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Geliebter, verehrter, gefürchteter Vater. Spuren der Kafka-Rezeption in


Pascal Merciers Roman 'Nachtzug nach Lissabon'

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Christian Baier
Seoul National University
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35 , 2016 , 265-299

G eliebter, verehrter, gefürchteter V ater. S puren


der Kafka-R ezeption in P ascal M erciers R oman
N achtzug nach Lissabon

„Die Umrisse des elterlichen Wollens und Fürchtens


schreiben sich mit glühendem Griffel in die Seelen
der Kleinen [...]. Wir brauchen ein Leben lang,
um den eingebrannten Text zu finden und zu
entziffern, und wir können nie sicher sein,
daß wir ihn verstanden haben.“1)

Der Vater erscheint übermächtig: Als Familienoberhaupt umgibt ihn nicht nur die
Autorität des pater familias; in den Augen des Sohnes ist er außerdem Richter,
Gesetzgeber, Herrscher, erfüllt von der rätselhaften und verantwortungslosen Willkür
des alttestamentarischen Gottes. Die väterliche Autorität in Frage zu stellen ist ange-
sichts dieser unbegreiflichen Machtfülle unvorstellbar:

Euch zur Rede stellen das war etwas, das man schlechterdings nicht tun konnte. Es
hätte das ganze Gefüge und die gesamte Architektur der Familie zum Einsturz gebracht.
Und es war nicht nur etwas, das man nicht tun konnte; es war etwas, das man nicht

1) Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon, München/Wien 2004, S. 307. Zitate aus diesem
Werk werden in der Folge unter Angabe der Seitenzahl mittels der Chiffre NzL im
Fließtext nachgewiesen. – In diesem Roman sind die Auszüge aus dem Buch Amadeu de
Prados sowie aus den Briefen kursiv gesetzt; eine Eigenheit, die bei Zitaten entspre-
chender Stellen innerhalb dieses Aufsatzes beibehalten wird.
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einmal denken konnte. (NzL 307)

Ein offenes Gespräch über familiäre oder persönliche Probleme ist in diesem Umfeld
nicht möglich, und so bleibt dem Sohn nur das Schweigen oder die Flucht in das
Medium der Schrift: In Gegenwart des Vaters mit Stummheit geschlagen, bringt er
seine Gedanken, Gefühle und Reflexionen in literarischer Form zu Papier. Sein
Schreiben ist Rebellion, Widerstand, Ausbruch aus der Sphäre väterlichen Einflusses,
doch ist diese Loslösung eine Illusion. Im Zentrum seiner Texte stehen Fragen nach
der eigenen Identität und ihrem Verhältnis zur Welt, nach Möglichkeiten und Grenzen
von Reflexion und Erkenntnis sowie nach den Bedingungen künstlerischen Schaffens.
Da dieser schöpferische Prozess selbst jedoch von dem Bedürfnis des Sohnes bestimmt
wird, sich vom Vater abzugrenzen, bildet der Konflikt mit diesem das Zentrum seines
geistigen Kosmos ein Umstand, der diesem schonungslosen Analytiker seiner selbst
nicht entgeht: „Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an
Deiner Brust nicht klagen konnte.“ (KKAN II 192)2)
Welchen Weg aber wählt ein schöngeistig veranlagter Sohn, um seinem übermächtigen
Vater, mit dem er nicht persönlich zu sprechen vermag, seinen Standpunkt darzulegen?
Er schreibt einen Brief einen ausführlichen, literarisch gestalteten Brief, in dem er
dem Vater seine Sichtweise der Situation auseinandersetzt, ihm seine Ansichten und
Gefühle zu vermitteln und damit zu erklären sucht, wie er, der Sohn, die ganze
verfahrene Beziehung versteht.
Der Sohn, von dem hier die Rede ist, ist natürlich Franz Kafka, und der Brief, den
er schreibt, ist der Brief an den Vater (1919), das berühmteste Zeugnis eines
Vater-Sohn-Konflikts in der deutschen Literatur. Zugleich aber findet sich eine ähnliche
Konstellation auch in einem zeitgenössischen Werk, in Pascal Merciers Erfolgsroman
Nachtzug nach Lissabon (2004). Hier ist es der portugiesische Arzt, Schriftsteller und
Widerstandskämpfer Amadeu de Prado, der in einem langen Brief den vergeblichen
Versuch unternimmt, den Abgrund des Schweigens zu überwinden, der zwischen ihm

2) Die Werke Franz Kafkas werden zitiert nach der Ausgabe Franz Kafka: Schriften –
Tagebücher. Kritische Ausgabe. Hg. v. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcom Pasley
u. Jost Schillemeit, Frankfurt am Main 2002. Die Zitate aus dieser Ausgabe werden
mittels der in der Forschung gebräuchlichen Chiffren im Fließtext nachgewiesen (z. B.
KKAN II = Kafka, Kritische Ausgabe, Nachgelassene Schriften und Fragmente II).
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und seinem unzugänglichen Vater besteht. Selbstverständlich ist die Existenz eines
Vater-Sohn-Konfliktes allein kein hinreichender Grund dafür, von Spuren der Kafka-
Lektüre im Nachtzug nach Lissabon auszugehen: Obwohl Kafkas Auseinandersetzung
mit seinem Vater zweifelsohne die für die deutschsprachige Literatur paradigmatische
Ausprägung dieses Motivs darstellt, eine Urszene, auf die jede spätere Spielart dieser
Konstellation unausweichlich bezogen bleibt, wäre eine so allgemeine Begründung
allein wenig überzeugend. Bevor jedoch weitere Argumente zu Gunsten einer inter-
textuellen Beziehung zwischen Merciers Roman und dem Brief an den Vater angeführt
werden, ist zunächst eine knappe Einführung in die Intertextualitätstheorie erforderlich.

Laut Julia Kristeva, die den Begriff in der Nachfolge Michail Bachtins entwickelt hat,
ist Intertextualität eine „Eigenschaft sämtlicher Texte und nicht [...] nur auf inten-
tionale Bezüge und bewusste Anspielungen in bestimmten Texten beschränkt“,3) denn:
„Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und
Transformation eines anderen Textes.“4) Dieser extrem offene Textbegriff, der einen
zunehmend universellen Anspruch erhebt und schließlich sogar „soziale Strukturen,
Kultur, aber auch Ideologie als Text begreift“,5) steht in der poststrukturalistisch-
dekonstruktivistischen Tradition und ist für die Analyse konkreter Beziehungen zwi-
schen einzelnen Werken wenig geeignet.6) Im Gegensatz dazu sehen hermeneutisch
oder strukturalistisch geprägte Theorien Intertextualität „als ein lokales Phänomen an,
das in verschiedenen Formen und Ausprägungen auftreten kann und bei der Inter-

3) Anton Seljak: Intertextualität. In: Ulrich Schmid (Hg.): Literaturtheorien des 20.
Jahrhunderts, Stuttgart 2010, S. 76-98, hier S. 84.
4) Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Jens Ihwe (Hg.):
Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 3, Frankfurt am Main 1972, S. 345-375, hier S. 348.
5) Seljak: Intertextualität, S. 84.
6) Einen Überblick sowohl über poststrukturalistische als auch (deutlich knapper)
hermeneutisch-strukturalistische Intertextualitäts-Theorien liefern Simone Winko und
Tilman Köppe: Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 2008, S.
127-132.
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pretation von Texten berücksichtigt werden muss.“7) Im Sinne dieser Begriffsbe-


stimmung, die auch der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegt, bezeichnet Inter-
textualität „die Eigenschaft von insbesondere literarischen Texten, auf andere Texte
bezogen zu sein bzw. mit diesen in einer produktiven, sinnstiftenden Wechselwirkung
zu stehen“,8) wobei es sich um „mehr oder weniger bewusst eingesetzte[ ] und im
Text markierte[ ] Bezugnahme[n]“9) handelt.
In seinem Werk Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (1982) entwickelt Gérard
Genette „eine systematische Typologie intertextueller Relationen“,10) die es erlaubt,
verschiedene Formen intertextueller Bezugnahme zu unterscheiden und zu beschreiben.
Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass Genette genau diejenige Eigenschaft litera-
rischer Texte, die soeben als konstitutiv für Intertextualität definiert wurde, also all
das, was einen Text „in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten
bringt“,11) als Transtextualität bezeichnet. Dieser Kategorie untergeordnet postuliert
Genette „fünf Typen transtextueller Beziehungen“,12) nämlich Intertextualität, Para-
textualität, Metatextualität, Architextualität und Hypertextualität,13) von denen im
vorliegenden Zusammenhang nur zwei relevant sind: Intertextualität im engeren Sinne,
verstanden als die „effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text“,14) sei es
als direktes Zitat, als Plagiat oder als Anspielung; sowie vor allem der zentrale Begriff
der Hypertextualität. Darunter versteht Genette „jede Bezie hung zwischen einem Text
B (den [er] als Hypertext bezeichne[t]) und einem Text A (den [er], wie zu erwarten,
als Hypotext bezeichnet), wobei Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert,
die nicht die des Kommentars ist.“15)
Damit ist der Hypertext ein Text „zweiten Grades [...], der von einem anderen, frü-

7) Ebd., S. 131.
8) Seljak: Intertextualität, S. 76.
9) Winko/Köppe: Literaturtheorien, S. 130; Hervorhebung im Original – CB.
10) Seljak: Intertextualität, S. 90.
11) Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main 1993, S. 9.
12) Ebd., S. 10.
13) Überblicksdarstellungen des Genette’schen Modells, die auch die genannten Begriffe
eingehender erläutern, finden sich etwa bei Winko/Köppe: Literaturtheorien, S. 130f. und
Seljak: Intertextualität, S. 89-96.
14) Genette: Palimpseste, S. 10.
15) Ebd., S. 14f.
Geliebter, verehrter, gefürchteter Vater. Spuren der Kafka-Rezeption in Pascal Merciers Roman
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heren Text abgeleitet ist.“16) Als Beispiele führt Genette Vergils Aeneis und James
Joyces Ulysses an, die sich beide, „auf eine mehr oder weniger offensichtliche Weise
“,17) auf Homers Odyssee als Hypotext beziehen, ohne dieses Werk dabei aber explizit
„zu erwähnen oder zu zitieren.“18) Wie sich im weiteren Verlauf der Argumentation
herausstellt, hat Genette diese Beispiele mit Bedacht gewählt, um an dem jeweiligen
Verhältnis zwischen Hypertext und Hypotext zwei unterschiedliche Formen der
Transformation zu illustrieren: Er bezeichnet „[d]ie von der Odyssee zum Ulysses
führende Transformation [...] als einfache oder direkte Transformation [...], die darin
besteh[e], die Handlung der Odyssee ins Dublin des 20. Jahrhunderts zu verlegen“,19)
ohne sie dabei jedoch maßgeblich zu verändern. Im Gegensatz dazu handle es sich bei
der von der Odyssee zur Aeneis führenden Transformation um die komplexere Form
der Nachahmung, da nicht einfach die gleiche Geschichte an einem neuen Schauplatz
transponiert, sondern eine andere Geschichte erzählt werde, allerdings im Stil der
Odyssee. Um diese Nachahmung zu ermöglichen, ist nach Genette „zunächst die
Erstellung eines Modells der (sagen wir epischen) Gattungskompetenz erforder[lich],
das [...] zur Erzeugung einer unbeschränkten Zahl mimetischer Performanzen fähig ist.
“20) Zusammenfassend definiert er:

Als Hypertext bezeichne ich also jenen Text, der von einem früheren Text durch eine
einfache Transformation (wir werden einfach von Transformation sprechen) oder durch eine
indirekte Transformation (durch Nachahmung) abgeleitet wurde.21)

In einem anderen Teil seiner Ausführungen, auf den ich an dieser Stelle nur
summarisch eingehen kann, kombiniert Genette diese beiden Beziehungen, Transfor-
mation und Nachahmung, mit den drei Registern spielerisch, satirisch und ernsthaft, und
entfaltet auf diese Weise eine Matrix von sechs (2x3) hypertextuellen Verfahren, deren
jedem er wiederum eine Gattung zuordnet: So identifiziert er beispielsweise eine
spielerische Transformation als Parodie und eine satirische Nachahmung als Persiflage.22)

16) Ebd., S. 15.


