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APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte


14/2009 30. Mårz 2009

Christen in der Demokratie


Robert Zollitsch
Mehr Zeugnis wagen!

Wolfgang Huber
Christen in der Demokratie

Bernhard Sutor
Christliche Ethik im såkularen Staat freiheitlicher Verfassung

Friedrich Wilhelm Graf


Christen im demokratischen Verfassungsstaat

Thomas Schirrmacher
Demokratie und christliche Ethik

Joachim Wiemeyer
Das Engagement von Christen in politischen Parteien

Anke Silomon
Widerstand von Protestanten im NS und in der DDR

Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament


Editorial
Bis zum Hochmittelalter waren Thron und Altar eins. Mit
dem Investiturstreit wurde der politische Vormachtanspruch des
Papstes von den weltlichen Herrschern erschçttert; im 16. Jahr-
hundert kam es nach Reformation und Gegenreformation zur
konfessionellen Spaltung des Christentums. Die lutherische
Zwei-Reiche-Lehre stand fortan dem katholischen Selbstver-
ståndnis entgegen. Die Såkularisierung der folgenden Jahrhun-
derte wurde lange bekåmpft. Das Zweite Vatikanische Konzil
Mitte der 1960er Jahre erneuerte nicht nur die Liturgie, sondern
gab den Anspruch der Kirche auf, Staat und Gesellschaft nach
katholischen Grundsåtzen auszurichten.

Die Religionsfreiheit ist in Deutschland ein durch das Grund-


gesetz und die Europåische Menschenrechtskonvention ge-
schçtztes Grundrecht. Im weltanschaulich neutralen, freiheitli-
chen Verfassungsstaat behaupten sich kirchliche Organisationen
und Akteure unter vielen anderen. Trotzdem kommt beiden Kir-
chen eine Sonderrolle zu: Von den rund 82 Millionen Bundes-
bçrgerinnen und -bçrgern sind knapp zwei Drittel Mitglied in
einer der christlichen Kirchen.

Ist christliche Ethik nur eine Privatangelegenheit? Christen in


der Demokratie bekennen sich zu ihrer Verantwortung fçr das
Gemeinwesen. Die Stimmen der Kirchen in gesellschaftlichen
und politischen Auseinandersetzungen werden gehært. Der frei-
heitliche Staat bedarf dieser Wortmeldungen, auch wenn sie
keine Deutungshoheit çber weltliche Angelegenheiten beanspru-
chen kænnen. Fçr die Kirchen wurzelt eine Grundvoraussetzung
der freiheitlichen Demokratie, die unantastbare Wçrde des Men-
schen, in seiner Gottebenbildlichkeit. Daraus erwåchst geradezu
eine Verpflichtung fçr Christen, die Demokratie in kritischer So-
lidaritåt mitzugestalten und gegen ihre Feinde zu verteidigen.

Hans-Georg Golz
Erzbischof Robert Zollitsch alle Menschen zu seinen Jçngern zu machen
(Matthåus 28,19), stellt die Kirche mitten in

Mehr Zeugnis die gesellschaftliche Úffentlichkeit. Weil


diese Úffentlichkeit keine statische, sondern

wagen!
eine dynamische ist, die von Wandel und
ståndiger Verånderung geprågt ist, gilt es
immer wieder neu, die Gesellschaft in den
Blick zu nehmen, um die jeweiligen Zeichen
der Zeit zu erkennen und sie im Licht des

A ls Papst Johannes Paul II. am 30. De-


zember 1988 sein nachsynodales apos-
tolisches Schreiben ¹Christifideles Laici:
Evangeliums zu deuten. Trotz sich verån-
dernder Rahmenbedingungen bleibt festzu-
halten: Christen kænnen nicht darauf verzich-
Ûber die Berufung und Sendung der Laien in ten, sich in die Politik einzuschalten.
der Kirche und Weltª 1 veræffentlichte, hat
wohl niemand daran zu glauben gewagt, dass Mit dieser Feststellung ist noch nicht ge-
nur wenige Monate spåter die Berliner Mauer sagt, wodurch sich Christen in der Politik
fallen wçrde. Es waren engagierte Bçrgerin- auszeichnen, warum die Demokratie den po-
nen und Bçrger und litischen Einsatz von Frauen und Månnern,
nicht wenige davon die im Glauben an Jesus Christus Halt und
Erzbischof Robert Zollitsch
çberzeugte Christin- Orientierung finden, so notwendig braucht.
Dr. theol., geb. 1938; 2003
nen und Christen, die In seiner bis heute wegweisenden Schrift
Ernennung zum Erzbischof von
sich auch unter der ¹Politik als Berufª (1919) beschreibt Max
Freiburg i. Br. und Bischofs-
Gefahr von Repressa- Weber ¹drei Qualitåtenª, die ¹vornehmlich
weihe; seit Februar 2008 Vorsit-
lien und Freiheitsent- entscheidend sind fçr den Politiker: Leiden-
zender der Deutschen Bischofs-
zug unermçdlich po- schaft ± Verantwortungsgefçhl ± Augenmaûª.
konferenz, Kaiserstraûe 161,
litisch einmischten, Leidenschaft versteht er ¹im Sinn von Sach-
53113 Bonn.
sich fçr eine demo- lichkeit: leidenschaftliche Hingabe an eine
pressestelle@dbk.de
kratische Rechtsord- ,Sache`ª, die verbunden sein muss mit Augen-
nung einsetzten und maû als ¹der Fåhigkeit, die Realitåten mit in-
auf friedliche, beharrliche Weise den Weg zur nerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu
Wiedervereinigung der beiden deutschen lassen, also: der Distanz zu den Dingen und
Staaten ebneten. Sie setzten in die Tat um, Menschenª. Die ¹Sacheª aber, der die Hinga-
was Papst Johannes Paul II. in ¹Christifideles be gilt, ist das ¹Ethos der Politikª.
Laiciª ausdrçcklich und bleibend aktuell her-
vorhebt, wenn er schreibt: ¹Die Anklagen des Wir kænnen ± auch wenn es sich lohnen
Egoismus und der Korruption, die nicht sel- wçrde ± der von Max Weber aufgewiesenen
ten gegen Regierungsleute, Abgeordnete der Grundspannung zwischen ¹Gesinnungs-
Parlamente (. . .) und politische Klassen erho- ethikª und ¹Verantwortungsethikª und sei-
ben werden, sowie die verbreitete Meinung, nem heute vielfach ideologisch missbrauchten
die Politik sei ein Bereich unbedingter mora- Begriff einer ¹Realpolitikª an dieser Stelle
lischer Gefåhrdung, rechtfertigen auf keine nicht weiter nachgehen. Was sich auch 90
Weise den Skeptizismus oder die Abwendung Jahre nach Erscheinen dieses Textes ganz un-
der Christen von den æffentlichen Angelegen- mittelbar aufdrångt: Es ist vor allem der
heiten.ª Christen ¹kænnen nicht darauf ver- Typus des ¹christlichenª Politikers, der sich
zichten, sich in die Politik einzuschaltenª. und sein Handeln ausdrçcklich aus seinem
Glauben heraus versteht, den wir auch heute
Hier wird deutlich, dass der christliche so notwendig brauchen ± und damit meine
Glaube und das konkrete Handeln von ich keineswegs nur den Berufspolitiker, son-
Christen immer auch eine æffentliche Dimen- dern alle Frauen und Månner, die sich auf
sion haben. Christliches Leben beschrånkt ganz unterschiedliche Weise und auf den ver-
sich nicht ± wie manche zu glauben meinen schiedenen Ebenen der Demokratie einbrin-
oder gar lautstark fordern ± auf den Bereich gen und politisch engagieren. Waren es doch
einer isolierten Innerlichkeit. Vielmehr stehen Persænlichkeiten wie Robert Schuman in
Aktion und Kontemplation in einem unauf-
læslichen Wechselverhåltnis. Der Sendungs- 1 Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 87, Bonn

auftrag Jesu, zu allen Vælkern zu gehen und 1988.

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Frankreich, Alcide de Gasperi in Italien und des Alltags, etwa im Arbeitsleben oder in Ver-
fçr Deutschland Konrad Adenauer, die un- waltungshierarchien. Und doch ist menschli-
mittelbar in Orientierung an ihren christli- che Macht in der gegebenen Ordnung der
chen Grundçberzeugungen die Grundlagen Welt ein legitimes, ja unverzichtbares Mittel
fçr die heutige Friedensordnung Europas ge- der Gestaltung ± auch in einem demokratisch
legt haben. verfassten Rechtsstaat. Die Kirche wird des-
halb genauso wenig in jene Ûberbewertung
Doch was ist das ± ein ¹christlicherª Politi- von ¹Leitungª und ¹Fçhrungª einstimmen,
ker? Es ist, das muss deutlich gesagt werden, die in erster Linie Spiegel einer wieder autori-
nicht eo ipso schon der, der das Christliche tår gewordenen gesellschaftlichen Grundstræ-
im Namen fçhrt. Und das ist bei allem Wert, mung ist, so wenig sie den antiautoritåren Ver-
den das Bestehen ¹christlicherª Parteien in suchen der 68er Jahre folgte.
Europa hat, die schon durch ihren Namen
wie durch einen Stachel im Fleisch immer Wo ein Politiker dezidiert aus seinem
wieder an ihre ideellen Grundlagen erinnert Glauben heraus handelt, wird er, bei aller
werden, unveråndert. Es kommt zuallererst Kunstfertigkeit im Umgang mit der Macht,
auf die Inhalte an, auf die Glaubwçrdigkeit immer Distanz zu ihr wahren. Er wird es ver-
und auf die konkreten Entscheidungen, die meiden, ¹die Macht lediglich um ihrer selbst
im politischen Alltag gefållt werden. willen, ohne inhaltlichen Zweck, zu genie-
ûenª (Max Weber), Macht vielmehr einsetzen
Wer Politik treibt ± ob in der Kommunal- als das Vermægen zur Gestaltung: Macht als
politik oder in den Parlamenten ±, hat unwei- Dienst. Gerade im Umgang mit Macht darf
gerlich mit Macht zu tun. Er arbeitet, noch und muss aber immer wieder auch mit der
einmal mit Max Weber gesprochen, ¹mit dem Mæglichkeit des Scheiterns gerechnet werden.
Streben nach Macht als unvermeidlichem Vielleicht ist in Zeiten einer perfektionisti-
Mittel. ,Machtinstinkt` ± wie man sich auszu- schen Hçlle, von Null-Toleranz und entspre-
drçcken pflegt ± gehært daher in der Tat zu chenden ståndigen Verschårfungen von Straf-
seinen normalen Qualitåten.ª Wo aber schon bestimmungen gerade das ein besonderes
die staatliche Ordnung um die grundsåtzliche christliches Zeugnis, dass ± wie jeder Glåubi-
Gefåhrdung und Korrumpierbarkeit von ge ± auch der in der Úffentlichkeit stehende
Macht weiû und deshalb durch die Regeln Politiker um Schuld, eigene und fremde, weiû
der Gewaltenteilung und vielfåltige Instru- und aus dem dauernden Angebot von Gottes
mente gegenseitiger Kontrolle von Institutio- Vergebung leben darf.
nen um eine mæglichst weitgehende Begren-
zung von Macht bemçht ist, weiû der Christ Die Kirche hat in ihrer Sozialverkçndigung
um die grundsåtzliche Infragestellung aller umfassende Weisungen zur Gestaltung des
menschlichen Macht durch den Glauben. Er Zusammenlebens in der Gesellschaft gegeben.
weiû darum, dass der Schæpfungsauftrag Got- In der Orientierung an der menschlichen Per-
tes, die Erde zu unterwerfen und çber sie zu son mit ihrer unhintergehbaren Wçrde (Per-
herrschen (Genesis 1,28), nicht auf gewalt- sonalitåt), der Verpflichtung zu Ausgleich
same Ausbeutung, sondern auf bewahrende und wechselseitiger Hilfe (Solidaritåt), dem
Fçrsorge zielt. Er weiû, dass die Bibel Gott Vorrang des Einzelnen und der kleinen Ge-
als den preist, der die Måchtigen vom Thron meinschaften vor den groûen gesellschaft-
stçrzt und die Niedrigen erhæht (Lukas 1, lichen Strukturen, die gleichzeitig zu deren
52); und die Liturgie der Osternacht, die Unterstçtzung verpflichtet sind (Subsidiari-
Nacht der Auferstehung Jesu, besingt sie als tåt), schlieûlich der Orientierung am Ge-
die Nacht, welche die Gewalten beugt (curvat meinwohl als umfassender Zielbestimmung
imperia). Gott allein ist der Herr, in dessen findet sie ihre klassische Ausgestaltung. Diese
Reich am Ende ¹jede Macht, Gewalt und Prinzipien haben sich in ihrer Umsetzung,
Kraft vernichtetª wird (1 Korinther 15,24). etwa in der ursprçnglichen Gestalt der Sozia-
len Marktwirtschaft, im Nachkriegsdeutsch-
Macht, die nicht Gottes eigene Macht ist, land aufs Beste bewåhrt. Wer sich politisch
sondern von Menschen çber Menschen, ist betåtigt, ist wie jeder Christ zuerst und un-
nicht von sich aus, nicht von vornherein und eingeschrånkt seinem Gewissen verpflichtet.
grundsåtzlich schon gut. Das gilt im Politi- Zugleich sieht er sich jedoch von den genann-
schen ebenso wie in den Machtverhåltnissen ten und anderen inhaltlichen Vorgaben des

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kirchlichen Lehramtes im Bereich des politi- demokratischen Gemeinwesens ¹Demokratie
schen Lebens herausgefordert, die fçr den braucht Tugendenª vorstellten, dann nicht
Katholiken verpflichtenden Charakter haben. zuletzt deshalb, weil wir damals wie heute
So hebt die ¹Lehrmåûige Note zu einigen unser demokratisches Gemeinwesen vor Auf-
Fragen çber den Einsatz und das Verhalten gaben sehen, die mit Routinepolitik nicht zu
der Katholiken im politischen Lebenª 2 der bewåltigen sind. Erschçttert ist die Vision,
Kongregation fçr die Glaubenslehre (2002) alle Individualinteressen fçgten sich harmo-
unmissverståndlich hervor, ¹dass das gut ge- nisch zum Gemeinwohl, wenn man sie aus-
bildete christliche Gewissen niemandem ge- schlieûlich den bekannten Marktmechanis-
stattet, mit der eigenen Stimme die Umset- men oder der Hand des Staates çberlasse. Wir
zung eines politischen Programms zu unter- sind damals wie heute çberzeugt: Demokra-
stçtzen, in dem die grundlegenden Inhalte tische Institutionen kænnen auf Dauer ihre
des Glaubens und der Moral durch alternati- Funktion nur erfçllen, wenn die politisch
ve oder diesen Inhalten widersprechende Vor- Handelnden Grundhaltungen erkennen las-
schlåge umgestoûen werdenª 3. Besonders die sen, die çber die Strategieregeln des Erwerbs
Gefåhrdungen des menschlichen Lebens, des- und Erhalts von Macht und Einfluss hinaus-
sen Wçrde und Schutz an seinem Anfang und gehen. Wir als Kirchen wollen uns diesem
Ende vielfach nicht mehr gewåhrleistet ist, Diskurs anbieten, weil wir glauben, dass ge-
machen solche Klarstellungen unvermeidbar. rade von uns das erwartet wird: nicht Politik
zu machen, sondern fçr eine Werteorientie-
So wenig wie es gençgt, die Globalisierung rung in der Politik einzutreten, in deren Zen-
einzig als eine Herausforderung fçr Úkono- trum die Wçrde jedes Menschen, die Achtung
men zu sehen, so wenig gençgt es, die immer der Menschenrechte und die Ausrichtung am
neuen Mæglichkeiten der Bio- und Gentech- Gemeinwohl stehen.
nologien fçr ein nur wissenschaftliches und
technisches Problem zu halten, das man ge- Hier braucht es çberzeugte und çberzeu-
trost den Fachleuten çberlassen kann. Zweifel- gende Christen als Gespråchspartner, als
los: Unsere Gesellschaft, unsere Welt kommt Handelnde, als Mitwirkende und Mitgestal-
ohne Expertenwissen nicht aus. Aber die Ver- tende in Demokratie und Gesellschaft. Als
antwortung fçr den Umgang mit diesem Wis- Christen geben wir Zeugnis, und ich bin
sen geht uns alle an, so wie wir die Folgen ± die çberzeugt: Wir mçssen noch mehr Zeugnis
positiven wie die negativen ± tragen. wagen! In der Úffentlichkeit, im Raum des
Gemeinwohls, als Individuen, die diesen
Hier, meine ich, sind Christen besonders Staat mittragen und prågen: Das Wirken von
gefordert, durch Wort und Tat zu zeigen, was Christen in die Zivilgesellschaft hinein ist un-
es heiût, in Verantwortung vor Gott und den çbersehbar und vor allem unverzichtbar. Es
Menschen zu leben. Dies bedeutet, dass Chris- offenbart nicht nur die Notwendigkeit des
ten weder eine Kontrastgesellschaft, eine Art Mitwirkens, sondern zeugt vom hohen mora-
christliche Sonderwelt bilden, in der sie abge- lischen Auftrag des Christen, Politik und Ge-
schlossen von gesellschaftlichen Entwicklun- sellschaft in einer Demokratie aktiv mitzuge-
gen fçr sich leben, noch zu den Zaungåsten stalten. Diesem Auftrag darf sich ein Christ
der Gesellschaft zåhlen. Vielmehr stehen sie in nicht entziehen, weshalb es die Notwendig-
der Verantwortung, als Christen und Glieder keit gibt, sich aktiv im demokratischen Ge-
der Gesellschaft in diese hineinzuwirken und schehen ± zum Beispiel durch die Beteiligung
den Blick insbesondere auf diejenigen zu rich- an Wahlen ± zu engagieren.
ten, die von der Gesellschaft ausgeschlossen
sind oder deren Stimme nicht gehært wird. Mehr Zeugnis wagen ± in der Demokratie!
Das wçnsche ich mir. Auch und gerade mit
Wenn wir uns, die Deutsche Bischofskon- Blick auf die bevorstehenden Wahlen und die
ferenz und der Rat der Evangelischen Kirche, anstehenden Aufgaben in unserem Land, in
im Jahr 2006 gemeinsam zu Wort gemeldet Europa und der Welt.
haben, als wir das Wort zur Zukunft unseres

2 Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 158,

Bonn 2002.
3 Ebd., S. 11.

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Bischof Wolfgang Huber frçhere Pråses der EKD-Synode Jçrgen
Schmude: ¹Die Kirche war der einzige demo-

Christen in der kratische Sektor in der DDR.ª 2

Christen, wohin das Auge schaut? Das war

Demokratie keineswegs immer so. Die Christen haben


lange gebraucht, um ein konstruktives Ver-
håltnis zur Demokratie zu finden. Ich habe
Aspekte dieses mçhevollen, aber erfolgrei-

C hristen, wohin das Auge schaut! So chen Zueinander-Findens an anderen Stellen


kænnte man fast etwas çberrascht fest- nachgezeichnet. 3 Noch in der Weimarer Re-
stellen, wenn man die Geschichte der Bun- publik war die groûe Mehrzahl der deutschen
desrepublik Deutschland unter dem Ge- Pfarrer demokratiekritisch bis -feindlich ein-
sichtspunkt ihrer fçhrenden politischen Per- gestellt. Und noch lange nach dem Zweiten
sænlichkeiten çberblickt. Vom ersten Bundes- Weltkrieg, 1959, konnte sich mein Vorgånger
pråsidenten Theodor Heuss çber Gustav im Amt des Ratsvorsitzenden der Evangeli-
Heinemann und Richard von Weizsåcker, schen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof
çber Roman Herzog Otto Dibelius, eine Obrigkeit letztlich nur in
und Johannes Rau bis patriarchalischen Formen denken. Eine de-
Bischof Wolfgang Huber zum amtierenden Prå- mokratisch gewåhlte Regierung besaû fçr
Dr. theol., Dr. h. c., geb. 1942; sidenten Horst Kæhler ihn, da sie prinzipiell abwåhlbar war, keine
seit 1994 Bischof der Evangeli- war das Amt des Bun- wirkliche Autoritåt. Aber selbst fçr den Men-
schen Kirche Berlin-Branden- despråsidenten çber tor der Bekennenden Kirche, Karl Barth, der
burg-schlesische Oberlausitz, weite Strecken christ- in der Schweiz Demokratie von der Pike auf
Vorsitzender des Rates der lich, ja, sogar deutlich gelernt hatte, waren politische Parteien ¹eines
Evangelischen Kirche in protestantisch geprågt. der fragwçrdigsten Phånomene des politi-
Deutschland (EKD), Herrenhäu- Im Blick auf die Bun- schen Lebens; keinesfalls seine konstitutiven
ser Straûe 12, 30419 Hannover. deskanzler kann man Elemente, vielleicht von jeher krankhafte, auf
pressestelle@ekd.de ebenfalls eine christli- jeden Fall nur sekundåre Erscheinungenª. 4
che Prågung konsta- Fçr die evangelische Kirche ± und zwar kei-
tieren: Vom ræmisch-katholischen ¹Grçn- neswegs nur in ihrer lutherischen Gestalt ±
dungsª-Kanzler Konrad Adenauer çber den blieb die Demokratie lange Zeit ein Wagnis,
pragmatischen Verantwortungsethiker Hel- dem man sich erst stellen zu kænnen meinte,
mut Schmidt, der sich freilich im hohen Alter als andere zu Recht långst schon ¹mehr Demo-
nur noch mit Einschrånkungen als Christ be- kratie wagenª (Willy Brandt 1969) wollten.
zeichnen mæchte, 1 bis hin zur evangelischen Dem langen Weg Deutschlands nach Westen
Bundeskanzlerin, der Pastorentochter Angela (Heinrich August Winkler) entspricht ein lan-
Merkel, haben Christen auch dem politisch
wichtigsten Amt der deutschen Demokratie
1 ¹Ich hatte keinerlei Gewissenszweifel, den Amtseid
ihren Stempel aufgedrçckt.
unter Anrufung Gottes zu schwæren; jedoch bezweifle
ich, daû Martin Luther oder der Vatikan mich als
Das sind zwei Beispiele dafçr, dass das de- Christen anerkennen wçrden.ª Helmut Schmidt, Au-
mokratische Gemeinwesen Deutschlands und ûer Dienst: Eine Bilanz, Mçnchen 2008, S. 298.
somit die Geschichte unserer Republik durch 2 Jçrgen Schmude, Glaube mischt sich ein: Zum Ver-

das Wirken von Christen in leitenden politi- håltnis von Protestantismus und Demokratie, Neu-
schen Ømtern mitgeprågt sind. Christen sind kirchen-Vluyn 2001, S. 106.
3 Vgl. Wolfgang Huber, Protestantismus und Demo-
es auch, die eine fçhrende Rolle bei der fried-
kratie, in: ders. (Hrsg.), Protestanten in der Demo-
lichen Revolution in der DDR vor zwanzig kratie, Mçnchen 1990, S. 11 ±36; ders., Demokratie
Jahren spielten. Sie haben durch ihre Mitar- wagen: Der Protestantismus im politischen Wandel
beit an den Runden Tischen, aber auch durch 1965± 1985, in: S. Hermle/Cl. Lepp/H. Oelke (Hrsg.),
ihren Beitrag als Mitgrçnder und Mitgestalter Umbrçche: Der deutsche Protestantismus und die so-
in den politischen Parteien der ersten frei ge- zialen Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren,
Gættingen 2007, S. 383±399.
wåhlten DDR-Volkskammer einen gewalt- 4 Karl Barth, Christengemeinde und Bçrgergemeinde,
freien und geordneten Ûbergang in die Berli- in: ders., Rechtfertigung und Recht ± Christenge-
ner Republik mæglich gemacht. Zu Recht meinde und Bçrgergemeinde ± Evangelium und Ge-
schreibt der ehemalige Bundesminister und setz, Zçrich 1998, S. 74 f.

