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Herausgegeben von
C. F. G R A U M A N N und A . MÉTRAUX
Band 16
W
DE
_G
1977
DIE MITMENSCHLICHEN
BEGEGNUNGEN IN DER MILIEUWELT
W
DE
G_
1977
Gurwitsch, Aron
Die mitmenschlichen Begegnungen in der Milieuwelt / hrsg. u. eingeh von
A. Métraux. - Berlin, New York: de Gruyter, 1976.
(Phänomenologisch-psychologische Forschungen; Bd. 16)
ISBN 3-11-004939-2
Tatsache, daß er die „Anmerkung" und „Schlußbemerkung" (a. a. O., S. 379-380 bzw.
380-381) für eine englischsprachige Ausgabe von Aufsätzen (Studies in Phenomenology
and Psychology, Evanston 1966) gar nicht übersetzen ließ; vgl. dazu auch GuRwrrscHs
Bemerkung in seiner „Introduction", a. a. O., S. XV.
3 Vgl. dazu Phenomenology and the Theory of Science, hg. von L. EMBREE, Evanston 1974,
S. 154-158 und S. 211-220.
4 Vgl. dazu die beiden Texte GURWITSCHS „Zur Bedeutung der Prädestinationslehre für die
7 Die erste Pariser Vorlesung verarbeitete Gurwitsch zum Aufsatz „Quelques aspects et
quelques développements de la psychologie de la Forme", journal de Psychologie
normale et pathologique 1936,33, S. 413-470 ; englische Ubersetzung in Studies, S. 3-55.
Vgl. dazu auch „Développement historique de la Gestalt-psychologie", Thaies 1936, 2,
S. 167-176.
8 Auch die Vorlesung zur phänomenologischen Konstitutionsanalyse wollte Gurwitsch
12 Wie die an Dessoir gesandte Kopie ins Bochumer Institut für Philosophie gelangte, läßt
sich nicht mit Exaktheit rekonstruieren. Fest steht, daß sie während einer Auktion in
Leipzig nach 1945 gekauft wurde. Die Kopie trägt den Stempel der Universitätsbiblio-
thek von Leipzig.
Die genannten Motive sind in der Arbeit von 1931 alle mehr oder
weniger zum Tragen gekommen. Die Verallgemeinerung des Themabe-
griffes schafft die Kontinuität von der Dissertation zu den späteren
Schriften (vor allem zu The Field of Consciousness15), während die
anderen Motive eine kritische Einstellung zum traditionellen philosophi-
schen und sozialwissenschaftlichen Denken sichtbar machen, dessen
Voraussetzungen am Beispiel der Intersubjektivität und der Interaktion
nach und nach aufgedeckt werden.
An zwei in der Zeit zwischen 1928 und 1931 erschienenen Werken läßt
sich veranschaulichen, was für Gurwitsch - wie er einmal sagte - zum
„Stein des Anstoßes" wurde, nämlich einerseits an Rudolf Carnaps
Abhandlung Scheinprobleme in der Philosophie von 1928 16 , und anderer-
seits an Husserls 1931 in Paris veröffentlichten, damals nur in der
französischen Ubersetzung von Lévinas und Pfeifer erhältlichen Carte-
sianischen Meditationen17. Im Text von 1931 nimmt Gurwitsch im
Zusammenhang der Analogieschlußtheorie und ihrer Widerlegung an
zwei Stellen auf Carnap bezug (S. 9 und 43). Husserls Schrift wird
dagegen nicht erwähnt. Jedoch geht aus persönlichen Mitteilungen
hervor, daß Gurwitsch besonders der V. Cartesianischen Meditation
(wegen der dort entwickelten Theorie der „analogischen Apperzep-
tion" 18 ) ablehnend gegenüberstand, und daß er damals die Absicht hatte,
Husserls Buch zu besprechen.
Obwohl beide Autoren von extrem gegensätzlichen Positionen ausge-
hen - Carnap vom frühen Logischen Positivismus des Wiener Kreises,
Husserl vom transzendentalen Idealismus - gelangen sie, was das Wissen
vom anderen Ich betrifft, Gurwitsch zufolge wenn nicht zu identischen,
so doch zu sehr ähnlichen Erkenntnissen. Diese lassen sich dahin
zusammenfassen, daß das Verstehen und Erkennen des Anderen auf
einem Analogieschluß beruht. Dies bedeutet zugleich, daß die auf die
Ding- oder Körperwelt gerichtete Erfahrung in bezug auf die Fremder-
kenntnis als die fundierende bestimmt wird.
15 The Field of Consciousness, auf Englisch verfaßt, erschien zuerst in der französischen
Ubersetzung von Michel Butor 1957 in Paris, danach in der Originalfassung 1964 in
Pittsburgh, Pa. Deutsche Ubersetzung von W. D. Fröhlich, erwähnt in Anm. 10, S. IX.
" R . C A R N A P , Scheinprobleme in der Philosophie, [Neuausgabe hg. von G . P A T Z I G ] ,
Frankfurt a. M. 1966.
17 E. H U S S E R L , Cartesianische Meditationen, hg. von S. STRASSER, Den Haag 1950 [ =
Husserliana, Bd. 1],
18 Vgl. H U S S E R L , a.a.O., S. 138.
Husserl setzt das ego als eine „Originalsphäre"19voraus, aus der „alles,
was für mich ist, seinen Seinssinn" schöpft, und versucht dann anhand der
„analogischen Apperzeption", d. h. über die Wahrnehmung ähnlicher
Tatbestände am eigenen wie am fremden Leib und in Analogie zu den
psychischen Ereignissen im Ich, das zu konstituieren, was im Anderen
vorgeht. Carnap dagegen führt die ,,Erkenntnis des Fremdpsychischen in
jedem einzelnen Falle auf die Erkenntnis von Physischem<<2° zurück, weil
das „Fremdpsychische . . . nur als (erkenntnistheoretischer) Nebenteil von
Physischem<<21 auftreten könne. Dies führt bei Carnap zu einer Stufenfol-
ge von „Primaritäten" 22 , die vom Eigenpsychischen über das Physische
zum Fremdpsychischen und schließlich zum Geistigen überleitet23. Doch
muß in jedem Falle der Zugang zum Anderen sekundär erst hergestellt
oder konstruiert werden. Dort muß von der Innerlichkeit des ego zu
derjenigen des alter ego über die Vermittlung der Körperwahrnehmung
eine Brücke geschlagen, hier auf der Basis des wahrgenommenen eigenen
und fremden Körpers ein analogischer Bezug zwischen den sozusagen
hinter oder im eigenen und fremden Körper sich zutragenden Ereignisse
hergestellt werden. Und Carnaps Formulierungen machen genügend
deutlich, daß das zu erkennende oder zu verstehende Fremdpsychische als
„entbehrlicher" 24 Nebenteil zu den Gegebenheiten der sinnlich erfahrba-
ren Dingwelt bzw. zu der in der Innerlichkeit des Subjekts wurzelnden
Selbstgewißheit summativ hinzutritt. Es ist ein leeres X, welches erst im
Lichte der bereits erworbenen Kenntnisse vom unmittelbar Gegebenen
nachträglich erschlossen, ermittelt, induktiv anhand von somatischen und
sonstigen Anzeichen festgestellt werden muß. Es ist aber mit Bestimmtheit
kein den Ding- und Selbstwahrnehmungen ebenbürtiges und diesen
gleichgestelltes Erfahrungsdatum. Und das heißt auch, daß die Fremder-
kenntnis abgeleitet ist: sie stammt nicht unmittelbar aus den - wie Russell
zu sagen pflegte - „hard data" (vgl dazu S. 8).
Analogieschlußtheoretiker (S. 37). Hier ist also nicht so sehr der wunde
Punkt der Einfühlungstheorie, die bei Lipps an die Stelle der Analogie-
schlußtheorie getreten ist, von Interesse, sondern vielmehr die Folgerung,
die Gurwitsch aus der Feststellung zum unerlaubten Ubergang im
Vollzug von Analogieschlüssen zieht. So unterstreicht er die Notwendig-
keit einer Neubestimmung des Wahrnehmungsbegriffes·, gerade weil
dieser in seiner früheren Form sich am physikalisch definierten Reiz
orientiert, taucht das Problem des Zugangs zum Anderen (vgl. S. 27 ff.) als
zu einem jenseits des physischen Bereiches befindlichen (psychischen
oder mentalen) X überhaupt erst auf.
An dieser Stelle färbt die Gestalttheorie auf Gurwitschs Gedankengang
ab. Sowohl in der Phänomenologie der Thematik und des reinen Ich wie
auch später im Bewußtseinsfeld opponiert er gegen das physikalistische
Modell der Wahrnehmung und führt in Abhebung dazu und im Hinblick
auf eine adäquate Bestimmung des Perzeptionsbegriffes die Aufgabe der
Konstanzannahmti28 in - wie es heißt - „erkenntnistheoretischer Inten-
tion" durch 29 . Diese Aufgabe der Konstanzannahme wird dabei in der
Weise interpretiert, daß die Wahrnehmung bzw. die Erfahrung nur dann
sinnvoll bestimmbar ist, wenn nicht vom (physikalisch definierten) Reiz
ausgegangen wird, sondern vom Wahrnehmungserlehnis. „Läßt man die
.Konstanzannahme' fallen und nimmt die Bewußtseinsgegebenheiten
,theorielos', so, wie sie sich in ihrem Eigenwesen geben, verzichtet man
darauf, sie von vornherein an objektiven Reizen zu orientieren, und läßt
gegenüber allen theoretischen Konstruktionen ihr deskriptives Wesen zu
seinem Recht kommen", dann ergibt sich daraus, „daß die Gegenständ-
lichkeiten, von denen als erlebten fortwährend die Rede ist, auch in der Tat
lediglich als erlebte in Anspruch genommen werden dürfen" und daß „es
sich nicht um Dinge, Sachverhalte, Vorgänge schlechthin . . . handelt,
sondern um all das, so wie es jeweils gegeben ist, wie es jeweils
erscheint"30.
Die Verbindung gestalttheoretischer Ideen und der von Theodor Lipps
an der Analogieschlußtheorie geübten Kritik macht eine zweite Folge-
rung Gurwitschs verständlich. Der aus der Aufgabe der Konstanzannah-
me resultierende Wahrnehmungsbegriff ist so beschaffen, daß er „psycho-
28
Vgl. W. KOHLER, „Uber unbemerkte Empfindungen und Urteilstäuschungen", Zeit-
schriftfür Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 1913, 66, 51-80.
29
GURWTTSCH, Phänomenologie der Thematik und des reinen Ich, S. 297.
30
GURWITSCH, a. a. O., S. 296. Vgl. hierzu auch Das Bewußtseinsfeld, §§11 und 12.
Physische heraus. Cassirer zufolge ist für die Erkenntnis des Anderen
diese Wahrnehmung von Ausdrucksphänomenen als Leitfaden, ja sogar
als letzte Grundlage anzusehen. Mag diese programmatische Idee in ihrer
Allgemeinheit den Intentionen Gurwitschs noch so entgegenkommen, so
bemängelt er daran jedoch auch, daß hier - entgegen der Alltagserfahrung
- einem einzigen Phänomenbereich - demjenigen des Ausdrucks -
ausschließlich die tragende Rolle zugewiesen wird (S. 47), wie wenn nicht
auch andere Phänomene für die Fremderfahrung konstitutiv wären. Und
zudem sei in Rechnung zu stellen, daß sich bei Cassirer doch wieder
Spuren der früheren dualistischen Wahrnehmungstheorie fänden. Mit
anderen Worten : Cassirer operiert zwar anfänglich mit einem durchaus
annehmbaren Wahrnehmungsbegriff ; statt sich aber konsequent an ihn zu
halten, höhlt er ihn Schritt um Schritt wieder aus mit der alten Dichotomie
zwischen dem Chaos sinnleerer Empfindungen und dem ganz in der
Innerlichkeit des Subjekts zurückgezogenen Bewußtsein, das diese
Empfindungen durch Synthesen zu einem bedeutungsträchtigen Weltbild
gestaltet oder formt (vgl S. 84-85). Die Einsicht, daß die „Welt der
natürlichen Einstellung", in der von einer solchen Dichotomie nicht die
Rede sein könnte, in der Tat den richtigen Ausgangspunkt darstellt, ist
noch lange nicht gleichbedeutend mit der hierzu erforderlichen radikalen
Ausschaltung von Auffassungen, die mit dieser „Welt der natürlichen
Einstellung" kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind.
Beinahe parallel zu seiner Cassirerkritik entwickelt Gurwitsch seine
Husserlkritik. Doch geht es in dieser nicht mehr allein um das
Wahrnehmungskonzept, sondern allgemeiner um das Verhältnis des
Subjekts zur Welt. Husserl vertritt im ersten Buch seiner Ideen zu einer
reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, auf die sich
Gurwitsch vor allem bezieht, einen noch ganz vom Cartesianismus
beeinflußten Standpunkt : das Subjekt verhält sich erfahrend in intentio-
nalen Akten zur Welt, wobei diese Akte im Sinne vergegenständlichender
cogitationes bestimmt werden. In der Ubergewichtung der vergegen-
ständlichenden Akte ist indes eine gewisse Verfehlung des phänomenal
Vorgefundenen zu erblicken, denn die symbolischen und Kulturbedeu-
tungen, die Werte und ästhetischen Qualitäten wie auch die Ausdrucks-
phänomene werden damit - so Gurwitsch - zu Gegebenheiten, die sich
sekundär auf die gegenständliche, als identisch angesetzte Unterlage
aufschichten (vgl. S. 63 ff.)32. In bezug auf diese sind dann jene Gegeben-
32
Vgl. eine ähnliche Kritik an Husserl in GURWITSCH, Das Bewußtseimfeld, S. 215 ff.
Genauer gesagt: der pathologisch bedingte Rückfall auf die Stufe der
konkreten Einstellung bewirkt, daß ζ. B. dasselbe Werkzeug nicht mehr
als je nach Situation einmal zu diesem, einmal zu jenem Zwecke
verwendbar, oder daß dieselbe Rolle nicht mehr als von verschiedenen
Personen spielbar oder übernehmbar erfahren wird. Doch gerade
aufgrund dieser extremen Befunde wird erkennbar, daß das Verhalten in
der natürlichen Umwelt oder in konkreten Situationen nicht pathologi-
scher Art von Organisationsprinzipien beherrscht wird, die den Erfah-
rungssituationen selbst innewohnen, und nicht von außen an sie
herangetragen werden. Und wenn ein Hammer oder ein Schraubenzieher
zwar nicht ausschließlich in einer (und nur in einer), aber auch nicht in
jeder beliebigen Situation zu irgendeinem Zwecke verwendet werden
kann, eine Manipulation zwar nicht ausschließlich zur Erreichung eines
(und nur eines), aber auch nicht jeden beliebigen Zieles dient, eine Rolle
zwar von mehreren Personen übernommen, aber nicht in allen sozialen
Interaktionen gespielt werden kann, dann sind dies Hinweise darauf, daß
die Umweltsituationen nicht als Summen individueller Elemente, die
einmal so, einmal anders nach Belieben kombiniert werden, sondern von
Anfang an als „Gestalt" funktionaler Beziehungen, als in sich organisierte
oder strukturierte Konstellation aufzufassen sind.
Um den Ubergang von der allgemeinen Analyse der Umwelt-Person-
Beziehung im zweiten zur Untersuchung der drei Interaktions- bzw.
Begegnungsdimensionen im dritten Abschnitt und um den Zusammen-
hang zwischen diesen beiden Abschnitten klarer hervortreten zu lassen,
empfiehlt es sich, an dieser Stelle auf das im Bewußtseinsfeld behandelte
Problem der Gestalt als der formalen Organisation der Erfahrung
einzugehen.
Gurwitsch hat im Anschluß an Wertheimer37 ausgeführt, daß eine
Gestalt - und man könnte bereits hier im Hinblick auf die Interaktion
verallgemeinern und hinzufügen: daß auch die Handlungssituation -
„nicht aus ,Teilen' zusammengesetzt gelten kann, wenn diese ¡Teile' als
autonome Elemente verstanden werden. Genauer gesagt: man kann der
Konfiguration [ = Gestalt] nicht gerecht werden, wenn man sich an die
Eigenschaften und Attribute hält, die ihre Komponenten aufweisen, oder
wenn man sie aus der Konfiguration herauslöst und isoliert betrachtet. Der
Grund dafür liegt. . . darin, daß eine Komponente der Konfiguration [ =
37
Vgl. M. WERTHEIMER, „Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt", I, Psychologische
Forschung 1 9 2 2 , 1, S. 4 7 - 5 8 .
Der Satz, daß jede Interaktion irgendwie strukturiert ist, dürfte sich als
eine Binsenwahrheit ausnehmen. Wie aber Interaktionen strukturiert
sind, und welche Merkmale zu deren Beschreibung und Klassifizierung
als die entscheidenden gelten sollen, scheint eine überaus schwierige Frage
zu sein, wie die vielen sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzungen zu
diesem Problem beweisen. Welchen Standpunkt nimmt nun Gurwitsch
zu diesem Problem ein? Statt die Kategorien „Gesellschaft", „Gemein-
schaft" und „Bund" aus der Soziologie seiner Zeit zu übernehmen, um
mit deren Hilfe die verschiedenen Handlungstypen in den Griff zu
bekommen, verfolgt er vielmehr das Ziel, die Handlungserfahrung und
deren Organisation selbst einer möglichen Einteilung der mitmenschli-
chen Begegnungen in Partnerschaft, Zugehörigkeit und Verschmelzung
zugrunde zu legen. Schon daran ist die phänomenologische Orientierung
seines Vorgehens erkennbar: wie Handelnde sich und die Anderen in
konkreten Situationen auslegen, und wie sie aufgrund dieser Auslegung in
konkreten Situationen miteinander handeln, entscheidet darüber, mit
welchem Interaktionstypus wir es von Fall zu Fall zu tun haben.
1. In der Partnerschaft begegnen sich die Akteure in einem rollenbezo-
genen Situationskontext; ihr Verhalten ist zweckrational auf die Errei-
chung bestimmter Ziele orientiert. So ist in dem vom Autor genannten
Beispiel der Zusammenarbeit (vgl. S. 148 ff.) das Verhalten der einen
Person funktional auf dasjenige der anderen bezogen und umgekehrt.
Alles, was nicht auf die Arbeitssituation verweist, besitzt deshalb auch
keine Stelle innerhalb der Situationskonfiguration, ist kein Bestandteil mit
einer funktionalen Bedeutsamkeit. So wird der Sinn des Verhaltens von
der Situation bestimmt, und nicht von den daran teilnehmenden
Individuen, die austauschbar sind: „Wie wir uns verhalten, in welchem
konkreten Sinne wir Partner sind, das wird . . . durch die Situation
unseres Zusammenseins bestimmt. . . die Situation schreibt uns eine
Rolle vor, die wir übernehmen, so lange wir in der betreffenden Situation
stehen" (S. 154). Wenn zwei Personen (die aber durch andere ersetzbar
sind) einander in die Hände arbeiten, eine dritte Person ihnen dabei
zuschaut, dann ist diese letztere zwar ein real vorhandenes Element der
Umwelt (wie ein Baum oder ein Haus am Horizont es auch sind), besitzt
aber keine funktionale Bedeutsamkeit innerhalb der Arbeitssituation und
trägt damit zu deren Organisation nicht bei. Sobald diese dritte Person
jedoch im Wege steht, tritt sie zwar nicht als ein neuer oder zusätzlicher
Interaktionspartner in die Situation ein, sondern als ein zu umgehendes
oder zu beseitigendes Hindernis ; funktion und formal gesehen verhält es
sich mit ihr als einem Hindernis genau gleich wie etwa mit einem
Regenschauer, der die Arbeit beim Verlegen einer elektrischen Leitung auf
offener Straße stört. Für die Partnerschaft sind mithin sowohl die
funktionale Bedeutsamkeit innerhalb der Handlungssituation als auch das
Spiel und Widerspiel von Rolle und Gegenrolle konstitutiv (vgl. S. 154),
d. h. das, was Litt und Schütz unter dem Titel der „Reziprozität der
Perspektiven" beschrieben haben.
2. Von ganz anderer Art ist die zweite Dimension, nämlich die der
Zugehörigkeit. Gurwitsch charakterisiert sie zuerst negativ dadurch, daß
er sie von den rollenbezogenen Partnerschaftssituationen abhebt. Wie
man in die Begegnungssituationen des ersten Typus eintritt, so verläßt
man sie wieder auch. Dieses Woher und Wohin ist ein rollenfreier
Handlungsspielraum, in dem die unter die Zugehörigkeit fallenden
Begegnungen stattfinden (vgl. S. 166-167). Mit anderen Worten: was in
der Partnerschaft im Hintergrund stand und auch gar nicht zum Thema
gehörte, wird in der Zugehörigkeit zum umfassenden thematischen
Medium41. So erweisen sich die rollenbezogenen Interaktionen als
Episoden innerhalb eines umfassenden Kontextes, den Gurwitsch als
„Lebenszusammenhang" bezeichnet (vgl. S. 174 ff.). Man könnte, jedoch
im Bewußtsein, daß es sich dabei um eine eher metaphorische Redeweise
handelt, den Rubinschen Terminus „Grund" auf die Zugehörigkeit
zu einem Lebenszusammenhang anwenden, innerhalb dessen sich
die rollenbezogenen, funktional organisierten Handlungsepisoden als
„Figuren" abheben.
Als wichtige Momente der Zugehörigkeit nennt Gurwitsch den
gemeinschaftlichen Besitz, die Sprache, die Geschichte, die Sitten und
Bräuche. Alles, was jenseits des Lebenszusammenhanges steht, ist
irrelevant für die Organisation dieser Begegnungsdimension.
3. Weder für die Zugehörigkeit noch für die Partnerschaft sind
Gurwitsch zufolge Gefühle, Affekte oder Emotionen konstitutiv. Anders
verhält es sich bei der Verschmelzung. Dieser Kategorie entspricht die
soziologische des Bundes (Schmalenbach ; vgl. S. 197) bzw. der charisma-
tischen Herrschaft (Weber; vgl. S. 199). Sie gründet sich auf eine
emotionale Identifizierung mit einer charismatischen Person, und in der
Folge davon auf eine gefühlshafte Verschmelzung mit gleichgesinnten
Anderen (den Bundgenossen). Für die strukturelle Beschreibung dieser
Kategorie ist entscheidend, daß die Verschmelzung weder von den
41
Vgl. dazu eine ähnliche Überlegung in Das Bewußtseinsfeld, S. 260 f.
An diesem Punkt tritt die Verwandtschaft mit der 1932 von Alfred Schütz
publizierten Schrift Der sinnhafte Aufbau der sozialen We/t43 zutage, die
aber völlig unabhängig von Gurwitsch entstand. Schütz ging, anders als
Gurwitsch, von Max Webers Begriff des „subjektiven Sinnes"44 aus ; die
Frage der Organisation von Interaktionen in der Lebenswelt, wie
Gurwitsch sie verstand, lag ihm damals noch fern. Der Verschiedenheit
45
Gurwitsch und Schütz begegneten sich erstmals im Pariser Exil. Zwischen ihnen
entwickelten sich, besonders nach 1940 in den USA, eine enge Freundschaft und ein
Gedankenaustausch, der intensiver war als es in den Veröffentlichungen zum Ausdruck
kommt. Zu Gurwitschs Interpretation von Schütz vgl. besonders „The Common-Sense
World as Social Reality and the Theory of Social Science", Phenomenology and the
Theory of Science, S. 113-131 ; in Ergänzung dazu vgl. auch „Social Science and Natural
Science. Methodological Reflections on Lowe's On Economic Knowledge", in: R. L.
HEILBRONNER (Hg.) : Economic Means and Social Ends, Englewood Cliffs, Ν . J. 1969, S.
37-55. Schließlich sei auf die vergleichende Studie von M. NATANSON, „The Problem of
A n o n y m i t y in Gurwitsch and Schutz", Research in Phenomenology 1975, 5, S. 5 1 - 5 6
verwiesen.
44 GURWITSCH, Das Bewußtseinsfeld, S. 284.
Ich möchte an dieser Stelle Frau Alice R. Gurwitsch (New York) für die
bereitwillige Überlassung aller für die Vorbereitung dieser Edition
notwendigen Materialien aus dem Nachlaß von Aron Gurwitsch wie auch
für die Unterstützung in allen Phasen der Fertigstellung dieser Ausgabe
sehr herzlich danken. Hilfe und Rat erhielt ich von Lester Embree
(Duquesne University, Pittsbugh, Pa.), Fred Kersten (University of
Wisconsin, Green Bay, Wis.), S. IJsseling (Husserl-Archief te Leuven,
Belgien), C. Evans (New York). Ihnen wie auch den Mitarbeitern des
Verlages sage ich meinen verbindlichen Dank.
Alexandre Métraux
Vorwort VII
ABSCHNITT I
DAS TRADITIONELLE PROBLEM
§ 1 Der Ausgangspunkt der traditionellen Theorien 3
§ 2 Die gemeinsame Wurzel der beiden traditionellen Probleme 6
§ 3 Bewußtseinsphänomenologie als Fundament von Erkennt-
nistheorie und Psychologie 10
§ 4 Zur Analogieschlußtheorie 14
§ 5 Die Bechersche Form der Analogieschlußtheorie 18
§ 6 Der Charakter des Problems als Zugangsproblem 27
§ 7 Die Ausweglosigkeit des traditionellen Problems und die
Richtung der weiteren Untersuchungen 40
ABSCHNITT II
ZUM PROBLEM DES BEGRIFFS EINER NATÜRLICHEN
UMWELT 49
§ 8 Die mitmenschlichen Begegnungen im Horizont der natür-
lichen Umwelt 51
§ 9 Das Ziel der weiteren Untersuchungen 54
§ 10 Husserls Bestimmung der „Welt der natürlichen
Einstellung" 57
§ 11 Der Mitmensch als Gegenstand 73
§ 12 Die Milieutheorie Schelers 82
§ 13 Die Zeugumwelt 95
§ 1 4 Das Aufgehen in der Situation 110
§ 1 5 Das Problem der Zeugidentität 116
§ 1 6 Das implizierte Wissen 120
ABSCHNITT III
DAS GEBUNDENE ZUSAMMENSEIN
§ 1 7 Die Verweisung auf die Mitwelt 137
Bibliographie 225
Namenregister 228
Sachregister 230
Daß es überhaupt ein Problem des Wissens vom Menschen als Mitmen-
schen, d. h. von einem beseelten und bewußten Wesen gibt, liegt an einem
bestimmten bewußtseinsphänomenologischen Ansatz, der in die traditio-
nellen Theorien eingegangen ist und ihnen als Ausgangspunkt dient.
Möglichst allgemein ausgedrückt, d. h. unter Absehen solcher Differen-
zen, denen in einer prinzipiellen Diskussion lediglich die Bedeutung von
Nuancen zukommt, läßt sich dieser Ansatz etwa folgendermaßen
explizieren : alles, wovon wir wissen, was in irgendeinem Sinne für uns in
Betracht kommt, ist uns in Erlebnissen gegeben. Gleichgültig, wie man
das Gegebensein von Gegenständen1 in Erlebnissen interpretiert, — damit
überhaupt etwas als Gegenstand für uns da sei, damit wir in irgendeiner
Weise davon sinnvoll sprechen können — auch wenn wir die Existenz des
Gegenstandes (ζ. B. eines geflügelten Pferdes) oder sogar seine Möglich-
keit (ζ. B. eines viereckigen Kreises) bestreiten — müssen wir Erlebnisse
haben, die in einer wie immer zu verstehenden Beziehung zu den
betreffenden Gegenständen stehen. — Die Erlebnisse, in denen uns etwas
bewußt wird, haben ferner eine Ich-Bezogenheit: sie sind meine
Erlebnisse. Genauso wie sich das Gegebensein von Gegenständen in
Erlebnissen und deren Beziehung auf die Gegenstände auf mannigfache
Weise deuten läßt und daher ein zentrales Problem bildet, ist die
Ich-Bezogenheit der Erlebnisse ein zweites zentrales Problem jeder
derartigen Phänomenologie, - und diese Ich-Bezogenheit ist denn auch in
der Tat in verschiedener Weise verstanden worden. Auf die Differenzen
dieser Interpretationen und Deutungen kommt es uns hier nicht an.
Vielmehr richten wir unser Augenmerk nur darauf, was ihnen deshalb
gemeinsam ist, weil es ihnen als Problem zugrunde liegt. Daß alle
Erlebnisse eine Ich-Bezogenheit haben, heißt : wenn uns ein Gegenstand
in einem Erlebnis gegeben ist, ist uns zugleich gegeben, daß wir den
1 Der Ausdruck „Gegenstand" wird hier zunächst in einem völlig vagen, in keiner Weise
theoretisch festgelegten Sinne verwendet und bedeutet nur: etwas, das für uns in
Betracht kommt. Diese Tatsache aber, daß alles, was immer für uns in Betracht kommt,
als Gegenstand angesprochen wird und eine obschon nie diskutierte und kaum
explizierte „Theorie" enthält (und welcher A n sie ist), wird in § 3 zur Sprache kommen.
2 „Leibhafte" und „originäre" Gegebenheit wird hier in dem Sinne verstanden, in dem
HUSSERL diese Termini geprägt und in seinen Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen Philosophie [erstes Buch], Halle an der Saale 1913, durchgehend
verwendet hat [vgl. z . B . § 24, S. 43 — 44; Husserliana III, S. 52],
3 Das Verhältnis zwischen mir und meinem Körper gehört ebenfalls zu den aus dem
gehen und wieviele Einzelheiten sie auch umfassen mag, niemals kommen
wir über den Bereich physischer Qualitäten und Veränderungen hinaus,
niemals stoßen wir in der Wahrnehmung auf Fremdseelisches.
Dieser bewußtseinsphänomenologische Befund steht in Kontrast zu
den Gewohnheiten unseres alltäglichen Lebens. Wenn uns jemand mit
strahlendem Gesicht etwas erzählt, so erleben wir im Alltag nicht eine uns
verständliche Mitteilung eines Sachverhaltes, die außer von Mundbewe-
gungen auch noch von charakteristischen Verschiebungen der Gesichts-
muskulatur begleitet ist. Vielmehr meinen wir aus seinen Worten
u n m i t t e l b a r seine Freude herauszuhören, sie u n m i t t e l b a r seinem
Gesicht anzusehen. Niemals kommt uns im Alltagsleben der Gedanke,
daß wir das, was in unserem Mitmenschen vorgeht, nicht unmittelbar in
der Wahrnehmung selbst haben. Immer und überall ist unser alltägliches
Verhalten davon geleitet, daß wir u n m i t t e l b a r zu wissen glauben, was in
den Menschen psychisch vorgeht, mit denen wir in den mannigfachen
Weisen umgehen. Ob die anderen Menschen beseelte und bewußte Wesen
sind, wird uns ebenso wenig fraglich, wie der Umstand, daß wir der
Anderen u n m i t t e l b a r ansichtig werden. Es handelt sich hierbei um eine
„Überzeugung" unseres alltäglichen Lebens, die wir immer schon haben.
Wir können uns keiner Zeit erinnern, zu der wir diese Überzeugung
gewonnen hätten, während wir von anderen Uberzeugungen des alltägli-
chen Lebens wohl angeben können, daß sie uns dann und dann, aufgrund
jener bestimmter Umstände erwachsen sind; — ganz zu schweigen davon,
daß es keiner theoretischen oder sonstigen Überlegungen bedarf, noch je
bedurfte, um zu dieser „Uberzeugung" zu gelangen oder sie zu bestärken.
Diese „Uberzeugung" wird im alltäglichen Leben nicht einmal ausdrück-
lich ; wir leben und handeln nach ihr, aber wir pflegen in keiner Weise über
sie nachzudenken, um uns ihrer explizit zu vergewissern. Sie gehört zu
den Selbstverständlichkeiten unseres alltäglichen Lebens, die immer „da
sind".
Aus dem vorhin dargestellten Kontrast ergibt sich für jede von dem
umschriebenen Ansatz ausgehende Philosophie eine Problematik des
Wissens um Fremdseelisches. Genauer besehen stellen sich hier zwei
Fragen. Wenn man auch die Meinung des alltäglichen Lebens, wir hätten
ein unmittelbares Wissen von Fremdseelischem, als Vorurteil und
Irrtum entlarvt, so muß jede auf dem angegebenen Befund aufbauende
Theorie zweierlei leisten : sie muß nicht nur aufzeigen, wie wir zu einem
Wissen von Fremdseelischem kommen, sondern auch den Ursprung jener
angeblichen „Täuschung" aufdecken ; sie muß zeigen, wie wir von dem
angegebenen bewußtseinsphänomenologischen Befund aus zu einem
derartigen Wissen kommen, daß wir glauben, wir entnähmen es
unmittelbar der Wahrnehmung unserer Mitmenschen. Wie komme ich,
dem unmittelbar nur meine eigenen Bewußtseinsinhalte gegeben sind,
dazu, von den Bewußtseinsinhalten eines anderen Menschen etwas zu
wissen? Wie gelange ich dazu, von einem anderen Menschen als von
einem anderen Ich zu sprechen, ihn als Menschen, d. h. als lebendiges,
bewußtes Wesen anzusprechen ? Wie tritt mir der Andere als anderes Ich
gegenüber, und zwar so, daß im alltäglichen Leben mir dieses Wissen in
keiner Weise als problematisch erscheint? — Das zweite Problem betrifft
die Begründung dieses Wissens. Wenn wir auf irgendeine Weise schon zu
dem Glauben gelangt sind, daß wir etwas von den seelischen Vorgängen
unserer Mitmenschen wüßten, wie kann sich dieser Glaube dann
legitimieren? Worin beruht sein Recht, das ihn von einer aufgrund
irgendwelcher psychologischer Mechanismen entstandenen Illusion un-
terscheidet? Wie weist er sich als vernünftig motivierter und fundierter
aus?
Diese beiden Probleme hat man als das psychologische und erkennt-
nistheoretische Problem bezeichnet und unterschieden. Auf diesen
Unterschied von psychologischer oder — wie es zuweilen heißt —
„psychogenetischer" und erkenntnistheoretischer Fragestellung und
Betrachtung ist gerade in neuerer Zeit das größte Gewicht gelegt worden.
Störring4 ζ. B. wendet sich unter Berufung auf diesen Unterschied gegen
die „Analogieschlußtheorie", die nur „psychologische Bedeutung" hat.
Zur erkenntnistheoretischen Rechtfertigung des Analogieschlusses be-
darf es nach ihm „fester Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Tatbestän-
den". Daher kann die Existenz eines fremden Ich nur mit Hilfe des
allgemeinen Kausalprinzips gesetzt werden ; aus diesem allein kann diese
Setzung ihr Recht schöpfen. Während Störring die Analogieschlußtheorie
(die nach ihm dem psychologischen Problem Genüge zu tun vermag)
durch das allgemeine Kausalpripzip erkenntnistheoretisch nur untermau-
ern will, klafft bei anderen Forschern die psychologische und die
erkenntnistheoretische Betrachtung noch stärker auseinander. So findet
Russell5 im Analogieschluß eine einigermaßen zureichende Rechtferti-
gung für den „Glauben" (belief) an die Existenz von Fremdseelischem.
Aber er betont selbst, daß wir diesen „Glauben" immer schon haben,
„not because of any argument, but because the belief is natural to us".
Seine Entstehung scheint Russell, der sich über diesen Punkt nur
gelegentlich äußert, auf „intuition" zurückzuführen, die er als „an aspect
and development of instinct" bezeichnet, ohne dies näher zu analysieren6.
Jedenfalls können wir uns bei aller philosophischen Reflexion dieses
„Glaubens" nicht erwehren, „so that the question whether our belief is
justified has a merely speculative interest" 7 . Die philosophische Reflexion
stellt nur fest, daß dieser „Glaube" — obwohl er logisch ursprünglich ist,
da wir im aktuellen Vollzug keinen Analogieschluß und/oder sonstige
Schlüsse zu ziehen pflegen — dennoch psychologisch abgeleitet, d. h. kein
ursprüngliches Datum ist. Somit gehört er nicht zu den „hard data".
Vielmehr wird er von der Wahrnehmung der Körper anderer Menschen
abgeleitet" „and is felt to demand logical justification as soon as we
become aware of its derivateness"'. Am entschiedensten ist die Unter-
scheidung der psychologischen von der erkenntnistheoretischen Frage-
stellung bei Becher durchgeführt, weil dieser Autor10 für jedes der beiden
Probleme eine vollständig durchgeführte Theorie aufgestellt hat. Auch er
hält den Analogieschluß zur erkenntnistheoretisch-logischen Rechtferti-
gung und Begründung unseres Wissens um Fremdseelisches für notwen-
dig; — aber nur in dieser Funktion, nämlich als substituierte logische
Begründung eines Wissens, das faktisch auf anderem Wege entsteht und
zustande kommt, erkennt er den Analogieschluß an. Für das psychologi-
sche Problem verweist Becher auf die Theorie der „apperzeptiven
Ergänzungen" von B. Erdmann11.
Gegenüber dieser von Becher pointierten, aber auch noch von anderen
Forschern12 außer der genannten vertretenen Unterscheidung des er-
kenntnistheoretischen und psychologischen Problems, müssen wir auf
die gemeinsame Wurzel dieser beiden Probleme hinweisen. Diese liegt
iii dem bewußtseinsphänomenologischen Ansatz beschlossen, auf dessen
Grundlage überhaupt eine Problematik des Wissens um Fremdseelisches
erst entsteht und die sowohl in die erkenntnistheoretische wie in die
„psychogenetische" Betrachtung eingeht. Beide gewinnen erst dadurch
ihren Sinn, daß sie erst auf der Grundlage dieses Ansatzes als eines
bewußtseinsphänomenologischen Befundes verständlich werden. Ge-
meinsame Uberzeugung aller Forscher ist, daß unmittelbar nur Körper-
liches wahrgenommen und erfahren wird. Infolgedessen ist das mit
diesem Körperlichen „verbundene" Fremdseelische ein zu erklärender
bzw. ein zu rechtfertigender Tatbestand13. Diese ursprüngliche Annahme,
die sich auf den genannten bewußtseinsphänomenologischen Befund
beruft und sich an ihm ausweist, ist das gemeinsame Fundament und
Motiv der beiden Betrachtungsweisen, auf deren Verschiedenheit und
Trennung man ein so großes Gewicht zu legen pflegt. So stellt sich das
Problem des Wissens um Fremdseelisches ursprünglich und seiner
Wurzel nach weder als ein erkenntnistheoretisches noch als ein
14 Vgl. z. B. die Selbstverständlichkeit, mit der H. COHEN, Logik der reinen Erkenntnis,
Berlin 1914, S. 91, von der „Empfindung" behauptet, daß es für sie „nur Diskretion gibt,
oder gar nur die Einheit eines Haufens". — Zur Kritik dieser Lehre des „logischen
Idealismus" vgl. N. HARTMANN, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlin/
Leipzig 1925, Kap. 50; ferner die prinzipiellen Bemerkungen von W. DILTHEY,
Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 148 ff.