17) Ebd.
18) Ebd.
19) Ebd.
20) Ebd., S. 16.
21) Ebd., S. 18.
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Da in Merciers Roman offensichtlich weder das spielerische noch das satirische Regis-
ter zur Anwendung kommt, sind im Rahmen dieser Argumentation nur die beiden
ernsthaften Optionen von Interesse. Wenn also der Nachtzug nach Lissabon wirklich
als Hypertext zu Kafkas Brief an den Vater angesehen werden kann, handelt es sich
entweder um eine ernsthafte Transformation, von Genette auch als Transposition
bezeichnet,23) oder aber um eine ernsthafte Nachahmung, eine sogenannte Nachbildung.
Welche dieser beiden Möglichkeiten tatsächlich zutrifft, wird sich erst im Verlauf der
Untersuchung erweisen; schon jetzt ist es jedoch möglich, das zentrale Erkenntnis-
interesse unter Rückgriff auf die Terminologie Genettes präziser zu formulieren: Aus-
gehend von der These, dass Pascal Merciers Nachtzug nach Lissabon und Franz
Kafkas Brief an den Vater tatsächlich in einem (noch näher zu bestimmenden) Ver-
hältnis der Hypertextualität zueinander stehen, soll dieses Verhältnis im Folgenden
genauer charakterisiert werden: Welche Elemente des Kafka’schen Vater-Sohn-Kon-
fliktes werden im Falle von Amadeu de Prado wieder aufgenommen? Auf welche
Weise werden diese vertrauten Konstellationen umgestaltet, und welche Erkenntnisse
lassen sich daraus gewinnen?
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass ein Roman, in dem das Motiv des Vater-
Sohn-Konfliktes eine so prominente Rolle spielt wie in Nachtzug nach Lissabon,
beinahe unwillkürlich mit dem Werk Franz Kafkas in eine zumindest implizite Ver-
bindung gebracht wird, da Kafkas Auseinandersetzung mit seinem Vater in der deutsch-
sprachigen Literatur eine gewissermaßen paradigmatische Stellung einnimmt. Zugleich
steht jedoch außer Zweifel, dass eine so allgemeine und spekulative Verknüpfung allein
keine hinreichende Grundlage für ein hypertextuelles Verhältnis bildet. Doch sprechen
noch andere Gründe dafür, Kafkas „Riesenbrief“24) als möglichen Hypotext zu Merciers
Roman anzusehen?

22) Vgl. ebd., S. 39-44; eine tabellarische Zusammenfassung findet sich bei Seljak:
Intertextualität, S. 92.
23) „Die ernsthafte Transformation oder Transposition ist zweifellos die wichtigste unter
sämtlichen hypertextuellen Praktiken, und das schon allein [...] aufgrund der historischen
Bedeutung und der ästhetischen Vollkommenheit mancher Werke, die unter diese
Kategorie fallen.“ (Genette: Palimpseste, S. 287)
24) Brief Kafkas an Milena Jesenská vom 21. 6. 1920, zitiert nach: Briefe an Milena. Erw. u.
neu geordnete Ausg., hg. v. Jürgen Born u. Michael Müller, New York et al. 1983, S. 73.
Geliebter, verehrter, gefürchteter Vater. Spuren der Kafka-Rezeption in Pascal Merciers Roman
Nachtzug nach Lissabon (Christian Baier) 271

Als der Protagonist von Nachtzug nach Lissabon, Raimund Gregorius, Lehrer für
Latein, Griechisch und Hebräisch an einem Berner Gymnasium, eines Nachts nicht
schlafen kann, beschreibt er den Blick aus seinem Lissaboner Hotelzimmer wie folgt:

Die Oberstadt mit der Universität und dem Glockenturm sah jetzt, nach Mitternacht, karg,
sakral und auch ein bißchen bedrohlich aus. Er konnte sich einen Landvermesser vorstellen,
der vergeblich darauf wartete, daß man ihm Einlaß in den geheimnisvollen Bezirk
gewährte. (NzL 434)

Der Hinweis auf den Landvermesser und sein vergebliches Bemühen um Zutritt zu
einem ‚geheimnisvollen Bezirk‘ ist ohne Zweifel als literarische Reminiszenz zu ver-
stehen und die Anspielung wird noch deutlicher, wenn wenig später sogar der Titel
des entsprechenden Werkes genannt wird: Auf der Rückfahrt nach Bern denkt
Gregorius

an den Hügel der Universität und den Landvermesser, der in seiner Vorstellung mit einem
altertümlichen Arztköfferchen über die Brücke ging, ein schmaler, nach vorn gebeugter Mann
im grauen Arbeitskittel, der darüber nachdachte, wie er die Leute auf dem Schloßberg dazu
bewegen konnte, ihm Einlaß zu gewähren. (NzL 448)

Bei dem Landvermesser, den Gregorius sich hier vorstellt, handelt sich zweifellos um
K., den Protagonisten von Franz Kafkas Roman Das Schloss. Dieser eindeutige inter-
textuelle Verweis im Sinne Genettes belegt nicht nur, dass der gebildete Philologe
Raimund Gregorius natürlich Das Schloss gelesen hat, sondern bildet auch einen ersten
Hinweis darauf, dass zwischen Kafkas Werk und dem Roman Nachtzug nach Lissabon
eine hypertextuelle Verbindung besteht. Und da der Brief an den Vater die wichtigsten
Elemente von Kafkas Auseinandersetzung mit seinem Vater auf engstem Raum zusam-
menfasst, wird er in der Folge als pars pro toto für das Gesamtwerk betrachtet: An-
statt sich auf die zahlreichen einschlägigen Textstellen in Romanen, Erzählungen,
Briefen und Tagebüchern Kafkas zu beziehen, verfolgt die Argumentation das über-
schaubare Ziel, einen spezifischen Text, eben den Brief an den Vater, als Hypotext für
den Nachtzug nach Lissabon zu etablieren und die Ergebnisse dann zu verallgemei-
nern.
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Schon seit seiner Entstehung im Jahr 1919 fasziniert und irritiert der Brief an den
Vater Leser und Literaturwissenschaftler, nicht zuletzt aufgrund seiner „radikale[n]
Mittelstellung zwischen Leben und Werk“.26) Einer Äußerung Max Brods zufolge war
der Brief ursprünglich tatsächlich als Gebrauchstext konzipiert und

dazu bestimmt, dem Vater wirklich übergeben zu werden (und zwar durch die Mutter), und
Franz hatte eine Zeitlang die Meinung, durch diesen Brief eine Klärung der peinlich
stockenden, schmerzhaft verharschten Beziehung zum Vater herbeizuführen.27)

Doch obwohl Brod mit dieser Äußerung „den ursprünglich intendierten Briefcharakter
“28) unterstreicht und damit deutlich macht, dass er in dem Text „ein vorwiegend
biographisches Dokument“ 29) sieht, hat er ihn in seiner Kafka-Ausgabe dennoch „dem
erzählerischen Werk zugeschlagen und in den Band Hochzeitsvorbereitungen auf dem
Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß aufgenommen.“ 30)

Wie aber zeigt sich dieser „faktual-fiktionale[] Zwitterstatus“31) auf der textuellen
Ebene des Briefes, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die vorliegende
Untersuchung?
Da der Brief auf engstem Raum alle diejenigen Themen verhandelt und zueinander in

25) Die Überschrift dieses Kapitels zitiert den griffigen Titel von Peter-André Alt: Franz
Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie, München 22008.
26) Luca Crescenzi: Kunst – Leben – Performance. Zu Franz Kafkas Brief an den Vater. In:
Neue Rundschau 124 (2013), H. 3, S. 201-212, hier S. 201.
27) Max Brod: Über Franz Kafka, Frankfurt am Main 1966, S. 22f.; zitiert nach: Hartmut
Binder: Kafka-Kommentar zu den Romanen, Rezensionen, Aphorismen und zum Brief an
den Vater, München 1976, S. 423.
28) Daniel Weidner: Brief an den Vater. In: Manfred Engel u. Bernd Auerochs (Hg.):
Kafka-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2010, S. 293-301, hier S. 293.
29) Walter Müller-Seidel: Franz Kafkas Brief an den Vater. Ein literarischer Text der
Moderne In: Orbis litterarum 42 (1987), S. 353-374, hier S. 355.
30) Ebd.
31) Weidner: Handbuch, S. 294.
Geliebter, verehrter, gefürchteter Vater. Spuren der Kafka-Rezeption in Pascal Merciers Roman
Nachtzug nach Lissabon (Christian Baier) 273

Beziehung setzt, mit denen Kafka sich sein Leben lang auseinandergesetzt hat, kann
kein Zweifel bestehen, dass es sich um „die wichtigste und umfassendste
autobiographische Äußerung [handelt], die von Kafka überliefert ist“:32) Erörtert werden
etwa „Vater-Sohn-Beziehung, väterliche Erziehungsregeln, Geschäftsgebaren, Familien-
situation, Judentum, Bedeutung des Schreibens, Körper und Krankheit, Schule, Studium
und Beruf, Ehe und Sexualität.“33) Das Zentrum, auf das diese Aspekte bezogen sind,
ist die alles überschattende Figur des Vaters, und so ist dieser Brief „Abrechnung,
Anklage, Rechtfertigung und Versöhnungsangebot“34) in einem.
Doch natürlich sind die eben genannten Themen auch jene, mit denen sich der Autor
Kafka in immer neuen Variationen in seinen eindeutig fiktionalen Texten beschäftigt,
und so kann es nicht verwundern, dass die Grenze zwischen Lebensbeschreibung und
Literatur verschwimmt:

Der Brief an den Vater liest sich wie eine Geschichte, in der ein K. (wie er in den
Romanen Der Proceß und Das Schloß beschrieben ist) seine Jugend und die Schlüssel-
erlebnisse seines Lebens erzählt. Dieser K. beschäftigt sich mit der übermächtigen Gestalt
seines Vaters, mit dessen Erziehungs- und Geschäfts- praktiken und dessen Art, Herrschaft
auszuüben; er analysiert das Judentum seiner Umwelt und den jüdischen Glauben, wie ihn
der Vater repräsentiert, und er deutet abschließend seine schriftstellerische Arbeit und die
Absicht, eine Ehe zu schließen, als gescheiterte Rettungs- und Befreiungsversuche aus der
Gewalt eben dieses Vaters.35)

Die enge Verbindung und wechselseitige Durchdringung von Leben und Werk kann
als Charakteristikum Kafka’schen Schaffens angesehen werden. So sieht etwa Oliver
Jahraus die vordringliche Aufgabe der Kafka-Biographik36) darin, „die Durchdringung

32) Joachim Unseld: Nachwort. In: Franz Kafka: Brief an den Vater. Faksimile, Frankfurt am
Main 1994, S. 187.
33) Joachim Pfeifer: Ausweitung der Kampfzone. Kafkas Brief an den Vater. In: Der
Deutschunterricht 52 (2000), H. 5, S. 36-47, hier S. 39.
34) Ebd., S. 37.
35) Alfred Doppler: Das fragwürdige Patriarchat. Franz Kafkas ‚Brief‘ an den Vater. In: ders.:
Geschichte im Spiegel der Literatur. Aufsätze zur österreichischen Literatur des 19. und
20. Jahrhunderts, Innsbruck 1990, S. 137-142, hier S. 138.
36) Neben dem bereits zitierten Werk von Alt bezieht sich Jahraus auf die große dreibändige
Kafka-Biographie von Reiner Stach: Kafka. Bd. I: Die frühen Jahre (2014); Bd. II: Die Jahre
der Entscheidungen (2002); Bd. III: Die Jahre der Erkenntnis (2008), Frankfurt am Main.
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von Leben und Werk, ja mehr noch, die Selbstvermittlung des eigenen Lebens durch
das literarische Werk zu erfassen“,37) da das Leben gerade dieses Autors „nur auf der
Basis der ihm von der Literatur vorgegebenen Muster vollständig durchschaut werden
“38) könne. Es ist dieser innere Zusammenhang zwischen Literatur und Leben, der es
erlaubt, den Brief an den Vater als für das Gesamtwerk repräsentativen Text anzuse-
hen und folglich die anhand seiner hinsichtlich des Vater-Sohn-Konflikts gewonnenen
Einsichten entsprechend zu verallgemeinern.
Wenn aber, wie Jahraus zurecht postuliert, Kafka das eigene Leben durch sein
literarisches Werk vermittelt, dann triff dies aller Wahrscheinlichkeit nach auch auf
den Brief an den Vater zu. Und tatsächlich besteht in der Forschung kein Zweifel
daran, dass etwa Kafkas Darstellung seines Vaters in diesem Text nicht als „objektiv,
geschweige denn gerecht“39) angesehen werden kann: Es handelt sich um ein Zerrbild,
eine Stilisierung der Person Hermann Kafkas zum Urbild des übermächtigen Vater-
Tyrannen: Er ist ein „riesige[r] Mann“ (KKAN II 149), der den Sohn bereits „durch
[s]eine bloße Körperlichkeit“ (KKAN II 151) und mehr noch durch die Willkür seines
Gebarens einschüchtert:

Dem entsprach weiter Deine geistige Oberherrschaft. [...] In deinem Lehnstuhl regiertest Du
die Welt. Deine Meinung war richtig, jede andere war verrückt, überspannt, meschugge,
nicht normal. Dabei war Dein Selbstvertrauen so groß, daß Du gar nicht konsequent sein
mußtest und trotzdem nicht aufhörtest Recht zu haben. [...] Du bekamst für mich das
Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person, nicht auf ihrem Denken
begründet ist. (KKAN II 151f.)