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ger, nicht immer rçhmlicher Anmarschweg stehen. Aus Sicht des christlichen Glaubens
der evangelischen Christenheit zur Demokra- sind Menschenwçrde und Menschenrechte
tie. Aber immerhin: Die Kirchen kamen in ihr Kategorien, die in der Gottebenbildlichkeit
an. Im Jahr 1985 erschien die Demokratie- des Menschen wurzeln. Die gebotene Nåchs-
Denkschrift 5 des Rates der EKD. Sie wurde tenliebe hat ebenso wie die ebenfalls zu ihm
von der Kammer fçr Úffentliche Verantwor- gehærende Feindesliebe die anderen Men-
tung der EKD 6 unter Vorsitz des Mçnchner schen als von Gott geliebte Personen im
Theologen Trutz Rendtorff erarbeitet. Der Rat Blick; eben deshalb ist diese Liebe auf Frie-
und die Synode der EKD eigneten sich dieses den und Gerechtigkeit im zwischenmenschli-
Dokument ausdrçcklich an. 7 chen Miteinander ebenso wie im Feld der Po-
litik gerichtet. Eine christliche Tugendlehre
¹Christen in der Demokratieª ist auch die enthålt daher als Grundelement immer die
Ûberschrift çber ein Zukunftsprojekt von Achtung und den Respekt vor der Wçrde des
hoffentlich unabsehbarer Dauer. Denn die Einzelnen. Die in seiner Gottebenbildlichkeit
christlichen Kirchen sind dem freiheitlich-de- wurzelnde, unverlierbare und unantastbare
mokratischen Gemeinwesen dankbar fçr die Wçrde des Menschen gehært nach der viel zi-
Bedingungen, unter denen sie hier und heute tierten These Ernst-Wolfgang Bæckenfærdes
existieren kænnen. Sie sind froh çber die zu den Voraussetzungen, auf denen der frei-
politische und rechtliche Ordnung und die heitliche, såkularisierte Staat beruht, die er
vorzçglichen Gestaltungsmæglichkeiten, die selbst aber nicht garantieren kann. 10
diese fçr Individuen, politische und zivile
Akteure bietet. Mehr als das: Sie sind in Die Kirchen bekennen sich ± das ist eine
hohem Maûe solidarisch mit der Demokratie, Pointe des Gemeinsamen Wortes von 2006 ±
bejahen sie und sind bereit, sie gegen Gegner klar zu der Verantwortung, die sie fçr das de-
und Feinde, bei Herausforderungen und in mokratische Gemeinwesen tragen. Sie identi-
Gefahren zu unterstçtzen und zu verteidigen. fizieren 11 bçrgerliche und politische Tugen-
Zu Recht behauptet Christof Gestrich: ¹Im den, die fçr das Gelingen eines Gemeinwe-
heutigen Europa gehæren die Kirchen im sens ebenso nætig sind wie eine gute
Zweifelsfall zu den çberzeugtesten Verteidi- Verfassung und rechtlich bestimmte Institu-
gern der Demokratie.ª 8 Einen aktuellen tionen. Ich hebe drei der im Gemeinsamen
Beleg fçr diese These bietet das Gemeinsame Wort von 2006 genannten Beispiele hervor.
Wort der beiden groûen Kirchen in Deutsch-
land: ¹Demokratie braucht Tugendenª. 9 . Von allen christlichen Bçrgerinnen und
Bçrgern ist Selbstverantwortung gemåû dem
Sowohl in der Demokratie-Denkschrift Subsidiaritåtsprinzip zu erwarten, ebenso die
von 1985 als auch im Gemeinsamen Wort von Bereitschaft, sich zu informieren und zu en-
2006 werden die Affinitåten skizziert, die gagieren. Zivilcourage und Verståndigungsbe-
zwischen Christentum und Demokratie be- reitschaft sind wichtige Ressourcen; ebenso
die Ausçbung des Wahlrechts und die Acht-
5 Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. ung von demokratischen Parteien als unent-
Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Auf- behrliche Instrumente der politischen Wil-
gabe. Eine Denkschrift der EKD, Gçtersloh 1985. lensbildung. Die wichtigste Aufgabe der
6 Diese Kammer ist das ålteste heute noch bestehende
Christen in der Demokratie ist es, fçr diese
ståndige Beratungsorgan des Rates der EKD. Ich war und die sie fçhrenden Politiker zu beten.
lange und gerne Mitglied in ihr und hatte das Glçck, unter
dem Vorsitz von Trutz Rendtorff bei der Entstehung der . Christlich motivierte Politikerinnen und
Demokratie-Denkschrift mitwirken zu kænnen.
7 Vgl. Evangelische Christen in unserer Demokratie:
Politiker haben sich in ihrem Handeln am
Beitråge der Synode der Evangelischen Kirche in Gemeinwohl zu orientieren und nicht an par-
Deutschland. Mit einem Vorwort von Jçrgen Schmude,
hrsg. von Eberhard Jçngel/Roman Herzog/Helmut 10 Vgl. Ernst-Wolfgang Bæckenfærde, Staat, Gesell-

Simon, Gçtersloh 1986. schaft, Freiheit, Frankfurt/M. 1976, S. 60.


8 So Christof Gestrich in seiner Einfçhrung zu: ders. 11 Es geht zunåchst um Identifikation, weniger um ei-

(Hrsg.), Die herausgeforderte Demokratie. Beiheft zur nen bloûen, womæglich folgenlosen Appell. Es geht
Berliner Theologischen Zeitschrift, 20 (2003) 9. aber auch von Anfang an um Ermutigung. Als Kirchen
9 Demokratie braucht Tugenden: Gemeinsames Wort wollen wir den ¹Christen in der Demokratieª Mut
des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonfe- machen, in diesem Gemeinwesen in ihren jeweiligen
renz zur Zukunft unseres demokratischen Gemein- Rollen solidarisch, konstruktiv und kritisch mitzu-
wesens, Gemeinsame Texte 19, Hannover-Bonn 2006. wirken.

APuZ 14/2009 7
tikularen Interessen. Sie sollten den Mut sens. Beides muss zusammenkommen ± und
haben, die Wahrheit zu sagen und das als darçber hinaus bedarf es einer begrçndeten
richtig Erkannte zu tun, auch wenn sie da- und tragfåhigen Hoffnung in den Herzen der
durch unpopulår werden. Sie sollten fair und Menschen. 14 Christen in der Demokratie hof-
standhaft im Dialog sein und auf die gewalt- fen darauf, dass Gott diese Welt nicht im Stich
lose Kraft des besseren Arguments vertrauen. låsst, sondern sie begleitet, und dass er fçr das
Und sie sollten bestrebt sein, die Qualitåt der Leben auf dieser Erde eine gute Zukunft will.
æffentlichen Administration zu verbessern,
wo immer dies mæglich ist. Christen in der Demokratie leben nicht au-
ûerhalb der Welt, sondern mitten in der Ge-
. Von Journalistinnen und Journalisten, die sellschaft. Sie sind freilich auch nicht ihr Zen-
sich als Christen verstehen, darf man Wahr- trum und kænnen und wollen dies nicht wer-
haftigkeit, Mut, die Fåhigkeit zur Selbstkritik, den. Kaum ein Gedanke liegt der
Sorgfalt bei der Recherche und in der Dar- Christenheit in der Gegenwart ferner als der
stellung, Unbestechlichkeit und Nonkonfor- an eine christliche Theokratie. Indem Chris-
mismus erwarten. Nur so kænnen sie ihre ten inmitten der demokratischen Gesellschaft
Aufgabe als ebenso kritisches wie partner- leben, stehen sie zugleich zu ihr in einem Ver-
schaftliches Gegençber zur Politik glaubhaft håltnis kritischer Solidaritåt. Sie identifizieren
wahrnehmen. sich mit der Demokratie, glorifizieren sie
¹Demokratie braucht Tugendenª hat sich mit aber nicht. Sie treten fçr die Demokratie ein,
Bedacht auf Aussagen çber das politische weil sie unter allen Staatsformen am realis-
System im engeren Sinne des Wortes be- tischsten mit der Fehlsamkeit menschlichen
schrånkt. Deshalb war in dieser Schrift vom Handelns und der Verfçhrungskraft der
ækonomischen System keine Rede, also von Macht umgeht. Deshalb sehen sie in der Ge-
der Wirtschaft, den Konzernen, den Unter- waltenteilung, der Verleihung von Herrschaft
nehmen und Banken. Dabei ist es unbestreit- auf Zeit und der Begrenzung von Macht hilf-
bar, dass die Wirtschaft in ganz besonderem reiche Bestimmungsmomente der Demokra-
Maûe Wichtiges zur Stabilitåt und Leistungs- tie. Die Bejahung der Demokratie schlieût ein,
fåhigkeit eines demokratischen Staatswesens dass jede demokratische Ordnung verbesser-
beizutragen hat. Eine starke Wirtschaft kann bar, aber auch verbesserungsbedçrftig ist.
die Demokratie stårken, eine schwache sie
nachhaltig erschçttern. Die Geschichte der Selbst das beste çberhaupt denkbare irdi-
Weimarer Republik belegt dies. In der Wirt- sche Gemeinwesen wird niemals mit dem
schaft tåtige Christen haben besondere Ver- Reich Gottes gleichzusetzen sein. Hierzu ist
antwortung fçr ihr politisches Umfeld. Es mit Paul Tillich zu sagen: ¹Insofern die De-
war folgerichtig, dass die EKD nach dem Ge- mokratisierung politischer Institutionen und
meinsamen Wort und nach der Armutsdenk- Haltungen dem Widerstand gegen die zerstæ-
schrift 12 im Jahr 2008 eine Unternehmer- rerischen Elemente der Macht dient, ist sie
denkschrift 13 veræffentlicht hat. Darin wer- eine Manifestation des Reiches Gottes in der
den Tugenden des Unternehmerstandes Geschichte. Aber es wåre vollkommen ver-
(Innovationsbereitschaft, Kreativitåt, soziale fehlt, demokratische Einrichtungen mit dem
Verantwortung) beim Namen genannt ± und Reich Gottes in der Geschichte zu identifizie-
ebenso, als mægliche Kehrseite der Tugenden, ren.ª 15 Tillich sieht den Grund hierfçr in der
entsprechende Untugenden (Gier, Geiz, so- Zweideutigkeit geschichtlichen Lebens.
ziale Verantwortungslosigkeit). Christen, die in der Demokratie leben, beja-
hen diese Zweideutigkeit und halten sie fçr
Mit Tugenden allein ist freilich noch kein unhintergehbar. Sie kænnen mit ihr leben,
Staat zu machen. Eine gute Verfassung garan- weil sie die Eindeutigkeit der Liebe Gottes
tiert ebenfalls nicht den Erfolg des Gemeinwe- kennen und die Welt in ihrem Licht sehen.

12 Gerechte Teilhabe. Befåhigung zu Eigenverant- 14 Vgl. Demokratie braucht Tugenden (Anm. 9),
wortung und Solidaritåt. Eine Denkschrift des Rates S. 46 ff.
der EKD zur Armut in Deutschland, Gçtersloh 2006. 15 Paul Tillich, Systematische Theologie III, Stuttgart-
13 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Pers-
Frankfurt/M. 19813, S. 438.
pektive. Eine Denkschrift des Rates der EKD, Gçters-
loh 2008.

8 APuZ 14/2009
Bernhard Sutor Der såkulare Staat
Der Staat, wie er sich in der europåischen

Christliche Ethik Neuzeit herausgebildet hat, versteht sich als


weltlich. 1 Nach dem Zerbrechen der christli-
chen Glaubenseinheit in der Reformation

im såkularen und den Konfessionskriegen war der Staat


nicht mehr aus gemeinsamem Glauben legiti-

Staat freiheitlicher
mierbar. Neue Staatstheorien begrçndeten
ihn in der Idee eines Gesellschaftsvertrags.
Seine Zuståndigkeit bezog sich nicht mehr

Verfassung auf den Glauben und das ewige Heil seiner


Bçrger; seine Hauptaufgabe wurde die Wah-
rung des gesellschaftlichen Friedens durch die
Mittel weltlichen Rechts. Dieses erhob nicht
mehr den Anspruch auf Wahrheit, sondern
auf Verbindlichkeit. Die Theorie ist klassisch

E in paar aktuelle Streiflichter auf unser


Thema: Zur Feier des Tages der Deut-
schen Einheit findet ein ækumenischer Got-
zusammengefasst bei Thomas Hobbes: Auc-
toritas, non veritas facit legem ± Autoritåt,
nicht Wahrheit schafft Recht. Der Rçckzug
tesdienst statt; eine evangelische Bischæfin des Staates aus dem Streit um religiæse Wahr-
und ein katholischer Bischof predigen vor der heit geschah schrittweise, er ermæglichte aber
versammelten politi- zugleich Religionsfreiheit und Religionsfrie-
schen Prominenz. Der den. Religion und Kirchen mçssen deshalb
Bernhard Sutor
Bundesminister fçr auch um ihrer selbst willen Weltlichkeit und
Dr. phil., geb. 1930;
Verteidigung dankt religiæse Neutralitåt des modernen Staates
Prof. em. für Politische Bildung
den Kirchen fçr den anerkennen.
und Sozialethik an der Katholi-
Dienst der Militår-
schen Universität Eichstätt-
seelsorge. In Frank- Das war fçr die Kirchen ein langer, schwie-
Ingolstadt, Buchtal 32,
reich wird Pråsident riger Weg. Die åltere Vorstellung vom christ-
85072 Eichstätt.
Nicolas Sarkozy von lichen Gemeinwesen kannte zwar die zwei
eva.vierring@kuei.de
den einen kritisiert, Gewalten, die geistliche und die weltliche.
von anderen vertei- Aber letztlich sollte die Christenheit gemåû
digt, weil er den Papst offiziell empfangen dem gemeinsamen Glauben regiert werden.
hat. In Spanien protestieren Bischæfe mit Mil- Diese Vorstellung blieb bis weit ins 19. Jahr-
lionen Katholiken gegen ein liberales Abtrei- hundert in den Kirchen måchtig. In den evan-
bungsgesetz und gegen die Einfçhrung der gelischen Landeskirchen Deutschlands ver-
¹Homoeheª. Die feierliche Amtseinfçhrung standen sich die Landesherren als christliche
des neuen Pråsidenten der USA wird eingelei- Obrigkeit. Fçr die katholische Staatslehre
tet und beendet durch Gebete zweier Pasto- formulierte Papst Leo XIII. (1878±1903)
ren; Barack Obama leistet den Eid auf die zwar einerseits, Heilssorge sei nicht Aufgabe
Verfassung, indem er eine Hand auf die Bibel des Staates, sondern der Kirche, und diese sei
legt. Der Verfassungskonvent der Europå- neutral gegençber den Staatsformen; er hielt
ischen Union lehnt die Aufnahme eines aber andererseits am Ideal des christlichen
¹Gottesbezugsª in den Verfassungsvertrag Staates fest, der im Einvernehmen mit der
ab. Kirche und deren Lehren seine weltlichen
Aufgaben wahrnehmen sollte.
Wie steht es mit der angeblichen ¹Privatsa-
cheª Religion im weltlichen Staat der angeb- Heute sieht die christliche Theologie und
lich såkularisierten westlichen Gesellschaf- Sozialethik in Ûbereinstimmung mit der poli-
ten? Unsere Beispiele zeigen, dass einfache tischen Philosophie klarer als frçher, dass die
Formeln das Verhåltnis nicht erfassen kæn- Såkularisierung auch eine geschichtliche
nen. Unsere Frage lautet, ob christliche Ethik
einen legitimen Ort im såkularen Staat hat; 1 Vgl. Josef Isensee, Staat, in: Anton Rauscher (Hrsg.),
ob sie Einfluss nehmen darf und soll auf des- Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin 2008,
sen Gestaltung und Politik. S. 741 ff.

APuZ 14/2009 9
Folge christlichen Glaubens ist. Dieser relati- der Person und macht deren Wçrde zum Le-
viert als Glaube an einen transzendenten gitimationsgrund des freiheitlichen Staates.
Gott alle irdischen Måchte und macht ihren Die Verfassungsvåter der USA berufen sich
Absolutheitsanspruch unmæglich. Er unter- auf ursprçngliche, vom Schæpfer verliehene
scheidet ¹zwei Reicheª (¹Mein Reich ist Freiheitsrechte des Menschen.
nicht von dieser Weltª, Johannes-Evangelium
18,36); er stellt die Gewissensçberzeugung So wurde der såkulare Staat zum freiheitli-
des Einzelnen çber den Gehorsam gegençber chen Verfassungsstaat, der auf dem Konsens
dem Gesetz (¹Man muss Gott mehr gehor- seiner Bçrger in grundlegenden Wertçberzeu-
chen als den Menschenª, Apostelgeschichte gungen grçndet und auf dessen ståndige Er-
5,29); er leitete ein Auseinandertreten von neuerung angewiesen ist. In der freiheitlichen
Religion und Politik, von Staat und Kirche Verfassung bindet sich der Verfassungsgeber
ein und wurde im Laufe der abendlåndischen an Grundwerte. Mit seiner freiheitlich-offe-
Geschichte zum Element fortschreitender nen und zugleich wertgebundenen Verfassung
Gewaltenteilung. realisiert der Staat, dass er nicht souverån
çber der Gesellschaft schwebt, sondern von
Der frçhere Widerstand der Kirchen gegen dieser getragen wird; dass er aus den morali-
den såkularen Staat wird historisch bis zu schen und sozialen Ressourcen der Gesell-
einem gewissen Grad verståndlich, weil sich schaft lebt. Ernst-Wolfgang Bæckenfærde hat
mit diesem, vor allem in der Franzæsischen das in dem bekannten, viel zitierten Diktum
Revolution, massive Religions- und Kirchen- formuliert, dieser Staat lebe von Vorausset-
feindlichkeit, aber zugleich auch der Versuch, zungen, die er selbst nicht garantieren kæn-
Glauben und Kirche dem neuen Staat dienst- ne. 3 Das muss man nicht çberspitzen. Selbst-
bar zu machen, verband. Allgemein gilt in verståndlich kann auch dieser Staat durch das
den westlich-demokratischen Staaten heute Wirken seiner Verfassungsorgane gemåû
das Prinzip: freie Kirche im freien Staat. 2 ihren Funktionen und ihrem Sinn zur Verle-
bendigung seiner Grundwerte und zum Kon-
sens seiner Bçrger beitragen. Aber ihren Sinn
Såkularer Staat ± freiheitlicher erfçllen seine Institutionen immer nur, wenn
Verfassungsstaat ± freie Gesellschaft sie von handelnden Bçrgern getragen, wenn
ihr Sinn von diesen angenommen und vollzo-
Diese Formel gibt noch keine hinlångliche gen wird. Es ist die Úffentlichkeit einer frei-
Antwort auf unsere Frage nach dem Ort der en, pluralistischen Gesellschaft, aus welcher
Kirchen und ihrer Ethik in und gegençber der freiheitliche Verfassungsstaat lebt. Sie
dem Staat. Die Typisierung des Staates als trågt, formt, fordert und færdert den Staat.
¹såkularª gençgt nicht zur Kennzeichnung Damit ist der Ort markiert, an dem christli-
freiheitlicher Demokratien. Schon in seinen che Ethik ihre Bedeutung fçr den såkularen
Anfången sollte der såkulare Staat zwar reli- Staat erweisen kann und soll.
giæs neutral sein, konnte aber keineswegs
wertneutral aus einem nur formalen Gesell- Der freiheitliche Staat gibt den Raum der
schaftsvertrag begrçndet werden. Sein Gesellschaft frei. Er beansprucht zwar Allzu-
Hauptziel Friede wurde in den Vertragstheo- ståndigkeit fçr die rechtliche Ordnung des Zu-
rien der Aufklårung unterschiedlich begrçn- sammenlebens seiner Bçrger, aber diese Ord-
det und ausgelegt. Thomas Hobbes grçndet nung zielt auf åuûere Sicherung und auf Ge-
seinen ¹Leviathanª auf einem pessimistischen wåhrleistung von Freiheiten, nicht auf eine
Menschenbild. John Locke geht dagegen von umfassende, sittlich gegrçndete Lebensord-
Vernunft und Freiheitsrechten des Menschen nung wie der vormoderne Herrschaftsver-
aus und kommt zu einer konstitutionellen band. Der moderne Staat ist nicht mehr socie-
Ordnung. Bei Jean-Jacques Rousseau schlågt tas perfecta im Sinn der vormodernen Staats-
naturalistischer Individualismus in die kollek- ethik, nicht mehr umfassende Lebensordnung,
tive Ordnung des Gesellschaftsvertrags um. sondern auf bestimmte Funktionen zurçckge-
Immanuel Kant begrçndet die rechtsstaatli- nommene Rechtsordnung. Im Unterschied zu
che Republik aus der sittlichen Autonomie modernen totalitåren Systemen ist er nicht auf

2 Vgl. Otto Depenheuer, Kirche ± Staat ± Gesellschaft, 3 Vgl. Ernst-Wolfgang Bæckenfærde, Der såkulari-

in: ebd., S. 935 ff. sierte Staat, Mçnchen 2007, S. 43 ff., hier: S. 71.

10 APuZ 14/2009
die ideologische Durchdringung des gesell- richtungen ist und sein muss. 5 Subsidiaritåt ist
schaftlichen Lebens ausgerichtet. Er akzeptiert das Ordnungsprinzip fçr eine freiheitliche Ge-
vielmehr die religiæse, kulturelle und soziale sellschaft: Was Personen und personennahe
Vielfalt der Gesellschaft. Auf Freiheitsrechte Kråfte und Institutionen leisten kænnen, soll
gegrçndet, ermæglicht er das Auseinandertre- man nicht auf personenfernere, sekundåre Ein-
ten und die eigengesetzliche Entfaltung ver- richtungen çbertragen. Der Staat soll seine
schiedener sozialer Daseins- und Leistungsbe- Kompetenzen immer subsidiår verstehen und
reiche wie etwa Kunst und Kultur, Wissen- wahrnehmen, also nicht an sich ziehen, was in
schaften, Wirtschaft, æffentliche Meinung der freien Gesellschaft und durch ihre Einrich-
sowie die private Lebensfçhrung der Bçrger tungen geleistet werden kann.
nach ihren eigenen Vorstellungen im Rahmen
der Gesetze: ¹Nicht im Staat stellt sich heute Allerdings steckt in Subsidiaritåt das Wort
die Einheit der Lebenswelt dar, sondern in der subsidium, Hilfe. Die Menschen und ihre un-
Person des Menschen, die sich ihrer Individua- mittelbaren Einrichtungen haben Anspruch
litåt gemåû in den verschiedenen Lebensberei- auf Hilfe entfernterer, stårkerer, auch staatli-
chen entfaltet.ª 4 cher Instanzen, wo ihre Kråfte nicht ausrei-
chen. Damit kommt das Prinzip der Solidari-
Das Verhåltnis von Staat und Gesellschaft tåt ins Spiel: Es setzt eine ursprçngliche So-
ist doppelseitig. Der Staat gibt private und ge- zialitåt der Menschen voraus und bezeichnet
sellschaftlich-æffentliche Råume nicht nur frei, gegenseitige Hilfe so wie das Einstehen aller
sondern er muss die Entfaltung von Men- fçr die Gesamtheit und der Gesamtheit fçr
schen- und Bçrgerfreiheiten auch schçtzen alle Einzelnen als Pflicht. Nicht alle Solidar-
und færdern; und zwar sowohl um der Men- pflichten kænnen in verbindliches Recht ge-
schen als auch um seiner selbst willen. Die mo- fasst werden; lebendige Solidaritåt leistet
derne Gesellschaft ist durch hohe Komplexitåt mehr, als das Gesetz fordert. Aber die grund-
gekennzeichnet. Die private Lebensfçhrung, legenden gesetzlichen Pflichten des Bçrgers,
die Teilbereiche Wirtschaft, Kultur, Bildung, zum Bestand des politischen Gemeinwesens
Medien erfçllen zwar ihre Funktion nach den gemåû seiner Leistungsfåhigkeit beizutragen,
ihnen eigenen Erfordernissen, sie sind aber zu- sind in der Solidaritåt begrçndet; ebenso die
gleich hochgradig interdependent und kon- Pflichten gegenseitiger Hilfe in den Systemen
fliktreich; sie bedçrfen ståndig der rechtlichen sozialer Sicherung, die man gern als Solidar-
Ordnung durch den Staat. Die richtige Balance einrichtungen bezeichnet. Insofern fordert
zu finden zwischen Freilassen und Ordnen, christliche Sozialethik mehr als åuûeren Ge-
zwischen Sicherung des gesellschaftlichen setzesgehorsam; sie zielt auf innere Loyalitåt,
Friedens und Gewåhrung von Freiheit, ist eine auf Gemeinsinn der Bçrger zu ihrem Staat
schwierige Aufgabe und Gegenstand ståndigen und zu den sozialen Einrichtungen.
politischen Streits zwischen konkurrierenden
Interessen und Ordnungsvorstellungen. Die-
ser Staat kann nicht mehr nur liberaler Rechts- Úffentlichkeit als Ort
staat sein. Er ist auch Sozial- und Kulturstaat.
Seine Zielwerte sind Friede, Freiheit und Ge-
kirchlichen Wirkens
rechtigkeit zugleich und in ihrer Spannung zu-
Es gab und gibt noch einen radikalen Laizis-
einander.
mus. Dieser lebt aus der Vorstellung, um der
religiæsen Neutralitåt des Staates willen
In der Katholischen Soziallehre wurden in
mçsse alles Religiæse aus der Úffentlichkeit
Auseinandersetzung mit diesen Problemen
verbannt werden. Aber Úffentlichkeit ist viel
seit dem 19. Jahrhundert zwei Sozialprinzipien
mehr als æffentliches Staatshandeln. Es gibt
formuliert, die zwar keine Læsungen vorgeben,
die Úffentlichkeit der gesellschaftlichen
aber orientierend wirken im Ringen um die
Kråfte und Einrichtungen, ihren Prozess der
nætige Balance: Subsidiaritåt und Solidaritåt.
Auseinandersetzung mit Fragen von allge-
Beide grçnden im Fundamentalsatz dieser
meiner Bedeutung, ihr Einwirken auf politi-
Lehre, wonach die menschliche Person der
sche Meinungs- und Willensbildung. Es gibt
Gesellschaft bedarf, aber ihrerseits Ursprung,
Tråger und Ziel aller gesellschaftlichen Ein- 5 Vgl. Bernhard Sutor, Politische Ethik. Gesamtdar-

