kohl (Bundestag, 28. November 1989),
ohne Datum, entstanden Ende November im Kontext des Treffens von Gorbatschow und Mitter-
rand in Kiew; Saunier, Défaire le mur, S. 74; Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German
Unification, S. xxiif.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 10. November 1989, S. 877.
Saunier, Défaire le mur, S. 76.
„Die Mauer sollten sie lieber selbst beseitigen.“ Politbürositzungsmitschrift Anatolij S.
Černjaevs, 3. November 1989. In: Karner [u. a.] (Hrsg.), Kreml, Dok. 82, S. 498.
358 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
Telephone Conversation between Mikhail Gorbachev and Francois Mitterrand November 14,
1989.
Telephone Conversation between Mikhail Gorbachev and Francois Mitterrand November 14,
1989.
Vgl. Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 122 f.; Schabert,
Weltgeschichte, S. 416 f.; Schwarz, Helmut Kohl, S. 532– 535, 559.
360 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
Mitterrand, François: Rede von François Mitterrand vor dem Europaparlament (Straßburg,
22. November 1989). In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften. Verhandlungen des Euro-
päischen Parlaments. 22.11.1989, n° 3 – 383/187. S. 187– 192. http://www.cvce.eu/obj/re-
de_von_francois_mitterrand_uber_die_demokratischen_reformen_in_osteuropa_stra%C3 %
9Fburg_22_november_1989-de-d3f2ecb3-a49c-4960-af84-dc035d9bc63a.html (24.10. 2016).
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 361
lichen Aufbauwerks gibt“. Dezidiert wandte er sich gegen eine Priorisierung na-
tionaler Interessen, da es nicht darum gehen könne, „sich auf sich selbst zu-
rückzuziehen.“³⁸ Dieser Solidaritäts-Appell erfüllte eine Doppelfunktion, da die
Unterstützung der Entwicklung des Ostens und die Stärkung der Gemeinschaft
von Mitterrand gewissermaßen als Binom zusammengefasst wurden. In seinem
Verständnis nämlich musste der Umbruch in Europa durch eine Vertiefung der
europäischen Integration im Westen unterstützt werden.³⁹ In dem Maße wie die
Ereignisse im Osten fortschritten, sollte
im gleichen Tempo und warum nicht sogar noch etwas schneller, […] das Europa der Ge-
meinschaft, um den Ereignissen voraus zu sein, sich noch über den bisher beschlossenen
Grad hinaus festigen und möglichst rasch seine Identität in seinen Strukturen finden.⁴⁰
Hier formulierte Mitterrand sein zentrales Anliegen für das europäische Rats-
treffen im Dezember in Straßburg. Um das Risiko eines Kontrollverlustes zu
mindern und um übersteigerte Euphorie einerseits und Ängste vor künftigen
Entwicklungen andererseits zu beruhigen, plädierte Mitterrand für „Abstand von
den Empfindungen und Emotionen der ersten Stunden, bevor man beginnt, die
Dinge zu durchblicken.“ Nichts anderes als eine Rückkehr zur Rationalität for-
derte er hier ein, obwohl er doch selbst in seinen weiteren Ausführungen danach
strebte, Gefühle zu evozieren und politisch zu instrumentalisieren. Die Legitimität
derartiger „Empfindungen und Emotionen“ unterstrich er mit gezielter Gefühls-
kommunikation, indem er eigenen Glücksgefühlen, tiefer Bewegung und Stolz
angesichts der Ereignisse Ausdruck verlieh. Seine persönlichen Empfindungen
inszenierte Mitterrand geradezu, um die Glaubwürdigkeit seines persönlichen
europäischen Engagements zu steigern. Dieses sei für ihn eben „nicht nur […] die
Erfüllung einer Pflicht“. Darüber hinaus setzte Mitterrand auch die Strategie ein,
Gefühle zu evozieren: Anders als bei früheren Gelegenheiten entwickelte er ein
bedrohliches Zukunftsszenario hier allerdings nicht mehr, um vor diesem Hin-
tergrund einen Ausweg in eine verheißungsvolle Zukunft aufzuzeigen. Nachdem
er zuvor die ihm vorstellbaren europäischen Entwicklungsmöglichkeiten und ein
Zusammenwachsen der beiden Teile Europas in Aussicht gestellt hatte, schloss er
seine Rede vielmehr mit einem erschreckenden Szenario, das damit gleichsam als
Mahnung stehen blieb. Er zeigte dadurch nicht nur auf, was durch riskantes po-
litisches Verhalten aufs Spiel gesetzt werde, sondern kommunizierte zwischen
den Zeilen eine Drohung. Diese schien sich weniger an das Auditorium als viel-
mehr an Helmut Kohl zu richten, der nur wenige Minuten nach ihm ans Red-
nerpult trat. Denn
nichts von alledem [werde] geschehen […], wenn wir nicht fähig sind, in einigen Tagen
miteinander, innerhalb der Gemeinschaft, bei den grundlegenden Vorhaben zu Ergebnissen
zu gelangen, die es unserem Europa ermöglichen werden, sich mit den Instrumenten einer
Wirtschafts- und Währungspolitik auszustatten, den Instrumenten einer Sozialpolitik und
denen einer Umweltpolitik. Dies wird nicht geschehen, wenn wir uns nicht an den Zeitplan
und die Vorgehensweise halten, die wir bereits beschlossen haben, und den Binnenmarkt
vollenden.⁴¹
Um unmissverständlich zu bleiben, fügte er dem hinzu: „Dies ist es, meine Damen
und Herren, was ich von dem Europäischen Rat in Straßburg erwarte.“⁴²
Die Strategie der Drohung sollte man nicht als eine Form von Ablehnung der
deutschen Wiedervereinigung missverstehen. Die Intentionen gilt es grundsätz-
lich von der Strategie und der darin mitschwingenden inszenierten Botschaft zu
separieren. Es gab keinen Moment, in dem die équipe Mitterrand ihre grundle-
gende Haltung aufgab, dass der Wunsch der Deutschen nach einer Wiederverei-
nigung legitim, aber mit den zuvor benannten Bedingungen zu verknüpfen sei.
Das Drohen lässt sich vielmehr als eine Reaktion verstehen, die von Misstrauen
gegenüber den Absichten des Bundeskanzlers geprägt war. Um dies zu erklären,
gilt es, die historische Dimension von Misstrauen zu berücksichtigen, die zur
Konstituierung von Mitterrands Erwartungen im Spätherbst 1989 beitrug. Der
Argwohn vor einem möglichen deutschen Alleingang hatte sich über mehrere
Monate aufgebaut. Erste Anzeichen dafür, dass die deutsche und französische
Haltung durch Kohls innenpolitische Schwierigkeiten in einen Gegensatz zu ge-
raten drohten, sah die équipe Mitterrand bereits im Frühjahr 1989. Durch verloren
gegangene Wahlen in Berlin und Hessen geriet der Bundeskanzler unter innen-
politischen Druck. Aus Gesprächen mit ihm berichtete der französische Bot-
schafter Boidevaix nach Paris, dass die Zustimmungswerte der Koalition abnäh-
men, obwohl die Situation der Bundesrepublik im Allgemeinen gut sei.
Schwierigkeiten bereitete der Regierung vor allem die Unterbringung und Aus-
bildung immigrierter Deutschstämmiger aus Osteuropa sowie deren Integration in
den Arbeitsmarkt.⁴³ Mit den Verpflichtungen, die die DDR bei der KSZE-Folge-
konferenz in Wien eingegangen war, begann das Grenzregime der DDR zu ero-
dieren, wodurch über das Jahr 1989 eine steigende Zahl an Menschen die DDR
verließ. Durch die Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze am 27. Juni 1989
sollte sich der Flüchtlingsstrom nochmals verstärken.⁴⁴ Am 12. April strukturierte
Helmut Kohl sein Kabinett um; seine Rede vor dem Deutschen Bundestag am
27. April 1989 beurteilte Boidevaix als Versuch, das Scheitern der Wahlen zu
überspielen.⁴⁵ Präsidentenberaterin Elisabeth Guigou zog am 28. April den
Schluss, dass sich der Kanzler trotz seines persönlichen Engagements für Europa
zu politischen Entscheidungen genötigt sehen könnte, die eine gemeinsame
deutsch-französische Haltung ausschließen würden. Hinsichtlich eines Vorge-
hens gegen Automobilverschmutzung beispielsweise habe Kohl eine nationale
Lösung angekündigt, obwohl sich Mitterrand dezidiert für eine europäische ein-
gesetzt habe. Guigou empfahl daher eine umfassende Evaluation der deutschen
Situation und Anpassung von Mitterrands Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik
mit den wichtigsten Ministern, um im Vorfeld der nächsten Zusammentreffen eine
klare Linie zu definieren.⁴⁶ Im Frühjahr 1989 machte die équipe Mitterrand die
Erfahrung, dass Kohl aus innenpolitischen Gründen nationale Lösungen euro-
päischen vorzog. Das Vertrauen in sein europäisches Engagement erhielt durch
diese Erfahrung, die Mitterrands Wahrnehmung der künftigen Monate struktu-
rierte, erste Risse.
Es gilt zudem zu beachten, dass Helmut Kohl sich seinerseits durch die Be-
richterstattung der französischen Presse missverstanden fühlte, wodurch sich das
Misstrauen im Herbst 1989 als reziprok erwies. Am 22. Juni 1989 beklagte er sich
bei François Mitterrand darüber, dass Teile der französischen Öffentlichkeit an
der bundesdeutschen Solidarität im europäischen Integrationsprozess zweifel-
ten.⁴⁷ Aus drei Gründen sind diese Erkenntnisse für die Analyse von Bedeutung.
Erstens hatte dieses durch die Presse lancierte Misstrauen Einfluss auf die
question, 10. April 1989; Note de Jean-Marie Guéhenno, Chef du Centre d’Analyse et de Prévision,
La relation franco-allemande, 30. April 1989. In: Vaïsse/Wenkel (Hrsg.), Diplomatie, S. 55 – 60.
Vgl. Süß, Walter: Die Wiener KSZE-Folgekonferenz und der Handlungsspielraum des DDR-
Sicherheitsapparates 1989. In: Peter/Wentker (Hrsg.), KSZE, S. 228 – 231; Wenkel, Christian: Auf
der Suche nach einem „anderen Deutschland“. Das Verhältnis Frankreichs zur DDR im Span-
nungsfeld von Perzeption und Diplomatie. München 2014. S. 490.
AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, TD Bonn 955, Evolution après la déclaration de politique générale
du Chancelier, 28. April 1989.
AN, AG/5(4)/EG/212, Le Chargé [sic] de Mission auprès du Président de la République, Eli-
sabeth Guigou, Note pour le Président de la République, Quelques réflexions à la suite du discours
du Chancelier Kohl devant le Bundestag, 28. April 1989.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Paris, 22. Juni 1989. In:
DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 8, S. 307.
364 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
54. Deutsch-französische Konsultationen, Bonn, 2./3. November 1989. In: DzD, Sonderedition
Deutsche Einheit, Dok. 70, S. 474.
Vgl. dazu Schwarz, Helmut Kohl, S. 557.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Präsident Delors, Bonn, 5. Oktober 1989. In: DzD,
Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 58, S. 443.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 365
nehin schon schwelendes Misstrauen.⁵¹ Bestätigt wurde dies zusätzlich, als Kohl
das Datum bei dem deutsch-französischen Gipfel am 2. und 3. November in eine
noch entlegenere Zukunft verschieben wollte und sich auf innenpolitische Fragen
zurückzog.⁵² Kohls Beteuerungen, in „Straßburg zu einer großen Anstrengung
bereit“ zu sein, um den Einigungsprozess bis 1992 unumkehrbar zu machen,⁵³
erschienen der équipe Mitterrand zusehends als leere Lippenbekenntnisse. Zwar
hatte Helmut Kohl sich in parteiinternen Machtkämpfen gegen die Gegner einer
Währungsunion und den Druck der deutschen Bundesbank behaupten können.
Allerdings reifte bei ihm das Bedürfnis, angesichts der Herausforderungen durch
die osteuropäischen Reformen auch die politische Integration Europas voranzu-
treiben und dadurch gleichsam einen stabilen Rahmen für eine deutsche Wie-
dervereinigung zu schaffen.⁵⁴
Drittens war das Misstrauen der europäischen Partner der Bundesregierung
nicht entgangen. Nach dem Mauerfall bemühte sie sich über verschiedene Kom-
munikationskanäle um Vertrauensbildung. Der französische Botschafter Boide-
vaix berichtete von einer Unterredung mit Hans-Dietrich Genscher am Rande ei-
nes Empfangs, bei der der Außenminister auf einen breiten politischen und
parteiübergreifenden Konsens für die Stärkung der EG verwies. Seiner Ansicht
nach werde die Wiedervereinigung vor allem außerhalb Deutschlands zu einem
größeren Thema gemacht als es tatsächlich sei.⁵⁵ Horst Teltschik betonte bei ei-
nem Symposium am 23. November, dass sich die Einheit Deutschlands nur in
einer neuen Architektur Europas vollziehen könne. Außerdem versuchte er, das
Misstrauen dem deutschen europäischen Engagement gegenüber auszuräumen,
indem er die französischen Sorgen explizit ansprach: Er persönlich habe einem
Berater des Präsidenten am Vorabend des 12er-Dinners am 18. November die
europäischen Überzeugungen von Helmut Kohl und Willy Brandt versichert.
Darüber, dass auch Michail Gorbatschow über die Entwicklungen in der DDR
„außerordentlich beunruhigt“⁵⁶ war, war sich der Bundeskanzler nach dem
Mauerfall ebenfalls bewusst. Angesichts all dessen wirkt die Verkündung von
dersetzte.⁶¹ Hinsichtlich der Strategie und der zur Realisierung eingesetzten Me-
thoden lässt sich jedoch Kontinuität feststellen, wenngleich sich die Intensität der
Drohungen von einer diffusen Suggestion bedrohlicher Zukunftsaussichten in
eine explizite Androhung möglicher Konsequenzen steigerte: Am 30. November
ließ Mitterrand in einem Gespräch mit Genscher die Imagination entstehen,
Deutschland sähe sich womöglich einer Tripelallianz zwischen Frankreich,
Großbritannien und der Sowjetunion gegenüber. Damit erschuf er das Bild einer
internationalen Isolation. Hinter dem expliziten Bezug auf die Jahre 1913 und 1939
stand zudem eine Anspielung auf drohende kriegerische Auseinandersetzun-
gen.⁶² Seine Reaktion fiel auch deshalb so heftig aus, weil Kohl in seinem per-
sönlichen Schreiben am Vortag seiner Rede noch Zweifel am „positiven Verlauf
der ersten Stufe“ des Delors-Plans zur Schaffung der WWU geäußert hatte.⁶³ In
Kohls persönlicher Vorlage für das Straßburger Ratstreffen, die er dem französi-
schen Präsidenten als Anlage zukommen ließ, verschob er den Beginn der Re-
gierungskonferenz nunmehr auf Anfang 1991.⁶⁴
Die explizite Drohung, mit einer Beschleunigung in der deutschen Wieder-
vereinigung den Zusammenschluss einer Tripelentente zu riskieren, lässt sich
grundsätzlich als kalkulierte Drohung in den Kontext von Mitterrands Gefühls-
politik stellen. Die Intensität der Drohung lässt jedoch beinahe auf einen Ge-
fühlsausbruch schließen, der den Präsidenten dazu veranlasste, den Ton zu
verschärfen. In den Memoiren von Genscher erscheint sein Dialog mit Mitterrand
weniger explizit und konfrontativ als in der Überlieferung von Jacques Attali.⁶⁵
Beinahe mag es so erscheinen, als wollte Mitterrand bei dem deutschen Außen-
minister Empathie erzeugen für „die europäischen Partner, die sich in Zukunft
achtzig Millionen Deutschen gegenüber sähen.“⁶⁶ Die Andeutung „neue[r] privi-
legierte[r] Bündnisse“ in Europa und ein potentieller Rückfall „in die Vorstel-
lungswelt von 1913“⁶⁷ lässt sich aber auch als strategischer Versuch deuten, Angst
zu evozieren und diese als politische Ressource zu nutzen. Ob der französische
Präsident nun Angst oder Empathie erzeugen wollte, lässt sich aufgrund der
unterschiedlichen Überlieferungen, die in den jeweils subjektiven Wahrneh-
mungen der Akteure begründet liegen, nicht zweifelsfrei klären. Der intendierte
Effekt war aber der gleiche: Die Suggestion einer für die Bundesrepublik be-
drohlichen Zukunftserwartung sollte ihre Regierung hinreichend unter Druck
setzten, sich auf das Datum der Regierungskonferenz zu verständigen. Eine Folge
dieser Gefühlspolitik war aber auch, dass andere Akteure dies als ernst gemeinte
Drohung auslegten beziehungsweise als Gegnerschaft zur deutschen Vereinigung
werteten. Der Grund dafür sind widerstreitende Wahrnehmungen der Ereignisse
und unterschiedliche Erwartungen, die an Mitterrands Handeln herangetragen
wurden. Die britischen Akteure beispielsweise trugen an Mitterrand die Erwar-
tung heran, dass er sich vor einer großen deutschen Wirtschaftsmacht fürchte.