Die Ähnlichkeit zu bekannten Vater-Figuren in Kafkas literarischem Werk, etwa in der


Verwandlung oder dem Urteil, ist unverkennbar: „‚[M]ein Vater ist noch immer ein
Riese‘, dachte sich Georg“ (KADzL 50). In der Tat handelt es sich um die „Schöp-
fung einer Vatergestalt, die rein literarisch ist [...]. Und dasselbe gilt für Kafka selbst:
Der Brief erzählt über ihn nicht mehr als etwa Der Process oder Das Schloss.“40)

37) Oliver Jahraus: Kafka. Leben – Schreiben – Machtapparate, Stuttgart 2006, S. 93.
38) Ebd.
39) Ebd., S. 111.
40) Crescenzi: Kunst, S. 209. „Die Zeichen der Distanz zwischen dem wahren Hermann
Kafka und der Figur, die im Brief seine Identität übernimmt, sind schon im Text evident.
Der ‚Vater‘ in Kafkas Brief ist eine Herrscher, ein König, ein Gott – eine
Geliebter, verehrter, gefürchteter Vater. Spuren der Kafka-Rezeption in Pascal Merciers Roman
Nachtzug nach Lissabon (Christian Baier) 275

Auch Jahraus weist auf den Umstand hin, dass es sich nicht nur bei der Figur
Hermann Kafkas um eine Stilisierung handelt, sondern Franz Kafka auch sich selbst
stilisiert, und zwar als Antipode des physisch dominierenden Vaters: „Ich mager,
schwach, schmal, Du stark, groß, breit“ (KKAN II 151). Zugleich geht Jahraus auf die
dezidiert literarischen Techniken ein, mit denen der Autor diesen Gegensatz insze- niert:

In ebenjenem Maße, in dem er seinen Vater stilisiert, stilisiert er sich selbst, nur dass
beide Stilisierungen in entgegengesetzten Richtungen verlaufen: Dabei kommen zwei
Techniken ins Spiel, die Kafka auch in seinen literarischen Texten einsetzt, zum einen die
extreme Übersteigerung der Körpergröße, zum anderen die Anwendung von Begrifflichkeiten
als abstrahierte juristische Metaphern. In einer komplexen Charakterisierung wird der Vater
als riesiger Mann und im selben Atemzug als quasi allmächtige Instanz apostrophiert. Je
gewaltiger der Vater in dieser Schilderung wirkt, desto kleiner erscheint Kafka.41)

Abgesehen von dieser ‚Rhetorik der Übertreibung‘ lassen sich im Brief an den Vater
noch weitere stilistische Merkmale feststellen, die ihn als literarischen Text, als
„ästhetisches Artefakt ausweisen: Ironie, Perspektivenverzerrung, Mischung von Fiktion
und Faktizität, gegenseitige Spiegelung und Aufhebung einzelner Textelemente, Parado-
xien“,42) außerdem „Spiel mit den Erwartungen des Lesers, Entfaltung einer erzähle-
rischen Dynamik, Verführung durch Pointen“43) sowie die kennzeichnende Kombination
eines angenommenen ‚kindlichen Blicks‘ interner Fokalisation mit der „reflektierenden
Perspektive des Erwachsenen“:44)

Schrecklich war mir z. B. dieses: „ich zerreiße Dich wie einen Fisch“, trotzdem ich ja
wußte, daß dem nichts Schlimmes nachfolgte (als kleines Kind wußte ich das allerdings
nicht) aber es entsprach fast meinen Vorstellungen von Deiner Macht, daß Du auch dazu
imstande gewesen wärest. (KKAN II 161)

Dem Bild des Vater-Tyrannen, der willkürliche und unerfüllbare Forderungen erhebt,
entspricht auf Seiten des Sohnes das Gefühl des unausweichlichen Versagens und

übermenschliche Macht, die das Leben der anderen beobachtet, urteilt [sic!] und
bestimmt.“ (ebd., S. 205)
41) Jahraus: Machtapparate, S. 114.
42) Pfeiffer: Kampfzone, S. 39.
43) Stach Erkenntnis, S. 324.
44) Weidner: Handbuch, S. 296.
276 카프카연구 제35집

Scheiterns, und damit auch der unaufhebbaren Schuld: Franz Kafka inszeniert sich im
Brief an den Vater als „das lichtscheue Wesen, der Betrüger, der Schuldbewußte, der
wegen seiner Nichtigkeit selbst zu dem, was sein Recht war, nur auf Schleichwegen
kommen konnte.“ (KKAN II 167f.) Es ist kennzeichnend, dass er in diesem Zusam-
menhang den letzten Satz des Proceß-Romans zitiert: „Er fürchtete, die Scham werde
ihn noch überleben“ (KKAN II 184; vgl. KKAP, 312). Zusammenfassend urteilt Peter
von Matt: „Künstlich, als eine Art Spielanlage, baut und bewahrt sich Kafka die
Lebenssituation des missratenen Sohnes vis-à-vis eines richtenden Vaters von endlos
kompakter Autorität“45) eine literarische Selbstinszenierung, die den autobiogra-
phischen Charakter des Briefes deutlich ins Fiktionale spielen lässt:46) Die Figur
‚Franz Kafka‘, die dem Leser im Brief an den Vater begegnet, ist so wenig eine reale
Person wie Amadeu de Prado, und gleiches gilt für ihre Väter.

In seinem philosophischen Roman Nachtzug nach Lissabon erzählt Pascal Mercier die

45) Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur,
München/Wien 1995, S. 287.
46) Obwohl es sicher interessant wäre, den Brief an den Vater als autofiktionalen Text
aufzufassen und entsprechend zu analysieren, kann eine solche Untersuchung im Rahmen
des vorliegenden Aufsatzes nicht geleistet werden. Einen Überblick über den gegen-
wärtigen Stand der Forschung bietet der Aufsatz des Verfassers: Grass‘ Wörter. Von der
Fiktionalität autobiographischen Schreibens. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 66
(2016), Heft 2 (im Druck).
47) Dieser Spitzname wird Amadeu de Prado im Roman beigelegt, weil er „ursprünglich hatte
Priester werden wollen“ (NzL 142), sich dann aber zum Atheisten und Ankläger Gottes
wandelt: „Amadeu. O sacerdote ateu. Der gottlose Priester.“ (NzL 139). Auf einer
produktionsästhetischen Ebene, so führt Burkhard Müller aus, sei es Pascal Mercier im
Nachtzug nach Lissabon darum gegangen, „einen literarischen Heiligen zu schaffen. [...]
Wie jeder glaubwürdige Heilige hat auch Amadeu Ignacio de Almeida Prado vor allem
schon geraume Zeit tot zu sein; und wer sich ihm nähern will, muss dies als Pilger tun,
mit den vier Wegstationen ‚Der Aufbruch‘, ‚Die Begegnung‘, ‚Der Versuch‘ und ‚Die
Rückkehr‘ – so heißen die vier Teile von Merciers Roman ‚Nachtzug nach Lissabon‘. In
sie bettet sich die nach und nach erschlossene Vita Amadeus.“ (Burkhard Müller: Die
Telefonnummer auf der Stirn. In seinem Roman ‚Nachtzug nach Lissabon’ sucht Pascal
Mercier einen Dichter, der er in Wahrheit selber ist. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 267,
Rubrik: Literatur, Mittwoch, 17. November 2004, S. 18)
Geliebter, verehrter, gefürchteter Vater. Spuren der Kafka-Rezeption in Pascal Merciers Roman
Nachtzug nach Lissabon (Christian Baier) 277

Geschichte von Raimund Gregorius, Lehrer für Latein, Griechisch und Hebräisch an
einem Berner Gymnasium, der von seinen Schülern in liebevollem Spott Mundus und
„von Kollegen, die ihm seine Beliebtheit neideten, gehässig der Papyrus genannt“
(NzL 17) wird. Er ist

der verläßlichste und berechenbarste Mensch [...] vermutlich in der gesamten Geschichte der
Schule, seit mehr als dreißig Jahren hier tätig, ohne Fehl und Tadel in seinem Beruf, eine
Säule der Institution, ein bißchen langweilig vielleicht, aber geachtet und sogar drüben an
der Hochschule gefürchtet wegen seines stupenden Wissens in den alten Sprachen (NzL 16).

Und „dieser Gelehrte [...], dieser trockene Mann“ (ebd.), dessen Leben seit Jahr und
Tag in den selben ausgetretenen Bahnen verläuft, steht eines Tages mitten im Unter-
richt auf und verlässt ohne ein Wort der Erklärung den Klassenraum. Angeregt von
einem geheimnisvollen Buch, das er zufällig in einem Berner Antiquariat gefunden hat,
nimmt er den Nachtzug nach Lissabon, um seinen Autor aufzuspüren: den portugie-
sischen Arzt, Poeten und Widerstandskämpfer Amadeu de Prado. Die Meditationen und
Reflexionen, die Prado, diesen Goldschmied der Worte, zu einem „fiktive[n] Groß-
neffe[n] Fernando Pessoas“48) machen, lassen Gregorius nicht mehr los, und so wird
diese Reise für ihn auch zu einer Reise zu sich selbst: „Wenn es so ist, daß wir nur
einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist was geschieht mit dem
Rest?“ (NzL 29)
Amadeu de Prado ist, obgleich er nie leibhaftig auftritt, der zweite, vielleicht der
eigentliche Protagonist des Romans. Beinahe jede Person, der Gregorius auf seiner
Reise begegnet, hat Prado persönlich gekannt, alle Gespräche kreisen um ihn, und was
Mundus erfährt und erlebt ist ihm größtenteils nur insofern interessant, als es sich auf
diesen geheimnisvollen, von allen bewunderten Mann bezieht. Im Verlauf seiner Suche
trifft Gregorius auf

48) Jan Schulz-Ojala: Der Späteinsteiger. Pascal Mercier schickt einen Gelehrten mit dem
‚Nachtzug nach Lissabon‘. In: Der Tagesspiegel, Nr. 18581, Rubrik: Literatur, Sonntag,
29. August 2004, S. 28. Schulz-Ojala formuliert, Amadeu de Prados „grüblerische Prosa
im Selbstverlag wirk[e] mitunter wie ein fernes Echo auf jenes ‚Buch der Unruhe‘, das
der unscheinbare Handelskorrespondent Pessoa für die Schublade schrieb.“
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die jüngere Schwester, die sich so ziemlich als einzige seinem Dunstkreis zu entziehen
vermochte; die ältere Schwester, eine steinhafte Greisin, dem Bruder, seit er sie einmal mit
einem Schnitt durch die Kehle vor dem Erstickungstod bewahrt hat, hündisch ergeben; den
uralten Lehrer des Musterschülers Amadeu; seine Jugendgeliebte, zu der er lebenslänglich in
einer strahlend platonischen Beziehung stand; den Busenfreund, dem er, der Arzt, eine
Apotheke schenkte, einfach so; die Frau, an der die Freundschaft dann zerbrach; und noch
so manchen anderen.“49)