stellung auf der Basis der Christlichen Gesellschafts-


4 J. Isensee (Anm. 1), S. 763. lehre, Paderborn 1991, S. 19 ff.

APuZ 14/2009 11
die Wahrnehmung æffentlicher Aufgaben diesem Sinn vereinnahmen lassen. Aber dass
durch Einrichtungen gesellschaftlicher Kråfte sie indirekt durch ihr Dasein und ihr Wirken
in der Arbeitswelt (Tarifparteien), in Wissen- zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitra-
schaft (Universitåten und Akademien), Kultur gen, ist dennoch zu wçnschen und liegt auch
(Theater, Museen), Erziehung und Bildung im Interesse des Staates.
(Kindergårten und Schulen) sowie im Gesund-
heitswesen. Es grenzt an Aberwitz, Religion
und Kirchen aus diesem breiten Tåtigkeitsfeld
Christliche Ethik
verbannen zu wollen. Dieses Feld gehært in im æffentlichen Diskurs
einer freien Gesellschaft nicht dem Staat. Er
muss darin zwar fçr die nætige rechtliche Ord- Ûber dieses indirekte ethisch-politische Wir-
nung sorgen, er kann die darin handelnden ken hinaus beteiligen sich die Kirchen am æf-
Kråfte mæglicherweise auch unter Wahrung fentlich-politischen Diskurs durch Sozialleh-
von Paritåt færdern. Aber er kann sie gerade re und Sozialethik. Sie stellt sich heute in
auch um seiner Neutralitåt willen nicht absor- groûer thematischer Breite dar. Im katholi-
bieren wollen. schen Verståndnis gehært sie zur Verkçndi-
gung der christlichen Botschaft, ¹weil sie
Christliche Kråfte wirken in vielfåltigen deren konkrete Auswirkungen fçr das Leben
Gruppierungen und Einrichtungen in diesem in der Gesellschaft vor Augen stellt und
æffentlichen Bereich. Die christlichen Kir- damit die tågliche Arbeit und den mit ihr
chen verstehen ihr Wirken als Ausdruck eines verbundenen Kampf fçr die Gerechtigkeit in
Úffentlichkeitsauftrags. In Deutschland ist das Zeugnis fçr Christus, den Erlæser, mit-
dieser vom Staat in spezifischen staatskir- einbeziehtª. 6 Die Sozialthik bezieht sich auf
chenrechtlichen Regelungen anerkannt. Der alle Grundfragen wirtschaftlich-sozialer und
Úffentlichkeitsauftrag wåre aber missverstan- staatlicher Ordnung und global auf Friedens-
den, wenn man ihn als einen spezifisch politi- sicherung, Entwicklungs- und Umweltpoli-
schen deuten wçrde. Er zielt nicht einmal in tik. Dabei geht es ihr nicht um einzelne
erster Linie auf Moral und Ethik. Vielmehr Fachfragen und Konflikte, sondern um den
meint er das Recht und die Pflicht der Kir- Versuch, in ihnen enthaltene ethische Fragen
chen, in der Úffentlichkeit zu wirken. Fçr die aus christlicher Sicht zu beantworten. Das
Kirchen folgen Recht und Pflicht dieser Art Zweite Vatikanische Konzil formulierte
aus ihrem Selbstverståndnis, und sie nehmen dazu, die Kirche solle ¹Zeichen und Schutz
damit zugleich das Recht auf korporative Re- der Transzendenz der menschlichen Person
ligionsfreiheit in Anspruch. Der Bezug kirch- seinª. 7 Hier ist der Kern dessen bezeichnet,
lichen Handelns auf Úffentlichkeit gilt fçr was auch die Verfassung des profanen Staa-
alle kirchlichen Grundvollzçge, fçr Verkçn- tes, z. B. das Grundgesetz, als Bezugspunkt
digung, Gottesdienst (Liturgie) und Diakonie aller Politik postuliert: die unantastbare
(Caritas). In ihnen erfçllen Kirchen ihre spe- Wçrde des Menschen und die aus ihr be-
zifischen Aufgaben. grçndbaren Menschenrechte. Dementspre-
chend geht es heute in der groûen Mehrzahl
Soweit sie das wirksam tun, nehmen sie kirchlicher Wortmeldungen zu Gesellschaft
damit indirekt Einfluss auf Gesellschaft und und Politik um zwei Hauptanliegen: um die
Politik. Sie beeinflussen und færdern mit Sicherung und Færderung der Menschen-
ihrem in sich unpolitischen Wirken Men- rechte und um soziale Gerechtigkeit.
schen, die in Gesellschaft und Politik tåtig
sind. Sie færdern deren aktives Christsein in Dass der Kampf um die Durchsetzung der
der Gesellschaft; sie helfen ihnen, christliche grundlegenden Menschenrechte weltweit
Identitåt zu gewinnen. Sie befåhigen Bçrger, noch lange nicht gewonnen ist, bedarf keiner
aus Motiven ihres Glaubens sozial und poli- nåheren Begrçndung; es ist evident. Aber
tisch tåtig zu sein, und leisten indirekt einen
Beitrag zum Gemeinsinn und zum Gemein- 6 Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus,

wohl. Es ist nicht Aufgabe der Kirchen, der hrsg. von der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn
1991, S. 9.
Gesellschaft gleichsam den Kitt ihres Zusam- 7 II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution ± Die
menhalts zu liefern, etwa in Form bçrgerli- Kirche in der Welt von heute, Nr. 76, in: Karl Rahner/
cher Moral oder einer Zivilreligion. Vor allem Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium,
dçrfen sich die Kirchen nicht vom Staat in Freiburg i.Br. 1991, S. 449 ff., hier: S. 534.

12 APuZ 14/2009
auch in den auf Menschenrechten gegrçnde- indem sie Grenzen menschlichen Handelns
ten freiheitlichen Demokratien wird immer aufzeigt und innerweltliche Heilslehren oder
wieder um Bedeutung und Reichweite von Utopien zurçckweistª. 8 Darin wird deutlich,
Menschenrechten und um den Schutz der dass in christlicher Ethik Weltzuwendung
Menschenwçrde gestritten. Zumal an den und Weltdistanz zugleich wirksam werden
umstrittenen Fragen nach Beginn und Ende sollen. In vergleichbarer Weise hat Bæcken-
des menschlichen Lebens, konkreter daran, færde von drei Funktionen gesprochen: Wert-
ob und wie gesetzliche Regelungen dazu aus- begrçndung; Integration und Gemeinwohl-
sehen sollen, entzçndet sich Streit. Die plura- findung; Kritik und Wåchteramt. 9
listische Gesellschaft hat keine gemeinsame
Begrçndung fçr das Bekenntnis ihrer Verfas- Darin stecken freilich auch Gefahren,
sung zur unantastbaren Menschenwçrde. zumal im hohen Anspruch auf ein Wåchter-
Deshalb ist auch die Frage nach der Reich- amt. Es ist sicher richtig zu sagen, in einer Si-
weite ihres von der Verfassung gebotenen tuation eklatanten Unrechts mçsse sich die
Schutzes umstritten. In diesem Meinungs- Kirche klar zu Wort melden, gleichsam pro-
streit ist die Erinnerung von Christen und phetisch reden. Frçhere Versåumnisse werden
Kirchen an ihre ¹starkeª Begrçndung der ihr heute auch von der profanen Gesellschaft
Menschenwçrde aus Geschæpflichkeit und vorgehalten. Aber die Regelform christlicher
Gottebenbildlichkeit des Menschen ein Ethik in der freiheitlich-pluralistischen Ge-
Dienst an Mensch und Gesellschaft, auch sellschaft ist das nicht. Politische Streitfragen
wenn oder gerade weil sie wissen, dass sie berçhren nur im Grenzfall den Kern des
diese Begrçndung nicht allgemein verbindlich Glaubens. Sie sind meist nicht mit einem ein-
machen kænnen. Die pluralistische Gesell- deutigen Ja oder Nein ohne jedes Aber zu
schaft und ihr Staat brauchen Grundwerte, entscheiden. Die kirchliche Soziallehre ist
sind aber oft ratlos in deren Begrçndung. nicht fundamentalistisch. 10 In aller Regel ent-
halten politische Streitfragen Zielkonflikte,
Der groûe andere Bereich kirchlicher die ein Abwågen von Fçr und Wider sowohl
Sorge, soziale Gerechtigkeit, also die Be- der Sachfragen als auch der jeweiligen Situati-
kåmpfung sozialer Not, entspricht der Tradi- on erfordern, zumal im Blick auf ungewollte
tion kirchlicher Diakonie durch die Jahrhun- Folgen. Darin kann auch der Prophet irren,
derte. Unçbersehbar stammen unsere im abgesehen davon, dass er Ermessensurteile
westlichen Kulturkreis selbstverståndlichen und Kompromisse nicht schåtzt. Diese sind
sozialen Einrichtungen aus kirchlicher Tradi- aber in der Politik die Regel, und sie mçssen
tion. Die zahlreichen kirchlichen Einrichtun- gefunden, sie kænnen nicht aus vorgegebenen
gen in diesem Feld sind eine wertvolle Berei- Prinzipien, auch nicht aus gemeinsamen
cherung des Sozialstaats. Sie bringen in ihn Grundwerten deduziert werden.
nicht nur eine im Glauben begrçndete Moti- Auch in den schwerwiegenden Fragen um
vation ein, sondern aus ihrer praktischen Er- ethische Grundwerte (Lebensschutz, Ehe und
fahrung oft auch wichtige Vorschlåge und Familie) muss sich christliche Ethik davor
Forderungen. Man kann etwa ohne Ûbertrei- hçten, immer nur sittlichen Verfall und mora-
bung sagen, dass die Hilfswerke beider Kir- lischen Relativismus anzuprangern und man-
chen maûgeblich die Einsicht in die Notwen- gelhafte staatliche Gesetze anzuklagen. Die
digkeit von Entwicklungshilfe und -politik Gesetze etwa betreffs Abtreibung sind in den
verbreitet haben. Ganz selbstverståndlich westlichen Demokratien aus christlicher Sicht
sind soziale Næte und Probleme immer wie- durchweg mangelhaft; die Regelungen zur
der Gegenstand kirchlicher Sozialverkçndi- Ehescheidung sind allzu liberal, um nicht zu
gung und Sozialethik. sagen lax. Dagegen kænnen und dçrfen Chris-
ten protestieren. Aber keine Frau wird daran
Ihre Bedeutung hat Karl Kardinal Leh- gehindert, ihr Kind auszutragen; kein Ehe-
mann in drei Funktionen gefasst, eine inspi- paar, sich treu zu bleiben bis zum Tod. Nie-
rierende, eine kritisch-korrigierende und eine
transzendierende: ¹inspirierend, indem sie 8 Karl Lehmann, Glauben bezeugen ± Gesellschaft
Beweggrçnde und Kråfte fçr politisches Han-
gestalten, Freiburg i.Br. 1993, S. 379.
deln weckt; korrigierend, indem sie vor Fehl- 9 Vgl. Ernst-Wolfgang Bæckenfærde, Staat ± Gesell-
entwicklungen warnt und solidarisch nach schaft ± Kirche, Freiburg i.Br. 1982, S. 66 f.
besseren Læsungen sucht; transzendierend, 10 Vgl. Johannes Paul II. (Anm. 6), S. 54.

APuZ 14/2009 13
mand wird daran gehindert, Eltern in Not zu ziertes Gegençber. Beide nehmen ihre spezi-
helfen, damit sie ihre Kinder annehmen und fischen Aufgaben unabhångig voneinander
erziehen kænnen. Niemand hindert die Kir- wahr, aber realisieren dabei, dass sie in und
chen an Ehe-, Familien- und Erziehungsbera- aus der selben Gesellschaft leben und ihre
tung und an karitativer Hilfe. In den Anfån- verschiedenartigen Dienste fçr die Gesell-
gen des Streites um ¹Grundwerteª in den schaft in geordneter Kooperation wahrneh-
1970er Jahren hatte Helmut Schmidt deshalb men dçrfen und sollten. Der Kirchenvertrag
nicht ganz Unrecht, wenn er der Kirche ent- eines Bundeslandes mit der Evangelischen
gegenhielt: Tua res agitur ± es geht um deine Kirche sagt das so: Der Vertrag werde ge-
Sache. Die Kirchen kænnen und mçssen in schlossen ¹in Wçrdigung der Bedeutung, die
Wort und Tat fçr ihre und fçr gemeinsame christlicher Glaube und kirchliches Leben
Grundwerte eintreten, auch wenn fçr wçn- und diakonischer Dienst auch im religiæs
schenswerte gesetzliche Regelungen keine neutralen Staat fçr das Gemeinwohl und den
Mehrheit erreichbar ist. Die Klage çber Wer- Gemeinsinn der Bçrger habenª. 11
terelativismus und Werteverfall darf nicht die
Sicht darauf verstellen, dass sie im freiheitli- Der Staat darf die Einlæsung dieser Erwar-
chen Verfassungsstaat die vergleichbar besten tung nicht erzwingen wollen; das wçrde die
Mæglichkeiten haben, ihre Ethik zu lehren kirchliche Autonomie in Frage stellen. Die
und zu praktizieren. Kirche muss diese Erwartung im freien Voll-
zug ihrer Aufgaben erfçllen, ohne sich in den
Die Wege, auf denen Kirchen ihre Sozial- Dienst oder gar in Abhångigkeit von staatli-
ethik vernehmbar machen kænnen, sind viel- chen Institutionen oder politischen Gruppie-
fåltig. Die profane Úffentlichkeit nimmt das rungen zu begeben. Was sie sagt und tut, ist
kaum zur Kenntnis. In der katholischen Kir- indirekt immer auch von politischer Rele-
che sind die sozialen Rundschreiben der Påps- vanz. Aber sie muss es so sagen und tun, dass
te die wichtigste, zwar nicht strikt verbindli- deutlich wird: Es geht im Politischen um
che, aber maûgebliche Form kirchlicher So- hohe menschlich-gesellschaftliche Gçter, aber
zialverkçndigung. Auf nationaler Ebene gibt nicht um den letzten Sinn menschlichen Le-
es Verlautbarungen der Bischæfe und der Bi- bens. Staat und Politik sind auf vorletzte Fra-
schofskonferenzen. Theologische Fakultåten gen in dieser Welt bezogen. Indem die Kir-
und Akademien diskutieren wissenschaftlich chen das erkennbar machen, leisten sie zu-
çber Auslegung und Anwendung kirchlicher gleich auch der freiheitlichen Demokratie den
Soziallehren. Auf der Basis der kirchlichen vielleicht wichtigsten Dienst.
Lehre, aber in relativer Unabhångigkeit vom
kirchlichen Amt handeln ¹Laienª auf allen Denn diese Ordnung ist selbst Ausdruck der
Ebenen in gewåhlten Vertretungen und in So- Vorlåufigkeit, der Unvollkommenheit mensch-
zialverbånden. Schlieûlich gibt es zahlreiche lich-gesellschaftlicher Verhåltnisse. Aus dieser
kirchliche Medien. So ist die Kirche ståndig am urchristlichen Erfahrung speisen sich die Insti-
æffentlichen Gespråch beteiligt. In der massen- tutionen der Teilung und Kontrolle aller Macht,
medialen Úffentlichkeit werden allerdings am die eigenartige Mischung von Vertrauen und
ehesten zugespitzte Aussagen einzelner Amts- Misstrauen gegençber den Herrschenden; die
tråger wahrgenommen. Talkshows tun es nicht Verfahren der Meinungs- und Willensbildung,
unter einem Bischof. Die differenzierte Argu- der Entscheidung und Revision. Das fordert
mentation hat allenfalls bei Fachleuten und Geduld und Beharrlichkeit. Diese politische
nachdenklichen Politikern die Chance, gehært Ordnung ist anspruchsvoll und anstrengend.
zu werden. Sie kænnte verstårkt werden, wenn Eben deshalb verdient sie den Einsatz zumal
die kirchlichen Amtsinhaber die Aussage des der Christen aus ihrer im Glauben grçndenden
Zweiten Vatikanischen Konzils stårker beher- politischen Ethik.
zigen wçrden: Gesellschaft und Politik sind
die vornehmlichen Aufgabenfelder der Laien.
11 Zit. nach: Alexander Hollerbach, Der Staat ist kein

Neutrum, in: Hans Maier (Hrsg.), Das Kreuz im Wi-


Ausblick derspruch. Der Kruzifix-Beschluû des Bundes-
verfassungsgerichts in der Kontroverse, Freiburg i.Br.
1996, S. 35.
Freie Kirche im freien Staat meint kein bezie-
hungsloses Nebeneinander oder gar distan-

14 APuZ 14/2009
Friedrich Wilhelm Graf schenrechtsindividualismus und parlamenta-
rischem Mehrheitsprinzip gerecht werden zu

Christen im kænnen.

Die konfliktreichen, intellektuell spannen-

demokratischen den Wege, auf denen der kirchliche Protes-


tantismus in Deutschland wie auch die ræ-

Verfassungsstaat
misch-katholische Kirche seit den spåten
1940er Jahren allmåhlich demokratiekompa-
tible politische Ethiken entwickelten, kænnen
hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet wer-
den. Das diskursive Feld theologischer Ethik

B eide groûen Kirchen im Lande haben


sich lange sehr schwer damit getan, nor-
mative Prinzipien der modernen parlamenta-
ist zerklçftet, und selbst die Positionen zen-
traler theologischer und kirchenpolitischer
Akteure sind von den Zeithistorikern noch
rischen Demokratie zu akzeptieren. Die kaum erforscht worden. Deutlich ist jedoch:
schon im Vormårz und verstårkt im Kaiser- Beide groûen Kirchen im Lande haben ihre
reich gefçhrten Debatten çber das Verhåltnis çberkommene Demokratiedistanz in harten,
der christlichen Konfessionskulturen zu mo- schwierigen Lernprozessen seit den 1950er
dernen Konzepten von Bçrgerfreiheit, Volks- Jahren zunehmend çberwunden und sind im
souverånitåt, Demo- politischen System der Bundesrepublik
kratie und Rechtsstaat Deutschland zu måchtigen staatstragenden
Friedrich Wilhelm Graf
blieben bis in die Organisationen geworden. Sie haben erhebli-
Dr. theol., geb. 1948; Professor
1970er Jahre hinein chen Anteil an der demokratischen Erfolgsge-
für Systematische Theologie
von hoher Aktualitåt. schichte der Bundesrepublik. Wichtige Grup-
und Ethik an der Ludwig-Maxi-
Denn das neothomis- pen im DDR-Protestantismus kænnen zudem
milians-Universität München,
tische Naturrechts- fçr sich in Anspruch nehmen, mutig eine Vor-
Evangelisch-Theologische
denken im ræmischem reiterrolle in der friedlichen Freiheitsrevoluti-
Fakultät, Schellingstraûe 3 III
Katholizismus oder on von 1989 çbernommen zu haben.
VG/308, 80799 München.
die zumeist sehr auto-
ethik@evtheol.uni-
ritåren Ordnungsethi- Bald kann der Staat des Grundgesetzes sei-
muenchen.de
ken im deutschen Lu- nen 60. Geburtstag feiern. Insoweit scheinen
thertum lieûen es nur die alten Kontroversen çber Christentum,
sehr eingeschrånkt zu, eine vorstaatliche Frei- Konfession und Demokratie nur noch fçr
heit des Einzelnen zu denken und die Ideenhistoriker relevant. Aber dies ist genau
Menschenrechte als normative Grundlage des besehen nicht der Fall. Noch immer kann
parlamentarisch-demokratischen Verfassungs- beim Thema ¹Christen im demokratischen
staates anzuerkennen. Verfassungsstaatª von konfessionskulturellen
Differenzen und auch konfessionspolitischem
Dabei hatten schon im Calvinismus Refle- Streit nicht geschwiegen werden. Folgt man
xionsmuster der intensiv diskutierten politi- den einschlågigen Øuûerungen des ræmischen
schen Ethik hohe Offenheit gegençber De- Lehramtes, dann erwartet ¹die Kircheª vom
mokratie, Volkssouverånitåt und emphati- katholischen Christen in der politischen
scher Bçrgerfreiheit ermæglicht. Zur Arena, ihren normativen Vorgaben und Wei-
Ûberwindung ihrer alten Demokratiefeind- sungen zu folgen. Die protestantischen Ûber-
schaft und auch eines entschiedenen Antilibe- lieferungen hingegen kennen kein ethisches
ralismus nahmen viele lutherische Ethiker Mandat der Kirche, das den einzelnen Chris-
nach 1945 deshalb politische Ordnungskon- ten in seinem politischen Handeln binden
zepte des westeuropåischen, calvinistischen kænnte, auch wenn einzelne und durchaus
Protestantismus auf. Auch im Katholizismus prominente Theologen im 19. und 20. Jahr-
mussten nach dem Ende des Zweiten Welt- hundert immer wieder versucht haben, der
kriegs und in den Prozessen der Neugrçn- Kirche ein ¹prophetisches Wåchteramtª
dung liberaler Rechtsstaaten çberkommene gegençber Staat und Gesellschaft zuzuschrei-
Denkmuster politischer Ethik verabschiedet ben. Weithin durchgesetzt hat sich im Protes-
oder tiefgreifend renoviert werden, um neuen tantismus jedoch eine Sicht, die dem einzel-
rechtlichen Herausforderungen wie Men- nen Christen als Bçrger ganz selbstverstånd-