15 Vgl. A. GURWITSCH, „Phänomenologie der Thematik und des reinen Ich", Psychologische
modifiziert hat. Hume f aßte das Bewußtsein als Schauplatz von Gegeben-
heiten und als Chaos von Inhalten, wobei diese Inhalte als reine Daten, als
bloße Vorkommnisse im Bewußtsein verstanden wurden ; alle Sinnpro-
bleme, wie z. B. das der Einheit und Identität des Gegenstandes, wurden
damit in Tatsachenprobleme umgedeutet, die mit Hilfe der Gesetze
erklärt werden sollten, welche das faktische Auftreten der Bewußtseinsin-
halte als bloßer Daten beherrschen. Diesen Ansatz Humes nimmt Kant
zugleich auf und modifiziert ihn insofern, als das Mannigfaltige der
Vorstellung nun der Bedingung unterstellt wird, „ins Bewußtsein
aufgenommen" werden zu müssen : „wir sind uns a priori der durchgängi-
gen Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen, die zu
unserem Erkenntnis jemals gehören können bewußt als einer notwendi-
gen Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen.. ." 16 „ . . . das ur-
sprüngliche und notwendige Bewußtsein der Identität seiner selbst [ist]
zugleich ein Bewußtsein einer ebenso notwendigen Einheit der Synthesis
aller Erscheinungen nach Begriffen . . Damit ergibt sich ein Bewußt-
seinsbegriff, der den einheitlichen Vollzug der Synthesis des Mannigfalti-
gen als wesentlich erachtet. Bewußtsein haben bedeutet : die „zerstreute
Mannigfaltigkeit" zur Einheit bringen . . .
Was die Problematik der Psychologie angeht, so liegt es für diese auf der
Hand, daß ihre Probleme sich als Folge davon ergeben, was man als
Grundbestimmungen des Psychischen ansieht und worin man dessen
Wesen erblickt (das in der Neuzeit übrigens mit dem Bewußtsein
gleichgesetzt wird) 18 , wie sich ja umgekehrt aus den der Psychologie
zugrunde liegenden bewußtseinsphänomenologischen Ansätzen verste-
hen läßt, warum sich ihr gerade diese bestimmten P r o b l e m e stellen. So
ist es auch von diesem Hintergrund her zu erklären, daß und warum sich
ihr eben diese G e d a n k e n g ä n g e für den theoretischen Aufbau anbieten.
Die entscheidenden Fortschritte auch der Psychologie beruhen im
Grunde stets auf Berichtigungen bewußtseinsphänomenologischer Vor-
aussetzungen, d. h. darauf, daß die Prinzipienfragen der Psychologie
daß ich das Mannigfaltige derselben [sei. der Vorstellungen] in einem Bewußtsein
begreifen kann, nenne ich dieselben insgesamt meine Vorstellungen, denn sonst würde
ich ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich
mir bewußt bin."
18 Vgl. hierzu H. SCHMALENBACH, „Die Entstehung des Seelenbegriffs", Logos, XVI (1927),
S. 313 f.; ferner „Das Sein des Bewußtseins", Philosophischer Anzeiger, IV (1930), § 2.
erneut akut werden. Das gilt für die heutige Gestalttheorie ebenso wie für
Diltheys Idee einer „beschreibenden und zergliedernden Psychologie".
Hinter beiden" steht eine jeweils neue Auffassung der Struktur des
Bewußtseins — neu in bezug auf diejenige, welche den Aufbau der
traditionellen, von Dilthey als „erklärend" und „konstrutiv" bezeichne-
ten Psychologie beherrschte, — ohne daß sich freilich diese neue
Auffassung in Diltheys Arbeiten selbst restlos durchgesetzt hätte.
Aus dem Ausgeführten ergibt sich ¡weder E r k e n n t n i s t h e o r i e noch
Psychologie sind autark. Beide haben ihren U r s p r u n g in der
B e w u ß t s e i n s p h ä n o m e n o l o g i e . Auf den b e w u ß t s e i n s p h ä n o m e -
nologischen Boden als auf ihren U r s p r u n g sind die e r k e n n t n i s -
t h e o r e t i s c h e n und psychologischen Probleme z u r ü c k z u v e r f o l -
gen; sie sind in ihrer M o t i v i e r t h e i t durch bestimmte b e w u ß t -
seinsphänomenologische Fixierungen ihrem Sinne nach auf-
z u k l ä r e n . Weil diese Probleme bis zu ihrem Ursprung zurück verfolgt
werden können, erwächst ihnen gerade in dieser Relativierung hinsicht-
lich der zugrunde liegenden bewußtseinsphänomenologischen Ansätze
ein gewisses begründetes Recht. Von vorgegebenen bewußtseinsphäno-
menologischen Ansätzen aus wird man nämlich auf bestimmte erkennt-
nistheoretische und psychologische Fragestellungen geführt, die auf-
grund jener geradezu unabweislich sind.
Diese Einsicht muß für eine Interpretation der neuzeitlichen Psycholo-
gie und besonders der Erkenntnistheorie leitend sein. Von hier aus können
ferner die tieferen Gründe des Streites um den Psychologismus aufge-
deckt, wie auch die Motive aufgeklärt werden, die auf dem Boden einer
ganz bestimmten Bewußtseinsphänomenologie zu der Idee einer von aller
Psychologie (in jedem Sinne) emanzipierten „reinen" Erkenntnistheorie
führten. Daß es überhaupt zu einem „Erkenntnisproblem" und damit zu
einer Erkenntnistheorie in spezifisch neuzeitlichem Sinne kommen
konnte, liegt wiederum — was hier alles nicht näher ausgeführt werden
kann — an der das Denken der Neuzeit beherrschenden bewußtseinsphä-
nomenologischen Theorie.
Aus diesen Zusammenhängen erwächst auch der von Husserl inaugu-
rierten modernen Phänomenologie das Recht ihres Anspruchs, eine
Fundamentaldisziplin für alle philosophischen Wissenschaften zu sein.
Als Wesenslehre des reinen Bewußtseins und seiner Strukturen soll sie
" Für die Gestalttheorie vgl. besonders M. WERTHEIMER, „Untersuchungen zur Lehre von
der Gestalt", I, Psychologische Forschung, I (1922).
§4 Zur Analogieschlußtheorie
24 J. St. MILL, An Examination of Sir William Hamilton's Philosophy, London 1889, S. 243.
25 „ . . . the generalization merely postulates that what experience shows to be a mark of the
existence of something within the sphere of our consciousness, may be concluded to be a
mark of the same thing beyond that sphere." [S. 244.]
26 Ähnlich wie Mill auch E. MACH, Die Analyse der Empfindungen, Jena 1922, S. 4 und 27 ;
vgl. auch S. 29 : „Die Vorstellungen . . . von dem Bewußtseinsinhalt unserer Mitmen-
schen spielen für uns die Rolle von Zwischensubstitutionen, durch welche uns das
Verhalten der Mitmenschen . . . soweit dasselbe für sich allein (physikalisch) unaufge-
klärt bliebe, verständlich wird." — Zur Kritik des Millschen Verfahrens vgl. A. PRANOTL,
Einführung in die Philosophie, Leipzig 1922, S. 65 f. — Die Millsche Interpolationstheo-
rie führt auf ein prinzipielles biologisches Problem. Wenn eine rein „mechanistische"
Erklärung gegenüber gewissen biologischen Phänomenen versagt, pflegen die „vitalisti-
schen" Forscher, zumal es sich bei diesen Phänomenen um für das betreffende
Lebewesen „sinnvolle" Leistungen, bzw. um „Zweckmäßiges" handelt, psychische
oder quasipsychische Faktoren einzusetzen, die zu dem rein Mechanischen hinzukom-
men und dort weiter helfen sollen, wo man mit einer rein „mechanistischen" Erklärung
nicht auskommen zu können meint. Um diesen Punkt — die Tragweite der
„mechanistischen" Prinzipien in der Biologie — dreht sich die Kontroverse zwischen
„Mechanismus" und „Vitalismus", auf die hier natürlich nicht eingegangen werden
kann. Bemerkt sei nur, daß gerade auf dem Boden der traditionellen strengen
Unterscheidung zwischen Physischem und Psychischem die vitalistische Einführung
psychischer oder quasipsychischer Faktoren eine unerlaubte μετάβασις εις αλλο γένος
darstellt. Ferner liegt diesem Gedankengang die als selbstverständlich genommene
Voraussetzung zugrunde, daß die Unterscheidung physisch/psychisch zusammenfällt
mit der von mechanisch/sinnvoll, so daß also die Alternative blind physisch oder
sinnvoll psychisch nicht nur erlaubt, sondern beinahe selbstverständlich ist. Aber diese
Voraussetzung ist nichts weiter als ein Vorurteil, und die genannte Alternative ist schief
gestellt. Vgl. hierzu W. KOHLER, Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären
Zustand, Erlangen 1924.
28 Vgl. z . B . R . AVENARIUS, Kritik der reinen Erfahrung, Leipzig 1907, Bd. I , S . 1 4 ; Der
menschliche Welthegriff, Leipzig 1912, S. 7 ff. und 255 ff. ; H. CORNELIUS, Einleitung in
die Philosophie, Leipzig/Berlin 1911, S. 325ff.; ebenso MACH, a.a.O., S. 12ff., der das
physikalische Gebiet für vertrauter hält als das des Fremdseelischen.
29 BECHER, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften, S. 87 und 284.
gewiß" ist30. Wenn sich gegen Becher nicht die gleichen Einwände erheben
lassen wie gegen Mill, obwohl die Theorie des ersteren weitgehend mit der
Interpolationstheorie Mills übereinstimmt, so liegt das daran, daß Becher
seinen Ansatz ausdrücklich als „erkenntnistheoretisch-logische Analyse"
und nicht als „psychologische Beschreibung" angesehen haben will". Es
geht ihm weder um eine phänomenologische Kennzeichnung unseres
Glaubens an Fremdseelisches — in dieser Beziehung handelt es sich, wie
er sagt, um eine „im praktischen Leben und in einzelwissenschaftlicher
Forschung. . . selbstverständliche Grundannahme" 32 , noch um deren
psychologische Genese — hierfür verweist er auf „assoziativ-reprodukti-
ve Prozesse", welche die „logisch vollständigen Schlüsse" vertreten oder
abkürzen, ihnen zeitlich vorangehen, und denen wir ohne weiteres
vertrauen, wenn nicht besondere Umstände vorliegen33. Ausschließlich
um die erkenntnistheoretisch-logische Rechtfertigung der vermeinten
„Einsicht in die fremde Seele" geht es ihm. Für diese glaubt er allerdings,
auf den Analogieschluß angewiesen zu sein, insofern als dem nicht durch
Schlüsse vermittelten und anscheinend unmittelbaren Erfassen des
Fremdseelischen eine „logische Begründung substituiert" werden muß.
Diese Leistung kann nach Becher nur der Analogieschluß erbringen34. Er
legt selbst den größten Wert darauf, daß Überzeugungen durch diesen
Schluß nachträglich gerechtfertigt werden, die „nicht aus den logisch
erforderlichen Begründungen, sondern aus irgend welchen anderen
psychologischen Prozessen erwachsen"33. Von da aus wird er dem
phänomenologischen Charakter des betreffenden Wissens eher gerecht,
obwohl dies, wie sich zeigen wird, nur mit Vorbehalten zugestanden
werden kann. Jedenfalls deutet er dieses Wissen, indem er auf dessen
30 Vgl. BECHER, a.a.O., S. 287: „Die sicher wahrgenommenen Realitäten, die unzweifelhaft
gegebenen Bestandteile meines Bewußtseins weisen keineswegs strenge, lückenlose
Gesetzmäßigkeit auf. Soll das Gesamtwirkliche einen streng gesetzmäßigen Zusammen-
hang bilden . .., so müssen Realitäten außerhalb meines Bewußtseins angenommen
werden. Erst wenn ich eine bewußtseinstranszendente Körperwelt und eine Welt des
Fremdseelischen annehme, erscheint die vorausgesetzte strenge Gesetzmäßigkeit des
Gesamtwirklichen möglich."
31 BECHER, a . a . O . , S. 91, ANM.
32 BECHER, a.a.O., S. 293. Dem Sinn dieser Selbstverständlichkeit, den wir soeben
herauszustellen versuchten (vgl. S. 6 und 16 f.), geht Becher allerdings nicht nach.
33 BECHER, a . a . O . , S. 289 f.
34 BECHER, a.a.O., S. 119.
35 BECHER, a.a.O., S. 289 f.
36 Vgl. BECHER, a.a.O., S. 119: Wir „meinen . . . den Schmerz eines weinenden Kindes
direkt zu erfassen, und jedenfalls brauchen wir ihn nicht erst durch Schlußprozesse
festzustellen, sondern mit der Wahrnehmung des Weinens . . . ist auch sofort unser
Wissen um den Schmerz da".
37 Vgl. M. SCHELER, Wesen und Formen der Sympathie [abgekürzt : Sympathie], Bonn 1923,
S. 274 ff. [G. W. 7, S. 232 ff.]. Vgl. ferner BECHER, a.a.O., S. 288.
38 Vgl. E. CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III, Berlin 1929, S. 97.
Inwiefern die weiteren Ausführungen Cassirers, daß der Analogieschluß nur eine
Hypothese, „eine provisorische Annahme, eine bloße Wahrscheinlichkeit" begründen
kann, so daß „damit ein Satz, der für das Ganze unseres Weltbildes und unserer
Wirklichkeitsauffassung von wahrhaft universeller Bedeutung ist, auf die denkbar
schmälste erkenntnistheoretische Basis gestellt" ist, die Position Bechers treffen, dem es
um eine nachträgliche Begründung einer bereits vorher und anderweitig, d.h.
unabhängig von dieser Begründung erwachsenen Überzeugung geht, bleibe hier
dahingestellt.
35 V g l . BECHER, a . a . O . , S . 2 7 9 f f .
43 Vgl. hierzu auch SCHELER, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik
[abgekürzt: Formalismus], Halle 1927, VI, 3, e [S. 413-431 ; G. W. 2, S. 397-412],
44 Vgl. BECHER, a.a.O., S. 290 f.
denn in den von Scheler und Becher betrachteten Fällen handelt es sich
nicht um einen gleichsam· von außen eingeführten Zweifel, d. h. nicht um
jenen Versuch des universalen Zweifels, den wir gegenüber jedem Meinen
und Glauben willkürlich üben können, wie er etwa von Descartes
entwickelt wurde. Vielmehr ist der Zweifel hier konkret und den
Phänomenen immanent, weil er aus ihnen selbst erwächst. Würde man
sich darauf berufen, daß der Andere, wenn ich seinen Zorn nicht für echt
halte, wo ich ihm seinen Zorn glaube, so führt diese Berufung lediglich auf
ein von jenem anderen und früheren Zornerlebnis qualitativ verschiede-
nes Zornerleben, wie etwa dem lächelnden Gesicht eine qualitativ andere
Freude entspricht als dem lachenden. Niemals aber reichen derartige
Verschiedenheiten aus, um im einen Fall einen glatten Glauben, im
anderen den Verdacht der Vortäuschung zu motivieren. — Wenn Becher
die Fälle, bei denen Zweifel und Verdacht aufkommen, zur Stützung
seiner allgemeinen Analogieschlußtheorie verwendet, so stellt er sie in
eine Reihe mit jenen anderen Fällen des glatten und sicheren Vollzugs4'.
Damit übersieht er einen tiefen phänomenologischen Unterschied. Die
selbstverständliche Alltags-„Uberzeugung" steht zum Zweifel und Ver-
dacht der Vortäuschung nicht in dem Verhältnis eines „Urglaubens" zu
einer „modalisierten Glaubensweise" 4 '; denn der Zweifel betrifft gar
nicht diese unsere Alltagsmeinung. Vielmehr zweifeln wir, ob der andere
Mensch wirklich das erlebt, was er zu erleben in Worten oder mimisch
vorgibt. Die „Urdoxa", die zum Zweifel als „modalisierter Glaubenswei-
se" gehört, und auf die er in „noematischer Intentionalität" zurückweist,
ist hier der „schlichte Glaube", daß nämlich der Andere das betreffende
Erlebnis wirklich hat. Gerade darin bekundet sich der Zweifel als ein im
angegebenen Sinne konkreter. „Urdoxa" und „modalisierte Glaubens-
weise" sind beide ihrem Sinne nach auf jene Alltagsmeinung zurückzu-
führen, dergemäß der andere Mensch ein beseeltes Wesen und kein
Automat ist. Erst auf dem Grunde dieser Alltagsmeinung sind „Urdoxa"
und Zweifel in ihrem Verhältnis zueinander möglich. Wenn der Mit-
mensch bereits als Mensch (und nicht als Automat) vorausgesetzt wird,
hat es überhaupt einen Sinn, ihm ein bestimmtes Erlebnis zu glauben oder
daran zu zweifeln. „Urdoxa" und „modalisierte Glaubensweise" impli-
zieren also jene Alltagsmeinung, um deren erkenntnistheoretische Be-
gründung es sich handelt, weil sie nämlich erst auf der Basis dieser
Voraussetzung „möglich", d. h. sinnvoll werden. Dann aber können
49 Vgl. hierzu HUSSERL, Ideen, §§ 103 ff. [Husserliana III, S. 256 ff.].
50 Das im Vorstehenden Ausgeführte beziehen wir nur auf den Bereich des Mitmenschli-
chen. Die Frage der Beseeltheit der Tiere, zumal der niederen, können wir in dieser
Arbeit unerörtert lassen, was sich durch ihr Thema rechtfertigt. —
51 Uber das Zusammensein in einer Situation vgl. S. 148 ff.
von dieser Intention her ist alles, was er mit dem Kranken tut und spricht,
geleitet. Der Kranke lebt seinerseits in seiner Welt, die wir eine
pathologische nennen ; von und aus ihr heraus spricht er zum Arzt. Für
den Arzt ist der Kranke kein Situationspartner, mit dem zusammen er in
einer gemeinsamen Situation und gemäß dem Sinne dieser Situation etwas
tut, wie es etwa sein Kollege ist, mit dem er einen Fall berät. Vielmehr ist
der Kranke ein Gegenstand, den der Arzt erkennen und bestimmen
will. Sowohl der Arzt wie der Kranke hat je seine eigene Situation, wobei
es der Sinn der Situation des Arztes ist, in die Welt des Kranken
einzudringen, die er aber mit dem Kranken nicht als gemeinsame teilt.
Daher besitzt das Sprechen des Arztes mit dem Kranken auch nicht die
Struktur des „Miteinandersprechens", wie sie Löwith52 herausgestellt hat,
weil Arzt und Kranker im eigentlichen Sinne gar nicht „miteinander
sind". Vielmehr dient dieses Sprechen (wie alles, was der Arzt sonst noch
an dem Kranken tut) der Erforschung und Bestimmung eines psychischen
Zustandes und erhält von dieser Intention her seinen Sinn, nicht aber —
wie beim echten „Miteinandersprechen" — aus dem konkreten Zusam-
mensein in einer konkreten Situation. Wenn nun der Arzt in dieser seiner
Haltung zum Kranken, die sich von derjenigen des alltäglichen Verkehrs
mit anderen Menschen prinzipiell abhebt53, Schlüsse und im besonderen
Analogieschlüsse verwendet, so schließt er, wie noch bemerkt sei, nicht
von sich auf den Patienten, sondern vielmehr von den durch hohe
Regelmäßigkeit ausgezeichneten Beobachtungen an anderen Kranken auf
das, was bei diesem Patienten zu vermuten ist. Dieser Schluß aber ist
etwas anderes als der von der Analogieschlußtheorie behauptete54.
52 K. LOWITH, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, München 1928, § 27.
53 Die hier zum Vorschein kommende radikale Differenz von „Sein-in . . ." und
„Stehen-gegenüber . . . " , wird, wie schon jetzt bemerkt sei, für die weiteren Untersu-
chungen dieser Abhandlung fundamental und entscheidend sein.
54 Vgl. TH. LIPPS, Zur Einfühlung, Leipzig 1913, S. 444; ferner SCHELER, Sympathie, S. 277
55 Vgl. z.B. B. ERDMANN, Erkennen und Verstehen, S. 1257ff.; ferner A. PRANDTL, Die
Einfühlung, S. 24 ff.
56 Über den blinden Zwang des Assoziationsgesetzes" vgl. PRANDTL, Das Problem der
Wirklichkeit, München 1926, S. 111.
Zur Parallele mit dem Aberglauben, vgl. H. TAINE, De l'intelligence, Paris 1878, Bd. II, S.
237, Anm.
57 Th. LIPPS, Das Wissen von fremden Ichen. Leitfaden der Psychologie, Leipzig 1909, S.
48 ff. ; Zur Einfühlung vgl. Kap. XIII.
schlußtheorie erbracht. Mit Recht sieht er das Problem darin, daß ein
Ubergang zu einer neuen Tatsache, ja sogar zu einem neuen Tatsachenbe-
reich vollzogen werden muß. Vom unmittelbar Gegebenen (d. h. von
meinen eigenen Erlebnissen, die in einer bestimmten Weise mit meinen
körperlichen Bewegungen verbunden sind, und von wahrgenommenen
physischen Vorgängen in der Welt, die mit meinen körperlichen
Bewegungen eine Ähnlichkeit besitzen) muß der Schritt in ein Gebiet
getan werden, das erst durch diesen Schritt zugänglich werden
kann. Damit hat Lipps das Problem, wie es sich vom traditionel-
len Ausgangspunkt her stellt, radikal umschrieben : es handelt
sich um das Problem des Zugangs zum Fremdseelischen. Die
Frage ist also nicht, wie man dazu kommt, einem anderen Menschen hic et
nunc gerade diesen und keinen anderen psychischen Zustand zuzuschrei-
ben, sondern vielmehr, wie man — vom vorgegebenen Ansatz aus —
überhaupt zum anderen Menschen als Menschen kommt, wie sich uns der
Andere als Mensch erschließt, wobei „erschließen" in dem hier gemeinten
Sinne immer „zugänglich" und „ausweisbar werden" heißt. Diese
Einsicht in den Charakter der vorliegenden Problematik erwuchs Lipps
aus der Kritik der Analogieschlußtheorie, die - wie er ausführt - niemals
auf das Erleben des Mitmenschen, d. h. nicht auf den Zorn „des von mir
verschiedenen Ich" führt, sondern stets nur auf eigene frühere
Erlebnisse, ζ. B. auf meinen früher erlebten Zorn. Das „fremde Ich"
wird von der Analogieschlußtheorie nicht erreicht, sie kommt an es nicht
heran. Aus dem Umkreis eigenen Erlebens vermag diese Theorie nicht
herauszuführen. Das aber bedeutet, daß sie den Zugang zum Fremdseeli-
schen nicht eröffnen kann58. Von dieser Kritik, die Sinn und Charakter des
traditionellen Problems vom Fremdseelischen sichtbar werden läßt, wird
prinzipiell jede Theorie betroffen, die sich auf irgendwelche psychischen
Mechanismen beruft, dank derer sich so etwas wie ein Glaube oder ein
Wissen von Fremdseelischem herausbildet. Keine derartige Theorie (wie
sogleich zu zeigen sein wird, gehört auch die Lippsche Einfühlungstheo-
rie zu diesem Theorietypus) kann das leisten, was von der traditionellen
Ausgangsposition her geleistet werden muß : nämlich den Schritt aufzu-
weisen, der vom phänomenal Vorgefundenen zum völlig neuen Bereich
einer beseelten Menschenwelt führt.
58 Ähnlich SCHELER, Sympathie, S. 277 [G. W . 7, S. 234], Der von J . GEYSER, Lehrbuch der
allgemeinen Psychologie, Münster 1912, S. 275 f. gegen die Lippssche Kritik erhobene
Einwand, den BECHER, a.a.O., S. 291 ff. sich zu eigen gemacht hat, verkennt die hinter
dieser Kritik stehende Einsicht in den Charakter des Problems als Zugangsproblem.
Die Frage des Zugangs zum Bereich des Fremdseelischen stellt sich als
der entscheidende Punkt der traditionellen Problematik insgesamt heraus.
Für jede Lehre, die auf diesem Boden aufbaut, geht es um die eine Frage :
wie kommt man an den Bereich des Fremdseelischen heran, wie vollzieht
man den Schritt, dessen Vollzug den Zugang zu dem fraglichen Gebiet erst
eröffnet? Ein derartiges Problem verweist seinem Sinne nach auf Akte, in
denen das betreffende Gebiet spezifisch erfahren wird. Den Zugang zu
einem Seinsgebiet eröffnen, bedeutet für eine phänomenologische Analy-
se : jene Akte angeben, die spezifisch diesem Gebiet zugehören5'. Das ist
der Aspekt, unter dem die „Einfühlungstheorie" von Lipps gesehen
werden muß : dieser Autor beabsichtigt, Akte aufzuweisen, die für das
Fremdseelische als erfahrende Akte fungieren. Gewiß ist seine Berufung
auf einen „Instinkt" ebenso unbefriedigend wie der Hinweis darauf, daß
es „eine ursprüngliche und nicht weiter zurückführbare, zugleich höchst
wunderbare Tatsache . . . i s t . . . , daß in der Wahrnehmung und Auffas-
sung gewisser sinnlicher Gegenstände, nämlich derjenigen, die wir
nachträglich als den Körper eines fremden Individuums oder . . . als die
sinnliche Erscheinung eines solchen bezeichnen, daß insbesondere in der
Wahrnehmung und Auffassung von Vorgängen oder Veränderungen an
dieser sinnlichen Erscheinung, unmittelbar von uns etwas miterfaßt wird,
das wir . . . Zorn . . . nennen" 60 . Das ist eher ein Versuch der gewaltsamen
Beseitigung des Problems als eine Analyse. Aber hinter dieser versuchten
Gewaltsamkeit steht die Einsicht, daß in dieser Sache anders als durch
Aufweis von Akten, die für das Fremdseelische als erfahrende und
gebende fungieren, nicht weiter zu kommen ist.
In der Art und Weise, wie Lipps diese „letzte Tatsache" des näheren zu
beschreiben und sie mit allgemeinen Tatsachen in Verbindung zu bringen
versucht, zeigt sich allerdings, daß er die durch die Kritik der Analogie-
schlußtheorie erworbene Einsicht in den Sinn des Problems insofern nicht
hinreichend radikalisiert hat, als seine Einfühlungstheorie dem gleichen
Theorietypus angehört wie die Analogieschlußtheorie. Auch Lipps weist
auf einen psychischen Mechanismus hin, aufgrund dessen ein vermeintli-
ches Wissen um Fremdseelisches resultieren soll. Daher erheben sich
gegen ihn prinzipiell die gleichen Einwände wie gegen die Analogie-
schlußtheoretiker. Sein Bemühen um eine adäquatere Deutung der
Ausdrucksbewegungen stellt einen ersten Versuch dar, jene Akte aufzu-
erfahren wird. Sie hat an sich selbst einen wie immer näher zu
bestimmenden Bezug auf das Erlebnis, dem sie innerlich und sachlich
zugehört. Das trifft dann auf meine eigenen ebenso zu wie auf die
wahrgenommenen Gebärden anderer Menschen. Auch diese sind durch
den in der Wahrnehmung gegebenen Verweis auf jene „Einheit"
gekennzeichnet". Mit dieser Konsequenz wird aber die traditionelle
Problemstellung gesprengt. Wenn das, was die Wahrnehmung uns vom
Mitmenschen gibt, nicht mehr als rein Physisches (als bloße Bewegung,
die an und für sich von sonstigen ΒewegungsVorgängen in der Natur
prinzipiell nicht verschieden ist) angesprochen werden darf, dann hat das
traditionelle Problem, das gerade auf dieser Basis erwachsen ist, offenbar
seinen Sinn eingebüßt. Weil der frühere bewußtseinsphänomenologische
Ansatz nicht mehr ohne weiteres angenommen, sondern selbst in Frage
gestellt und vielleicht sogar durch einen anderen ersetzt wird, verliert das
Problem den Charakter, der ihm aufgrund des eben genannten Ansatzes
erwuchs. Da Lipps aber am traditionellen Ausgangspunkt festhält,
kommt er nicht zu dieser in der Linie seines eigenen Versuches gelegenen
Interpretation der Ausdrucksbewegungen und nähert sich wieder der
assoziationistischen Deutung. „Zunächst" gilt das, was in den erwähnten
Beschreibungen über die „Einheit" von Erlebnis und Gebärde ausge-
drückt werden soll, nur für meine Erlebnisse und Gebärden: ich erlebe
an mir selbst jene „Einheit und innere Beziehung", — an den Gebärden
anderer Menschen nehme ich jedoch den inneren Bezug der Gebärde auf
das Erlebnis nicht wahr. Damit ist die innere Einheit bereits zerstört.
Wenn dieser Bezug nämlich nicht als Phänomen selbst in der Gebärde liegt
und zu ihrem phänomenalen Bestand gehört, dann wird das Zusammen
von Erlebnis und Ausdruck doch wieder assoziationistisch63 gedeutet.
Dieser Deutung zufolge muß das eine zum anderen hinzukommen. Daran
ändert Lipps' Versuch einer Präzisierung der genannten Umschreibungen
nichts. Die Formulierung, eine Gebärde drücke Zorn aus, soll besagen,
„daß der Zorn die Gebärde ins Dasein ruft, aus sich hervorgehen
läßt". Das deutet auf eine Tätigkeit hin, die ich als Zorniger unmittelbar
erlebe, wenn ich ein zorniges Gesicht mache. Diese Tätigkeit geht aus
" Diesen Schritt hat SCHELER vollzogen, der in Sympathie, S. 301 ff. [G. W. 7, S. 253 ff.]
sagt, daß „wir im Lächeln die Freude, in den Tränen das Leid und den Schmerz des
anderen, in seinem Erröten seine Scham, in seinen bittenden Händen seine Bitten . . .
direkt zu haben vermeinen", und von Adäquatheit und Inadäquatheit von Erlebnis und
Ausdruck spricht.
63 „Assoziationistisch" im oben S. 21 dargelegten Sinne.
64 LIPPS, a . a . O . , S. 715.
sich zeigt. Zum Erlebnis selbst gehört diese Tendenz zur Gebärde. Diese
Tendenz wird zum „Index" für diesen bestimmten Affekt; nachdem ich
ζ. B. den Zorn wirklich erlebt, geäußert und in der betreffenden Gebärde
kundgetan habe, hat die Tendenz zu gerade dieser Gebärde einen Index
erhalten, Ausdruck gerade des Zornes zu sein. Nehme ich nun an einem
anderen Menschen diese Gebärde wahr, so tendiere ich zur Nachahmung
der wahrgenommenen Gebärde ; an diese Bewegungstendenz ist aber ein
Affekt „gebunden", aus dem, als ich ihn tatsächlich erlebte, diese
Bewegungstendenz als seine Äußerung hervorging. So wird jetzt in der
Wahrnehmung der Gebärde an einem Anderen der früher erlebte
Affekt reproduziert. Dieser reproduzierte Affekt heftet sich an die
wahrgenommene Gebärde, und zwar in der gleichen Weise wie sich der
originäre, erlebte Affekt an die vollzogene Gebärde geheftet hatte „als
etwas, das darin sich kundgibt oder äußert". Der (reproduzierte) Affekt
ist von mir in die gesehene Gebärde hinein vorgestellt oder hinein
gedacht. Wenn ich die Gebärde eines anderen Menschen sehe, so ist mir
in dieser Gebärde unmittelbar ein reproduzierter eigener Affekt mitgege-
ben. Indem ich nun aufgrund des Nachahmungstriebes die Tendenz zur
Äußerung eines Affektes erlebe, erfahre ich jetzt einen Teil meines
früheren Gesamterlebnisses : die Tendenz zur Äußerung bildete mit dem
wirklichen Affekt die Einheit eines Gesamterlebnisses. Dieser Teil, den
ich jetzt habe, besitzt seinerseits die Tendenz, sich wieder zu einem
Gesamterlebnis zu vervollständigen, d. h. „den Affekt nicht nur vorzu-
stellen, sondern von neuem zu e r l e b e n " . Verwirklicht sich diese
Tendenz und kommt es zum Erleben des Affektes, dann liegt Mitfühlen
und Sympathie vor: „Ich erlebe . . . die innere Zuständlichkeit, welche ich
bei einem anderen sich äußern sehe, in mir." — So gibt es nach Lipps ein
allgemeines psychologisches Gesetz der Sympathie ; nicht das Auftreten,
sondern das Ausbleiben der Sympathie ist eigentlich das zu erklärende
Phänomen.
Für die Zwecke unserer Untersuchung kommt es nicht darauf an, auf
weitere Schwierigkeiten der Lippsschen Theorie aufmerksam zu machen.
Nur auf diese eine sei hingewiesen: wie kommt es, daß sich der
reproduzierende Affekt über die Tendenz zur Nachahmung einer
wahrgenommenen Gebärde hinweg an die wahrgenommene Gebärde
heftet und nicht bei dem Bewegungsimpuls bleibt, der infolge des
Nachahmungstriebes ausgelöst wird ? Wie kommt es also zur eigentlichen
Einfühlung oder dazu, daß ich meine reproduzierten Erlebnisse in den
Anderen hineinfühle? Von prinzipiellerer Bedeutung als diese und
67 Vgl. H . SPENCER, The Principles of Psychology, London 1872, Vol. II, Part VIII, Chap. V,
§§ 505 ff.
" V g l . H . SPENCER, a.a.O., Chap. V i l i , § 529; ferner auch R. ν. SCHUBERT-SOLDERN,
Grundlagen zu einer Ethik, Leipzig 1887, S. 114 ff.
" SCHELER, Sympathie, Α. II [G. W. 7, S. 19-48],
70 B. GROETHUYSEN, „Das Mitgefühl", Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der
Sinnesorgane, X X X I V (1904), S. 172 ff. und 188 ff.
fühl" (wie etwa im Falle der Gefühlsansteckung) nicht konstitutiv ist. Wer
von einem bestimmten Gefühl angesteckt wird, der erlebt dieses Gefühl
und befindet sich in diesem Gefühlszustand. In diesem Vorgang ist weder
ein Wissen um die Herkunft noch ein solches um die Gleichheit seines
Gefühls mit dem des anderen Menschen beschlossen. Genau besehen ist
ein Wissen um die Gefühlszustände eines Anderen gar nicht impliziert.
Selber ein Gefühl haben und wissen, daß ein Anderer es hat, sind zwei
grundverschiedene Dinge. Weder ist im ersten das zweite enthalten noch
umgekehrt. Ich kann um die Trauer eines anderen Menschen wissen, ich
kann auch mit ihm Mitleid haben, ohne selber traurig zu sein, eine
Tendenz zur Trauer zu erleben oder mich an eine früher erlebte Trauer zu
erinnern. Erst recht ist die zuständige „Alltagsüberzeugung", die wir in
bezug auf andere Menschen haben, von der Gefühlsansteckung völlig
verschieden und beruht auch nicht auf ihr. Der andere Mensch wird nicht
erst dadurch für mich zum Menschen, daß ich seine Gebärden nachahme,
reproduziere bzw. wirkliche Affekte habe und diese anschließend auf den
Anderen übertrage71. Vielmehr ist er für micht schon vor aller Gefühlsan-
steckung und unabhängig von ihr ein Mensch. Die beiden Phänomene, auf
deren Klärung es ankommt (nämlich die „Alltagsüberzeugung" und das
Wissen um das Fremdseelische in konkreten Fällen) liegen also jenseits
der Theorie Lipps' und werden von dieser gar nicht erst geklärt.
Der gleiche Einwand, den Lipps gegen die Analogieschlußtheorie
richtete, erhebt sich somit auch gegen seine Theorie. Indem diese das
Wissen von Fremdseelischem als Ansteckung beschreibt, führt auch sie
nicht auf das Erleben des A n d e r e n , sondern nur auf Reproduktionen
eigener früherer Erlebnisse bzw. auf aktuelles eigenes Erleben72. Der
andere Mensch wird dadurch für mich „zum Menschen", daß ich in einem
Vollzug der Selbstobjektivation meine psychischen Prozesse „in ein Stück
Außenwelt hineinlege". Damit bin ich wieder in den Kreis meines eigenen
Erlebens gebannt und finde keinen Zugang zum Bereich des Fremdseeli-
schen73.
Weil für Lipps das aktuelle eigene Erleben sozusagen die vollendetste
Form des Wissens um Fremdseelisches ist, wird das Gebanntsein in den
Umkreis meiner eigenen Erlebnisse hier noch deutlicher spürbar als in der
Analogieschlußtheorie, die diesen Aspekt des Problems übersah. Lipps
hat zwar erkannt, worauf es ankâm, und die Problemstellung gegenüber
71
Vgl. LIPPS, Zur Einfühlung, S. 447 ff.
72
Vgl. PRANDTL, Die Einfühlung, S. 19 ff.
73
Vgl. VOLKEIX, Das ästhetische Bewußtsein, S. 119 ff., die Kritik an Lipps und Prandtl.
Zusatz
" Das vorstehend ausgeführte erfährt eine radikale Modifikation auf dem durch die Ιποχη
erschlossenen Boden der „konstitutiven Phänomenologie" Husserls. Auf diesem Boden
aber stehen wir hier und in dieser ganzen Abhandlung noch nicht. Zunächst haben wir es
mit der Deskription unseres Wissens vom anderen Menschen und unseres Lebens mit
ihm im Horizont des „natürlichen Daseins" zu tun. Diese Deskription, um die sich auch
die traditionellen Theorien bemühen, muß der Konstitutionsproblematik, für die sie die
ontologischen Leitfäden bereitstellt, vorangehen. Mit dieser Orientierung unserer
Untersuchungen hängt auch der im Zusatz zum vorigen § herausgestellte Vorrang des
Zugangsproblems vor der Realitätsfrage insofern zusammen, als die Realitätsfrage
r a d i k a l nur als konstitutiv-phänomenologische behandelt werden kann, während die
Zugangsfrage die Einordnung unserer „Erfahrungen" von Fremdseelischem in den
Gesamtbereich unserer „natürlichen Erfahrungen" und die mögliche Fundierung der
betreffenden „Erfahrungen" in anderen angeht.