Langsam, Schritt für Schritt setzt Gregorius aus all diesen Erzählungen und Erin-
nerungen ein multiperspektivisches, facettenreich schillerndes Bild zusammen: Schon als
Schüler wurde Amadeu bewundert und beneidet, „ein Junge von quecksilbriger Intelli-
genz und ein begnadeter Redner [...], vom Schicksal begünstigt, überschüttet nicht nur
mit Geld, sondern auch mit Talenten, mit Schönheit und Charme“ (NzL 176f.), dabei
jedoch hochfahrend, unduldsam, respektlos: Auf der Feier anlässlich des Schulab-
schlusses hält der siebzehnjährige Amadeu auf Lateinisch eine Rede mit dem Titel
„Ehrfurcht und Abscheu vor Gottes Wort“ (NzL 198) eine Rede, deren Gottesläste-
rung die Lehrer der Klosterschule erstarren lässt, deren stilistische Eleganz der Altphi-
lologe Gregorius mit derjenigen Ciceros vergleicht:

Ich verehre Gottes Wort, denn ich liebe seine poetische Kraft. Ich verabscheue Gottes
Wort, denn ich hasse seine Grausamkeit. Die Liebe, sie ist eine schwierige Liebe, denn sie
muß unablässig trennen zwischen der Leuchtkraft der Worte und der wortgewaltigen
Unterjochung durch einen selbstgefälligen Gott. Der Haß, er ist ein schwieriger Haß, denn
wie kann man sich erlauben, Worte zu hassen, die zur Melodie des Lebens in diesem Teil
der Welt gehören? (NzL 199)

Diese inneren Konflikte und Gegensätze, die „Brüche [...], Risse und Sprünge“ (NzL
179) seiner Persönlichkeit prägen auch den erwachsenen Amadeu de Prado. Nach dem
Studium der Medizin eröffnet er in seiner Heimatstadt Lissabon eine Praxis und setzt
sich unermüdlich auch für die ärmsten seiner Patienten ein. Sie verehren ihn dafür
bis er eines Tages einem berüchtigten Geheimpolizisten und Handlanger des diktato-
rischen Salazar-Regimes das Leben rettet: Rui Luís Mendes, genannt „o carniceiro de
Lisboa, der Schlächter von Lissabon.“ (NzL 216) Diese Tat ändert alles: Amadeu wird

49) Ebd.
Geliebter, verehrter, gefürchteter Vater. Spuren der Kafka-Rezeption in Pascal Merciers Roman
Nachtzug nach Lissabon (Christian Baier) 279

als Verräter beschimpft (vgl. NzL 218) und sogar angespuckt (vgl. ebd. 220), und die
Frage, ob es richtig war, Mendes das Leben zu retten, lässt ihn nicht mehr los.50)
Seine Schuldgefühle bewegen ihn schließlich dazu, sich der Widerstandsbewegung
gegen den Diktator António de Oliveira Salazar anzuschließen eine Entscheidung
mit weitreichenden Konsequenzen: Im Widerstand lernt Prado die Liebe seines Lebens
kennen, Estefânia Espinhosa, die Frau, an der die jahrelange tiefe Freundschaft zu
Jorge O’Kelly schließlich zerbrechen sollte:

Loyalität, sagte ich zu Jorge, Loyalität. Darin erfinden wir unsere Stimmigkeit. Estefânia.
Warum konnte die Brandung des Zufalls sie nicht an einen anderen Ort schwemmen?
Warum gerade zu uns? Warum mußte sie uns auf eine Probe stellen, der wir nicht
gewachsen waren? Die wir beide nicht bestanden haben, jeder auf seine Weise? (NzL 467)

Als Raimund Gregorius so überstürzt sein altes Leben in Bern verlässt, weiß er von
all dem nichts er hat nur einen Namen, ein Foto in einem Buch und das Buch
selbst, geschrieben in einer Sprache, die er nur mühsam lesen kann. In Lissabon
angekommen, bezieht sich eine der ersten Informationen, die er erfährt, nicht den
Autor selbst, sondern dessen Vater:

Er war der Sohn des berühmten Richters Prado, der sich das Leben nahm, manche sagen,
weil er die Schmerzen des gekrümmten Rückens nicht mehr aushielt, andere mutmaßten,
daß er sich nicht verzeihen konnte, unter der Diktatur im Amt geblieben zu sein. (NzL 91)

Alexandre de Prado, der Richter, litt an der Bechterevschen Krankheit, einer irrever-
siblen Verkrümmung und Versteifung der Wirbelsäule, und diese Tatsache prägte nicht
nur ihn, sondern seine ganze Familie. Auf der Suche nach Informationen stößt Grego-
rius in einem Archiv auf die Todesanzeige des Richters, begleitet von einem Foto, das
er wie folgt beschreibt:

50) Es kann nicht verwundern, dass Fragen nach der Freiheit oder Bedingtheit des eigenen
Wollens und Handelns das gedankliche Zentrum dieses Romans bildet, denn Pascal
Mercier ist das Pseudonym des Schweizers Peter Bieri, bis 2007 Professor für Philo-
sophie an der Freien Universität Berlin. Für eine sehr lesbare Darstellung seiner philoso-
phischen Positionen zum Thema Willensfreiheit vgl. Peter Bieri: Das Handwerk der
Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München et al. 2001.
280 카프카연구 제35집

Ein strenges Gesicht mit Kneifer und Brillenkette, Spitzbart und Schnurrbart, eine hohe
Stirn [...], angegrautes, aber immer noch volles Haar [...], eine sehr weiße Hand, auf die er
das Kinn stützt, alles andere verlor sich im dunklen Hintergrund. Ein geschickt aufge-
nommenes Foto, keine Spur von der Qual des gekrümmten Rückens, auch keine von der
Gicht in den Händen, Kopf und Hand tauchen still und geisterhaft aus der Finsternis auf,
weiß und gebieterisch, Einspruch oder gar Widerspruch waren unmöglich, ein Bild, das
eine Wohnung, ein ganzes Haus in seinen Bann schlagen, mit einem Bann überziehen und
mit einer erstickenden Autorität vergiften konnte. (NzL 153)

Ein gebieterischer Vater, dessen erstickende Autorität keinen Widerspruch zulässt


die Parallelen zu der vertrauten Konstellation aus dem Brief an den Vater sind
unübersehbar. Ebenso offensichtlich jedoch sind die Unterschiede, denn Alexandre de
Prado ist kein Hermann Kafka, und es ließe sich wohl schwerlich ein größerer Kon-
trast zu Franz Kafka finden als Amadeu, der gutaussehende, selbstbewusste, elo-
quente und von allen verehrte Spross einer angesehenen Adelsfamilie. Dennoch werde
ich im folgenden Abschnitt darstellen, dass nicht nur die Übereinstimmungen zwischen
beiden Figuren erstaunlich weitreichend sind, sondern sich auch die Unterschiede als
Transformationen vertrauter Motive auffassen lassen.51)

Einen Einblick in Amadeus komplizierte und widersprüchliche Beziehung zu seinem


Vater gewinnt Gregorius zunächst durch dessen Buch Ein Goldschmied der Worte, in
dem sich immer wieder Passagen mit diesem Thema befassen, vor allem aber durch
einen langen Brief, den Prados Schwester Adriana ihm zur Lektüre überlässt:

Es war ein Brief von Amadeu an seinen Vater, den Richter. Ein nie abgeschickter Brief,
der über viele Jahre stets von neuem überarbeitet worden war, man sah es an den vielen

51) Es ist dabei zu beachten, dass die literarische Figur Alexandre de Prado mit dem Bild
Hermann Kafkas verglichen wird, wie sein Sohn es im Brief an den Vater entwirft. Trotz
der oben formulierten Einwände gegen diese Darstellung handelt es sich um den einzig
möglichen Bezugspunkt – zumal auf diese Weise gewissermaßen zwei literarische Figuren
miteinander verglichen werden können.
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Korrekturen, an denen man neben unterschiedlich alter Tinte auch eine Entwicklung der
Handschrift ablesen konnte. (NzL 300f.)

Es handelt sich gewissermaßen um eine Steigerung gegenüber Kafkas Brief an den


Vater, der in einem vergleichsweise überschaubaren Zeitraum im November 1919 kon-
zipiert und niedergeschrieben wurde.52) Besonders aufschlussreich sind im Falle Prados
die verschiedenen Anredeformen:

Verehrter Vater, hatte die ursprüngliche Anrede gelautet, daraus war später Verehrter,
gefürchteter Vater geworden, noch später hatte Amadeu geliebter Papá hinzugefügt, und die
letzte Ergänzung hatte heimlich geliebter Papá ergeben. (NzL 301)

Nicht nur eröffnet auch Franz Kafka seinen Brief mit der Anrede „Liebster Vater“
(KKAN II 143),53) der eigentliche Text beginnt zudem mit der Paraphrase einer
väterlichen Frage: „Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich
hätte Furcht vor Dir“ (KKAN II 143), was deutlich erkennen lässt, dass das Verhält-
nis beider Söhne zu ihren Vätern von einer Mischung aus Liebe und Furcht geprägt
ist. Diese Ambivalenz ist eine Folge der überwältigenden Dominanz des jeweiligen
Vaters über seinen Sohn, die die Prämisse dieses Vergleichs bildet. Franz Kafka fasst
diese überherrschende Stellung in zwei einprägsame Bilder: Da ist einmal die
vielzitierte kindliche Urszene, in der die Übermacht des Vaters und die eigene Hilf-
losigkeit zum Ausdruck kommen,54) und weiterhin die metaphorische Darstellung ihrer
Konsequenzen für Franz Kafkas Existenz als Erwachsener:

52) Die Entstehungsgeschichte des Briefs an den Vater wird im Detail dargelegt in Binder:
Kommentar, S. 422-427 sowie im Kommentarband der Kritischen Ausgabe, vgl. KKAN
II/App., S. 56-59.
53) Mit der rhetorischen Frage: „[L]eugne ich denn, daß Du mich lieb hast?“ (KKAN II,
185), deutet Franz Kafka zumindest an, dass er trotz aller Spannungen und
wechselseitigen Anklagen nicht an des Vaters Liebe zu ihm zweifele.
54) Nachdem der kleine Franz „einmal in der Nacht immerfort um Wasser“ (KKAN II 149)
gebeten hat, verliert der Vater die Geduld und verbannt ihn zur Strafe für eine Weile auf
den Balkon – eine traumatisierende Erfahrung: „Noch nach Jahren litt ich unter der
quälenden Vorstellung, daß der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz fast ohne
Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte
und daß ich also ein solches Nichts für ihn war.“ (ebd.)
282 카프카연구 제35집

Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und Dich quer über sie hin ausgestreckt
vor. Und es ist mir dann, als kämen für mein Leben nur die Gegenden in Frage, die Du
entweder nicht bedeckst oder die nicht in Deiner Reichweite liegen. Und das sind ent-
sprechend der Vorstellung, die ich von Deiner Größe habe, nicht viele und nicht sehr
trostreiche Gegenden und besonders die Ehe ist nicht darunter. (KKAN II 210)

Die Autorität von Amadeus Vater ist anderer Art. Bezeichnenderweise findet sie ihren
emblematischen Ausdruck in einem Wort, das, gerade im Kontext des vorliegenden
Vergleichs, Franz Kafkas gesamtes Werk aufruft: Alexandre de Prado ist „[e]in
Richter, der gar nichts anderes hätte sein können als ein Richter. Ein Mann von ei-
serner Strenge und steinerner Konsequenz“ (NzL 153), der sein Amt in einer Weise
verkörpert, die den Eindruck erweckt, es habe „schon bei seiner Geburt festgestanden“
(NzL 302), dass er einmal Richter werden würde. Die Spuren dieser „strengen, herben
Autorität des richtenden Vaters“ (NzL 182) prägen besonders seinen einzigen Sohn
Amadeu:

Ich anerkenne: Zu Hause habt Ihr Euch nicht wie ein Richter benommen; Ihr hab Urteile
nicht häufige gesprochen als andere Väter, eher seltener. Und doch, Vater, habe ich Eure
Wortkargheit, Eure stumme Gegenwart oft als richtend empfunden, als richterlich und sogar
als gerichtlich. (NzL 303)