APuZ 14/2009 15
lich ein Recht auf Selbståndigkeit zuerkennt den oder fçr Diakonie und Caritas. Oft ist ihr
und seine politische Mçndigkeit betont. In Glaube eine starke motivierende Kraft fçr
protestantischer Perspektive handelt der bçrgerschaftliches Handeln, das sich am je
Christ in der parlamentarischen Demokratie gegebenen Ort um Bewåltigung konkreter
aus eigener politischer Einsicht, und er ist Not bemçht.
hier nicht an normative Vorgaben kirchlicher
Institutionen und Instanzen gebunden. Dieses im weiten Sinne politische Handeln
christlicher Bçrgerinnen und Bçrger ist zu
Dies schlieût nicht aus, dass sich die Evan- unterscheiden von der gesellschaftlichen Prå-
gelische Kirche in Deutschland (EKD) regel- senz und politischen Aktion christlicher Or-
måûig zu Grundfragen politischer Ethik åu- ganisationen, allen voran der beiden groûen
ûert und sich durch Denkschriften am æffent- Kirchen. Sie verfolgen, wie jede andere Orga-
lichen Diskurs beteiligt. 1 Die EKD kann mit nisation im pluralistischen Verbåndestaat
solchen Stellungnahmen ihre Sicht zu einem auch, nicht zuletzt organisationsspezifische
umstrittenen Thema oder gesellschaftlichen Interessen, wenn sie sich politisch artikulie-
Problem erlåutern. Auch kann sie dem einzel- ren. Doch muss man den Kirchen zugute hal-
nen Christen Orientierung vermitteln und ten, dass sie oft Themen kommunizieren oder
seine Bereitschaft zu politischem Engagement Probleme aufgreifen, die von anderen gesell-
stårken. Aber sie kann und darf nicht erwar- schaftlichen Akteuren ignoriert werden.
ten, dass sich der einzelne Christ die in kirch- Zudem werden die Kirchen im politischen
lichen Gremien, etwa in den Kammern der Betrieb immer wieder mit der Erwartung
EKD oder von Synoden, erarbeiteten Argu- konfrontiert, in den vielen neuen ethischen
mentationen und Sichtweisen in kritikloser Konflikten Orientierungswissen zu vermit-
Kirchentreue zu eigen macht. Folgt er ihnen, teln. Aber die Vertreter der Kirchen sind, dies
dann nur kraft eigener theologischer und po- ist entscheidend, eben nicht die einzigen und
litischer Einsicht. Deshalb gilt: Die im Fol- auch nicht die wichtigsten Christen in der
genden skizzierten Ûberlegungen spiegeln Demokratie. Jeder Staatsbçrger, der zugleich
die individuelle Sicht des Autors wider, eines Mitglied einer Kirche oder sonstigen christli-
liberalen protestantischen Theologen, der chen Gemeinschaft ist, ist Christ in der De-
stark geprågt ist von Kantischem Republika- mokratie. Und er tut gut daran, genau dies
nismus, freier Theologie des so genannten li- auch in kritischer Distanz zur kirchlichen
beralen Kulturprotestantismus und unfanati- Organisation deutlich zu machen.
schem Denkglauben. 2 Denn in der politischen Kultur der Bun-
desrepublik lassen sich irritierende Phåno-
mene eines neuen Klerikalismus beobachten.
Religiæse Akteure Zum politischen Personal der Berliner Repu-
im æffentlichen Diskurs blik gehæren nicht nur Berufspolitiker aller
mæglichen Couleur, sondern auch eine gern
In der parlamentarischen Demokratie sind moralisierende Klerisei, die zu allem und
Christen in ganz unterschiedlichen Rollen jedem Stellung nimmt und, so ihr Jargon, sich
und Funktionen politisch engagiert: als Wåh- gern ¹einmischtª. Ein medienbewusster Ber-
ler, aktive Mitglieder einer politischen Partei, liner Bischof kommentiert in der ¹Bildª-Zei-
Mandatstråger oder Mitarbeiter in einer zivil- tung empært ein Gerichtsurteil, als ob Rich-
gesellschaftlichen Aktionsgruppe, von Amne- terschelte zu seinen genuinen geistlichen Auf-
sty International çber Greenpeace bis hin zu gaben gehærte. Ein Augsburger Bischof tritt
Tierschçtzern. Viele Christen engagieren sich am ¹politischen Aschermittwochª bei einer
zudem ehrenamtlich in ihren Kirchengemein- Parteiveranstaltung auf, um die Abtreibungs-
praxis in der Bundesrepublik als ebenso ver-
1 Vgl. jetzt die neue sog. Denkschriften-Denkschrift
werflich zu bezeichnen wie die Ermordung
der Kammer fçr Úffentliche Verantwortung der EKD: von sechs Millionen Juden im Nationalsozia-
Das rechte Wort zur rechten Zeit. Eine Denkschrift des lismus. Die Liste von politisch skandalæsen
Rates des EKD zum Úffentlichkeitsauftrag der Kirche,
Gçtersloh 2008.
æffentlichen Øuûerungen hoher kirchlicher
2 Meine Position im vielfåltig verminten Spannungs- Wçrdentråger ist lang.
feld von Religion und Politik habe ich in einem Essay
erlåutert: Moses Vermåchtnis. Ûber gættliche und Wer im demokratischen Rechtsstaat von der
menschliche Gesetze, Mçnchen 20063. Kanzel herab politisch Partei ergreift oder als

16 APuZ 14/2009
prominenter Kirchenvertreter den Zustand len Differenzierung von Politik und Religion,
des Gemeinwesens kritisiert, muss sich seiner- prågnant zwischen innerkirchlicher und all-
seits kritisieren lassen. Ein Bischof hat ja nicht gemeiner demokratischer Úffentlichkeit zu
ex officio Recht, wenn er in politische Debat- unterscheiden. Und speziell mit Blick auf die
ten interveniert oder seine Kritik des bæsen ræmisch-katholische Kirche ist anzuerken-
Zeitgeistes in provokativer Zuspitzung ver- nen, dass es aufgrund der amtstheologischen
kçndet. Er tut de facto nur, was jeder andere Grundunterscheidung von Priestern und
Bçrger auch tun darf und sollte: Er nimmt sein Laien keine Vorstellung einer prinzipiell glei-
Grundrecht auf Meinungsfreiheit wahr, um chen Sachautoritåt von in der Kirche Spre-
sich am æffentlichen Streit çber gebotene poli- chenden geben kann; der Bischof spricht ex
tische Ziele, Wege und Schritte zu beteiligen. officio mit anderer Autoritåt als irgendein
Zur Idee des demokratischen politischen Dis- Laiengremium, etwa der Diæzesanrat. Doch
kurses passt es nicht, wenn einzelne Akteure, wie sind seine Interventionen in den æffentli-
beispielsweise Kirchenvertreter, fçr ihre æf- chen Diskurs, beispielsweise Stellungnahmen
fentlichen Sprechakte den Anspruch erheben, zu biopolitischen Konflikten, zu beurteilen?
man dçrfe sie nicht kritisieren.
Ûber die Pråsenz religiæser Akteure im
Offenkundig haben einige prominente Diskurs pluralistischer, ¹offenerª Gesell-
kirchliche Sprecher erhebliche Schwierigkei- schaften haben in den vergangenen Jahren po-
ten damit, die Spielregeln des freien demokra- litische Philosophen spannende Debatten ge-
tischen Diskurses zu akzeptieren. Ein neuer fçhrt. Der groûe Liberale John Rawls hat
klerikaler Autoritarismus låsst sich beobach- Kriterien fçr legitime Teilnahme am vernçnf-
ten: Unterzeichnen einige Theologieprofesso- tigen æffentlichen Diskurs entwickelt. Von
ren eine eher maûvolle Petition, in der die den miteinander um beste Læsungen ringen-
Aufhebung der Exkommunikation von poli- den Bçrgern sei insbesondere die Bereitschaft
tisch rechtsradikalen Bischæfen der ¹traditio- zu erwarten, dem jeweils anderen genau zu-
nalistischenª Pius-Bruderschaft kritisiert und zuhæren, ihm nicht von vornherein unmorali-
das Zweite Vatikanische Konzil als verbindli- sche Absichten zu unterstellen, sich auf strikt
che Grundlage der Weltkirche beschworen rationale Argumente zu besinnen und prag-
wird, fordert der Regensburger Ortsbischof matische Kompromissbildung zu færdern.
Gerhard Ludwig Mçller æffentlich ein De- Rawls hat deshalb alle ¹umfassenden religiæ-
mçtigungsritual ein, mit Entschuldigungs- sen oder philosophischen Lehrenª von vorn-
brief an den Papst, Ablegung eines Treueides herein aus dem politischen Diskurs einer frei-
und lautem Sprechen des Apostolischen en Bçrgergesellschaft auszuschlieûen ver-
Glaubensbekenntnisses in der bischæflichen langt. Denn Vertreter solcher Lehren,
Residenz. Nun kann man argumentieren, beispielsweise Repråsentanten der Amtskir-
dass es hier um Innerkirchliches gehe und der chen, dåchten aufgrund ihrer Glaubensprå-
Codex Iuris Canonici nun einmal kein missen und dogmatischen Bindungen struk-
Grundrecht des frommen Einzelnen, eines turell autoritår und seien aufgrund ihres welt-
jeden ¹Laienª auf Meinungsfreiheit auch in anschaulichen Absolutheitsanspruchs weder
der Kirche und gegençber den geweihten zu rationaler Verståndigung fåhig noch zu
Klerikern kenne. Anders formuliert: Die dis- pragmatischer Konsenssuche bereit.
kursive Úffentlichkeit in der Kirche sei per
definitionem keine freie Úffentlichkeit im Man kann, wenn man Voten mancher deut-
Sinne der modernen bçrgerlichen Gesell- scher Bischæfe hært und liest, fçr Rawls' Ar-
schaft, und deshalb sei es auch nur konse- gumentation Verståndnis aufbringen. Doch
quent, dass der Vatikanstaat, als einziger ist es in der parlamentarischen Demokratie
europåischer Staat neben Weiûrussland, die freiheitsdienlich, religiæsen Sprechern bzw.
Europåische Menschenrechtskonvention von Vertretern religiæser Organisationen das
1953 nicht unterzeichnet hat. Recht auf Teilnahme am politischen Grundla-
genstreit zu verweigern? Jçrgen Habermas
In der Tat gebieten es die modernitåtsspezi- hat in Fortschreibung seiner Diskursethik ein
fische Idee der Autonomie der Religion ± um deutlich liberaleres Modell entwickelt. Reli-
1800 klassisch begrçndet von Friedrich giæse Akteure haben, so Habermas, im æf-
Schleiermacher ± und die fçr freiheitliche Ge- fentlichen Diskurs einer freien Gesellschaft
sellschaften konstitutive Idee der strukturel- das Recht, ihre Position geltend zu machen;

APuZ 14/2009 17
von entschieden areligiæsen, såkularen Bçr- ten des Westens pauschal als ¹Diktaturen des
gern sei zu erwarten, dass sie den Frommen Relativismusª bezeichnet? Der autoritåre, oft
und ihren Vertretern aufmerksam zuhæren. auch besserwisserische Habitus, mit dem
Allerdings sind religiæse Akteure in einer of- manche Bischæfe æffentlich intervenieren,
fenen, pluralistischen Gesellschaft nur zivil- passt schlecht zu einem demokratischen Dis-
gesellschaftliche Akteure neben anderen. kurs, der, gemåû der gleichen Freiheit aller
Mçssen die Såkularen aufmerksam den From- Bçrger, auf eine gemeinsame offene Suche
men zuhæren, so haben sich diese umgekehrt nach besten Læsungen hinauslåuft.
an die Grundbedingungen des æffentlichen
demokratischen Diskurses zu halten. Sie Nun mag man im forum internum der Kir-
mçssen Spielregeln der Fairness beachten und chen, in rein kirchlichen Úffentlichkeiten,
ihre Sicht rational, in intersubjektiv verstånd- mancherlei episkopale Autoritåtseitelkeit er-
lichen, von anderen nachvollziehbaren Argu- tragen kænnen. Aber im forum externum der
menten kommunizieren. Auch von ihnen ist demokratischen Úffentlichkeit werden An-
Respekt vor dem jeweils anderen und die Be- sprçche auf Deutungsmacht unausweichlich
reitschaft zur Kompromisssuche zu erwarten. dem argumentativen Hårtetest freier Kritik
ausgesetzt. Um des demokratischen Gemein-
Viele Stellungnahmen von Vertretern der wesens willen tun freie Christen deshalb gut
beiden groûen Kirchen im Lande werden die- daran, ihre kirchlichen ¹Obrigkeitenª ent-
sen elementaren Kriterien des demokrati- schieden an die Tugend der Demut und Selbst-
schen Diskurses nicht gerecht. Um nur ein begrenzung zu erinnern. Und sie sollten mit
Beispiel zu nennen: In den aktuellen Konflik- Entschiedenheit darauf insistieren, dass Kir-
ten çber Sterbebegleitung, Patientenverfç- chenkritik spåtestens seit dem ausgehenden
gung und assistierten Suizid hålt die Deutsche 17. Jahrhundert ein integrales Element des
Bischofskonferenz entschieden am alten, zu- Kampfs um Bçrgerfreiheit ist: ¹Deutschlands
meist naturrechtlich begrçndeten Anspruch demokratischer Urzustand ist der Protest vor
der ræmisch-katholischen Kirche fest, der dem Schlossª, hat der in Gættingen lehrende
Rechtsstaat mçsse in seiner Gesetzgebung Staatsrechtslehrer Christoph Mællers in einem
den ¹der Kircheª erschlossenen Einsichten in wunderschænen Buch betont. 3 Man muss hin-
die unbedingte ¹Heiligkeit des Lebensª fol- zufçgen: Die demokratische Kultur hat sich,
gen. Nun wird im Rechtsstaat kein katholi- nicht zuletzt wegen der antirevolutionåren
scher Bçrger daran gehindert, sein Leben Zweckbçndnisse zwischen den Ordnungs-
streng nach der Morallehre seiner Kirche zu måchten Staat und Kirche, in Deutschland
fçhren. Aber warum sollten Andersdenken- immer auch im bçrgerschaftlichen Protest
de, gottferne Liberale etwa oder freie Protes- gegen ein Kirchentum entwickelt, dessen fçh-
tanten, von Staats wegen dazu gezwungen rende und, jedenfalls im Protestantismus, sehr
werden dçrfen, ihre Lebensmaximen an ræ- gern obrigkeitsnahe Vertreter aus der gepre-
misch-katholischer Spezialmoral auszurich- digten Allmacht Gottes starke Autoritåt fçr
ten? Der freiheitlich-demokratische Rechts- sich selbst abzuleiten suchten.
staat darf, um seiner freiheitsdienlichen religi-
æs-weltanschaulichen Neutralitåt willen, Mællers hat in seiner kleinen Demokratie-
nicht die Sondermoral einer Weltanschau- kunde auf die notorische Demokratieverges-
ungsgemeinschaft allgemein verbindlich ma- senheit der Deutschen hingewiesen: ¹Wir
chen wollen. haben demokratische Traditionen, aber wir
interessieren uns kaum fçr sie.ª In der Tat ist
es um die Erinnerungskultur der parlamenta-
Demokratievergessenheit rischen Demokratie schlecht bestellt. Mællers
nennt ein schlagendes Beispiel: Nirgends
In den Kirchen lassen sich immer wieder Ten- wird in der Hauptstadt Berlin an Hugo
denzen beobachten, den Staat auf die eigenen Preuû, den Schæpfer der Verfassung der Wei-
Positionen festzulegen. Zur Aufgabe selbst- marer Republik, erinnert. Aber aus Steuer-
bewusster Christen in der Demokratie dçrfte mitteln ist in Berlin-Mitte ein Rosa-Luxem-
es gehæren, die Themen Klerikalmacht und burg-Denkmal errichtet worden, ein Gedenk-
politisches Mandat der Kirchen neu auf die
æffentliche Agenda zu setzen. Wen vertritt 3 Christoph Mællers, Demokratie. Zumutungen und

ein Bischof, wenn er die offenen Gesellschaf- Versprechen, Berlin 2008, S. 109.

18 APuZ 14/2009
ort fçr eine radikale Kritikerin der parlamen- indem ¹die Menschenwçrdeª zu einer genuin
tarischen Demokratie. Solche ¹demokratische oder gar exklusiv christlichen Idee erklårt
Traditionslosigkeitª 4 låsst sich auch und be- und damit eine spezielle kirchliche Deutungs-
sonders deutlich in den Erinnerungskulturen macht reklamiert wird. Aber der demokrati-
der Kirchen und in den akademischen Theo- sche Staat gehært, Gott sei Dank, nicht den
logien beobachten. Gern gedenkt man der Kirchen und die Menschenwçrde nicht den
Mårtyrer des ¹Dritten Reichesª. Aber man Theologen. Christen in der Demokratie
scheut, in universitårer Geschichtsforschung mægen sich als Bçrger besonderer Art sehen.
wie in kirchlicher Geschichtspolitik, die Erin- Aber ihr Glaube garantiert es keineswegs,
nerung an christliche Theoretiker und Weg- dass sie bessere Demokraten als andere sind.
bereiter der parlamentarischen Demokratie.
Man erklårt Dietrich Bonhoeffer zu einem
¹protestantischen Heiligenª, hat aber zu Gleiche Freiheit aller
Friedrich Naumann oder Theodor Heuss
nichts Kirchliches zu sagen. Moderne liberale Demokratietheorien gehen
davon aus, dass am Beginn der Demokratie ein
Man kann die in den Kirchen herrschende Versprechen wechselseitiger Anerkennung
Demokratievergessenheit gerade mit Blick auf gleicher Freiheit steht. Die parlamentarische
die Weimarer Republik zeigen: Die theologi- Demokratie ist ein ± um der Machtbegren-
sche Aufmerksamkeit gilt primår den Radika- zung und permanenten Herrschaftskontrolle
len, Exaltierten, Republikdistanzierten (oder willen institutionell hoch differenzierter ±
offenen Gegnern der parlamentarischen De- freier politischer Verband von Individuen, die
mokratie), nicht aber den liberalen Verteidi- kraft autonomer Entscheidung diese be-
gern der Republik. Christlich liberale Denk- stimmte politische Form gewåhlt haben. Fçr
traditionen werden in beiden Kirchen not- die Demokratie ist die Idee gleicher Freiheit
orisch ignoriert. Und nur selten sind die fundamental. Diese Idee bedeutet nicht, dass
Funktionåre in den Kirchen zu selbstkriti- alle Bçrger als Menschen gleich sind, relati-
scher Reflexion auf die massiven antidemo- viert also nicht Individualitåt oder vielfåltige
kratischen Erblasten in den verschiedenen faktische Unterschiedenheit. Gleiche Freiheit
Christentçmern bereit. Man redet von Úku- meint vielmehr, dass wir uns wechselseitig als
mene und schweigt darçber, dass viele ortho- mit einem freien Willen begabte, zu Autono-
doxe Christentçmer, religionssoziologisch ge- mie befåhigte politische Subjekte anerkennen.
sehen, Ethno-Religionen sind, in denen die Im politischen Diskurs der Moderne seit etwa
Nation und ihr Territorium, das ¹heilige Russ- 1780 ist immer wieder çber die Frage gestrit-
landª etwa, sakralisiert werden, nicht aber das ten worden, inwieweit sich Vorstellungen der
Individuum in seiner vorstaatlichen Wçrde. gleichen politischen Freiheit der Bçrger auch
auf genuin christliche Traditionselemente
Dass in manchen Christentçmern Men- grçnden lassen, etwa die jedem einzelnen
schenrechte des Einzelnen immer noch abge- Menschen von seinem Schæpfer zuerkannte
lehnt oder als Ausdruck falscher, antichristli- Gottebenbildlichkeit. Die ideenhistorisch fas-
cher Aufklårung bekåmpft werden, ver- zinierenden Debatten çber mægliche jçdische
schweigt man im ækumenischen Diskurs sich und christliche Wurzeln demokratischer Ord-
und anderen; man spricht lieber çber Amt nungsentwçrfe und Freiheitsvorstellungen
und Sakrament oder çber Gemeinwohl und haben, çber das rein Historische hinaus,
Sozialstaat. Gern macht man sich im politi- immer auch das existentielle Interesse christli-
schen Tageskampf die normativen Leitbegrif- cher Politiker und Intellektueller gespiegelt,
fe der Verfassung zu eigen, vor allem den in ihr aktives demokratisches Engagement aus
den deutschen Kirchen inzwischen inflationår dem eigenen Glauben zu begrçnden: aktive
benutzten Begriff der Menschenwçrde. 5 Oft Bçrgertugend als primåre Konkretionsgestalt
låsst sich dabei ein imperialistischer Gestus gelebter Fræmmigkeit, oder Gottvertrauen als
der Begriffsbesetzung beobachten, etwa Kraftquell fçr politischen Mut und tåtige
Sorge fçr das Gemeinwesen.
4 Ebd.
5 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Miûbrauchte Gætter. Solche Begrçndungen mægen fçr die Glåu-
Zum Menschenbilderstreit in der Moderne, Mçnchen bigen individuell hilfreich und plausibel sein,
2009, bes. S. 177 ff. kænnen in der Demokratie aber keinerlei An-

APuZ 14/2009 19
spruch auf traditionsstiftende Allgemeingçl- Das Christliche ist religiæs vielfåltig, in sei-
tigkeit erheben: Demokratische Bçrger pfle- nen zentralen Symbolen åuûerst spannungs-
gen den in der gleichen Freiheit aller grçn- reich und auch in ethischer Hinsicht vielge-
denden Regelkonsens, teilen aber keine ge- staltig. In einem Vortrag çber ¹Politische
meinschaftlichen Vorstellungen çber die Ethik und Christentumª, gehalten beim 15.
ideenpolitischen Ursprçnge demokratischer Evangelisch-sozialen Kongress, hat der Hei-
Ordnung. Auch verweisen die Symbolspra- delberger Systematische Theologe Ernst
chen der Religion und die normativen Troeltsch, spåter einer der fçhrenden libera-
Grundbegriffe der parlamentarischen Demo- len Gelehrtenrepublikaner der Weimarer
kratie auf ganz unterschiedliche Imaginati- Republik, im Mai 1904 erklårt: ¹Das Evan-
onsråume und stehen bleibend in Spannung. gelium enthålt çberhaupt keine direkten
Die Demokratie geht vom autonomen Bçrger politischen und sozialen Weisungen, sondern
aus, der sich mit anderen Freien in wechsel- ist von Grund aus unpolitisch; es ist nur mit
seitiger Anerkennung gleicher Freiheit zur den hæchsten Zielen des persænlichen
Organisation politischer Herrschaft zweckra- Lebens und der persænlichen Gemeinschaft
tional assoziiert. Die Sprachen der Religion beschåftigt und nimmt die Verwirklichung
aber haben sehr viel zu tun mit Vorstellungen dieses Ideals in der Erwartung des baldigen
vom guten Leben in der Herzensbindung an Weltendes und des kommenden Gottes-
Gott, mit Heil und Verderben, Erlæsung und reiches mit einer Energie voraus, neben der
Gemeinschaft der Heiligen. Christen in der die Welt und ihre Interessen çberhaupt
Demokratie tun um der Demokratie, aber verschwinden.ª 6
auch um ihres Glaubens willen gut daran,
sich die unaufhebbaren Spannungen zwischen Ihr individueller christlicher Glaube kann
demokratischer Vernunftsprache und religiæ- von Christen deshalb politisch ganz unter-
ser Symbolsprache pråsent zu halten. schiedlich konkretisiert werden. Glaubens-
motive lassen sich mit hæchst heterogenen
Gern schreiben wir uns im politischen Dis- politischen Vorstellungen und Zielen verbin-
kurs die aufgeklårte Fåhigkeit zu, zwischen den. Aber der individuelle Glaube markiert
Politik und Religion zu unterscheiden, und zugleich eine Grenze zwischen dem Privaten
wir sprechen anderen, etwa bestimmten mus- und dem Úffentlichen, die nicht zur Disposi-
limischen Akteuren, diese Differenzierungs- tion demokratischer Willensbildung steht,
kompetenz ab. Aber die heilsame Unterschei- auch wenn sie im Einzelnen immer neu be-
dung von Religion und Politik ist keine ein stimmt werden muss.
fçr allemal erreichte Leistung aufgeklårter
Vernunft, sondern muss im politischen Tages- Vielleicht ist das die wichtigste politische
kampf immer neu begrçndet und verteidigt Leistung von Christen in der Demokratie: die
werden. Auch manche christliche Akteure in vielen verschieden glaubenden und lebenden
der Bundesrepublik pflegen eine religiæse Bçrger, die einander allein in gleicher Frei-
Kampfrhetorik, die es kaum erlaubt, zwi- heit, aber eben nicht in irgendwelchen Kul-
schen Religion und Politik oder auch zwi- turwerten oder gemeinschaftlichen Vorstel-
schen Recht und Moral prågnant zu unter- lungen des Guten verbunden sind, dafçr zu
scheiden. Sowohl im Rechtskatholizismus als sensibilisieren, dass Demokratie eine Herr-
auch im evangelikalen Protestantismus wird schaftsform ist, die Unterschiede zulåsst, kei-
die parlamentarische Demokratie ob ihres nen moralischen oder religiæsen Vergemein-
Neutralitåtsliberalismus nicht selten als ¹rela- schaftungszwang kennt und dem Individuum
tivistischª kritisiert und ein christlicher einen groûen, aber immer gefåhrdeten und
Werte- oder Sittenstaat beschworen. Selbst umkåmpften Eigenraum des Privaten låsst.
Papst Benedikt XVI. hat, als Theologiepro-
fessor Joseph Ratzinger und als Pråfekt der
ræmischen Glaubenskongregation, in Texten
zur religiæsen Lage Europas immer wieder
gegen das Mehrheitsprinzip der parlamentari-
schen Demokratie polemisiert und sein tiefes
6 Ernst Troeltsch, Politische Ethik und Christentum,
kulturpessimistisches Leiden an moralischem
Gættingen 1904, S. 32.
Pluralismus und liberalistischem Individualis-
mus bekundet.