82 Vgl. hierzu CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III, S. 98 ff.
83 So z.B. STORRING, Einführung in die Erkenntnistheorie, S. 170, dem zufolge „die
Behauptung der Existenz fremder Iche . .. eine viel geringere erkenntnistheoretische
Dignität als die Behauptung der Existenz von transzendenten Seinsgrößen überhaupt"
besitzt; vgl. auch S. 286f.; CORNELIUS, Einleitung in die Philosophie, S. 330: „Einen
positiven oder negativen Entscheid über das Dasein eines fremden psychischen
Lebens . . . kann uns die Wissenschaft so wenig gewähren, wie über die Frage unseres
Fortlebens nach dem Tode . . . " ; O . KULPE, Die Realisierung, Leipzig 1920, Bd. II, Buch
II, Kap. II 11 ; M A C H , Analyse der Empfindungen, S . 12 und 14. RUSSELL, Our Knowledge
of the External World, S. 96 : „the hypothesis that other people have minds m u s t . . . be
allowed to be not susceptible of any very strong support from the analogical argument" ;
diese „Hypothese" gilt ihm als „a working hypothesis". Dagegen vgl. etwa W. SCHUPPE,
Erkenntnistheoretische Logik, Bonn 1878, S. 76 f. und W. JERUSALEM, Der kritische
Idealismus und die reine Logik, Wien/Leipzig 1905, S. 50 f., die beide dem Analogie-
schluß eine zum mindesten „überwältigende Wahrscheinlichkeit" zuschreiben und auf
die zahlreichen Bestätigungen verweisen, während PRANDTL, Einführung in die
Philosophie, S. 111 und F. JODL, Lehrbuch der Psychologie, Stuttgart/Berlin 1924, Bd. I,
Kap. II, 3, die unwiderstehlich sich aufdrängende Deutung der fremden menschlichen
Leiber in Analogie zu unserem eigenen Leib betonen.
84 CARNAP, Scheinprobleme in der Philosophie, § 1 1 [ 1 9 6 6 , S . 6 4 - 7 3 ] ,
87 CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III, Teil I, Kap. II.
88 Vgl. hierzu weiter unten, S. 77 — 82, zur Darstellung der Analysen E. Steins.
8, I n bezug auf Scheler gilt das im Text Ausgeführte mit einer gewissen Einschränkung ; vgl.
hierzu weiter unten, S. 145 — 147.
Der Mitmensch ist uns primär nicht als Gegenstand im Sinne eines
Erkenntnisobjekts gegeben, den wir erfahren, beschreiben, bestimmen,
beurteilen oder in anderen Erkenntnisakten thematisieren. Wir können
solche Akte gegenüber Mitmenschen zwar auch vollziehen, und wir tun es
als Psychologen (im weitesten Sinne), als Soziologen, als Historiker usw.,
wobei wir jeweils bestimmte Erkenntnisziele verfolgen. Aber unsere
ursprüngliche Begegnung mit anderen Menschen stellt uns nicht als
erkennende Subjekte einem zu erkennenden Objekt (eben dem anderen
Menschen) gegenüber. Weder sind wir ursprünglich oder gar ausschließ-
lich erkennende Subjekte, die sich aufgrund wissenschaftlicher oder
philosophischer Erkenntnisintentionen auf Gegenstände richten, noch ist
es so, daß uns allererst dann der Mitmensch begegnet, wenn wir diese
Haltung einnehmen. Das würde nämlich bedeuten, daß wir ihm primär als
Gegenstand, als Zielpunkt unserer Erkenntnisintentionen begegnen
würden. Vorgängig aller spezifischen Erkenntnis und unabhängig davon
haben wir es in unserem „natürlichen Leben" des Alltags mit anderen
Menschen zu tun ; wir begegnen ihnen in der Welt, in der dieses unser
Alltagsleben sich abspielt. Wir erfahren sie in verschiedener Weise : wir
verhalten uns zu ihnen oder mit ihnen, sie stehen uns nahe oder fern, sie
gehören zu diesem oder zu jenem Kreis, in dem wir uns selbst bewegen
und zu dem auch wir gehören. Oder sie sind uns fremd, wir haben kein
Verhältnis zu ihnen und gehen in dieser Verhältnislosigkeit gleichgültig an
ihnen vorüber.
Alle diese Begegnungen aber finden statt in der Welt unseres
„natürlichen Lebens", in unserer Alltagswelt, — und zwar nicht allein in
dieser schlechthin, sondern in konkreten Bezirken derselben, in die
uns unser „natürliches", alltägliches Leben führt. Die ursprüngliche
Begegnung mit dem Mitmenschen bedeutet kein Zusammenkommen und
Zusammensein von isolierten Individuen, die in ihrer gegenseitigen
Begegnung sämtliche Bezüge zur Umwelt abgebrochen haben und sich als
abgelöste, als bloße Individuen sozusagen „horizontlos" zusammen-
finden, so daß eine solche Begegnung ein bloßes Zusammendasein
einzig und allein auf den Menschen als solchen gründet, die um ihrer
selber willen zusammen sind, sich infolgedessen als reine I n d i v i d u e n
finden. Weil der Sinn dieses Zusammenseins allein auf den in dieser Weise
sich begegnenden Individuen gründet, ist es als solches v e r s e l b s t ä n -
di gt. Es birgt seinen Sinn in sich und empfängt ihn nicht erst von jenem
Horizont her, in dem es stattfindet. Das Zusammensein ist hier
verabsolutiert, d. h. ist abgelöst von den Bezügen zur Umwelt; es ordnet
sich ihr nicht mehr ein, sondern ruht verselbständigt in sich. Doch darf
diese spezifische Art von mitmenschlichem Zusammensein nicht verallge-
meinert werden; - man darf sie nicht als paradigmatisches Beispiel
mitmenschlichen Zusammenseins überhaupt ansehen. Schließlich kann
sie auch nicht als das ursprüngliche und primäre Zusammensein gelten.
Wenn sich nämlich ein mitmenschliches Zusammensein verselbständigt,
so ziehen sich die Menschen darin von der Umwelt zurück, um sich
ausschließlich als Individuen aufeinander einzustellen. Sie geben die
Bezüge zur Umwelt auf, weil ihr Zusammensein in sich selbst seinen Sinn
findet; gerade deshalb ordnet es sich in umweltliche Situationen nicht
mehr ein. Darin liegt aber ein Hinweis auf den u r s p r ü n g l i c h e n Bezug
zur Umwelt, von der man sich zurückziehen kann, wenn man mit einem
Anderen ausschließlich um seiner selbst willen zusammen ist. Mit
anderen Worten: das verselbständigte Zusammensein weist, da es sich
durch jenes Sich-von-der-Umwelt-abgelöst-haben kennzeichnet, auf ein
ursprüngliches In-die-Umwelt-eingeordnet-sein. Nur auf der Grundlage
dieses als vorgeordnet zu verstehenden Phänomens kann der Sinn jener
Ablösung aufgeklärt werden, — jener Ablösung, die zu einem verselb-
ständigten Zusammensein gehört: es setzt eine vorgängige Verflechtung
mit der Umwelt voraus.
Ferner begegnen wir dem Mitmenschen, mit dem wir in dieser Weise
Zusammensein können, „ z u n ä c h s t " nicht jenseits eines verselbständig-
ten Zusammenhangs. Vielmehr tritt er uns ursprünglich in der Umwelt
und in einer umweltlichen Situation entgegen. Anders ausgedrückt : das
verselbständigte Zusammensein löst sich von dem ursprünglichen, das
innerhalb einer Stuation stattfand, ab, um sich zu verselbständigen und
seinen Sinn in sich selbst zu finden. Daß es überhaupt zu verselbständig-
ten Begegnungen kommt, deutet auf eine ursprünglich horizonthafte
Begegnung hin, die durch diese Verselbständigung allerdings eine radikale
Modifikation erfährt.
Diese Vordeutungen werden erst im Gange der weiteren Untersuchung
zur vollen Klarheit gebracht werden können. Hier machen sie eines
Diese Vorfragen haben unter dem Titel des Problems eines „natürlichen
Weltbegriffs" bereits eine Geschichte in der Philosophie der Gegenwart.
R. Avenarius1 war der erste, der einen „natürlichen Weltbegriff"
herauszustellen unternahm, um für die Philosophie einen Ausgangspunkt
außerhalb ihrer selbst zu gewinnen. Dieser vor aller Philosophie liegende
„natürliche Weltbegriff" ist von philosophischen Theorien „unvariiert" ;
er entstammt dem „naiven", d.h. nicht philosophisch reflektierenden und
in diesem Sinne „natürlichen" Menschen. Dieser Weltbegriff „war auch
am Anfang meines Philosophierens"; zu ihm muß die philosophische
Theorie zumindest in der Weise zurückkehren, daß sie mit ihm anhebt.
Wie Avenarius hatte auch Husserl2 die „Welt der natürlichen Einstellung"
formal bestimmt, auf deren Grundlage er durch die εποκή den Weg zur
phänomenologischen Sphäre ebnete: ihm handelte es sich um die
Einstellung des naiv dahinlebenden und theoretisch unbekümmerten
Menschen, wie auch um die Welt, in der wir uns in dieser „natürlichen"
Einstellung bewegen, bevor wir überhaupt zu philosophieren beginnen
und wenn wir gerade nicht mehr philosophieren. Auf dem Boden der
natürlichen Welt erwachsen die „Wissenschaften der natürlichen Einstel-
lung", die die verschiedenen Regionen der „natürlichen Welt" sich zu
eigen machen und die deren Gegebenheiten umfassender, sicherer und
1
R. AVENARIUS, Der menschliche Weltbegriff, Leipzig 1912, Abschn. I.
2
HUSSERL,Ideen, § § 2 7 ff. [Husserliana I I I , S . 5 7 ff.].
J
Vgl. SCHELER, Der Formalismus, S. 139 ff. [G. W. 2, S. 153 ff.].
4 M. HEIDEGGER, Sein und Zeit, Halle 1927, §§ 12 ff.
5 Vgl. S. 46 f.
6 Infolgedessen läuft das Problem auf die eine Frage hinaus: Wie weiß ich, daß der
andere Mensch Bewußtseinserlebnisse vollzieht, und wie kann ich w i s s e n , um welche
Erlebnisse es sich im besonderen Fall handelt?
7 Wenn also die gesamte Tradition seit der griechischen Antike das „In-der-Welt-Sein"
und damit auch das „Phänomen der Welt" selbst übersprungen hat (vgl. HEIDEGGER,
a.a.O., S. 21 ff., 43 f. und 65), so ordnet sich Husserl, soweit es auf dieses welthistorische
„Versehen" ankommt, dieser philosophischen Tradition ein. — In diesem Zusammen-
hang erhebt sich allerdings die Frage nach dem Grunde dieses „Versehens". Als Aufgabe
historisch orientierter Forschungen müßte also aufgewiesen werden, in welcher Weise
und in welchem Sinne an den entscheidenden Wendepunkten in der Geschichte der
Philosophie das „Phänomen der Welt" und das „In-der-Welt-Sein" zugunsten anderer
Phänomene übersprungen wurde. Es ist kein Zufall, daß das Problem des Mitmenschen
niemals vor Descartes, jedoch sofort danach auf dem Boden seiner Philosophie
aufgetreten ist, z. B. bei N . MALEBRANCHE, De la Recherche de la Vérité]in: Œuvres de
Malebranche herausgegeben von M. J. Simon, Paris 1846, Série II, S. 311 f. (gerade für die
Problematik Malebranches ist das Übersehen des „In-der-Welt-Seins" grundlegend)
und bei A. AÄNAULD, Des vraies et des fausses Idées. Œuvres de Messire Antoine
Arnauld, Lausanne 1780, Bd. X X X V I I I , Kap. X X V . Im Rahmen dieser Abhandlung
können die historischen Wurzeln unseres Problems nicht freigelegt werden ; es sei nur
bemerkt, daß Descartes selbst ein s p e z i f i s c h e s Problem des Wissens um den anderen
Menschen nicht diskutierte, obwohl er nicht nur den Boden dieser Problematik im
allgemeinen bereitgestellt, sondern auch mit seiner Lehre vom Menschen als „unitas
compositionis" (Œuvres de Descartes, herausgegeben von Ch. Adam und P. Tannery,
Bd. VII, S. 423 ; vgl. auch S. 444 : „Nunquam vidi aut percipi humana corpora cogitare,
Wesentlich für die „natürliche Einstellung"' ist Husserl gemäß ein naives
Hinnehmen der Welt und meiner selbst als eines in dieser Welt
befindlichen Menschen. Die Welt ist mir mit all ihren Vorkommnissen
gegeben ; ich nehme dieses Gegebene (von dem ich jederzeit weiß, daß
es nur einen Teilbereich, einen Ausschnitt der Welt darstellt) als G e g e -
benes hin; ich überlasse mich ihm, begnüge mich in natürlicher Naivität
damit, daß es mir gegeben ist. Mit anderen Worten: die Tatsache seiner
Gegebenheit wird mir in keiner Weise fraglich. Bei diesem Faktum bleibe
ich stehen; ich hinterfrage es nicht, so sehr ich sonst auch Fragen
aufwerfen mag, z . B . nach den Beziehungen und Zusammenhängen
zwischen einzelnen Beständen der naiv hingenommenen Welt. Eigentlich
ist mir stets nur jener Ausschnitt der Welt gegeben, den ich als meine
jeweilige U m g e b u n g bezeichne, z . B . das Zimmer, in dem ich mich
sed tantum eosdem esse homines, qui habent et cogitationem et corpus") direkt an das
Problem herangekommen ist, wie denn auch in ihr die oben (S. 21) dargelegte
assoziationistische Deutung der Ausdrucksphänomene ihren Grund und ihre Wurzel
hat. Wo Descartes auf die Wahrnehmung von anderen Menschen zu sprechen kommt
(vgl. a.a.O., S. 32 und 43), handelt es sich ihm nicht um ein spezifisch die Wahrnehmung
vom Menschen betreffendes Problem, wie auch Arnauld geneigt ist, das Spezifische
dieses Problems hinter dem allgemeinen Wahrnehmungsproblem zurücktreten zu
lassen. — Diesen Zusammenhang beabsichtigt der Verfasser in der Konstitution der
neuzeitlichen Philosophie, vor allem des Cartesianismus, auf dem Boden der religiösen
Positionen des 17. Jahrhunderts gewidmeten späteren Untersuchungen nachzugehen. In
dieser Abhandlung vgl. die Andeutungen im Zusatz zu diesem §, S. 68 — 72.
8 Diese Divergenzen berühren gerade auch jenes Moment am „natürlichen Weltbegriff"
10 Vgl. auch AVENARIUS, Der menschliche Weltbegriff, Abschn. III, Kap. 2, II: „Die
Erfahrung, welche ich zu beschreiben vermag, umspannt.. .immer das Ich-Bezeichnete
und die Umgebung: Das Ich wird immer als ein Umgebenes, der Baum immer als ein
Gegenüber des Ich erfahren." Daß Avenarius damit im Grunde wieder die Subjekt-Ob-
jekt-Korrelation einführt und anstelle dieser Termini lediglich die neuen Ausdrücke
„Zentralglied" und „Gegenglied" der „empiriokritischen Prinzipalkoordination" setzt,
hat O. EWALD, „Welche wirklichen Fortschritte hat die Metaphysik seit Hegels und
Herbarts Zeiten in Deutschland gemacht?" Kantstudien (Ergänzungsheft 53), S. 28ff.
gesehen.
richte, und Bewußtsein davon habe, ist schon für die „natürliche
Einstellung" der Begriff des T h e m a s und entsprechend der des
thematischen Bewußtseins konstitutiv. D i e „ n a t ü r l i c h e E i n s t e l -
l u n g " zur Welt ist deren T h e m a t i s i e r u n g . I n dieser E i n s t e l l u n g
haben wir die B e s t ä n d e der Welt als G e g e n s t ä n d e , als Z i e l p u n k -
te t h e m a t i s c h e n B e w u ß t s e i n s vor uns. „ N a t ü r l i c h e s " Sein in
der Welt h e i ß t : G e g e n s t ä n d e n g e g e n ü b e r s t e h e n , sich mit G e -
genständen als mit T h e m e n b e s c h ä f t i g e n , t h e m a t i s c h e s B e -
w u ß t s e i n von G e g e n s t ä n d e n h a b e n , sich t h e m a t i s i e r e n d auf
Gegenstände richten.
Der mir gegenüberstehende Gegenstand als Zielpunkt meiner Zuwen-
dungen ist mein T h e m a . D a ß ich thematisches Bewußtsein von ihm als
Thema habe, bekundet die Beziehung, die zwischen ihm und mir besteht.
Der ursprüngliche Sinn des Begriffes „Gegenstand" bestimmt diesen als
G e g e n s t a n d meines B e w u ß t s e i n s . Diese ursprüngliche Bestimmung
des Gegenstandes als Thema (derzufolge Gegenstand und Thema
geradezu synonym sind) impliziert allerdings den oben erwähnten
Abstand. Nur was in diesem Abstand zu mir sich befindet, kann mein
Thema werden. Wird das „natürliche In-der-Welt-Sein" als Vollzug
thematischen Bewußtseins und entsprechend die Welt als I n b e g r i f f
p o t e n t i e l l e r und aktueller T h e m e n verstanden, dann enthält dieser
Ansatz bereits die Abständigkeit zur Welt als eine Eigenschaft der
„natürlichen Einstellung". —
Auf dem Boden des dargelegten „natürlichen Weltbegriffs" erhält der
unter dem Titel der Thematik stehende Problemkomplex eine zentrale
Bedeutung, vor allem aber auch der für diesen Bereich fundamentale
Begriff der I n t e n t i o n a l i t ä t " . Die Charakterisierung der „psychischen
Phänomene", der Akte, d. h. des Bewußtseins insgesamt, durch Intentio-
nalität, ist eine Konsequenz der oben dargelegten Bestimmung vom
„natürlichen In-der-Welt-Sein" 17 . Ist dieses wesentlich ein Bewußthaben
des reinen Ich trotz mancher Einschränkungen und Relativierungen (vgl. S. 281 f. und
von Gegenständen und ein Sich-richten auf sie, so muß als wesentliche
Eigentümlichkeit der erfahrenden Erlebnisse der ihnen immanente
Charakter von Intention angesehen werden. Aufgrund dieser Intention
bestimmen sie sich als Erlebnisse von diesem oder jenem Gegenständli-
chen und zwar so, daß wir in diesem Intendieren (und nur in i h m )
dessen ansichtig werden, womit wir es gerade zu tun haben. Dabei wird
hier allerdings vorzugsweise an ein w a h r n e h m e n d e s Intendieren
gedacht. In besonders ausgezeichneter Weise kommt die unter dem Titel
„Intentionalität" stehende Eigentümlichkeit den Erlebnissen in der Form
des c o g i t o zu; jenen Erlebnissen also, in denen wir nicht nur
Gegenständliches bewußt haben, sondern in denen wir uns ausdrücklich,
aktuell und explizit mit einem Gegenstande beschäftigen. Diese Erlebnis-
se sind mithin im eigentlichen und prägnanten Sinne thematisches
Bewußtsein, d. h. B e w u ß t s e i n von einem a k t u e l l e n Thema 1 8 . Diese
ausgezeichnete Intentionalität der c o g i t a t i o n e s ist als eine ausgezeich-
nete „Modalität"von Intentionalität zu verstehen, da auch diejenigen
Bewußtseinserlebnisse, die nicht in der Form des c o g i t o auftreten,
jedoch einzelne zum Thema gehörige, d. h. mitgegebene Hintergrundsbe-
stände betreffen, intentionale Erlebnisse sind.
Auf die in dieser Weise ausgelegten Welt der „natürlichen Einstellung"
bezieht sich auch die konstitutive Phänomenologie Husserls. Sie faßt die
gegenständlichen Einheiten dieser Welt als „ontologische Leitfäden"
ihrer konstitutiven Analysen auf und betrachtet die auf sie bezogenen
Erlebnisse unter dem Gesichtspunkt der Leistung, d. h. der „teleologi-
schen Funktion" ihrer Intentionalitäten 1 '.
Im „natürlichen In-der-Welt-Sein" selbst liegt ferner die Wurzel
sowohl des Gegensatzes von S u b j e k t und O b j e k t wie auch ihrer
korrelativen Zusammengehörigkeit. Diese Korrelation bildet geradezu
380 f.) im Grunde doch an dem „natürlichen Weltbegriff" im Sinne Husserls festgehalten
hat ; das tritt besonders in der Wahl mancher Beispiele hervor. Wird dieser „natürliche
Weltbegriff" als n a t ü r l i c h e r in Frage gestellt, so bedeutet das noch keine radikale
Verfehlung der Lehre von der Intentionalität. Für einen bestimmten Bereich behält der
Begriff der Intentionalität nach wie vor seine grundlegende Bedeutung, wie auch der
Problemkreis der Thematik zentral für diesen Bereich bleibt. Es kann nicht darum
gehen, diesen Bereich zu leugnen, ihn schlechthin und überhaupt in Frage zu stellen.
Seine Existenz wird auch dann nicht zweifelhaft, wenn man ihn nicht bereits im
„natürlichen In-der-Welt-Sein" und als dessen wesentliche Eigenschaft aufweisen kann.
18 Vgl. HUSSERL, Ideen, § § 3 5 ff., 8 4 , 1 1 5 . Vgl. auch GURWITSCH, Phänomenologie der
Thematik und des reinen Ich, Kap. II, § 7.
" HUSSERL, a. a. O . , § § 149 ff., Formale und transzendentale Logik, § § 94, 97 u n d 100,
[Husserliana XVII, S. 239 ff., 251 f. und 261 ff.].
unabhängig davon, ob ihn eine cogitatio trifft oder nicht. Er bleibt der,
der er als identischer ist, bleibt also davon unberührt, ob sich cogitatio-
nes auf ihn richten oder nicht. Am Gegenstand wird nichts geändert,
wenn sich intentionale Akte auf ihn richten; es bedeutet für seinen
objektiv-gegenständlichen Bestand keine Modifikation, wenn er zum
Zielpunkt einer cogitatio wird24. Vielmehr trifft ihn die cogitatio in
seiner objektiven Bestimmtheit an; er ist in sich abgeschlossen und
„fertig", ruht ganz in sich und wird in seiner Selbstgenügsamkeit erfaßt.
Dadurch, daß er als „fertiges", abgeschlossenes, selbständiges und in sich
stehendes Gebilde uns gegenüber tritt und von uns „erblickt" werden
kann, bekundet sich sein „An-sich-sein". Dies verleiht der Rede vom
„An-sich-erfaßt-werden" ihren Sinn. Diesem Tatbestand entsprechend
hat man das Wesen des Bewußtseins geradezu als ein „Transzendieren"
seiner Grenzen, als ein „Springen über seinen Schatten" und als ein
Hinübergreifen in die ihm total heterogene Sphäre objektiver, an-sich-sei-
en-der Gegenstände bestimmt25.
Indem wir den Gegenstand in seinem selbstgenügsamen „An-sich"
erfassen, explizieren wir die ihm zukommenden Bestimmtheiten. Das
Ding, dem wir als Bestandteil unserer Umgebung zugewandt sind, hat ein
bestimmtes „Aussehen" : es ist so und so gefärbt, ist von dieser oder jener
Gestalt und Größe, hat Konturen einer bestimmten Art, fühlt sich rauh
oder glatt an usw. Was diese Beschreibung des in seinem „An-sich" und
seinen objektiven Bestimmtheiten vorgefundenen Dinges an derartigen
Eigenschaften zum Ausdruck bringt, sind lauter Sacheigenschaften, d. h.
solche, die dem Ding qua Naturding zukommen. Sie charakterisieren
das Ding in seinem „An-sich" und konstituieren es als gegenständliche,
identische, in unserem Falle dinghafte Einheit. Das Ding „hat" die
Eigenschaften, d.h. sie sind seine „objektiven", ihm ein für allemal
zukommenden Bestimmtheiten, die es zu dem machen, was es als dieses
konkrete Ding ist. Unter seinen Sacheigenschaften finden sich nun solche,
aufgrund derer es in bestimmten Situationen in dieser oder jener Weise
verwendet werden kann. Weil z.B. ein Hammer als Naturding seine
„objektiven", ihm zukommenden Bestimmtheiten hat, kann ich ihn
verwenden, um einen Nagel einzuschlagen. So erwächst ihm auf der Basis
bestimmter Sacheigenschaften ein Gebrauchs- und Nützlichkeitswert:
dank seiner Sacheigenschaften konstituiert sich das Naturobjekt zum
24 V g l . h i e r z u C h r . SIGWART, Logik, T ü b i n g e n 1 9 2 1 , 1 § 6 , 3 D. —
25 Vgl. ζ. B. LIPPS, Bewußtsein und Gegenstände, S. 83 ; Leitfaden der Psychologie, S. 12 ; N.
HARTMANN, a . a . O . , S. 4 3 ff.
28
Vgl. hierzu die §§13 und 15 in diesem Abschnitt.
29
Von „realen Eingriffen" aufgrund naturgesetzlicher Zusammenhänge ist hier selbstver-
ständlich nirgends die Rede; schon deshalb nicht, weil Naturgesetze sich auf
Naturdinge, d. h. auf die objektiv identischen Dingeinheiten in ihren Sachbestimmthei-
ten beziehen und sie voraussetzen.
thematisch richten. Das neue Thema braucht dabei mit dem alten in
keinerlei sachlichem Zusammenhang zu stehen. Völlig frei und unmoti-
viert kann ich von einem Thema und von einem thematischen Bereich zu
jedem anderen übergehen und habe so in dem dadurch bestimmten Sinne
die Welt, d. h. alles, was in der Welt vorhanden ist, verfügbar.
Diejenigen Erlebnisse, in denen wir von unserer Freiheit gegenüber den
Beständen unserer Umgebung und sogar gegenüber der ganzen Welt
Gebrauch machen, sind die Erlebnisse von der Form c o g i t o . Weil sich in
den c o g i t a t i o n e s diese unsere Freiheit aktualisiert, hat Husserl sie als
spezifische Ich-Akte beschrieben33. „Ist ein intentionales Erlebnis aktuell,
also in der Weise des cogito vollzogen, so richtet sich in ihm das Subjekt
(das ,Ich') auf das intentionale Objekt. Zum cogito selbst gehört ein ihm
immanenter ,Blick-auf das .Objekt', der andererseits aus dem Ich
hervorquillt, das also nie fehlen kann." 34 Auch die phänomenologisch
reduzierten Erlebnisse sind und bleiben spezifisch ichhafte Erlebnisse;
keine Reduktion vermag das ego aus dem c o g i t o herauszustreichen, sie
ändert nichts daran, daß das reine Ich, d. h. das transzendental reduzierte,
in den c o g i t a t i o n e s lebt. „Dieses Leben . . . bedeutet eine Mannigfal-
tigkeit von beschreibbaren Weisen, wie das reine Ich in gewissen
intentionalen Erlebnissen, die den allgemeinen Modus des cogito haben,
als das .freie Wesen', das es ist, darinnen lebt. Der Ausdruck ,als freies
Wesen' besagt aber nichts anderes als solche Lebensmodi des Aus-sich-
frei-herausgehens oder In-sich-zurückgehens, des spontanen Tuns, des
von den Objekten etwas Erfahrens, Leidens usw." 35
Ausdrücklich sei noch bemerkt, daß in diesem Zusammenhange die
Theorie der Intentionalität, des c o g i t o usw. nicht in ihrer spezifischen
Bedeutung in Betracht kommt, sondern nur insofern, als in ihr der
ursprüngliche Ansatz der „natürlichen Welt" und des Lebens in
„natürlicher Einstellung" zur konsequenten Entfaltung kommt. Dieser
Ansatz wird auch von solchen Forschern — stillschweigend oder
ausdrücklich — geteilt, welche die Theorie der Intentionalität als die der
Wesenseigenschaft von Erlebnissen nicht gelten lassen wollen, deren
Zusatz
36 Das gilt auch und gerade für die Versuche von Avenarius und Mach, den Subjekt-Ob-
jekt-Dualismus durch die philosophische Analyse zu überwinden, was sich sowohl an
dem Ansatz als auch in der Art und Weise ihres Vorgehens zeigt.
37 Diese Bezeichnung hat H . SCHMALENBACH, „Die Entstehung des Seelenbegriffs", S.
313 f., eingeführt.
38 AT VII, S. 423.
cogitans, id est, mens, sive animus, sive intellectus, sive ratio" 39 und die
darin zum Ausdruck kommende Bestimmung der Seele (für die einzig und
allein das c o g i t a r e konstitutiv ist) nicht nur die Gewinnung einer,
wenngleich sehr wichtigen und für das Erkennen sogar zentralen Schicht ;
vielmehr wird damit etwas über das Sein des Menschen insgesamt
ausgesagt. Für das Sein des Menschen ist das c o g i t a r e , das Vollziehen
von c o g i t a t i o n e s charakteristisch40. Was den Menschen auszeichnet,
was ihn allerst zum Menschen macht, ist seine facultas cogitandi : im
c o g i t a r e und nur in ihm liegt sein Sein. Sum res cogitans bedeutet
„cogitatio . . . sola a me divelli nequit" 41 . Weil die „essence de l'âme est de
penser" 42 und weil ferner „ ce qui constitue la nature d'une chose est
tousjours en elle, pendant qu'elle existe" 43 , darum muß die anima immer
c o g i t a t i o n e s haben, selbst im Schlafe, in der Ohnmacht, usw. Sogar der
Embryo ist bereitsein res cogitans 4 4 . Würde der Mensch in irgendeinem
Zustand keine c o g i t a t i o n e s haben, so wäre das mit der Vernichtung
seiner Existenz gleichbedeutend : „il me seroit plus aisé de croire que l'âme
cesseroit d'exister, quand on dit qu'elle cesse de penser, que non pas
concevoir quelle fust sans pensée" 45 . Auch diese naturalistische Wendung
besagt nichts anderes als die Bestimmung des Menschseins durch das
penser = c o g i t a r e .
Daß es sich hierbei in der Tat um das spezifische Sein des M e n s c h e n
handelt, zeigt unter anderem Descartes' Theorie in bezug auf das Problem
des tierischen Seins. Es kommt ihm in erster Linie auf eine mechanistische
Biologie darauf an: denn auf den Einwand44, man könne doch nicht
„omnes operationes bestiarum absque sensu vita, et anima, ope mechani-
ce satis explicare", antwortet er47 mit der Interpretation des absque
sensu, vita, et anima im Sinne von absque c o g i t a t i o n e : „neque
42 AT III, S. 273.
43 AT III, S. 478 ; vgl. auch 423 : „[nulla] res potest unquam propria essentia privan."
45 AT III, S. 423.
46 AT VII, S. 414.
47 AT VII, S. 426.
enim id quod vulgo vocatur anima, nec anima corporea, nec sensus
organicus, brutis a me denegatur."48
Die c o g i t a t i o selbst wird von Descartes in folgender Weise be-
stimmt : „cogitationis nomine, intelligo ilia omnia, quae nobis consciis in
nobis fiunt, quatenus eorum in nobis conscientia est." 4 ' Das c o n s c i u m
esse, das den Sinn des Menschseins ausmacht, „est quidem cogitare et
reflectere supra suam cogitationem." 50 Diese Bestimmungen hat Arnauld,
der in dieser Beziehung durchaus Descartes' Schüler ist, näher präzisiert :S1
„comme donc il est clair que j e pense, il est clair aussi que je pense à
quelque chose; c'est à dire, que je connais et que j'apperçois quelque
chose: car la pensée est essentiellement cela." Zu dieser pensée gehört
ihr „objet connu ou apperçu qui est objectivement dans l'âme". Damit ist
das penser wesentlich durch die Intentionalität charakterisiert: „la
nature de l'esprit est d'appercevoir les objets" und „je ne puis non plus me
demander à moi-même la raison pourquoi je pense à quelque chose, que
pourquoi je pense ; étant impossible de penser, qu'on ne pense à quelque
chose." 52 Die p e n s é e , die in bezug auf die stets wechselnde „chose
apperçue en tant qu'elle est objectivement dans l'âme" sich als eine
„modification de l'âme" darstellt, hat ferner zwei ständige unveränder-
liche Begleitgedanken aller „modification" : das ist einmal „la pénsee de
l'être universel. . . notre âme ne connaissant rien que sous la notion d'être
ou possible ou existant" und ferner „la pensée qu'a l'âme de soi-même . . .
parce que, quoi que ce soit que je connoisse, je connois que je le connois,
par une certaine reflection virtuelle qui accompagne toutes mes pensées",
denn „je me connois . . . moi-même, en connoissant toutes les autres
choses". 53 Von da aus gewinnt Arnauld die Bestimmung der êtres
i n t e l l i g e n t s als der Wesen „qui sunt conscii sui et suqe operationis".
48 Auf die Inkonsequenz dieser Äußerung gegenüber der Zweisubstanztheorie sei hier nur
hingewiesen.
49 AT VIII, S. 7.
50 A T V , S . 149.
51 ARNAULD, Ouvres, tome XXXVIII (Des vraies et des fausses idées), Kap. II.
52 Damit führt Arnauld die bekannte scholastische Lehre von der intentionalen (mentalen)
Inexistenz, die sachlich auch sonst in den Diskussionen mit Descartes (ζ. Β. in den
Primae O b j e c t i o n e s et Responsiones, AT VII, S. 91 ff.) eine Rolle spielt, explizite
in den Cartesianismus ein. Diese Lehre hat für ihn die Bedeutung, daß sie das Wesen
(nature) der Seele (esprit, âme) und überhaupt des Menschen bestimmt. In diesem
Zusammenhang entsteht das überaus wichtige historische Problem, welchen Sinn und
welche Bedeutung die Lehre von der Intentionalität für die Scholastiker hatte.
53 Vgl. dazu AT VII, S. 33 : „nullae radones vel ad cerae, vel ad cujuspiam corporis
perceptionem [possunt] iuvare, quin eaedem omnes mentis meae naturam melius
probent."
folgt, daß ich ständiger Täuschung unterworfen bin60 und keine Sicherheit
der Entscheidung zwischen Traum und Wachsein besitze, erfahre ich mich
aufgrund der idea D e i , die ich in mir finde. Daß ich sie in mir finde,
bedeutet, daß sie „mihi sit innata, quemadmodum etiam mihi est innata
idea mei ipsius. Et sane nonmirum est Deum, me creando, ideam illam
mihi indidisse, ut esset tanquam nota artificis operi suo impressa; nec
etiam opus est ut nota illa sit aliqua res ab opere ipso diversa. Sed ex hoc
uno quod Deus me creavit, valde credibile est me quodammodo ad
imaginem et similitudinem ejus factum esse, illamque similitudinem, in
qua Dei idea continetur, a me percipi per eandem facultatem per quam ego
ipse a me percipior."" In all meiner Kreatürlichkeit bin ich nicht bloße
Kreatur; ich bin darin vielmehr Gottes Ebenbild. Zu meinem vollen Sein
gehört es, daß ich die idea D e i in mir habe („[existo] talis naturae qualis
sum, nempe ideam Dei in me habens").
Diese c o g i t a t i o n e s fungieren nicht als herausgegriffene und beliebig
ersetzbare Beispiele von c o g i t a t i o n e s überhaupt. In ihnen und durch
sie erfahre ich vielmehr mein Sein als das eines endlichen, beschränkten,
unvollkommenen und doch in bestimmter Weise Gott nahen Wesens.
Eine ganz bestimmte anthropologische Konzeption kommt in diesen
Darlegungen zum Durchbruch, wie denn auch das Hauptthema der
M e d i t a t i o n e s die Sicherung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis für
ein abhängiges, endliches, der Täuschung und dem Irrtum ausgesetztes,
eines Wahrheitsgaranten bedürftiges und auf die v e r a c u n d i a seines
Schöpfers angewiesenes Wesen ist62. Eine eingehende Interpretation dieser
Gedanken Descartes' und der Cartesianer aus dem Horizont ihrer
Problemstellungen her hoffen wir in späteren Untersuchungen vorlegen
zu können.
60 In diesem Zusammenhang muß auch die von Descartes ins Auge gefaßte „Fiktion" des
„deceptor . . . summe potens, summe collidus, qui de industria me semper fallit" (AT
VII, S. 25) erwähnt werden.
61 AT VII, S. 51 f.
a Vgl. in diesem Zusammenhang noch die Diskussionen über die „scientia athei" in AT
VII, S. 125, 140f„ 414f., 428ff.
Stellen wir nunmehr die Frage, was sich in Anbetracht des dargelegten
Begriffes der „natürlichen Welt" für die mitmenschlichen Begegnungen
und für das Phänomen des Mitmenschen überhaupt ergibt.
Wir begegnen dem anderen Menschen als einem der Welt zugehörigen
Lebewesen. Er ist ein Bestandstück der Welt, wie es alle Dinge, Tiere usw.
auch sind. Als solches ist er Gegenstand im dargelegten Sinne : er steht uns
in seinem An-sich als objektives Gebilde gegenüber, er ist von uns
unabhängig und uns gegenüber selbständig, er kann zum Zielpunkt
kogitativer Zuwendungen werden usw. Alles, was für den Gegenstand
überhaupt gilt, gilt auch für die Gegenstände dieses speziellen Bereichs,
den wir als die Gesamtheit unserer Mitmenschen, d. h. als unsere Mitwelt
bezeichnen.