Der zunehmende Grad an amtlicher Formalität der Ausdrücke richtend richterlich


gerichtlich lässt diese Abfolge zu einer Steigerung werden, die von einem privat
urteilenden Individuum über den bestallten Amtsträger bis zur Institution als materieller
Repräsentation des Rechtssystems selbst führt und damit über Merciers Text hinaus auf
den in Kafkas Werk so prominenten juristischen Diskurs verweist. Wie so viele der
Figuren Kafkas sieht sich auch Amadeu de Prado mit einer unausgesprochenen Ankla-
ge konfrontiert, „die [er] zu kennen [scheint], ohne etwas von ihr zu wissen“ (NzL,
304). Er fühlt in sich „einen verborgenen glühenden Text“ (NzL 319), der in seiner
epigraphischen Wucht und „alttestamentarische[n] Endgültigkeit“ (ebd.) wie ein
Kafka’scher Aphorismus anmutet: „DIE ANDEREN SIND DEIN GERICHTSHOF“ (ebd.).
Dieser Text, der sich als Spur des elterlichen Wünschens und Wollens „mit glü-
hendem Griffel“ (NzL 318) in die Seele jedes Kindes einschreibt, bestimmt Amadeus
gesamtes Leben:
Geliebter, verehrter, gefürchteter Vater. Spuren der Kafka-Rezeption in Pascal Merciers Roman
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Ich kann es nicht beweisen, so daß es vor einem Gericht Bestand hätte, aber ich weiß,
daß ich diesen Text von klein an in Eurem Blick las, Vater, in dem Blick, der voller
Entbehrung, Schmerz und Strenge hinter Euren Brillengläsern hervorkam und mir zu folgen
schien, wohin ich auch ging. (NzL 319)

Schon hier wird deutlich, dass es sich bei der überwältigenden Vaterfigur im Nachtzug
nach Lissabon um eine Nachbildung im Sinne Genettes handelt, also um eine indi-
rekte Transformation des Ausgangsmaterials: Zwar ist Alexandre de Prado kein Ge-
schäftsmann, der sich aus einfachsten Verhältnissen zu bürgerlichem Ansehen hoch-
gearbeitet hat, trotzdem ist die inhaltliche Parallele zu Hermann Kafka unübersehbar
und sie wird noch dazu formal und stilistisch in einer Weise inszeniert, die eine
unübersehbare Verbindung zu den richtenden Vater-Figuren im Werk Franz Kafkas
herstellt.
Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Väter besteht in der Bedeutung ihrer jewei-
ligen Körperlichkeit, obgleich diese unterschiedlicher kaum sein könnte: Während
Hermann Kafka durch seine immer wieder hervorgehobene körperliche Kraft und
Stärke charakterisiert wird, ist das Leben Alexandre de Prados bestimmt von Krankheit
und stummem Leiden doch erweisen sich beide Formen der Körperlichkeit als prä-
gend für ihre Söhne: Während Franz sich dem Vater gegenüber als „jämmerlich“
(KKAN II 151) und als ein „Nichts“ (KKAN II 149) empfindet, „niedergedrückt durch
[dessen] bloße Körperlichkeit“ (KKAN II 151), strebt Amadeu sein Leben lang danach,
das Leiden seines Vaters zu kompensieren ein hilflos-vergebliches Bemühen, das
noch in seiner übertrieben aufrechten Körperhaltung zum Ausdruck kommt:

Manchmal nämlich denke ich: ich stehe und gehe deshalb so übertrieben gerade, um gegen
den unwiderruflich gekrümmten Leib meines Vaters zu protestieren, gegen seine Qual, von
der Bechterevschen Krankheit niedergedrückt zu werden, den Blick zu Boden richten zu
müssen wie ein geschundener Knecht, der sich nicht traut, dem Herrn erhobenen Hauptes
und mit geradem Blick zu begegnen. Es ist dann vielleicht, als könnte ich, indem ich mich
strecke, den Rücken meines stolzen Vaters über das Grab hinaus begradigen oder durch
ein rückwärts gewandtes, magisches Wirkungsgesetz dafür sorgen, daß sein Leben weniger
gebeugt und schmerzgeknechtet wäre, als es tatsächlich war als könnte ich durch meine
gegenwärtige Anstrengung die gequälte Vergangenheit ihrer Tatsächlichkeit entkleiden und
sie durch eine bessere, freiere ersetzen. (NzL 97f.)
284 카프카연구 제35집

Dass es sich hier tatsächlich um eine Auswirkung des väterlichen Einflusses handelt,
zeigt sich daran, dass, wie Gregorius bemerkt, auch Amadeus Schwester Adriana „sich
kerzengrade hielt und den Kopf ein bißchen höher trug, als es ihre Größe eigentlich
erlaubte“ (NzL 125). Und sogar er selbst, der Außenseiter, versucht „zu spüren, wie
es war, mit einem betont geraden Rücken und einem besonders hoch getragenen Kopf
den schmerzgekrümmten Rücken des eigenen Vaters zu begradigen.“ (NzL 103)
Wieder wird ein Teil-Motiv, in diesem Fall die überherrschende Bedeutung väterlicher
Körperlichkeit, gewissermaßen in eine andere Tonart transponiert: In einer geradezu an
Nietzsche gemahnenden ‚Umwertung der Werte‘ hat die Krankheit und Schwäche Ale-
xandre de Prados die gleiche Wirkung auf seinen Sohn wie Hermann Kafkas
physische Überlegenheit auf den seinen.
Der väterliche Einfluss auf Amadeu ist jedoch ungleich weitreichender, und er, der
‚Goldschmied der Worte‘, ist viel zu reflektiert, sich dessen nicht bewusst zu sein.
Den Ursprung dieses Einflusses bildet die stumme, niemals ausgesprochene Anklage,
die der Sohn von Kindheit an in seines Vaters Blick gelesen hat und gerade weil
sie nie offen erhoben wurde, hatte er nie die Möglichkeit, sich gegen sie zu
verteidigen:

Ihr habt mir, Eurem vergötterten Sohn, nie etwas Schwerwiegendes vorgeworfen, kein
einziges Mal, und manchmal denke ich, daß ich alles, was ich tat, aus diesem einen
Grunde tat: um einer möglichen Anklage, die ich zu kennen schien, ohne etwas von ihr zu
wissen, zuvorzukommen: Ist das nicht letzten Endes auch der Grund, warum ich Arzt
geworden bin? Um das Menschenmögliche gegen die teuflische Erkrankung der Wirbel-
gelenke in Deinem Rücken zu tun? Um geschützt zu sein gegen den Vorwurf, nicht
genügend Anteil zu nehmen an Deinem stummen Leid?“ (NzL 304)

Oberflächlich betrachtet, besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen dem ‚vergöt-


terten Sohn‘ Amadeu und Franz Kafka, der von seinem Vater mit Vorwürfen über-
schüttet wurde. Doch ist die strukturelle Ähnlichkeit unübersehbar: Beide Söhne
werden von den Ansprüchen ihrer Väter tief geprägt, ihre gesamte Existenz steht im
Zeichen dieser Prägung, und sie versuchen ihr Leben lang vergeblich, sich von diesem
Einfluss zu befreien und auf eigenen Beinen zu stehen. Für Franz Kafka konstituiert
sich unter diesem väterlichen Druck geradezu eine Weltordnung: Der Umstand, dass
der Vater, dieser für ihn „so ungeheuer maßgebende Mensch“ (KKAN II 156), sich
Geliebter, verehrter, gefürchteter Vater. Spuren der Kafka-Rezeption in Pascal Merciers Roman
Nachtzug nach Lissabon (Christian Baier) 285

bei Tisch nicht an die eigenen Verhaltensregeln hält,55) hat für den Sohn weitrei-
chende Folgen:

Dadurch wurde die Welt für mich in drei Teile geteilt, in einen, wo ich, der Sklave lebte,
unter Gesetzen, die nur für mich erfunden waren und denen ich überdies, ich wußte nicht
warum, niemals völlig entsprechen konnte, dann eine zweite Welt, die unendlich von
meiner entfernt war, in der Du lebtest, beschäftigt mit der Regierung, mit dem Ausgeben
der Befehle und mit dem Ärger wegen deren Nichtbefolgung, und schließlich in eine dritte
Welt, wo die übrige Leute glücklich und frei von Befehlen und Gehorchen lebten.“ (ebd.)

Nun könnte man einwenden, dass es bei einem Vergleich zwischen Kafka und Prado
nicht auf den väterlichen Einfluss an sich ankomme, sondern auf die Folgen, die sich
daraus für den Sohn ergäben, und hier sei der Gegensatz unüberbrückbar: Während
Franz Kafka unter dem Einfluss des Vaters ein „schwächlicher, ängstlicher, zögernder,
unruhiger Mensch“ (KKAN II 146) wird, der sich für „geistig unfähig [hält] zu
heiraten“ (KKAN II 208), weil die Institution der Ehe ihn zumindest ideell in
direkten Konflikt mit dem Vater bringen würde, ist Amadeu brillant, selbstbewusst,
bewundert und verehrt. Hier haben die beiden Söhne nun wirklich nichts mehr
gemein, oder? Woher aber kommen dann „all die widersprüchlichen Empfindungen“
(NzL 301) Amadeus seinem Vater gegenüber, die ihn „in Stücke zu reißen drohen“
(ebd.) und die er in seinem langen Brief in Worte zu fassen sucht, „um nicht länger
ihr Opfer zu sein“? (ebd.) Sie entspringen einem Zwang, dem Amadeu sich von
Kindheit an zu unterwerfen hatte, dem Zwang, sein Leben dem Wunsch seines Vaters
gemäß zu leben:

Ich saß auf dem warmen Moos der Eingangstreppe und dachte an den gebieterischen Wunsch
meines Vaters, ich möge Arzt werden einer also, der es vermöchte, Menschen wie ihn von
den Schmerzen zu erlösen. Ich liebte ihn für sein Vertrauen und verfluchte ihn der
erdrückenden Last wegen, die er mir mit seinem anrührenden Wunsch aufbürdete. (NzL 73)56)

55) „Knochen durfte man nicht zerbeißen, Du ja. Essig durfte man nicht schlürfen, Du ja.
[...] Man mußte achtgeben, daß keine Speisereste auf den Boden fielen, unter Dir lag
schließlich am meisten. Bei Tisch durfte man sich nur mit Essen beschäftigen, Du aber
putztest und schnittest Dir die Nägel, spitztest Bleistifte, reinigtest mit dem Zahnstocher
die Ohren.“ (KKAN II 156)
56) Wie sehr dieser Wunsch ihn belastet, zeigt sich daran, dass er Amadeu bis in seine
286 카프카연구 제35집

Auch später, als er an der berühmten Universitade de Coimbra Medizin studiert, leidet
er unter dieser Last. Gregorius erfährt das von Maria João, einem Mädchen, mit dem
Amadeu zu Schulzeiten eine „unnachahmlich keusche“ (NzL 180) Liebe verband, und
das ihm von einem Gespräch mit Amadeus Vater berichtet: „Was ich ihm nicht
erzählte: wie unglücklich Amadeu in Coimbra war. Weil er Zweifel an seiner Zukunft
als Arzt hatte. Weil er nicht sicher war, ob er nicht vielleicht nur dem Wunsch des
Vaters folgte und sich in seinem eigenen Willen verpaßte.“ (NzL 409) Sie erzählt
Gregorius auch von einem ihrer Besuche bei Amadeu. Damals sei ihr aufgefallen, dass
er „nicht, wie die anderen Medizinstudenten, das gelbe Band“ (NzL 427) trage, um
damit seine Zugehörigkeit zur medizinischen Fakultät zu demonstrieren. Amadeu erklärt
leichthin, dass er eben keine Uniformen möge, doch wenig später lässt ein kleiner
Zwischenfall den eigentlichen Grund deutlich werden:

Als ich dann zurückmußte und wir am Bahnhof standen, betrat ein Student den Bahnsteig,
der das dunkelblaue Band der Literatur trug. Ich sah Amadeu an: ‚Es ist nicht das Band‘,
sagte ich, ‚es ist das gelbe Band. Du trügest gerne das blaue Band.‘
‚Du weißt doch‘, sagte er, ‚daß ich es nicht mag, wenn man mich durchschaut [...].‘ (ebd.)