Deswegen rechneten sie damit, dass er ihre Ablehnung teile und Thatchers Vor-
schlägen gegenüber, die einen langen Transitionsprozess zur deutschen Einheit
anstrebte, aufgeschlossen sein werde. Diese Perzeption trug letztlich dazu bei,
dass britische Protokollanten bei dem Gespräch zwischen Thatcher und Mitter-
rand am 20. Januar 1989 die Zurückhaltung des Präsidenten als Zustimmung in-
terpretierten, gemeinsam den Prozess zu verlangsamen. Im Detail soll das Ge-
spräch an dieser Stelle nicht analysiert werden. Allerdings zeigt sich doch, dass
Mitterrand durch seine Instrumentalisierung von Perzeptionen und Emotionen
selbst dazu beitrug, dass sich diese verstetigen konnten.⁶⁸
Einiges spricht dafür, dass Mitterrand nach Kohls Rede vor dem Bundestag
von seinen eigenen Ängsten überwältigt wurde, die in seiner Sozialisation be-
gründet liegen.⁶⁹ Die Angst vor einem deutschen Alleingang und vor einem Ver-
lust aller Ordnungsstrukturen rief bei ihm Erinnerungen an seine Erfahrungen
von Gewalt und Anarchie im Zweiten Weltkrieg wach. Mitterrand hatte zudem
aber auch Angst vor der Angst, die die Assoziation einer deutschen Großmacht bei
anderen europäischen Staaten schüren würde, bevor durch die Europäische
Union ein Stabilitätsfaktor geschaffen worden war. Durch die Schaffung einer
Wirtschafts- und Währungsunion sollte das wirtschaftliche Potential der Bun-
desrepublik nicht zuletzt nach dem Solidaritätsprinzip in die europäische Ge-
meinschaft eingehegt werden. Besonders heikel war für François Mitterrand die
Grenzfrage. Sein Misstrauen Kohls Intentionen gegenüber hatte auch in dieser
Frage eine historische Dimension, da dieser bei einem Gespräch mit Mitterrand
Siehe dazu Minute from Mr. Hurd to Mrs. Thatcher, 16. Januar 1990. In: Documents on British
Policy 1989 – 1990, Dok. 99, S. 209; Letter from Mr. Powell (No 10) to Mr. Wall, 20. Januar 1990. In:
Documents on British Policy 1989 – 1990, Dok. 103, S. 217.
Vgl. dafür Kapitel 1.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 369
am 22. Juni 1989 beispielsweise auf eine deutsche Minderheit in Polen verwiesen
hatte, die sich auf circa 300 000 in Polen lebende Deutsche belief, „deren Le-
bensbedingungen verbessert werden müßten.“⁷⁰ Für Mitterrand wirkte Kohls
Verhalten, als sei der Bundeskanzler bereit, eine Beschleunigung der Entwick-
lungen zu fördern, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für den europäischen
Kontinent zu nehmen. All diese Ängste zusammengenommen, standen hinter
dem inszenierten und imaginierten Zukunftsszenario eine Tripelallianz. Diese
kaum rationale Ad-Hoc Reaktion mag auf deutscher Seite verstanden worden
sein, als sei Mitterrand als Repräsentant einer der vier Siegermächte bereit, ein
Veto gegen die deutsche Wiedervereinigung einzulegen. Zusammengenommen
mit anderen Faktoren, wie der bereits erwähnten medialen Berichterstattung oder
Mitterrands Reisen in die DDR und nach Kiew, die im weiteren Verlauf dieses
Kapitels Gegenstand der Analyse sein werden, nährte dies die in der deutschen
Presse verbreitete Wahrnehmung, der französische Präsident agitiere gegen den
Einigungsprozess. Indem sich Mitterrand am 28. November Äußerungen gegen-
über der Presse verweigerte, ließ er umso mehr Raum „für Mutmaßungen und
Spekulationen bezü glich der franzö sischen Einstellung zur deutschen Einheit“⁷¹.
Zum anderen wird hier die These aufgestellt, dass das irrationale Drohen gewis-
sermaßen als Panikreaktion anschließend wieder als kalkuliertes Drohen in
Mitterrands Strategie integriert wurde. Zwar erfüllten seine Reisen in die DDR und
nach Kiew auch andere Zwecke, wie Frédéric Bozo nachgewiesen hat.⁷² Dennoch
wurde hingenommen, dass dies der deutschen Wahrnehmung zur Bestätigung
gereicht wurde, weil es für die Absichten von Mitterrand und seiner équipe
durchaus förderlich war, die deutsche Seite unter Druck zu setzten, zum euro-
päischen Konsens zurückzukehren und die genannten Bedingungen zu akzep-
tieren.
Diese Strategie schien von Erfolg gekrönt, da sie bei Kohl offensichtlich zur
Erkenntnis führte, „dass er in der Währungsfrage nun doch ein größeres innen-
politisches Risiko eingehen musste, wenn er den nötigen Spielraum für die Ge-
staltung des Wiedervereinigungsprozesses behalten wollte.“⁷³ Er schlug daher die
Empfehlungen seines Mitarbeiters Joachim Bitterlich aus, der dem Bundeskanzler
Anfang Dezember einen deutschen Alleingang in Straßburg nahelegen wollte. Er
empfahl ihm, als erster das Wort zu ergreifen, um seinen „Gesamtansatz erläutern
und damit das ‚Gesetz des Handelns‘ an sich ziehen“ zu können. Gar zog er in
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Paris, 22. Juni 1989. In:
DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 8, S. 306.
Wenkel, Suche, S. 495.
Siehe Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 134– 143.
Loth, Europas Einigung, S. 294.
370 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
Vorlage des Vortragenden Legationsrats I Bitterlich an Bundeskanzler Kohl, Bonn, 2./3. De-
zember 1989. In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 108, S. 598.
Schreiben des Staatspräsidenten Mitterrand an Bundeskanzler Kohl vom 1. Dezember 1989.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 108 A, S. 599.
Schabert, Weltgeschichte, S. 424.
AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Le Directeur, Jacques Blot, Réunification al-
lemande et processus européen, 4. Dezember 1989.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 371
ein diplomatischer Berater Mitterrands, die Reise bei der offiziellen Ankündigung
gemeinsam mit jener nach Ungarn im Februar oder März 1990 bekannt zu geben.⁸¹
Der symbolische Aussagewert der Reise sollte dadurch zweifellos „in den Kontext
einer neuen franzö sischen Ostpolitik“⁸² anstatt einer französischen Deutsch-
landpolitik gestellt werden. Nach dem Fall der Berliner Mauer hatte es François
Mitterrand jedoch plötzlich eilig, einen Termin für ein Treffen mit der DDR-Füh-
rung zu vereinbaren: Seinen Mitarbeitern gab er die Anweisung „Fixer la date la
plus proche.“⁸³ Sowohl Helmut Kohl als auch Michail Gorbatschow wollte Mitt-
errand dagegen im Glauben lassen, dass der Besuch bereits von langer Hand
geplant gewesen sei und er ihn trotz der Ereignisse nicht habe absagen wollen.
Entschieden widersprach er den Darstellungen der Presse, er habe im Sinne einer
deutsch-französischen Rivalität vor dem deutschen Bundeskanzler in die DDR
reisen wollen.⁸⁴ Der Grund, weshalb Mitterrand die Terminsuche beschleunigen
wollte, war das Ende der französischen Ratspräsidentschaft zum Jahreswechsel.
Mitterrand zog es vor, „nicht alleine in seiner Funktion als französischer Präsi-
dent, sondern zusätzlich mit einer europäischen Legitimität“⁸⁵ in die DDR zu
reisen. Sein Hauptanliegen bestand laut Bozo und Wenkel darin, die deutsche
Entwicklung mit der europäischen in Einklang zu bringen, um einen deutsch-
deutschen Bilateralismus zu verhindern und einen europäischen Rahmen für die
deutsche Einheit zu schaffen.⁸⁶ Die internen Vorbereitungen der Reise legen
Zeugnis über die Intention von Mitterrands Beratern ab, abermals die EG als
Akteur zu etablieren und damit den deutsch-deutschen Annäherungsprozess in
den Kontext des europäischen Annäherungsprozesses zu stellen: Der Besuch des
Präsidenten sollte dazu genutzt werden, zahlreiche bilaterale Kooperationsver-
träge zwischen der DDR und Frankreich abzuschließen. Unter anderem war es
vorgesehen, ein zweites französisches Kulturzentrum in der DDR zu eröffnen
sowie die Handelsbeziehungen zwischen Frankreich und der DDR zu intensivie-
ren, dessen Volumen weit hinter jenes des innerdeutschen Handels zurückfiel.
Neben den erwarteten positiven Effekten für die französische Industrie, sollte auf
diese Weise demonstriert werden, dass die Entwicklungen in der DDR nicht nur
eine exklusive Hinwendung zur Bundesrepublik, sondern eine grundsätzliche
Öffnung der DDR zu den Ländern der Gemeinschaft zur Folge hatten.⁸⁷ Der po-
litische Dialog zwischen Frankreich und der DDR wurde gegenüber den Themen
Wirtschaft und Kultur vernachlässigt.⁸⁸ Dafür war weniger der bilaterale als
vielmehr ein europäischer Rahmen vorgesehen: Elisabeth Guigou schlug vor,
beim Besuch die bisher nicht überbrachte Nachricht zu übermitteln, einen poli-
tischen Dialog zwischen der Gemeinschaft der Zwölf und der DDR einführen zu
wollen. Im Sommer 1989 hatte die DDR-Führung die französische Präsidentschaft
um dieses Anliegen ersucht, woraufhin die EG-Außenminister bei ihrem Treffen
im Château d’Esclimont am 14. Oktober beschlossen hatten, ein jährliches Treffen
zwischen dem Außenminister der DDR und dem jeweiligen Außenminister der
europäischen Ratspräsidentschaft zu etablieren.⁸⁹ Indem die EG zum politischen
Gesprächspartner der DDR wurde, wurde ein deutsch-deutscher Bilateralismus
vermieden.
Die Berater des Präsidenten kalkulierten sorgfältig die Erwartungen der ver-
schiedenen politischen und gesellschaftlichen Kräfte in der DDR. Die DDR-Füh-
rung, so Loïc Hennekinne, hoffe auf eine feierliche Bestätigung ihres Status als
souveräner und unabhängiger Staat, um die Asymmetrien in Verhandlungen mit
der BRD zu reduzieren. Weite Teile der politischen Führung, der oppositionellen
Bewegungen und der Intellektuellen sprachen sich ihm zufolge für den Erhalt
einer ostdeutschen Identität aus, wohingegen die Mehrheit der Bevölkerung und
insbesondere die Jugend die deutsche Einheit ersehne.⁹⁰ Zweifellos wusste der
französische Präsident daher um die Gefahr, dass sein Besuch durch die DDR-
Führung politisch instrumentalisiert werden könnte. Aus eben diesem Grund
lehnte er es ab, deren Wunsch zu entsprechen und ein Interview, dass er dem
Fernsehen der DDR gegeben hatte, am Abend vor Helmut Kohls Reise in die DDR
am 19. Dezember 1989 auszustrahlen. Damit schlug er die Empfehlung von Jean-
Louis Bianco in den Wind und entschied sich für eine Ausstrahlung am 20. De-
zember, zu einem Zeitpunkt, an dem er selbst schon in der DDR angekommen sein
würde.⁹¹ Aber auch einer politischen Indienstnahme durch die Bundesrepublik
verweigerte sich François Mitterrand, indem er es ablehnte, am 22. Dezember
gemeinsam mit Helmut Kohl durch den geöffneten Grenzübergang am Branden-
burger Tor zu gehen.⁹²
Aber gerade weil Mitterrand um die Perzeptionen in DDR und BRD wusste,
lässt sich der Spekulationsspielraum, den der französische Präsident durch un-
eindeutige Signale ließ, kaum als misslungene Kommunikation beurteilen. Viel
plausibler ist es daher, die Unklarheit als Teil der Strategie zu begreifen und der
Reise in die DDR verschiedene Intentionen zu unterstellen. Zum einen wurde
durch die Analysen hinreichend belegt, dass es Mitterrands Anliegen war, das
deutsche Einheitsstreben zu multilateralisieren und die EG als Akteur an diesem
Prozess zu beteiligen. Zum anderen nahm Mitterrand die ihm entgegengebrachte
Kritik in Kauf, dadurch die DDR zu stabilisieren. Dies mag ihm nicht ungelegen
gewesen sein und ist vergleichbar mit seiner Inszenierung einer atlantischen
Wende nach seinem Amtsantritt oder den Drohungen gegenüber Thatcher, not-
falls auch ohne Großbritannien weitere Schritte im europäischen Integrations-
prozess zu gehen.⁹³ Ohne die Spekulationen der medialen Berichterstattung zu
dementieren, ließ der Präsident es zu, dass man sich in der Einschätzung der
französischen Haltung auf eine französische Meinungselite stützte, die aus ihrer
Ablehnung keinen Hehl machte. Vielmehr könnte man gar so weit gehen, dass er
diese Erwartungen als politische Ressource nutzte. Um die Bundesregierung unter
Druck zu setzen, den Vereinbarungen von Straßburg treu zu bleiben und einen
deutschen Alleingang in der deutschen Frage zu unterlassen, ließ die équipe
Mitterrand das diffuse Drohszenario einer französischen Gegnerschaft zur deut-
schen Einheit im Raum stehen.
Mitterrands Treffen mit Gorbatschow in Kiew, das auf eine Initiative des
französischen Präsidenten zurückging,⁹⁴ hatte diese Wahrnehmungen bereits am
6. Dezember 1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 62, S. 266; Bozo,
Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 134.
AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Conception française du rapprochement des deux Europe et de la
solution à la „question allemande“, 30. November 1989.
AN, AG/5(4)/CD/412, Présidence de la République, Le Conseiller diplomatique, Loïc Hen-
nekinne, Note pour le Président de la République, Situation en Union Soviétique, 5. Dezember
1989.
AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, Derniers développements de la politique extérieure soviétique,
28. November 1989.
376 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
fördern. „Ich möchte die schwierige Phase, die jetzt begonnen hat, in einem Klima
der engen Beziehungen zwischen unseren Ländern überwinden – Beziehungen
im Geiste absoluten Vertrauens.“¹⁰¹, vertraute Mitterrand Gorbatschow an. Un-
umwunden kam der französische Präsident nach den üblichen Höflichkeiten auf
die deutsche Frage zu sprechen. Da Mitterrand als Konsequenz der jüngsten Er-
eignisse künftige Schäden erwartete, werden an dieser Stelle drei Faktoren un-
tersucht, die diese Angst verursachten: Sorgen bereitete Mitterrand erstens Gor-
batschows politische Stellung, zweitens ein potentielles Misstrauen zwischen den
Siegermächten und drittens das Misstrauen der europäischen Staaten gegenüber
einem wiedervereinten Deutschland. Hinter allen Faktoren stand Mitterrands
Angst vor „tiefgreifende[n] Störungen auf dem Kontinent“ als „Ergebnis einer
Vereinigung Deutschlands“.¹⁰² Gleich zweimal wiederholte er seine Vision einer
möglichen deutschen Wiedervereinigung, die dem bisherigen französischen Dé-
tente-Konzept treu blieb. Auf Grundlage einer Stabilisierung Westeuropas durch
den europäischen Integrationsprozess sowie Osteuropas sollte in seiner Vorstel-
lung die gemeinsame „Vertiefung des gesamteuropäischen Prozesses“ erfolgen.