Dieser mitmenschliche Bereich ordnet sich ohne weiteres unserer
„natürlichen Umwelt" und ihren Horizonten ein. Er bildet also keine
Welt für sich, losgelöst von der Dingwelt, die uns als unsere „natürliche
Umwelt" gilt, wie dies etwa für den Bereich der Zahlen oder sonstiger
mathematischer Gebilde, für das Gebiet der musikalischen Töne oder für
die Ordnung der reinen Farben der Fall ist. Innerhalb der Dingwelt selbst
befinden sich unsere Mitmenschen : die Passanten gehen auf der Straße
neben den Häusern, sie weichen einander aus, wie sie auch Dingen, ζ. B.
vorüberfahrenden Wagen, ausweichen; im Garten unter den Bäumen
spielen Kinder; mein Besucher sitzt auf einem Stuhl mir gegenüber, er
befindet sich in meinem Zimmer, in meiner augenblicklichen Umgebung,
in dieser nehme ich ihn mit und unter all dem wahr, was sonst noch in ihr
an Beständen vorhanden ist. Auch hat er zu diesen Dingbeständen gewisse
Beziehungen: er sitzt z . B . „nahe" am Schreibtisch und befindet sich
„weit weg" vom Schrank, wobei „nahe" und „weit weg" nicht Quanta
einer und derselben qualitätsfreien bloßen Distanz (d.h. des reinen
Abstandes im Sinne der analytischen Geometrie) bedeuten, sondern
bestimmte qualitative Beziehungen", die freilich auch in genau dem
gleichen Sinne zwischen den Dingen meiner Umgebung bestehen: der
Schrank ist ebenso „weit weg" vom Schreibtisch und ebenso „nahe" an
der Wand. So stellt sich der Bereich der Mitmenschen auch nicht als ein
Teilbereich der Welt heraus, wie dies etwa für mein Zimmer und
überhaupt für jede Umgebung als ein räumlicher Ausschnitt innerhalb der
Umwelt gilt. In jedem derartigen Teilbereich treffen wir andere Menschen
an oder können sie dort antreffen ; in ihrer Gesamtheit bilden sie jedoch
keinen solchen Teilbereich.
Originäre Erfahrung von Dingen und Dingumgebungen haben wir in
Akten sinnlicher Wahrnehmung. In Akten prinzpiell der gleichen Art
erfahren wir auch den Mitmenschen, den wir in unserer Umgebung
erblicken. Das liegt daran, daß wir die Mitmenschen den Teilbereichen der
Welt, die wir als jeweilige Umgebung bezeichnen, restlos eingeordnet
finden. Wie wir am Ding Beschaffenheiten (Farbe, Größe und Form) und
Veränderungen dieser Beschaffenheiten wahrnehmen, so nehmen wir an
dem besonderen Ding „menschlicher Körper", der hier durchaus Ding
unter Dingen ist, Beschaffenheiten und deren Veränderungen wahr. Wir
sehen die Größe und Gestalt des uns gegenüber befindlichen menschli-
chen Körpers, die Farbe seiner Haare, seiner Augen, seiner Haut; wir
bemerken Bewegungen an ihm, sein Arm hebt sich, sein Kopf vollführt
eine Drehung, oder der ganze Körper ist in Bewegung, er „geht", er
„läuft" usw. Wie diese exemplarische Beschreibung der Gegebenheiten
der Wahrnehmung vom menschlichen Körper zeigt, sind diese Gegeben-
heiten prizipiell dieselben wie die der Dingwahrnehmung. Der Unter-
schied liegt lediglich in den Qualitäten der einzelnen Wahrnehmungsge-
gebenheiten, sowie ferner vor allem darin, daß bei der Wahrnehmung
menschlicher Körper die Bewegungen und Qualitätsvariationen häufiger,
vielgestaltiger und mannigfaltiger sind als bei der Dingwahrnehmung, was
aber an der prinzipiellen Gleichartigkeit der beiden Wahrnehmungsgege-
benheiten nichts ändert. Dabei ist es gar nicht erforderlich, die Wahrneh-
mungsgegebenheiten als pure Empfindungsdaten und entsprechend das
Wahrnehmungsobjekt (das Ding bzw. den menschlichen Körper) als
Empfindungsaggregat zu beschreiben, wie es z . B . Berkeley und Hume
taten. Man kann darauf verweisen, daß wir beim Sehen von Dingen nicht
Empfindungen haben, sondern gegliederte artikulierte Dingaspekte, von
denen jeder einzelne ein durchgegliedertes Ganzes ist, und daß ferner
diese Aspekte, wenn wir unsere Orientierung ändern, nicht beliebig
wechseln. Daraus resultiert keine reine Summe", kein bloßes Nacheinan-
der von Aspekten. Vielmehr gehen diese Aspekte kontinuierlich ineinan-
der über. Dabei bedeutet die hier angesprochene eigentümliche Kontinui-
tät, daß die verschiedenen Aspekte stets aufeinander verweisen; mit
64 „Summe" steht hier immer in dem durch WERTHEIMER, Untersuchungen zur Lehre von
der Gestalt, I, fixierten Sinne.
auch kein Zufall ist, daß sie in der Reihe der in der Neuzeit ausgebildeten
Phänomenologien historisch an so früher Stelle steht. Der Hang zu einer
Phänomenologie der puren Empfindungsdaten ist sogar recht stark, wie
sie am konsequentesten von Hume ausgebildet ist, und es gibt eine ganze
Reihe von Motiven, die in diese Richtung weisen, von denen nur eines,
nämlich das der damaligen Physik entlehnte und auf das Gebiet des
Bewußtseins übertragene „Ökonomieprinzip" („entia non sunt multipli -
canda praeter necessitatem"), genannt sei. Aber an und für sich
motiviert der dargelegte Weltbegriff nicht unbedingt jene „Sparsamkeit",
die zur Behauptung der prinzipiellen Gleichartigkeit der Befunde
unmittelbarer Wahrnehmung von menschlichen Körpern mit denen von
bloßen Dingen führt.
Der erörterte Weltbegriff vermag durchaus auch die Lebensphänome-
ne, das spezifisch Leibliche in sich aufzunehmen, auf dessen Unterschied
gegenüber dem Körperlichen ( = Dinghaftem) zuerst Scheler" aufmerk-
sam gemacht hat. Allerdings steht Scheler, wie noch zu zeigen sein wird67,
nicht auf dem Boden dieses Weltbegriffes, denn er modifiziert ihn gerade
in bezug auf dessen Ursprünglichkeit. Das bedeutet hier: er stellt die
Natürlichkeit der in ihm liegenden Absolutheitsprätention in Frage. Aus
diesem Grunde kann er „Leiblichkeit" als eine ,Kategorie' ansehen, als
„eine besondere materiale Wesensgebundenheit. . ., die in jeder fakti-
schen Leibwahmehmung als Form der Wahrnehmung fungiert". De-
mentsprechend gilt ihm die „Sphäre Lebewesen und Umwelt" als eine
eigenständige, auf den Bereich der Dinge „unreduzible Sphäre des Seins",
und zwar so, daß „die Realität der lebendigen Wesen . . . der Realität des
Toten sicher Wvorgegeben" ist48. Beharrt man dagegen auf dem Boden
des von Husserl explizierten Weltbegriffs, so kann von einer Selbständig-
keit der Lebens-, Ausdrucks- und ähnlicher Phänomene gegenüber den
dinghaften Gegebenheiten insofern nicht die Rede sein, als diese
Phänomene auf das Dinghafte als auf ihr Fundament angewiesen sind ; sie
sind n i c h t vor dem Dinghaften gegeben, vielmehr treten sie, wo sie
vorhanden sind, an ihm auf. Allerdings sind sie auf dinghafte Qualtitäten
und Vorgänge nicht reduzierbar ; sie sind, wenn auch fundierte Phänome-
ne, so doch Phänomene vollen Rechtes, die als solche hingenommen
werden müssen und nicht auf Andersartiges zurückgeführt, d. h. „fortin-
terpretiert" werden dürfen. Als Urschicht der Welt fungieren die Dinge
tieren" oder genetisch erklären will. Das ist aber insofern bedenklich, als Verschmelzung
immer Verschmelzung an und für sich disparater, auch in der Verschmelzung in
gewissem Sinne disparat bleibender Inhalte besagt (vgl. C . STUMPF, Tonpsychologie,
Leipzig 1890, Bd. II, S. 64 ff. ; ferner GURWITSCH, Phänomenologie der Thematik und des
reinen Ich, Kap. III, § 16 Anm.).
70 STEIN, a.a.O., S. 48 f.
71 STEIN, a . a . O . , I I I , § 5 h .
72 Das Gleiche gilt auch für die Einfühlung in fremde leibliche Organe; vgl. STEIN,a.a.O.,
III, § 5 b.
75 STEIN, a . a . O . , I I I , § 5 i .
74 Vgl. SCHELER, Sympathie, S. 6 und 304 [G. W. 7, S. 21 und 2 5 5 - 2 5 6 ] ,
Untersuchung bestimmen. Wäre das nicht der Fall, dann müßte die Frage
aufgeworfen werden, woran er die bei Gelbsucht veränderte Gesichtsfar-
be von einem „gelblichen Teint" unterscheiden könnte. Damit ist
natürlich nicht gesagt, daß der Arzt lediglich aufgrund derartiger Befunde
seine Diagnose stellt, aber sie geben ihm einen gewissen Anhaltspunkt für
die Richtung seiner Vermutungen. Was man den „ärztlichen Blick" nennt,
ist im wesentlichen die Fähigkeit, solche „Lebensphänomene" wahrzu-
nehmen und zu erkennen.
Ein anderer Typ phänomenaler Charaktere liegt vor, wo leibliche
Bewegungen als Ausdrucksbewegungen erscheinen; oder allgemeiner:
wo überhaupt irgendetwas Leibliches, z . B . eine Miene als Ausdruck,
gegeben ist". Dank einer derartigen Eigentümlichkeit verweist die
leibliche Gegebenheit, an der sie auftritt, auf etwas Psychisches zurück,
mit dem sie eine „natürliche Einheit" bildet. Das Psychische wird mithin
durch sie hindurch erfaßt, im Gegensatz etwa zu den „Lebensphänome-
nen", die in der Weise der Verschmelzung mit dem Leiblichen
mitgegeben sind und mit-wahrgenommen werden. Die „natürliche
Einheit" von Gefühl und leiblichem Ausdruck besteht darin, daß das
Gefühl den Ausdruck aus sich hervortreibt, sich in ihm entlädt, seinem
Sinne nach gerade dieses Ausdrucksphänomen motiviert, d. h. ein solches
eines bestimmt umgrenzten Bereiches und kein irgendwie beliebiges, so
besteht ein innerer, sachlicher Zusammenhang (ein Wesenszusammen-
hang) zwischen Erlebnis und Ausdruck, aufgrund dessen dieses konkrete
Ausdrucksphänomen adäquater Ausdruck eben dieses Erlebnisses ist76.
Das wird dort am deutlichsten, wo jemand absichtlich die „natürliche
Einheit" seines Erlebens und seiner Ausdrucksbewegungen stört, um
durch willentlich hervorgebrachte Ausdrucksphänomene ein nicht vor-
handenes Erleben vorzutäuschen. Das Gewollte, Gekünstelte, Unechte,
das den in dieser Weise hervorgebrachten Ausdrucksphänomenen eignet,
weist darauf hin, daß sie in keinem natürlichen, d.h. sachlichen und
sinngemäßen Zusammenhang mit den „hinter" ihnen stehenden Erlebnis-
sen stehen und das wirklich Erlebte eben nicht adäquat ausdrücken. Auch
hier können die Erlebnisse, deren Außenseite die Ausdrucksphänomene
bilden, erst in der mitvollziehenden Einfühlung zu voller konkreter
Gegebenheit kommen. Aber damit diese Einfühlung möglich wird,
müssen die wahrgenommenen Phänomene selbst als Ausdrucksphäno-
mene, d. h. eben als Außenseite eines Seelischen, gewissermaßen als in sich
75 Vgl. STEIN, a.a.O., I I I , § 4 d und § 51.
76 Vgl. hierzu SCHELEX, a.a.O., S. 6 ff. [G. W. 7, S. 21 ff.].
noch nicht fertiges, nicht abgeschlossenes Etwas gegeben sein. Wenn Stein
von Leervorstellungen spricht, die mit einer Miene bereits vor Vollzug der
Einfühlung mitgegeben sind oder davon, daß „das Symbol noch nicht in
bestimmte Richtung zeigt", ein „Hinweis ins Leere" ist77, wobei diese
Leervorstellung unter Umständen gar nicht zur Erfüllung kommen kann,
weil der Ausdruck mir unverständlich bleibt, so ist hierdurch jenes
charakteristische Moment an den wahrgenommenen Ausdrucksbewe-
gungen bezeichnet, die schon als w a h r g e n o m m e n e „ergänzungsbe-
dürftig" sind und auf ihre Ergänzung durch ein sinngemäß zu ihnen
gehöriges Seelisches verweisen. Sie zeigen sich als Momente einer
sachlichen Einheit und machen ihre Einbeziehung in diese volle und
konkrete Einheit erforderlich. Unter diesem Hinführen auf das sinnge-
mäß zu ihnen gehörige Seelische ist gemeint, daß die Ausdrucksphänome-
ne Ausdruck von etwas Seelischem sind, mit ihm in Symbolbeziehung
stehen, wobei noch auf den Unterschied zu den „Lebensphänomenen"
hingewiesen sei, die bezeichnenderweise nicht zu sachlich Dazugehöriges
führen. Die „Lebensphänomene" machen sich durch den „timbre"
bemerkbar, den sie dem leiblichen Geschehen verleihen.
Diese Darstellung einiger repräsentativer Punkte der Steinschen
Untersuchung zeigt jedenfalls dies : auch von dem bisher allein in Betracht
gezogenen Weltbegriff aus kann der Zugang zum Fremdseelischen in
seinen verschiedenen Schichten erschlossen werden78. Bedingung dafür ist
nur die „vorurteilslose" und adäquate Explikation der gegebenen
Phänomene selber, die schlichte Hinnahme und Anerkennung dessen,
was sich an ihnen findet. Für eine Deskription, die sich den phänomenalen
Gegebenheiten treu anmißt, sie als das nimmt, als was sie sich geben (und
nicht von irgendwelcher Theorie geleitet, das phänomenal Gegebene
verarmen läßt, indem sie gewisse Phänomene nicht in ihrem Eigenrecht
gelten läßt); — für eine Phänomenologie — meinen wir — die jedes
Phänomen als das nimmt, als was es in sich ist, besteht jene ausweglose
Zugangsproblematik zum Fremdseelischen nicht, die sich — wie wir
sahen — nicht allein aus dem explizierten Weltbegriff ergibt, sondern erst
aufgrund einer spezifisch ausgeprägten Bewußtseinsphänomenologie.
Die Bedeutung der Untersuchung Edith Steins erblicken wir darin, daß sie
in die Gegenstandswelt = Dingwelt7' die lebendigen, beseelten Wesen in
77
Vgl. STEIN, a.a.O., S. 88 : „das, was ich sehe, ist unvollständig, es gehört noch etwas
hinzu, ich weiß nur noch nicht, was."
78
Vgl. auch oben, § 7.
79
Die Gegenstände, die wir in unserer natürlichen Umwelt wahrnehmen, sind ja die
Dinge; insofern darf h i e r Gegenstand mit Ding gleichgesetzt werden.
all ihren Schichten eingeordnet hat und sie in dieser Welt selbst auffindet
und entdeckt, d. h. keiner theoretischen Konstruktion bedarf, um in die
phänomenalen Gegebenheiten etwas hineinzubringen, was in ihnen selbst
nicht liegt. Das Gelingen dieses ihres Unternehmens liegt an ihrem
wirklich phänomenologischen Vorgehen, wobei es für das Prinzipielle
nicht darauf ankommt, ob man mit allen Einzelheiten ihrer Beschreibun-
gen und ihrer Thesen übereinstimmt oder nicht. Dieses phänomenologi-
sche Vorgehen tritt besonders darin zutage, daß sie ihren Einfühlungsbe-
griff deutlich gegen den von Lipps abhebt. Einfühlung bedeutet für sie
nicht das Beseelen dessen, was an sich phänomenal als bloßes Ding
gegeben ist ; vielmehr ist Einfühlung das explizierende, mitgehende Nach-
und Mitvollziehen der Tendenzen, die in jeweils anderer Weise in dem
phänomenal Gegebenen implizit enthalten sind. Daher unterscheidet
Stein80 drei Vollzugsstufen der Einfühlung, von denen hier für uns vor
allem die erste in Betracht kommt, nämlich das Auftreten und Gegeben-
sein der implizierten Tendenzen als Ausgangspunkte des mitgehenden
Einfühlens. Denn dieses Auftreten bedeutet, daß an den unmittelbar
gegebenen Gegenständen phänomenale Charaktere sich manifestieren,
dank der die betreffenden Gegenstände b e r e i t s im P h ä n o m e n a l e n
selbst als etwas anderes denn als bloße Dinge erscheinen.
Gegenüber dieser von Edith Stein aufgezeigten Möglichkeit, vom
zugrundeliegenden Weltbegriff den Mitmenschen als Mitmenschen ins
Auge zu fassen, stellen wir die Frage : ist uns in unserem n a t ü r l i c h e n
und alltäglichen L e b e n der M i t m e n s c h w i r k l i c h als G e g e n s t a n d
gegeben, an dem wir diese oder j e n e P h ä n o m e n e von L e b e n d i g -
keit und B e s e e l t h e i t w a h r n e h m e n ? H a b e n wir in u n s e r e m
A l l t a g s l e b e n a u s s c h l i e ß l i c h oder v o r z u g s w e i s e in der Weise mit
anderen M e n s c h e n zu tun, daß wir ihnen als G e g e n s t ä n d e
g e g e n ü b e r s t e h e n , auf sie h i n s c h a u e n , dieses und jenes an ihnen
b e m e r k e n ? Gewiß, wir k ö n n e n den Mitmenschen auch in dieser Art
gegenüberstehen und sie zum Thema unserer c o g i t a t i o n e s machen.
Wir aktualisieren gerade diese Möglichkeit etwa als Ärzte. Daher haben
wir auch Wert auf die Bedeutung gelegt, die die Wahrnehmung der
Lebensphänomene für die Untersuchung des diagnostizierenden Arztes
besitzt. Ist aber die ärztliche Einstellung zum Patienten, die hier im Sinne
eines Paradigmas der distanzierten Haltung des Erkennenden zu seinem
Objekt gedeutet wird, wirklich repräsentativ für die Art, wie wir im
alltäglichen Leben den Mitmenschen begegnen, wenn wir ihnen nicht
80 V g l . STEIN, a . a . O . , S. 9 f.
gerade als Beobachter und Erforscher mit der Intention auf Erkennen
gegenübertreten. Und allgemein: ist die Welt als Inbegriff von
Zielpunkten freier cogitationes in der Tat die Welt, in der wir
leben, mit deren Beständen wir umgehen und hantieren?
Wiederum soll nicht in Zweifel gezogen werden, daß eine Haltung zur
Welt, wie sie für das cogitare kennzeichnend ist, sich in der Tat
aufweisen läßt; demnach muß auch ein korrelatives Phänomen im Sinne
der Welt als Gegebenheit81 aufweisbar sein. Nicht auf das „Faktum" dieses
Phänomens zielt jedoch unsere Frage; sie bebetrifft vielmehr das Recht
seiner Ursprünglichkeit. Bedeutet unser natürliches und alltägli-
ches In-der-Welt-Leben ein Haben von Gegenständen und ein ihnen
Gegenüberstehen, so daß wir als freie Wesen in freien Akten uns auf
Gegenstände richten, die in diesen Akten in ihrem Eigensein an sich
„unabhängig" von unseren Zuwendungen zur Gegebenheit kommen?
Oder wird damit das In-der-Welt-Sein nicht viel eher und von
vornherein als ein Welterkennen interpretiert 8 2 , ohne daß dieser
Ansatz explizit diskutiert und in seinem Recht ausgewiesen wird ? Und ist
die in dem dargelegten Weltbegriff thematisierte Welt nicht etwa die, die
der Wissenschaftler am Anfang seiner Forschung (und bereits im
Hinblick auf diese) vorfindet, und die ihm, während er als Forscher auf sie
gerichtet ist, aber auch nur dann, „gegeben" ist?
überhaupt aus dem Chaos der Eindrücke ein Kosmos, ein charakteristisches und
typisches .Weltbild' sich formt. Jedes solche Weltbild ist nur möglich durch eigenartige
Akte der Objektivierung, der Umprägung der bloßen .Eindrücke' zu in sich bestimmten
und gestalteten .Vorstellungen'." Vgl. dagegen freilich ζ. Β. I. S. 39 f., wo Cassirer die
Gegebenheit einer „materia nuda", d.h. reiner und ungeformter „Eindrücke" bestreitet,
zu denen eine „Formgebung" erst hinzutreten muß (siehe auch Bd. II, S. 46 ; Bd. III, S.
18 f.). Hier meint er aber das faktische Gegebensein, die phänomenologische
Vorfindlichkeit einer solchen „materia nuda", ohne daß sich seine Kritik gegen die
prinzipielle Möglichkeit dieses Begriffes selbst richtet, den er vielmehr als „erkenntnis-
theoretischen Grenzbegriff" in gewissem Umfange gelten läßt. Vgl. auch HEIDEGGERS
Besprechung dieses Bandes der Philosophie der symbolischen Formen in der Deutschen
Literaturzeitung, IL (1928).
90 Vgl. oben S. 74 f.
" Als ein überaus wichtiges Problem sei hier die Frage nach der „Herkunft" und der
Wurzel der genannten Voraussetzung bezeichnet, die wohl mehr als eine bloß
theoretische ist.
92 Vgl. in diesem Zusammenhang auch SCHELERS Polemik gegen die Evolutionstheorie
Spencers, Formalismus, S. 157 Anm. [G. W. 2, S. 168, Anm. 2], 291 f. [G. W. 2. S.
2 8 7 - 2 8 8 ] und 300f. [G. W. 2, S. 294-295].
Milieus; diese Explikation kommt nun nicht etwa zu seinem Leben im Milieu
nachträglich als dessen „Deutung" hinzu : vielmehr ist es ein Konstituens des Lebens im
Milieu, daß dieses Leben immer in bestimmter Weise um sich selbst weiß. Als Form
dieses „Wissens" sehen wir die „relativ natürliche Weltanschauung" in ihrem Bezug auf
das jeweilige Milieu an. Dieser Zusammenhang, dessen volle Darlegung wir späteren
Arbeiten vorbehalten müssen, hat seinen Grund in dem zum „Dasein" konstitutiv
gehörigen Seinsverständnis seiner selbst; vgl. auch HEIDEGGER, Sein und Zeit, § 4. Zum
genannten „Wissen" vgl. zudem § 16.
95 Hier liegt auch die Wurzel des Schelerschen Begriffes der „Daseinsrelativität".
men wird". So ist das Milieu gleichsam eine „feste Wand", eine Mauer,
hinter die der betreffende Mensch gebannt ist. Keine Richtung der
Aufmerksamkeit oder des Interesses und keine Veränderung dieser
Richtung'7 vermag etwa den Spaziergänger in das Waldmilieu des Jägers
oder umgekehrt zu führen. Jeder bleibt in seinem, d. h. spezifisch ihm
zugeordneten Milieu gefangen, innerhalb dessen er auf dieses oder jenes
Milieuding oder bald auf diesen, bald auf jenen Zug des einen und selben
Milieudings seine „Aufmerksamkeit lenken" kann; aber der Umkreis
dessen, worauf er seine „Aufmerksamkeit zu richten" vermag, ist ihm
durch sein Milieu und dessen spezifische Struktur vorgezeichnet. Das
gleiche gilt für die Interessenrichtungen, die innerhalb des vorgegebenen
Milieus Interessensphären konstituieren, in denen dann die Aufmerk-
samkeit sich bewegen kann. „Die Aufmerksamkeitserlebnisse spielen sich
innerhalb von ,Interesseneinheiten' und ihren entsprechenden Wertein-
heiten ab; sie vermögen das Gefüge dieser Einheiten und ihrer
Gliederung nicht zu zerbrechen oder zu verändern."
Weil das Milieu, in dem ein Mensch lebt, seiner Struktur nach auf seine
Triebanlage und nicht auf seine Erkenntnisfunktionen bezogen ist, sind
die primären „Gegebenheiten" relativ primitiver Milieus nicht Dinge mit
sachhaften Bestimmtheiten (Totes), sondern A u s d r u c k s e i n h e i t e n
(Lebendiges). Das primäre Verhalten, d.h. das lebendige Verhalten im
Milieu, ist kein distanziertes Schauen auf Dinge und kein Vorstellig-wer-
den-lassen ihrer sachhaften Bestimmungen, sondern ein emotionales und
reaktives Verhalten zu Ausdruckseinheiten98. D i e s e aber k o n s t i t u -
ieren sich nicht erst auf dem B o d e n ding- und sachhafter
G e g e b e n h e i t e n ; sie sind (wie Scheler im Anschluß an Koffkas
kindespsychologische Untersuchungen und an die Forschungen Lévy-
Bruhls ausführt) das „Allererste, was der M e n s c h an außer ihm
" SCHELER, Sympathie, S. 275 f. [G. W. 7, S. 233 f.] ; vgl. ferner Wissensformen, S. 478 f. [G.
W. 8, S. 376 f.], zudem die bestätigenden Ausführungen bei KOFFKA, Die Grundlagen der
psychischen Entwicklung, S. 100ff., der auch theoretisch (innerer, d.h. sachlicher
Zusammenhang von äußerem Verhalten und phänomenal Erlebtem) Scheler sehr nahe
steht. Entsprechend auch die Befunde KOHLERS, vgl. Zur Psychologie des Schimpansen, S.
3 8 ff.
100 Vgl. die analogen Ausführungen hinsichtlich der Wertqualitäten in SCHELERS Formalis-
99 f. Allerdings bezieht Cassirer diese „Stufe der Wahrnehmung" nicht auf eine
Triebverfassung, sondern auf eine bestimmte Dimension in der „Welt des Geistes" (vgl.
a. a. O., S. 92 f.), eine Interpretation, die wir wegen ihrer Basis (vgl. oben S. 84, Anm.
89) nicht übernehmen können. — An dieser Stelle wird auch der Gegensatz zwischen
Scheler—Cassirer und Stein (vgl. bes. STEIN, a.a.O., S. 99 f. und 30 ff.) besonders
deutlich.
102 Vgl. SCHELER, Sympathie, S. 275 [G. W. 7, S. 233] und Wissensformen, S. 435 ff. [G. W. 8,
S. 343 ff.].
103 Bekanntlich bezieht Scheler auch die Arbeit der positiven Wissenschaft und das
„Weltbild", das sie entwirft, auf die Triebstruktur des Menschen, genauer: auf den
Herrschaftswillen eines „mit einem vernünftigen Geiste verknüpften Vitalwesens"
überhaupt, „eine Idee, für die der . . ..Mensch' . . .nur ein, wenn auch unser einziges
.Beispiel' ist", )Wissensformen, S. 299 ; vgl. ferner S. 99 ff., 126 ff ; 234 ff., 250 ff. [G. W. 8,
S. 242; vgl. ferner S. 92ff., 112ff„ 193ff., 205ff.]). Auf diese Interpretation der
Wissenschaft, die eines der Symptome der modernen „Krise" der Wissenschaft darstellt,
müssen wir uns in diesem Zusammenhang ein näheres Eingehen versagen. —
104 SCHELER. Wissensformen, S. 52 f. ; vgl. auch S. 475 ff. [G. W. 8, S. 56 f. ; vgl. auch S. 373 ff.].
105 Vgl. SCHELER, Wissensformen, S. 418ff. [G. W. 8, S. 331 ff.].
106 Zur Kritik dieser Theorie der Sinnesempfindungen aufgrund der Aufgabe der
Konstanzannahme, vgl. KÖHLER „Über unbemerkte Empfindungen und Urteilstäu-
schungen", Zeitschrift für Psychologie, LXVI (1913).
107 Vgl. SCHELER, Formalismus, S. 150ff. [G. W. 2, S. 162ff.]; Wissensformen, S. 432ff. [G.
W. 8, S. 341 ff.].
108 Selbstverständlich hat diese Wahrnehmungstheorie Schelers nichts zu tun mit der
110 Vgl. SCHELER, Formalismus, S. 150f. [G. W. 2, S. 162ff.]; Wissensformen, S. 283 und 365
[ G . W . 8, S. 2 3 0 und 2 9 1 ] .
111 Vgl. hierzu SCHELER, Formalismus, S. 50 ff. [G. W. 2, S. 74 ff.].
112 Vgl. HUSSERL, Ideen, §§ 44 und 138.
113 Wir erinnern an die Schelersche Bestimmung des Milieus als das „als wirksam Erlebte",
unabhängig davon, „ob das ,als wirksam Erlebte* in irgendeiner Form auch perzipiert
worden ist oder nicht".
114 Vgl. z . B . SCHELER, Formalismus, S. 157 Anm. [G. W. 2, S. 168, Anm. 2],
115 Vgl. SCHELER, Wissensformen, S. 6 ff. [G. W. 8, S. 20 ff.].
' " V g l . SCHELER, a.a.O., S. 427f. [G. W. 8, S. 337f.], wo die Forderung nach einer
„makroskopischen, vergleichenden und entwicklungstheoretischen Untersuchung" der
Wahrnehmung erhoben wird, die ihrem Sinne nach die Voraussetzung der einen Welt
impliziert.
117 Vgl. SCHELER, a.a.O., S. 368 ff. [G. W. 8, S. 293 ff.J und Idealismus-Realismus, S. 269 f.
§ 13 Die Zeugumwelt
wird. Dieser Fall, der überspitzt erscheinen mag, ist jedoch für ein
Verhalten beispielhaft, das wir in einem prägnanten Sinne „töricht"
nennen können. Wir weisen aber darauf hin, daß die von Köhler127
berichteten „groben Gewöhnungstorheiten" (vor allem im Gegensatz zu
den „guten Fehlern") der von ihm beobachteten Anthropoiden durchweg
vom Typus des angeführten Falles sind. Dabei ist es bemerkenswert, auch
und gerade in bezug auf daraus sich ergebende Folgerungen, daß — wie
Köhler ausdrücklich betont — derartige Torheiten ausschließlich als
Resultate freilich nicht beabsichtigter Dressuren auftraten.
Die Bestimmung des Milieudings als Zeug, welches durch seinen
Gebrauch gekennzeichnet wird, wird durch die Befunde der kindlichen
Sprache vor der Ausbildung der „Nennfunktion" bestätigt128. Anderer-
seits können die Beschreibungen Heideggers zum Verständnis nicht nur
der betreffenden kindlichen Sprachleistungen beitragen, sondern vor
allem auch zum Verständnis der gesamten „Welt" als Umwelt des Kindes,
der jene sprachlichen Leistungen entstammen und für die sie symptoma-
tisch sind. C. und W. Stern12' sprechen von einer „natürlichen Symbolbil-
dung" in diesem frühen Stadium der Kindersprache. Darunter verstehen
sie : „das Wort ,wau wau'. . . greift.. . aus der Gegenstandswahrneh-
mung direkt einen Teil, und zwar einen sehr auffälligen heraus, nämlich
die oft gehörte Lautäußerung des Tieres; so wird das Wort zu einem
natürlichen Symbol des Gegenstandes." Damit ist aber vorausgesetzt,
daß das Kind bereits vor der Ausbildung der „Nennfunktion" fertig
ausgebildete Gegenstände mit ihren Merkmalen wahrnimmt, unter denen
dieses oder jenes Merkmal besonders „auffällt", so daß die Ausbildung
der „Nennfunktion" eine lediglich sprachpsychologische Erscheinung
ist, jedoch nicht ein Symptom für eine vor sich gehende radikale
Veränderung der kindlichen Umwelt und ihrer Struktur insgesamt. Sieht
man die Entwicklung — im Großen und Ganzen — so, daß sich zunächst
auf einem diffusen, mehr oder weniger monotonen Hintergrund ganz
primitive, rohe, und relativ ungegliederte Strukturphänomene abheben
und sekundär ein Prozeß der fortschreitenden Differenzierung und
Artikulation der primitiven Strukturphänomene einsetzt, der schließlich
zu völlig durchgebildeten, bis ins letzte gegliederten und diskret sich
127
Vgl. KOHLER, Intelligenzpräfungen an Menschenaffen, S. 1 4 0 ff.
128
Vgl. K. BOHLER, Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1922, S. 223 ff. und 393 ff. ;
vgl. auch C. und W. STERN, Die Kindersprache, Leipzig 1926, S. 190 ff.
129
Vgl. STERN, Die Kindersprache, Kap. X, 4, und W. STERN, Psychologie der frühen
Kindheit, Kap. VIII, 3.
130
Vgl. KOFFKA, Die Grundlagen der psychischen Entwicklungen, Kap. III, 13, ferner auch,
abweichend von Koffka, STERN, Psychologie der frühen Kindheit, Kap. VI, 1.
131
Vgl. KOFFKA, a.a.O., S. 244 f.
132
Vgl. STERN, a.a.O., S. 307 f.
133
Damit steht im Einklang, was KOFFKA, Die Grundlagen der psychischen Entwicklung, S.
242 f., über die „Kerngebilde" ausführt, die er als die Dinge der kindlichen Welt
bezeichnet. Eben auf diese ungegliederten „Kerne" mit ihren primitiven und rohen
Strukturen gehen die gemeinten kindlichen Äußerungen; diese „Kerne" sind aber auch
nichts anderes als ein nur ganz grob strukturiertes Geschehen. —
141 Die in der jeweils verschiedenen Zeughaftigkeit „eines und desselben" Zeugs enthalte-
nen Probleme, die Heidegger nicht gesehen hat, da er auf diese mögliche Vieldeutigkeit
nicht eingegangen ist, werden in § 15 zur Sprache kommen.
142 HEIDEGGER. a . a . O . , S . 7 0 f . u n d § 18.
143 „Im gebrauchten Zeug ist durch den Gebrauch die .Natur' mitentdeckt, die .Natur' im
Lichte der Naturprodukte."
dieses einzelne Zeug vom Zeugganzen her zu dem konkreten Zeug wird,
das es hic et nunc ist, steht seine Verweisung auf den Umgang mit ihm
unter der anderen Verweisung auf die zugehörige Zeugganzheit, welch
letztere mithin die für Zeughaftigkeit fundamentale ist. Von dieser Art der
Verweisung ist aber prinzipiell verschieden der Typ jener Verweisungen,
die innerweltlich Seiendes „mitbeibringen". Das „Mitbeigebrachte"
gehört als solches nicht zur Zeugganzheit — ; es konstituiert die von dieser
gebildete Situation nicht mit. Infolgedessen besagt die Verweisung von
Zeug auf das „Mitbeigebrachte" nicht seine Bestimmung von diesem her
und sein Sein von „dessen Gnaden". Vielmehr bildet das „Mitbeigebrach-
te" einen H o r i z o n t um die Zeugganzheit wie auch um die Situation, in
der wir es mit der Zeugganzheit zu tun haben. Dieses „Mitbeigebrachte"
ist in der Situation „anwesend", aber in der Weise, in der ein Horizont
anwesend zu sein pflegt: weder ist er in die Situation aufgenommen noch
trägt er dazu bei, sie auszuprägen, wohl aber verweist die Situation selbst
auf ihn als auf ihren Horizont und verweist damit über sich selbst hinaus.
Diese Verweisung der Situation und der in ihr figurierenden Zeugganzheit
aus sich hinaus auf die Horizonte144 bedeutet die Möglichkeit eines
kontinuierlichen Hineingehens in diese verschiedenen Horizonte, wobei
das nur „Mitbeigebrachte" in neuen Situationen, in denen man es mit
neuen Zeugganzheiten zu tun hat, zu einem wirklich Zuhandenen werden
kann. So mag ich nach Fertigstellung des Werkes bei ihm bleiben und es
aus der Werkstatt hinausbegleiten zu dem Wozu seiner Verwendbarkeit,
ferner auch zu dem Wozu seiner Dienlichkeit usw. Ich mag aber
umgekehrt von der Verweisung auf die „Materialien" und von diesen auf
die „Natur" zurückgehen und so im kontinuierlichen Fortgang in die
Horizonte hinein immer neues und anderes „innerweltlich Seiendes" im
Sinne der „Zuhandenheit" entdecken. Die Kontinuität des Fortschrittes
liegt darin, daß der Fortgang durch den Akt der Herstellung geleitet wird :
im Fortgang selbst bin ich bei den Verwandlungen des Werkes zugegen
und vielleicht sogar an ihnen beteiligt. Und wenn ich umgekehrt der
Verweisung auf die „Materialien" folge, so lasse ich mich von den
„Vorbedingungen" der Entstehung des aktuellen Werkes führen. Im
Hineinschreiten in die Horizonte, das ein Gelangen zu neuen Situationen
ist, stellt die aktuelle Situation ihrerseits stets den Horizont der neuen
Situationen und der in ihnen zuhandenen Zeugganzheiten dar. Es besteht
ein ständiger Verweisungszusammenhang, der sich im Fortgang selbst
144
Das „Mitbeigebrachte" kann verschiedenen Horizonten angehören, die zudem noch in
verschiedenen Graden der Ausdrücklichkeit „anwesend" sein können.
Zusatz
Die Explikation der „natürlichen Welt" als Zeug-Umwelt orientierte sich
am Gegensatz von „Leben in . . ." als „Stehen in Situationen" und
141 Siehe die ähnlichen und entsprechenden Befunde bei GELB/GOLDSTEIN, Psychologische
_ Analysen hirnpathologischer Fälle, X, von denen die Untersuchungen WEIGLS ausgehen.
1 4 9 WEIGL, a.a.O., S. 33 ; vgl. auch S. 22 das „Vermissen" von Gegenständen.
150 Vgl. CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III, S. 304.
151 Vgl. K. GOLDSTEIN, „Über die Abhängigkeit der Bewegungen von optischen Vorgän-
gen", Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Bd. LIV, S. 1923; ferner Davoser
Revue III, No. 8 (15/V. 1928), den Bericht von G E L B und GOLDSTEIN über ihre an den
Ersten Internationalen Hochschulkursen in Davos (1928) gehaltenen Vorträge ; vgl. auch
CASSIRER, a.a.O., Bd. III, S. 309 ff. : „Man sieht wie hier die einzelnen Handlungen
innerhalb ganz bestimmter konkreter Situationen ihren Sinn bewahrt haben, — wie sie
aber zugleich in diese Situation auch gleichsam eingeschmolzen sind, wie sie aus ihr nicht
herausgelöst und selbständig gebraucht werden können." Cassirer betont mit Recht die
„Bindung ans Objekt", die hier vorliegt.