20 APuZ 14/2009
Thomas Schirrmacher Stiefkinder der Reformation

Demokratie und
Der evangelische Theologe und Religionsphi-
losoph Ernst Troeltsch 5 hat die Meinung ver-
treten, dass die Kodifizierung der Menschen-

christliche Ethik rechte nicht dem Protestantismus der eta-


blierten Kirchen, sondern den in die Neue
Welt vertriebenen Freikirchen, Sekten und
Spiritualisten ± von den Puritanern bis zu den
Quåkern ± zu verdanken sei: ¹Hier haben die

M itte des 17. Jahrhunderts kamen im ra-


dikalprotestantischen Flçgel in Eng-
land erstmals Forderungen nach Religions-,
Stiefkinder der Reformation çberhaupt end-
lich ihre weltgeschichtliche Stunde erlebt.ª 6
In den USA verbanden sich die von tief glåu-
Gewissens-, Pressefreiheit und allgemeinem bigen Vorkåmpfern wie Williams und Penn
Månnerwahlrecht auf. Michael Farris hat erkåmpfte Religions- und Gewissensfreiheit
dazu eine umfangrei- und die Trennung von Kirche und Staat mit
che Untersuchung zu den von Puritanern und anderen Reformier-
Thomas Schirrmacher
den frçhen Quellen ten ausgebauten Verfassungsstaatsentwçrfen
Dr. theol., Dr. phil., geb. 1960;
der Religionsfreiheit (zunåchst ohne Religionsfreiheit) und der
Professor für Religionssozio-
in den USA vorgelegt, von aufklårerischen und deistischen Politi-
logie an der Staatlichen Univer-
darunter ungezåhlte kern umgesetzten Demokratie fçr Flåchen-
sität Oradea/Rumänien;
Predigten und Trakta- staaten, welche die frommen Vorgaben in så-
Dozent für Ethik, Martin Bucer
te. 1 Nachdem Sebas- kulares Recht umsetzten.
Seminar, Bonn; Direktor des
tian Castellio, der als
Internationalen Instituts für Reli-
ehemaliger Calvin- Die Geburtsstunde der Religionsfreiheit ±
gionsfreiheit der Weltweiten
schçler 1554 gegen so kænnte man zugespitzt formulieren ± ist
Evangelischen Allianz,
Johannes Calvin fçr also der Freiheitskampf christlicher Minder-
Bonn/Kapstadt/Colombo,
eine noch recht rudi- heitenkirchen gegen christliche Majoritåts-
Friedrichstraûe 38, 53111 Bonn.
mentåre Religionsfrei- kirchen und in manchen nichtchristlichen
info@bucer.de
heit ± die etwa weiter- Låndern von religiæsen Minderheitsbeweg-
hin die Bestrafung ungen gegençber der Mehrheitsreligion ±
von ¹Gottlosenª vorsah ± eingetreten war, etwa der Buddhisten in Indien gegençber
stammt das erste bekannte Traktat, das eine den Hindus. Dies erklårt auch die Ambiva-
vællige Religionsfreiheit postuliert, von dem lenz des historischen Christentums gegen-
englischen Baptisten Leonard Busher aus çber demokratischen Entwicklungen, die
dem Jahr 1614. 2 ¹Ambivalenz christlicher Toleranzª, 7 die es
unmæglich macht, historisch eine direkte
Der Gedanke breitete sich unter Baptisten Linie vom Christentum zur Demokratie zu
und anderen Dissenters in England, den Nie- ziehen.
derlanden und dann den USA aus. Es war der
Baptist und Spiritualist Roger Williams 1 Vgl. Michael Farris, From Tyndale to Madison,
(1604±1685), Mitbegrçnder der ersten ameri- Nashville 2007.
kanischen Baptistengemeinde mit kongrega- 2 Vgl. Leonard Busher, Religious Peace, Amsterdam

tionalistischer Struktur, der 1644 die vællige 1614/London 1644.


3 Vgl. Roger Williams, The Bloody Tenent, for Cause
Religionsfreiheit forderte 3 und 1647 im spå-
teren Rhode Island die erste Verfassung mit of Conscience, London 1644; ders., Christenings Make
not Christians, London 1645.
Trennung von Kirche und Staat und mit der 4 Rainer Pråtorius, In God We Trust. Religion und
Zusicherung der Religionsfreiheit ± auch fçr Politik in den USA, Mçnchen 2003, S. 35.
Juden und Atheisten ± errichtete, obwohl er 5 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Puritanische Sekten-

ein Freund der christlichen Mission war. Be- freiheit versus lutherische Volkskirche, in: Zeitschrift
reits 1652 wurde dort die Sklaverei abge- fçr Neuere Theologiegeschichte, 9 (2002) 1, S. 42±69.
6 Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus
schafft: ¹Nicht obwohl, sondern weil er tief
fçr die Entstehung der modernen Welt, Mçnchen±
religiæs war, forderte Williams eine Trennung Berlin 1911, S. 62.
von Politik und Religion.ª 4 Fçr William 7 Rainer Forst, in: Manfred Brocker/Tine Stein
Penns (1644±1718) spåteres ¹heiliges Experi- (Hrsg.), Christentum und Demokratie, Darmstadt
mentª Pennsylvania gilt dasselbe. 2006.

APuZ 14/2009 21
Es gibt noch zu wenige Studien çber die nicht vermuten wçrde. Beide richteten sich
Frage, ob die enge Verbindung zwischen De- gegen die herrschenden Groûkirchen. Alexis
mokratie und Minderheitenkirchen allein ge- de Tocqueville (1805±1859) vertrat in seinem
schichtlich ist oder heute noch zutrifft. Jeff berçhmten Werk çber die Demokratie in
Haynes hat eine umfangreiche Analyse dar- Amerika, dass hier tief religiæse, meist refor-
çber vorgelegt, welche religiæsen Gruppen mierte Bewegungen eine untrennbare Sym-
und Richtungen im heutigen Afrika Demo- biose mit aufgeklårten Sichtweisen eingegan-
kratie færdern oder behindern. 8 Er kommt zu gen seien. 11 Das Zusammenspiel von Chris-
dem Schluss, dass die groûen, etablierten Kir- tentum und Aufklårung funktionierte, was die
chen meist græûere Probleme mit der Demo- Entstehung der Demokratie betraf, in Amerika
kratie haben als kleine und neue Kirchen. Ob- wesentlich reibungsloser, wåhrend es in Euro-
wohl letztere ¹fundamentalistischerª seien, pa erst am Ende zahlreicher, oft gewalttåtiger
sind sie in sich demokratischer, bæten mehr und blutiger Auseinandersetzungen stand. Das
Aufstiegschancen und seien nicht so stark wirkt nach und erklårt vielleicht bis heute das
vom Hegemoniestreben bestimmt. Fçr den oft vorhandene Unverståndnis von Amerika
Islam in Afrika kommt Haynes zu åhnlichen und Europa fçreinander.
Ergebnissen.
Christentum und Demokratisierung
Die Feststellung, dass es religiæse, zudem
oft verfolgte Minderheiten waren, die Demo- Weder håtte die Aufklårung zur Demokratie
kratie und Religionsfreiheit forderten, gilt gefçhrt, wenn sie nicht auf christliche Kon-
nicht nur fçr das Christentum, sondern auch zepte in der abendlåndischen Kultur håtte zu-
und gerade fçr das Judentum oder ± um ein rçckgreifen kænnen, noch håtte das Christen-
viel jçngeres Beispiel einer erst im 19. Jahr- tum ohne Aufklårung seine politische Ethik
hundert erstandenen Religion zu wåhlen ± geåndert oder die bequeme Stellung im Bçnd-
fçr die Bah—'i. Ob man so weit gehen und mit nis von Thron und Altar aufgegeben: ¹Die
Hannes Stein sagen muss: ¹der moderne Demokratie wurzelt vor allem ± jedoch nicht
Rechtsstaat kam nicht aus Athen. Er kam aus ausschlieûlich ± in Låndern, die kulturell vom
Jerusalemª, 9 mag dahingestellt sein, aber der Christentum geprågt sind und ± trotz einer
Gedanke einer Bundesverfassung und einer langwierigen spannungsreichen Beziehung
Trennung von Priester und Kænig stammt tat- zwischen Demokratie und christlichen Reli-
såchlich aus dem Alten Testament. Es ist kein gionen ± von dort Leitvorstellungen fçr die
Zufall, dass es der bedeutende jçdische Philo- Ordnung des Zusammenlebens çbernommen
soph und Reformer Moses Mendelssohn und weiterentwickelt haben.ª 12 Manfred G.
(1728±1786) war, der in Europa als Erster fçr Schmidt verweist dabei auf einen der bedeu-
die Trennung von Kirche und Staat und fçr tendsten australischen Politologen, Graham
Religionsfreiheit eintrat ± auch wenn das Maddox. 13 Wåhrend dieser ebenso wie der
noch nicht die Duldung von Religionslosen amerikanische Historiker Page Smith 14 nicht
einschloss. Die von Mendelssohn ausgehende in eigener Sache spricht, sind die bekannte-
jçdische Aufklårung beeinflusste sowohl die sten deutschen Vertreter dieser These Theolo-
såkulare Aufklårung als auch das Christen- gen wie William J. Hoye oder Politiker wie
tum und hat einen festen Platz in der Vorge- Hans Maier. 15 Die These ist natçrlich nicht
schichte der Demokratie. 10
11 Vgl. Alexis de Tocqueville, De la Dmocratie en

Die antiklerikale Aufklårung der Franzæsi- Amrique, 2 Bde., Paris 1835/1840; dazu Manfred G.
schen Revolution und die von sehr frommen Schmidt, Demokratietheorien, Wiesbaden 20084,
S. 113 ±131.
und von deistischen Menschen geprågte Ame- 12 M. Schmidt (ebd.), S. 422 f.
rikanische Revolution haben eine tiefe Ge- 13 Vgl. Graham Maddox, Religion and the Rise of
meinsamkeit, die man auf den ersten Blick Democracy, London ± New York 1996.
14 Vgl. Page Smith, Rediscovering Christianity, New

York 1994.
8 Vgl. Jeff Haynes, Religion and Politics in Africa, 15 Vgl. William J. Hoye, Demokratie und Christen-

London 1996. tum, Mçnster 1999; Hans Maier, Demokratischer Ver-


9 Hannes Stein, Moses und die Offenbarung der De- fassungsstaat ohne Christentum ± was wåre anders?, St.
mokratie, Berlin 1998, S. 10. Augustin 2006; auch in: M. Brocker/T. Stein (Anm. 7);
10 Vgl. Christoph Schulte, Die jçdische Aufklårung, vgl. schon Hans Maier, Kirche und Demokratie, Frei-
Mçnchen 2002. burg i.Br. 1979.

22 APuZ 14/2009
unwidersprochen geblieben. 16 Zu offensicht- die islamischen gar nicht? Damit soll nicht
lich haben sich in Festland-Europa die Staats- gesagt werden, dass islamische Lånder grund-
kirchen im 19. Jahrhundert mit den Monar- såtzlich nicht demokratiefåhig seien (was
chien gegen revolutionåre Bestrebungen oder Mali seit 1991 widerlegt). Erst recht kann es
gegen die 1848er-Bewegung verbçndet, als nicht darum gehen, aus irgendwelchen histo-
dass man einen monokausalen Weg vom rischen Vorteilen des Christentums Grçnde
Christentum zur Demokratie zeichnen fçr ein Ûberlegenheitsgefçhl abzuleiten. Das
kænnte. Versagen groûer Teile des Christentums ange-
sichts des Nationalsozialismus 19 erinnert
Samuel P. Huntington hat 1993 die breit re- Christen an die Worte des Paulus: ¹Wer steht,
zipierte These von den vier Wellen der Demo- sehe zu, dass er nicht falle.ª 20 Demokraten,
kratisierung aufgestellt. 17 Neben soziologi- auch christliche Demokraten, kann nur der
schen und wirtschaftlichen Faktoren stellt er Wunsch beseelen, dass auch muslimische
eine Håufung der Rolle der religiæsen Mehr- Staaten demokratisch werden. 21
heitsreligion bzw. -konfession fest, nach der in
einer ersten Welle (1828±1926) vor allem pro- Die Forschung hat es bisher versåumt, ge-
testantische, in der zweiten (1943±1962) vor nauer zu untersuchen, was in den islamischen
allem protestantische, katholische und fernæst- Kulturen dem Errichten einer Demokratie
liche, in der dritten (1974±1988) vor allem ka- hinderlich ist und welche theologischen und
tholische und orthodoxe Lånder demokratisch kulturellen Spielarten des Islam welche Aus-
wurden und in der vierten Welle (nach 1989/ wirkungen auf das politische Gefçge haben.
1990) alle genannten Religionen erneut zum Selbstverståndlich geht man davon aus, dass
Zug kamen. Heute sind von weltweit 88 freien die Ausgestaltung des tçrkischen, persischen,
Demokratien 79, also 90 Prozent, mehrheitlich arabischen und asiatischen Islam Einfluss auf
christlich. Daneben steht eine jçdische Demo- den Demokratisierungs- und Freiheitsgrad der
kratie und sieben mit Mehrheiten fernæstlicher von ihnen dominierten Lånder hat. Aber es
Religionen, wobei in Mauritius und Sçdkorea wurde kaum der Frage nachgegangen, ob es im
die Christen eine zweite groûe Bevælkerungs- Islam nicht Parallelen zur innerchristlichen
gruppe darstellen. Nur Mali hat eine mehrheit- Entwicklung gibt, also ob islamische Minder-
lich muslimische Bevælkerung in einem freien, heiten und Sekten nicht eine græûere Aufge-
demokratischen Staat. 18 Man kænnte auch auf schlossenheit der Demokratie gegençber auf-
die Tçrkei und Indonesien verweisen, auch weisen als der jeweilige Mehrheitsislam.
wenn die genannten Listen sie nicht zu den
¹freienª Låndern zåhlen. Politische Ethik und
Ist es Zufall, dass sich die Zuordnung von Binnenstruktur der Konfessionen
religiæser Ausrichtung und die Fåhigkeit zur
Demokratisierung nach dem Zusammen- John Witte hat darauf verwiesen, dass den
bruch des Sowjetimperiums wiederholte und Hauptdemokratisierungswellen von Staaten
die såkularen, protestantischen und katholi- mit einer bestimmten konfessionellen Mehr-
schen Lånder aus dem ehemaligen Einflussbe- heit in der Regel eine Befçrwortung der De-
reich der Sowjetunion recht schnell zu funk- mokratie in der politischen Ethik vorangegan-
tionierenden demokratischen Staaten wurden, gen ist. 22 Ist es Zufall, dass die Wende der Ka-
die orthodoxen Lånder nur zum Teil (unvoll- tholischen Kirche hin zu Religionsfreiheit und
endet blieb die Demokratie in Russland, Ge- Demokratie im Zweiten Vatikanischen Konzil
orgien, Montenegro und Mazedonien) und 19 Vgl. Thomas Schirrmacher, Hitlers Kriegsreligion,

2 Bde., Bonn 2007.


16 Vgl. den Sammelband mit Pro und Contra: M. 20 1 Korintherbrief 10,12.

Brocker/T. Stein (Anm. 7). 21 Vgl. Moataz Fattah, Democratic Values in the
17 Vgl. Samuel P. Huntington, The Third Wave, Nor- Muslim World, London 2006; Frdric Volpi, Demo-
man 1993; vgl. ders., Religion und die dritte Welle, in: cratization in the Muslim world, London 2007; Larry
Europåische Rundschau, 20 (1992) 1, S. 47± 65; ders., Diamond, The Spirit of Democracy, New York 2008;
After twenty years, in: Journal of Democracy, 8 (1997) als Appell: Benazir Bhutto, Reconciliation, London
4, S. 3±12. 2008; vgl. kritisch Franco Burgi, Export of Democracy
18 Vgl. Einordnung nach www.freedomhouse.org; vgl. to the Arab World, Mçnchen 2007.
zur Qualitåt M. Schmidt (Anm. 11), S. 381 ±386, 22 Vgl. John Witte (ed.), Christianity and Democracy

S. 392 ±398 und weitere Studien ebd., S. 417, S. 422. in Global Context, Boulder 1993.

APuZ 14/2009 23
der weltweit dritten Demokratisierungswelle heiten sowie die Trennung von Kirche und
von 1974 bis 1990 vorausging, die viele katho- Staat samt Religionsfreiheit. 24 Eine Durch-
lische Lånder in Europa und Lateinamerika er- sicht englischsprachiger Entsprechungen zei-
fasste? Ich will hier keine unmittelbare Abhån- tigt dasselbe Ergebnis. Entwçrfe politischer
gigkeit begrçnden, aber dass die Theologie der Ethik von christlichen Theologen, die nicht
græûten Religionsgemeinschaft der Welt einen die Demokratie als beste Staatsform darstel-
Einfluss auf die reale Politik ihrer Anhånger len, stammen entweder aus unfreien Låndern
hatte und hat, wird wohl niemand ernsthaft oder aber aus orthodoxer Feder, wobei er-
bestreiten wollen. freulicherweise meines Wissens im 21. Jahr-
hundert keine neuen Beispiele hinzugekom-
Da sich die orthodoxe Theologie in der Re- men sind. Dass sich die græûte Religion der
zeption einer nachaufklårerischen politischen Welt in ihrer Ethik fast vollståndig auf die
Ethik am schwersten tat, wåre es demnach komplizierteste und jçngste Staatsform der
kein Wunder, dass sich unter den christlichen Geschichte eingelassen hat, ist eine noch
Låndern vor allem orthodoxe Lånder am nicht geschriebene Erfolgsgeschichte.
schwersten mit einer freien Demokratie tun,
obwohl çberall inzwischen das Parlament Zur Frage der politischen Ethik tritt die in-
(und die Regierung) frei gewåhlt wird. Einige nere Organisationsstruktur christlicher Kon-
dieser Lånder weisen noch immer erhebliche fessionen hinzu. Bereits der franzæsische
Demokratiedefekte auf, etwa Autokratie Staatstheoretiker Montesquieu (1689±1755)
(Russland) oder eingeschrånkte Religionsfrei- vertrat in seinem Hauptwerk, dass die Monar-
heit (Griechenland). Gleichzeitig wåre die er- chie eher zur katholischen Religion passe, die
kennbar voranschreitende Reform der Theo- Republik eher zur protestantischen. 25 Fçr
logie und der politischen Ethik orthodoxer lange Zeit schien er Recht zu behalten, aber die
Kirchen hin zu Menschenrechten und demo- zunehmende Demokratisierung katholischer
kratischen Staatsformen 23 eine Hoffnung da- Lånder machte nach und nach eine Differen-
rauf, dass die Demokratie in den orthodoxen zierung notwendig. Doch mçssen wir hier zur
Låndern stårker und freier werden wird. Rolle der Minderheitenkirchen und der Frei-
kirchen zurçckkehren. Die erste staatsgrçn-
Eine Durchsicht deutschsprachiger Ethik- dende Verfassung der Geschichte, die des spå-
entwçrfe christlicher Theologen aller Rich- teren US-Bundesstaates Connecticut (1639),
tungen der vergangenen 20 Jahre ergibt, dass wenige Jahre vor Rhode Island, ist ein offen-
keiner eine undemokratische Staatsform ver- sichtliches Beispiel fçr den Einfluss des Kon-
teidigt oder einer Form von christlicher gregationalismus, dem die Mehrheit der Ein-
Theokratie das Wort redet. Zur Demokratie wohner angehærten. 26 In reformierten Lån-
zåhle ich die Wahl des Parlaments (und der dern mit kongregationalistischen oder presby-
Regierung) durch freie Wahlen, den Verfas- terianischen Kirchenstrukturen wie den USA,
sungsstaat, das heiût die Gewaltenteilung und der Schweiz und den Niederlanden ging die
die çberprçfbare Ûbereinstimmung des staat- Entwicklung zur Demokratie schneller.
lichen Handelns mit Recht und Gesetz, unab-
hångige Gerichte und wirksame Opposition, Evangelikale waren im 18. und 19. Jahr-
den Rechtsstaat mit Gewåhrleistung und hundert in den USA, so Marcia Pally, ein
Schutz der Menschen- und Bçrgerrechte ¹Rçckgrat der bçrgerlich-demokratischen
durch den Staat und den Schutz von Minder- Entwicklungª, 27 weil sie selbst kongregatio-

23 Vgl. fçr die griechisch-orthodoxe Kirche Kon- 24 Vgl. zu den zahlreichen Spielarten der Demokratie

stantin Delikostantis, Die Menschenrechte im Kontext und zur Frage, was sie wirklich ausmacht: M. Schmidt
der orthodoxen Theologie, in: Úkumenische Rund- (Anm. 11) und Arend Lijphart, Patterns of Democracy,
schau, 56 (2007), S. 19±35; ders., HeÅ orthodoxia hoÅs London 1999.
protasoÅ zoÅeÅs syllogikos tomos, Akritas 1993; fçr die 25 Vgl. M. Schmidt (Anm. 11), S. 77, zu Montesquieu

russisch-orthodoxe Kirche Rudolf Uertz, Menschen- insgesamt ebd., S. 66 ±79.


rechte. Demokratie und Rechtsstaat in der Sozial- 26 So auch R. Pråtorius (Anm. 4), S. 32±34, und W. J.

doktrin, in: ders./Lars Peter Schmidt (Hrsg.), Beginn Hoye (Anm. 15), S. 143 ff.; Willam J. Hoye, Neueng-
einer neuen Øra?, Moskau±Bonn 2004; dies., Die lischer Puritanismus als Quelle moderner Demokratie,
Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen in: M. Brocker/T. Stein (Anm. 7), S. 99±102.
Kirche çber die Wçrde, die Freiheit und die Men- 27 Marcia Pally, Die hintergrçndige Religion, Berlin

schenrechte, Moskau 2008. 2008, S. 46, S. 88 u. æ.

24 APuZ 14/2009
nalistisch strukturiert waren, die kommunale ohne Wenn und Aber zur freiheitlichen De-
Entwicklung færderten und antiautoritår mokratie. 30
sowie stark individualistisch geprågt waren
und schlieûlich aufgrund ihrer antirassisti- Evangelikale, christliche
schen Vorgeschichte 28 als Unterstçtzung
schwarzer Kirchen und von Predigerinnen Fundamentalisten und Demokratie
hervortraten. Es ist auffållig, dass sich christ-
liche Konfessionen in der Gesamtentwick- Martin Riesebrodt meint, dass alle Fundamen-
lung der Demokratisierungswellen schneller talisten der Demokratie ¹feindseligª gegen-
mit aufgeklårten demokratischen Staaten ar- çberstehen: ¹Echte Fundamentalisten sind nie-
rangierten, je åhnlicher ihre innere Struktur mals Demokraten aus Prinzip, sondern stets
war. Je stårker die Laien mitzuentscheiden nur aus Opportunitåt.ª 31 Doch diese These
hatten und je stårker die Kirchen durch Wahl kann nicht durch historische oder empirische
von unten nach oben aufgebaut waren, desto Untersuchungen bewiesen werden. Weder gibt
frçher schwenkten die Konfessionen im ihm die Geschichte der Demokratie Recht, an
Weltmaûstab um. Nur an einer Stelle geht deren Beginn viele Fundamentalisten standen,
diese Rechnung nicht auf: Die katholischen noch die Gegenwart. Man muss sich Gruppe
Lånder håtten demnach nach den orthodoxen fçr Gruppe anschauen, wenn man ihre Demo-
Låndern von der Demokratisierungswelle er- kratiefåhigkeit beurteilen will. Wohl wissend,
fasst werden mçssen. dass der Fundamentalismusbegriff fçr wissen-
schaftliche Zwecke kaum taugt ± Fundamenta-
Damit das nicht als einseitige, konfessio- listen sind bekanntlich immer die anderen ±,
nelle Parteinahme verstanden wird, sei darauf mæchte ich mich darauf einlassen, den Funda-
hingewiesen, dass bei der Entstehung des mentalismuscharakter bestimmter Bewegun-
Grundgesetzes die genannte Gesetzmåûigkeit gen einmal vorauszusetzen.
auûer Kraft gesetzt war. Denn man muss das
offizielle Lehramt einer Konfession von dem Nehmen wir etwa die weitgehend pfingst-
unterscheiden, was die Laien dieser Konfessi- kirchlich geprågten brasilianischen Evangeli-
on tun: Katholische Laien agierten oft viel kalen. Nach Untersuchungen des Soziologen
frçher als ihre Kirche zugunsten der Tren- Alexandre Brasil Fonseca 32 gehærten 2003 in
nung von Kirche und Staat. Vor allem in Ge- Brasilien 25 der 57 evangelikalen Kongressab-
stalt der Zentrumspartei hatte der politische geordneten den Oppositionsparteien an, 32
Katholizismus die Weimarer Republik mitge- der regierenden Arbeiterpartei. Sie machten
tragen. An der Entstehung des Grundgesetzes elf Prozent der Abgeordneten aus und damit
fçr die Bundesrepublik Deutschland wirkten in etwa den Prozentsatz der Evangelikalen an
çberzeugte katholische Laien prågend mit. den Einwohnern. In Brasilien kann man die
Fçr Protestanten gilt das so nicht. Zwar kann Stimmen auf bestimmte Kandidaten kumulie-
man fçr die angelsåchsischen Lånder zur Zeit ren. Fonseca stellt eine hochgradige Befçr-
des Zweiten Weltkriegs und davor sagen: ¹In wortung der Demokratie fest, die er auf Sei-
den Kirchen der USA, aber auch Groûbritan- ten der katholischen Kirche nicht immer fin-
niens, betrachtete man Demokratie und det. Der Umstand, dass alle demokratischen
Christentum nahezu als Synonyme.ª 29 Diese Parteien als Orte christlichen Engagements
Sicht gelangte durch die angelsåchsischen Sie- gelten, zeigt ihm, dass der såkulare Charakter
germåchte natçrlich als mehr oder weniger des Staates und der Parteien angenommen
sanfter Druck nach Deutschland. Doch taten wurde. In Sçdkorea machen Evangelikale 15
sich die evangelischen Landeskirchen zur Prozent der Einwohner aus, den græûten Teil
Entstehungszeit des Grundgesetzes mit der 30 Vgl. Evangelische Kirche und freiheitliche Demo-
Demokratie noch schwer. Erst 1985 bekannte kratie, Gçtersloh 19863; vgl. dazu Eberhard Jçngel,
sich die EKD in einer berçhmten Denkschrift Evangelische Christen in unserer Demokratie, Gçters-
loh 1986.
28 Vgl. Chuck Stetson (ed.), Creating the Better Hour, 31 Martin Riesebrodt, Die Rçckkehr der Religion,

Macon 2007; Ian Bradley, The Evangelical impact on Mçnchen 20012, S. 89.
the Victorians, Oxford, 2006; Thomas Schirrmacher, 32 Vgl. Alexandre Brasil Fonseca, Evangelicos e mÌdia

Rassismus, Holzgerlingen 2009, und ders., Multi- no Brasil, Rio de Janero 2003; ders, Religion and De-
kulturelle Gesellschaft, Holzgerlingen 2006. mocracy in Brazil, in: Paul Freston (ed.), Evangelical
29 Martin Greschat (Hrsg.), Christentum und Demo- Christianity and Democracy in Latin America, Ox-
kratie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1992, S. VIII. ford±New York 2008.