Diese „gesamteuropäischen Strukturen“ sollten insgesamt schneller entwickelt
werden als sich die deutsche Einheit realisiere.¹⁰³ „Die Reihenfolge der Prozesse
darf man nicht ändern“, beschwor Mitterrand. Und doch habe nun „[d]ie Rede
Kohls, seine zehn Punkte, […] alles von den Füßen auf den Kopf gestellt.“¹⁰⁴
Die Erwartung, dass die Wiedervereinigung Deutschlands nicht friedlich
verlaufen könnte, stellt den Ursprung all seiner Ängste dar. Zwar bemühte sich
Gorbatschow grundsätzlich darum, Vertrauen in die Abkehr von der Breschnew-
Doktrin zu generieren. Er versicherte, dass diese von allen Staaten des War-
schauer Paktes anerkannt worden und daher kein Einsatz von Gewalt zu be-
fürchten sei. Dass aber Mitterrand gerade die Lage in der DDR große Sorgen be-
reitete, bezeugt sein vorsichtiger Vorstoß: „Ich erlaube mir die Frage: Was kann im
Innern der DDR geschehen?“¹⁰⁵ Grundsätzlich hielt er es nicht für ausgeschlossen,
Vgl. dazu und andern Ursprüngen des Ost-West-Konfliktes: Loth, Teilung der Welt.
Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 62, S. 270.
Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 62, S. 267 f.
380 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
haben, verdeutlicht sein Bericht vor dem Zentralkomitee der KPdSU. Ihm war
Mitterrands Beunruhigung nicht entgangen. Insgesamt zog er aus seinen Aus-
führungen den Schluss: „Wie man sieht, sind die Ausführungen, die er formuliert
hat, den unseren äußerst nahe.“¹¹⁴ Am Rande der Gespräche unterhielt sich
Mitterrands Berater Jacques Attali mit Vadim Zagladin, der im Anschluss fest-
stellte, dass die Vorstellung, die Sowjetunion könne sich mit der deutschen
Wiedervereinigung abgefunden haben, „Furcht“, „nahezu Panik“ ausgelöst ha-
be.¹¹⁵ Zudem hielt der Leiter des MID und Berater Gorbatschows Attalis Äußerung
fest: „Frankreich wolle auf keinen Fall eine Wiedervereinigung Deutschlands,
obwohl es sich bewusst sei: Letzten Endes werde sie erfolgen.“ Weiter führte
Zagladin aus: „Und als F. Mitterrand im Laufe des Gesprächs mit M. S. Gorbačev
sich überzeugt habe, dass die UdSSR diese Haltung teile, sei er beruhigt und
‚ermutigt‘ gewesen.“¹¹⁶ In den persönlichen Gesprächsaufzeichnungen zwischen
Präsident und Generalsekretär gibt es dafür allerdings keinen Beleg. Was Mitt-
errand Gorbatschow vermitteln wollte, war nicht ein Bündnis gegen die deutsche
Einheit. Stattdessen signalisierte er ihm, einen Verbündeten unter den westlichen
Partnern zu haben, der seine Sorgen ernst nahm. Da Mitterrand seinen eigenen
Sorgen angesichts von Kohls Hast und der für ihn verantwortungslosen Haltung
der Amerikaner in der Grenzfrage Ausdruck verlieh, sollte Gorbatschow sich auf
internationaler Bühne nicht isoliert von den anderen drei Siegermächten sehen.
Er bemühte sich darum, zunächst den Zusammenhalt im Kreis der Vier zu wahren,
um zu verhindern, dass neue Interessenkonflikte zwischen ihnen aufbrachen.
Paneuropäische Strukturen, soll Attali betont haben, „würden es Deutschland
nicht erlauben, im Alleingang zu handeln und es sogar im Falle einer Wieder-
vereinigung daran hindern, seine hegemonialen Ansprüche zu verwirklichen.“¹¹⁷
Diese Form von Vertrauensbildung, bei der Mitterrand mit Europa einen Ausweg
aus der Angst vor einer deutschen Großmacht aufzeigte, diente dazu, Gorbat-
schow als Partner für seine Détente-Konzeption zu gewinnen. Nach wie vor wollte
der Präsident die europäische Einheit vor der deutschen realisiert sehen. Dass
Mitterrand einen deutschen Alleingang verhindern wollte, ist offensichtlich und
Gorbačev zu der Wende in Osteuropa: „Demokratisierung und Erneuerung des Sozialismus“.
Rede Michail S. Gorbačev auf dem Plenum des ZK der KPdSU, 9. Dezember 1989. In: Karner [u. a.]
(Hrsg.), Kreml, Dok. 93, S. 594.
Vermerk über ein Gespräch Zagladins mit dem Berater Mitterrands, Attali am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 63, S. 272.
Vermerk über ein Gespräch Zagladins mit dem Berater Mitterrands, Attali am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 63, S. 272.
Vermerk über ein Gespräch Zagladins mit dem Berater Mitterrands, Attali am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 63, S. 272.
382 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
Vermerk über ein Gespräch Zagladins mit dem Berater Mitterrands, Attali am 6. Dezember
1989 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 63, S. 272.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 383
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 135.
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 136 f.
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 137.
Grachev, Common European home, S. 216.
384 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
C’est le scénario le plus fluide, celui dans lequel aucune structure ne permet de créer un
ordre européen; la carte du XIXème siècle, d’un XIXème siècle finissant, en poie au bouil-
lonnement des nationalités, réapparaît.¹²⁵
AN, AG/5(4)/CD/67, Loïc Hennekinne, Entretien François Mitterrand – Bush, 15. Dezember
1989.
AN, AG/5(4)/CD/67, Loïc Hennekinne, Entretien François Mitterrand – Bush, 15. Dezember
1989.
AN, AG/5(4)/CDM/35, MAE, Le Chef du Centre d’Analyse et de Prévision, Jean-Marie Gu-
éhenno, Architecture européenne. Sept propositions, 27. Oktober 1989.
AN, AG/5(4)/CD/67, Loïc Hennekinne, Entretien François Mitterrand – Bush, 15. Dezember
1989.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 385
die DDR sei ein Kernland für den Warschauer Pakt.“¹²⁷ Er warb für ein umsichtiges
Vorgehen und Verständnis dafür, dass der Warschauer Pakt „quasi das ‚letzte
Bollwerk‘“¹²⁸ sei. Bewusst ließ er hier wohl auch die Suggestion potentieller mi-
litärischer Auseinandersetzungen in der DDR im Raum stehen, die auf diese Weise
rhetorisch zu einem Risiko von Kohls unvorsichtigem Handeln transformiert
wurden. Sehr viel deutlicher wurde Mitterrand in seiner Kritik an Kohls unem-
pathischem Auftreten durch den Zehn-Punkte-Plan am 4. Januar 1990 in Latché:
Als der Bundeskanzler seine innenpolitische Motivation für sein Vorgehen her-
vorhob und wenig Verständnis für die Reaktionen der französischen Presse und
von Politikern zeigte, entwarf der französische Präsident das bedrohliche Sze-
nario einer sowjetischen Militärdiktatur sowie Assoziationen von Gewalt und
Krieg, wenn man Gorbatschow weiter destabilisiere:
Die Deutschen müßten verstehen […], daß jeder unkluge Schritt Gorbatschow verpflichtet, zu
reagieren oder zu verschwinden. Für ihn, den Präsidenten, wäre das einzige wirkliche Pro-
blem, diesen Widerspruch in Einklang zu bringen. Die Einigung Deutschlands dürfe nicht so
erfolgen, daß die Russen sich verhärten und mit Säbelrassen reagierten. Wir seien am Rande
einer solchen Entwicklung. Gorbatschow sei in Kiew sehr unruhig gewesen, nicht wegen der
Entwicklung an sich, sondern wegen der überstürzten Eile.¹²⁹
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Latché, 4. Januar 1990.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 135, S. 685.
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 171.
AN, AG/5(4)/6634, MAE, Mérillon, TD Moscou 165, L’URSS et l’évolution de l’Europe, 12. Ja-
nuar 1990.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Latché, 4. Januar 1990.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 135, S. 687.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 4. Januar 1990, S. 937.
Siehe dazu Brown, Aufstieg, S. 743 – 747.
Vgl. dazu Antisowjetische Demonstrationen in Tiflis. Schickt Gorbačev die Sondertruppen
nach Georgien? Konzept-Protokoll der Sitzung des Verteidigungsrates der Georgischen Sowjet-
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 387
republik, 8. April 1989; Der Gewalteinsatz in Tiflis wird vor Ort entschieden. Konzept-Protokoll der
Sitzung des Verteidigungsrates der Georgischen Sowjetrepublik, 8. April 1989; Schock in der
sowjetischen Führung: In Tiflis wird auf Demonstranten geschossen. Krisensitzung am Tag da-
nach: Wer trägt die Verantwortung? Tagebucheintrag Tejmuraz Stepanov-Mamaladzes, 10. April
1989. In: Karner [u. a.] (Hrsg.), Kreml, Dok. 46 – 48, S. 320 – 332.
Loth, Europas Einigung, S. 296.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 2. Februar 1990, S. 954.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 4. Februar 1990, S. 954 f.
388 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 246; Grachev, Common
European home, S. 218.
AN, AG/5(4)/CD/412, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, La sécurité de l’Europe après Malte et la réunion de l’OTAN,
6. Dezember 1989.
Bush, George: Outline of Remarks at the North Atlantic Treaty Organization Headquarters in
Brussels. 4. Dezember 1989. In: Public Papers of President George H. W. Bush 01.07– 31.12.1989.
S. 1644.
AN, AG/5(4)/CD/412, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, La sécurité de l’Europe après Malte et la réunion de l’OTAN,
6. Dezember 1989.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Paris, 15. Februar 1990.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 187, S. 845 f.
Vgl. Wenkel, Frankreich, S. 218; Gespräch Gorbačevs mit US-Präsident Bush am 31. Mai 1990
[Auszug]. Aus dem zweiten Gespräch M. S. Gorbačevs mit G. Bush, Washington, Weißes Haus,
31. Mai 1990. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 96; Gespräch Gorbačevs mit
Bundeskanzler Kohl am 15. Juli 1990 [Auszug]. Aus dem Vieraugengespräch M. S. Gorbačevs mit H.
Kohl 15. Juli 1990. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 102.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 389
Bozo, Frédéric: Mitterrand’s France, the End of the Cold War, and German Unification. A
Reappraisal. In: Cold War History 7 (2007) 4. S. 464.
Schreiben des Bundeskanzlers Kohl an Staatspräsident Mitterrand, Bonn, 23. Mai 1990. In:
DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 286, S. 1144.
Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 25. Mai 1990.
In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 94, S. 417.
Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 25. Mai 1990.
In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 94, S. 418.
Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 25. Mai 1990.
In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 94, S. 418.
Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 25. Mai 1990.
In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 94, S. 419.
390 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 25. Mai 1990.
In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 94, S. 420.
Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 421 f., 426 f., 429.
Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 421.
Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 426 f.
Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 429.
Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 422, 429.
Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 25. Mai 1990.
In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 94, S. 418.
5.1 Die Aushandlung der deutschen Wiedervereinigung 391
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 253.
Newton, Gorbachev, S. 294.
Newton, Gorbachev, S. 312.
Zweites Gespräch Gorbačevs mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am
25. Mai 1990 [Auszug]. In: Galkin [u. a.] (Hrsg.), Michail Gorbatschow, Dok. 95, S. 431.
Grachev, Gorbachev’s Gamble, S. 159.
Loth, Helsinki, S. 267; Loth, Willy Brandt, S. 432.
394 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
be in NATO.“¹⁷⁶ Diese Ahnung wurde durch das Gespräch mit François Mitterrand
zu einer Gewissheit. Retrospektiv bezeugt Michail Gorbatschow, dass der fran-
zösische Präsident ihm „recht deutlich zu verstehen [gab], daß seiner Meinung
nach unser Wunsch nach Neutralität beziehungsweise nach Mitgliedschaft des
vereinten Deutschland in beiden Militärbündnissen unter den gegebenen Um-
ständen kaum mehr Aussichten auf Erfolg habe.“¹⁷⁷
Unter den Bedingungen für eine deutsche Wiedervereinigung zählte die An-
erkennung der bestehenden Grenzen, insbesondere der Oder-Neiße-Linie, für
François Mitterrand zweifellos zu den elementarsten. Obwohl Helmut Kohl bei
ihren Treffen immer wieder versicherte, dass Deutschland keine Territorien ein-
fordern werde, verärgerte sein Zögern, dies auch öffentlich zu erklären, den
französischen Präsidenten, der wiederholt versuchte, die deutsche Seite zu einer
eindeutigen Positionierung zu drängen.¹⁷⁸ Aus Sorge, sein konservatives Wäh-
lerklientel zu verprellen, wich Helmut Kohl Forderungen nach einer eindeutigen
Stellungnahme durch die bundesdeutsche Regierung immer wieder aus und zog
sich darauf zurück, dass ein wiedervereintes Deutschland die Grenzen bestätigen
werde. Nur ein gesamtdeutsches Parlament werde getroffene Regelungen aner-
kennen, dagegen wolle er „dies nicht als Vorleistung erbringen“¹⁷⁹, auf die der
französische Präsident bestand. In den ersten Monaten des Jahres 1990 brachte
Mitterrand die Grenzfrage unermüdlich immer wieder zur Sprache, während Kohl
in seiner Zurückhaltung verharrte. Am 5. März versuchte der Präsident es mit
Empathie: Er verstehe zwar die Überlegungen des Kanzlers, „aber vom politischen
Standpunkt aus wäre eine klare Absichtserklärung willkommen.“¹⁸⁰ Eine solche
Absichtserklärung wurde vom Deutschen Bundestag am 8. März 1990 angenom-
men und war am 6. März bereits an Gorbatschow übersandt worden: „In diesem
Sinne soll die Grenzfrage in einem Vertrag zwischen einer gesamtdeutschen Re-
gierung und der polnischen Regierung geregelt werden, der die Aussöhnung
zwischen beiden Völkern besiegelt.“¹⁸¹ Der Grund, weshalb diese Frage für
François Mitterrand fundamental war, folgte dem gleichen Motiv, wie sein Einsatz
dafür, den deutschen Wiedervereinigungsprozess nicht künstlich zu forcieren
oder Michail Gorbatschow vor den Kopf zu stoßen: Kohls Weigerung drohte
Misstrauen einem deutschen Revanchismus gegenüber Vorschub zu leisten. Jede
Form von „anti-germanisme“, hielten französische Diplomaten für unvereinbar
mit ihren Interessen in Europa.¹⁸² Roland Dumas machte in einer Rede vor der
französischen Nationalversammlung deutlich, dass Vertrauen allgemein aber
speziell auch gegenüber Deutschland eine wichtige Grundvoraussetzung für
Stabilität auf dem europäischen Kontinent sei.¹⁸³
Dem amerikanischen Präsidenten legte François Mitterrand in Key Largo dar,
dass die Einheit der zwei deutschen Staaten zwar eine deutsche Angelegenheit
sei, die Konsequenzen aber alle beträfen. Was er im Falle mangelhafter Garantien
fürchtete, war „un état d’incertidude et de suspicion“¹⁸⁴ in Europa. Explizit be-
nannte Mitterrand das Misstrauen in den Niederlanden, Belgien, Großbritannien
und Dänemark. Insgesamt kalkulierte Mitterrand im gesamten Verhandlungs-
prozess mit potentiellen Ängsten vor einer deutschen Wiedervereinigung, weil er
sich vor den Konsequenzen fürchtete, die sich aus der Angst der anderen Staaten
vor Deutschland ergeben könnten. Konkrete Maßnahmen, wie die Anerkennung
der Grenzen, eine deutsche Verzichtserklärung auf atomare Waffen sowie Si-
cherheitsgarantien für die Sowjetunion, sollten neuem Misstrauen als Unsicher-
heitsfaktor für die europäische Stabilität den Nährboden entziehen. In Frankreich
gebe es keine Furcht vor einem aggressiven Deutschland: „Nous sommes amis.