152 Der Verfasser hatte die Gelegenheit, im Gelb-Goldsteinschen Seminar zu Frankfurt
a. M. einen Kranken demonstriert zu sehen, der, als er den Satz „heute ist Donnerstag"
nachsprechen sollte, mit der Verbesserung antwortete „nein, heute ist ja Freitag" (es war
in der Tat an einem Freitag). Das Nachsprechen war bei diesem Patienten dann nicht
gestört, wenn es sich um vorgesprochene „wahre" Sätze handelte; vgl. dazu auch
CASSIRER, a.a.O., S. 295f. und 314ff.
153 Vgl. GELB/GOLDSTEIN, Psychologische Analysen hirnpathologischer Fälle, X, besonders I,
§4.
154 Die Versuche, die zu der Bildung der Begriffe „konkretes" und „kategoriales" Verhalten
Anlaß gaben, betrafen das Ordnen und Zuordnen von Farben.
155 Vgl. hierzu HUSSERL, Logische Untersuchungen, I, S . 1 2 8 - 1 2 9 [Husserliana XVIII, S .
135] über das „Erfassen" der Spezies „Rot", wenn wir ein „konkretes Rotes" vor Augen
haben.
156 Vgl. GELB/GOLDSTEIN, a.a.O., S. 158 und 184. Auf die Tragweite dieser Befunde für das
„Realitätsproblem", dessen Diskussion von hier aus auf eine neue Grundlage gestellt
wird, kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden, wie wir überhaupt das
„Realitätsproblem" aus der vorliegenden Abhandlung ausschalten müssen.
157 Vgl. CASSIRER, a.a.O., Bd. III, S. 319 ff.
158 Vgl. oben, S. 84 Anm. 89.
griff, für den die Gegenüberstellung des „Lebens" als der „Gesamtheit
der organisch-vitalen Funktionen" und der „spezifisch geistigen Funktio-
nen" konstitutiv ist, erschwert ihm sowohl eine Interpretation der
Sphären von „Leben in . . . " und c o g i t a r e , wie auch deren Gebietsbe-
stimmung15'; und schließlich hindert er ihn daran, die Problematik des
c o g i t a r e vom „Leben in . . . " her zu exponieren160. Denn was dem
„Leben in . . . " gegenübersteht, das sind nicht „symbolische Formen", in
denen der „Geist" sich „ein eigenes, ein intelligibles Reich innerer
Bedeutsamheit" aufbaut, sondern vielmehr das abständig Hinsehen und
freie Umschau-halten (das c o g i t a r e ) als eine neue und prinzipiell andere
„Haltung" zur Welt.
Mit der Berücksichtigung der pathologischen Befunde wollen wir nicht
etwa sagen, daß das primäre Verhalten in der Zeug-Umwelt von uns
Normalen genau von der Art sei wie dasjenige des Kranken 1 ". Was bei den
Patienten vorliegt, ist vielmehr eine Radikalisierung dessen, was es auch
beim Normalen gibt, wenn er in der Zeug-Umwelt hantiert und ihre
Bestände sinn- und sachgemäß als Zeug gebraucht. Diese Strukturen sind
beim Normalen um so deutlicher ausgeprägt, je stärker er ausschließlich
in der Zeug-Umwelt qua Z e u g - W e l t lebt, je „vorbehaltloser" und
hingebungsvoller er in den konkreten Situationen aufgeht. Gerade weil es
sich bei den Hirngeschädigten um eine Radikalisierung und um eine
Steigerung bis ins Extrem handelt, lassen die angeführten Befunde die
Strukturen des „Lebens in . . . " um so prägnanter erkennen, die dort, wo
immer schon die Möglichkeit zum kogitativen Verhalten besteht, gerade
von dieser Möglichkeit her verdeckt sind, so daß ihre Freilegung
Schwierigkeiten und Mißverständnissen ausgesetzt ist.
Daß aber bei den Hirngeschädigten eine derartig extreme Steigerung
vorliegt, hat seinen Grund darin, daß für sie die Möglichkeit der
Distanzierung und des freien Hinsehens schlechterdings nicht mehr
besteht. Indem der Kranke in der konkreten Situation völlig aufgeht und
sich von ihr nicht lösen kann, lebt er ständig und ausschließlich in der Welt
des hantierungsmäßigen Umgangs mit verwendbarem Zeug und wird
hilflos, sobald ihm ein anderes Verhalten zugemutet wird.
159 Der Mythos z. B. gehört (wie wir im Gegensatz zu Cassirer meinen, ohne es hier
begründen zu können) durchaus in das Gebiet des „Lebens in . . .", für das „mythische
Bewußtsein" ist eine Distanz zur Welt nicht konstitutiv.
160 Vgl. den Zusatz zu § 6, S. 38 ff.
161 Uber die Differenz der Sprache des amnestisch Aphasischen gegenüber der des Kindes,
v g l . GELB/GOLDSTEIN, a . a . O . , S. 1 8 4 .
162 Vgl. GOLDSTEIN, „Über die Abhängigkeit der Bewegungen von optischen Vorgängen", S.
174 ff. : „Ich erlebe, wie die Bewegungen aus der Situation, aus der Abfolge der
Geschehnisse selbst erfolgt; ich bin mit meinen Bewegungen gewissermaßen nur ein
Glied in der Abfolge . . ." Demgegenüber bei der Ausführung dieser Bewegungen auf
Aufforderung: „ . . . Ich stehe der Bewegung mehr als Zuschauer, affektlos gegenüber."
Vgl. HEIDEGGER, Sein und Zeit, S. 76.
gewissermaßen als eine Substanz verstanden wird, die ihre ihr allemal
zukommenden Attribute besitzt. Vielmehr bin ich in einer konkreten
Situation jeweils der, den die Situation aus mir macht. Im
Hämmern ζ. B. bin ich „Hämmerer"; — Hämmerer zu sein ist der Sinn
meines konkreten Seins in dieser Situation. Der Sinn der aufgehenden
Hingabe an Situationen der Zeug-Umwelt liegt also darin, daß
man gewissermaßen nur in ihr und nur auf sie hin konkret
existiert.
Die prägnantesten Belege für das soeben Gesagte liefert die phänome-
nologische Analyse des kindlichen Spiels, und vor allem der Spiele, in
denen das Kind eine „Rolle spielt", d. h. eine Person seiner Umgebung
„darstellt". Das geläufigste Beispiel für die hier gemeinten Spiele ist das
Umgehen der Mädchen mit ihren Puppen1". Bei diesem Spielen ist es dem
Kinde durchaus ernst mit seiner Spielsituation, in der es lebt; es ist völlig
„bei der Sache"; kommt ihm in seinem Spiel etwas aus der „objektiven"
Welt störend dazwischen, so versteht es — wie besonders die Beispiele aus
Scupin zeigen — die Störung im Sinne der Spielsituation und bezieht sie in
diese als ein neues Moment ein. Anders gesagt : die Störung wird zu dem,
was sie in der Situation gemäß deren Struktur bedeuten kann, und erhält
so ihren situationsgerechten Platz. Das Kind selbst „ i s t " im Spiel die
„Rolle", die es „spielt". Sein konkretes Sein in dieser Situation wird ihm
von dieser selbst vorgeschrieben; — daher bezieht es die genannten
Störungen, soweit sie es selbst betreffen, nicht auf sich als auf das Kind,
das es „objektiv" ist, sondern auf seine „Rolle" (d. h. auf sein situations-
bestimmtes konkretes Sein) und reagiert von da aus im Sinne der Situation
auf sie. Aus diesem Grunde können wir uns der Meinung Bühlers1'5 nicht
anschließen, daß es sich bei diesen Spielen um „Scheindeutungen"
handelt, und daß dem Kinde auch im völligen Aufgehen in seinem Spiel
„im Hintergrunde des Bewußtseins doch die richtige Orientierung zu der
Lebenswirklichkeit [die Bühler als die „objektive" Wirklichkeit versteht]
gewahrt bleibt". Die von Bühler selbst angeführten Beispiele sprechen
jedenfalls nicht im Sinne seiner Theorie (auf die Tatsachen, die er zu ihrer
Uberprüfung heranzieht, werden wir noch weiter unten einzugehen
1M Weitere Beispiele bei STERN, Psychologie der frühen Kindheit, Kap. X I X ; siehe besonders
die von BÜHLER, Die geistige Entwicklung des Kindes, S. 331, angeführten Beispiele aus
den Tagebüchern Scupins.
Vgl. BÜHLER, a.a.O., S. 325 f.; vgl. auch S. 139, wo er in Orientierung an Lipps von
„primitiven Einfühlungen" des Kindes spricht. Mit Lipps haben wir uns oben (§ 6)
auseinandergesetzt.
haben) 1 ". Wir können aber auch nicht Scheler"7 zustimmen, der nament-
lich im Puppenspiel eine „Einsfühlung" des Kindes mit der Mutter
(„enphorische Einsfühlung") und mit der Puppe („ekphorischer Einsfüh-
lung") sieht und diese „Einsfühlung" mit den anderen von ihm erwähnten
Daseins- und Soseinsidentifizierungen zusammenbringt. Bei den echten
„Einsfühlungen" und „Identifizierungen" (z.B. der des Primitiven mit
seinem Totemtier, des Mysten mit seinem Gotte usw.) handelt es sich um
ein Seinsverhältnis zwischen zwei Wesen, so daß das eine Teil hat am
anderen, in es aufgeht, in es hineingezogen wird und in ihm lebt, mit ihm
zusammen von einem gemeinsamen Lebensstrom durchpulst wird und
dgl. Von alledem ist bei dem genannten Spiel des Kindes keine Rede. Im
Puppenspiel steht das Kind nicht in einem Verhältnis zu seiner Mutter,
denn diese tritt in der Spielsituation gar nicht auf. Vielmehr wird es in der
Spielsituation aufgrund von deren Struktur zur „Mutter", es nimmt die
Stelle in der Situation ein, an der von der Gesamtsituation her eine
„Mutter" erfordert würde. Und weil es das tut, existiert es in der
konkreten Situation als „Mutter" ; — anders gesagt : es hat seine konkrete
Existenz in der Situation, in ihrem Sinne und von ihr her. Schon darin, daß
bei diesem Spiel die wirkliche Mutter gar nicht anwesend zu sein braucht,
zeigt es sich, daß hier keine „Einsfühlung" und „Identifizierung"
vorliegt. Durch den Hinweis darauf, daß das Kind doch mit seiner Puppe
so umgeht wie seine Mutter mit ihm, und daß deshalb so etwas wie
„Nachahmung" oder „Einsfühlung" mitwirken müsse, wird an dem
phänomenologischen Befund nichts geändert, für den es nicht darauf
ankommt, welche Umstände zu einem bestimmten Verhalten führen und
erforderlich sind, sondern vielmehr darauf, wie und als was in diesem
Falle das Kind sich in einer bestimmten Situation verhält.
Indem wir in einer Situation stehen und in ihr aufgehen, verhalten wir
uns in ihr in der von ihr vorgeschriebenen Weise. So erst entdecken wir
recht eigentlich die mannigfachen Verweisungen, die für das jeweilig
zuhandene Zeug konstitutiv sind, wie auch die spezifische Struktur der
Situation. Gerade im Umgehen und Hantieren wird die Situation und die
166 Siehe S. 118 f. - Gegen Bühler vgl. STERN, a. a. O., Kap. IX, 3. Obwohl STERN (Kap.
X X I , 2) die Spencersche Nachahmungstheorie als zu einseitig bezeichnet, ist er doch
geneigt, der Nachahmung eine „ungeheure Rolle" einzuräumen. Bei den Beispielen, die
er dabei anführt, handelt es sich aber teils um Sich-Einleben in Situationen und Rollen im
Sinne des Textes, teils um Ansteckungen, die wohl allein als echte „Nachahmungen"
gelten können. Damit diese Fragen entscheidbar werden, ist eine vorgängige phänome-
nologische Klärung dessen erforderlich, was „Nachahmung" eigentlich ist.
167 Vgl. SCHELER, Sympathie, S. 2 3 - 2 4 und 113 f. [G. W. 7, S. 35 und 105 f.].
168 HEIDEGGER, Sein und Zeit, S . 6 9 ; vgl. auch weiter unten, § 1 6 dieser Arbeit.
Vgl. LOWITH, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S . 6 1 f.
170 Über die zwei Bedeutungen des Wortes „sinnvoll", vgl. KOHLER, „Bemerkungen zur
Gestalttheorie", Teil I, III und Teil II, VI, Psychologische Forschung, XI (1928).
Zusatz
Eigenständigkeit bei ihm nicht genügend zur Geltung. Zwar verweist das
Erkennen selbst auf die Vorgängigkeit des „Seins in der Welt" und
„gründet in einem Schon-sein-bei-der-Welt", als welches es das Sein vom
Dasein wesenhaft konstituiert. Darin liegt, daß das Erkennen seine
Themen in gewisser Weise dem „Sein in der Welt", dem Leben im Milieu
entlehnt: richten wir uns in der Erkenntnisintention auf die Welt und
machen wir uns ihre Bestände in intentionalen Akten vorstellig, dann
wird das zum Zielpunkt des thematischen Bewußtseins, mit dem wir
schon jeweils im „Umgang" zu tun hatten, und das wir so schon
kennengelernt haben, und zwar in einer spezifisch zum „Leben in . . ."
gehörigen Weise des Wissens173 ; nur erhält es infolge der neuen, radikal
veränderten Einstellung eine total andere Seinsweise: aus Zuhandenem
wird Vorhandenes. Es ist ferner richtig, daß das Erkennen nur auf dem
Grunde des Von-der-Welt-zurücktretens möglich wird, und daß die
„Defizienz des besorgenden Zu-tun-habens" eine Bedingung seiner
Möglichkeit bildet. Andererseits aber liegt die Eigenständigkeit des
Erkennens darin, daß es seine eigenen und durchaus positiven Strukturen
hat, die selbst nicht als Privationen verstanden werden können. Die in ihm
liegende Verweisung auf die Vorgängigkeit des „Lebens in . . ." besagt
nicht, daß es durch diese Verweisung als ein wesentlich privates
Phänomen charakterisiert würde. In der Tat kommt dem Erkennen an sich
selbst gar nicht der phänomenale Charakter der Defizienz und des
„Nur-noch" zu. Aufgrund der Strukturen, die seine Eigenständigkeit
konstituieren, ist es prinzipiell und radikal von dem „In-der-Welt-Sein"
im prägnanten Sinne verschieden, so daß man es in einem nur sehr
formalen Sinne als Seinsmodus des In-der-Welt-Seins bezeichnen kann.
Diese Differenz tritt mit besonderer Prägnanz im Gegensatz von
Einbezogensein und freier Umschau zutage, wie wir sie in § 3 als Moment
des traditionellen Weltbegriffes beschrieben haben. Die die Eigenständig-
keit des Erkennens begründenden Strukturen stehen unter Titeln wie
Intentionalität usw. Erst hier findet die unter diesen Titeln zu begreifende
Problematik ihre legitime phänomenologische Heimat : das spezifische
P r o b l e m f e l d der E r k e n n t n i s in seiner Eigenständigkeit ist der
legitime Boden der P h ä n o m e n o l o g i e , wie sie H u s s e r l i n t e n d i e r t
und auszubilden begonnen hat. — In diesem Zusammenhang muß
es bei den gegebenen Andeutungen über das Problem der Konstitution
der Erkenntnis auf dem Boden des In-der-Welt-Seins sein Bewenden
173
Zu diesem Wissen, vgl. weiter unten § 16.
174 Siehe S. 97 f.
175 Vektoriell nennen wir ein gerichtetes Verhalten, d. h. sowohl das „hin zu . . ." (wenn wir
auf etwas hinstreben in freundlicher oder feindlicher Weise) wie auch das „fort von . . . "
(etwa der Fluchtreaktion). Diesen aus der physikalischen Theorie des Kraftfeldes
stammenden Terminus hat Köhler in die Psychologie übernommen. Beispiele ausgespro-
chen vektoriellen Verhaltens gibt K O H L E R , Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S.
63 ff.
Sinn von Zeughaftigkeit nicht gilt, sehen wir die entscheidende Differenz
der Zeughaftigkeit gegenüber der Dinghaftigkeit als Spezialfall von
Gegenständlichkeit. Nur wenn die Bestände der „natürlichen" Umwelt
Dinge wären, die so und nicht anders beschaffen sind, bestünde kein
Problem der Identität der Dinge in verschiedenen Situationen. Dann
könnte man auch sagen, das Ding mit diesen und jenen festen Eigenschaf-
ten werde in dieser Situation so, in jener anders verwendet, es selbst bliebe
aber in all diesen verschiedenen Verwendungen identisch und halte sich
aufgrund seiner Dinghaftigkeit in seiner Identität durch die verschiedenen
und wechselnden Situationen durch. Zeug aber hat die Bestimmung seines
Seins vom Umgang mit ihm her, es , , i s t " geradezu das, als was und wie
es in bestimmten Situationen gebraucht und gehandhabt wird. Indem nun
das Gebrauchen und Handhaben niemals ein isoliertes Zeugstück allein
betrifft, sondern stets auf es in einer Zeugganzheit und in seiner ihm von
dieser her zuerteilten Funktion geht, bestimmt sich das einzelne
Zeugstück in seiner hic et nunc vorliegenden Konkretheit aus der
Zugehörigkeit zu „seiner" Zeugganzheit mit der für sie spezifischen
Struktur, und damit auch aus der Situation. Damit ist bereits ausgespro-
chen, daß es eine Identität der Zeugstücke gegenüber wechselnden
Zeugganzheiten und Hantierungssituationen nicht gibt. Das einzelne
Zeugstück wird von Situation zu Situation je nach der betreffenden
Zeugganzheit ein anderes, es ist, was es ist, nur hinsichtlich seiner
Verwendung176. Für das, was ein konkretes Zeug hic et nunc ist, ist
bestimmend, was man in concreto mit ihm macht und als was man es
gebraucht, nicht aber, wozu es in anderen Konstellationen und Situatio-
nen dienen könnte177. Als Zeug geht das einzelne Zeugstück in seiner ihm
hic et nunc zuerteilten „lebendigen" Funktion auf.
Dort indes, wo das „Leben i n . . . " sich in bestimmter Weise
radikalisiert hat und deswegen in besonderer Schärfe faßbar wird, ist das
Fehlen der betreffenden Zeugidentität besonders auffällig. Wenn der
Hirnverletzte an einem leeren Glase nicht oder nur sehr schwer
176 Vgl. auch HEIDEGGER, a.a.O., S. 106 ; „Ein,objektiv' langer Weg kann kürzer sein als ein
objektiv* sehr kurzer, der vielleicht ein .schwerer Gang' ist und einem unendlich lang
vorkommt. — In solchem ,Vorkommen' aber ist die jeweilige Welt erst eigentlich
zuhanden. " Auf das Problem der Identität, das hierin liegt, geht Heidegger freilich nicht
ein und stellt es nicht einmal heraus.
177 Vgl. KÖHLER, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S . 26, über den „Funktionswert
von Gegenständen" : „Hutkrempe und Schuh sind für den Schimpansen gewiß nicht
immer optisch Stöcke . . ., sondern nur in gewissen Situationen treten sie ,als Stöcke' im
funktionellen Sinn auf, nachdem ein nach Form- und Konsistenztypus einigermaßen
verwandtes Ding, ζ. B. ein Stab, die Stockfunktion einmal angenommen hat."
veranschaulichen kann, wie man trinkt, wohl aber spontan trinkt, sobald
man etwas Wasser in das Glas gießt, dann besteht der Unterschied
zwischen dem leeren und gefüllten Glase offenbar nicht darin, daß zu dem
identisch selben Glasding etwas Flüssigkeit additiv hinzukommt, wäh-
rend es selbst identisch bleibt. Vielmehr erhält das „Glas" durch das
Eingießen von Wasser seinen Charakter als Trinkzeug, und zwar aufgrund
der erst jetzt vorliegenden Trinksituation. Diesen Charakter des Trink-
zeugs hatte es vordem nicht, und weil es ihn nicht hatte, konnte der
Kranke an ihm das Trinken nicht vormachen. In Fällen wie diesen
vollzieht sich eine „Verwandlung" des zuhandenen Zeugs, es „kippt um"
und wird von einem Augenblick zum anderen etwas Neues. Dieses
Umschlagen stellt eine phänomenale Veränderung am Zuhandenen dar178.
Derartige Umschlagphänomene kennen die Normalen sogar im Bereich
des kogitativen Verhaltens, beispielsweise bei Inversionen, Vexierbildern,
der Rubinschen Figur17' usw. Denn auch im Gebiet dieses Verhaltens, das
seinerseits unter der „Gestaltthese"180 steht, gibt es das Problem der
Identität der Feile in wechselnden Gestalten181. Innerhalb des kogitativen
Bereiches erwächst auch das zusätzliche Problem der Konstitution des
identischen Dinges aus der Mannigfaltigkeit der sachhaltig differenten
Noemen182. An Umschlagsphänomenen nimmt — wie wir meinen — die
Erforschung dieser Konstitution ihren Ausgangspunkt.
Das Fehlen der Zeugidentität in dem hier gemeinten Sinne bildet ein
auszeichnendes Merkmal besonders der Welt des Kindes. Stern weist
darauf hin, daß das Kind mehr als der Erwachsene ein Augenblickswesen
ist, im Augenblick aufgeht und sich ihm hingibt1". Er macht auf die
„restlose Versenkung" des Kindes beim Anhören von Märchen aufmerk-
sam, auf den Ernst, mit dem es bei seinen Spielen verweilt. Gerade wenn
das Kind spielt, hat es eine solche Augenblickswelt und -Wirklichkeit, in
der es lebt und aufgeht, und die für es eine konkrete Wirklichkeit ist.
178
Über die „Kippe" vgl. WEIGL, Zur Psychologie sogenannter Abstraktionsprozesse, II, § 4;
ferner S. 36 ff. : „Nachdem ein Mal der hölzerne und der eiserne Haufen vom Kranken
zusammengestellt war, verlor das plötzlich hinzugekommene Tintenfaß den Charakter
des Gebrauchsgegenstandes — es wurde zu ,Glas'." (Der Kranke ist durch „besonders
.zwingende' Bedingungen" dazu gebracht, nach Material zu ordnen.)
179
Vgl. RUBIN, Visuell wahrgenommene Figuren, Berlin 1921, Abb. 3.
180
Vgl. WERTHEIMER, Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt, I, S. 52 ff.
181
Vgl. GURWITSCH, Phänomenologie der Thematik und des reinen Ich, Kap. III, III.
182
Vgl. HUSSERL, Ideen, §§ 130 ff. [Husserliana III, S. 318 ff.].
183
Vgl. STERN, Psychologie der frühen Kindheit, Kap. XIX. Demgemäß definiert Stern:
„real" ist für diese primitivste Lebensform einfach das, was intensiv erlebt wird, und es
bleibt „real", solange sich das Erleben dem Inhalt ganz hingibt.
Dabei ist die Spielphantasie des Kindes von dem beherrscht, was Stern
ihre „Unbekümmertheit" nennt : ein Stückchen zerrissenes Papier wird
als Schuh angesprochen, eine Reihe von Stühlen stellt einen Eisenbahnzug
dar, ein Stock, den das Kind zwischen die Beine nimmt, ein Pferd usw.
Diese Augenblickswelten sind aber im höchsten Maße labil und lösen sich
sprunghaft ab : ein viereckiges Stück Holz ist bald ein Ball, denn ein Hut,
dann ein Geldstück usw." 4 Dasselbe Stückchen Holz, das soeben noch ein
„Kind" war und gepflegt wurde, wird im nächsten Augenblick vom
spielenden Kind selbst zerschnitzt und in den Ofen geworfen. Auf
Tatsachen wie die letztere beruft sich Bühler185 für seine Theorie der
„Scheindeutungen". Dabei ist vorausgesetzt, daß auch für das Kind das
Stückchen Holz ein so und so beschaffenes Ding ist, das nur bald in dieser,
bald in jener Weise „gedeutet" wird. Aber gerade diese Tatsachen lassen
die Voraussetzung der Bühlerschen Theorie problematisch werden, und
dies umso mehr, als der Ernst und die Hingabe, mit der das Kind spielt,
gegen die Theorie der „Scheindeutungen" sprechen. Weil das Kind das,
was wir als dasselbe Stück Holz bezeichnen, bald so und bald anders
behandelt, zeigt es sich, daß es für es kein konstantes Ding mit festen
Eigenschaften ist, sondern in ständigem Wechsel der Augenblickswelten
bald zu diesem und bald zu jenem wird. Eben das, was Voraussetzung der
Theorie der „Scheindeutungen" ist, nämlich das konstante Ding, liegt
beim Kinde nicht vor. Das Stückchen Holz ist eine Puppe, wenn es als
solche behandelt wird und so lange das Kind in entsprechender Weise mit
ihm umgeht ; es wird zu etwas anderem und verändert sich, wenn das Kind
es zerschnitzt und ins Feuer wirft : aus der Puppe ist ein gleichgültiges
Stück Holz geworden. Die Bestände der Umwelt, in der das Kind lebt,
sind nicht durch sachhafte, ihnen ein für allemal zukommende Beschaf-
fenheiten gekennzeichnet, sie sind keine Substanzen mit Attributen,
sondern jeweils das, als was sie behandelt werden.
Für das Leben in Augenblickswelten ist konstitutiv, daß man ihnen
ausgeliefert ist und es so lange bleibt, bis sie durch andere abgelöst
werden. Weil die Hantierungssituationen, in denen wir stehen, etwas vom
Charakter der Augenblickswelten haben (freilich nicht in so radikaler und
extremer Weise, wie das für den Hirnverletzten und für das Kind gilt), gibt
es auch in unserer Zeugumwelt keine Identität einzelner und isolierter
Zeugstücke.
184 Vgl. STERN, a.a.O., S. 213 und 227ff.; über die Sprunghaftigkeit beim Fabulieren, vgl.
auch Kap. XIV, 2. Siehe auch das Beispiel aus Scupin bei BOHLER, a.a.O., S. 332 f.
185 Vgl. BÜHLER, a. a. O., S. 324 ff. ; vgl. auch oben, S. 111.
Wenn wir in einer Situation der Zeug-Umwelt stehen, fügen wir uns in sie
ein. Dieses Sicheinfügen besagt, eine Stelle in der Situation einnehmen,
sich unter sie und unter die für sie konstitutiven Verweisungen und
Verweisungszusammenhänge stellen. Wir bemerkten oben184, daß wir
diese Verweise dann in ursprünglicher Art entdecken, wenn wir uns ihnen
unterstellen, d.h. in der betreffenden Situation aufgehen. Mit diesem
Entdecken im Aufgehen haben wir bereits von einem Strukturmoment
des „Lebens in . . Gebrauch gemacht, das nunmehr expliziert werden
muß.
Die ontische Auszeichnung des „Daseins" vor allem nicht daseinsmä-
ßigen Seienden liegt nach Heidegger" 7 darin, daß das „Dasein" ontolo-
gisch ist. Diesem Seienden geht es „in seinem Sein um dieses Sein selbst".
„Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, daß es in seinem
Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis h a t . . . Dasein versteht sich in
irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein . . . S e i n s v e r -
ständnis ist selbst eine S e i n s b e s t i m m t h e i t des D a s e i n s . " Inso-
fern zum „Dasein" wesentlich und konstitutiv gehört, daß es immer „in
einer Welt" „ist", betrifft „das dem Dasein zugehörige Seinsverständ-
nis . . . gleichursprünglich das Verstehen von so etwas wie ,Welt' und
Verstehen des Seins des Seienden, das innerhalb der Welt zugänglich
188 Vgl. ferner HEIDEGGER, a.a.O., S. 86: „Wenn dem Dasein wesenhaft die Seinsart des
In-der-Welt-Seins zukommt, dann gehört zum wesenhaften Bestand seines Seinsver-
ständnisses das Verstehen von In-der-Welt-Sein".
185 Bei den von KOHLER, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, Kap. II, beschriebenen
Beispielen von „Werkzeuggebrauch", sowie bei den „Umwegen über selbständige
Zwischenziele" (Kap. VI), handelt es sich durchwegs um Entdeckung von Verweisungs-
zusammenhängen in dem im Text gemeinten Sinne. Köhler selbst schaltet die Frage aus,
ob bei den Schimpansen Bewußtsein vorliegt (was doch nur heißen kann, ob das Tier in
seinem Tun selbst um dieses Tun „implizit" weiß ; von Bewußtsein in einem anderen
Sinne kann doch wohl keine Rede sein), weil er diese Frage für nicht spruchreif und daher
für unfruchtbar hält; vgl. auch Optische Untersuchungen am Schimpansen und am
Haushuhn, S. 56. In der Tat ist diese Frage für die Köhler interessierenden Probleme
ohne Belang.
als „Leben in . . . " zu interpretieren ist (nämlich als Leben in dem intentionalen Akt, der
die betreffende Gegenständlichkeit zur Gegebenheit bringt, und der selber nicht
wiederum Gegenstand eines auf ihn gerichteten Aktes der Reflexion ist), gibt es auch für
das kogitative Bewußtsein das „implizite Sich-selber-wissen des Wissens" (vgl.
SCHMALENBACH,a.a.O., §§ 5 f.) ein Phänomen, auf das bereits von PLATO in seinem
Charmides hingewiesen hat.
Gegenstand richten. Wir wissen hier von dem Zorn in der Weise, wie wir
überhaupt im Vollzug thematischen Bewußtseins von den Gegenständen
dieses Bewußtseins wissen ; während wir noch zornig sind, haben wir uns
bereits von unserem Zorn distanziert. Leben wir dagegen im Zorn selbst
und nicht in einem auf den Zorn sich richtenden thematischen Bewußt-
sein, so besagt das, daß wir uns nicht von unserem Zorneszustand
distanzieren, um ihn zum Gegenstand einer c o g i t a t i o zu machen. Wir
stehen dem Zorn in diesem Fall nicht gegenüber ; — und das bedeutet, daß
er kein G e g e n s t a n d für uns ist. Doch aber „wissen" wir um ihn : ganz
im Zorn lebend und nicht auf ihn reflektierend, „weiß" ich im Z o r n e
selber um meinen psychischen Zustand. Dieses mein „Wissen" ist
prinzipiell anderer Art als das Wissen des thematischen Bewußtseins. Es
ist dem Zorn „immanent" s , oder anders : indem ich um meinen Zorn weiß,
„bleibe" ich bei ihm. Dieses „Wissen" hat das, worum es „weiß", nicht
zum Objekt, — ein Phänomen, dessen sprachliche Formulierung, wie
Geiger bemerkt hat, aus Gründen der grammatikalischen Struktur auf
Schwierigkeiten stößt 1 ". Gerade weil mir in einer bestimmten Weise
zumute ist, weiß ich darum, wie mir zumute ist, ohne daß ich auf dieses
Zumutesein zu reflektieren brauchte. Ferner bemerkten wir, daß wir bei
jeder Hantierung ein Wissen um diese Hantierung haben, das ihr
immanent und implizit ist. In diesem „impliziten" Wissen um die Art und
Weise unseres Seins in einer Situation, und damit um sie selbst, treten wir
aus ihr nicht heraus und geben unsere Stelle in ihr nicht auf. So in der
Situation fungierend wissen wir um uns und unsere Funktion innerhalb
der Situation, und zwar wissen wir „implizit" darum, ohne daß wir uns
auf uns selbst und auf unsere Rolle in der Situation intentional richten. Da
wir aber unsere Stelle und Funktion von der Situationsganzheit zuerteilt
bekommen, bedeutet unser „implizites" Wissen um uns und unsere Rolle
zugleich ein ebensolches Wissen um die Situation und deren Bestände.
Auch um sog. „äußere Objekte" gibt es ein „implizites", dicht
vergegenständlichendes Wissen; allerdings sind dabei diese „äußeren
Objekte" weder „außen" noch „Objekte", wie denn auch das „Wissen
1,5 Vgl. die Interpretation der „immanenten Wahrnehmung" Husserls bei SCHMALENBACH,
a.a.O., S. 389 f., wobei sich Schmalenbach selbst seiner Divergenz mit Husserl bewußtist
(siehe besonders S. 400 f.). Vgl. ferner S. 378 über den Unterschied der „Gegebenheitsar-
ten" bei „implizitem" und bei „explizitem" Wissen.
Vgl. GEIGER, Fragment über den Begriff des Unbewußten und die psychische Realität, S.
43 f. Um das „implizite" Wissen auch sprachlich vom Wissen des thematischen
Bewußtseins zu unterscheiden, sprechen wir hier immer von „Wissen u m . . . " (bei
implizitem Wissen) im Gegensatz zum expliziten „Wissen von . . . " .
1.7 Vgl. BRENTANO, a.a.O., II. Kap. I, § 6, der „eine weitere [neben und außer der
Intentionalität] Eigentümlichkeit aller psychischen Phänomene" darin sieht, daß sie
durch „innere Wahrnehmung" erfaßbar sind. Wie die zitierten Wendungen zeigen, hat
Brentano den im Text angedeuteten universalen Bewußtseinsbegriff nicht erreicht.
1.8 Vgl. HEIDEGGER, Sein und Zeit, § 29 ; Was ist Metaphysik Bonn 1929, ferner GOLDSTEIN,
„Zum Problem der Angst", Allgemeine ärztliche Zeitschrift für Psychotherapie und
psychische Hygiene, II (1927), S. 409-437 [Ausgewählte Schriften, S. 230-262],
lw Von anderen nicht intentionalen Bewußtseinsweisen wie Stimmungen und Befindlich-
keiten sehen wir in diesem Zusammenhang ab.
Wenn wir ζ. B. die Vorstellung eines Tones haben, sind wir uns dessen
bewußt, daß wir sie haben ; wir haben zugleich mit der Vorstellung des
Tones die Vorstellung von der Vorstellung des Tones200. Dabei liegen aber
nicht zwei gesonderte Akte vor, sondern nur ein einziger Akt : „In dem
selben psychischen Phänomen, in welchem der Ton vorgestellt wird,
erfassen wir zugleich das psychische Phänomen selbst. . Dieses hat
also, da es sich wesentlich durch Intentionalität auszeichnet, eine doppelte
intentionale Beziehung : einmal auf den Ton als auf das „primäre Objekt",
und ferner auf das Hören des Tones als auf das „sekundäre Objekt". Jedes
„psychische Phänomen" hat als intentionales diese doppelte Objektbe-
ziehung ; was immer sein eigentliches, sein „primäres Objekt" sein mag,
stets ist es selbst „in seiner Totalität" sein eigenes „sekundäres Objekt" 201 .
Jedes Bewußtsein von etwas ist „begleitet" von einem Bewußtsein seiner
selbst, das zu ihm gehört und mit ihm die Einheit eines Aktes bildet, so
daß hier eine „eigentümliche Verschmelzung von Bewußtsein und Objekt
des Bewußtseins" vorliegt. Mit dieser Unterscheidung von „primärem"
und „sekundärem" Objekt glaubt Brentano der Gefahr „unendlicher
Verwickelung", d.i. jenem regressus in i n f i n i t u m zu entgehen, auf
den bereits Aristoteles202 aufmerksam gemacht hat. Gleichzeitig macht
diese Lehre einsichtig, daß und warum es ein Wissen von aktuellen
Erlebnissen in „innerem Bewußtsein" und „innerer Wahrnehmung" auch
ohne „innere Beobachtung" geben kann. Selbst die Leugnung der
Möglichkeit „innerer Beobachtung" aktueller Erlebnisse soll durch die
Unterscheidung von „primärem" und „sekundärem" Objekt eine weitere
Stütze erhalten.
Doch wird diese Theorie nicht einmal dem „impliziten Sich-selber-
wissen" des „expliziten" (intentionalen) „Bewußtseins von . . . " gerecht,
ganz abgesehen davon, daß der Intentionalitätsbegriff Brentano daran
hindert, nicht-intentionale Bewußtseinsweisen wie das „Leben in . . . "
und die Befindlichkeiten in den Blick zu bekommen203. Auch ein
„sekundäres" Objekt ist ein Objekt im Sinne eines Gegenstandes, wie ja
ein mit seinem Objekt „verschmolzenes" Bewußtsein, wenn es als
Bewußtsein von seinem Objekt auftritt, eben ein intentionales Bewußt-
sein ist. Der phänomenologischen Eigenart des „impliziten Sich-selber-
bung" „des Objekts der inneren Vorstellung mit dieser selbst" und „der
Zugehörigkeit beider zu einem und demselben psychischen Akte" 205 einer
sozusagen „äußeren Unendlichkeit" aufeinandergeschichteter, diskreter
Reflexionsakte. An die Stelle dieser Unendlichkeit tritt aber, und zwar bei
prinzipiell jedem psychischen Phänomen, gewissermaßen eine „innere
Unendlichkeit" von miteinander „verschiedenen" und „verwobenen"
Bewußtseinsmomenten, zwischen denen eine ganz bestimmte Ordnung
derart besteht, daß jedes solches Bewußtseinsmoment das ihm in dieser
Ordnung vorangehende zum intentionalen Objekt bestimmter Stufe hat,
während die Intention, in der das geschieht, das intentionale Objekt
nächsthöherer Stufe des nachfolgenden Bewußtseinsmomentes bildet.
Diese „innere Unendlichkeit" hat P. Hofmann zur Basis seiner Lehre
von der „unendlichen Schichtung des Ich" genommen, nachdem er den in
ihr liegenden r e g r e s s u s unschädlich gemacht hat206. Das letztere gelang
ihm aufgrund der für ihn fundamentalen Unterscheidung der Art und
Weise, wie wir von Gegenständen als Gegenständen wissen, wobei noch
zu bemerken wäre, daß diese zu unterscheidenden Momente prinzipiell
jedem Erlebnis zukommen. Das Wissen um ein aktuelles Erleben gerade
in dessen Vollzug, das „implizite Sich-selber-Wissen" des „expliziten"
Wissens bestimmt Hof mann als ein nicht vergegenständlichendes. Bei
diesem Wissen handelt es sich nicht um ein „Vorfinden", ein „innerliches
Wahrnehmen", „Anschauen", „Gegeben-haben" und dgl. Vielmehr ist
dieses „implizite" Wissen ein „Erleben", „Spüren" und „Inne-werden207.