APuZ 14/2009 25
des Protestantismus. Gemessen an deutschen ein, 38 und das nicht nur zum Schein. Reinhard
Maûståben sind sie çberwiegend fundamenta- Hempelmann hat seine These, nach der die
listisch orientiert ± ob es sich um den presby- deutschen Evangelikalen çberwiegend keine
terianischen oder den pfingstkirchlichen Flç- Fundamentalisten seien und der christliche
gel handelt. Sie leben friedlich in einer bud- Fundamentalismus in Deutschland keine Basis
dhistischen Mehrheitsgesellschaft und stabili- habe, unter anderem damit belegt, dass christ-
sieren die såkulare Demokratie. 33 liche Kleinparteien wie die pfingstkirchliche
Partei Bibeltreuer Christen (PBC) oder die ka-
In jçngster Zeit wurden soziologische Unter- tholische Christliche Mitte kaum gewåhlt wer-
suchungen zum Verhåltnis von Evangelikalen den. 39 Dazu kommt, dass sie von ihren jeweili-
zur Politik und insbesondere zur Demokratie gen Kirchen auch nicht ansatzweise unter-
in fast allen Låndern des globalen Sçdens vorge- stçtzt werden. Øhnliches gilt fçr die USA. Die
legt. 34 Die Bilanz ist dabei insgesamt sehr posi- Christian Reconstruction gilt als einzige Bewe-
tiv, die Unterstçtzung von Diktatoren oder Un- gung, die theoretisch eine christliche Republik
rechtsregimen blieb die Ausnahme. Hier zeigt mit biblischen Gesetzen im Sinne der ersten
sich auch, dass man die 300 bis 400 Millionen Grçnderstaaten der USA verpflichtend ma-
Evangelikalen auûerhalb der USA nicht mit den chen wollte. Sie blieb bedeutungslos und hat
50 Millionen Evangelikalen in den USA gleich- den Tod ihres Grçnders kaum çberlebt. 40
setzen darf, wobei auch unter ihnen einen er-
heblicher Anteil evangelikale Afroamerikaner Das Problem der evangelikalen Bewegung
und Latinos bilden und selbst unter George W. in ihrer Geschichte und in Teilen bis heute
Bush immer noch 40 Prozent der Evangelikalen liegt eher darin, dass sich Evangelikale von der
die Demokraten wåhlten. 35 Politisch teilen sich Politik fernhalten und anderen das Gestalten
die Evangelikalen weltweit in Rechts- und der Gesellschaft çberlassen. Gerade dadurch
Linksevangelikale, wobei die Linksevangelika- sind sie aber fçr Demokratien ungefåhrlich
len Lateinamerikas oder Indiens 36 fast schon (sofern man nicht den hohen Anteil der Nicht-
zur Befreiungstheologie gehæren und in den wåhler als demokratiegefåhrdend ansieht). Die
USA mit Vertretern wie Ronald Sider oder Jim russlanddeutschen Evangelikalen in Deutsch-
Wallis zu den schårfsten Kritikern der Politik land beispielsweise arbeiten oft nicht einmal
Bushs zåhlten. 37 mit anderen Evangelikalen zusammen. Den-
noch stammen sie çberwiegend aus der ganz
Nimmt man, um eine andere Messgruppe oder teilweise pazifistischen Tradition der
zu wåhlen, christliche Ethiken evangelikaler Mennoniten und Baptisten und sind deswegen
Theologen ± nach Riesebrodts Definition in punkto Gewalt oder Missbrauch der Politik
ebenfalls ¹Fundamentalistenª ±, so treten ¹ungefåhrlicheª Kirchen. Sie mægen im reli-
alle aus vielerlei Grçnden fçr Demokratie giæsen Sinne Fundamentalisten sein, im politi-
schen Sinne sind sie es sicher nicht. Denn ge-
rade, wenn Fundamentalismus bedeutet, den
Ursprungszustand der Religion gegen die Mo-
33 Vgl. Donald N. Clark, Protestant Christianity and
derne wiederherstellen zu wollen, entsteht im
the State, in: Charles K. Armstrong (Hrsg.), Korean
christlichen Bereich mit dem Ideal der ganz
society, New York 20062; David Halloran Lumsdaine
(ed.), Evangelical Christianity and democracy in Asia, und gar unpolitischen Urgemeinde in Jerusa-
New York±Oxford 2008. lem eine eher pazifistische Bewegung.
34 Vgl. z. B. D. H. Lumsdaine (ebd.); Terence O. Ran-

ger (ed.), Evangelical Christianity and democracy in


Africa, Oxford-New York 2006; Paul Gifford, African 38 Fçr Deutschland zu nennen wåren Klaus Bock-
Christianity, Kampala 1999. mçhl, Georg Huntemann, Helmut Burkhardt, Horst
35 Vgl. M. Pally (Anm. 27), S. 54, S. 57.
Afflerbach und Thomas Schirrmacher.
36 Vgl. etwa den evangelikalen Vorreiter der indischen 39 Vgl. Reinhard Hempelmann, Fundamentalismus,
Úkologiebewegung Ken Gnanakan, Responsible Ste- in: Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle fçr
wardship of God's creation, Bangalore 2004. Weltanschauungsfragen, 71 (2008) 7, S. 243 f.; vgl.
37 Vgl. Ronald J. Sider, Scandal of Evangelical Politics,
Thomas Schirrmacher, Feindbild Islam. Am Beispiel
Grand Rapids 2008; Jim Wallis, Dangerous religion. der Partei ¹Christliche Mitteª, Nçrnberg 2003.
George W. Bush's theology of empire, in: Bruce Ellis 40 So etwa M. Pally (Anm. 27), S. 55; vgl. im Detail
Benson/Peter Goodwin Heltzel (eds.), Evangelicals Thomas Schirrmacher, Anfang und Ende von
and Empire, Grand Rapids 2008; Randall Balmer, Thy ¹Christian Reconstructionª (1959±1995), Bonn 2001.
Kingdom Come. How the religious right distorts the
faith and threatens America, New York 2006.

26 APuZ 14/2009
Joachim Wiemeyer Da in protestantischen Territorien wie
Preuûen der Kænig oberster Repråsentant der

Das Engagement evangelischen Kirche war, wurde diese eng an


den Staatsapparat gebunden. Da ein politi-

von Christen in
scher Zusammenschluss zur Verteidigung
kirchlicher Rechte in der protestantischen
Mehrheitsbevælkerung nicht notwendig war,

politischen Parteien die Lockerung der kirchlichen Bindungen


von Kirchenmitgliedern im Protestantismus
eher als bei Katholiken einsetzte und dieser
stårker die Gewissensfreiheit betonte, gab es

V on einem Parteienwesen im modernen


Verståndnis kann erst die Rede sein,
wenn es ansatzweise demokratische Struktu-
im politischen Raum einen stårkeren Pluralis-
mus politischen Engagements als unter Ka-
tholiken. Dieses konnte in traditionell kon-
ren mit einem Wahlrecht fçr groûe Teile der servativen, håufig låndlich geprågten Parteien
Bevælkerung gibt. Dies war im Deutschen ebenso stattfinden wie in eher liberal-bçrger-
Reich kontinuierlich seit 1871 der Fall, seit lichen Parteien. Der Versuch des Hofpredi-
der Einfçhrung des gers Adolf Stoecker, 1878 eine mit der evan-
gleichen Stimmrechts gelischen Arbeiterschaft verbundene christ-
Joachim Wiemeyer
fçr Månner bei lich-soziale Partei zu grçnden, scheiterte an
Dr. rer. pol., lic. theol., geb.
Reichstagswahlen. mangelnder Resonanz.
1954; Professor für Christliche
Erst nach der Abdan-
Gesellschaftslehre an der Ka-
kung des Kaisers und Die schrittweise Entwicklung zur Demo-
tholisch-Theologischen Fakultät
mit Beginn der Repu- kratie und dem dazugehærigen Parteienwesen
der Ruhr-Universität Bochum,
blik erhielten auch hatte Konsequenzen fçr die kirchliche Ver-
44801 Bochum.
Frauen und Fçrsorge- kçndigung und die Theologie. Um gesell-
joachim.wiemeyer@rub.de
empfånger 1919 das schaftlich handelnden Katholiken und katho-
Stimmrecht, ebenso lischen Wåhlern Orientierung zu geben,
wurde das in Bundesstaaten wie Preuûen be- wurde vom kirchlichen Lehramt mit der er-
stehende Dreiklassenwahlrecht abgeschafft. sten Sozialenzyklika ¹Rerum Novarumª
Vom selben Jahr an bestimmten Parteien bzw. Papst Leos XIII. von 1891 eine neue Form
ihre Parlamentsfraktionen und nicht mehr der kirchlichen Sozialverkçndigung entwi-
der Monarch die Zusammensetzung der Re- ckelt. 1 Ein wichtiger Gegenstand der Sozial-
gierungen. enzykliken war die Auseinandersetzung mit
weltanschaulich geprågten politischen Partei-
Mit der Entstehung von politischen Partei- en wie der Sozialdemokratie und den Libera-
en mussten sich christliche Kirchen, ihre len, vor denen gewarnt wurde. In der Theolo-
Amtstråger wie Bischæfe, Priester oder Pasto- gie bildete sich eine eigenståndige Disziplin
ren, sowie einzelne Christen entscheiden, ob heraus, zumeist Christliche Gesellschaftsleh-
sie selbst Parteien grçnden oder in ihnen mit- re genannt, welche die normative Gestaltung
arbeiten und durch diese vermittelte Aufga- der relativ autonomen Kulturbereiche moder-
ben wie Parlamentsmandate çbernehmen ner Gesellschaften, der Wirtschaft und des
wollten. Bis dahin hatte die katholische Kir- Staates aus christlicher Sicht reflektierte. In
che versucht, durch Vereinbarungen zwischen der evangelischen Kirche in Deutschland
dem Papst und den monarchischen Regierun- wurde seit 1962 versucht, çber ¹Denkschrif-
gen sowie zwischen Bischæfen und Staat ihr tenª auf die politische Meinungsbildung ein-
Verhåltnis zur Politik zu bestimmen. Seit der zuwirken. 2 Bis zum Zweiten Vatikanischen
als Unrecht empfundenen Såkularisierung
von 1803 gab es im 19. Jahrhundert heftige 1 Die Dokumente der gesamtkirchlichen Sozialver-

Konflikte zwischen der katholischen Kirche kçndigung findet man in: Texte zur Katholischen So-
und dem Staat in Deutschland. Aufgrund die- ziallehre, Bornheim 20079; eine Zusammenfassung in:
ser Konfliktlage, die kurz nach der Reichs- Påpstlicher Rat fçr Gerechtigkeit und Frieden, Kom-
pendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg i.Br.
grçndung 1871 im ¹Kulturkampfª eskalierte, 2006.
organisierte sich die katholische Bevælke- 2 Vgl. Hermann Barth, Denkschriften, in: Evan-
rungsminderheit politisch in der Zentrums- gelisches Soziallexikon, Neuauflage, Stuttgart 2001,
partei. Sp. 260±265.

APuZ 14/2009 27
Konzil (1961±1965) wurden eher die konfes- nen sich einzelne Christen auch innerhalb
sionsspezifischen Unterschiede betont, wåh- von nicht ausdrçcklich christlichen Organisa-
rend es seither in der theologischen Reflexion tionen (Gewerkschaften, Bçrgerinitiativen)
wie in der Verkçndigung beider groûen Kir- gesellschaftlich betåtigen.
chen in Deutschland eine groûe Annåherung
gibt, die sich in einer Vielzahl von gemeinsa- Wåhrend ein Engagement in den genannten
men Dokumenten zu sozialethischen Fragen Feldern kirchlicher Institutionen unbestritten
niederschlågt. 3 ist und engagierten Personen Wertschåtzung
einbringt, stæût ein Weltengagement in Form
Parteipolitisches Handeln parteipolitischer Betåtigung innerhalb von
Gemeinden durchaus auf Skepsis: Soll ein
als Teil des Weltengagements guter Christ sich auf die Politik einlassen? Ist
Politik nicht von Intrigen, Machtstreben,
Zwar gibt es im Christentum Ansåtze, sich Seilschaften, Lçge und Demagogie, Freund-
auf die Liturgie, das Gebet und die Meditati- Feind-Denken und der Abwertung politi-
on zu konzentrieren und sich im Weltengage- scher Gegner gekennzeichnet? Widerspre-
ment zurçckzuhalten. Aber diese Tradition chen diese Erscheinungen nicht diametral
ist in der Orthodoxie stårker als im westli- christlichen Werten, sodass sich ein Christ
chen Christentum ausgeprågt. Dort gehærte besser von der Parteipolitik fernhålt?
die Færderung humaner Lebensbedingungen
immer zum Christsein dazu. Dies låsst sich Dafçr, dass Christen sich auch in Parteien
gerade an Klæstern ablesen, die als Orte des organisieren sollen, spricht, dass Parteien die
Gebets håufig auch soziale Funktionen wahr- zentrale Verbindung zwischen der Zivilgesell-
nehmen, etwa in der Versorgung von Armen, schaft, 4 in der Kirchen und christliche Orga-
in der Betreuung von Waisen, Alten und nisationen vorwiegend wirken, und dem
Kranken sowie in Erziehung und Bildung. staatlichen Bereich von Parlamenten und Re-
Katholische wie evangelische Kirchen stim- gierungen darstellen. Zivilgesellschaftliche
men darin çberein, dass Weltgestaltung aus Akteure kænnen zwar durch Beeinflussung
dem Glauben heraus verpflichtend ist. Als der æffentlichen Meinung, politisches Lob-
Christ kann und darf man keine pråchtigen bying, Demonstrationen oder Petitionen auf
Gottesdienste feiern oder intellektuell keine die politische Willensbildung Einfluss neh-
rein theoretischen theologischen Reflexionen men, der tatsåchliche Einfluss hångt aber we-
anstellen. Dies wåre jenseits der sozialen Rea- sentlich davon ab, ob zivilgesellschaftliches
litåt und der konkreten Næte der Menschen. Engagement auch von Parteien und im staat-
Ebenso wenig wçrde es der Botschaft des lichen Sektor rezipiert wird. So haben lokale
Evangeliums und der Nachfolge Jesu entspre- Bçrgerinitiativen im Umweltbereich die Er-
chen, der sich in seinen Taten und seiner Ver- fahrung gemacht, dass nicht nur eine çberre-
kçndigung den Armen, Notleidenden und gionale Zusammenarbeit auf der nationalen
Bedrçckten zugewandt hat. politischen Bçhne ausreicht, um ihre Ziele zu
erreichen, sondern dass man die Grçndung
Fçr dieses Weltengagement der institutio- von Parteien (Die Grçnen), die Mitarbeit in
nalisierten Kirche, der Gemeinden und Pfar- Parlamenten und darçber hinaus in Regierun-
reien, freier kirchlicher Vereinigungen, Ver- gen benætigt, um eigene Ziele durchzusetzen.
bånde, Gruppen und einzelner Christen be-
stehen in modernen Gesellschaften vielfåltige Ebenso kænnen Christen die Vertretung
Mæglichkeiten. Davon zeugen kirchliche Ein- von Interessen ihrer Kirchen und den Einsatz
richtungen wie Caritas, Brot fçr die Welt und fçr ihre grundlegenden Ziele verwirklichen,
andere Hilfswerke. Es gibt eine Vielfalt von die seit den ækumenischen konziliaren Pro-
christlichen Organisationen und Verbånden zessen der 1980er Jahre mit den zentralen Ka-
mit sozialem und gesellschaftlichem Bezug. tegorien Gerechtigkeit, Bewahrung der
Daneben existiert eine Fçlle von Einrichtun- Schæpfung und Frieden zugespitzt formuliert
gen im Bildungswesen. Darçber hinaus kæn- werden, wenn sie sich in politischen Parteien
3 Vgl. die vom Kirchenamt der EKD/Sekretariat der

Deutschen Bischofskonferenz herausgegebene Reihe 4 Vgl. Antonius Liedhegener, Bçrger- und Zivilgesell-

¹Gemeinsame Texteª, etwa Nr. 19: Demokratie schaft, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Handbuch der Ka-
braucht Tugenden, Hannover±Bonn 2006. tholischen Soziallehre, Berlin 2008, S. 887 ±897.

28 APuZ 14/2009
engagieren. Aus theologisch-ethischer Sicht Christen in politischen Parteien
kann ein solches politisches Engagement nur
begrçût und als hervorragende Tat der Nåchs- in Deutschland
tenliebe angesehen werden.
Das politische Engagement von Christen war
Wesentlich durch politisches Gestalten in Deutschland bis 1933 weitgehend konfes-
kænnen die Strukturen des menschlichen Zu- sionell getrennt. Zwar war die Zentrumspar-
sammenlebens so geregelt werden, dass die tei nominell nicht katholisch, doch de facto
institutionellen Grundvoraussetzungen ge- traf dies zu. Zaghafte Bemçhungen, die Partei
rechter Gesellschaften geschaffen werden. nach 1918 konfessionell zu æffnen, blieben
Wenn das christliche Gebot der Nåchstenlie- ohne Bedeutung. Sie war hinsichtlich ihrer
be darauf zielt, das Wohl der Mitmenschen Wåhler- und Mitgliedschaft die Partei der kir-
zu færdern, kann dies am besten durch politi- chentreuen Katholiken, die sich durch regel-
sches Handeln geschehen, weil praktisch kein måûigen Gottesdienstbesuch und Mitglied-
anderer Bereich menschlichen Gestaltens eine schaften in katholischen Organisationen aus-
so breite Wirkung hinsichtlich des Personen- zeichneten. Diese Organisation erfolgte
kreises und des Ausmaûes der Wohlfahrtsfær- jenseits der sozioækonomischen Interessen-
derung erreichen kann. Ebenso groû kann konflikte zwischen Unternehmern und Ar-
aber auch das Unheil sein, das von Politik beitnehmern, Groûgrundbesitzern und
verursacht werden kann, weshalb Christen in Kleinbauern, Handwerksmeistern und Gesel-
der Politik dem entgegentreten kænnen. Poli- len.
tiker zu werden, um das Gemeinwohl zu fær-
dern, kann durchaus im religiæsen Sinne als Der Zentrumsfraktion im Reichstag gehær-
Berufung verstanden werden: ¹Wer dazu ge- ten bis 1933 Priester und Laien, darunter
eignet ist oder sich dazu ausbilden kann, soll viele Adlige, an. Das Verhåltnis der Zen-
sich darauf vorbereiten, den schweren, aber trumspartei zum Papst und den Bischæfen
zugleich ehrenvollen Beruf des Politikers aus- war nicht immer spannungsfrei. So kam es
zuçben, und sich diesem Beruf unter Hintan- etwa auf dem Katholikentag 1920 in Mçn-
setzung des eigenen Vorteils und materiellen chen zum Zusammenstoû zwischen dem
Gewinns widmen.ª 5 Mçnchener Erzbischof Kardinal Faulhaber,
welcher der Monarchie der Wittelsbacher
Da in modernen Gesellschaften Parteien nachtrauerte und die Weimarer Demokratie
eine unverzichtbare Rolle fçr politisches ablehnte, und dem rheinischen Zentrumspoli-
Handeln einnehmen und ohne diese politi- tiker und Kælner Oberbçrgermeister Konrad
sches Gestalten zum Allgemeinwohl kaum Adenauer, der die Katholiken aufforderte,
mæglich erscheint, ist eine Mitwirkung von den Weimarer Staat zu unterstçtzen. 6
Christinnen und Christen in politischen Par-
teien erwçnscht. Dabei sollten sie sowohl In- Protestanten engagierten sich vorwiegend
halte vertreten, die christlichen Wertvorstel- in konservativen und deutschnationalen Par-
lungen entsprechen, als auch sich im politi- teien. Noch in der Weimarer Republik hing
schen Wettbewerb und Meinungskampf nur die Mehrzahl der evangelischen Pastoren
ethisch zu billigender Instrumente und Me- deutschnationalen Parteien an. Kråfte in der
thoden bedienen. In der Weimarer Republik evangelischen Kirche, die als religiæse Soziali-
war es den politischen Parteien nicht gelun- sten eine Verbindung zwischen Christentum
gen, durch hinreichende inhaltliche Ûberein- und Sozialismus anstrebten, waren zwar græ-
stimmung und Kompromissfåhigkeit sowie ûer als vergleichbare Gruppen in der katholi-
eine angemessene politische Kultur im Partei- schen Kirche, blieben jedoch eine sehr kleine
enwettbewerb der jungen Demokratie hinrei- Minderheit. 7 Die Auffassung des sozialdemo-
chende Stabilitåt zu verleihen. kratischen Parteifçhrers August Bebel, der
1874 aus der evangelischen Kirche ausgetreten

6 Vgl. Franz-Josef Stegmann/Peter Langhorst, Ge-

schichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizis-


mus, in: Helga Grebing (Hrsg.), Geschichte der sozia-
5 Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen len Ideen in Deutschland, Essen 2000, S. 748 f.
Konzils, Gaudium et spes von 1965, Nr. 75, abgedruckt 7 Vgl. Traugott Jåhnichen, Religiæser Sozialismus, in:

in: Texte zur Katholischen Soziallehre (Anm. 1). Evangelisches Soziallexikon (Anm. 2), Sp. 1331±1334.

APuZ 14/2009 29
war, dass ¹Christentum und Sozialismus sich Arbeitskreis, der drei zentrale Aufgaben çber-
wie Feuer und Wasserª zueinander verhalten, nahm: die Verbindung von CDU und CSU
und die entsprechende Programmatik der So- zur evangelischen Kirche zu halten, in der Par-
zialdemokratie repråsentierten diese Distanz. teiprogrammatik allzu eindeutig katholische
Aufgrund der Kirchenverfolgung kam nach Positionen beziehungsweise Semantiken zu-
der Oktoberrevolution 1917 in Russland die rçckzudrången und eine ausreichende protes-
als Abspaltung des linken Flçgels der Sozial- tantische Repråsentanz in Fçhrungspositio-
demokratie entstandene kommunistische Par- nen von Parteien, Parlament und Regierung
tei fçr Christen nicht in Frage. Protestanten zu fordern. Wåhrend der erste Bundeskanzler
aus dem stådtischen Bçrgertum, unterstçtzten Konrad Adenauer (CDU) dem katholischen
liberale politische Parteien. Nachdem sich Glauben angehærte, waren die Parlamentsprå-
viele Christen auf den Nationalsozialismus sidenten Hermann Ehlers und Eugen Gersten-
eingelassen, andere hingegen Widerstand ge- maier die fçhrenden evangelischen Repråsen-
leistet hatten, kam es nach 1945 zu neuen po- tanten in der CDU. Der Konfessionsproporz
litischen Konstellationen. spielt seit den 1980er Jahren in den Unionspar-
teien keine groûe Rolle mehr.