Nous avons confiance, il n’y a pas des craintes.“¹⁸⁵, erklärte Mitterrand George
Bush. Im Osten sei dies ein anderer Fall. Es gäbe Besorgnis in Polen, der Tsche-
choslowakei und der Sowjetunion: „On a peur de la présence allemande, de
l’expansion de l’Allemagne, des revendications territoriales, de son armement
atomique.“¹⁸⁶ Für Mitterrand stellten Angst und Misstrauen bereits einen Schaden
ADMAE 1935-INVA 6124; Ministère de la Défense, Délégation aux Etudes Générales, A. Car-
ton, Note, Synthèse de la note sur le processus d’unification allemande et le nouvel ordre de
sécurité en Europe, 2. Januar 1990.
„La stabilité du continent exige que l’Allemagne unie ait la confiance de tous, de ses voisins
immédiats comme des autres, y compris l’Union des républiques socialistes soviétiques.“ Dumas,
Rede vor der Assemblée Nationale, 10. April 1990, S. 201.
AN, AG/5(4)/CD/74, L’Ambassadeur de France aux Etats-Unis, Rencontre de Key Largo entre
le Président Mitterrand et le Président Bush 19 Avril 1990, Compte-Rendu de la Conversation-
Déjeuner, 19. April 1990.
AN, AG/5(4)/CD/74, L’Ambassadeur de France aux Etats-Unis, Rencontre de Key Largo entre
le Président Mitterrand et le Président Bush 19 Avril 1990, Compte-Rendu de la Conversation-
Déjeuner, 19. April 1990.
AN, AG/5(4)/CD/74, L’Ambassadeur de France aux Etats-Unis, Rencontre de Key Largo entre
le Président Mitterrand et le Président Bush 19 Avril 1990, Compte-Rendu de la Conversation-
Déjeuner, 19. April 1990.
396 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
dar. Er selbst erkenne ein starkes Deutschland als „réalité historique“ an. Da-
hinter verbarg sich sein Verständnis von Staatenbeziehungen basierend auf Ver-
trauen und Solidarität mit einer Akzeptanz von Asymmetrien. Dies entspricht
dagegen nicht dem oftmals vorausgesetzten und durch Wolfram Pyta zu Recht
angeprangerten Antagonismus von Hegemonie und Gleichgewicht.¹⁸⁷ Insgesamt
zeigt sich in diesen Analysen, dass Mitterrand kein reiner Realpolitiker war. Auch
wenn möglicherweise die Angst vor einer deutschen Großmacht unbegründet
gewesen sein mag, so war sich Mitterrand doch bewusst, dass sie politische
Wirkmächtigkeit entfalten konnte, indem dadurch ein Klima der Angst und des
Argwohns auf dem europäischen Kontinent entstehen könnte. Insofern war Em-
pathie Teil von Mitterrands diplomatischer Strategie, die sich darauf ausrichtete,
„Maßnahmen zur tatsächlichen Reduzierung der wahrgenommenen Bedrohung
zu unternehmen.“¹⁸⁸
Insgesamt basierte die französische Haltung während der gesamten Zwei-
Plus-Vier-Verhandlungen laut Bertrand Dufourcq auf vier Prinzipien:¹⁸⁹ Es sollte
eine Lösung der Vergangenheit erarbeitet werden, die sich in Zukunft weder ju-
ristisch noch politisch infrage stellen ließ; Es wurden jedwede Beschlüsse abge-
lehnt, die die Fortentwicklung der europäischen Konstruktion in Zukunft hemmen
könnten; die Qualität der deutsch-französischen Kooperation und damit auch das
deutsch-französische Vertrauensverhältnis galt es zu schützen; Michail Gorbat-
schow sollte in seiner politischen Stellung nicht destabilisiert werden. Hinzufü-
gen ließe sich nach den Erkenntnissen dieser Untersuchung, dass Mitterrand bei
den Aushandlungen Wert darauflegte, keinen Nährboden für das Misstrauen
kleinerer europäischer Staaten gegenüber Deutschland zu bereiten. Der Aus-
handlungsprozess fand jenseits des Forums der Zwei-Plus-Vier statt, da sich
schnell eine Dynamik vieler bilateraler Kontakte im Rahmen anderer Treffen
entwickelte.¹⁹⁰ Letztlich vollzog sich die deutsche Vereinigung am 3. Oktober 1990
„zu den außenpolitischen Bedingungen, auf denen Mitterrand bestanden hat-
te.“¹⁹¹ Während der gesamten Periode blieb die französische Diplomatie dem
doppelten Vorgehen aus prinzipiellem Einverständnis zu einer Wiedervereinigung
und dem Beharren auf gewissen Bedingungen wie dem europäischen Rahmen
sowie demokratischen und friedlichen Vorzeichen treu. Als deutlich geworden
war, dass sich die Entwicklungen beschleunigten, wurde das französische Kon-
zept insofern an die veränderte Realität angepasst, als sich die Prozesse einer
tensystems, bei der die équipe Mitterrand eine gestalterische Kraft entwickelte.
Dies leitet über zum Untersuchungsgegenstand des folgenden Abschnitts.
Dumas, Rede vor der Assemblée Nationale, 10. April 1990, S. 201.
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 147.
Mitterrand, François: Les vœux de M. François Mitterrand. In: Le Monde, 2. Januar 1990. S. 5.
Mitterrand, Vœux, S. 5.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 399
worden waren, sah Mitterrand in der Umbruchsituation 1989/1990 die Chance und
den richtigen Zeitpunkt, öffentlich dafür einzutreten.
Dieses Kapitel untersucht, welche politischen Ordnungsvorstellungen die
équipe Mitterrand entwickelte, um den politischen Umbruch in Osteuropa in neue
Strukturen zu überführen. Die Überwindung der Spaltungen und der schnelle
Zusammenbruch der kommunistischen Regime wurden daher nicht nur als Ri-
siko, sondern auch als Chance zur aktiven Gestaltung einer neuen Ordnung
wahrgenommen. Im Zuge dessen soll auch diskutiert werden, in welchem Ver-
hältnis die Konzeption der équipe Mitterrand zu den Vorstellungen einer Neu-
ordnung der internationalen Staatengemeinschaft stand, die von anderen Ak-
teuren entwickelt wurden. Mitterrands Neujahrsansprache erfüllte in diesem
Zusammenhang unterschiedliche Funktionen, die zueinander in Interaktion
standen und an dieser Stelle untersucht werden sollen.
[1] Eines der grundlegenden Motive von François Mitterrand, mit der Euro-
päischen Konföderation eine Initiative zur Neustrukturierung der europäischen
Staatenbeziehungen zu unternehmen, trug dem sich abzeichnenden Konflikt
zwischen einer Vertiefung und Erweiterung der europäischen Konstruktion
Rechnung. Eine Erweiterung war aus französischer Sicht nur nach einer inneren
Stärkung möglich. Bis dies erreicht war, wurden in den Direktionen von Elysée
und Quai d’Orsay Überlegungen angestellt, welche Alternativen zu einer Mit-
gliedschaft den osteuropäischen Staaten angeboten werden könnten.¹⁹⁹ Die EG
sollte zwar eine aktive Rolle in den Transformationsprozessen im Osten einneh-
men, ohne jedoch das Risiko einer übereilten Erweiterung in Kauf zu nehmen,
durch die bisherige Errungenschaften aufs Spiel gesetzt werden könnten.²⁰⁰ Ende
Oktober legte Jacques Blot dem Elysée eine detaillierte Analyse zu einer doppelten
Kompensation des politischen Umbruchs vor. Demzufolge sollte der Ausbau der
EG weiter fortgesetzt werden, ohne diese jedoch sogleich aus Gründen des
Gleichgewichts in Europa bis an die Grenzen der Sowjetunion auszudehnen. Um
die Entwicklung der osteuropäischen Länder dennoch zu fördern, entwarf er
kollektive oder bilaterale Zusammenschlüsse im Zentrum Europas, die Verbin-
dungen zur EG einerseits und enge Beziehungen zur Sowjetunion andererseits
unterhalten und dieser gleichzeitig Sicherheitsgarantien verschaffen sollten. Als
Überbau für Gemeinschaft, Zentraleuropa und die Sowjetunion schlug Blot eine
Institutionalisierung der KSZE vor, in deren Rahmen paneuropäische Kooperati-
AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Le Directeur, Jacques Blot, Réflexions sur la
question allemande, 30. Oktober 1989.
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 147.
400 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Le Directeur, Jacques Blot, Réflexions sur la
question allemande, 30. Oktober 1989.
Bozo, Frédéric: The Failure of Grand Design: Mitterrand’s European Confederation, 1989 –
1991. In: Contemporary European History 17 (2008) 3. S. 399.
AN, AG/5(4)/CDM/35, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, Discussion sur l’avenir de l’Europe et compétences des divers
organismes, 16. November 1989.
AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Le Directeur, Jacques Blot, Le Reveil de
l’histoire, 16. November 1989.
„Lecture du Président [Hervorhebung im Original] Cette note de J. Blot me paraît mériter
votre lecture. JLB [Jean-Louis Bianco]“; AN, AG/5(4)/EG/212, MAE, Direction d’Europe, Le Direc-
teur, Jacques Blot, Le reveil de l’histoire, 16. November 1989.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 401
und Osteuropa aufmerksam und nährte damit wahrscheinlich auch Angst vor
dem, was der Präsident mit „1913“ und „1914“ assoziierte. Mitterrand war sich des
Risikos bewusst und wies seine Mitarbeiter regelmäßig darauf hin, dass sich mit
dem Zusammenbruch des Ostblocks eine Rückkehr von Nationalismen ankün-
dige.²⁰⁶ Aber nicht nur die Veränderungsprozesse im Osten wurden als Heraus-
forderung des Umbruchs wahrgenommen. Auch der atlantische Status Quo stand
mit dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Frage, die sich nun stellte,
zur Disposition. Die Stärkung der Europäischen Gemeinschaft stellte eine Antwort
zur Bewältigung beider Herausforderungen bereit. Mit zunehmender Emanzipa-
tion von den USA rückte auch die Frage einer europäischen Verteidigung als neues
Feld europäischer Kooperation im Rahmen der EG ins Blickfeld. Eine gemeinsame
Verteidigungs- und Sicherheitspolitik wurde jetzt als logische Vervollständigung
einer politischen Union gesehen.²⁰⁷ Bertrand Dufourcq hielt eine europäische
Antwort auf die Veränderungen innerhalb der Atlantischen Allianz für unver-
meidbar. Die wirtschaftliche und monetäre Integration sowie das soziale Europa
wurden von ihm als wichtige Etappen für die Europäische Union gesehen, in der
jetzt auch eine sicherheitspolitische Dimension nicht mehr fehlen durfte.²⁰⁸ So-
lange eine europäische Integration in der Verteidigung noch nicht existierte,
entwickelte Eric Danon, Berater von Roland Dumas, im April 1990 die Idee von
einem Netz aus Kooperation und Solidarität. Für den Ausbau neuer Kooperatio-
nen unter anderem im Bereich der Rüstung schlug er vor, von der deutsch-fran-
zösischen Partnerschaft auszugehen und beispielsweise Möglichkeiten für eine
französisch-britische Zusammenarbeit zu suchen oder insgesamt im Rahmen der
WEU.²⁰⁹ Obwohl er eine gemeinsame Verteidigung innerhalb der Gemeinschaft
als eine langfristige Perspektive begriff, belegt dies doch erstens die deutsch-
französische Keimzelle einer auf langer Sicht europäischen Verteidigung und
zweitens das grundsätzliche Bedürfnis nach größerer verteidigungspolitischer
Eigenständigkeit in der Zukunft.
Die Annahme, dass die Tage der amerikanischen Präsenz in Europa gezählt
waren, motivierte François Mitterrand und seine équipe dazu, eng mit Helmut
Kohl zusammenzuarbeiten und die Stärkung einer gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik zu forcieren.²¹⁰ Die Währungsunion als für die französischen
Akteure notwenige Ergänzung zum gemeinsamen Binnenmarkt und zur Über-
führung der EG in eine politische Union, in der auch der Flügel einer gemeinsa-
men Außen- und Sicherheitspolitik gestärkt wurde, emanzipierte die Europäer
zunehmend aus ihrer Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten. Insgesamt
sollten dadurch wichtige Grundlagen geschaffen werden, Europa in einer neuen
Staatenordnung als drittes Ordnungsmodell zu etablieren. Angesichts der Ver-
änderungen in Osteuropa wurde die Stärkung der westeuropäischen Konstruktion
gar zur doppelten Notwendigkeit: Europa sollte nicht nur künftig zu einem ei-
genständigen Akteur werden, sondern auch zukunftsfähig für die finanziellen,
wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen einer post-Cold War Ära. Da
für Mitterrands paneuropäische Vorstellung von Europa die Vollendung der
westeuropäischen inneren Stärkung beschleunigt werden musste, bedurfte es „a
kind of ‚waiting room‘ for the Central and Eastern Europeans“²¹¹, für den Mitter-
rand mit der Konföderation einen institutionellen Rahmen vorschlug.²¹² Das Motiv,
eine Alternative zu sofortigen Beitrittsgesuchen der osteuropäischen Länder in die
EG anzubieten, war zweifellos zentral. Die Idee von Assoziierungsabkommen
nach dem Beispiel der Türkei und Österreichs hatte der französische Präsident
dafür bereits in verschiedenen europäischen Hauptstädten angesprochen. Eine
Übergangslösung stellte einerseits eine Alternative dar zwischen dem Beitritt zur
EG und der Mitgliedschaft im COMECON und wurde andererseits als Mittel ge-
sehen, die Bindungen dieser Länder zum COMECON und dem Warschauer Pakt zu
lockern.²¹³
[2] Während die équipe Mitterrand die europäische Konstruktion als Stabili-
tätspol in Europa sah, sollten enge Beziehungen zur Sowjetunion die veränderte
Staatenwelt stabilisieren. Es war fundamental, dass sich die Sowjetunion durch
die oben dargelegten Entwicklungen nicht bedroht fühlte. Durch französisch-
sowjetische Kooperationsverträge, Appelle von Helmut Kohl und François Mitt-
errand zur Unterstützung der Sowjetunion beim G7-Gipfel in Houston vom 8. bis
11. Juli 1990 oder auch einen gemeinsamen Brief, um die nationalen Unabhän-
gigkeitsbewegungen in Litauen zu beruhigen, wurde versucht, Michail Gorbat-
schow die kommerzielle, wirtschaftliche und politische Solidarität des Westens zu
demonstrieren.²¹⁴ Im Elysée wurden Konkretisierungen von Gorbatschows Vor-
stellung eines Gemeinsamen Europäischen Hauses und eine veränderte Haltung
gegenüber der EG als Wunsch nach einer Öffnung gegenüber Westeuropa gelesen.
Nachdem sich im Jahr 1989 die Abkehr von der Breschnew-Doktrin bestätigt hatte,
Eastern Europe is pushing away from us completely and there is nothing we can do… It is
becoming more and more evident that the All-European home will get started without us,
without the USSR, which for now (!) can exist in its neighborhood!²¹⁶
AN, AG/5(4)/CDM/48, Fiche, La vision soviétique de l’avenir de l’Europe: la „Maison Com-
mune Européenne“, 29. November 1989.
Chernyaev, Diary 1990, 21. Januar 1990, S. 7.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 31. Januar 1990, S. 948.
Bozo, Failure, S. 398 f.