Das Erlebnis, in dem wir einem Gegenstand zugewandt sind und die
„Sinngebung" der Gegenständlichkeit vollziehen, ist selbst in dem Sinne
bewußt, daß wir um es wissen, aber nicht in der Weise, wie wir von einem
Gegenstand wissen: dieses Erlebnis, in dem wir leben, ist „erlebendes
Erleben", es ist als solches „gespürt", wir „werden seiner inne", „haben
es aber nicht zum Gegenstand". Genauer : es ist „noch nicht" objektiviert.
Sobald sich die Reflexion auf die Gegenständlichkeit richtet, haben wir ein
„objektiviertes" und „erlebtes Erleben" in einem „erlebenden Erleben"
höherer Schicht, für das seinerseits nun all das gilt, was soeben über das
205 „Die Vorstellung des Tones und die Vorstellung von der Vorstellung des Tones bilden
nicht mehr als ein einziges psychisches Phänomen, das wir nur, indem wir es in seiner
Beziehung auf zwei verschiedene Objekte, deren eines ein physisches, und deren anderes
ein psychisches Phänomen ist, betrachten, begrifflich in zwei Vorstellungen zerglie-
derten."
206 P. HOFMANN, Das Verstehen von Sinn und seine Allgemeingültigkeit, Kap. I.
207 Vgl. HOFMANN, a.a.O., S. 16 f.; ferner Metaphysik oder verstehende Sinn-Wissenschaft ?
II, 11.
208 Im Rahmen dieser Abhandlung können wir auf die zahlreichen Konsequenzen nicht
eingehen, die sich für Hofmann aus der dargelegten Unterscheidung von „erlebendem
Erleben" und „erlebtem Erleben" ergeben, wie auch nicht auf seine mit auf dieser
Grundlage ruhende Ich-Theorie. Eine Auseinandersetzung mit der letzteren ist auch
darum noclinicht möglich, weil eine umfassende Darstellung der Hofmannschen Lehren
erst in Aussicht steht.
209 HOFMANN, Das Verstehen von Sinn und seine Allgemeingültigkeit, S. 7 f. ; vgl. ferner
Metaphysik . . ., S. 17: „Erleben ist seinem Sinne gemäß . . . einerseits Erleben von
Gegenständlichem, andererseits von sich selbst: das Erleben erlebt sich , a l s '
.Gegenstände' e r l e b e n d . "
210 GEIGER, „Fragment über den Begriff des Unbewußten und die psychische Realität",
Kap. 4 und 5.
ble, d'une perception déjà éprouvée ; en elle nous nous réfugierions toutes
les fois que nous remontons, pour y chercher une certaine image, la pente
de notre vie passée." Damit ist genau auf das hingezielt, was Husserl217 als
„schlichte Vergegenwärtigung, die sich in ihrem eigenen Wesen . . .
als M o d i f i k a t i o n eines anderen gibt" beschreibt und analysiert. Im
Gegensatz dazu stellt die „mémoire qui répète" nicht eine „représenta-
tion" dar, sondern vielmehr „une action". Das, was in dieser Weise
erinnert wird, z. B. „la leçon une fois apprise, ne porte aucune marque sur
elle qui trahisse ses origines et la trace dans le passé ; elle fait partie de mon
présent au même titre que mon habitude de marcher ou d'écrire ; elle est
vécue, elle est ,agie', plutôt qu'elle n'est représentée". Hierbei handelt es
sich also nicht um Vergegenwärtigung, sondern um die Ausbildung eines
„mécanisme qu'ébranle tout entier une impulsion initiale, dans un
système clos de mouvements automatiques, qui se succèdent dans le même
ordre et occupent le même temps"218. Bergson sieht die hier vorliegende
Differenz darin, daß das eine Mal „images" vorliegen, während das andere
Mal aufgrund vorausgegangener Übungen und Wiederholungen Bewe-
gungsabläufe und Aktionseinheiten ausgebildet sind, die sich gewohn-
heitsmäßig abspielen ; daher bringt er auch die „mémoire qui revoit" mit
den Träumen in Zusammenhang. Aber diese Differenz ist gar nicht
entscheidend ; auch da, wo zweifellos „Bildhaftes" im Spiele ist, kann die
„mémoire qui répète" vorliegen, so etwa wenn ich „in der Erinnerung"
wieder in einer Situation meiner Kindheit lebe. Andererseits kann ich mir
auch in der „mémoire qui revoit" das Vergegenwärtigte nur symbolisch,
also nur bildhaft vorstellig machen. Die hier vorliegende Differenz ist nur
ein Spezialfall des Unterschieds zwischen dem „Leben in . . ."(z.B. in der
Vergangenheit: in meiner Kindheitssituation, oder in dem aufgrund
vergangener Übungen erworbenen Bewegungsautomatismus) und inten-
tionalem Bewußtsein haben von . . . (z. B. jener Kindheitssituation oder
einer Phase des Einübens jenes Bewegungsablaufs). Dieser Unterschied
ist es, der auch den von Bergson herausgestellten Phänomenen zugrunde
liegt und in seiner prinzipiellen Radikalität begriffen werden muß 2 ". Den
220 SCHMALENBACH, a . a . O . , S . 3 8 3 u n d 4 2 0 .
221 Vgl. hierzu GURWITSCH, Phänomenologie der Thematik und des reinen Ich, Kap. II, §§
3 ff.
222 Vgl. den Zusatz zu § 13, S. 1 0 4 - 1 0 9 .
223 HEIDEGGER, Sein und Zeit, S. 15 und 143.
haben die Verweisung eines Zeugs auf die Zeugganzheit, zu der das
betreffende Einzelzeug gehört, von der Verweisung auf den Horizont
abgehoben, der die Situation umgibt. Während die Verweisungen des
ersten Typs die Situation, um die es sich gerade handelt, konstituieren und
deren Sinn ausprägen, „bringen" die Verweisungen des zweiten Typs nur
eben Horizonthaftes „mit bei", zeigen es als entdeckbar an und weisen
dem kontinuierlichen Fortschreiten in die Horizonte Richtung und Ziel.
Dabei war, wie noch erwähnt sei, im „Mitbeigebrachten" selbst eine
Scheidung hervorgetreten. — Derartige „mitbeigebrachte" Horizonte
gibt es nun in jeder Situation der Zeug-Umwelt; jedes Stehen in einer
solchen Situation spürt in „impliziter" Weise die Verweisungen auf diese
Horizonte. Keine Situation ist in dem Sinne „autark" und in sich
verselbständigt, daß sie nicht von sich aus auf außerhalb ihr Liegendes
verwiese und gerade in dieser Verweisung auf die „mitbeigebrachten"
Horizonte sich als „innerweltlich", d.h. eben als eine Situation der
U m w e i t bekundete 4 . Es gibt keine Situation, die lediglich in sich steht
und so gewissermaßen außerhalb der Welt ist; der phänomenologische
Charakter der Welthaftigkeit einer Situation liegt gerade in diesen
Verweisungen auf die „mitbeigebrachten" Horizonte, denen sich die
betreffende Situation einordnet, wobei diese Einordnung selbst von den
genannten Verweisungen her ihren Sinn erhält.
Wer in irgendeiner Arbeit begriffen ist, ζ. B. ein Werk herstellt, geht
ganz im aktuellen Hantieren auf, lebt in der Hantierungssituation und hat
in ihr sein konkretes Dasein. In dieser aufgehenden Hingabe ist er aber
nicht von der Welt abgeschnitten, nicht gleichsam der Welt entrückt ; —
vielmehr verweist die Situation selbst auf die Horizonte und auf das in
ihnen Gelegene. So etwa auf das, was später aus dem fertig gestellten
Werke wird, ζ. B. auf den Besteller, für den es hergestellt wird, bzw. auf
die anonyme Menge möglicher Käufer und Verbraucher; in anderer
Richtung wieder auf die Materialien, die bei der Herstellung Verwendung
finden, und damit auf den Lieferanten dieser Materialien; in wieder
anderer Richtung auf den, in dessen Auftrag man arbeitet und der
Anweisungen gegeben hat. In den H o r i z o n t e n , die zu einer
S i t u a t i o n „ m i t b e i g e b r a c h t " s i n d , b e f i n d e t sich also s t ä n d i g so
e t w a s w i e eine M i t w e l t . I n d e m j e d e S i t u a t i o n auf a u ß e r h a l b
i h r e r G e l e g e n e s v e r w e i s t , v e r w e i s t sie d a m i t auch stets auf
„andere Menschen".
Situation uns in Anspruch nimmt, etwas auf sich hat : darin bekundet sich
die Möglichkeit k o n t i n u i e r l i c h e n Fortschreitens von der aktuellen
Situation zu anderen horizonthaft „mitbeigebrachten". In diesen hori-
zonthaften Situationen erscheinen auch die „mitbeigebrachten" Anderen.
Daß sie in diesen Situationen zum Vorschein kommen und nicht
„nebenher", „außerdem noch" usw., bedeutet: sie erscheinen als
Situationszugehörige in ihrer spezifischen Rolle und Funktion. Die
Verweisung auf die Mitwelt bringt also nicht die Anderen lediglich als
Menschen zum Vorschein, und auch nicht als Individuen mit den ihnen
zukommenden konstanten Bestimmungen. Vielmehr kommen sie gerade
als die zum Vorschein, als welche sie in der „mitbeigebrachten" Situation
konkret existieren. Nicht irgend ein „Menschending" taucht unvermutet
und sporadisch im „mitbeigebrachten" Horizont auf, sondern es werden
Situationen im Horizonte sichtbar, in denen Besteller, anonyme Käufer,
Lieferanten, Arbeitgeber, Zuhörer, Leser, Vorgesetzte, Untergebene usw.
agieren. Als die Träger dieser R o l l e n in den „ m i t b e i g e b r a c h t e n "
Situationen (und nur in diesen ihren R o l l e n ) k o m m e n die
A n g e h ö r i g e n der Mitwelt in den genannten Verweisungen z u m
Vorschein 5 . Aus diesem Grunde ist es für das betreffende Verweisungs-
phänomen gleichgültig, ob die „mitbeigebrachten" Anderen bestimmte
oder unbestimmte „Individuen" sind. Genau so, wie die anonymen
Zuhörer nicht als Wesen von der „ F o r m " menschliches Individuum mit
unbestimmten (d. h. noch zu bestimmendem) Leergehalt zum Vorschein
kommen, wobei die Erfüllung der Leerstellen ihrem Sinne nach an die
vorgezeichnete „ F o r m " gebunden wäre, begegnet in dieser Verweisung
auch der „persönlich bekannte" Ν . N . nicht als Individuum von dieser
bestimmten, spezifisch ihm eigenen Konstitution, sondern als Besteller,
als Kunde, allgemein gesprochen: in seiner jeweiligen R o l l e .
Die hier in Betracht gezogene Verweisung auf die Mitwelt grenzten wir
gegen das störende Dazwischenkommen der Anderen oben bereits ab. Es
sei noch bemerkt, daß das Sichmelden der Mitwelt in den „mitbeigebrach-
ten" Horizonten ebenfalls von deren Gegenwart in der Öffentlichkeit
abzuschneiden ist (z.B. auf der Straße, in der Eisenbahn, in der
„öffentlichen" Bibliothek, im Theater — kurz: überall da, wo p r i n z i -
piell jeder unter Erfüllung gewisser, jedoch u n p e r s ö n l i c h e r Bedin-
gungen Zutritt hat). Das Sich-bewegen in der Öffentlichkeit ist eine ganz
5 Die Begegnung mit dem Mitmenschen in einer Rolle wird weiter unten, S. 153 — 159
expliziert werden.
meine ist. Genau wie die „Sachen" und Mitmenschen hat dies alles den
Charakter der Welthaftigkeit. Hierin liegt auch der Grund daiir, daß —
wie später7 noch zur Sprache kommen wird — die fundamentalen
Strukturen des Miteinanderseins auch für das „Seinsverhältnis" zu den
„Sachen" eine Bedeutung haben.
Die hier dargelegte Verweisung auf die „ m i t b e i g e b r a c h t e "
Mitwelt ist nun nichts anderes als jene uns ständig begleitende
Alltagsmeinung von der Mitwelt, inmitten derer wir leben. Weil
jede Situation, in der wir stehen, als solche auf die sie
umgebenden H o r i z o n t e verweist, und weil in diesen H o r i z o n -
ten ständig andere Menschen als Träger gewisser Rollen „ m i t b e i -
g e b r a c h t " sind, ist dieses „ W i s s e n " um die Mitwelt als
Menschenwelt eine uns ständig begleitende „ U b e r z e u g u n g " .
Weil ferner in den Situationen selbst die Mitwelt „mitbeige-
b r a c h t " ist, hat unser ständiges alltägliches „ W i s s e n " um sie
den oben' dargelegten Charakter des „ i m p l i z i t e n " , und zu-
meist gar nicht ausdrücklich werdenden Wissens, das als solches
überhaupt dem „Leben in . . . " innewohnt.
Bei diesem Wissen liegt kein intentionales „Bewußtsein von . . . " vor,
sondern bloß ein Innewerden der Mitwelt, das die gleichen phänomenolo-
gischen Eigenschaften aufweist wie das Wissen um die aktuelle Situation
und das in ihren Horizonten „Mitbeigebrachte". Daher hat das uns
ebenfalls ständig begleitende „Wissen" um eine Welt, in der wir leben,
genau die gleiche phänomenologische Eigentümlichkeiten wie unsere
Alltagsmeinung, inmitten einer Menschenwelt zu sein. Weil die
Mitwelt in welthaften Situationen „ m i t b e i g e b r a c h t " wird und
umgekehrt jedes mitmenschliche Zusammensein auf Bestände
und Situationen der Umwelt (im Sinne der Sachenwelt) verweist,
„ w i s s e n " wir uns ständig in einer Umwelt und inmitten einer
Mitwelt. Diese beiden Meinungen sind jeweils abstrakte M o -
mente an dem, was man unser allgemeines „ W e l t b e w u ß t s e i n "
nennen kann, wobei dann „Welt" in einem umfassenden, die Umwelt wie
die Mitwelt begreifenden Sinne verstanden werden muß'. Die aufgewiese-
7 Siehe § 28.
« Vgl. § 16.
' Diese Phänomene und Zusammenhänge hat auch LOWITH, Das Individuum in der Rolle
des Mitmenschen, § 5, im Auge, wo er von dem „Vorschein der Mitwelt in der Umwelt"
handelt. Aber er arbeitet dieses Zum-Vorschein-kommen in seiner phänomenologischen
Eigentümlichkeit nicht hinreichend scharf heraus, denn er versäumt, durch Analyse der
Phänomene selbst die notwendigen Scheidungen vorzunehmen und die jeweiligen
Phänomene in bezug auf das, was ihnen spezifisch eignet, zu fixieren. Vor allem kommt
das horizonthaft „Mitbeigebrachte" in seiner charakteristischen Eigenart nicht zur
Geltung, weil Löwith so wenig wie Heidegger die oben (S. 102 f. ) dargelegten Scheidungen
zwischen den verschiedenen Verweisungsphänomenen durchgeführt hat. Daher legt
Löwith nicht am Phänomen selbst die Art und Weise dar, wie und in welchem Sinne
„dem Möbel als Werk . . . die es herstellenden Werkleute zugehören". Wenn ferner
„diese Art zum Vorschein zu kommen nur beiläufig a m Zeug zur Geltung kommt, ohne
daß dieses selbst daran beteiligt ist", während „sich die Einrichtung eines Zimmers . . .
von vornherein als eine menschliche Einrichtung, als eines bestimmten Menschen
Umgebung präsentiert", so liegt hier der ebenfalls von ihm in seiner Eigenart nicht
herausgestellte Unterschied des „In-der-Nähe-mitanwesend-sein" gegenüber dem
„Sich-in-der-Ferne-halten-vor", — ein Unterschied, der — wie wir sahen — das
„Mitbeigebrachte" selbst betrifft. Es kommt bei Löwith auch nicht zu ausdrücklicher
Klarheit, was die Wendung von dem im Gebrauch befindlichen Zeug auf den zunächst
nur „in der Ferne" „mitbeigebrachten" Hersteller eigentlich phänomenal besagt: ein
„In-die-Nähe-rücken" und „Mitanwesend-werden" eben des Herstellers und das
Hineingehen des mit dem Zeug Hantierenden in die „mitbeigebrachten" Horizonte. —
Die ganzen Darlegungen Löwiths stehen im Dienste seiner „anthropologischen"
Tendenz, die Umwelt als wesentlich „human" zu begreifen, „in der Bedeutung von
menschlicher Umgebung", die eigens auf den Menschen, seine Bedürfnisse und Zwecke
hin angelegt ist und nur vom Menschen her verständlich werden kann (vgl. z. B. S. 4 : „die
Menschen . . . gehören . . . so sehr zur Welt, daß sie deren Charakter wesentlich
bestimmen" ; S. 39 über die „universale Bestimmtheit alles .innerweltlich' Seienden . . .
durch den in der Welt seienden Menschen . . . " ) . Das „Zum-Vorschein-kommen" des
Benutzers, Herstellers usw. an einem fertigen Zeug begründet aber keine Vorzugsstel-
lung des Menschen in der Welt : am Möbel kommt der Benutzer in genau der gleichen
Weise zum Vorschein wie das Getreide am Speicher, das Vieh am Stall, der Vogel am Nest
usw. Dieser These Löwiths widerspricht auch die im Text dargelegte „Verflochtenheit"
von Mit- und Umwelt. Es ist hier nicht der Ort für eine radikale Auseinandersetzung mit
dem Anthropologismus, der von Heidegger her in die Philosophie der Gegenwart
zunehmend Eingang findet; nur auf die Vergewaltigung der Phänomene, im Gefolge
dieser Tendenz sei noch aufmerksam gemacht, wenn es heißt, ein Stuhl könne eine Wand
nicht berühren, weil „Voraussetzung dafür wäre, daß die Wand ,für' den Stuhl
b e g e g n e n könnte" („Seiendes kann ein innerhalb der Welt vorhandenes Seiendes nur
berühren, wenn es von Hause aus die Seinsart des In-Seins h a t . . . " ; HEIDEGGER, a.a.O.,
S. 55) oder „zwei Punkte sind so wenig voneinander entfernt wie überhaupt zwei Dinge,
weil keines dieser Seienden seiner Seinsart nach entfernen kann. Sie haben lediglich einen
im Entfernen vorfindlichen und ausmeßbaren Abstand" — ( „ N u r sofern überhaupt
Seiendes in seiner Entferntheit für das Dasein entdeckt ist, werden am innerweltlichen
Seienden selbst in Bezug auf anderes .Entfernungen' und Abstände zugänglich" ; „ . . .
nur weil Dasein in der Weise von Ent-fernung und Ausrichtung räumlich ist, kann das
umweltlich Zuhandene in seiner Räumlichkeit begegnen"; HEIDEGGER, a.a.O., S.
105 —106 bzw. S. 110) — dann werden die Phänomene ihrer spezifischen Eigentümlich-
keiten und ihrer charakteristischen Qualitäten beraubt. So erscheinen diese Qualitäten
als den Phänomenen selbst nicht eignende, sondern als ihnen gewissermaßen vom Leben
des Menschen zukommende, von ihm eingerichtete, jedenfalls in ihm, d. h. in den
Tendenzen, Interessen seines Lebens begründete ; vgl. dazu noch LOWITH, a.a.O., §§ 12 f.
den ursprünglichen Abgrund zwischen Ich und Welt sieht Volkelt die
„intuitive Gewißheit" an. Insofern auch das Du ein „ewiges Jenseits" ist,
„in das ich, immerdar auf dem subjektiven Pole verharrend, mich nur
einzufühlen" vermag 13 , entsteht die „Gefahr des Solipsismus", die nur
durch den Sprung über den Abgrund vermittels der „intuitiven Gewiß-
heit" umgangen werden kann. Dies umso mehr, als bereits Volkelt in
seiner Kritik an der Analogieschlußtheorie zu dem gleichen Ergebnis
kommt, das wir in Abschnitt I herausgearbeitet haben : daß nämlich alle
diese Theorien, die er allerdings im Hinblick auf das psychologische
Problem betrachtet, die Du-Gewißheit entweder bereits voraussetzen
oder gar nicht erreichen, wenngleich er den Analogieschluß zu einer
„kritischen Rechtfertigung" der Du-Gewißheit für erforderlich hält. —
Unter völlig anderen Gesichtspunkten hat Scheler14 das Problem des
„ W e s e n s w i s s e n s um Gemeinschaft und um D u - E x i s t e n z ü b e r -
h a u p t " und dessen „objektiv und subjektiv apriorischen Evidenz" sogar
auf einen „Robinson" anzuwenden und eine „Anschauungsgrundlage"
für dieses Wissen bereitzustellen versucht. Indem dieser „Robinson"
gewisse emotionale „Geistes- und Gemütsakte vollzieht (ζ. B. echte Akte
der Fremdliebe), die nur mit möglichen sozialen Gegenakten z u s a m m e n
eine objekte Sinneinheit bilden können", geht ihm „an deren positiv
erlebtem ,Leergang'", d.h. am Auftreten von „Leerbewußtsein",
„Nichtdaseinsbewußtsein", „Mangelsbewußtsein" und „Nichterfül-
lungsbewußtsein" „die höchst positive Anschauung und Idee von etwas
auf, was als Sphäre des D u da ist und wovon er nur kein Exemplar
kennt". Die Geistes- und Gemütsakte, die Scheler hier im Auge hat,
bringen in der Tat ein Du zum Vorschein, insofern sie ihrem Wesen nach
korrespondierende „Gegenakte" und bestimmte Erfüllungen erfordern.
Wer einsam lebt und sich in dieser seiner Einsamkeit nach Menschen
sehnt, erfährt gerade in der Unerfülltheit seiner Sehnsucht die Anderen,
die da sind, ihm aber fehlen. Der Sinn dieser Befindlichkeit liegt gerade in
13 Vgl. die für Volkeits eigene Position überaus aufschlußreiche Kritik an Scheler, a.a.O.,
Abschn. IV, V: „Wenn Schelers Lehre der Kritik standhielte, so wäre . . . die
Scheidewand zwischen Ich und Du . . . gefallen . . . Ich und Du stünden einander nicht
wie zwei einsame, spröde Punkte gegenüber." Durch die beiläufige „psychologisch"
gemeinte Bemerkung, daß für das kindliche Ich „eine absolute Ich-Einsamkeit
überhaupt nicht existiert", wird die traditionelle Position nicht aufgegeben, denn es ist
die Frage, in welchem Sinne eine solche Ich-Einsamkeit nicht existiert. Es muß
aufgewiesen werden, bei welchem Seienden das Kind immer schon ist und in welcher
Weise es jeweils bei ihm ist.
" V g l . Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, C II [S. 269 - 273; G. W. 7, S.
228-232].
der Verweisung auf Andere. Die von Scheler gemeinten Akte bringen
wesenhaft eine Mitwelt zum Vorschein, weil sie ohne diesen so
„angezeigten" Anderen nicht die Akte wären, die sie faktisch sind. Wir
haben es hier mit einem speziellen Fall des von uns betrachteten
Zum-Vorschein-kommens der Mitwelt überhaupt zu tun, — mit einem
Phänomen, das sich den anderen von uns herausgestellten einordnet. Aber
eben nur ein spezielles, wenngleich sehr wichtiges und in anderer Hinsicht
sogar in gewisser Weise ausgezeichnetes Phänomen liegt hier vor, nicht
jedoch das Standard-Phänomen für die apriorische Evidenz des „Wesens-
wissens um Gemeinschaft überhaupt", wofür es Scheler hält. Er meint
nämlich, daß die betreffenden Akte die Sphäre der Gemeinschaft als eine
eidetische Sphäre zugänglich machen genau so, wie etwa die ideierende
Abstraktion einer konkreten Rotnuance die Spezies Rot zur Gegebenheit
bringt und sogar das eidetische Reich der Farben erschließt. Abgesehen
davon, daß auch die Wesenssphäre der Gemeinschaft überhaupt durch die
ideierende Abstraktion von einer konkreten Gemeinschaft zugänglich
wird, und daß es ferner noch fraglich ist, ob es ein Erfassen von
Eidetischem ohne konkrete singuläre Unterlagen gibt, betrifft unser
apriorisches Wissen um die Mitwelt gar nicht die eidetische Sphäre der
Gemeinschaft überhaupt. Vielmehr hat es den Sinn eines ständigen,
wenngleich meist unausdrücklichen Verweises auf die Mitwelt. Zwar wird
in den genannten Akten eine Dimension der Mitwelt in besonderer Weise
sichtbar — darin liegt die oben erwähnte Auszeichnung dieser Phänome-
ne — ; aber diese Auszeichnung bedeutet, daß in den genannten
Phänomenen ein „Wissen" im Sinne gesteigerter Prägnanz lediglich
radikalisiert wird. Anders gesagt: diese ausgezeichneten Phänomene
weisen auf jene durchschnittliche Alltagsmeinung zurück, und eben
darum sind sie keine Standard-Phänomene im Sinne Schelers. Nur auf der
Basis jenes Alltagswissens um eine umgebende Mitwelt sind Akte wie die
der Fremdliebe, der Sehnsucht nach Freunden usw. möglich; sie sind
sinnvoll nur für einen Menschen, der sich je schon ständig, wenn auch nur
„implizit", inmitten einer menschlichen Umgebung „weiß", der jeden-
falls „weiß", daß er nicht das einzige menschliche Wesen ist. Wie sollte ein
Mensch, dessen Welt ihn in keiner Weise auf Mitmenschen verweist, dazu
kommen, Akte zu vollziehen, die ihm durch seine Lebensverhältnisse
nicht nahegelegt werden ? Diese Akte brechen doch nicht „spontan" aus
dem Subjekt hervor, das als menschliches Subjekt über gewisse mögliche
emotionale Akte verfügt und nun „frei" derartige Möglichkeiten aktuali-
siert. Vielmehr ist der Vollzug solcher Akte jeweils von unseren faktischen
15 Vgl. das Analoge zur Apriorität des Raumes bei HEIDEGGER, a.a.O., S. 111.
17 Darin liegt auch der wesentliche und charakteristische Unterschied zwischen einem
Vortrag und einer Diskussionsäußerung ; darum macht çine Diskussion, bei der die
Teilnehmer sich nicht aufeinander einstellen, sondern jeder monologisierend seinen
Standpunkt außen, einen chaotischen Eindruck.
18 Vgl. LOWITH, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, §§ 20 und 27.
wenn der eine den anderen überzeugen oder überreden will", oder wenn
man miteinander verhandelt, um sich zu einigen. Will man mit seinem
Partner einen Vertrag abschließen, oder sich mit ihm auf dem Boden eines
bereits bestehenden Vertrages über eine Streitfrage verständigen, so ist
man mit ihm in einer Verhandlungssituation zusammen, und zwar ist man
um des abzuschließenden Vertrages, um der strittigen Frage und dgl.
willen zusammen. Indem man miteinander verhandelt, stößt man auf die
Wünsche, Absichten und Interessen des Partners, die, auch wenn sie nicht
ausdrücklich geäußert werden, sich aus der Lage der Dinge ergeben. Aus
dem Verhalten des Partners während der Verhandlung können seine
Absichten, Motivationen usw. erschlossen werden. Auf diese erschlosse-
ne Position des Partners hin orientiert man sein Verhalten, indem man
dem Gegner „vorentsprechend" zuvorzukommen sucht, dessen Erwide-
rungen und Gegenmaßnahmen voraussieht und ihnen so begegnet, daß
man sie in die gewünschte bzw. in die am wenigsten unerwünschte
Richtung zu lenken sich bemüht. So ist das eigene Situationsverhalten auf
das des Anderen abgestellt und trägt ihm Rechnung. Hier wie in den
früher besprochenen Fällen ist man in seinem Verhalten auf den Partner
bezogen, indem man sich im Hinblick auf ihn und sein Verhalten verhält.
Man spürt in der gemeinsamen Situation die Anwesenheit des Partners ;
gerade dadurch wird die vorliegende Situation zu der bestimmt, die sie ist.
Schon in den zuletzt besprochenen Beispielen macht sich so etwas wie
ein „Druck der Außenwelt" geltend, ein Phänomen, auf das bekanntlich
Dilthey in seiner Theorie der Erfahrung von Realität besonders Nach-
druck gelegt hat20. Am offenkundigsten ist aber die Erfahrung von Druck
" Mit Recht weist Löwith mit besonderem Nachdruck auf das Phänomen der „Wechsel-
rede" in diesem Zusammenhang hin.
2 0 DIITHEY, Gesammelte Schriften, Bd. V ; vgl. für unseren Zusammenhang S. 110 ff. — Da
die Erfahrung von Druck und Widerstand unseren „Glauben an die Realität" sowohl der
„toten" Dinge wie der Mitmenschen konstituiert, beruft sich Dilthey, was die letzteren
in ihrer Besonderheit („diese besondere Klasse von Objekten") anbelangt, noch auf
Analogieschlüsse als logisches Äquivalent „ineinandergreifender Apperzeptionsprozes-
se". Die Vereinigung dieser beiden Motive ermöglich ihm eine eindimensionale Theorie
der mitmenschlichen Begegnungen. An die Erfahrung des Widerstandes, die „die
Voraussetzung jeder weiteren Erfahrung" bildet, schließen sich jene Prozesse an,
vermöge derer wir zu einem Wissen um das konkret vorliegende Fremdseelische
gelangen. Wir bilden „das fremde Innere" nach; dies aber ist untrennbar vom
„Mitfühlen". Indem unser „Mitgefühl" erwächst, kommen wir durch „Nachbilden und
Nachleben" „der von außen gewahrten, aber durch innere Ergänzungen nacherlebten
Vorgänge" auf die „innere Struktur" des anderen Menschen, auf eine „Lebens- und
Willenseinheit", die wir in ihrer Selbständigkeit und in der Kernhaftigkeit ihrer
„wertvollen Existenz" erfahren. Aus der E r f a h r u n g der Selbständigkeit der fremden
Person erwächst die A c h t u n g vor dieser Selbständigkeit: diese andere Person
23 Vgl. § 14.
Situation Ausgeführte werden wir sagen: erhalte ich den Sinn meines
konkreten Seins von der Situation her, so bedeutet das für die
Bestimmung meines konkreten Seins angesichts der Anderen, daß ich
auch im Hinblick auf einen oder mehrere Partner bestimmt bin. So bin ich
durch das Verhältnis mitbestimmt, das ich zu meinem Partner habe. In
diesem meinem Verhältnis zu ihm begegne ich ihm als der, der ich für ihn
hic et nunc bin und in Betracht komme ; und in genau der gleichen Weise
begegnet er mir. Das Verhältnis, das ein jeder von uns zum Anderen hat,
entspringt daraus, daß wir uns wirklich in bestimmter Weise zueinan-
der verhalten. Wie wir uns verhalten, in welchem konkreten Sinne wir
Partner sind, das wird freilich durch die Situation unseres Zusammenseins
bestimmt. Unser Verhältnis zueinander ist insofern ein fundiertes
Verhältnis, als es in der genannten Situation seine Wurzel hat. Mit anderen
Worten: die Situation schreibt uns eine Rolle vor, die wir übernehmen,
so lange wir in der betreffenden Situation stehen. Das ist ja überhaupt der
Sinn der situationshaften Bestimmtheit unseres konkreten Seins, daß wir
in einer solchen Lage in der von ihr uns zuerteilten Rolle und als solche
Rolle existieren. In bezug auf die uns hier beschäftigenden Situationen
des Zusammenseins mit einem Partner ist es wichtig zu bemerken, daß die
Rolle von vornherein auf die Gegenrolle des Partners hin angelegt ist. Für
den Sinn dieser unserer Rolle ist konstitutiv die Gegenrolle, die sie ihrem
Sinn gemäß erfordert, da sie nur in bezug auf diese sinnvoll sein kann. Wir
haben also unsere Rolle immer und notwendig im Hinblick auf die Rolle
des Partners. Darin gründet der Bezug und das Angewiesensein auf den
Partner, die wir im vorigen § als Charakteristikum des Zusammenseins in
einer gemeinsamen Situation herausgestellt haben.
In diesen durch das Verhältnis zueinander konstituierten
Rollen begegnen sich Partner in ihren Partnerschaftssituatio-
nen; sie begegnen sich als die, die sie in den jeweiligen
gemeinsamen Situationen sind, z.B. als Mitarbeiter, als Käuferund
Verkäufer, als Arbeitnehmer und Arbeitgeber, als Vorgesetzte und
Untergebene, und zwar in genau den Rollen, die sie im konkreten Fall
haben, etwa als Kutscher, der seinen Fahrgast fährt usw. In dieser
Dimension begegnet mir also nicht ein Individuum mit seinen individuel-
len, spezifisch ihm zukommenden Eigenschaften, die es als dieses
bestimmte Individuum konstituieren, wobei es für das Individuum,
besonders wenn man es als „strukturierte Lebenseinheit" im Sinne
Diltheys faßt, in einem gewissen Sinne zufällig und irrelevant sein kann,
daß es jetzt in dieser konkreten Situation steht und gerade diese bestimmte
Rolle in ihr hat24. Ebensowenig aber begegnet mir ein schlechthin anderer
Mensch, gewissermaßen ein zweites Exemplar der Gattung, zu der ich
gehöre, und das ich nur durch „Übertragung meiner eigenen Lebendig-
keit" und ihrer Struktur, meiner Erlebnisse und Erlebniszusammenhänge
(durch Analogie oder Einfühlung) deuten und mir verständlich machen
muß, so daß ich es in einem ganz bestimmten Sinne als alter
ego begreife25. Vielmehr begegnet mir der Andere als Partner in genau dem
konkreten Sinne von Partnerschaft, in dem er hic et nunc mein Partner ist.
Nur als die Rolle, die er in der jeweiligen Situation unseres Zusammen-
seins aufgrund seiner Funktion in dieser Situation darstellt und in einem
bestimmt zu verstehenden Sinne auch ist 26 , kommt er für mich in
Betracht. Er erscheint mir als ein durch die Situation motivierter, die ihm
eine Funktion und Rolle vorschreibt. Nur in dieser seiner Rolle habe ich
mit ihm zu tun. Sein Sein in dieser Situation erschöpft sich in der Rolle,
deren Träger er ist27. Was ich sonst noch über meinen Partner weiß, ist,
sofern es keinen sachlichen Bezug zur Situation aufweist, belanglos für
sein Verhalten zu mir. Ebenso ist es im Sinne unseres Zusammenseins
gleichgültig, in welchem Maße die Rolle in den beiderseitigen „Lebens-
einheiten" verwurzelt ist, die jeder von uns als Individuum darstellt. Wir
sind ja nur in unseren Rollen zusammen, nicht als Individuen. Daher
kommt es auch gar nicht darauf an, daß es gerade der bestimmte N.N. ist,
mit dem ich jetzt in dieser konkreten Partnerschaft stehe. Dieser N.N. ist
durch jeden beliebigen anderen ersetzbar, sofern dieser die situationsbe-
stimmte Funktion und Rolle übernimmt. In diesem Sinne kann man
sagen, daß mein Partner ein „Irgendjemand in dieser ganz bestimmten
24 O b diese konkrete Situation und Rolle für ein Individuum als „strukturierte
Lebenseinheit" relevant ist, in welchem Maße und in welchem Sinne sie es ist, hängt
davon ab, welchen Platz und Rang in der Struktur dieser „Lebenseinheit" die fragliche
Situation und Rolle sowohl ihrem Typ nach einnimmt, wie auch als die konkrete, die sie
im gegebenen Falle ist.
25 Sagt man in der gleichen Situation zu seinem Partner : „ich würde an ihrer Stelle das und
das tun", so bedeutet das, daß die Situation an der Stelle, an welcher der Panner in seiner
von der Situation an dieser Stelle ihm zuerteilten Rolle steht, ein bestimmtes Verhalten
erfordert, eben : „das und das zu tun", und daß der Partner, indem er sich anders verhält,
die Situation nicht völlig überschaut und versteht. Es hat aber nichts damit zu tun, was
mich als Person, Individuum und „Lebenseinheit", die ich bin, betrifft.
24 Siehe weiter unten.
27 Weil wir in dem Zusammensein der Partnerschaft uns in unseren Rollen begegnen, und
zwar in Rollen, die von vorherein aufeinander sinnvoll abgestimmt sind, ist die von
Löwith herausgestellte Struktur des „vorentsprechenden" Zuvorkommens überhaupt
möglich, die manche Bereiche dieser Dimension beherrscht. Aus dem gleichen Grunde
ist sie aber auch auf diese und nur diese Dimension zu restringieren.
Rolle" ist. Denn es bedeutete keinen Eingriff in die Situation, wenn ein
Irgendjemand die Rolle des N.N. übernähme2'.
In seinem bereits merhfach erwähnten Buche Das Individuum in der
Rolle des Mitmenschen gibt Löwith dem Gedanken Ausdruck, daß die
Menschen einander nicht als Individuen, d. h. nicht als in sich beschlosse-
ne „Monaden" begegnen, sondern wesenhaft in den „Rollen", die sie in
bezug aufeinander haben, und damit in „verhältnismäßiger Bestimmt-
heit". „Ein jeder der andern bestimmt sich zunächst also gerade darin an
ihm selbst, daß er zu bestimmten andern ein Verhältnis haben kann.
Die Mitmenschen begegnen nicht als eine Mannigfaltigkeit für sich
seiender Individuen sondern als personae, die eine Rolle haben,
nämlich innerhalb und für ihre Mitwelt, aus der heraus sie sich dann selbst
personhaft bestimmen."2' Dieser Gedanke der Bestimmtheit des Men-
schen durch seine verhältnismäßige Bedeutsamheit als „persona" ist in der
Tat zentral für die Untersuchungen Löwiths. Von ihm aus kommt es zur
Herausstellung des „vorentsprechenden" Zuvorkommens : „Das eigene
Verhalten richtet sich . . . nicht nur auf den anderen, sondern zugleich
nach dem anderen, es richtet sich selbst von vornherein nach dem
anderen ein. Die primäre Zweideutigkeit des eigenen Verhaltens zum
anderen ist also reflektiert, indem sich einer in seinem Verhalten (zum
andern) zum Verhältnis verhält. Sich im Verhalten zum Verhältnis
verhalten, das besagt : ich verhalte mich zu einem andern von vornherein
im Hinblick auf sein mögliches Verhalten zu mir."30 Hier sehen wir auch
den Grund dafür, daß Löwith diese Struktur insofern verabsolutiert, als er
sie ohne Einschränkung für die beherrschende Struktur aller mitmenschli-
chen Begegnungen hält. Da er ferner zwischen den verschiedenen
Dimensionen des Zusammenseins keinen Unterschied einführt, ist die
28 Vgl. HEIDEGGER, a. a. O., § 22 [S. 102-104], - Das „Man", das Heidegger [a.a. O.,
S. 114 ff.] in diesem Zusammenhang einführt, ist aber kein eindeutiger Begriff, sondern
eine ένας κατ' &ναλογίαν im Sinne von ARISTOTELES, Metaphysik, Δ, Kap. 6,1016 b 34,
die sich je nach den Dimensionen des mitmenschlichen Zusammenseins in ihrer
jeweiligen Bedeutung differenziert. Hier bedeutet „Man" den „Irgendjemand in einer
ganz bestimmten und konkreten Rolle (über eine weitere Bedeutung siehe S. 189).