Schon hier deutet sich die Bedeutung der Literatur für Amadeu an, doch da er sich
unter dem Duck des väterlichen Wunsches für die Medizin entschieden hat, fürchtet er
sich zeitlebens davor, den eigenen Willen verpasst oder verkannt zu haben eine
wichtige Motivation seiner unablässigen und gnadenlosen Selbstbefragung. Doch zieht
er aus seinen Erfahrungen als Sohn eines übermächtigen Vaters eine noch weit
radikalere Konsequenz:

Er konnte keine Kinder zeugen. Er hatte sich operieren lassen, um auf keinen Fall Vater
zu werden. [...] „Ich will nicht, daß es kleine, wehrlose Kinder gibt, die die Last meiner
Seele tragen müssen“ sagte er. „Ich weiß doch, wie es bei mir war und noch ist.“
(NzL 397)

Träume verfolgt: Er träumt von den Armen seines Vaters, „und da waren es flehentlich
ausgestreckte Arme, ausgestreckt mit der inbrünstigen Bitte an den Sohn, ihn von den
Schmerzen zu befreien wie ein gütiger Zauberer. In diesen Traum spielte die übergroße
Erwartung und Hoffnung hinein, die stets auf Deinem Gesicht erschien, wenn ich Dir den
Mechanismus Deiner Krankheit erklärte [...] und wenn wir über das Mysterium des
Schmerzes sprachen.“ (NzL 315)
Geliebter, verehrter, gefürchteter Vater. Spuren der Kafka-Rezeption in Pascal Merciers Roman
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Die Last, die der Wunsch seines eigenen Vaters ihm aufbürdet, ist so überwältigend,
dass Amadeu sich entschließt, sich sterilisieren zu lassen eine Entscheidung, deren
Radikalität und Tragweite nicht nur Rückschlüsse auf sein seelischen Qualen erlauben,
sondern die auch eine weitere Parallele zu Franz Kafka erkennbar werden lässt: Im
Gegensatz zu diesem Sohn, dessen Heiratsversuche scheitern, weil die Ehe für ihn
‚Vatergebiet‘ und damit unerreichbar ist, birgt die gesellschaftliche Institution der Ehe
für Prado keinen Schrecken; er war sogar für eine Weile verheiratet. Beiden ist jedoch
gemeinsam, dass der Einfluss des übermächtigen Vaters sie daran hindert, Kinder zu
zeugen und so für den Fortbestand der jeweiligen Familie zu sorgen. Wieder zeigt
sich das bereits vertraute Verhältnis der Nachbildung: Das aus Kafkas Werk bekannte
Muster des Leidens unter dem väterlichen Gesetz, das das gesamte Leben überschattet
und eine bürgerliche Etablierung letztendlich unmöglich macht, taucht in gewandelter,
aber erkennbarer Form im Nachtzug wieder auf.
Wie aber sieht das Alltagsleben mit einem solchen Vater aus? Es wäre nur natürlich,
wenn Kinder sich in solcher Lage zur Mutter flüchten, bei ihr Schutz und Geborgen-
heit suchen würden doch in beiden Fällen steht dieser Weg nur bedingt offen.
Über seine Mutter Julie schreibt Franz Kafka an den Vater:

Man konnte bei ihr zwar immer Schutz finden, doch nur in Beziehung zu Dir. Zu sehr
liebte sie Dich und war Dir zu sehr treu ergeben, als daß sie in dem Kampf des Kindes
eine selbständige geistige Macht für die Dauer hätte sein können. (KKAN II 175)

Bei dem Versuch des Sohnes, die väterliche Einfluss-Sphäre zu verlassen, ist von der
Mutter daher keine Unterstützung zu erwarten. Im Gegenteil spielt sie „unbewußt die
Rolle eines Treibers in der Jagd“ (KKAN II 167), ist also die heimliche Komplizin
des Vaters, was den Sohn zu dem Schluss kommen lässt: „Wollte ich vor Dir fliehn,
mußte ich auch vor der Familie fliehn, selbst vor der Mutter“ (KKAN II 175). Und
wenn Julie Kafka manchmal als Vermittlerin zwischen Vater und Sohn auftritt,57)

57) Kafka berichtet, dass der Vater gelegentlich die Mutter angesprochen, dabei aber ihn, den
Sohn, gemeint habe, „z. B. ‚Das kann man vom Herrn Sohn natürlich nicht haben‘ und
dgl. (Das bekam dann sein Gegenspiel darin, daß ich z. B. nicht wagte und später aus
Gewohnheit gar nicht mehr daran dachte, Dich direkt zu fragen, wenn die Mutter dabei
war. Es war dem Kind viel ungefährlicher, die neben Dir sitzende Mutter über Dich
auszufragen, man frage dann die Mutter: ‚Wie geht es dem Vater?‘ und sichert sich so
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spielt Maria de Prado auf den ersten Blick eine ganz ähnliche Rolle: In seinem Brief
nennt Amadeu sie eine „Dolmetscherin, die uns Eure Stummheit übersetzen mußte“
(NzL 322): „Du warst eine Virtuosin der stummen, ja verleugneten Komplizenschaft
mit Deinen Kindern. Und virtuos warst Du auch als diplomatische Vermittlerin zwi-
schen Papá und uns, Du mochtest die Rolle und warst darin nicht ohne Eitelkeit.“
(NzL 362)
Schon diese Gegenüberstellung lässt jedoch auch erkennen, dass Maria de Prado eine
deutlich bedeutsamere Rolle spielt als Julie Kafka. Während diese nur als Anhängsel
ihres Ehemannes in Erscheinung tritt, ist Amadeus Mutter durchaus eine „selbständige
geistige Macht“ (KKAN II 175) allerdings nicht zum Vorteil ihres Sohnes: In
einem langen Eintrag seines Buches wirft er ihr vor, an ihm ein „perfides Kunst-
stück“ (NzL 359) vollbracht zu haben, „ein Meisterwerk von überwältigender, atembe-
raubender Perfektion“ (NzL 360), das „[s]ein Leben belastet [habe] wie nichts ande-
res“ (NzL 359) stärker noch als der drückende Wunsch des Vaters:

Du hast mich nämlich wissen lassen [...], daß Du von mir, Deinem Sohn Deinem Sohn
, nichts Geringeres als dieses erwartest: daß er der Beste sei. Worin, das war nicht so
wichtig, aber die Leistungen, die ich zu erbringen hatte, sie mußten die Leistungen aller
anderen [...] turmhoch überragen. Die Perfidie: Das hast Du mir nie gesagt. [...] Und
doch wußte ich es, denn das gibt es: ein Wissen, das man einem wehrlosen Kind
einträufelt, Tropfen für Tropfen, Tag für Tag, ohne daß es dieses lautlos anwachsende
Wissen im geringsten bemerkt. Das unscheinbare Wissen breitet sich in ihm aus wie ein
tückisches Gift, sickert in das Gewebe von Leib und Seele und bestimmt über die Farbe
und Schattierung seines Lebens. Aus diesem unerkannt wirkenden Wissen, dessen Macht in
seiner Verborgenheit lag, entstand in mir ein unsichtbares, unentdeckbares Gespinst aus
unbeugsamen, gnadenlosen Erwartungen an mich selbst, gewoben von den grausamen
Spinnen eines angstgeborenen Ehrgeizes. (NzL 359f.)

Zwar erkennt Amadeu de Prado durchaus an, dass all dies kein „bewußter, abge-
feimter, heimtückischer Plan“ (NzL 360) seiner Mutter ist, sondern sie ihren „trüge-
rischen Worten selbst Glauben geschenkt“ (ebd.) hat trotzdem schließt er diese
Passage seines Buches mit dem Satz: „Es ist ein böses Wort, aber es trifft die Sache
wie kein anderes: Mein Leben wurde bestimmt von einer Muttervergiftung.“58) (ebd.)

vor Überraschungen.)“ (KKAN II 162f.)


Geliebter, verehrter, gefürchteter Vater. Spuren der Kafka-Rezeption in Pascal Merciers Roman
Nachtzug nach Lissabon (Christian Baier) 289

Gefangen zwischen dem gebieterischen Wunsch des Vaters und seiner unausgespro-
chenen Anklage auf der einen sowie den gnadenlosen Erwartungen der Mutter auf der
anderen Seite, sind Widerstand oder gar Ausbruch für Amadeu de Prado noch
schwieriger als für Franz Kafka.
Trotz dieser erdrückenden Umstände gibt es in beiden Familien Versuche des
Widerstandes: So verzeichnet Kafka, er habe als Kind, um sich dem Vater gegenüber
„nur ein wenig zu behaupten, zum Teil auch aus einer Art Rache“ (KKAN II 166)
damit begonnen, kleine Lächerlichkeiten in dessen Verhalten „zu beobachten, zu
sammeln, zu übertreiben“ (ebd.), wie auch die Kinder der Familie Prado die Worte
des Vaters parodierten und über ihn lachten (vgl. NzL 150). Zugleich sind beide sich
der eigenen Hilflosigkeit bewusst: In Formulierungen von frappierender Ähnlichkeit
vergleicht Amadeu sein Verhalten mit der „hilflose[n] Blasphemie des Gottesfürch-
tigen“ (ebd.), während Franz dieses „untaugliche[] Mittel der Selbsterhaltung“ (KKAN
II 166f.) wie folgt charakterisiert: „[E]s waren Scherze, wie man sie über Götter und
Könige verbreitet, Scherze, die mit dem tiefsten Respekt nicht nur sich verbinden
lassen, sondern sogar zu ihm gehören.“ (KKAN II 167)
Im Erwachsenenalter nimmt die Rebellion gegen den Vater naturgemäß andere Formen
an, die einander wiederum verblüffend ähnlich sind. Für Franz Kafka ist es die
Solidarität mit den Angestellten seines Vaters, die dieser als „bezahlte Feinde“ (KKAN
II 173) bezeichnet, im täglichen Umgang mit Verachtung behandelt und wüst be-
schimpft, was seinen Sohn dazu veranlasst, sich mit ihnen zu identifizieren:

Du warst [...] schon als Geschäftsmann allen, die jemals bei Dir gelernt haben, so sehr
überlegen, daß Dich keine ihrer Leistungen befriedigen konnte, ähnlich ewig unbefriedigt
mußtest Du auch von mir sein. Deshalb gehörte ich notwendig zur Partei des Personals
(KKAN II 173f.)

Wie Franz Kafka, so schlägt sich auch Amadeu de Prado auf die Seite derer, die ihm
als natürliche Antipoden seines Vaters erscheinen ein Verhalten, das durch die

58) In einem Gespräch mit Gregorius formuliert Amadeus Jugendliebe Maria João Einwände
gegen dieses Bild der Mutter: „Er gab ihr die Schuld an so vielem, daß es eigentlich
nicht stimmen konnte. Die mißlingende Abgrenzung; die Arbeitswut; die Überforderung
durch sich selbst; die Unfähigkeit zu tanzen und zu spielen. Alles sollte mit ihr und ihrer
sanften Diktatur zu tun haben.“ (NzL 410)
290 카프카연구 제35집

Transformation der Verhältnisse an Brisanz gewinnt, denn was dem Geschäftsmann


Hermann Kafka seine Angestellten, das sind dem Richter Alexandre de Prado die
Angeklagten, die ihm bei Gericht vorgeführt werden. Und da Amadeu schon von
Kindheit an das Gefühl hat, sich gegen eine stumme Anklage von Seiten des Vaters
verteidigen zu müssen, kann es nicht verwundern, dass das Bild seines Vaters, wie er
„in der Robe hinter dem erhöhten Richtertisch“ (NzL 303) sitzt und „eine gewohn-
heitsmäßige Diebin“ (ebd.) aburteilt, ihn nicht mehr loslässt:

Später lag ich im Dunkeln wach und verteidigte sie, und es war weniger eine Verteidigung
gegen den Staatsanwalt als eine Verteidigung gegen Euch. Ich redete mich heiser, bis mir
die Stimme versagte und der Strom der Worte versiegte. Am Ende stand ich mit leerem
Kopf vor Euch, gelähmt von einer Wortlosigkeit, die mir wie wache Bewußtlosigkeit
erschien. (NzL 304)