404 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
denen Erwartungen Rechnung trug. Dies war kein leichtes Unterfangen, da sich
dieser erstens in bereits bestehende Institutionen und Organisationen einfügen
musste und die politischen Rahmenbedingungen zweitens einem raschen Wandel
unterlagen. All den oben ausgeführten Erwartungen gerecht zu werden, war
überdies umso schwieriger, wenn eine Initiative nicht nur rein rhetorisch an der
Oberfläche verharren wollte. Dies schien bei Mitterrands Neujahrsansprache je-
doch der Fall zu sein, weil sein Vorschlag viel zu leisten hatte. Es wird daher die
These aufgestellt, dass die Europäische Konföderation zunächst einmal als eine
Art Slogan diente, der auf strategischer Vagheit beruhte. Zum Jahresanfang 1990
werteten französische Diplomaten und Mitarbeiter des Präsidenten die auslän-
dischen Reaktionen aus. Hubert Védrine bezog sich in seinen Auswertungen am
8. Januar auf Stellungnahmen von Journalisten, Diplomaten und andere Per-
sönlichkeiten. Insgesamt stellte er fest, dass allgemein die Notwendigkeit ver-
standen werde, einerseits auf die Forderungen osteuropäischer Länder zu ant-
worten und andererseits eine Alternative zu sowjetischen und amerikanischen
Vorstellungen anzubieten. Auf andere Fragen fanden die Journalisten und Di-
plomaten in Mitterrands Rede dagegen keine Antworten. Vor allem die Zusam-
mensetzung der Konföderation und insbesondere die Art der Beteiligung der
beiden Supermächte blieben unklar. Ebenso erklärte Mitterrand nicht, mit wel-
chen Kompetenzen und Funktionsmechanismen die Konföderation ausgestattet
und in welchem Verhältnis sie zu bereits existierenden Organisationen stehen
sollte. Die Methoden ihrer Umsetzung hatte der Präsident ebenfalls nicht spezi-
fiziert.²²² In der französischen Botschaft in Moskau wurden die sowjetischen
Einschätzungen gesammelt, die grundsätzlich positiv ausfielen, da eine große
Übereinstimmung mit Gorbatschows Gemeinsamen Europäischen Haus voraus-
gesetzt wurde. Das MID hielt Mitterrands Vorschlag für ein Resultat der Gespräche
in Kiew. Aber auch in Moskau stellte sich die Frage nach einer Beteiligung der USA
und der Beziehung zwischen Konföderation und KSZE.²²³ In Belgien wurde Mitt-
errands Idee insgesamt gut aufgenommen. Der belgische Premierminister wies in
einem Fernsehgespräch auf die Gefahr hin, dass die EG an die Peripherie gedrängt
werden könnte, wenn die Länder Osteuropas zu schnell aufgenommen würden.
Für die Belgier, so der Botschafter, bestehe ein grand design vor allem in einem
dritten Ordnungsmodell auf Augenhöhe mit den USA und der Sowjetunion. Der
KSZE-Prozess wurde in Belgien insgesamt zwar als komplementär aber auch als
Übergangslösung der Entwicklungen gesehen.²²⁴
Der stellvertretende Generalsekretär des Elysée Christian Sautter analysierte
die Konföderation aus einer wirtschaftspolitischen Perspektive und antizipierte
mögliche Einwände, die andere Wirtschaftsmächte gegen eine etwaige Zusam-
mensetzung einer künftigen Europäischen Konföderation hegen könnten. Die
Sowjetunion könne es sich seinen Berechnungen zufolge nicht leisten, außerhalb
eines Zusammenschlusses zu stehen, der in etwa das Vierfache an wirtschaftli-
chem Potential entwickle. Die EG könne die Sowjetunion dagegen nur daran
beteiligen, wenn sie einen starken politischen Pol bilde, da die Sowjetunion ein
größeres Wirtschaftspotential besitze als jeder europäische Mitgliedstaat. Da die
USA schon ihre Schwierigkeiten mit der Perspektive eines föderativen Europas
bestehend aus 12 Mitgliedern hätten, das ihrem Wirtschaftspotential um 20 Pro-
zent unterliege, bezweifelte er stark, dass Washington bereit sein könnte, eine
Konföderation ob ohne oder gar mit der Sowjetunion zu akzeptieren.²²⁵ Die in-
nenpolitische Opposition in Frankreich grenzte sich stark von der Konföderati-
onsidee ab. Elisabeth Guigou schob kritische Kommentare auf eine mangelhafte
Lektüre von Mitterrands Rede. Ganz im Gegenteil zur Kritik von Jacques Chirac
und Valéry Giscard d’Estaing gefährde die Konföderation keineswegs die Euro-
päische Gemeinschaft. Zum einen, argumentierte Guigou, habe Mitterrand zwei
Etappen bestehend aus einer Stärkung der EG und einer Assoziierung osteuro-
päischer Länder vorgestellt. Zum anderen hielt sie die Konföderation für eine
Langzeitidee. Als Alternativangebot trage sie dazu bei, die Gemeinschaft vor der
Auflösung zu schützen.²²⁶ Diese unterschiedlichen Erwartungen spiegeln zum
einen wider, dass Mitterrands Vorschlag keine konkreten Ideen einer institutio-
nellen Ausgestaltung zugrunde lagen, sondern er mit der Rede zunächst einmal
auf alle aktuellen Bedürfnisse antworten wollte. Diese Bedürfnisse waren ebenso
heterogen wie die Erwartungen, die von außen an Mitterrands Initiative heran-
getragen wurden. In diesem Kontext reichte die Vagheit der institutionellen
Ausgestaltung den verschiedenen Anforderungen zum Vorteil, da man in ver-
AN, AG/5(4)/6634, MAE, Nazelle, TD Bruxelles 33, Réactions belges sur l’idée de confédé-
ration européenne et le problème allemand, 10. Januar 1990.
AN, AG/5(4)/6634, Présidence de la République, Le Secrétaire Général Adjoint, Christian
Sautter, Note pour J.L. Bianco, Soupeser le „Confédération Européenne“, 2. Januar 1990.
AN, AG/5(4)/6634, Le Chargé [sic] de Mission auprès du Président de la République, Elisa-
beth Guigou, Note pour le Président de la République, Quelques réflexions sur la Confédération
européenne et son articulation avec la Communauté, 11. Januar 1990.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 407
Il me semble aussi que nous n’avons pas intérêt, dans un contexte aussi mouvant à figer
prématurément nos positions par des indications trop précises qui pourraient être dépassées
rapidement par les événements.²²⁹
Von der strategischen Offenheit des Konzeptes versprach sie sich, mit praktischen
oder imaginativen Vorschlägen auf akute Bedürfnisse zu antworten und künftige
Entwicklungen zu antizipieren.
Die Arbeitsweisen der équipe Mitterrand werden anhand dieser Beispiele sehr
deutlich. Anstatt auf politische Planung zu setzen, verfolgten sowohl Dufourcq als
auch Guigou eher eine politische Strategie, die den Zufall integrierte, um hand-
lungsfähig zu bleiben. Konkretisierungen unternahm auch die Beraterin lediglich
für den internen Gebrauch. Im wirtschaftlichen Bereich sah sie besonders
schnellen Handlungsbedarf, damit die osteuropäischen Länder keine Forderun-
gen an die Gemeinschaft stellten. Zudem wollte sie um jeden Preis vermeiden,
dass sich die USA in wirtschaftliche, ökologische und technologische Fragen in
Europa einmischten. In diesen Bereichen schlug sie ein separates Abkommen
zwischen EG und USA vor, um sich nicht auf Vorstellungen von James Baker
einlassen zu müssen, die ihrer Meinung nach einer globalen Kontrolle der euro-
päischen Prozesse gleichkamen. Einen solchen Vertragsabschluss wollte sie bis
1993 aufschieben, um Europa durch die zuvor geschaffene WWU eine bessere
Verhandlungsposition zu verschaffen. Im politischen und militärischen Bereich
hielt sie es allerdings kaum für möglich, die USA auf Abstand zu halten, solange
die deutsche Frage und die künftige Rolle der Allianzen nicht geklärt waren. Die
KSZE hob sie als einziges Forum hervor, in dem über diese Fragen gesprochen
werden könne. Tunlichst zu vermeiden galt es aus ihrer Sicht aber, die KSZE in
irgendeiner Form bei der Ausgestaltung der Europäischen Konföderation einzu-
beziehen, da dies den USA ein Kontrollrecht einräumen würde. Auch die Regelung
wirtschaftlicher Kooperation sei nicht Aufgabe der KSZE. Wie Védrine stellte
Guigou fest, dass keine Organisation bisher die Kompetenz besitze, die Bezie-
hungen zwischen den europäischen Ländern zu organisieren. Konkret schlug
Guigou vor, ausgehend von der Europäischen Gemeinschaft durch die Konföde-
ration die wirtschaftlichen Beziehungen zu den osteuropäischen Ländern zu
vertiefen. Insofern stellte die Konföderation für Guigou eine Übergangslösung dar,
zwischen einem Beitritt zur EG und dem einstigen Status als Satellitenstaaten der
Sowjetunion. Sie orientierte sich in ihrem Entwurf an bereits bestehenden Mo-
dellen und schlug vor, sich am Beispiel der Beziehungen zwischen EG und eu-
ropäischer Freihandelszone zu orientieren. In allen anderen Bereichen hielt sie es
aber angesichts der aktuellen Unwägbarkeiten für angebracht, Entscheidungen
nicht zu überstürzen und alle Möglichkeiten des Dialogs in den verschiedenen
bestehenden Organisationen zu nutzen.²³⁰
AN, AG/5(4)/6634, Le Chargé [sic] de Mission auprès du Président de la République, Elisa-
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 409
Ende Oktober 1989 hatte Mitterrand mit seiner Idee einer Konföderation noch
nicht das Interesse seiner Verbündeten wecken können.²³¹ Bei einer Bewertung
von Mitterrands Neujahrsansprache und der Konföderation insgesamt gilt es in-
dessen zwischen grundsätzlichen Ursachen und konkretem Anlass zu differen-
zieren. Die eingangs herausgestellten Motive für die Konföderation änderten sich
innerhalb von zwei Monaten keineswegs. Eher spitzten sich diese weiter zu, da die
Umsetzung der WWU offensichtlich auch aus anderen Gründen, wie Kohls Zu-
rückhaltung, ungewiss erschien. Mögliche Beitrittsgesuche der osteuropäischen
Staaten sollten ihre Verwirklichung nicht noch als weitere Faktoren behindern,
sondern im Gegenteil dazu führen, den laufenden Prozess zu beschleunigen. Von
einem fertigen Konzept kann bei Mitterrands Initiative keinesfalls die Rede sein.
Vielmehr legt sie Zeugnis darüber ab, dass sich der Präsident einem gewissen
Handlungsdruck ausgesetzt sah. Ausländische wie interne Reaktionen demon-
strieren, dass die Europäische Konföderation bei jedem Akteur unterschiedliche
Assoziationen und Vorstellungen hervorrief. Mit der Vagheit hinsichtlich der
konkreten Ausgestaltung instrumentalisierte François Mitterrand die Wahrneh-
mungen seiner Zuhörer, die an das Konzept ihre eigenen Erwartungen herantra-
gen konnten. Insofern diente die Europäische Konföderation tatsächlich als Slo-
gan, der Interpretationsspielräume offenließ. Die strategische Offenheit des
Konzeptes wurde durch die équipe Mitterrand als notwendig beurteilt, um den
politischen Handlungsspielraum nicht im Vorhinein einzuschränken und von den
politischen Umwälzungsprozessen überholen zu lassen. Hierin liegt der grund-
legende Unterschied zwischen politischer Planung und einer politischen Strate-
gie, die zwar auf gewissen Grundvorstellungen aber keiner konkreten Ausge-
staltung eines künftigen Designs beruhte. Mehr noch als seine eigenen
Vorstellungen zur Neugestaltung einer künftigen Staatenordnung in die Waag-
schale zu werfen, unternahm Mitterrand mit seiner Rede in erster Linie einen
Vorstoß, an den internationalen Entwicklungen zu partizipieren. Dies leitet über
zum konkreten Anlass, der den Präsidenten motivierte, die Konföderation am
Silvesterabend vor einem Millionenpublikum abermals zu lancieren.
Am 12. Dezember 1989 hatte der amerikanische Außenminister James Baker
in Berlin seine Vorstellungen einer künftigen Staatenordnung präsentiert, die er
unter dem Schlagwort Neuer Atlantizismus subsummierte. Seine Initiative soll
umgehend aus französischer Perspektive untersucht werden. Es wird von der
These ausgegangen, dass Mitterrands Europäische Konföderation vom 31. Dezem-
beth Guigou, Note pour le Président de la République, Quelques réflexions sur la Confédération
européenne et son articulation avec la Communauté, 11. Januar 1990.
Loth, Europas Einigung, S. 292.
410 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
ber 1989 eine Art dritten Weg zwischen Gorbatschows Gemeinsamen Europäi-
schem Haus und Bakers Neuem Atlantizismus darstellte. Insofern vereinte sie
beides: eine bereits zuvor entwickelte aber nicht konkretisierte und eine letztlich
aus der Not heraus lancierte Idee. Neben allen genannten Anforderungen, die sie
leisten musste, stellte die Neujahrsansprache für Mitterrand auch eine Möglich-
keit dar, Initiative zu ergreifen. Als aktiv Handelnder trat er so in die politische
Debatte um die Gestaltung einer internationalen Staatenordnung der Zukunft ein,
anstatt als passiv Erleidender den Entscheidungen der beiden Supermächte
ausgesetzt zu sein.
Waren die Vorstellungen einer institutionellen Ausgestaltung doch ebenso
unspezifisch wie ihr Verhältnis zu anderen Organisationen, so traf dies nicht für
die Vorstellungen der équipe Mitterrand hinsichtlich der ihr zugrunde liegenden
Struktur multilateraler Staatenbeziehungen zu. Die Konföderation war für Mitt-
errand ein Rahmen, „innerhalb dessen alle Staaten gleichberechtigt einander
gegenüberstehen. Die Großen und Kleinen. So wie das in der EG der Fall sei.“ Er
begriff sie als eine lockere Institution „mit wenig verpflichtenden Bestimmun-
gen“.²³² Auf die gleichen Rechte aller Mitglieder legte er hingegen großen Wert. In
seinem Gespräch mit Helmut Kohl am 15. Februar 1990 wurde deutlich, dass sein
tagespolitisches Hauptaugenmerk nach wie vor der Europäischen Gemeinschaft
galt, wohingegen er seine Ausführungen zu der Konföderation unspezifisch als
Zukunft bezeichnete.²³³ Bemerkenswert daran sind zwei Aspekte: Die Konföde-
ration schien sich offenbar völlig in den Kontext der französischen Détente-Vor-
stellung eines evolutionären Zusammenwachsens beider Teile Europas einzufü-
gen. In gewisser Weise stellte sie eine Übertragung der Entspannungspolitik auf
einen gewandelten internationalen Kontext dar und implizierte eine Einordnung
der äußeren Rahmenbedingungen in französische Langzeitvorstellungen – an-
statt Anpassungsleistungen im Konzept erbringen zu müssen. Ferner beruht die
zugrunde liegende Vorstellung nicht auf Beziehungen zwischen gleichmächtigen,
sondern gleichberechtigten Staaten, in der Asymmetrien akzeptiert, aber nicht
zum Anlass für per se unterschiedlich verteilte Befugnisse genommen wurden.
Insofern orientierte er sich an einem Solidaritäts- und nicht an einem Rivalitäts-
prinzip. Dies schloss Abhängigkeitsbeziehungen der kleineren zu den größeren
Staaten aus, sodass sich die Struktur künftiger Staatenbeziehungen auf ein Ver-
ständnis horizontaler anstatt vertikaler Beziehungen stützte.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Paris, 15. Februar 1990.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 187, S. 850.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Paris, 15. Februar 1990.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 187, S. 850.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 411
Dumas, Rede vor der Assemblée Nationale, 10. April 1990, S. 202.
Bozo, Failure, S. 393.
Vgl. dazu Kapitel 1.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Paris, 15. Februar 1990.
In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 187, S. 850; AN, AG/5(4)/CD/74, L’Ambassadeur de
France aux Etats-Unis, Rencontre de Key Largo entre le Président Mitterrand et le Président Bush
19 Avril 1990, Compte-Rendu de la Conversation-Déjeuner, 19. April 1990.
412 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
AN, AN, AG/5(4)/CDM/35, Présidence de la République, Le Vice Amiral d’Escadre, Chef de
l’Etat-Major Particulier, Lanxade, Note pour Monsieur le Président de la République, Sécurité en
Europe: Position américaine, 9. April 1990.
AN, AG/5(4)/CDM/35, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, Votre rencontre avec le Président Bush; Rôle de l’OTAN,
11. April 1990.
416 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
AN, AG/5(4)/CDM/35, MAE, Le Ministre d’Etat, Roland Dumas, Note à l’attention de Monsieur
le Président de la République, Angehängt ist ein Entwurf für Dumas Rede in der Assemblé Na-
tionale am 10. April 1990, 9. April 1990.