Neubeginn nach 1945 Fçr die katholische Kirche besteht seit 1945
ein wesentlicher Unterschied zur Zeit vor
Aus dem Bewusstsein heraus, dass nach den 1933 darin, dass Priester keine Erlaubnis mehr
Verbrechen des Nationalsozialismus nur eine erhalten, sich in politischen Ømtern zu betåti-
Neuordnung Deutschlands auf christlicher gen. Zwar ist es ihnen auch heute mæglich, ein-
Grundlage mæglich sei, wurden 1945 die faches Parteimitglied zu sein. Sie dçrfen aber
Christlich Demokratische Union (CDU) und keine Parteifunktionen und Parlamentsman-
die Christlich-Soziale Union (CSU) als inter- date çbernehmen. Hingegen kænnen evangeli-
konfessionelle neue Parteien gegrçndet. Der sche Pastoren sich auch parteipolitisch heraus-
konkurrierende Versuch, die katholische Zen- gehoben engagieren und Parlamentsmandate
trumspartei wiederzubeleben, scheiterte, weil annehmen. Sie werden in diesem Fall von der
diese weder bei den Bischæfen noch bei Fçh- Kirche von ihrem Pastorenamt beurlaubt. Im
rungspersonen katholischer Laienorganisatio- Deutschen Bundestag hat es sowohl in der
nen die notwendige Unterstçtzung fand. Die SPD- wie in der CDU/CSU-Fraktion evange-
Zentrumspartei blieb eine Splitterpartei, wåh- lische Pastoren gegeben, wobei die Zahl der
rend CDU und CSU als Schwesterparteien Pastoren bei der SPD bis heute græûer ist.
zur stårksten politischen Kraft in der Bundes-
republik aufstiegen. Bereits bei den Beratungen des Parlamenta-
rischen Rates çber das Grundgesetz war deut-
Eine solche interkonfessionelle Zusammen- lich geworden, dass SPD und FDP die Rechte
arbeit war damals theologisch noch nicht der Kirchen und explizit christliche Wertposi-
selbstverståndlich und nicht ohne Risiken. tionen viel zurçckhaltender in die Verfassung
Daher unterlieû man es in beiden Parteien, aufnehmen wollten als die Unionsparteien.
programmatische Grundsatzdebatten çber Daher wurden als Kompromiss die Kirchenar-
das ¹Cª im Namen bis zu den theologischen tikel der Weimarer Reichsverfassung als Arti-
Fundamenten vorstoûen zu lassen, weil sich kel 140 in das Grundgesetz çbernommen. Die
hier Unterschiede zwischen dem katholischen FDP profilierte sich in den 1950er und 1960er
Naturrecht und der protestantischen Prioritåt Jahren als Partei, die einen zu starken kirchli-
der biblischen Schriften (sola scriptura) aufge- chen Einfluss auf das æffentliche Leben
tan håtten. CDU und CSU beschrånkten sich (¹Kampf dem Klerikalismusª) zurçckdrången
vielmehr auf pragmatische Politikkonzeptio- wollte. Dies entzçndete sich vor allem in den
nen, die wie die ¹Soziale Marktwirtschaftª er- Bundeslåndern, wo die Frage der Konfessi-
folgreich verbreitet werden konnten. Die onsschulen vielfach ein Streitthema war. Vor
CDU, noch stårker die CSU, waren nach allem fçr kirchengebundene Katholiken kam
Grçndung der Bundesrepublik sowohl von ein politisches Engagement in der FDP zu Be-
der Wåhlerschaft, der Mitgliedschaft wie den ginn der Bundesrepublik nicht in Frage.
Mandats- und Funktionstrågern von Katholi-
ken dominierte Parteien. Die protestantische In der Sozialdemokratie galt bis zum Go-
Minderheit organisierte sich im Evangelischen desberger Programm 1959 das Heidelberger

30 APuZ 14/2009
Grundsatzprogramm von 1925, das deutliche der Menschenrechte oder der Ablehnung von
religions- und kirchendistanzierte Bezçge auf- Abtreibung. 9
wies. Trotzdem engagierten sich nach 1945
viele Protestanten in der Sozialdemokratie, Gerade der letzte Aspekt fçhrte in der Dis-
weil sie vor allem in einer verånderten Wirt- kussion um die Liberalisierung des Para-
schaftsordnung eine Konsequenz aus dem Na- graphen 218 in den 1970er Jahren noch ein-
tionalsozialismus sahen. Die Distanz von kir- mal zu erheblichen Konflikten zwischen der
chengebundenen Protestanten zur Sozialde- katholischen Amtskirche und katholischen
mokratie in den 1950er Jahren kam dadurch Laienorganisationen, ihrem Zusammen-
zum Ausdruck, dass Personen wie Gustav schluss im Zentralkomitee der deutschen Ka-
Heinemann nach seinem Austritt aus der tholiken (ZdK) einerseits sowie der Sozialde-
CDU, Johannes Rau oder Erhard Eppler zu- mokratie und der FDP, spåter auch der neu
nåchst die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) gegrçndeten Partei der Grçnen anderseits.
grçndeten und sich erst spåter der Sozialde- Damit Abgeordnete nicht zwischen der
mokratie anschlossen, mit der sie in hæchste Loyalitåt zu Mehrheitsbeschlçssen ihrer Par-
Staatsåmter gelangten. Die stårkere Orientie- tei und den ethischen Auffassungen ihrer Kir-
rung der Protestanten zur Sozialdemokratie chen entscheiden mçssen, ist es seit Långerem
wurde von prominenten Theologen wie Karl im Deutschen Bundestag çblich, dass es bei
Barth untermauert, der Harmonie von Sozia- Themen, die ethische Grundsatzfragen be-
lismus und Christentum propagierte. rçhren, etwa Abtreibung, Stammzellenfor-
schung oder Patientenverfçgung, keine Ab-
Engagierte Katholiken in Fçhrungspositio- stimmungsempfehlungen der Fraktionen
nen der Sozialdemokratie blieben bis 1970 die gibt, sondern parteiçbergreifende Antråge
Ausnahme. In den 1960er Jahren war der Ge- von Abgeordneten formuliert werden, fçr
werkschaftsvorsitzende und spåtere Bundes- welche die jeweiligen Unterzeichner Mehr-
minister Georg Leber eine solche Persænlich- heiten suchen. Bei einer Reihe dieser Fragen
keit. Spåter çbernahmen viele Katholiken gibt es zudem zwischen beiden groûen Kir-
auch in der SPD Spitzenåmter. Eine Plurali- chen sowie zwischen theologischen Ethikern
sierung des politischen Engagements von Ka- unterschiedliche Auffassungen, wie die jçngs-
tholiken setzte sich erst im Umfeld des Zwei- te Ønderung des Gesetzes zur Stammzellen-
ten Vatikanischen Konzils durch. Dabei forschung gezeigt hat. Da sich aufgrund die-
waren zwei Faktoren entscheidend: Erstens ser Abstimmungspraxis kein Christ gedrångt
hatten SPD und FDP ihre traditionellen welt- sieht, in solchen ethischen Grundsatzfragen
anschaulichen Positionen hinter sich gelassen gegen sein Gewissen und gegen kirchliche
und sich so auch fçr Katholiken geæffnet. Ûberzeugungen zu handeln, steht einem poli-
Zweitens wurde auf dem Zweiten Vatikani- tischen Engagement von Christen in verschie-
schen Konzil das Verhåltnis von Kirche und denen politischen Parteien nichts entgegen.
Welt neu bestimmt. Indem in der Pastoral- Nach dem Fall der Mauer 1989 und der
konstitution ¹Gaudium et spesª 8 die mo- Wiedervereinigung hat sich durch die PDS/
derne Gesellschaft mit ihren ausdifferenzier- Linkspartei eine neue Konstellation ergeben.
ten Funktionssystemen und autonomen Ein- Aufgrund der kirchenfeindlichen Haltung
zelwissenschaften anerkannt wurde, nahm die der SED in der DDR gibt es erhebliche Vor-
kirchliche Hierarchie ihren Anspruch zur un- behalte auch gegen ihre Nachfolgeparteien
mittelbaren Intervention in diese Bereiche PDS und Die Linke. Bei der friedlichen Re-
zurçck und çberlieû sie der Eigenverantwor- volution und nach 1989 haben sich in den æst-
tung und der Sachkompetenz der Laien. Aus- lichen Bundeslåndern viele Christen partei-
drçcklich wurde Katholiken ein Pluralismus politisch engagiert. Wåhrend die Mehrzahl
in politischen Fragen zugebilligt und zuge- der Bevælkerung in Ostdeutschland (etwa 70
standen, dass Katholiken bei politischen Ein- Prozent) nicht getauft ist, bilden in den Land-
zelfragen zu unterschiedlichen Entscheidun-
gen kommen kænnen (¹Gaudium et spesª,
9 Dies wird von der Glaubenskongregation fçr die
Nr. 43). Grenzen fçr den Pluralismus liegen
Glaubenslehre unterstrichen: Lehrmåûige Note zu ei-
fçr das Konzil lediglich noch in einer Reihe
nigen Fragen çber den Einsatz und das Verhalten der
von Grundsatzfragen, etwa in der Achtung Katholiken im politischen Leben vom 24. 1. 2002
(Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 158), Bonn
8 In: Texte zur Katholischen Soziallehre (Anm. 1). 2002.

APuZ 14/2009 31
tagen vielfach Christen, die unterschiedlichen gen haben und amtskirchliche Forderungen
Parteien angehæren, eine deutliche Mehrheit als Grenzçberschreitungen zurçckgewiesen
(vor allem in Sachsen und Thçringen). haben. Es existiert also ein immer wieder neu
auszutarierender Bereich zwischen einer legi-
Probleme des parteipolitischen timen kirchlichen Verkçndigung, die aus
christlicher Sicht ethische Grundfragen des
Engagements Politischen anspricht, und der Autonomie
politisch handelnder Laien, die in eigener
Fçr Christen, die sich politisch engagieren Verantwortung und Sachkompetenz politi-
wollen, stellt sich zunåchst die Frage, fçr wel- sche Entscheidungen treffen mçssen. Ange-
che Partei sie sich entscheiden sollen: ¹Der sichts der Pluralitåt des christlichen Engage-
Christ kann keine Partei finden, die den aus ments in politischen Parteien darf mit Recht
seinem Glauben und seiner Kirchenzugehæ- erwartet werden, dass sich Christen mit un-
rigkeit entsprechenden ethischen Forderun- terschiedlichen parteipolitischen Optionen
gen voll und ganz entspricht: Deshalb soll nicht gegenseitig als ¹unchristlichª verurtei-
seine Zugehærigkeit zu einem politischen len oder gar bekåmpfen. Dies bedeutet etwa,
Lager niemals ideologisch, sondern immer dass das ¹Cª in CDU und CSU als freiwillig
kritisch sein.ª 10 Dies setzt Kompromissfå- angenommene Selbstverpflichtung, aber nicht
higkeit voraus, die aber nicht zu grenzenlo- als exklusiver Anspruch zu verstehen ist.
sem Pluralismus politischen Engagements
fçhren darf. Aus theologisch-ethischer Sicht Von Christen ist weiterhin zu erwarten, dass
gibt es eine Ablehnung der Mitwirkung in sie auch Nichtchristen mit Achtung und Res-
Parteien, die eine antichristliche Weltan- pekt begegnen. Sie kænnen fçr sich per se kei-
schauung vertreten, Menschenrechte ableh- nen Vorrang in Werte- wie in Sachkompetenz
nen oder bekåmpfen. Dies gilt etwa fçr beanspruchen, sondern haben die Argumente
rechtsextreme Parteien. anderer zu beachten. Parteipolitisches Engage-
ment von Christen, wenn es tatsåchlich mit
Weiterhin stellt sich fçr Christen die Bestim-
Einfluss verbunden ist, kann auf Grund seiner
mung ihres Verhåltnisses zu ihrer Kirche und
Dauerhaftigkeit, seiner Zeitintensitåt und sei-
zu christlichen Organisationen, insbesondere,
nes Aufwandes etwa in zeitlicher Hinsicht mit
wenn die Mehrheit der Parteimitglieder keine
anderen Verpflichtungen wie der Pflege der
engagierten Christen darstellt. Da es in evange-
Beziehungen in Familien oder im Freundes-
lischen Kirchen kein Lehramt wie im katholi-
kreis, aber auch mit religiæsen Pflichten (Got-
schen Bereich gibt, ist dies fçr Protestanten
tesdienstbesuch) in Konflikt geraten.
einfacher. Das Lehramt der katholischen Kir-
che gibt in der Moral- und Soziallehre Vorga-
Fçr Christen bleibt Politik immer etwas
ben, und es wird erwartet, dass sich Katholiken
Vorlåufiges und Relatives. Sie werden daher
in der Politik an diesen orientieren. Dabei ver-
politische Ideologien mit umfassendem Welt-
tritt die Kirche die Auffassung, dass es sich
anschauungscharakter und Erlæsungsan-
nicht etwa um katholische Sondernormen han-
spruch zurçckweisen. Solche Ansprçche kæn-
delt, die in einer pluralistischen Gesellschaft
nen sie aufgrund der christlichen Anthropolo-
nun allen Staatsbçrgern vorgegeben werden
gie, die um die Anfålligkeit der Menschen fçr
sollen, sondern um allgemein-menschliche
sachliche und moralische Irrtçmer weiû, nicht
Werte, die auch von Nichtkatholiken und
annehmen. Weiterhin sollte der christliche
Nichtchristen eingesehen werden kænnen und
Glaube politisch handelnde Christen ermun-
fçr diese annehmbar sind. Unter diesen Nor-
tern, çber die Vertretung ihrer eigenen Inte-
men stellt der Lebensschutz von der Befruch-
ressen hinauszugehen und sich durch einen
tung bis zum Ende des Lebens den Kern dar.
Gerechtigkeitssinn auszuzeichnen, der die In-
Katholiken haben immer fçr einen umfassen-
teressen anderer, auch von Nichtwåhlern, z. B.
den Lebensschutz einzutreten.
kommender Generationen, Auslånder, der
In der Vergangenheit hat es politische ¹Dritten Weltª, einbezieht. Das Handeln von
Fragen gegeben, in denen sich katholische Christen in der Politik steht unter dem Selbst-
Laien amtskirchlichen Vorgaben (z. B. nach anspruch, einen Beitrag zu græûerer Gerech-
Abschaffung der Konfessionsschule) entzo- tigkeit in der Gesellschaft zu leisten.

10 Kompendium der Soziallehre (Anm. 1), Nr. 573.

32 APuZ 14/2009
Anke Silomon Nachweis von Kontinuitåten widerståndigen
oder oppositionellen Verhaltens von Prote-

Widerstand stanten im Nationalsozialismus und in der


DDR. Vielmehr sollen religiæs motivierte

von Protestanten
Gruppierungen und christliche Einzelperso-
nen vorgestellt werden, die sich dem national-
sozialistischen Regime widersetzten. 1 Die

im NS und DDR dagegen war zwar durch eine atheisti-


sche Staatsideologie gekennzeichnet, doch
war die Verfolgung Andersdenkender oder

in der DDR politisch Unerwçnschter subtiler und for-


derte weniger Opfer. Wegen der fundamenta-
len Unterschiede konnte es keinen mit dem
gegen den Nationalsozialismus vergleichba-

S påtestens von 1848 an wurde in Deutsch-


land die Trennung von Staat und Kirche
diskutiert. Nach dem Ersten Weltkrieg læste
ren Widerstand geben. Daher soll aufgezeigt
werden, wie das Verhåltnis zwischen Staat
und Christen beziehungsweise Kirchen sich
die Nationalversammlung mit der Weimarer entwickelte und welche mit dem christlichen
Reichsverfassung von 1919 das çberkommene Glauben begrçndeten Formen von wider-
System von Staatskir- ståndigem oder oppositionellen Verhalten
chen ab und regelte entstanden. 2 Dass in wenigen Fållen auch
Anke Silomon das Verhåltnis von personelle Kontinuitåten festzustellen sind,
Dr. phil., geb. 1966; Privatdo- Kirche und Staat neu. kann als lebensgeschichtlicher Zufall gewertet
zentin für Neuere Geschichte an Unabhångig von werden und bedeutet keinesfalls die Ver-
der Universität Karlsruhe. einem als aufklåre- gleichbarkeit oder gar Gleichsetzung von na-
anke.silomon@gmx.de risch empfundenen tionalsozialistischem Deutschland und DDR.
Laizismus bildeten
die Vorstellungen von Religionsfreiheit, Mit der Reformation innerhalb der ræ-
einem weltanschaulich neutralem Staat sowie misch-katholischen Kirche hatten sich zwei
der Selbstbestimmung aller Religionsgemein- evangelische Stræmungen herausgebildet, Lu-
schaften die Grundlage dieser Regelungen. theraner und Reformierte. Wåhrend die lu-
Zwar wurde die Religionsausçbung nicht zur therischen Protestanten die Verbindlichkeit
Privatsache erklårt, sondern blieb eine æffent- der lutherischen Bekenntnisschriften sowie
liche Angelegenheit. Aber diese wurde dem die Zwei-Reiche-Lehre betonen, stehen fçr
Staat entzogen. In den Artikeln 136 bis 139 den reformierten Gottesdienst die Predigt,
der Weimarer Reichsverfassung, die mittels Gebete, gemeinsam gesprochene Texte und
Artikel 140 GG Bestandteil des Staatskir- der Gemeindegesang im Zentrum. Die Kir-
chen- und Verfassungsrechts der Bundesrepu- chen sind schlicht, die Verkçndigung steht im
blik sind und sich auch noch in der DDR- Vordergrund, das Bilderverbot wird ernst ge-
Verfassung von 1949 wiederfanden, blieb nommen. Von den herrschenden Auffassun-
diese rechtliche Regelung bis heute bestehen. gen unter den deutschen Protestanten, die vor
allem im Nationalsozialismus die Grundlage
Die Einbindung der Kirchen in einen Staat fçr den verhaltenen oder offenen Widerstand
und sein politisches System ist sowohl fçr die von Christen bildeten, sollen hier nur zwei
Zeit des Nationalsozialismus als auch fçr die ± stark verkçrzt ± umrissen werden. 1. Die
des geteilten Deutschlands ein Thema, das Anhånger der dialektischen Theologie des
trotz der genannten rechtlichen Vorgaben Schweizer Theologen Karl Barth betonten
durch zahlreiche Spielråume immer wieder die Gçltigkeit der Kænigsherrschaft Christi in
Interpretationsmæglichkeiten eræffnet. Die allen Lebensbereichen. Folgerichtig wandten
Haltung von evangelischen Christen zur
1 Vgl. allgemein Peter Steinbach/Johannes Tuchel
weltlichen ¹Obrigkeitª, also zwischen 1933
und 1945 zum NS-Regime und zwischen (Hrsg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus,
Bonn 1994, sowie Wolfgang Benz/Walter H. Pehle
1949 bis 1990 zur DDR und zum ¹real exis- (Hrsg.), Lexikon des deutschen Widerstandes, Frank-
tierendenª Sozialismus, soll im Folgenden ge- furt/M. 1994.
nauer in den Blick genommen werden. Dabei 2 Vgl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in

geht es nicht um einen Vergleich oder gar den der DDR 1949±1989, Berlin 1997.

APuZ 14/2009 33
sie sich gegen eine Eigengesetzlichkeit der Wort Gottes auch noch andere Ereignisse,
Politik und forderten die Orientierung Måchte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes
menschlichen Rechts am gættlichen. Sie Offenbarung erkennen.ª
waren zumeist Reformierte und schlossen
sich wåhrend der nationalsozialistischen Neben Barth setzte sich das Fçhrungsgre-
Herrschaft in der Bekennenden Kirche zu- mium der Bekennenden Kirche, der Reichs-
sammen. Sie taten dies in Abgrenzung von bruderrat, aus Martin Niemæller, Karl Immer
den Deutschen Christen, die gefærdert von und Hermann Albert Hesse zusammen.
den Nationalsozialisten die Leitung der Nach einer Klårung der Leitungskompeten-
Deutschen Evangelischen Kirche çbernah- zen auf der dritten Bekenntnissynode in
men. 2. Demgegençber traten andere, çber- Augsburg 1935 ging Barth als Professor fçr
wiegend Lutheraner, in Anlehnung an die Systematische Theologie nach Basel. Barth
Zwei-Reiche-Lehre, also die Vorstellung von hærte dennoch nicht auf, sich politisch zu
der parallelen Existenz eines von Gott ge- Wort zu melden ± gegen die Judenverfolgung,
lenkten Reiches und eines weltlichen Staats- fçr die Unterstçtzung der Fliehenden, allge-
gebildes, fçr eine deutliche Trennung theolo- mein gegen das Schweigen von Christen. An-
gischer und politischer Fragen ein und ver- fang 1938 erklårte er in Aberdeen unmissver-
hielten sich politisch weitgehend abstinent. ståndlich: ¹Es gibt unter Umstånden eine
nicht nur erlaubte, sondern gættlich gefor-
derte Resistenz gegen die politische Macht,
Protestanten und ihr Widerstand eine Resistenz, bei der es dann unter Umstån-
den auch darum gehen kann, Gewalt gegen
gegen den Nationalsozialismus Gewalt zu setzen. Anders kann ja der Wider-
stand gegen die Tyrannei, die Verhinderung
Gegen den Versuch der Nationalsozialisten, des Vergieûens unschuldigen Blutes vielleicht
die evangelische Kirche ideologisch und orga- nicht durchgefçhrt werden.ª 4
nisatorisch gleichzuschalten, gab es keine ge-
samtkirchliche Gegenwehr. Eine protestanti- Der Theologe Dietrich Bonhoeffer, dessen
sche Minderheit bildete ± auf der Grundlage Schriften maûgeblich von Barths dialektischer
von Barths theologischen Lehren ± die Be- Theologie beeinflusst waren, verstand die
kennende Kirche, die Mitte 1934 auf ihrer Barmer Theologische Erklårung als Impuls
ersten Synode die Barmer Theologische Er- und Grundlage seiner aktiven Beteiligung am
klårung verabschiedete. Die 139 Vertreter (politischen) Widerstand gegen das national-
von 18 deutschen evangelischen Landeskir- sozialistische Regime. Er war an der Pla-
chen brachten in sechs Thesen ihre Ableh- nung des missglçckten Attentats auf Hitler
nung der staatlichen Vereinnahmungsversu- beteiligt, das Fabian von Schlabrendorff
che und der Verfremdung des christlichen Be- am 13. Mårz 1943 zu verçben versuchte, und
kenntnisses durch die Deutschen Christen Mitwisser des leider ebenfalls gescheiterten
zum Ausdruck. 3 Die aus heutiger Sicht eben- Attentats und Staatsstreichs vom 20. Juli
so dringliche Geiûelung der Menschenrechts- 1944. 5 Barth, der von Bonhoeffers Hinrich-
verletzungen durch das NS-Regime låsst sich tung kurz vor Ende des Krieges zutiefst be-
allenfalls zwischen den Zeilen herauslesen troffen war, hatte Attentate auf Hitler als
ethisch legitim befçrwortet. Etwa dreiûig
oder aber als selbstverståndlich zum christli-
Mitglieder der Bekennenden Kirche wurden
chen Zeugnis gehærend mitdenken. Viele Mit-
von den Nationalsozialisten ermordet oder
glieder der Bekennenden Kirche hatten zu-
starben an den Folgen der Haft. 6 Zu den
nåchst den ¹nationalen Aufbruchª und die
Wiederherstellung staatlicher Autoritåt nach
dem Scheitern des parlamentarischen Systems 4 Karl Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach

am Ende der Weimarer Republik begrçût. reformatorischer Lehre, 20 Vorlesungen (Gifford-Lec-


Der meistzitierte Satz aus der 1. Barmer tures) çber das Schottische Bekenntnis von 1560, ge-
These, der die Basis der Erklårung bildet, lau- halten an der Universitåt Aberdeen im Frçhjahr 1937
und 1938, Zollikon 1938.
tet: ¹Wir verwerfen die falsche Lehre, als 5 Vgl. Joachim Fest, Der lange Weg zum 20. Juli, Ber-
kænne und mçsse die Kirche als Quelle ihrer lin 1994.
Verkçndigung auûer und neben diesem einen 6 1949 gab der Bruderrat der EKD als Nachfolger des

Bruderrates der BK ein Mårtyrerbuch heraus, das die


3 Vgl. Kurt Meier, Kreuz und Hakenkreuz. Die evan- ermordeten und in den KZs umgekommenen BK-
gelische Kirche im Dritten Reich, Mçnchen 1992. Mitglieder und ihre Todesumstånde, soweit bekannt,