In der gleichen Passage des Briefes an seinen Vater berichtet Amadeu von der
Begegnung mit einer anderen Diebin, „eine[r] junge[n] Frau von betörender Schön-
heit, die lauter glitzernde Dinge mit artistischer Geschwindigkeit in ihren Mantel-
taschen verschwinden ließ“ (NzL 305). Er beobachtet sie eine Weile, „[v]erwirrt über
das freudige Empfinden, das [s]eine Wahrnehmung begleitete“ (ebd.), und warnt sie,
als sie in Gefahr gerät, ertappt zu werden. Nur nach und nach begreift er, „daß die
Frau in [s]einer Vorstellung jene andere Diebin rächte“ (ebd.), die sein Vater zu
einer Gefängnisstrafe verurteilt hatte. Die Passage schließt mit den Worten: „Bei Tisch
saß ich Euch nachher mit einem Gefühl des Triumphs und der Milde des unerkannten
Siegers gegenüber. In diesem Augenblick verspotteten alle Diebinnen der Welt alle
Gesetzbücher der Welt.“ (ebd.)
Amadeu schlägt sich auf die Seite der Diebinnen, er ist von ihrer Partei, und mit
ihrer Hilfe gelingt ihm sogar ein geheimer Triumph über seinen richtenden Vater und
alles, was er repräsentiert. Jahre später, so erfährt Gregorius von Maria João,
kulminiert dieser Widerstand in einem symbolischen Akt der Rebellion: „Er stahl im
ältesten Warenhaus der Stadt, wurde beinahe geschnappt und erlitt danach einen
Nervenzusammenbruch. [...] Erklärt hat er es mir nie. Aber ich denke, es hatte mit
Vater, Gericht und Verurteilung zu tun. Eine Art hilflose, verschlüsselte Revolte.“
(NzL 409)
Das Motiv der innerlichen Solidarisierung Kafkas mit den vom Vater schlecht behan-
Geliebter, verehrter, gefürchteter Vater. Spuren der Kafka-Rezeption in Pascal Merciers Roman
Nachtzug nach Lissabon (Christian Baier) 291

delten Angestellten wandelt sich im Nachtzug nach Lissabon in ein Abenteuer, das im
Vergleich geradezu flamboyant anmutet und trotzdem ist, wie im Fall der Mutter-
Figur, die strukturelle Ähnlichkeit unübersehbar. Genau diese indirekte Transformation
der Elemente des Hypotextes ist es, die nach Genette die hypertextuelle Beziehung der
Nachahmung oder Nachbildung kennzeichnen.
Sowohl Prado als auch Kafka sind sich bewusst, dass ihre hilflosen Versuche der
Emanzipation vom Vater zum Scheitern verurteilt sind, dennoch sehen beide zumindest
einen möglichen Ausweg, nämlich die Flucht in die Literatur. Hier kehrt die vorlie-
gende Argumentation an ihren Ausgangspunkt zurück: Konfrontiert mit dem Dilemma,
sich einem Vater anzuvertrauen, dem gegenüber ein offenes Gespräch nicht möglich
ist, entschließen sich beide Söhne, einen Brief zu schreiben ein Hinweis auf die
existentielle Bedeutung des Schreibens: Für Franz Kafka eröffnet es „kleine Selbstän-
digkeitsversuche, Fluchtversuche mit allerkleinstem Erfolg“ (KKAN II 211) aus dem
Bannkreis des Vaters, wenn auch um den Preis einer ebenso existentiellen Selbstver-
stümmelung: „Hier war ich tatsächlich ein Stück selbständig von Dir weggekommen,
wenn es auch ein wenig an den Wurm erinnerte, der, hinten von einem Fuß nieder-
getreten, sich mit dem Vorderteil losreißt und zur Seite schleppt.“ (KKAN II 192)
Für Amadeu Inácio de Almeida Prado ist das Schreiben vor allem eine Suche nach
Antworten Antworten auf die verzweifelten Fragen, die ihn sein Leben lang ver-
folgen, Fragen nach fremdbestimmten Entscheidungen, versäumten Gelegenheiten und
der Möglichkeit, er selbst zu sein: so, wie er sein will und sein soll, nicht nur als
Produkt väterlicher Wünsche und mütterlicher Manipulation. Einer der zentralen Sätze
im Goldschmied der Worte lautet: „Wenn es so ist, daß wir nur einen kleinen Teil
von dem leben können, was in uns ist was geschieht mit dem Rest?“ (NzL 29)
Dieses Buch ist der Versuch Prados, „Abschnitt für Abschnitt nach all den verbor-
genen Erfahrungen zu graben. Sein eigener Archäologe zu sein“ (ebd.) und auf diese
Weise den unbekannten, gewaltigen ‚Rest‘ ungelebten Lebens ans Licht des Bewusst-
seins zu holen. Das Mittel dazu ist das Schreiben, denn: „Man ist nicht richtig wach,
wenn man nicht schreibt. Und man hat keine Ahnung, wer man ist. Ganz zu schwei-
gen davon, wer man nicht ist.“ (NzL 133)
Welche Konsequenzen ergeben sich nun, summarisch gesprochen, für die beiden Prota-
gonisten aus ihrer komplizierten Vaterbeziehung? Franz Kafka wird unter dem Druck
292 카프카연구 제35집

des Vaters zu einem „schwächliche[n], ängstliche[n], zögernde[n], unruhige[n]


Mensch[en]“ (KKAN II 146), geplagt von einem Gefühl der Minderwertigkeit, von
„Angst und Schuldbewußtsein“ (KKAN II 194) sowie „tiefste[n] Sorgen der geistigen
Existenzbehauptung“ (ebd.). Sein ganzes Leben ist bestimmt von dem hilflosen Ver-
such, der väterlichen Einfluss-Sphäre zu entkommen, und doch bleiben sein Denken
und Fühlen, seine Welt- und Selbstwahrnehmung unabänderlich auf den Vater bezogen
eine unglückselige Fixierung, deren Einfluss anhand seiner Heiratsversuche exempla-
risch deutlich wird:

Wenn ich in dem besonderen Unglücksverhältnis, in welchem ich zu Dir stehe, selbständig
werden will, muß ich etwas tun, was möglichst gar keine Beziehung zu Dir hat; das
Heiraten ist zwar das Größte und gibt die ehrenvollste Selbständigkeit, aber es ist auch
gleichzeitig in engster Beziehung zu Dir. (KKAN II 209)

Der bloße Gedanke der Heirat „hat deshalb etwas von Wahnsinn und jeder Versuch
wird fast damit gestraft“ (ebd.) seit Orest die mythische Strafe für den Tabubruch,
den Frevel gegen die göttliche Ordnung. Nicht ohne Grund wird Das Urteil in der
Forschung59) oft als eine Art literarisches Experiment angesehen, als der Versuch
Kafkas, im Raum der Fiktion herauszufinden, welche Folgen eine Heirat und die
beruflich-gesellschaftliche Etablierung nach sich ziehen würden. Das Ergebnis ist
bekannt.
Rein äußerlich ist kein größerer Gegensatz zu Franz Kafka denkbar als Amadeu de
Prado, der, charismatisch und hochbegabt, schon als Schüler der Eindruck eines „ad-
ligen Prinzen“ (NzL 180) erweckt und später, als Arzt, von seinen Patienten verehrt
und bewundert wird. Er ist „ein wandelndes Paradox: selbstbewußt und von furcht-
losem Auftreten, darunter aber einer, der ständig den Blick der anderen auf sich
spürte und darunter litt.“ (NzL 329) Amadeu ist paralysiert von „der Qual, sich inner-
lich stets selber überholen und übertrumpfen zu müssen“ (NzL 181), um vor dem
‚Gerichtshof der Anderen‘ bestehen zu können. Diese innere Erstarrung wird im
Roman leitmotivisch durch seine „Unfähigkeit zu tanzen und zu spielen“ (NzL 410)

59) Vgl. etwa Michael Müller, Kafka und sein Vater. Der Brief an den Vater, in: Bettina von
Jagow und Oliver Jahraus (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Göttingen
2008, S. 37-44, hier S. 40-42.
Geliebter, verehrter, gefürchteter Vater. Spuren der Kafka-Rezeption in Pascal Merciers Roman
Nachtzug nach Lissabon (Christian Baier) 293

zum Ausdruck gebracht; anstelle dieser typisch kindlichen Aktivität steht bei ihm die
kontemplative Leidenschaft des Lesens. Seine jüngere Schwester Mélodie berichtet:

Er las ja schon mit vier, und er las von da an alles, kreuz und quer, in der Grundschule
langweilte er sich zu Tode, und im Liceu übersprang er zweimal eine Klasse. Mit zwanzig
wußte er eigentlich schon alles und fragte sich manchmal, was noch kommen sollte. Und
über alledem hat er das Ballspielen vergessen. (NzL 165)

In seinem niemals abgeschickten Brief an seinen Sohn Amadeu nimmt Alexandre de


Prado dieses Motiv unwissentlich wieder auf, als er eine kennzeichnende Szene schil-
dert: „Einmal, als Du draußen auf den Stufen lasest, verirrte sich ein Ball spielender
Kinder zu Dir. Deine Hand löste sich vom Buch und warf den Ball zurück. Wie
fremd die Bewegung der Hand war!“ (NzL 337) Was bleibt, ist die Sehnsucht des
Kindes, „auch einmal ein ballspielender Junge sein zu dürfen“ (NzL 165)
Frühreif und hochbegabt, wie er war, ist Amadeu nie wirklich ein Kind gewesen, und
auch als Erwachsener hatte er keine Gelegenheit, seinen eigenen Vorstellungen und
Bedürfnissen gemäß zu leben: Die verhängnisvolle Kombination eines unabweisbaren
väterlichen Wunsches, der seinem Wesen nicht entsprach, und unerfüllbarer mütterlicher
Ansprüche, die ihn lehrten, niemals mit dem Erreichten zufrieden zu sein, führen zu
einer inneren Zerrissenheit, die sich mit jener Franz Kafkas messen kann: Hinter der
Maske des brillanten und verehrten Arztes lebt Amadeu de Prado in einem „Fegefeuer
von Zweifeln [...], gepeinigt von der Angst, er könnte sich verpassen.“ (NzL 429)
Ganz ähnlich wie Kafka in Gestalt seiner eingegangenen und wieder gelösten Verlo-
bungen unternimmt auch Prado einen vergeblichen Ausbruchsversuch, und auch der
seine hat mit einer Frau zu tun: mit der bereits erwähnten Estefânia Espinhosa, an der
die Freundschaft zu Jorge O’Kelly zerbricht. Ihr Name geistert durch den Roman,
lange bevor sie selbst auftritt oder auch nur beschrieben wird. Es ist schließlich
Amadeus Schwester Adriana, die sich an ihre erste Begegnung mit Estefânia erinnert
und zugleich die Beziehung ihres Bruders zu ihr charakterisiert:

Und dann war es so anders als damals bei Fátima. Wilder, ausgelassener, gieriger. Ganz
ohne Rahmen, sozusagen. [...] Schon als sie das Wartezimmer betrat, spürte ich, daß sie
nicht einfach eine Patientin war. Anfang, Mitte zwanzig. Eine merkwürdige Mischung aus
unschuldigem Mädchen und Vamp. Glitzernde Augen, asiatischer Teint, wiegender Gang.
294 카프카연구 제35집

Die Männer im Wartezimmer blickten sie verstohlen an, die Augen der Frauen verengten
sich. (NzL 371)

Beide sind Mitglieder des Widerstands, und weil Estefânias Leben in Gefahr ist, will
Amadeu sie über die Grenze nach Spanien schmuggeln, doch bedeutet diese Reise für
ihn weit mehr: In dem Wissen, dass er jeden Augenblick an einem Aneurysma ster-
ben könnte, versucht er, in kürzester Zeit alles nachzuholen, was er bisher versäumt
hatte. Estefânia berichtet Gregorius viele Jahre später:

Er suchte nicht mich, er suchte das Leben. Er wollte immer mehr davon, und er wollte es
immer schneller und gieriger. [...] Er saugte mit allem, was er erfuhr, vor allem Lebens-
stoff ein, von dem er nicht genug bekommen konnte. Ich war, um es anders zu sagen, gar
nicht wirklich jemand für ihn, sondern ein Schauplatz von Leben, nach dem er griff, als
habe man ihn bisher darum betrogen. Als wolle er noch einmal ein ganzes Leben leben,
bevor ihn der Tod ereilte. (NzL 479f.)