AN, AG/5(4)/CDM/35, MAE, Le Ministre d’Etat, Roland Dumas, Note à l’attention de Monsieur
le Président de la République, Angehängt ist ein Entwurf für Dumas Rede in der Assemblé Na-
tionale am 10. April 1990, 9. April 1990; Dumas, Rede vor der Assemblée Nationale, 10. April 1990,
S. 202.
Dumas, Rede vor der Assemblée Nationale, 10. April 1990, S. 202.
Dumas, Rede vor der Assemblée Nationale, 10. April 1990, S. 201.
418 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
Attalis Argwohn, dass der Umbau der NATO nach amerikanischen Vorstel-
lungen eine Stoßrichtung gegen größere europäische Eigenständigkeit in Si-
cherheits- und Verteidigungsfragen enthielt,²⁵⁷ schien sich beim amerikanisch-
französischen Gipfel in Key Largo zu erhärten. James Baker legitimierte die
Stärkung der politischen Rolle der NATO mit dem Argument, dass die amerika-
nische Truppenpräsenz in Europa dadurch unterstützt werde. George Bush prä-
zisierte dies durch ein subtiles Drohszenario, dass die Zustimmung der ameri-
kanischen Öffentlichkeit zu einer Militärpräsenz in Europa, an der auch François
Mitterrand weiterhin festhalten wollte, abnehmen werde, wenn die USA nicht in
europäische Angelegenheit involviert würden. Dass in dieser Hinsicht die Pläne
für die Europäische Ratstagung in Dublin amerikanisches Missfallen erregten,
verdeutlicht, wie sehr die amerikanische Administration um ihren politischen
Einfluss in Europa fürchtete: Relativierend schickte Baker voraus: Er wolle den
Mitgliedstaaten der EG keineswegs absprechen, sich untereinander zu konsul-
tieren oder ohne Erlaubnis der USA eigene Positionen zu entwickeln. Sogleich zog
er aber eine Grenze: Wenn beim Europäischen Ratstreffen in Dublin Entschei-
dungen getroffen würden, die die Sicherheit beträfen, verursache dies Probleme.
Da die USA in solchen Fragen involviert sein müssten, gelte es sie grundsätzlich
im Rahmen der NATO zu treffen.²⁵⁸ Eine eigenständigere europäische Rolle wi-
dersprach der amerikanischen Vorstellung, die NATO-Mitglieder hinter einer
starken amerikanischen Führung zu versammeln.
Zwar legte Mitterrand dar, dass die transatlantischen Beziehungen auch in
seiner Vorstellung eine elementare Rolle spielten. Seine Ausführungen lassen
jedoch die kategorisch andere Verfasstheit dieser Beziehungen erkennen: Es be-
dürfe institutionalisierter Kontakte zwischen den Staats- und Regierungschefs der
EG und Verantwortlichen der NATO – zwischen einem künftigen Europa und den
Vereinigten Staaten – in Form von Verträgen und Abkommen.²⁵⁹ Damit griff er
Védrines Empfehlung auf, die transatlantischen Beziehungen auf Grundlage einer
amerikanisch-europäischen Charta zu organisieren.²⁶⁰ Dahinter stand die Vor-
stellung von Kooperation zwischen gleichberechtigten Partnern. Einerseits be-
gegnete Mitterrand auf diese Weise dem amerikanischen Misstrauen, aus Europa
AN, AG/5(4)/CD/74, L’Ambassadeur de France aux Etats-Unis, Rencontre de Key Largo entre
le Président Mitterrand et le Président Bush 19 Avril 1990, Compte-Rendu de la Conversation-
Déjeuner, 19. April 1990.
AN, AG/5(4)/CD/74, L’Ambassadeur de France aux Etats-Unis, Rencontre de Key Largo entre
le Président Mitterrand et le Président Bush 19 Avril 1990, Compte-Rendu de la Conversation-
Déjeuner, 19. April 1990.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 9. April 1990, S. 1010.
420 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
gen.²⁶⁴ Das Vakuum, das von der équipe Mitterrand als Chance erkannt wurde, die
transatlantischen Beziehungen neu zu verhandeln, wurde also in Washington als
Gefahr bewertet, der es durch schnelle Anpassungsleistungen vorzubeugen galt.
Bush ging anschließend in die Offensive. François Mitterrand, der einen
NATO-Gipfel frühestens für Ende 1990 veranschlagte,²⁶⁵ wurde durch den ame-
rikanischen Präsidenten am 3. Mai 1990 über dessen Absicht informiert, einen
solchen Gipfel Ende Juni oder Anfang Juli 1990 abhalten zu wollen. Dieser
rechtfertigte seine Entscheidung damit, die Handlungsfähigkeit der Allianz sowie
ihre Bereitschaft zu demonstrieren, sich den politischen und militärischen Ver-
änderungen in Europa anzupassen.²⁶⁶ Diesen amerikanischen Absichten zur
Umgestaltung der NATO-Aufgaben spielten die Verhandlungen um die deutsche
Wiedervereinigung in die Karten, die sich zunehmend auf die Frage einer künf-
tigen Bündniszugehörigkeit Deutschlands konzentrierten. Als Gorbatschow Ende
Mai seinen grundsätzlichen Widerstand gegen eine deutsche NATO-Mitglied-
schaft aufgab, wurde eine politischere Ausrichtung der NATO als Instrument ge-
sehen, der sowjetischen Seite durch eine Abschwächung der militärischen Auf-
gaben der Allianz entgegenzukommen.²⁶⁷ Weder war die Konstituierung einer
europäischen Verteidigung so weit gediehen, noch hatte zu diesem Zeitpunkt in
Europa eine Auseinandersetzung über die künftige europäische Rolle im Bündnis
stattgefunden. Die Verzögerungstaktik von Védrine hatte der Überrumplungs-
taktik von Bush nicht viel entgegenzustellen. Mitterrands Protest gegen den
amerikanischen Entwurf für eine Abschlusserklärung im Vorfeld des Gipfels, für
die die amerikanische Administration den Verbündeten ohnehin nur wenige Tage
Reaktionszeit zugestand, verhallte unbeachtet.²⁶⁸
Der Präsident erhielt unterschiedliche Handlungsempfehlungen aus seinem
Umfeld. Während Admiral Lanxade trotz seiner Desillusionierung angesichts der
amerikanischen Erwartungen Mitterrand von einer zu starken Opposition abriet,
hielt Verteidigungsminister Chevènement es für dringend notwendig, sich von der
Erklärung zu distanzieren. Aus seiner Sicht war der Interessengegensatz zu groß.
François Mitterrand quittierte dies mit einem trockenen: „C’est en effet un problème de ne
pas avoir d’ennemi.“ AN, AG/5(4)/CD/74, L’Ambassadeur de France aux Etats-Unis, Rencontre de
Key Largo entre le Président Mitterrand et le Président Bush 19 Avril 1990, Compte-Rendu de la
Conversation-Déjeuner, 19. April 1990.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 26. April 1990, S. 1029.
AN, AG/5(4)/CDM/35, Antenne spéciale de transmission de l’Elysée, Weißes Haus an Elysée,
Brief von Bush an Mitterrand, 3. Mai 1990.
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 250.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 29. Juni 1990, S. 1077; Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War
and German Unification, S. 279 f.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 421
Nicht nur werde durch die Erklärung die integrierte Kommandostruktur unter
amerikanischer Führung gestärkt. Die neue Doktrin, die atomare Waffen zu
„Waffen des letzten Rückgriffs“ erklärte, sah er in offenem Widerspruch zur
französischen Abschreckungsdoktrin.²⁶⁹ Tatsächlich waren sowohl Mitterrand als
auch seine Mitarbeiter nicht darauf vorbereitet, zu diesem Zeitpunkt in die lange
erwarteten und vorbereiteten Neuverhandlungen der transatlantischen Bezie-
hungen zu treten. Wenn man so möchte, war dies gewissermaßen eine Nachwehe
der Tatsache, dass Mitterrands Konzept zur Überwindung der europäischen und
deutschen Teilung durch den Mauerfall und die anschließende Beschleunigung
der Entwicklung auf den Kopf gestellt worden war. Zwar hatte die équipe Mitter-
rand sich in den ersten Wochen des Jahres 1990 mit der neuen Realität abge-
funden und durch ein intensiviertes Engagement im europäischen Integrations-
prozess an die neue Geschwindigkeit angepasst. Dass sich die Frage nach einer
künftigen Rolle der NATO stellte, bevor die europäischen Überlegungen dazu weit
entwickelt waren, ergab sich aus dem beschleunigten Prozess der deutschen
Vereinigung. Da das Hauptinteresse aller NATO-Partner zu diesem Zeitpunkt der
sowjetischen Zustimmung zur deutschen NATO-Mitgliedschaft galt, kam der
Umbau der NATO nach den Vorstellungen der équipe Mitterrand zu früh.
Während des Londoner NATO-Gipfels am 5. und 6. Juli 1990 blieb Mitterrand
der Verzögerungstaktik dennoch treu und versuchte zweigleisig zu fahren: Er
unterstützte es prinzipiell, der Sowjetunion ein Signal zu senden, dass die At-
lantische Allianz im Begriff war, sich zu wandeln. Für ihn stellte dies jedoch als
Reaktion auf die aktuellen politischen Umstände lediglich eine Etappe dar.
Grundsätzlich wollte er die Möglichkeit zu weiteren Veränderungen innerhalb der
Allianz in der Zukunft offenhalten. Bereits beim ministeriellen Treffen der NATO in
Turnberry am 7. und 8. Juni 1990 war die französische Delegation mit dem Ziel
angetreten, die transatlantischen Beziehungen von Grund auf neu zu verhandeln,
wie Mitterrand und Dumas es Bush und Baker in Key Largo dargelegt hatten.²⁷⁰ In
den Verhandlungen der Außenminister um die Abschlusserklärung von London
zeigte die amerikanische Delegation allerdings keinerlei Kompromissbereitschaft,
und François Mitterrand fand bei seinen europäischen Verbündeten keine Un-
terstützung, die europäische Rolle im Bündnis aufzuwerten. Die Ergebnisse des
Londoner Gipfels stellten insofern eine vorläufige Niederlage für François Mitt-
errand dar, weil er sie als Negierung einer künftigen europäischen Verteidi-
gungsstruktur wertete. Er distanzierte sich daraufhin von allen Aspekten der
Abschlusserklärung, die das integrierte Kommando betrafen. Darüber hinaus
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 257 f.
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 256.
422 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
wurde eine institutionelle Stärkung der KSZE angekündigt, was den geplanten
KSZE-Gipfel in Paris Ende 1990 an Substanz verlieren ließ.²⁷¹
Die Isolierung beim NATO-Gipfel hatte François Mitterrand nicht daran ge-
hindert, nach einer wiedergefundenen Dynamik in seiner Partnerschaft mit Hel-
mut Kohl weiter an den Voraussetzungen für eine künftige Neuverhandlung der
transatlantischen Beziehungen zu arbeiten. Die Erfahrungen der Beschleunigung
im Prozess der deutschen Wiedervereinigung zu Beginn 1990 führten bei Mitter-
rands Beratern dazu, sich beim Präsidenten verstärkt für die Schaffung einer
politischen Union Europas und die Stärkung einer gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik einzusetzen: Im Elysée wurde der Bewusstseinswandel gewis-
sermaßen angestoßen, nachdem sich Kommissionspräsident Jacques Delors
schnell an die Umstände angepasst und am 17. Januar 1990 eine EG-Mitgliedschaft
der DDR öffentlich in Erwägung gezogen hatte. Gleichfalls revitalisierte er die
Debatten um ein politisches Europa, indem er dafür plädierte, die WWU durch
einen Prozess der institutionellen Stärkung der Konstruktion zu begleiten. Eli-
sabeth Guigou folgte zwar nicht Delors Vorschlag einer Föderation, dennoch
empfahl sie Mitterrand nun eine schnelle Initiative für eine politische Union
Europas. Die neue Dringlichkeit erklärt sich erstens aus der Wahrnehmung eines
beschränkten Zeitfensters, in dem die BRD als geteilter Staat noch auf Europa
angewiesen sein werde. Wären beide deutschen Staaten erst wiedervereint, er-
wartete Guigou, dass der deutsche Handlungsspielraum gegenüber dem der an-
deren Europäer wachse.²⁷² Seine Berater drängten den Präsidenten aufgrund
seiner Zurückhaltung fast zu einer gemeinsamen Initiative mit Helmut Kohl. Am
20. März schlug Guigou die Erarbeitung eines Entwurfs mit dem Bundeskanzler
vor; Hubert Védrine regte an, den europäischen Staaten eine gemeinsame Außen-
und Sicherheitspolitik vorzuschlagen.²⁷³ Zweitens führten auch die Wahrneh-
mungen des amerikanischen Neuen Atlantizismus zu einem langwierigen Be-
wusstseinswandel bei Mitterrands Beratern im Elysée. In den Ambitionen, die
NATO politisch auszurichten, las Jacques Attali eine Stoßrichtung gegen eine
Stärkung Europas.²⁷⁴ Da Mitterrand nicht auf das forsche Auftreten der Bush-
Administration vorbereitet gewesen war, sondern erst mit einem gestärkten und
geeinten Europa in die Neuverhandlungen der transatlantischen Beziehungen
hatte eintreten wollen, folgte nach dem NATO-Gipfel eine Desillusionierung, die
Mitterrands équipe produktiv umleitete, indem sie sich nun für die Umsetzung
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 281, 299.
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 184 f.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 20. März 1990, S. 994, 23. März 1990, S. 995.
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 8. April 1990, S. 1009.
5.2 „La sécurité, ce n’est pas la défense.“ – Ordnungskonzepte im Widerstreit 423
einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik als integrale Säule einer po-
litischen Union engagierte, die in der Zukunft womöglich auf den Bereich der
Verteidigung ausgedehnt werden könnte.²⁷⁵
Eine neue Dynamik im europäischen Integrationsprozess profitierte auch
davon, dass die deutsch-französischen Beziehungen nach den Unstimmigkeiten
und Missverständnissen der vergangenen Monate im Frühjahr 1990 zu ihrer alten
Vertrautheit zurückfanden. Dies lag daran, dass sich der Elysée in den ersten
Wochen des Jahres mit der Realität abfand, dass die Wiedervereinigung schneller
verhandelt und erreicht werden würde, als es den ursprünglichen Erwartungen
von Mitterrand und dessen Beratern entsprochen hatte. Helmut Kohl hatte sei-
nerseits aus den Erfahrungen Ende 1989 die Lehre gezogen, sich stärker für Eu-
ropa zu engagieren, um das französische Misstrauen gegenüber seinem euro-
päischen Engagement zu zerstreuen. Auch den anderen Ländern in Europa wollte
er durch eine stärkere Einbindung Deutschlands in die europäische Konstruktion
Ängste vor einer Rückkehr zu deutscher Hegemonie und Revanchismus nehmen.
Sowohl Kohl als auch Mitterrand bemühten sich daher in den ersten Wochen 1990
um eine Rückgewinnung des gegenseitigen Vertrauens und eine Wiederanknüp-
fung an die alte Vertrautheit, indem sie sich gegenseitig ihr europäisches Enga-
gement beziehungsweise das eigene Vertrauen in das europäische Engagement
des anderen und die Bedeutung der deutsch-französischen Partnerschaft versi-
cherten.²⁷⁶ Ihr Gespräch am 15. Februar 1990 wirkt durch die gegenseitige Ver-
gewisserung mithilfe von Freundschafts- und Vertrauensrhetorik fast wie eine Art
klärendes Gespräch der vergangenen Missverständnisse, nach dem sich in den
folgenden Wochen eine neue Dynamik in der deutsch-französischen Zusam-
menarbeit in Hinblick auf den europäischen Integrationsprozess entfalten
konnte.²⁷⁷ Da dazu bereits Forschungsliteratur vorliegt und die Aspekte zum Teil
über den Betrachtungszeitraum und Gegenstand dieser Arbeit hinausführen,
sollen die einzelnen Schritte in diesem Zusammenhang nicht näher untersucht
werden.²⁷⁸ Vielmehr sollen am Ende die Ergebnisse des Jahres 1990 diskutiert und
bewertet werden.