34 APuZ 14/2009
durch ihren Widerstand zum NS-Regime aus Der Freiburger politische Widerstands-
christlicher Ûberzeugung bekannt geworde- kreis, der sich anlåsslich der so genannten
nen, hingerichteten Mitgliedern der Beken- Reichskristallnacht seit Ende 1938 regelmåûig
nenden Kirche gehæren auûer Bonhoeffer traf, bestand fast ausschlieûlich aus Mitglie-
auch Hans Koch, Helmuth James Graf von dern und Sympathisanten der Bekennenden
Moltke, Friedrich Justus Perels und Paul Kirche. Ihm gehærten unter anderem Fried-
Schneider. Koch und Perels gehærten zum rich Delekat, Otto Dibelius, Constantin von
Umfeld der Attentåter des 20. Juli 1944, Dietze, Walter Eucken, Adolf Lampe, Otto
ebenso wie der evangelische Theologe und Hof, Friedrich Justus Perels, Gerhard Ritter,
spåtere CDU-Politiker Eugen Gerstenmaier. Helmut Thielicke, Erik Wolf und Ernst Wolf
Dieser war auch Mitglied der 1940 von von an. Zwischen dem Freiburger Kreis gab es
Moltke gegrçndeten bçrgerlich-zivilen Wi- eine (personelle) Verbindung zum Goerdeler-
derstandsgruppe, des Kreisauer Kreises. Die- Kreis und zu Bonhoeffer, was nach dem At-
ser bestand aus einem festen Kern von etwa tentatsversuch vom 20. Juli 1944 zur Verhaf-
zwanzig Mitgliedern und ebenso vielen Sym- tung von von Dietze, Eucken, Lampe, Perels
pathisanten. Die Zusammensetzung der und Ritter durch die Gestapo fçhrte.
Kreisauer war ungewæhnlich bunt: Bçrger-
tum und Adel waren ebenso vertreten wie die
Es lassen sich noch andere evangelische
Arbeiterbewegung, der Katholizismus und
Christen nennen, die sich aus religiæser Moti-
der Protestantismus. Ziel der Gruppe war
vation heraus, weniger spektakulår als die ge-
eine grundlegende geistige, gesellschaftliche
nannten Gruppierungen, dem Regime wider-
und politische Reform Deutschlands, an
setzten, etwa der Staatswissenschaftler Her-
deren Ende eine stark sozialistisch gefårbte
Gesellschaftsordnung stehen sollte. 7 mann Stæhr, Kriegsfreiwilliger im Ersten
Weltkrieg. Auf seine Einberufung zur Kriegs-
Im Gegensatz dazu war der Widerstand marine Anfang 1939 reagierte Stæhr mit Ver-
der Mitte 1942 in Mçnchen gegrçndeten weigerung aus Gewissensgrçnden, bot sich
Gruppe Weiûe Rose, deren wichtigste Mit- jedoch fçr einen ersatzweisen Arbeitsdienst
glieder Hans und Sophie Scholl, Christoph an. Er ignorierte zwei Einberufungsbefehle;
Probst, Willi Graf und Alexander Schmorell das Reichskriegsgericht verurteilte ihn am
waren, çberwiegend christlich geprågt. Das 16. Mårz 1940 wegen Wehrkraftzersetzung
Entsetzen çber die Deportation und den er- zum Tode und lehnte das Gnadengesuch ab.
barmungslosen Umgang mit den Juden sowie Am 21. Juni 1940 wurde Stæhr in Berlin-Plæt-
mit Oppositionellen und das zum Teil eigene zensee enthauptet. Der Jurist Hermann Rein-
Miterleben von Massenermordungen in muth, der bereits vor 1933 humanitåre Hilfs-
Polen und Russland motivierte die Mitglieder aktionen initiiert hatte, opponierte ebenfalls
der Weiûen Rose zur subversiven, çber die schon frçh gegen die Nationalsozialisten.
Verbrechen des NS-Regimes aufklårenden Wegen seines juristischen Beistandes fçr ver-
Flugblattarbeit. Bereits am 18. Februar 1943 urteilte oder inhaftierte Regimegegner und
wurden Hans und Sophie Scholl beim Vertei- seine Unterstçtzung von Angehærigen poli-
len des sechsten ± gegen die nationalsozialisti- tisch Verfolgter wurde er 1935 wegen ¹Ver-
sche Kriegspolitik gerichteten ± Flugblatts an brechen der Vorbereitung zum Hochverrat
der Universitåt Mçnchen entdeckt und an die unter erschwerenden Umståndenª zu einer
Gestapo ausgeliefert. Im Laufe des Jahres
Zuchthausstrafe verurteilt. Als Reinmuth
1943 wurden die Geschwister Scholl, Probst,
1941 entlassen werden sollte, verweigerte er
Graf und Schmorell sowie der Autor des
die Unterzeichnung der damals çblichen Er-
Flugblattes, Kurt Huber, hingerichtet. 8
klårung, kçnftig nichts mehr gegen das natio-
nalsozialistische Deutschland zu unterneh-
auffçhrte. Jedoch tauchten nicht alle nach heutigen men. Daher inhaftierte man ihn im KZ
Maûståben als ¹Blutzeugenª zu charakterisierende Sachsenhausen, wo er im April 1942 starb.
Mitglieder auf. Vgl. Karl-Joseph Hummel/Christoph
Strohm (Hrsg.), Zeugen einer besseren Welt. Christ- Bei Werner Sylten handelte es sich um
liche Mårtyrer des 20. Jahrhunderts, Leipzig 2000. einen evangelischen Theologen, der seit 1925
7 Vgl. Hans Mommsen, Die kçnftige Neuordnung
in Thçringen eine Fçrsorgeeinrichtung fçr
Deutschlands und Europas aus der Sicht des Kreisauer
Kreises, in: P. Steinbach/J. Tuchel (Anm. 1). schulentlassene minderjåhrige Mådchen leite-
8 Vgl. Detlev Bald, Die Weiûe Rose. Von der Front in te. Die Nationalsozialisten verlangten, dass
den Widerstand, Berlin 2003. die Zæglinge nur von ¹Ariernª zu im Sinne

APuZ 14/2009 35
der NS-Ideologie volks- und rassebewussten den er nach biologisch-dynamischen Grund-
Mådchen erzogen werden dçrften. Die Thç- såtzen bewirtschaftete. Der ¹Bruderhofª bot
ringische Kirchenleitung, fest in der Hand Notleidenden und Verfolgten Zuspruch, und
der Deutschen Christen, monierte Syltens jç- Kreyssig lieû sich ans Amtsgericht in Bran-
dische Abstammung ± sein Vater war bei der denburg/Havel versetzen.
Heirat mit einer Protestantin konvertiert ±
und seine Sympathien fçr den Religiæsen So- Als Vormundschaftsrichter wurde er
zialismus. Sylten schloss sich der Bekennen- immer håufiger mit erschreckenden Berichten
den Kirche an; seine Frau nahm sich 1935 von Vormçndern und Pflegern çber so ge-
aufgrund des wachsenden Drucks auf die Fa- nannte Geisteskranke konfrontiert. Ange-
milie das Leben. Nach seiner Entlassung als sichts der bereits çber die ¹Vernichtung le-
¹Halbjudeª aus dem Pfarrdienst im Jahr 1936 bensunwerten Lebensª kursierenden Ge-
arbeitete Sylten zwei Jahre lang fçr die Lu- rçchte wandte sich Kreyssig im Sommer 1940
therische Bekenntnisgemeinschaft in Gotha, an Reichsjustizminister Franz Gçrtner und
um dann als Seelsorger im Berliner Bçro åuûerte den Verdacht, ¹Geisteskrankeª wçr-
Heinrich Grçbers anzufangen, bis dieses den systematisch abtransportiert und in einer
nach der Verhaftung Grçbers Ende 1940 ge- Anstalt getætet. In seinem Schreiben wies er
schlossen wurde. Er wurde am 27. Februar auf die in ethischer und rechtlicher Hinsicht
1941 ins KZ Dachau deportiert. Trotz Krank- problematische Aktion hin, um als Christ
heit und Folter meldete Sylten sich aus grundsåtzlich die Anmaûung der Nationalso-
Furcht, mit einem Krankentransport aus dem zialisten anzuprangern, çber die Qualitåt von
KZ in den Tod zu fahren, nicht krank. Zwar Menschen und deren Lebensberechtigung zu
gelang es Grçber, ihn einmal von der Trans- entscheiden. 10 Staatssekretår Roland Freisler
portliste streichen zu lassen, doch in Folge persænlich eræffnete ihm im Ministerium,
einer offensichtlichen Erkrankung wurde Syl- Hitler habe die so genannte Euthanasie-Ak-
ten im Rahmen der Euthanasieaktion 14f13 in tion selbst veranlasst und damit das Recht
die Tætungsanstalt Hartheim/Linz verbracht zum Tæten geschaffen. Reichsleiter Philipp
und dort im Spåtsommer 1942 ermordet. Bouhler sei fçr die Durchfçhrung der Tæ-
tungsaktion verantwortlich, an deren juristi-
Der 1898 geborene Jurist Lothar Kreyssig 9 scher Absicherung derzeit noch gearbeitet
arbeitete nach seiner Promotion am Landge- werde. Nachdem Kreyssig Bouhler wegen
richt Chemnitz, wo er 1928 ± im selben Jahr, Mordes angezeigt hatte, wurde er erneut von
in dem sein Vater starb und Kreyssig die Freisler empfangen, der ihm erste Entwçrfe
Bibel zu lesen begann ± zum Landgerichtsrat fçr eine rechtliche Regelung der ¹Euthanasieª
ernannt wurde. Die çber das Berufliche hi- zeigte. Kreyssig erlåuterte, dass dies nichts an
nausgehende Beziehung zum als politisch seinem Widerstand gegen den Massenmord
¹rotª verschrienen Pråsidenten des Landge- von ¹Geisteskrankenª åndern werde. Sie ver-
richts, Rudolf Ziel, lieû den deutschnationa- stoûe in jeder Hinsicht gegen Ethik, Moral
len Kreyssig rasch von seiner partiellen Be- und Recht. Ende August wies Kreyssig die
fçrwortung der Nationalsozialisten abrçcken Heil- und Pflegeanstalten Brandenburg-Gær-
und prågte stark seine kçnftige Rechtsauffas- den, Eberswalde, Gættingen, Landsberg/War-
sung. Ziel wurde nach 1933 seines Amtes ent- the, Neuruppin, Sorau und Teupitz schriftlich
hoben; fçr Kreyssig waren die zunehmenden an, dass die seiner richterlichen Vormund-
Rechtsbrçche unter der Herrschaft der schaft unterstellten Personen nicht ohne seine
NSDAP unçbersehbar. Aufgrund seines En- Zustimmung verlegt werden dçrften. Am
gagements fçr Arbeitslose und andere sozial 13. November 1940 wurde Kreyssig zu Mi-
Benachteiligte wurde Kreyssig von den Na- nister Gçrtner bestellt, der ihm das auf den
tionalsozialisten mit Argwohn betrachtet. Als Kriegsbeginn datierte Ermåchtigungsschrei-
1934 die Bekenntnisgemeinden entstanden, ben Hitlers als juristische Grundlage fçr die
trat Kreyssig der Lutherischen Bekenntnisge-
meinde Flæha bei und çbernahm dort die Lei- 10 Vgl. Susanne Willems, Lothar Kreyssig. Vom ei-

tung des Kreisbruderrates. 1937 erwarb genverantwortlichen Handeln. Eine biographische


Studie zum Protest gegen die Euthanasieverbrechen in
Kreyssig einen vernachlåssigten Bauernhof,
Nazi-Deutschland, Gættingen o. J. [1995]; vgl. auch
Kreyssigs Schreiben vom 8. 7. 1940 in: Ernst Klee
9 Vgl. Konrad Weiû, Lothar Kreyssig. Prophet der (Hrsg.), Dokumente zur ¹Euthanasieª, Frankfurt/M.
Versæhnung, Gerlingen 1998. 1986, S. 201±204.

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Tætung geistig Behinderter vorlegte. Da Prozessen. Gegen evangelische Christen wur-
Kreyssig bei seiner Position blieb, dass allein den lange Haftstrafen verhångt. Und es darf
¹der Wille des Fçhrers (kein) Recht schaffenª keineswegs vergessen werden, dass viele junge
kænne, wurde ihm seine Versetzung in den Protestanten wegen ihres Glaubens und der
Ruhestand angedroht. Er stellte selbst einen damit verbundenen Lebensfçhrung in berufli-
færmlichen Antrag, ¹mich unter Gewåhrung che oder private Bahnen gezwungen wurden,
der gesetzlichen Bezçge in den Ruhestand zu die nicht ihren Vorstellungen und Wçnschen
versetzenª, wurde zum Jahresende vorlåufig entsprachen. Dennoch: Insgesamt war die
beurlaubt und am 4. Mårz 1942 durch Fçh- Problemlage eine vollkommen andere als die
rererlass zwangspensioniert. von Christen in der NS-Zeit.

Erstaunlicherweise war dies die einzige Der evangelischen Kirche in der von der
Konsequenz von Kreyssigs couragiertem und SED zentralistisch gelenkten DDR kam eine
widerståndigem Verhalten. Versuche der Ge- besondere Rolle als einzige staatsunabhångige
stapo, ihn in ein Konzentrationslager zu brin- gesellschaftliche Groûorganisation zu. Die
gen, misslangen. Trotz seiner kontråren SED-Ideologen gingen zunåchst davon aus,
Rechtsauffassung beeindruckte Kreyssig dass sich die Kirche als bçrgerliches Relikt im
mæglicherweise die Nationalsozialisten mit Zuge der Entwicklung zum reiferen Sozialis-
seinem Pflichtbewusstsein, seinen Fåhigkei- mus von selbst auflæse. Der ureigene kirch-
ten als Jurist und seiner unbeugsamen Hal- liche Auftrag, das Evangelium zu verkçndi-
tung. Er verfolgte bei seiner Arbeit fçr die gen, bekam frçh Schlagseite in Richtung der
Bekennende Kirche das primåre Ziel, sich fçr Seelsorge. Die Kirche war gefordert, Partei zu
die behinderten, politischen und jçdischen ergreifen und Sprachrohr zu sein fçr diejeni-
Verfolgten einzusetzen, die der Willkçr des gen, deren Stimme zu schwach war und denen
NS-Systems hilflos ausgeliefert waren, depor- der Rçckhalt fehlte, ihre Belange zu vertreten.
tiert und getætet wurden. Ende April 1945 Hinzu kam, dass ¹dieª Kirche in der DDR die
kamen sowjetische Soldaten auf den Bruder- ersten zwanzig Jahre lang ein Teil der Evange-
hof, und seine Bewohner wurden Opfer von lischen Kirche in Deutschland, der gesamt-
Plçnderungen, Zerstærungen, Bedrohungen deutschen EKD, war: gemeinsame Leitungs-
und Vergewaltigungen. Kreyssig sollte meh- gremien, Synoden und Arbeitsgruppen, ein
rere Male verhaftet, enteignet oder sogar er- grenzçbergreifender Wunsch nach der Wie-
schossen werden, bevor die Russen Kenntnis derherstellung der deutschen Einheit ± fçr die
von seinem Widerstand gegen die National- SED-Fçhrung ein klares Feindbild.
sozialisten erhielten und ihn als Antifaschis-
ten identifizierten. Gesamtkirchlichen Widerstand gab es in
dem Sinne, dass die Mehrheit der evangeli-
schen Christen in der DDR auf ein vereintes
Christen, Kirche und Staat in der DDR Deutschland hoffte. Als sich abzeichnete,
dass es dazu nicht kommen wçrde, richtete
Als Konsistorialpråsident der Kirchenprovinz sich das Augenmerk auf DDR-spezifische
Sachsen von Ende 1945 an geriet Lothar Probleme und Themen. Und auf den immer
Kreyssig in Konflikte mit der Sowjetischen weiter verstårkten Druck des Staates reagierte
Militåradministration (SMAD), die immer die evangelische Kirche 1969 mit ihrer orga-
stårker versuchte, in innerkirchliche Belange nisatorischen Verselbståndigung im Bund der
einzugreifen. 1947 wurde Kreyssig Pråses der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK).
provinzialsåchsischen Synode. Nach Grçn- Die SED-Fçhrung erkannte den Kirchen-
dung der DDR war er erneut als Christ in bund 1972 offiziell an. So konnte die evange-
einem atheistischen Staat mit einem Regime lische Kirche mit dem Staat verhandeln und
konfrontiert, das seine Arbeit zu unterbinden traf im so genannten Spitzengespråch am
suchte und ihn vom Geheimdienst beobachten 6. Mårz 1978 einige letztlich jedoch unver-
lieû. Am Beispiel Kreyssigs låsst sich zeigen, bindliche, wenig relevante Vereinbarungen
dass Christen in der DDR zwar weder er- mit dem Staat. Das Gespråch hatte indes
wçnscht noch beheimatet waren, aber nur in hohen symbolischen Wert fçr beide Seiten
seltensten Fållen um ihr Leben fçrchten muss- und war auch nutzbringend fçr den SED-
ten. Es kam vor allem in den 1950er Jahren zu Staat und die ¹Kirche im Sozialismusª. Diese
gewaltsamen Ûbergriffen und politischen Bezeichnung wurde vom BEK als Ortsbe-

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stimmung verstanden, vom Staat als Zustim- gliedern auch Christen. Diese Gruppen spra-
mung und Beschreibung der Zugehærigkeit chen oft von einem ¹verbesserlichen Sozialis-
zur DDR zu instrumentalisieren versucht. musª und traten fçr die Demokratisierung
der DDR ein. Sie forderten die Einhaltung
Durch die Sonderrolle der ¹Kirche im So- der Bçrgerrechte, demokratische Wahlen,
zialismusª wurden kirchliche Øuûerungen eine Entmilitarisierung der Gesellschaft
sowohl seitens des Staates als auch von (den sowie Reisefreiheit und grenzten sich von
Medien) der Bundesrepublik mit Argwohn den ¹Ausreisewilligenª ab, die kein Interesse
bzw. Interesse zur Kenntnis genommen ± je- an einer Reform der DDR hatten, sondern
doch als politisch oder verkappt oppositio- nur schnell das Land verlassen wollten.
nell. Nicht selten nahm der BEK zu politi-
schen Fragen und Maûnahmen der SED Stel- Auch unter den Christen in der DDR gab es
lung, weil sie die Christen in der DDR konfessionelle Streitigkeiten zwischen Luthe-
tangierten. Dies galt etwa fçr Kirchenspren- ranern, Reformierten und Unierten, die je-
gungen, den Kampf gegen die Junge Gemein- doch weniger deutlich die jeweilige Haltung
de, die Etablierung der Jugendweihe, die Ein- zum SED-Staat bestimmten, sondern kirchen-
fçhrung des Wehrkundeunterrichts, die Hal- intern ausgetragen wurden. In offiziellen Ge-
tung von Christen zu Wehrdienst und språchen war der BEK stellvertretend fçr alle
Bausoldatenregelung, çberhaupt fçr die zu- Protestanten Verhandlungspartner des Staates.
nehmende Militarisierung der Gesellschaft. Wenn man die gesamtkirchliche Leitungsebe-
ne verlåsst, sind bei den beiderseitig er-
Zu solchen Anlåssen åuûerte sich nicht nur wçnschten oder einseitig eingeforderten Zu-
die Leitung des BEK stellvertretend fçr alle sammentreffen zwischen Vertretern der SED
evangelischen Christen in der DDR, sondern und denen der evangelischen Kirche auch
auch einzelne Kirchenvertreter meldeten sich konfessionelle Prågungen zum Vorschein ge-
zu Wort. Wåhrend lediglich die Evangelische kommen. Es gab auch Kirchenvertreter, die
Kirche in Thçringen unter ihren Bischæfen sich weigerten, mit Vertretern des atheisti-
Moritz Mitzenheim und Ingo Braecklein als schen Staates çberhaupt Gespråche zu fçhren.
angepasst galt und den viel zitierten ¹Thçrin-
ger Wegª ging, gab es oppositionelles oder Ob evangelische Christen zur Zeit des Na-
widerståndiges Verhalten in allen Landeskir- tionalsozialismus oder wåhrend der deut-
chen. Eine Konzentration fand sich in den schen Teilung ihrer staatlichen ¹Obrigkeitª,
groûen Stådten, auch die Hauptstadt Ost- einer Diktatur gegençber aus konfessionellen
Berlin stellte schon aufgrund ihrer Sonderrol- Grçnden mit Anpassung, ¹Winterschlafª
le ± mitten im geteilten Deutschland, nur oder Widerstand reagierten: Sie haben eine
durch die Mauer getrennt von West-Berlin ± wichtige Lebenserfahrung gemacht, nåmlich
eine Hochburg da. Das Verhandlungsge- unter den Zwången einer Diktatur ihr spezi-
schick und die Haltung der Bischæfe zu den fisch christliches Profil auszubilden und zu
sich unter dem Dach der Kirche sammelnden vertreten. Die Protagonisten der ostdeutschen
Friedensbewegten, Oppositionellen, Um- Kirchen mussten nach der politischen und
weltschçtzern, politisch Andersdenkenden kirchlichen Wiedervereinigung feststellen,
oder Ausreisewilligen bestimmte auch das dass sie mit den in der DDR erkåmpften
Ausmaû staatlicher Repression. Spielråumen und politischen Erfolgen in der
neuen gesellschaftlichen Heimat, der Bundes-
Von Christen dominiert und vom BEK republik, keinesfalls Tçren aufstieûen. Das
mitgetragen wurde die Friedensbewegung, christliche Zeugnis und die Beeinflussung po-
mit dem Symbol ¹Schwerter zu Pflugscha- litischer Entscheidungen und gesellschaftli-
renª zugleich biblisch begrçndet und durch cher Weichenstellungen durch christliche
die von der Sowjetunion an die UNO ver- Werte wie Gerechtigkeit, Nåchstenliebe und
schenkte Skulptur scheinbar ideologisch ab- Friedfertigkeit, die wåhrend der NS-Zeit ab-
gesichert. Auch in Umwelt-, Menschen- handen gekommen waren und in der atheisti-
rechts-, Frauen- und ¹Dritte-Weltª-Gruppen schen DDR zu Konflikten fçhrten ± in der
waren viele evangelische Christen vertreten. pluralistischen bundesdeutschen Gesellschaft
Dezidiert politisch-alternative und damit von drohen sie kaum beachtet zu verhallen.
der SED als hochgradig oppositionell einge-
stufte Gruppen gab es einige, unter ihren Mit-

38 APuZ 14/2009
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Christen in der Demokratie APuZ 14/2009
Robert Zollitsch
3-5 Mehr Zeugnis wagen!
Das Wirken von Christen in die Zivilgesellschaft ist unverzichtbar. Es offenbart
nicht nur die Notwendigkeit des Mitwirkens, sondern zeugt vom hohen morali-
schen Auftrag, Politik und Gesellschaft in einer Demokratie mitzugestalten.

Wolfgang Huber
6-8 Christen in der Demokratie
Indem Christen inmitten der demokratischen Gesellschaft leben, stehen sie zu-
gleich zu ihr in einem Verhåltnis kritischer Solidaritåt. Die Bejahung der Demo-
kratie schlieût ein, dass jede demokratische Ordnung verbesserbar ist.

Bernhard Sutor
9-14 Christliche Ethik im såkularen Staat freiheitlicher Verfassung
Der såkulare Staat ist religiæs neutral, lebt aber als freiheitliche Ordnung aus den
sozialen und kulturellen Ressourcen der Gesellschaft. In dieser hat christliche
Ethik ihren Ort und ihre Chance, auf Staat und Politik einzuwirken.

Friedrich Wilhelm Graf


15-20 Christen im demokratischen Verfassungsstaat
Vielleicht liegt die wichtigste politische Leistung von Christen darin, dafçr zu
sensibilisieren, dass Demokratie keinen moralischen oder religiæsen Vergemein-
schaftungszwang kennt und dem Individuum Eigenråume des Privaten låsst.

Thomas Schirrmacher
21-26 Demokratie und christliche Ethik
Trotz mancher Ambivalenz des Verhåltnisses von Christentum und Demokratie
gibt es Grçnde dafçr, dass gerade çberzeugte Christen und Minderheitenkirchen
die såkulare Demokratie gefærdert haben und sie stabilisieren.

Joachim Wiemeyer
27-32 Das Engagement von Christen in politischen Parteien
In Deutschland hat sich das Engagement von Christinnen und Christen in politi-
schen Parteien erheblich gewandelt. Es stellt eine sozialethisch erwçnschte und
besonders anspruchsvolle Form christlicher Weltverantwortung dar.

Anke Silomon
33-38 Widerstand von Protestanten im NS und in der DDR
An den Beispielen des Nationalsozialismus und der DDR werden theologische
Hintergrçnde von Widerstandsaktivitåten evangelischer Christen und die grund-
legend verschiedene Situation in beiden Diktaturen beleuchtet.

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