Amadeus „schrecklichen Hunger“ (NzL 480) nach dem Leben ist zu elementar für sie,
er macht ihr Angst, droht sie mit seiner „verschlingende[n], zerstörerische[n] Wucht“
(ebd.) zu überwältigen, und so weist sie ihn zurück. In seinen Aufzeichnungen schil-
dert Amadeu selbst die Szene wie folgt:

‚Du bist mir zu hungrig. Es ist wunderschön mit dir. Aber du bist mir zu hungrig. Ich
kann diese Reise nicht wollen. Siehst du, es wäre deine Reise, ganz allein deine. Es könnte
nicht unsere sein.‘ Und sie hatte recht: Man darf die anderen nicht zu Bausteinen des
eigenen Lebens machen, zu Wasserträgern beim Rennen um die eigene Seligkeit. (NzL 467)

Die eigene Seligkeit um nichts weniger geht es hier. Für Amadeu de Prado besteht
diese Seligkeit darin, den glühenden Text in seinem Inneren, unter dem er sein ganzes
Leben lang gelitten hat, dieses vernichtende „DIE ANDEREN SIND DEIN GERICHTSHOF“
(NzL 319) endlich auszulöschen. Und Estefânia Espinhosa ist für ihn mehr als nur die
Frau, die er liebt: Sie bedeutet „seine Chance, endlich aus dem Gerichtshof hinaus-
zutreten, hinaus auf den freien, heißen Platz des Lebens, und dieses eine Mal ganz
nach seinen Wünschen zu leben, nach seiner Leidenschaft, zum Teufel mit den ande-
ren.“ (NzL 329) Wie Franz Kafka, sein tschechischer Bruder im Geiste, unternimmt
auch der portugiesische Adlige einen letzten, verzweifelten Ausbruchsversuch und
Geliebter, verehrter, gefürchteter Vater. Spuren der Kafka-Rezeption in Pascal Merciers Roman
Nachtzug nach Lissabon (Christian Baier) 295

scheitert.

Aus einer gewissen Perspektive heraus erscheinen die Befunde der vorliegenden Unter-
suchung als eine Liste von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Pascal
Merciers Nachtzug nach Lissabon und dem Brief an den Vater, wobei zu bedenken
gilt, dass dieser Text stellvertretend für den Vater-Sohn-Konflikt in Kafkas gesamtem
Werk steht: Beide Söhne leiden unter den Ansprüchen einer dominierenden Vaterfigur,
die ihre Entwicklung und Persönlichkeit nachhaltig prägt und letztendlich dazu führt,
dass sie, erfüllt von Selbstzweifeln und Ängsten, ein zutiefst unglückliches Leben
führen. Von der Mutter ist keine Hilfe zu erwarten, mögliche Ausbruchsversuche
erschöpfen sich in hilflos-symbolischen Akten der Rebellion, und auch die vermeint-
liche Rettung durch Sprache und Schreiben erweist sich letztendlich als scheinhaft oder
allenfalls als vorübergehende Erleichterung.
Soweit die Übereinstimmungen, doch sind die Unterschiede nicht weniger zahlreich.
Amadeu de Prado, adlig, begabt, gutaussehend und selbstbewusst, hat scheinbar rein
gar nichts gemein mit dem schüchternen, verklemmten und linkischen Bürgersohn
Franz Kafka, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass dieser verheiratet war und kurz
vor seinem Tod eine leidenschaftliche Affäre hat. Alexandre de Prado ist nicht, wie
Hermann Kafka, ein physisch dominierender self-made man, „der sich aus eigener
Kraft aus der untersten sozialen Schicht nach oben gearbeitet“60) hat, sondern ein
verwachsener, an seinem Körper leidender Richter aus gutem Hause; Amadeus Mutter
Maria ist, wenn man seinem Zeugnis glauben darf, weit manipulativer als Julie Kafka;
und auch der Protest des Sohnes gegen die väterliche Übermacht nimmt deutlich
emphatischere Formen an, mag er auch noch so hilflos sein: Während Kafka nur
stumm mit den vom Vater beschimpften Angestellten sympathisiert, bewahrt Prado
nicht nur eine Diebin vor der Verhaftung, sondern wird in einem symbolischen Akt
des Widerstandes sogar selbst zum Dieb.
Was aber ergibt sich aus dieser reichlich beliebig anmutenden Sammlung von Beo-

60) Müller: Vater, S. 38.


296 카프카연구 제35집

bachtungen für das Verhältnis der beiden Texte? Hier hilft Genettes Modell der
Hypertextualität weiter, genauer der Begriff der Nachbildung, der, wie man sich
erinnern wird, eine indirekte Transformation (Nachahmung) im ernsthaften Modus
beschreibt: Der Konflikt zwischen Franz und Hermann Kafka, wie er sich im Brief an
den Vater und, in vielfach abgewandelter Form, wieder und wieder in Kafkas Werken
findet, wird nicht einfach aus Prag nach Lissabon, aus der Zeit um die Jahr-
hundertwende in die Mitte des 20. Jahrhunderts und aus der bürgerlichen in die adlige
Gesellschaftsschicht verlagert das wäre nach Genette nur eine einfache Transfor-
mation, die der Komplexität des hypertextuellen Verhältnisses zwischen beiden Texten
nicht gerecht wird. Nein, das Bild des Konflikts zwischen Amadeu und Alexandre de
Prado sowie aller zugehörigen Umstände, das Raimund Gregorius wie ein Mosaik
zusammensetzt, erzählt eine ganz eigene Geschichte, die bei allen Unterschieden und
Abwandlungen als Spielart und Variation des bekannten Kafka’schen Vater-Sohn-Kon-
flikts erkennbar bleibt.
Gérard Genette bietet sogar eine theoretische Erklärung für die Funktionsweise dieser
Verknüpfung an, indem er postuliert, dass für diese komplexe Form der Nachahmung
(also die Nachbildung) zunächst ein gewissermaßen abstraktes ‚Modell‘ erforderlich sei,
das zumindest prinzipiell „zur Erzeugung einer unbeschränkten Zahl mimetischer
Performanzen“61) herangezogen werden könne. Im vorliegenden Fall ist dieses Modell
nichts anderes als das Motiv des Vater-Sohn-Konflikts an sich: die strukturelle, von
jeder konkreten literarischen Ausarbeitung abstrahierte Konstellation, die als tertium
comparationis zwischen dem Hypotext, Kafkas Brief an den Vater, und Merciers
Nachtzug nach Lissabon als Hypertext fungiert. Und da jenseits aller oberflächlichen
Unterschiede die strukturellen Parallelen eindeutig überwiegen, kann man von einem
hypertextuellen Verhältnis zwischen diesen beiden Texten ausgehen: Im Vergleich zu
dem von Franz Kafka in immer neuen Formen inszenierten Vater-Sohn-Konflikt
erscheint die Beziehung zwischen dem stumm leidenden adligen Richter und seinem
hochbegabten, von Selbstzweifeln geplagten Sohn wie ein Musikstück, das, neu gesetzt
und instrumentiert, in eine andere Tonart transponiert, fremdartig-prächtig, volltönend
und vielstimmig erklingt und in dem doch, hinter all der funkelnden Polyphonie,
die Motive des einfachen Kammerstücks erkennbar bleiben, aus dem es entstanden ist.

61) Genette: Palimpseste, S. 16.


Geliebter, verehrter, gefürchteter Vater. Spuren der Kafka-Rezeption in Pascal Merciers Roman
Nachtzug nach Lissabon (Christian Baier) 297

Literaturverzeichnis

Primärtexte
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Neumann, Malcom Pasley u. Jost Schillemeit, Frankfurt am Main 2002.
Mercier, Pascal: Nachtzug nach Lissabon, München/Wien 2004.

Sekundärtexte
Alt, Peter-André: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie, München 22008.
Bieri, Peter: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens,
München et al. 2001.
Binder, Hartmut: Kafka-Kommentar zu den Romanen, Rezensionen, Aphorismen und
zum Brief an den Vater, München 1976.
Born, Jürgen u. Müller, Michael (Hg.): Briefe an Milena. Erw. u. neu geordnete Ausg.,
New York et al. 1983.
Brod, Max: Über Franz Kafka, Frankfurt am Main 1966.
Crescenzi, Luca: Kunst Leben Performance. Zu Franz Kafkas Brief an den Vater.
In: Neue Rundschau 124 (2013), H. 3, S. 201-212.
Doppler, Alfred: Das fragwürdige Patriarchat. Franz Kafkas ‚Brief‘ an den Vater. In:
ders.: Geschichte im Spiegel der Literatur. Aufsätze zur österreichischen
Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Innsbruck 1990, S. 137-142.
Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main 1993.
Jahraus, Oliver: Kafka. Leben Schreiben Machtapparate, Stuttgart 2006, S. 93.
Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Jens Ihwe (Hg.):
Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 3, Frankfurt am Main 1972.
Matt, Peter : Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur,
München/Wien 1995.
Müller, Burkhard: Die Telefonnummer auf der Stirn. In seinem Roman ‚Nachtzug nach
Lissabon’ sucht Pascal Mercier einen Dichter, der er in Wahrheit selber ist. In:
Süddeutsche Zeitung, Nr. 267, Rubrik: Literatur, Mittwoch, 17. November 2004,
S. 18.
Müller, Michael: Kafka und sein Vater. Der Brief an den Vater, in: Bettina von Jagow
und Oliver Jahraus (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben Werk Wirkung,
298 카프카연구 제35집

Göttingen 2008, S. 37-44, hier S. 40-42.


Müller-Seidel, Walter: Franz Kafkas Brief an den Vater. Ein literarischer Text der
Moderne In: Orbis litterarum 42 (1987), S. 353-374.
Pfeifer, Joachim: Ausweitung der Kampfzone. Kafkas Brief an den Vater. In: Der
Deutschunterricht 52 (2000), H. 5, S. 36-47.
Schulz-Ojala, Jan: Der Späteinsteiger. Pascal Mercier schickt einen Gelehrten mit dem
‚Nachtzug nach Lissabon‘. In: Der Tagesspiegel, Nr. 18581, Rubrik: Literatur,
Sonntag, 29. August 2004, S. 28.
Seljak, Anton: Intertextualität. In: Ulrich Schmid (Hg.): Literaturtheorien des 20.
Jahrhunderts, Stuttgart 2010.
Stach, Reiner: Kafka. Bd. I: Die frühen Jahre (2014); Bd. II: Die Jahre der
Entscheidungen (2002); Bd. III: Die Jahre der Erkenntnis (2008), Frankfurt am
Main.
Unseld, Joachim: Nachwort. In: Franz Kafka: Brief an den Vater. Faksimile, Frankfurt
am Main 1994.
Weidner, Daniel: Brief an den Vater. In: Manfred Engel u. Bernd Auerochs (Hg.):
Kafka-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2010.
Winko, Simone u. Köppe, Tilman: Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung,
Stuttgart/Weimar 2008.
Geliebter, verehrter, gefürchteter Vater. Spuren der Kafka-Rezeption in Pascal Merciers Roman
Nachtzug nach Lissabon (Christian Baier) 299

국문초록

, , .

파스칼 메르시어는 자신의 철학 소설 리스본으로 가는 밤기차 (2004)에서 교사이


자 고대 어문학자인 라이문트 그레고리우스의 이야기와, 그가 포르투갈 출신 의사이
자 시인이며 저항군이었던 아마데우 드 프라도를 찾아가는 이야기를 들려준다. 여러
가지 정황으로 미루어보아 프라도는 행복한 삶을 살았던 것 같았다. 그러나 그레고리
우스는 곧 그가 실제로는 유명한 판사였던 권위적인 아버지의 무리한 요구들로 인해
두려움과 자신에 대한 절망으로 괴로워했다는 사실을 알게 된다. 아버지의 영향으로
부터 벗어나 작가로서의 창작활동 속으로 도망치려는 헛된 시도를 하는 이 아들의 상
황은 프란츠 카프카와 그의 작품 속에 다양한 방식으로 나타나는 부자갈등의 모티브
를 연상시킨다. 이 논문에서 필자는 제라르 주네트의 상호텍스트성 컨셉을 이론적 기
반으로 하여, 실제로 리스본으로 가는 밤기차 를 하이퍼텍스트로, 또한 상기한 맥락
에서 카프카의 전체 작품들을 대표하는 아버지에게 드리는 편지 (1919)를 하이포텍
스트로 볼 수 있다는 사실을 밝혀준다. 잘 알려진 모티브들이 메르시어의 소설에서
변형된 형태로 다시 등장하며, 따라서 이 논문의 독법은 가장 성공적인 동시대 독일
소설 중 하나인 이 작품을 해석하는 새로운 관점을 제시해줄 뿐만 아니라 카프카 수
용에도 기여를 하게 될 것이다.

검색어: 파스칼 메르시어, 리스본으로 가는 밤기차, 카프카, 아버지에게 드리는 편지, 부자갈등,
상호텍스트성
Stichwörter: Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon, Kafka, Brief an den
Vater, Vater-Sohn-Konflikt, Hypertextualität

필자 E-Mail 주소: cbaier@snu.ac.kr


논문투고일: 2016. 4. 30 논문심사일: 2016. 6. 12 게재확정일: 2016. 6. 14
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