Ώ LOWITH, a.a.O., S. 51.
30 LOWITH, a.a.O., S. 19f.: „Die prinzipielle Struktur der Verhältnisse besteht... darin,
daß das Sich-verhalten des einen mitbestimmt ist durch den andern ; es ist reflexiv in
Korreflexivität. Abgesehen von seinem Verhältnis zum andern ist, was einer tut und läßt,
nicht verständlich, denn er tut und läßt es ja nicht als abgeschlossenes Individuum,
sondern als persona, d.h. als einer, der eine,Rolle* hat, nämlich die, welche ihm durch
sein Verhältnis zum andern schon eo ipso erteilt ist, auch dann, wenn einer gar nicht
ausdrücklich im Sinne des ,wir' spricht und handelt."
„gehört", und in einem wieder anderen Sinn „gehört" ein „alter Mann
(nicht) zu den jungen Leuten". Erst aufgrund des Unterschiedes zwischen
Verhältnissen, in denen Menschen interagieren, und solchen, die „objek-
tiv", d. h. ohne Zutun der Partner, zwischen diesen bestehen, vermag die
„verhältnismäßige Bestimmtheit" ihrem Sinne nach aufgeklärt zu wer-
den. Das kann aber nur in solchen Untersuchungen geschehen, welche die
Phänomene selbst analysieren, und darauf zurückgehen, was „Stehen in
einer Situation" überhaupt heißt. In derselben Weise, allerdings unter
Einbeziehung der Dimensionsunterschiede, kann und muß auch der
jeweils verschiedene Sinn, in dem wir von der „Zugehörigkeit" der
Menschen zueinander sprechen, seine Aufklärung erhalten.
konkretes Sein geht das Verstehen. Weder haben wir also — wie es die
Ausgangsposition der traditionellen Problematik meinte — ein „Stück
Außenwelt"38 vor uns, in das wir uns einfühlen usw. und das erst dann,
wenn wir es durch irgendeine Form der „Übertragung" unseres eigenen
Inneren verlebendigen, beseelen oder dergleichen, zu einem anderen
Menschen, einem fremden Ich wird ; noch bahnt sich hier so etwas wie ein
Verstehen der fremden Individualität an. In seinen posthum veröffent-
lichten Fragmenten über Das Verstehen anderer Personen und ihrer
Lebensäußerungen unterscheidet Dilthey „elementare" und „höhere
Formen des Verstehens"39. Mit dem, was er „elemantare Formen des
Verstehens" nennt, haben wir es eigentlich hier zu tun, d. h. mit einem
Verstehen, das aus „den Interessen des praktischen Lebens erwächst". Die
Situationen des „praktischen Lebens" sind uns in ihrer Bewandtnis aus
sich heraus verständlich: „Die elemantaren Akte, aus denen sich
zusammenhängende Handlungen zusammensetzen, wie das Aufheben
eines Gegenstandes, das Niederfallenlassen eines Hammers, das Schnei-
den von Holz durch eine Säge bezeichnen für uns die Anwesenheit
gewisser Zwecke. In diesem elementaren Verstehen findet sonach ein
Rückgang auf den ganzen Lebenszusammenhang, welcher das dauernde
Subjekt von Lebensäußerungen bildet, nicht statt. . . wir dürfen es auch
n i c h t . . . als ein Verfahren fassen, das von der gegebenen Wirkung zu
irgendeinem Stück Lebenszusammenhang zurückgeht, welches die Wir-
kung möglich macht. Gewiß ist dieses letztere Verhältnis im Sachverhalt
selber enthalten, und so ist der Ubergang aus jenem in dieses gleichsam
immer vor der Tür : aber er braucht nicht einzutreten."40 Stellen wir diesen
Gedanken Diltheys in den Zusammenhang unserer Ausführungen, so
werden wir sagen: das dem Sein in gemeinsamen Situationen
immanente Wissen versteht den Partner in seiner jeweiligen
Rolle aus der konkreten Situation heraus. Weder ist diesem
Verstehen der Kern einer fremden Person zugänglich noch erschließt es so
etwas wie Charakterzüge des Mitmenschen, noch stößt es schließlich auf
Bewußtseinserlebnisse, d. h. cogitationes eines fremden Ich. Was hier
in den Blick kommt, ist lediglich der Partner in genau dem Sinne von
Partnerschaft, in dem wir es jeweils mit ihm zu tun haben. Das Verstehen
betrifft mithin die Art und Weise, wie der Andere die ihm von der
Situation zuerteilte Rolle spielt. Diese Ausrichtung eignet diesem
Verstehen deshalb, nicht weil es primär auf den anderen Menschen geht,
sondern weil es ein Moment an dem Wissen um die gerade aktuelle
Gesamtsituation darstellt. Es erfaßt den Mitmenschen nur insofern, als
er ein Bestandteil der Situation ist. Mit anderen Worten : wir haben es mit
einem Funktionsverstehen zu tun. Daher erschließt sich hier der Partner
in seiner s i t u a t i o n s b e s t i m m t e n Existenz : in der Rolle, die er gerade
darstellt und „ist". In alledem kommt zum Ausdruck, daß dieses
Verstehen des Partners Verhaltensformen erschließt, Modi des „Lebens
in.. nicht jedoch Eigenschaften, die einem Menschen als Substanz
zukommen, auch wenn man diese Substanz als „strukturierte Lebensein-
heit" faßt.
In dieser Weise erfahre ich in der gemeinsamen Arbeit und von ihr her
meinen Mitarbeiter in der Rolle, die ihm im gemeinsamen Arbeiten
zuerteilt wird. Wenn er sich mir als brauchbar oder ungeschickt, als ein
geeigneter oder ungeeigneter Mitarbeiter zeigt, so brauche ich dazu nicht
vom fertigen Werk auf ihn als den an der Herstellung beteiligten
Menschen zuriickzuschließen. Indem ich mit dem Anderen in einer
gemeinsamen Situation stehe, diese überblicke und ihn von ihr aus
begreife, „weiß" ich immer schon um die Angemessenheit bzw.
Unangemessenheit seines Verhaltens. Von da aus bestimmt sich auch der
Sinn von Geeignetheit und Ungeeignetheit des Mitarbeiters : nämlich im
Hinblick auf das aktuelle gemeinsame Werk. Doch erschließt sich der
Andere freilich auch nur als Mitarbeiter; was er sonst noch ist, in
welchen Bezirken er sonst noch existiert, in welchem Sinne er in ihnen
existiert — das alles ist diesem dem Zusammensein immanenten Verstehen
unzugänglich41. Die Ausführungen zur Mitarbeiterschaft gelten in ent-
sprechender Weise für alle Formen des hier gemeinten mitmenschlichen
Zusammenseins. Wenn ich jemanden um etwas bitte, so erfahre ich an der
Art und Weise, wie der Gebetene mich anhört, auf mein Ersuchen eingeht,
Widerstand leistet, ausweicht, Bedingungen stellt oder nachgibt usw.,
nicht so etwas wie einen fremden und selbständigen Willen schlechthin.
Vielmehr begegnet mir ein Mensch, der sich in der betreffenden Situation
in bestimmter Weise verhält, abweisend oder zuvorkommend ist, diese
und jene Absichten durchscheinen läßt oder auch ausdrücklich äußert, zu
„elementaren" und „höheren Formen des Verstehens". — Was dieses „vor der Tür sein"
besagt, wird weiter unten (S. 195 ff.) noch aufzuklären sein.
41 Vgl. zu weiteren Aspekten dieser Fragen die Ausführungen auf S. 165 ff.
46 Vgl. hierzu DILTHEY, Gesammelte Schriften, Bd. VII, S. 321 ; SPRANGER, a.a.O., S. 389:
„Alles Verstehen setzt ein Verstandenhaben voraus."
47 Die These Sprangers, „daß wir das Seelische nur verstehen durch das Geistige hindurch",
erfährt hier einige konkrete Durchführungen. Als „Geist" bezeichnet Spranger „den
[ideellen] Ort des Zusammentreffens" des „inselhaft in sich abgeschlossenen Ichs"
(a.a.O., S. 371 und 398).
48 Vgl. SPRANGER, a . a . O . , S. 389 f.
49 Die konkrete Existenz des „Siegers von Austerlitz" ist selbstverständlich nicht
identisch dieselbe, wie die „des Verfassers des Code Napoléon". Allgemein gilt für den
hier betrachteten Bereich : bestimmt sich die konkrete Existenz eines Menschen von der
Situation her, in der er eine Rolle hat, so ist die Identität des durch die verschiedenen
Rollen sich durchhaltenden „Individuums" als solchen so wenig eine Selbstverständlich-
keit und in genau dem gleichen Sinne ein Problem, wie das oben (§ 14) für mich, wenn ich
allein in einer Situation bin, dargelegt wurde. Da die Gründe, aus denen ein Problem der
Identität sich ergibt, im Prinzip hier die gleichen sind wie dort, begnügen wir uns mit der
Verweisung auf das im genannten § Ausgeführte.
Der jeweils konkrete Sinn, gemäß welchem wir und unsere Partner in
einer gemeinsamen Situation existieren, und die Rollen, die wir darstellen
und in gewissem Sinne auch sind, bestimmen sich, wie oben52 dargelegt,
aus der Situation selbst. Daher begegnen wir in der hier in Frage stehenden
Dimension dem Anderen als Partner in dem jeweils vorliegenden und von
der Situation des Zusammenseins her ausgeprägten Sinne von Partner-
schaft : wir begegnen ihm in seiner Rolle, in der er hic et nunc existiert.
„ K o n k r e t e Existenz hic et nunc" bedeutet, daß der Partner in der
Begegnungssituation zwar aufgeht, aber seine Rolle eben auch nur hic et
nunc hat. Damit ist darauf vorgedeutet, daß er in dieser Rolle nicht
schlechthin existiert : es meldet sich ein Bereich seiner Existenz außerhalb
der Situation wie auch außerhalb der Rolle.
Während des Zusammenseins existiert der Mitmensch lediglich in einer
bestimmten Rolle. Aber dieses Zusammensein selbst hat einen Anfang
50 DILTHEY, Gesammelte Schriften, Bd. VII, S. 320 f. Wenn Dilthey bemerkt, „die Taten
geschehen im Drange des Willens, um etwas zu erwirken, nicht um den Zeitgenossen
oder den Nachkommenden etwas mitzuteilen" — so ist damit auf die auch von uns oben
betonte Notwendigkeit einer Wendung von den Institutionen, Werken usw. auf die in
bestimmter Weise daran beteiligten Menschen hingewiesen.
51
Vgl. S. 195 ff.
52
Vgl. § 14.
und ein Ende. Anfang und Ende bedeuten nicht nur, daß gemeinsame
Tätigkeit und Zusammensein überhaupt irgendwann beginnen und
einmal enden. Der Anfang des Zusammenseins ist primär bestimmt durch
das Herkommen des Anderen. Das Ende bedeutet sein Fortgehen. Für
unseren Zusammenhang macht es keinen Unterschied, ob das Woher und
Wohin bestimmt ist oder nicht. Am Anfang und Ende des Zusammenseins
melden sich Existenzbereiche, in denen der Mitmensch, was immer er
auch sein und tun mag, jedenfalls nicht mein Partner und damit in jedem
Sinne frei von den uns gemeinsamen Situationen ist. Weil Anfang und
Ende auf diese Bereiche situations- und rollenfreier Existenz verweisen,
besitzen sie eine qualitativ-phänomenale Eigenschaft und bedeuten nicht
nur objektive Zeitpunkte des Anfangens und Aufhörens. Anfang und
Ende aber sind sie in bezug auf die Situation des Zusammenseins selbst.
Vom Zusammensein und der gemeinsamen Tätigkeit in ihrem Ablauf gibt
es daher in der gemeinsamen Situation selbst gelegene Verweisungen, ζ. B.
auf das Ende des Zusammenseins. Auch an diesen Verweisungen
orientiert sich die „Umsicht". Beispielsweise muß man sich mit der
Arbeit, an der man zusammen beschäftigt ist, beeilen, weil das Ende der
Arbeitszeit naht. Oder man kann einen besonderen Punkt heute mit
Rücksicht auf die vorgerückte Zeit nicht angemessen durchbesprechen
und schneidet ihn daher erst gar nicht an usw. Wenn man aufgrund von
derartigen Verweisungen auf das Ende der Situation geführt wird, kommt
auch das in den Blick, was qualitativ-phänomenal als Ende des Zusam-
menseins zu charakterisieren wäre : die Verweisung auf solche Bereiche, in
denen der Partner nicht mehr Partner ist, d.h. in denen er von der
gemeinsamen Situation, seiner und meiner Rolle frei ist. Insofern als jede
Stelle und jedes Stadium des Zusammenseins auf das Ende verweisen,
besteht jederzeit die Möglichkeit, daß jene Bereiche zum Vorschein
kommen, die, vom konkreten Zusammensein aus gesehen, Bezirke der
Freiheit, sei es meines Partners, sei es meiner selbst, sind. Hier bekundet
sich die außerhalb der gemeinsamen Situation bestehende Freiheit des
Mitmenschen eben in der Durchschnittlichkeit und Alltäglichkeit, die
dem „Wissen" um diese Freiheit als phänomenologischer Eigenschaft
zukommt 53 . An jeder Stelle und zu jedem „Zeitpunkt" des aktuellen
Zusammenseins besteht die Möglichkeit, daß sich die genannten Bezirke
der Freiheit melden ; jederzeit kann von der Situation und von den ihr
53 Es liegt hier, was das Prinzipielle angeht, genau so wie bei unserem ständigen alltäglichen
Wissen um eine Um- und Mitwelt, in der wir leben; vgl. oben S. 146.
54 Mit Absicht sagen wir nicht, daß die in Rede stehenden Bereiche „mitbeigebracht"
werden. Wir haben das „Mitbeigebrachte" hier durchwegs in dem Sinne genommen, daß
vom Aktuellen zum „Mitbeigebrachten" die Möglichkeit eines kontinuierlichen, d. h.
von sachlichen Bezügen und Bewandtnissen geleiteten Fortgangs besteht. Diese
Möglichkeit besteht gerade hier nicht. Für die gemeinten Bereiche ist es wesentlich, daß
sie völlig außerhalb der aktuellen Situation liegen und in keinem bewandtnishaften
Zusammenhang mit ihr stehen. Nur auf die Bereiche als solche, nicht auf das, was in
ihnen liegt, ist hier verwiesen.
55 S. 164, Anm. 49.
verhindert. . ., daß der eine mit dem andern über das sachlich Erforderliche hinaus
überhaupt in verbindlicher Weise zusammenkommt."
60 TONNIES, a . a . O . , S . 4 .
61 VIERKANDT, a . a . O . , § 2 0 , 6 f f .
62 Vgl. SCHMALENBACH, „Die soziologische Kategorie des Bundes", Dioskuren, Bd. I
(1922), S. 71 ; vgl. auch S. 73, über das Gestelltsein der „gesellschaftshaften Beziehun-
gen . . . auf ein jeweiliges Bestimmtes und als solches Einmaliges . . . Sobald das
,Geschäft' erledigt ist, treten die Individuen voneinander zurück." Übrigens hat
„Individuum" bei Schmalenbach die Bedeutung von „Einzelwesen" und steht nicht —
wie wir diesen Terminus immer gebrauchen — für „strukturierte Lebenseinheit".
" Uber die dritte soziologische Kategorie, vgl. Kapitel III dieses Abschnittes. —
VIERKANDT meint (a.a.O., S. 233 f.), daß die Gegenüberstellung von „Gemeinschaft" und
„Gesellschaft" nicht „die Gesamtheit aller möglichen Sozialformen" erschöpft (vom
„Bunde" spricht er nicht) ; stellt selbst drei „außergemeinschaftliche Grundverhältnis-
se" auf („Rechts- oder Anerkennungsverhältnis", „Kampfverhältnis" und „Machtver-
hältnis"). Allerdings fallen, wie er selbst sagt, diese drei „Grundverhältnisse" unter den
Tönniesschen Begriff der „Gesellschaft", wenn man diesen nur hinreichend weit faßt.
" Vgl. VIERKANDT, a.a.O., § X X X , 20. Vgl. ferner S. 246: „Bei dem ersteren [dem
persönlichen Verhältnis] sind die Beteiligten durch Seele und Geist zusammen, bei dem
letzteren [dem sachlichen Verhältnis] nur durch den Geist verbunden."
68 G. WAUTHER, „Zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften", Jahrbuch für Philosophie
und phänomenologische Forschung, Bd. VI (1923). Ähnlich auch M. WEBER, Wirtschaft
und Gesellschaft, Teil I, Kap. I § 9 [S. 21]: „Vergemeinschaftung" soll eine soziale
Beziehung heißen, wenn und soweit die „Einstellung des sozialen Handelns. . . auf
subjektiv gefühlter (affektueller oder traditioneller) Zusammengehörigkeit der
Beteiligten beruht." Zu M. Weber vgl. SCHMALENBACH, a.a.O., S. 89.
sie auf ein ihnen gemeinsames intentionales Objekt (eben den Bau)
gerichtet sind, einander in die Hände arbeiten (in „intentionaler
Wechselwirkung"" stehen). All dies schließt nämlich nicht aus, daß diese
Arbeiter einander gleichgültig sind (weil sie beispielsweise verschiedene
Sprachen sprechen), noch daß ihre Beziehungen durch Feindseligkeiten
aller Art belastet werden. Tritt aber anstelle einer solchen negativen
Gesinnung oder der Gleichgültigkeit eine positive Gesinnung, kommt
ferner ein Gefühl „innerer Verbundenheit", „innerer Einigung" und
„Zusammengehörigkeit" hinzu, so konstituiert sich zwischen ihnen eine
Gemeinschaft. Mit dem Auftreten der genannten Gefühle und Gesinnun-
gen springt geradezu „Gesellschaft" in „Gemeinschaft" um. Danach
wären also G e f ü h l e und G e s i n n u n g e n für die Gemeinschaft konsti-
tutiv70. Dabei stellen diese Gefühle und Gesinnungen subjektive Zutaten
dar, die zu dem Miteinanderleben und -arbeiten hinzukommen und
deshalb auch fehlen könnten, weil sie selbst darin nicht fundiert sind. Am
Typus des vorliegenden Zusammenseins ändert das Hinzukommen der
erwähnten Gefühle und Gesinnungen gar nichts: unabhängig von allen
positiven oder negativen Gesinnungen und Gefühlen sind sie auf eine
gemeinsame Sache hin als Mitarbeiter orientiert. Für ihr Handeln besagt
das Hinzukommen jener Gefühle nichts, wenn wir einmal von der
Möglichkeit absehen, daß beispielsweise die Feindseligkeit ein Zusam-
menarbeiten unmöglich macht. Diese hinzukommenden Gesinnungen
sind für die Art des Zusammenseins um so bedeutungsloser, als die
Arbeiter — wie G. Walther ausdrücklich betont — genau wissen, daß ihre
Gemeinschaft von zeitlich begrenzter Dauer ist.
Aus all dem ergibt sich: Gemeinschaft ist gar nicht eine eigene und
besondere Dimension mitmenschlichen Zusammenseins. Vielmehr läßt
sie sich kennzeichnen als „gesellschaftliches Gebilde + hinzukommende
positive Gesinnungen und Gefühle". Das Recht, hier von bloß hinzu-
kommenden Zutaten zu sprechen, liegt darin, daß die betreffenden
Gesinnungen in der konkret vorliegenden Partnerschaft selbst, d. h. in der
Art und Weise, wie die Partner zusammen sind (im Beispiel: in ihrer
Mitarbeiterschaft an einem und demselben Bau) nicht begründet und
" Zur Definition der „intentionalen Wechselwirkung", siehe WALTHER, a.a.O., S. 22.
70 Daher ist es nur konsequent, wenn WAITHER (a.a.O., S. 33) sagt : „Alle sozialen Gebilde,
. . . Verbände, Anstalten usw. im Sinne Max Webers würden wir. . . unter dem
Sammelbegriff der gesellschaftlichen Gebilde zusammenfassen, so lange dieses
Merkmal fehlt." Aber gerade das, was Weber „Anstalt" nennt (vor allem „Kirche" im
Gegensatz zur „Sekte") hat spezifischen Gemeinschaftscharakter. Siehe auch weiter
unten S. 205 f.
71 V g l . WAITHER, a . a . O . , S. 2 9 f.
74 Vgl. die Unterscheidung vom Besitz und Vermögen bei TONNIES, a.a.O., III, S. 5.
75 TONNIES, a . a . O . , S. 23.
76 VIERKANDT, a . a . O . , S. 2 5 1 .
77 Vgl. hierzu auch TONNIES, a.a.O., §§ 19 ff.
78 Wenn WALTHER, a.a.O., S. 24, meint, der „gemeinsame intentionale Lebensinhalt", der
für Gemeinschaft mit konstitutiv ist, könne „realer Besitz" sein, brauche es indes nicht
zu sein, müsse aber auch in diesem Falle irgend eine Beziehung zur Realität aufweisen
und könne nicht absolut losgelöst sein von aller „vergangenen, gegenwärtigen und
künftigen Realität" — so stimmen wir in der Sache mit ihr überein. Allerdings wollen wir
den an sich schon belasteten Terminus „Realität" hier um so mehr vermeiden, als auch
das, was außer dem „realen Besitz" in Betracht kommt, in einem bestimmten, hier nicht
näher darzulegenden Sinne „real" heißen muß. Der Sache nach ist das von Walther als
„real" Bezeichnete das ökonomische und überhaupt das Handgreifliche. Zu diesem hat
der sonst noch vorliegende gemeinschaftliche Besitz in der Tat immer eine bestimmte,
wenn auch jeweils andere Beziehung.
79 TONNIES, a . a . O . , S. 15.
80 Auf die Problematik des „objektiven Geistes" können wir in diesem Zusammenhange
nicht eingehen. Vgl. die Darlegung des Problems der „Existenz der Kultur" bei
SPRANGER, Zur Theorie des Verstebens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie, § 3,
der diese Existenz ausdrücklich vom Sein der „idealen Gegenstände" abhebt.
81 VIERKANDT, a.a.O., § 33; vgl. auch S. 334 f. Hierher gehören auch die Ausführungen
SCHELERS über die „relativ natürliche Weltanschauung" ; vgl. Wissensformen, S. 59 ff. [G.
W. 8, S . 61 ff.].
82 Damit hängt übrigens die von SPRANGER, a.a.O., S. 383 f. bemerkte Nachträglichkeit des
„Wertungscharakters" zusammen.
Menschen sind gerade die und keine anderen, weil sie in dieser Tradition
stehen. Die Bedeutung der hier gemeinten Besitztümer liegt also darin,
daß sie für das Leben der Gemeinschaft und für diese selbst sinnprägend
sind. Freilich hat das Leben in diesen Ordnungen den Charakter der
Selbstverständlichkeit.
Für die Konstitution von Gemeinschaft sind diese Gebilde vielleicht
noch entscheidender als der ökonomische Besitz. Denn erst aufgrund
ihrer erwächst die Möglichkeit eines gemeinschaftlichen Lebens im
gegenseitigen Einverständnis83. Indem das Leben so und so geordnet ist,
diese ganz bestimmte Gestaltung hat, aber als solches niemals zur Wahl
stand, niemals ausdrücklich angenommen oder irgendwie fraglich wurde,
führt man in dem daraus sich ergebenden Sinne ein Leben, eben das
gemeinschaftliche Leben, in dem man geeint ist. Man versteht einander im
Zusammenleben durch das unausdrückliche Gebrauchmachen dessen,
was sich so von selbst versteht und woran alle Anteil haben. Weil das
Einanderverstehen im Medium des Selbstverständlichen vor sich geht,
wirft es grundsätzlich keine Probleme und Schwierigkeiten auf. Aus
diesem Grunde aber ist das Verstehen eines „Fremden" zuweilen bis zur
Unmöglichkeit erschwert.
An diesem „geistigen" Besitz hat wie am ökonomischen jeder
Gemeinschaftsangehörige Anteil in dem bereits herausgestellten Sinne,
daß der ganze und ungeteilte Besitz ihm wie allen Anderen gehört. Der
Besitz aber, an dem er Anteil hat, ist in jedem Modus der Anteilhabe
gemeinschaftlicher Besitz und als solcher wesentlich charakterisiert. Das
bedeutet: die hier gemeinten Besitztümer, welcher Art sie auch sein
mögen, begegnen immer von der Gemeinschaft her und in einer
wesentlichen Bezogenheit auf diese. Auf dieser Bezogenheit, die eine
„selbstverständliche" und „naturhafte" ist, gründet der Charakter des
Gewohnten und Vertrauten". Insofern aber diese Zugehörigkeit eine
solche gemeinschaftshaften Charakters ist und keine persönlich-individu-
elle, verweist sie auf das „Mitbeigebrachtwerden" von Menschen, die
ebenfalls zu der betreffenden Gemeinschaft gehören85. Als Gemein-
83
Vgl. TÖNNIES, a.a.O., S. 19 f. und 224 f. über den „consensus".
84
Auf dasselbe weist auch TÖNNIES hin, obgleich er sich in seinen Ausführungen über
Gewohnheit und Gedächtnis (a.a.O., II, §§ 7 f.) auf Assoziation von Ideen und einen
entsprechenden Begriff von Erfahrung und Übung beruft. Was aber vertraut und
gewohnt ist, das sind Denkweisen, Handlungsabläufe, Lebensordnungen und dgl.,
niemals aber assoziierte Ideen, Vorstellungen, Lust- und Unlustempfindungen.
85
Darin liegt eine der Artikulationen der allgemeinen Verweisung auf die Mitwelt, von
denen auf S. 146 f. die Rede ist.
§ 23 Die Geschichtlichkeit
87 Im Hinblick auf einige von Schmalenbach angeführte Grenzfälle sei bemerkt, daß es
einzig und allein auf den p h ä n o m e n o l o g i s c h e n Charakter des „Von-jeher" und
„Schon-immer" ankommt und nicht darauf, auf welchen objektiven Zeitraum sich
dieses bezieht.
88 Daß es auch Gemeinschaften gibt, die nicht ausdrücklich werden und nicht einmal
„bewußt" sind, zeigt der Hinweis Schmalenbachs auf Sprachgemeinschaft, Rassege-
meinschaft und dgl. ; auch die Volksgemeinschaft gehört hierher. Allerdings können
diese Gemeinschaften unter besonderen Umständen nicht nur ausdrücklich bewußt
werden; vielmehr kann zu ihnen auch ein „Bund"-Verhältnis treten; vgl.'SCHMALEN-
BACH, a . a . O . , S. 6 8 .
89 Vgl. weiter unten, § 26.
90 TONNIES, a . a . O . , I , §§ 1 f. ; SCHMALENBACH, a . a . O . , S . 45 f.
95 TONNIES, a.a.O., S. 86; vgl. auch S. 127. Auf diese psychologische Theorie des Willens
können wir hier nicht eingehen ; ihre Bedeutung für Tönnies wird in der Bemerkung
deutlich : „ebenso wie die Willensformen verhalten sich ganze Menschen zueinander" (S.
130).
" In primitiveren Verhältnissen gehören auch die Toten zur Gemeinschaft und bilden —
wie VIERKANDT, a.a.O., S. 444 f. ausführt — mit den Lebenden „eine einzige Familie und
zugleich eine einzige Gemeinschaft". Vgl. hierzu L. LÊVY-BRUHL, Les fonctions mentales
dans les sociétés inférieures, Paris 1928, Kap. Vili. V. — Das bekannteste Beispiel dafür
ist der Ahnenkult der Chinesen.
97 SCHMALENBACH spricht in diesem Zusammenhang von einer „Modifikation, die der
seelische .Grund' in uns, das .Unbewußte' erfahren hat" (a. a. O., S. 52).
98 Vgl. HEIDEGGER, Sein und Zeit, S. 20: „Das Dasein ist je in seinem faktischen Sein, wie
und . . . ,was' es schon war. Ob ausdrücklich oder nicht, ist es seine Vergangenheit. . .
Das Dasein ist in seiner jeweiligen Weise zu sein und sonach auch mit dem ihm
zugehörigen Seinsverständnis in eine überkommene Daseinsauslegung hinein- und in ihr
aufgewachsen." Auf die Konstitution der Geschichtlichkeit in der Zeitlichkeit und die
Probleme dieser Konstitution (a. a. Ο., II, Kap. V, VI) gehen wir hier nicht ein.
" SCHELER, Sympathie, S. 40 f. [G. W. 7, S. 49]: „Wir leben hier I Η der Vergangenheit -
ohne daß uns der Akt des Erinnerns mitgegeben ist, der uns in die Vergangenheit führte,
und eben darum, ohne zu wissen, es sei die Vergangenheit, in der wir leben." — Mit
Rücksicht auf die existentielle Bedeutung der Vergangenheit, kann man die Traditions-
bildung und -Übertragung nicht als Ansteckung begreifen, wie das Scheler tut. Denn hier
handelt es sich nicht um Übernahme von Gefühlszuständen, einzelnen Wertungen,
Urteilen usw., was bei der Ansteckung der Fall ist, sondern um das Sichhineinleben in
bestimmte Haltungen, Weltanschauungen, Lebensauffassungen und dgl. Eben weil das
Hineinwachsen des Kindes in die Tradition seines Elternhauses bestimmend ist,liegthier
etwas prinzipiell anderes vor als da, wo das Kind irgendwelche Urteile seiner
Umgebung mitvollzieht, die nur als einzelne Urteile in Betracht kommen und nicht aus
dem in seiner Umgebung herrschenden „Geist" hervorgehen. Daher ist alles, was wir
durch Ansteckung übernehmen, seinem Wesen nach vergänglich und flüchtig, während
die Tradition, in die wir gewachsen sind, von sich aus die Intention auf Dauer und
Bestand hat, wie auch das Zusammensein in der Gemeinschaft an sich selbst die Tendenz
auf Dauer hat.
immer schon unsere Vergangenheit. Das Historische hängt uns nicht an,
sondern bestimmt uns unserem Wesen nach, weil es eine uns überkomme-
ne lebendige, d. h. in uns lebende Kraft ist.
Damit bestimmen wir uns als w e s e n t l i c h g e s c h i c h t l i c h e Wesen.
Die V e r g e m e i n s c h a f t u n g des Menschen bedeutet immer schon
seine V e r g e s c h i c h t l i c h u n g . Vergemeinschaftung wie Vergeschichtli-
chung sind aber keine äußeren, in irgend einem Sinne nachträglich
hinzukommende Bestimmungen; sie bezeichnen vielmehr Grundmo-
mente der menschlichen Existenz. Denn der Mensch befindet sich nicht
schlechthin in der Welt, weil er eine bestimmte Weise des Seins in der
Welt, damit aber immer schon gleichsam in eine „geistige Welt"
hineingewachsen ist. Das bedeutet: von v o r n h e r e i n ist der Mensch
k e i n solus ipse; indem er v e r g e m e i n s c h a f t e t und v e r g e s c h i c h t -
licht ist, gehört er immer schon zu anderen M e n s c h e n , z.B. zu
denen, unter welchen er aufwuchs, zu den Menschen seiner Generation
usw.100 Diese Zugehörigkeit bedeutet eine „Verwandtschaft", weil sie in
einer gemeinsamen Vergangenheit wurzelt und die gleichen historischen
Kräfte und Motive abgibt101. Daraus ergibt sich der Sinn, der bei der
Gemeinschaft die Vorgängigkeit des „Ganzen" vor den „Teilen" kenn-
zeichnet. Die Einzelnen „sind hier in ihren Verhältnissen zueinander nur
aus einem Ganzen zu begreifen, das in ihnen lebendig ist"102. Darum sind
die konkreten Situationen, in denen sie einander begegnen, nur aus dem
sie umfassenden Lebenszusammenhang zu begreifen und in einem
tieferen Sinn nur aus dessen Historizität. Aus diesem Grunde sind die
Gemeinschaftsangehörigen auch „verbunden . . . trotz aller Trennun-
gen"103. Weil die Zugehörigkeit hier ein „Wurzeln in . . ." und „Herkom-
men von . . . " meint, erscheint uns die in bezug auf Gemeinschaft häufig
verwendete Redeweise von einer „Erweiterung des Ich" inadäquat, weil
nämlich wieder die Vorstellung eines ursprünglich einsamen Ich nahege-
legt wird. Der Gemeinschaftsbesitz aber gehört mir in dem oben104
beschriebenen Sinne insofern, als ich in ihn hineingewachsen bin, aus ihm
herkomme, in ihm verwurzelt bin und dgl. Den gleichen Charakter des
Motive kommt es an, auf das Unsichtbare112, auf die „Lebensstellung", die
jeweils „eine neue Epoche einleitet und bestimmt"113. Weil das wahrhaft
Geschichtliche die historischen Motive sind, und weil die Geschichtlich-
keit der menschlichen Existenz unser Leben aus geschichtlichen Motiven
bestimmt, ist uns alles Geschichtliche „brüderlich und verwandt, ist der
geschichtliche Stoff eigen Fleisch und Blut" 114 . So liegen die Erkenntnis-
mittel für das Geschichtliche „in dem psychischen Capitale strukturierter
Lebendigkeit beschlossen" und ist das Leben selbst „das Organon für die
Auffassung der geschichtlichen Lebendigkeit"115. Diese Vertrautheit mit
allem Geschichtlichen besagt, da alles Geschichtliche menschlich und alles
Menschliche geschichtlich ist, zugleich eine Vertrautheit mit allem
Menschlichen : „ . . . meine strukturierte einheitliche Lebendigkeit... ist
das Organon für Erfassung und Erkenntnis aller Lebendigkeit". Im
Menschlichen oder Historischen „ist das Verhältnis ein unmittelbares"116.
In ausdrücklichem Gegensatz zu Diltheys Lehre von der „Transposition"
eigener innerer Erfahrungen in andere menschliche Körper117 betont
Yorck, daß der „Rapport"zwischen Mensch und Mensch ursprünglich
und unmittelbar ist118. Es bedarf keiner Übertragung, da eine „unmittelba-
re lebendige Zugehörigkeit" vorliegt. Dilthey hatte gemeint, daß „geistige
Tatsachen an sinnlichen Objekten gegeben sind und . . . zu psychischen
Zuständen und Vorgängen die geistigen . . . hinzutreten". Demgegenüber
erklärt Yorck, daß „dies ein ganz irrelevanter Bezug" sei. „Ein
Solipsismus wie er da in Ansatz gestellt wird, ist eine Abstraktion, die an
sich ein interessantes wohl zu erklärendes psychisches Phänomen ist".
„Luther, Augustin, Paulus wirken auf mich gegenwärtig und körperlos.
Die Wirkung ist eine unmittelbare und selbständige, welche mit der
unwirksamen Reflexion, daß ich ihren Körper würde sehen können, wenn
sie noch lebten, nichts zu tun hat. . . Die geschichtliche Wirkung von
Person zu Person, wie sie auch zwischen Zeitgenossen, persönlich
Bekannten stattfindet, ist nicht nur nicht ontisch, sondern auch somatisch
nicht bedingt" 11 '. Weil Yorck den Menschen als Wesen sieht, das aus
112 A.a.O., S. 26: „Die Nerven sind unsichtbar wie das Wesentliche überhaupt unsichtbar
ist."
113 A.a.O., S. 128.
1H A.a.O., S. 133 und 223.
115 A.a.O., S. 167.
116 A.a.O., S. 203.
120
Briefwechsel, S. 256.
121
DILTHEY, a . a . O . , B d . V , S. 2 5 0 ; Briefwechsel, S. 192.
mit ihnen gleicher Herkunft ist, aus der gleichen Vergangenheit, d.h.
denselben geschichtlichen Kräften und Motiven lebt wie sie, in einen
Lebenszusammenhang hineingeboren ist, dem auch sie angehören usw.
Das alles gehört zu den Lebensumständen, die für jeden „Gegebenheiten"
darstellen und in Betreff derer er keine Freiheit der Wahl hat123. Das
bedeutet: auch das Z u s a m m e n s e i n in der D i m e n s i o n der G e -
meinschaft ist kein Z u s a m m e n s e i n von Individuen als I n d i v i -
duen. Weil die Zugehörigkeit in dem Gemeinschaftsbesitz begründet ist,
reicht sie so weit wie die Teilhabe und die Gebundenheit an diesen ; die
Mitglieder einer Gemeinschaft sind nicht einander verfallen, sie gehören
sich nicht absolut und unbedingt, sondern nur insofern, als sie durch den
gemeinschaftlichen Besitz verbunden sind.
Diese so geartete und begrenzte Zugehörigkeit wird gemeint mit dem
„Wir" der Gemeinschaft, mit dem der Wir-Sagende seine Zugehörigkeit
zu Anderen bekundet124, wobei er das ausdrücklich macht, was als
„implizites" Wissen jedem aktuellen Zusammensein in der Gemeinschaft
immanent ist, auch dann, wenn es nicht ausdrücklich wird. (Dieses
Ausdrücklichmachen ist aber keine Explikation im Sinne des intentiona-
len Bewußtseins, sondern eine Form oder Stufe des „impliziten" Wissens
selber im Sinne der früheren Darlegungen.) Wenn Oppenheimer125 das
„Wirbewußtsein" als „Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer Gruppe"
(wobei er Zugehörigkeit von Abhängigkeit unterscheidet) so beschreibt :
„das Individuum fühlt sich geradezu a 1 s Gruppe, a 1 s Gemeinschaft",
so ist mit diesem Einsfühlen eine bundhafte Einstellung gemeint, nicht
aber das dem Sein in der Gemeinschaft „implizite" Wissen um die eigene
Zugehörigkeit zu ihr126. Ebenso bezieht sich, wie noch zu zeigen sein wird,
das „Wirbewußtsein", wie es Vierkandt127 beschreibt, auf das Zueinander
spezifisch von Bundgenossen und nicht von Gemeinschaftsangehörigen.