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 313.
Schreiben des Staatspräsidenten Mitterrand an Bundeskanzler Kohl, Paris, 17. Januar 1990;
Schreiben des Bundeskanzlers Kohl an Staatspräsident Mitterrand, Bonn, 25. Januar 1990; Tele-
fongespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, 5. Februar 1990. In: DzD,
Sonderedition Deutsche Einheit, Dok. 138, Dok. 147, Dok. 160, S. 694, 718, 757 f.
Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand, Paris, 15. Februar 1990.
In: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit, Dok. 187, S. 845 f.
Siehe dazu: Loth, Europas Einigung, S. 297– 309.
424 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
Roland Dumas und François Mitterrand hatten gehofft, das Treffen der 35
Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedstaaten der KSZE würde zum bedeu-
tendsten Ereignis des Jahres avancieren.²⁷⁹ Die Idee eines KSZE-Gipfels stand
Ende 1989 vor allem im Kontext, einen internationalen Rahmen für die deutsche
Wiedervereinigung zu finden, was sich angesichts des beschleunigten Prozesses
bald als obsolet erwies. Letztlich lief es also darauf hinaus, dass beim Gipfel zum
Ende des Jahres die deutsche Einheit lediglich anerkannt und bestätigt werden
konnte.²⁸⁰ Im Dezember 1989 standen zwei verschiedene mögliche Ausrichtung
für einen Gipfel zur Disposition. Während Gorbatschow sich für einen Gipfel aller
35 KSZE-Länder einsetzte, regte Bush – obwohl er dies nicht grundsätzlich ab-
lehnte – einen Gipfel der 23 Länder an, die in Wien über die konventionelle Ab-
rüstung verhandelten.²⁸¹ Nachdem Roland Dumas am 13. April 1990 offiziell die
Initiative an seine Amtskollegen lanciert hatte,²⁸² regte Eduard Schewardnadse
eine Institutionalisierung von Gipfeltreffen der KSZE durch regelmäßige Treffen
auf dem Niveau von Ministern und Experten an. Zwar fand der Vorschlag durch
den stellvertretenden Leiter der Abteilung Zentraleuropa im Quai d’Orsay Unter-
stützung für den Zeitraum zwischen dem Pariser Gipfel und dem 1992 in Helsinki
stattfindenden KSZE-Gipfel. Gegen zu starke Strukturen nach dem Beispiel der
EPZ im Rahmen der EG sprach er sich hingegen aus.²⁸³ Nachdem die Londoner
NATO-Erklärung einer Stärkung der KSZE durch jährliche Gipfeltreffen, sowie
einer Institutionalisierung durch ein Sekretariat, Zentren zur Wahlbeobachtung
und Konfliktverhütung und einer parlamentarischen Versammlung zugestimmt
hatte,²⁸⁴ argwöhnte die équipe Mitterrand, dass der NATO-Gipfel alle wesentlichen
Beschlüsse des Pariser Gipfels vorweggenommen habe, was ihm nach den Vor-
stellungen von Dumas und Mitterrand Schlagkraft hätte verleihen sollen.
Mit der Unterzeichnung des KSE-Vertrags und der Charta von Paris für ein
neues Europa fand der KSZE-Gipfel vom 19. bis 21. November trotzdem das er-
Attali, Verbatim 1986 – 1991, 31. Januar 1990, S. 948; Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit
Staatspräsident Mitterrand, Paris, 15. Februar 1990. In: DzD, Sonderedition Deutsche Einheit,
Dok. 187, S. 852.
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 184 f.
AN, AG/5(4)/CD/412, Le Conseiller à la Présidence de la République, Hubert Védrine, Note
pour le Président de la République, La sécurité de l’Europe après Malte et la réunion de l’OTAN,
6. Dezember 1989.
ADMAE 1935-INVA 5877, MAE, TD Diplomatie 7409, Proposition française d’accueillir à Paris
une conference des chefs d’état et de gouvernement des pays membres de la CSCE en 1990,
13. April 1990.
ADMAE 1935-INVA 5877, MAE, Direction d’Europe, Le Directeur-Adjoint, Europe Orientale et
CSCE, Note, Lettre de M. Chevardnadze au Ministre d’Etat, 31. Mai 1990.
Loth, Europas Einigung, S. 268.
Zwischenbilanz 425
hoffte Echo in der Öffentlichkeit. Das Zeitalter der Konfrontation wurde durch ein
„neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“²⁸⁵ für überwunden
erklärt, wodurch das faktisch bereits offensichtliche Ende des Systems von Jalta
einen offiziellen Status fand. Dadurch waren Ende 1990 zwar die Grundlagen
eines neuen Zeitalters nach dem Kalten Krieg gelegt. Aber weder war eine neue
institutionelle Struktur entstanden, noch war der Status, den Europa in einem
künftigen Gebilde einnehmen würde, geklärt. Insofern stellte das Jahr 1989 zwar
eine – um mit Martin Sabrow zu sprechen – „zeitgenössische […] Erfahrungs- oder
Ordnungszäsur“²⁸⁶ dar; retrospektiv erweist sich die Wende von den 1980er zu den
1990er Jahren in den internationalen Beziehungen aber eher als Umbruchphase.
Es wurden Prozesse in Gang gesetzt, durch die die Aushandlung neuer Bezie-
hungsstrukturen in die 1990er Jahren überführt wurde. Mit dem Ersten Golfkrieg
oder den Auflösungserscheinungen der Sowjetunion zeichneten sich beispiels-
weise bereits Entwicklungen ab, die sich erst in den 1990er Jahren entfalteten.
Gleichwohl war durch die Abrüstung und Vertrauensbildung zwischen Ost und
West die Gefahr einer ständigen Eskalation eingedämmt und das Fundament einer
neuen Staatenordnung geschaffen worden, deren Design Gegenstand von Ent-
wicklungen und Aushandlungsprozessen in den 1990er Jahren war.
Zwischenbilanz
Das Jahr 1990 stellt ein Scharnierjahr im Übergang von einer alten Ordnung zu
einer neuen Unübersichtlichkeit und Ungewissheit dar. Prinzipiell wurde dies von
François Mitterrand nicht ausschließlich als Bedrohung, sondern auch als Chance
gesehen, der gleichwohl Risiken inhärent waren. Mit den französischen Détente-
Vorstellungen verfügte der Elysée über ein Konzept zur Überwindung der euro-
päischen und deutschen Teilung, das durch die Entwicklungen 1989 allerdings
vor die Herausforderung einer schnellen Adaption an einen sich wandelnden
Kontext gestellt wurde. Die Erfahrung der Überraschung durch Mauerfall und
Kohls Zehn-Punkte-Plan bewältigten Mitterrands Berater, indem sie ihre politi-
sche Praxis anpassten und weniger auf politische Planung in der Gestaltung einer
neuen Ordnung setzten als vielmehr auf eine strategische Vagheit und Anpas-
sungsfähigkeit ihrer Initiativen. Im Grunde hatte François Mitterrand seit dem
Erklärung des KSZE-Treffens der Staats- und Regierungschefs in Paris vom 21. November
1990. Charta von Paris für ein neues Europa. In: Europa Archiv [EA] 4/1990. S. D656.
Sabrow, Martin: Zäsuren in der Zeitgeschichte. Version 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte,
03.06. 2013. S. 1– 14. http://docupedia.de/zg/sabrow_zaesuren_v1_de_2013 (29.03. 2017).
426 5 Das Ringen um eine neue Ordnung
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification, S. 311.
Siehe dazu: Bozo, Failure; Grachev, Common European home.
Bozo bezeichnete es als Mitterrands „most severe failure at the end of the cold war.“ Siehe:
Bozo, Failure, S. 393.
Zwischenbilanz 427
schiedener Weise als Akteur in Erscheinung und bestätigte damit Trends seit den
1970er Jahren.²⁹⁰
Für historiographische Studien zum internationalen Umbruch Ende der
1980er und Beginn der 1990er Jahre bietet es sich daher an, das Augenmerk auf
die Vorstellungen individueller Akteure zu legen und zu fragen, welche Res-
sourcen sie jeweils für eine Neustrukturierung nutzten. Darüber lassen sich
Konflikte und Missverständnisse in den Aushandlungsprozessen der 1990er Jahre
begreifen. Durch die Rivalität unterschiedlicher Zukunftserwartungen und Ord-
nungsvorstellungen erklären sich auch gewisse „Unvollkommenheiten der Frie-
densordnung“²⁹¹. Während Mitterrand und Gorbatschow zwar beide einen Akzent
auf gemeinsame Sicherheit durch Kooperation und Vertrauen, auf Zusammenar-
beit und Partnerschaft legten, hatte vor allem die Bush-Administration ein sehr
viel realpolitischeres Verständnis internationaler Beziehungen, das auf Macht-
interessen beruhte.
Insgesamt zeigen die Untersuchungen, dass sich der Bewusstseinswandel
vom Ende der Konfrontation und einer eigenverantwortlichen Rolle der Europäer
auf der internationalen Bühne sehr viel langsamer vollzog, als die Ereignisse
politische Gewissheiten infrage gestellt hatten. Dass Valentin Falin den Ausfall
der DDR und das Ende des Warschauer Paktes mit der Zerstörung der sowjeti-
schen Verteidigungsinfrastruktur gleichsetzte,²⁹² demonstriert, dass einstige
Feindbilder nicht etwa neuem Vertrauen gewichen waren. Indem eine neue
Friedensordnung unvollendet blieb, war es nicht gelungen, initiiertes Vertrauen
der Jahre 1985 bis 1990, das sich vor allem auf interpersonaler oberster politischer
Ebene zu entwickeln begonnen hatte, zu institutionalisieren oder auf alle ge-
sellschaftlichen Ebenen nachhaltig durchdringen zu lassen. Dafür war nicht
hinreichend Zeit geblieben, bis der Ostblock als tragende Säule des sowjetischen
Sicherheitsgefühls und Selbstbewusstseins weggebrochen war. Darüber hinaus
haben die Analysen gezeigt, wie selbst über Jahre gebildetes, individuelles Ver-
trauen, wie das zwischen Helmut Kohl und François Mitterrand, anfällig für
Störungen war. Vertrauen im politischen Kontext umfasst also viele Dimensionen
wie Vertrauen auf Regierungsebene, politische Nähe und gesellschaftlichen
Austausch. Insofern basiert zwischenstaatliches Vertrauen – sofern man über-
haupt in einer solch absoluten Kategorie sprechen kann – immer auf unter-
schiedlichen Ebenen, die sich wechselseitig stützen und bedingen.²⁹³ Deutlich
Vgl. dazu unter anderem Romano, Détente in Europe; Romano, Pan-European Cooperation.
Loth, Europas Einigung, S. 277.
Falin, Valentin: Politische Erinnerungen. München 1993. S. 499.
Vgl. Bluhm, Gesa: Vertrauensarbeit. Deutsch-französische Beziehungen nach 1945. In: Ver-
trauen. Historische Annäherungen. Hrsg. von Frevert, Ute. Göttingen 2003. S. 385.
Zwischenbilanz 429
https://doi.org/10.1515/9783110597417-008
Bilanz und Ausblick 431
ropäischen Idee mehr als von europäischen Institutionen standen hinter seiner
Vorstellung die vier Antriebskräfte europäischer Integration:³ Friedenssicherung,
Einhegung der deutschen Frage, Sicherung von Wohlstand und Selbstbehaup-
tung gegenüber den Supermächten. Seine Vorstellungen beruhten außerdem auf
einem Solidaritätsprinzip und insofern auf egalitären anstatt vertikalen Bezie-
hungsstrukturen. Politische Ordnungsvorstellungen der Vergangenheit – von Ri-
chard Coudenhove-Kalergi und Aristide Briand über Léon Blum und Charles de
Gaulle – flossen als historische Dimension in Mitterrands Zukunftsvorstellungen
ein. Obwohl die europäischen Institutionen nicht seiner Idee von Europa ent-
sprachen, akzeptierte Mitterrand diese doch als politische Realität.
Erfahrungen in den ersten Amtsjahren führten zu einer Anpassung seiner
Vorstellung. Um mit Koselleck zu sprechen, stiftete die Erfahrung der Enttäu-
schung bei Mitterrand neue Erwartungen. Ein entscheidendes Moment stellten
hier die Konflikte mit der amerikanischen Administration dar. Durch sie wurde die
équipe Mitterrand gewahr, dass die US-Administration kategorisch andere Vor-
stellungen von Partnerschaft hegte. Anstatt einem Solidaritätsprinzip folgten
diese einem Loyalitätsprinzip und speisten sich aus Asymmetrien zwischen Eu-
ropäern und amerikanischem Patron. Im Kontext der Ost-West-Beziehungen
nahm François Mitterrand 1982 zwar noch keine Vermittlungsrolle zwischen
Moskau und Washington ein, plädierte gleichwohl aber für einen amerikanisch-
sowjetischen Kompromiss, um in der Frage der Euroraketen zu einem Verhand-
lungsergebnis vorzudringen. Keineswegs sprach er sich einseitig „für die Statio-
nierung amerikanischer Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden aus“⁴, son-
dern präferierte ein globalstrategisches Gleichgewicht durch Verhandlungen.
Die politischen Rahmenbedingungen 1981 setzten die équipe Mitterrand ei-
nem Dilemma aus. Solange Europa noch keine politische und verteidigungspo-
litische Eigenständigkeit erlangt hatte, lief Mitterrand mit einer Stärkung des
Bündniszusammenhalts Gefahr, die französische Unabhängigkeit aufs Spiel zu
setzen oder andernfalls durch die sowjetische Strategie instrumentalisiert zu
werden, die das westliche Bündnis zu spalten versuchte. Eine Stärkung der At-
lantischen Allianz lief zudem seinen langfristigen Zukunftsaussichten zuwider,
die europäische Teilung und die militärischen Bündnisse zu überwinden. Sein
politischer Handlungsspielraum schien durch das Misstrauen, das die Verbün-
deten dem sozialistischen Präsidenten entgegenbrachten, zusätzlich einge-
schränkt. Einen Ausweg aus diesem Dilemma fand François Mitterrand in der
Inszenierung eines politischen Kurswechsels, die ihm den Ruf eines „Atlantikers“
eintrug. Zugleich wurde dadurch ein neues Dilemma geschaffen, da die Vertrau-
ensbildung bei den Verbündeten Misstrauen bei der sowjetischen Führung zur
Folge hatte. Auf diese Weise gelang es Mitterrand aber immerhin, seine diplo-
matische Unabhängigkeit zu wahren, die er 1984 medienwirksam inszenierte und
bei seiner Vermittlerrolle zwischen Washington und Moskau ab 1984 als politi-
sche Ressource nutzte.
1984 lässt sich aus verschiedenen Gründen als Scharnierjahr begreifen, in
dem sowohl im europäischen Kontext als auch in den Ost-West-Beziehungen
versucht wurde, Perzeptionen und Blockaden zu überwinden. Die Bildung von
Vertrauen sollte sowohl im europäischen Integrationsprozess als auch in der
Entspannungspolitik eine neue Dynamik entfachen. Zuvor gebildetes Vertrauen in
den deutsch-französischen Beziehungen stellte für François Mitterrand eine po-
litische Ressource dar, um gemeinsam mit Helmut Kohl eine relance européenne
anzustoßen. Auch Angst nutzte der Präsident gelegentlich als Ressource, wenn er
durch seine Gefühlspolitik und imaginierte Zukünfte Bedrohungsszenarien ent-
warf. Dies war unter anderem im März 1983 der Fall, als durch eine Inszenierung
die Drohung im Raum stand, Frankreich könne das Europäische Währungssystem
verlassen. Auch Margaret Thatcher wurde im Vorfeld des Ratstreffens 1984 in
Fontainebleau mit dieser Strategie unter Druck gesetzt. Zweitens unterstützte
Mitterrand als unabhängige Partei die amerikanische und sowjetische Führung
dabei, sich aus ihrer Perspektivität zu befreien, und erleichterte ihnen auf diese
Weise ein gegenseitiges Verständnis als Bedrohungsperzeptionen einen Ent-
spannungsprozess verstellten. Sowohl dem Kreml als auch der amerikanischen
Administration eröffnete er neue Handlungsspielräume. Er wurde so nicht nur
Akteur der Ost-West-Beziehungen, sondern auch zum Mitinitiator der Neuen Dé-
tente.
Die Rollen von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow bei der Aushand-
lung des INF-Vertrags lassen sich erheblich relativieren. Durch seine Strategie
Empathie zweiter Ordnung half François Mitterrand dabei, Bedrohungsperzep-
tionen aufzubrechen und den Entspannungsprozess am Laufen zu halten. Zwei
Momente wirkten sich als Motoren der deutsch-französischen Kooperation mit
europäischer Perspektive in der Verteidigung aus: das amerikanische Angebot an
die Europäer, bei den Forschungen zu SDI zusammenzuarbeiten, sowie die Er-
fahrung des amerikanisch-sowjetischen Gipfels in Reykjavik. Gleichwohl wurden
bei der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Verteidigung auch Grenzen
der Solidaritätsbereitschaft deutlich: Für Mitterrand waren diese erreicht, sobald
die Unabhängigkeit der französischen Nuklearwaffen angetastet wurde, und
Helmut Kohl war nicht dazu bereit, in einen diplomatischen Gegensatz zu den
USA zu geraten. Dahinter standen unterschiedliche Vorstellungen über die eu-
ropäische Rolle im westlichen Bündnis. Während die Bundesregierung eine In-
Bilanz und Ausblick 433
Angst der osteuropäischen Staaten wiederum für Empathie bei seinen westlichen
Partnern warb. Auf diese Weise gelang es ihm, den Generalsekretär grundsätzlich
aus seinem Isolationsgefühl zu befreien. Gorbatschow konnte aufgrund von
Mitterrands Vertrauensbildung und Vermittlung eine deutsche NATO-Mitglied-
schaft akzeptieren, ohne dass daraus bei ihm neue Bedrohungsperzeptionen er-
wuchsen. Dies stützt die Relativierungen, die Frédéric Bozo hinsichtlich der do-
minanten Rolle von Helmut Kohl und George Bush im Vereinigungsprozess bereits
unternommen hat.⁵
Der Umbau der Atlantischen Gemeinschaft kam für Mitterrands Ziel, die
transatlantischen Beziehungen von Grund auf neu zu verhandeln, jedoch zu früh,
da die europäische Eigenständigkeit zu diesem Zeitpunkt nicht hinreichend weit
entwickelt war. Womöglich wäre dies anders gewesen, wenn Mitterrand sich bei
einer Europäisierung der force de frappe kooperativer gezeigt und mit einem so
weitreichenden Schritt auch Helmut Kohls Solidaritätsbereitschaft hätte steigern
können. Mitterrands eigenes Misstrauen und das Misstrauen von Michail Gor-
batschow hatten den französischen Präsidenten daran gehindert, diesen Schritt
zu unternehmen. Helmut Kohl wollte seinerseits zwar auch eine größere Eigen-
ständigkeit durch eine politische europäische Union erreichen. Er scheute aber
letztlich im Sommer 1990 aufgrund der amerikanischen Unterstützung bei den
Verhandlungen um die deutsche Vereinigung den Konflikt mit der US-Adminis-
tration und verharrte in seinem „Sowohl-als-auch“. Mitterrand blieb daher nur
eine Verzögerungstaktik, die dem forschen Auftreten Bushs wenig entgegenzu-
setzen hatte. Damit waren in den 1980er Jahren zwar wichtige Voraussetzungen
für einen Strukturwandel in den transatlantischen Beziehungen geschaffen
worden. Der Aushandlungsprozess, der in seinen Wurzeln bis in die 1970er Jahre
zurückreichte, blieb insofern aber ein Topos in den 1990er Jahren.
Damit ist die Zäsur 1989 – 1991 in erheblichem Maße relativiert, die sich in
Anbetracht der Kontinuitäten mehr als „Erfahrungszäsur“ denn als „Deutungs-
zäsur“ erweist.⁶ Die 1980er Jahre erscheinen so weniger als „the last decade of the
Cold War“⁷, sondern werden zu einer „Vorgeschichte der Gegenwart“⁸. Wenn der
Ost-West-Konflikt als Ordnungsschema auch an Bedeutung verlor, galt es in den
1990er Jahren, mit den Konsequenzen umzugehen, die sich durch die überwun-
dene Teilung sowie die Auflösung der Sowjetunion ergaben. Die Neuverhandlung
der transatlantischen und internationalen Beziehungsstrukturen war unvoll-
ständig geblieben und wurde in den 1990er Jahren unter anderen Bedingungen
Bozo, Mitterrand, the End of the Cold War and German Unification.
Siehe dafür: Sabrow, Zäsuren, S. 7.
Njølstad (Hrsg.), Last Decade.
Doering-Manteuffel [u.a.] (Hrsg.), Vorgeschichte.
Bilanz und Ausblick 435
für sein politisches Handeln nutzen zu können. Dabei wurden oftmals die Ver-
gangenheit und die Zukunft zu seinem Instrument. Rhetorisch erschuf er mal
verheißungsvolle, mal bedrohliche Szenarien künftiger Entwicklungen. Erinne-
rungen an Erlebnisse in der Vergangenheit im Allgemeinen oder in Form von ei-
genen biographischen Bezügen wie dem Zweiten Weltkrieg oder dem Europäi-
schen Kongress 1948 in Den Haag evozierten entweder Ängste oder inszenierten
seine persönliche Vertrauenswürdigkeit. Oftmals schuf er dadurch die Illusion
einer „Entweder-Oder-Entscheidung“ und ließ sein eigenes Handeln als alterna-
tivlos erscheinen. Auch rhetorische Strategien fanden in der Gefühlspolitik einen
Einsatz, indem vertrauensvolle Beziehungen entweder rhetorisch inszeniert oder
durch den expliziten Ausdruck von Empathie etabliert werden sollten. Die In-
szenierungs-Strategie trug letztlich erheblich dazu bei, dass François Mitterrand
Zeitgenossen wie Historikern kaum greifbar erschien und ist letztlich auch für den
Mythos einer „Sphinx“ verantwortlich.⁹ Die akzeptierte und teils forcierte Ambi-
valenz lässt sich als ein Charakteristikum von François Mitterrand herausstellen.
Diese Gefühlsstrategien sind es insgesamt auch, durch die sich die Politik von
François Mitterrand und seiner équipe auszeichnete.
Welche Schlüsse lassen sich daraus für das Verhältnis von Emotionen und
Politik einerseits und für Vertrauensbildungsprozesse andererseits ziehen? Dass
Perzeptionen und Emotionen politisches Handeln beeinflussen, ist nicht neu. Um
die Forschungsergebnisse dieser Studie zu systematisieren, lassen sich drei Ka-
tegorien aufstellen, um die Relevanz von Emotionen in politischen Entschei-
dungsprozessen zu fassen: Sie sind erstens ein Motiv für politisches Handeln.
Mitterrands Entscheidungsprozesse im Kontext der deutschen Wiedervereinigung
waren in hohem Maße von verschiedenen Ängsten motiviert, deren historische
Dimensionen analysiert wurden. Zweitens sind Emotionen Ressourcen für poli-
tisches Handeln, die bei seinen Strategien der Inszenierung, Gefühlspolitik und
Empathie zweiter Ordnung eine Wirkung entfalteten. Bei seiner Rolle als Ver-
mittler nutzte Mitterrand das Vertrauen, das ihm sowohl Ronald Reagan als auch
Michail Gorbatschow entgegenbrachten. Emotionen sind drittens oft das Ziel von
politischem Handeln. Die Vertrauensbildung gegenüber Mitterrands westlichen
Verbündeten nach seinem Amtsantritt ist hier das offensichtlichste Beispiel. Pa-
radox ist, dass auch das Evozieren von Ängsten letztlich dem Ziel der Vertrau-
ensbildung dienen konnte, wenn durch Bedrohungsszenarien beispielsweise
Kräfte für solidarisches Verhalten im Kontext des europäischen Integrationspro-
zesses mobilisiert werden sollten. Letztlich dienten diese Szenarien – wie das
CD (cellule diplomatique)
67
74
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162
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186
187
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262
265
392
412
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189 294, 298, 300, 306, 309, 329, 365, 367
Delors, Jacques 75, 79, 88, 128, 129, 130, Gergorin, Jean-Louis 153, 235, 242
171, 179, 182, 191, 198, 199, 222, 231, Giraud, André 273
287, 355, 364, 367, 422 Giscard d’Estaing, Valéry 10, 15, 50, 51, 52,
De Mita, Ciriaco 332 53, 60, 61, 64, 124, 139, 141, 142, 144,
Desponts, Jacques 337, 338 160, 166, 169, 307, 406
Dobrynin, Anatolij 266 Gorbatschow, Michail Sergejewitsch (Mikhail
Dooge, James 285, 286, 287 Gorbachev) 17, 18, 42, 250, 252, 253,
Dubos, Jean-François 75 254, 255, 256, 257, 258, 259, 260, 261,
Duclos, Michel 101, 188, 207 263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270,
Dufourcq, Bertrand 182, 356, 366, 396, 271, 272, 275, 277, 278, 279, 281, 282,
401, 404, 407, 408 283, 284, 307, 319, 320, 321, 322, 323,
Duhamel, Nathalie 374 324, 325, 326, 327, 329, 331, 332, 333,
Dukakis, Michael 331 334, 335, 336, 337, 339, 342, 345, 346,
Dumas, Roland 56, 71, 76, 91, 116, 123, 348, 349, 350, 351, 354, 357, 358, 359,
148, 169, 198, 200, 223, 227, 230, 239, 360, 365, 366, 370, 372, 374, 375, 376,
241, 252, 253, 257, 269, 281, 285, 287, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 383, 384,
288, 291, 293, 294, 295, 298, 308, 329, 385, 386, 387, 388, 389, 390, 391, 392,
338, 339, 346, 358, 371, 395, 401, 411, 393, 394, 395, 396, 397, 402, 403, 405,
417, 421, 424 410, 420, 424, 428, 432, 433, 434, 436
Dumoulin, J. 183 Gromyko, Andrej 140, 149, 151, 153, 156,
Duroselle, Jean-Baptiste 20 157, 162, 203, 206, 207, 242, 251, 252,
253
Eagleburger, Lawrence 134 Grossouvre, François de 76
Ehmke, Horst 204 Guéhenno, Jean-Marie 342, 343, 384
Ermarth, Fritz 312 Guigou, Elisabeth 75, 179, 200, 210, 240,
241, 242, 254, 256, 287, 288, 289, 296,
Fabius, Laurent 77, 210, 211, 317, 363, 364, 373, 406, 407, 408, 422
Falin, Valentin 428
Fassier, Bernard 326, 327 Haig, Alexander 87, 115, 128, 133
Faure, Maurice 76, 285, 287 Heisbourg, François 79, 204
Ferri, Mauro 228 Hennekinne, Loïc 373, 375
Fischer, Oskar 371 Herbst, Axel 87, 94, 124, 126, 168, 184
Forray, Gilbert 265, 303, 307, 314 Hernu, Charles 62, 63, 68, 75, 79, 88, 159,
François-Poncet, André 50 184, 185, 186, 188, 191, 192, 203, 215,
Froment-Meurice, Henri 145 217, 298, 299
Holleville, Alain 317
Gablentz, Otto von der 101 Honecker, Erich 371
Gaillard, Jean-Michel 102, 210 Howe, Sir Geoffrey 330
Gauer, Denys 177
Gaulle, Charles de 3, 13, 17, 59, 62, 64, 66, Jakowlew, Alexander (Jakovlev, Aleksander)
67, 68, 78, 82, 83, 113, 166, 184, 327, 342
355, 411, 431 Jaruzelski, Wojciech 86, 87, 324
Genscher, Hans-Dietrich 23, 64, 87, 127, Jeanneney, Jean-Marcel 122
134, 176, 177, 179, 184, 185, 205, 206, Jospin, Lionel 80, 204
210, 213, 214, 215, 222, 223, 228, 230,
460 Personenregister
Kissinger, Henry 112, 113, 341, 342, 344, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161,
403 162, 163, 164, 166, 167, 168, 169, 170,
Kohl, Helmut 31, 136, 166, 175, 176, 177, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178,
178, 179, 180, 181, 182, 183, 185, 188, 179, 180, 181, 182, 184, 187, 188, 189,
189, 191, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197,
202, 205, 211, 213, 214, 215, 221, 222, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205,
223, 225, 227, 230, 231, 232, 246, 249, 206, 209, 210, 212, 213, 214, 215, 217,
256, 266, 268, 278, 279, 280, 281, 282, 218, 221, 222, 223, 224, 225, 226, 227,
283, 287, 293, 294, 295, 297, 300, 301, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235,
302, 303, 304, 305, 306, 308, 309, 313, 236, 237, 238, 239, 240, 241, 242, 243,
314, 315, 319, 320, 325, 328, 329, 332, 244, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 251,
341, 347, 349, 359, 360, 362, 363, 364, 252, 253, 255, 256, 257, 258, 259, 260,
365, 366, 367, 368, 369, 370, 372, 374, 261, 262, 263, 264, 265, 266, 267, 268,
375, 377, 378, 379, 381, 382, 383, 384, 269, 270, 273, 274, 275, 276, 277, 278,
385, 386, 388, 389, 392, 394, 395, 397, 279, 280, 281, 282, 283, 284, 285, 287,
401, 402, 409, 410, 411, 422, 423, 425, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 295,
428, 429, 432, 434, 437 296, 297, 299, 300, 301, 302, 303, 304,
Kwizinskij, Julij 97, 158, 206, 207, 208 305, 306, 307, 308, 309, 313, 314, 316,
317, 318, 319, 320, 321, 322, 324, 326,
Lacaze, Jeannou 187, 188, 219 327, 329, 330, 331, 332, 333, 335, 336,
Lafontaine, Oskar 104 337, 338, 339, 340, 341, 342, 343, 344,
Lanxade, Jacques 414, 415, 420 345, 346, 347, 348, 349, 350, 351, 352,
Lassus, Dominique 207 353, 355, 356, 357, 358, 359, 360, 361,
Legras, Guy 230 362, 363, 364, 365, 366, 367, 368, 369,
Lévi, Jean-Daniel 290 370, 371, 372, 374, 375, 376, 377, 378,
Ligatschow, Jegor 386 379, 380, 381, 382, 383, 384, 385, 386,
387, 388, 389, 390, 391, 392, 393, 394,
MacEachen, Allan 107 395, 396, 397, 398, 399, 400, 401, 402,
Margerie, Emmanuel de 311 403, 404, 405, 406, 407, 408, 409, 410,
Masset, Jean-Pierre 150 411, 412, 413, 414, 415, 416, 417, 418,
Mauroy, Pierre 55, 57, 58, 59, 62, 63, 68, 419, 420, 421, 422, 423, 424, 425, 426,
75, 76, 88, 115, 116, 126, 163 427, 428, 429, 430, 431, 432, 433, 434,
Mérillon, Jean-Marie 386 435, 436, 437
Mertes, Alois 188 Modrow, Hans 387
Mitterrand, François 1, 2, 3, 6, 13, 15, 16, Morel, Pierre 76, 77, 92, 93, 99, 101, 109,
17, 18, 19, 23, 24, 31, 35, 36, 37, 39, 41, 158, 178, 179, 190, 195, 196, 197, 212,
42, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 213, 223, 228, 231, 233, 235, 241, 252,
54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 285, 303
66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, Musitelli, Jean 265, 266, 320, 330, 332
77, 78, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88,
89, 90, 91, 92, 93, 94, 96, 97, 98, 99, Nazelle, Xavier Marie du Cauzé de 406
100, 101, 102, 103, 106, 107, 108, 109, Nitze, Paul 97, 108, 158, 206, 207, 208
110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118,
119, 120, 121, 122, 123, 124, 126, 127, Pagniez, Yves 266, 267, 275, 332, 334
129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, Penne, Guy 76
137, 138, 139, 141, 142, 143, 144, 145, Perle, Richard 256, 311
146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, Peyrefitte, Alain 312
Personenregister 461
Wörner, Manfred 185, 186, 216, 298, 300, Yonas, Gerold 256
310
Woronzow, Julij 232, 241, 278 Zagladin, Vadim 149, 160, 332, 381, 382