— Einen entsprechenden Sinn wie das „Wir" hat das „Man" in der
Dimension der Gemeinschaft : es bezeichnet den Angehörigen gerade in
bezug auf seine Zugehörigkeit. Wenn es heißt: „das und das tut man
123 So bemerkt TONNIES, a.a.O., S. 195 : „Der Mensch findet sich in diese [sei. die Familie]
hineingeboren; er kann zwar das Verbleiben darin, aber keineswegs die Begründung
solches Verhältnisses als aus seiner willkürlichen Freiheit erfolgend mit irgendwelchem
Sinne denken."
124 Vgl. hierzu SCHMALENBACH, a.a.O., S. 53 ff.
125 OPPENHEIMER, System der Soziologie, I , Jena 1922, S. 101.
126 Vgl. SCHMALENBACH, a. a. O., S. 68. Daß Einsfühlung für das Bundhafte konstitutiv ist,
wird in § 26 dargelegt werden.
127 VIERXANDT, Gesellschaftslehre, S. 144 und 210.
135
Vgl. oben, S. 173 ff.
schweigen, daß „nicht A. dies Leid fühlt und B. fühlt es auch und
außerdem wissen sie noch, daß sie es fühlen". Eben das Herauswachsen
der aktuellen Trauer aus dem gemeinschaftlichen Leben bestimmt sie zu
der konkreten Trauer, die sie ist, und begründet das Recht der soeben
gemachten Unterscheidung. Indem die Gemeinschaft in eigentümlicher
Weise in der aktuellen Trauer enthalten ist, charakterisiert sich letztere als
ein Gemeinschaftserlebnis in einem ganz bestimmten Sinne. Dieses
Enthaltensein der Gemeinschaft in der aktuellen Trauer besagt unter
anderem : jedem der Beteiligten sind die „mit ihm" trauernden Gemein-
schaftszugehörigen gegenwärtig; gerade in seiner Trauer ist er auf die
anderen und ihre Trauer bezogen. Dieser Bezug kommt nicht nachträglich
zu dem Trauererlebnis des einzelnen hinzu; vielmehr ist dieses das
bestimmte konkrete Trauererlebnis durch diesen Bezug, der also wesent-
lich zu ihm gehört. Daß man miteinander etwas erlebt, besagt also, daß in
dem Erleben eines jeden die anderen Beteiligten und ihr Erleben
konstitutiv enthalten sind. Daraus ergibt sich auch die oben angeführte
Schelersche Charakterisierung, die aber - wie gesagt - nicht den Kern des
vorliegenden Phänomens trifft. Indem wir in dieser Trauer leben, haben
wir — wie immer und überhaupt — ein „implizites" Wissen um die
Anderen. Da die Anwesenheit der Anderen in unserem gegenwärtigen
Fühlen ein konstitutives Moment dieses Fühlens selber ausmacht, ist das
Wissen um diese Anwesenheit ein Moment an unserem „impliziten"
Wissen um unsere aktuelle Befindlichkeit.
Zu prinzipiell den gleichen Resultaten führt die Analyse eines
Verhaltens, das nicht von der Form des Miteinander, sondern von
derjenigen der Rücksichtnahme ist. Handelt der Angehörige einer
Gemeinschaft im Namen dieser und aus ihrem ,Geiste* heraus, so ist die
Gemeinschaft, in Rücksicht auf die er handelt, in seinem Handeln
gegenwärtig, auch ohne daß die „Zuschauer" ausdrücklich einen Druck
auf ihn ausüben159. Wiederum wird durch diese ihre Gegenwart sein
Handeln zu dem bestimmt, das es konkret ist: nämlich zu einem
Gemeinschaftshandeln. In beiden Fällen sind im eigenen E r l e b e n und
Verhalten selbst die G e m e i n s c h a f t s a n g e h ö r i g e n g e g e n w ä r t i g
und diese ihre G e g e n w a r t ist s i n n b e s t i m m e n d f ü r das E r l e b e n
und Verhalten. D a s „ i m p l i z i t e " Wissen um das eigene E r l e b e n
und Verhalten erschließt dann die A n d e r e n , so wie sie darin
anwesend s i n d .
140 Vgl. hierzu DILTHEY, Gesammelte Schriften, Bd. VII, S. 208 ff.
142 SPRANGER, Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie, S.
395 ; vgl. DILTHEY, a.a.O., Bd. VII, S. 141 ff. — Darin liegt eine weitere Bestätigung der
These Sprangers, daß „wir das Seelische nur verstehen durch das Geistige hindurch", vgl.
oben S. 164, Anm. 47.
143
„Geistiges Subjekt" ist hier genau im Sinne SPRANGERS (a.a.O., S. 369) verstanden: als
subjektives Korrelat der „Kultur". Das Problem, „wie dieses geistige Subjekt in das
individuelle Ich hineingeschlungen ist", ist eben das Problem der wesentlichen
Vergeschichtlichung und Vergemeinschaftung des Menschen.
144
Vgl. SPRANGER, a.a.O., S. 389 ff.
§ 26 Die Einsfiihlung
148 Darauf werden wir mit Rücksicht auf das Prinzipielle (soweit es der Rahmen dieser
Abhandlung erlaubt) im nächsten § noch einzugehen haben.
149 M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, Teil I, Kap. III, § 10 [S. 140] ; vgl. auch Teil III,
Kap. I X [S. 753ff.; 1972, Teil I, Kap. III, S. 654ff.].
Webers, dem es um die „Typen der Herrschaft" geht, bringt es mit sich,
daß er das Charisma von vornherein als an einen Menschen (den „Führer"
mit seiner „Sendung") gebunden in den Blick bekommt. Sehen wir
zunächst von dieser Bindung des Charisma an den „Begnadeten" ab, die
allerdings weder nebensächlich noch zufällig ist, und fragen wir nach der
Art und Weise, wie das Charisma in Erscheinung tritt.
Offenbar ist es denen, die es „aufruft", nicht in der Weise „gegeben"
wie dem Historiker und Soziologen, der in der Distanz der Erkenntnis auf
Charismatisches stößt und ihm als seinem Gegenstande gegenübersteht.
Auch hier macht sich der nachdrücklich herausgestellte Gegensatz von
„Leben in . . . " und „Stehen gegenüber . . . " geltend. Das Charisma tritt
in Erscheinung, indem es „aufruft"; es wird von den „Aufgerufenen"
erfaßt, wenn sie den „Ruf" vernehmen und ihm folgen, d. h. von ihm
gepackt und hingerissen werden, sich ihm hingeben, an es glauben, sich
ihm gläubig-vertrauend überlassen usw.150 Dabei sind Hingabe und
Ergriffenwerden nicht etwa fundierte Akte, die sich auf einem vorgängi-
gen Zur-Gegebenheit-kommen des Charisma aufbauen und dieses
Gegebensein als seine fundierende Unterlage voraussetzen. Vielmehr
kommt das Außergewöhnliche, Unalltägliche in den genannten Akten
selbst zur Erfassung; nur denen, die an es glauben und sich ihm
überlassen, manifestiert sich das Charisma; — es manifestiert sich ihnen
gerade i η diesen wesentlich emotionalen Akten. In diesem „Aufrufen",
das für das In-Erscheinung-treten des Charisma wesentlich und charakte-
ristisch ist, liegt es beschlossen, daß seine Manifestation nicht als ein
Sichpräsentieren, Sichdarbieten, nicht als ein einfaches Zum-Vorschein-
kommen und Gegenwärtig-werden zu verstehen ist; aus diesem Grunde
kann man auch nicht davon sprechen, daß es den Beteiligten „gegeben"
ist, wenn man Gegebensein in einem strengen und prägnanten Sinne
nimmt151. Es sind die genannten emotionalen Akte der Hingabe und des
„Glaubens an . . . " , in denen das Charisma sich den Beteiligten kundtut.
Auf diese Emotion ist es gewissermaßen angewiesen, um in einem ihm als
Charisma entsprechenden Sinne genuin erfaßt zu werden. Diese emotio-
nalen Akte sind aber nicht irgendwelche Gefühle ; — vielmehr handelt es
sich bei ihnen um „ E i n s f ü h l u n g e n " und I d e n t i f i z i e r u n g e n 1 5 2 . Das
150 Dieses „Glauben an . . ." im Sinne von „Vertrauen auf . . ." ist charakteristisch
verschieden vom „Glauben daß . . . " ; vgl. auch die Andeutung oben, S. 17—18.
151 Vgl. oben, S. 5 7 - 6 8 .
152 Vgl. hierzu SCHELER, Sympathie, A.V. [S. 90 - 1 1 2 ; G. W. 7, S. 8 7 - 1 0 4 ] ; ferner A II 4 [S.
16—40; G. W. 7, S.29 — 48], Jedoch handelt es sich bei den dort angegebenen Beispielen,
etwa dem unter e. [S. 23—24 ; G. W. 7, S. 35] genannten, nicht um Einsfühlung ; vgl. oben
S. 114 ff. Auf einiges an dieser Stelle von Scheler Behauptete werden wir noch zu
sprechen kommen.
153 SCHELER, Sympathie, S. 101 f. [G. W. 7, S. 96 f.]. Stellt man dieser Interpretation des
ένδυεIV χριστοί) [in G. W. 7, S. 96]: ίνδύεςθαι Χριστσν Pauli den Yorck'schen
Gedanken von der „virtuellen Zurechnung und Kraftübertragung" gegenüber, so zeigt
sich der Unterschied zwischen dem Leben aus historischen Motiven und der auf
Einsfühlung gehenden Emotion. YORCK („Ein Dogma lebt so lange als das intellektuelle
oder allgemein lebendige Motiv wirksam ist, welches es hervorgetrieben . . . All jene
dogmatischen Bestimmungen existieren noch in der lebendigen christlichen Gemeinde.
Sie müssen doch also einen Werth repräsentieren", Briefwechsel, S. 155) beschreibt das
zur Tradition gewordene und gewissermaßen geschichtlich eingewachsene Charisma,
was jedem Charisma unvermeidlich ist (vgl. darüber auch oben, § 11), während Scheler
es auf dessen genuines In-Erscheinung-treten abgesehen hat.
154 Vgl. hierzu SCHMALENBACH, a.a.O., S . 61 f.
auch im ersten Falle begegnen sich die Genossen nicht als gleichsam
„parallel" Entflammte; indem sie sich als Menschen eines „Geistes"
begegnen, bilden sie in der Begegnung selbst eine Gemeinde155. Dieses
„In-einem-Geiste-geeint-sein" ist bezeichnend für das Zusammensein im
Bunde. Es ist ein Gefühlsstrom, e i n e charismatische Manifestation, in
der die Menschen leben, und die sie zu einem Bunde werden läßt. Nicht
nur, daß jeder in der Manifestation des Charismatischen, die ihm zuteil
wird, die Anderen „spürt", welche mit ihm gleichen „Geistes" sind, wie
er auch den „Führer" „spürt" (Schmalenbach Sprichthier von einem „das
zentrale Gefühl" umgebenden, oft sogar einbettenden „Gefühls-Hof",
wenn nicht sogar von einem „Gefühls-Meer" in der „Verbundenheit mit
andern"). Worauf es für die hier gemeinte Einsfühlung ankommt, ist, daß
in der Wendung zu den Genossen diese als Menschen des gleichen
„Geistes", als Mitentflammte „erkannt" werden. Dabei ist dieses
„Erkennen" ein Einsfühlen mit dem gleichen Gefühlsstrom, der die in
gegenseitiger Einsfühlung stehenden Genossen zum Charismatischen
hinreißt. Weil es sich um ein und dieselbe charismatische Macht
handelt, die von ihnen Besitz ergriffen hat, und weil jeder in
dem Genossen diese Macht spürt, kann man sagen, daß so etwas
wie eine „Verschmelzung" zwischen ihnen sich e r e i g n e t D a b e i
tritt diese „Verschmelzung" nicht zu jenen Einsfühlungen hinzu, in
welchen die Genossen sich als „Brüder eines Geistes" „erkennen";
vielmehr werden sie, indem sie des einen sie beherrschenden „Geistes" in
Einsfühlungen innewerden, gefühlshaft zusammengeschweißt: sie ver-
schmelzen miteinander in der sie alle hinreißenden und einenden Hingabe
an das sich ihnen manifestierende Charisma. — Auch in diesem
bundhaften Zusammensein gibt es ein Miteinander, das aber von dem
oben157 herausgestellten in der Dimension der Gemeinschaft verschieden
ist. Während das gemeinschaftshafte Miteinander dadurch konstutiert ist,
daß in dem Miteinanderfühlen, -handeln usw. für jeden der Beteiligten die
Anderen gegenwärtig und darin enthalten sind, ist umgekehrt für das
bundhafte Miteinander die Einsfühlung mit dem „Geiste" konstitutiv,
durch den man miteinander geeint ist.
Weil das in Rede stehende Zusammensein die soeben herausgearbeite-
ten Eigenschaften besitzt, fallen hier gewissermaßen die Schranken
155 „Gemeinde", die WEBER (a.a.O., S. 14 [1972, S. 14] als „emotionale Vergemeinschaf-
tung" definiert, ist ein „Bund" im Sinne Schmalenbachs.
156 Vgl. SCHMALENBACH, a.a.O., S. 72.
157 Vgl. S. 188 f.
158 Entsprechendes gilt für die „kosmovitale Einsfühlung" wie sie SCHELER, Sympathie, S.
92 ff. [G. W. 7, S. 89 ff.] beschreibt.
1 5 9 VIERKANDT, Gesellschaftslehre, S. 144; vgl. auch S. 210: mehrere Personen . ..
empfinden sich . . . in einer spezifischen Weise als eine Einheit, nämlich als ein ,Wir',
das an die Stelle des ,Ich' tritt oder dieses wenigstens in den Hintergrund treten läßt".
140 Vgl. S. 188-189 und 198.
1 6 1 SCHWALENBACH, a.a.O., S . 7 2 .
164
Damit hängt auch der von WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 761 [1972, S. 660-661]
so genannte „charismatische Kommunismus" zusammen.
145
Vgl. hierzu WEBER, a.a.O., Teil II, Kap. V [1972, Teil II, Kap. V, S. 245-381] und
SCHMALENBACH, a. a. O . , S. 43 f f .
äußerlich von der Welt abgeschiedene Mönch des Mittelalters" 1 ". Aber
auch bei relativ geschichtlich stabilisierten Religionen erfährt das Bewußt-
sein der „Auserwähltheit" dann eine besondere Betonung, wenn die
betreffende „Gemeinde" sich gegen das Institutionellwerden des Religiö-
sen, d. h. gegen sein Alltäglichwerden wehrt. Dies läßt sich bei Sekten
nachweisen. Das liegt daran, daß sie als „voluntaristischer Verband" eben
spezifisch bundhaft ist, während die „Kirche" als „Gnadenanstalt, . . . in
die man „hineingeboren" wird, als paradigmatisches Beispiel von
Gemeinschaft gelten kann167. An diesem Unterschied zwischen der
„Kirche" als einer Gemeinschaft und der wesentlich bundhaften „Sekte"
zeigt sich die Abwegigkeit aller Theorien, die sich nicht an den für einen
Verband konstitutiven Momenten orientieren, sondern vielmehr an
Gefühlen und Gesinnungen, welche die Angehörigen zueinander hegen,
ohne nach dem „ O r t " dieser Gefühle und Gesinnungen innerhalb der
vorliegenden sozialen Struktur zu fragen, — wie wir das oben168 in bezug
auf G. Walther ausgeführt haben.
Anhand dieser Darstellung des bundhaften Zusammenseins und der
konstitutiven Bedeutung der Einsfühlungen für diese Form des Zusam-
menseins läßt sich der Unterschied zwischen Einsfühlung und Gefühlsan-
steckung in seiner ganzen Tragweite erkennen. Scheler führt die „Einsfüh-
lung" und „Einssetzung" als „nur gesteigerten Fall, sozusagen Grenzfall
der Ansteckung" ein; für letztere dienen ihm die Massenerregungen als
Beispiel 1 ". Bei Massenerregungen braucht, wie Scheler selbst ausführt und
wie vorher schon Groethuysen gesehen hat170, ein Wissen um die
Stimmung der anderen Beteiligten nicht vorzuliegen. Die Gefühlsanstek-
kung beruht darauf, daß eine bestimmte Stimmung oder Atmosphäre sich
ausbreitet und den Neueintretenden ansteckt.
Darin liegt schon, daß die Ansteckung weder ein Seinsverhältnis zu
dem, wovon man gesteckt ist, begründet, noch daß sie aus einem
166 M. WEBER, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1922, Bd. I, S. 118 ff.
167 Diese Bestimmungen von „Kirche" und „Sekte" hat WEBER, Religionssoziologie, Bd. I, S.
152f. und 211 eingeführt; vgl. auch SCHMALENBACH, a.a.O., S. 44: „Kirche ist eine in
.Gemeinschaft' — oder auch sogar .Gesellschaft' — umgewandelte Sekte, ein reiner
Bund (beides relativ)." Allerdings führt Schmalenbach kein Beispiel einer gesell-
schaftshaften „Kirche" an.
168 Vgl. oben, S. 173 ff.
169 Vgl. SCHELER, Sympathie, S. 12 ff. [ G . W . 7, S. 25 ff.]. Auch WEBER, Wirtschaft und
Gesellschaft, S. 768 [1972, S. 667], meint, „daß alle emotionale Massenwirkung
notwendig gewisse .charismatische' Züge an sich trägt".
170 Vgl. oben, S. 3 8 - 4 0 .
171 Aus diesem Grunde vermag, wie VIERKANDT, a.a.O., S. 211 f. ausführt, „ein Erlebnis
von sich aus keine Gemeinschaft zu erzeugen". Dabei nehmen wir Gemeinschaft,
in der bei Vierkandt auch der Bund mitinbegriffen ist, als repräsentativ für ein
zwischenmenschliches Seinsverhältnis überhaupt. Allerdings kann, wie weiter ausge-
führt wird, „das gleiche Erlebnis . . . eine innere Annäherung der beteiligten Personen
hervorrufen" und so zu einem Bunde (Vierkandt sagt : Gemeinschaft) führen. Dann aber
handelt es sich nicht nur um ein allen gemeinsames Erlebnis ; vielmehr enthält dieses
Erlebnis schon eine gegenseitige Zuwendung der Beteiligten.
172 WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 11 f . [ 1 9 7 2 , S . 11 f . ] .
Aber diese Phänomene ihrem vollen konkreten Sinn und Gehalt nach
darlegen und sie a k z e p t i e r e n , sie gewissermaßen mitmachen, ist
zweierlei. G e r a d e das letztere liegt nicht in der Intention
unserer A u s f ü h r u n g e n . Wir nehmen diesen Phänomenen gegenüber
die Einstellung der „phänomenologischen εποχή" ein174. Wir stellen sie
dar, beschreiben und analysieren sie, suchen ihren Sinn für die Beteiligten
herauszustellen, fragen, inwiefern diese Erlebnisse für die Art und Weise
des Daseins bestimmend sind, aber wir eignen uns sie und die
entsprechenden Phänomene nicht an, wir machen von ihnen keinen
Gebrauch, bauen nicht auf ihnen auf, sie geben für uns keine Grundlagen
ab, auf die wir uns zu stellen haben. Wenn wir ζ. B. vom „Führer" und
seiner „Sendung" sprechen, so nehmen wir diese Phänomene als die und
genau die, welche sie für die betreffenden Menschen sind. Aber für uns hat
diese Manifestation gewissermaßen nichts Verbindliches, wir stellen uns
nicht auf ihren Boden, wir machen sie nicht mit, und zwar auch dann
nicht, wenn sie uns selbst betrifft175. In unserer Untersuchung kommt der
„Führer" nicht wirklich als Führer in Betracht, und es ergibt sich uns auch
nichts aus seiner „Sendung", die wir nicht als hinzunehmende und uns
verpflichtende Sendung verstehen. Das alles fungiert für uns nur als
Phänomen, d. h. als in bestimmten Erlebensweisen so und so vermeint.
Mit diesem Vermeinen rein als solchem haben wir es zu tun, wir ziehen
keinerlei Konsequenzen, die über die betreffenden Phänomene und
Erlebensweisen selbst hinausgehen. Aus diesem Grunde haben wir, wo
immer von charismatischen Kräften, Qualitäten, Personen und solchen
Seinsverhältnissen die Rede war, die ihren Sinn von dem betreffenden
Charisma her erhalten, die betreffenden Termini in Anführungszeichen
gesetzt.
Mit dieser Einstellung treten unsere Darlegungen in einen Gegensatz
zu den Intentionen Schelers. Obwohl er, wie wir bemerkten und
zurückweisen mußten, die Einsfühlung als Grenzfall der Gefühlsanstek-
kung betrachtet und das „Vitalbewußtsein" als ihren „ O r t " in der
Konstitution angibt176, will er sie als „echte und wahre" metaphysische
181
WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 755 [1972, S. 656]; vgl. auch S. 142 [1972, S. 142]
über die „Wirtschaftsfremdheit" des reinen Charisma.
182
Vgl. S. 2 0 4 - 2 0 5 .
183
V g l . WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 7 5 5 [ 1 9 7 2 , S. 6 5 6 - 6 5 7 ] ,
184
Vgl. SCHMALENBACH, a.a.O., S. 73 f.
Allerdings ist die sich jetzt meldende „Welt" nicht identisch die, welche
vor dem In-Erscheinung-treten des Charisma bestand. Die von ihm
„Aufgerufenen" sind nicht einfach durch rauschhafte Erregungen hin-
durchgegangen, die abklingen und sich spurlos verlieren, wie das bei
Stimmungen, von denen man angesteckt war, der Fall ist185. Daß sie in
Einsftihlung mit Charismatischem standen und noch stehen und so realen
Anteil an ihm gewonnen haben, besagt : sie selbst haben in den Ekstasen
Verwandlungen durchgemacht ; das Neue, das sich ihnen manifestiert hat,
verwandelt sie insofern, als ihr Dasein jetzt von ihm her seinen Sinn erhält
und nicht mehr von dem traditional Überkommenen. So verwandelt
kommt ihnen die „Welt" wieder in den Blick : es ist aber nicht mehr die
alte „traditionale Welt", vielmehr wird auch sie und werden die in ihr
enthaltenen Ordnungen und Institutionen, ζ. B. die politischen, rechtli-
chen, sozialen von dem zum Durchbruch gekommenen Neuen her und in
seinem Sinne verstanden. Und wenn sich die „Welt" verändert hat,
bedeutet dies, daß das jeweils in Rede stehende konkrete Charisma in sie
hineingekommen ist; damit erfährt die „Welt" eine Umzentrierung, und
in dieser Umzentrierung besteht eben ihre Veränderung.
Indem das Charisma so in die „Welt" hineinkommt, entfaltet es sich zu
einer revolutionären Macht; wie Weber meint" 6 , zur „spezifischschöpfe-
rischen revolutionären Macht der Geschichte". Es revolutioniert nicht
primär die „Dinge" und Ordnungen. Vielmehr revolutioniert es „von
innen her" die Menschen, indem es sie verwandelt und ihnen einen neuen
Sinn des Daseins gibt — Weber spricht von einer zentralen „Metanoia der
Gesinnung" — und sie dann als so verwandelte die traditionale „Welt"
umstürzen läßt. Jeder Umsturz der geltenden, eingelebten Ordnungen,
jede Neuordnung der „Welt" gegenüber der Tradition geht nach Weber
zurück auf den Einfluß charismatischer Personen auf ihre Anhänger,
welche ihrerseits das „es steht geschrieben — ich aber sage euch" des
„Meisters" in der „Welt" durchsetzen und sie ihm entsprechend neu
aufbauen187. In diesem „es steht geschrieben — ich aber sage euch"
bekundet sich die Ubermacht und Überlegenheit der charismatischen
„Sendung". Zwar reißt das Charismatische die von ihm „Aufgerufenen"
nicht mehr aus der „Welt" heraus. Es geht im Gegenteil selbst in die
„Welt" ein und erobert sie, indem es nichts bestehen läßt, was ihm nicht
entspricht oder gar widerspricht. Die aufgrund seiner Manifestation
185 Vgl. oben, S. 206 ff.
186 WEBER, a . a . O . , S. 7 5 8 f. [ 1 9 7 2 , S. 6 5 7 f.],
187 WEBER. a . a . O . , S. 141 [ 1 9 7 2 , S. 1 4 1 ] u n d S. 3 7 5 [ 1 9 7 2 , S. 1 8 8 ] ,
entstehende und allmählich sich ausbildende „Welt" ist in dem Sinne „neu
und voraussetzungslos" orientiert, als die eingewachsenen traditionalen
„Voraussetzungen" umgestürzt werden und diese neue „Welt" allein auf
dem betreffenden Charisma und dem in ihm Enthaltenen, aus ihm sich
Ergebenden als auf ihrer einzigen Voraussetzung ruht. D a s C h a r i s m a
ist in h i s t o r i s c h e r B e z i e h u n g A n f a n g s p h ä n o m e n ; es leitet ein
neues D a s e i n ein und gibt einer „ W e l t " einen Sinn 188 .
Von dieser revolutionären Umwandlung bleibt prinzipiell kein Gebiet
verschont. Schrittweise dringt das Neue in alle Lebensgebiete ein,
allmählich werden alle Sphären der „Welt" und des Lebens in seinem
Sinne umgestaltet und erneuert. Diese Eroberung der „Welt" durch das
Charisma besagt aber sein Verfallen an die „Welt" : je mehr das Charisma
in die „Welt" eindringt und sich in ihr durchsetzt, desto mehr entfernt es
sich von diesem seinem Ursprung, verfällt der Verweltlichung18' und wird
legalisiert und traditionalisiert1'0. Dieser Prozeß ist für das Charisma „der
Weg. . . zum langsamen Erstickungstode" ; auf diesem Wege büßt es
seinen eigentlichen Charakter ein. Die charismatische Herrschaft mündet
ins „Institutionelle" ein ; zwar berufen sich diese „Institutionen" auf das
genuine In-Erscheinung-treten des Charismatischen, wie das Weber für
das Königtum, die Nobilität und anderes ausgeführt hat ; darin aber, daß
sie sich durch die Deszendenz von einem Vorfahren legitimieren, der
„berufen" und „gesendet" war, bekundet sich, daß sie ihre Legitimation
in einem Überkommenen und Eingewachsenen, und eben nicht in einem
genuinen Charismatischen haben. In dieser Entwicklung büßt das
Charisma seine revolutionäre Bedeutung ein und verwandelt sich ins
Gegenteil: es wird selbst zu etwas Tradierbarem, das in irgendeiner Weise
und nach irgendwelchen Regeln weitergegeben wird. Das, was ursprüng-
lich die Menschen „aufrief" und „erweckte", sie aus ihren Gemein-
schaftsbindungen herausriß und in freien Bünden einte, wird auf diesem
Wege selber zum Konstituens und Besitz einer Gemeinschaft, die aus dem
geschichtlich gewordenen „Geist" heraus lebt. Am Ende dieses Weges
steht immer die Umwandlung ins Gemeinschaftshafte, das selbstver-
ständlich ist, und in das man hineinwächst.
1.3 WEBER, a . a . O . , S . 7 6 2 [ 1 9 7 2 , S . 6 6 1 - 6 6 2 ] ,
1.4 Vgl. SCHELER, Sympathie, S. 17f. [G. W. 7, S. 30].
199 SCHMALENBACH, „Soziologie der Sachverhältnisse", Jahrbuch für Soziologie, Bd. III
(1927).
200 SCHMALENBACH, a.a.O., S. 44.
204
Vgl. S. 164, A N M . 49.
203
LOWITH, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 54.
der mir,unter anderen' auf der Straße begegnet, von allen anderen als den
Unbekannten. Innerhalb dieses ,Kreises' — dessen unausdrücklicher
Mittelpunkt man selber ist — von Z u g e h ö r i g e n unterscheiden sich
wiederum die Meinigen als die A n g e h ö r i g e n . Und innerhalb der
Angehörigen bist allererst ,Du' im eigentlichen Sinn der M e i n i g e . " Nur
weil Löwith die Dimensionen und ihre Differenzen übersieht und zu
einer eindimensionalen Deskription des Mitmenschen tendiert, die in
Wirklichkeit eine Verabsolutierung der Dimension der Partnerschaft
darstellt, erscheint ihm das Bild des Kreises als adäquate Darstellung
meiner Seinsverhältnisse zu den Anderen, die je nach ihrem Ort im Kreise
„Näher- und Ferner-Stehende, Angehörige und Fremde" sind. Die
Unterschiede, die hier in Betracht kommen, sind aber nicht quasiquantita-
tiv und graduell. Zunächst muß man die Differenzen der Dimensionen als
verschiedene Modi des Seins mit Anderen in Betracht ziehen. In jeder
dieser Dimensionen gibt es „Kreise", und zwar vielfach verschiedene, und
innerhalb jedes dieser „Kreise" kann man Näher- und Fernerstehende
unterscheiden. Die wichtigsten Differenzen sind aber die der Dimensio-
nen selbst. —
Weil das Zusammensein mit anderen Menschen immer ein Mit-ihnen-
in-der-Welt-sein ist, sind die Dimensionen des mitmenschlichen Zusam-
menseins zugleich Dimensionen des In-der-Welt-seins selbst. Bei der
Darlegung der Gemeinschaft als fundierter Gemeinschaft206 wiesen wir
auf den Besitz der Gemeinschaft (auch und gerade auf den ,,Sach"-besitz)
hin, in den man hineingewachsen ist und zu dem man in einem
Gemeinschaftsverhältnis steht; entsprechend galt uns die „kosmovitale
Einsfühlung" Schelers als Paradigma eines bundhaften Seinsverhältnisses
zur Natur. Als das gesellschaftshafte Seinsverhältnis zu „Sachen"
betrachten wir das bloße Hantieren und Umgehen mit Zeug207. Wenn
Schmalenbach hierfür auf das Eigentumsverhältnis verweist, so hat er
insofern Recht, als mit derart verwendetem Zeug die Anderen „mitbeige-
bracht" werden können, von denen es gekauft, eingetauscht, geschenkt
usw. wird. Weil eben Partnerschaftssituationen „mitbeigebracht"
werden, zeigt dies schon an, daß das in ihnen begründete Seinsverhältnis
Aristoteles 126, 156 Husserl 4, 13, 14, 25, 30, 39, 41, 54-57,
Arnauld A. 56, 68, 70, 71, 126 59-61, 64, 67-68, 71, 76, 85, 91, 108,
Augustin 185 115, 124, 126, 131, 132, 144, 209-210,
Avenarius 18, 54, 57-59, 84 217
133, 169-170, 172, 174, 175, 179-182, Tönnies 168, 169, 170, 172, 175, 176, 178,
188, 192, 197, 202-206, 208, 215,' 217, 180-182, 188, 197
222
Schuppe W. 43 Vierkandt 168-169, 175-177, 182, 188,
Scupin 111 189, 193, 204, 207, 219-220
Sigwart 63 Volkelt 9, 36, 144, 145
Spencer 35, 85, 112
Spranger 163, 164, 177, 197 Walther G. 172-176, 184, 206
Stein E. 44, 46, 59, 77, 80-81, 88 Weber M. 172, 173, 197, 199, 200, 203,
Stern C. 98, 100 205-207, 212-216
Stern W. 98, 99, 100, 111, 112, 118, 119 Weigl E. 101, 105-106, 118
Störring 7, 42 Wertheimer 13, 21, 74, 118
Akt 30, 38, 39, 42, 67, 74, 82 , 83, 115, Dinggewißheit 144-145
123, 125, 128, 146, 200, 201, 204, 211
Alltäglichkeit 199, 211 Einfühlungstheorie 30, 34, 38, 45-46
Alltagsmeinung 25, 26, 46, 47, 141, 142, Einsfühlung 200, 202, 204-205, 208-213,
146, 223 216
Alltagsüberzeugung (vgl. auch Ueberzeu- Erfahrung 40-41, 58
gung) 34, 37, 46 Erkenntnis 62, 211
Analogieschluß 8, 9, 28, 150, 186 Erkenntnistheorie 10-14, 20, 90, 144
Analogieschlußtheorie 7, 14-27, 28, 29, Erlebnis 3-5, 31, 35, 40, 41, 44, 61, 67,
30, 37, 38, 40, 42, 45, 46, 145 91, 125, 126, 128, 130, 193, 207, 208
Andere, der 24-26, 29, 35, 37, 41, 52,
53, 139-140, 141, 145, 148-150, 154, Feld, thematisches 66, 133
155, 160, 162, 163, 166, 180, 188, 189, Freiheit 166-169, 188, 204
193, 194, 203, 207, 219-222 Fremdseelisches 5-9, 14, 17, 19, 20, 24,
Ansatz (oder Befund), phänomenologi- 26, 28-31, 36-38, 4CM6, 75, 80
scher 3, 6, 9, 10, 37, 75 Funktion 97, 100, 140, 148, 149, 155,
Ansteckung 36-37 167, 168
Ausdrucksphänomen 21-23, 44, 45, 47, Funktionsverstehen 161
77, 162-163
Außeralltäglichkeit 212 Gegenstand 3, 4, 58-62, 65, 73, 81-83, 96,
Außergewöhnlichkeit 199 100, 105, 124, 128, 129, 144, 200, 218
Automat 18, 25 Geist, objektiver 177
Gemeinde 203
Besitz 155-177, 179-180, 183, 188, 194, Gemeinschaft 172-178, 179, 180-183,
222 188-189, 191-196, 197, 198, 204-205,
Bewußtsein 10, 11, 63, 125, 126, 129-130 211, 214, 216, 218, 219, 222
- , intentionales 124, 127, 129, 131-133, Geschichte 183-184
143, 188 Geschichtlichkeit 179-187, 195
—, reines 13 Gesellschaft 168-171, 173, 174, 181, 216,
-thematisches 60-61, 124 218, 219
Bewußtseinsphänomenologie 10-14, 75, 80 Gestalt 99
Bewußtseinspsychologie 14
Bund 180, 183, 190, 197, 198, 202-205, Gestalttheorie 13, 55, 56
211, 212, 215, 216, 218, 219, 222
Bundgenosse 188, 190, 198, 202, 203, 211, Historizität 181
215 Horizont 103-104, 138-140, 141, 142,
147, 167, 223
Charisma 199-203, 205, 208, 209, 210-216 Ichbewußtsein 205
cogitatio 63, 65, 66, 68-72, 81-83, 96, 110, Ichbezogenheit 3, 5
124, 160 Icherkenntnis 44
cogito (oder cogitare) 6, 67, 104, 108, 109, Ichgewißheit 144
123 Ichhaftigkeit 44 x
Ding 74-77, 81, 87, 88, 90-92, 94-97, Individuum 51, 53, 154-156, 164, 169,
100, 117, 121, 167 189, 191
Intentionalität 60, 61, 67, 70, 115, 123, Solipsismus 118, 185
125, 126 Sympathie 35-36
- , noematische 25-26
Thema 60, 61, 65, 66, 67, 96, 133
Korrelat, intentionales 38-39 Thematisierung 144
Leben i n . . . 95, 104, 105, 108-110, 114, Tradition 189, 216
115, 117, 120-122, 124, 126, 131, 132, Traditionales 180, 207
142, 159, 200, 210, 216-223
Leben, alltägliches (oder Alltagsleben) 51, Ueberzeugung 6, 15, 17-19, 25, 26, 28,
52, 105 46, 137, 142
Lebensordnung 177 Unalltäglichkeit 205, 211, 215
Lebenswelt 144 Umwelt, natürliche 51, 55, 92, 94, 96,
Lebenszusammenhang 174-175, 180, 181, 104, 138
183, 187, 188, 191, 195, 204 Vergangenheit 181, 183, 188
Leib 39, 44, 75, 79 Vergemeinschaftung 183, 186, 187, 192,
Leiblichkeit 76 196, 203
Mileu 55, 83-88, 90-95, 115, 121, 137, Vergeschichtlichung 183, 186, 196
219, 221, 222 Verhalten, kategoriales 107-108
Mitbeigebrachtes 103, 105, 138, 139, 147, - k o n k r e t e s 107-108
223 Verstehen 160, 178, 187, 194
Mitmensch 4, 16, 17, 26, 47, 51, 53, 73, Vertrag 170-171
75, 81, 137, 144, 157, 186
Mitwelt 140, 142, 146 Wahrnehmung 4-8, 14, 32, 35, 36, 42-46,
Monade 52 74, 77, 83, 89, 90, 91, 121
Welt 67, 75
Partner 149, 150, 152-155, 159-162, 165, Weltbegriff, natürlicher (auch Welt der na-
167, 169, 170, 173, 191, 192, 197, 207, türlichen Einstellung) 54, 55, 56, 57-68,
218 82, 84-85
Phänomen 14, 32, 208-210 Wirbewußtsein 188, 204
Phänomenologie 3, 13, 61, 80, 208-210 Wirerlebnis 40
Psychologie 10-14, 20, 28, 90 Wissen 19, 46, 47, 115, 144, 146, 159,
Regel 159 160, 162, 188, 193, 195
Rolle 140, 153-156, 159, 161-168, 170, Wissen u m . . . 6-7, 9, 14, 17, 20, 26, 34,
171, 174, 192, 204 36, 37, 75, 86, 89, 121, 122, 125, 128,
130, 146, 159, 161, 162, 166, 181, 223
Sinn 52 , 55, 153, 154, 165, 167, 170, 213, Wissen v o n . . . 41, 125, 131
214, 216 Wissenschaft 88, 92, 93, 194, 195, 210
Sinnesempfindung 89
Sinnesfunktion 89-90 Zeug 98, 100, 103, 109, 111-113, 116,
Situation 26, 27, 52, 54, 96, 97, 100, 117, 138, 141, 167, 168, 222, 223
103-113, 117, 120, 121, 124, 137, Zeugganzheit 113, 117, 138
140-142, 145, 148-153, 154, 158, Zeugindentität 116-120
159-165, 161-164, 165, 166-169, 192, Zeugumwelt 137
195, 197, 204, 221, 223 Zusammensein 52 , 53, 148-153, 191, 219,
Situationsverstehen 162 220, 221