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72. Jahrgang, 12/2022, 21.

März 2022

AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
Schwarz und Deutsch
Robbie Aitken Joshua Kwesi Aikins · Teresa Bremberger ·
BLACK GERMANY. Daniel Gyamerah · Muna AnNisa Aikins
ZUR ENTSTEHUNG EINER AFROZENSUS.
SCHWARZEN COMMUNITY INTERSEKTIONALE ANALYSEN
IN DEUTSCHLAND ZU ANTI-SCHWARZEM
RASSISMUS IN DEUTSCHLAND
Julia Roos
DIE „FARBIGEN Mahret Ifeoma Kupka
BESATZUNGSKINDER“ SCHWARZE KÖRPER
DER ZWEI WELTKRIEGE IN WEI ẞ EN KUNSTRÄUMEN

Patrice G. Poutrus · Katharina Warda Ijoma Mangold


OSTDEUTSCHE OF COLOR. DIE RENAISSANCE
SCHWARZE GESCHICHTE(N) DER HAUTFARBE.
DER DDR UND ERFAHRUNGEN EIN GESPRÄCH
NACH DER DEUTSCHEN EINHEIT

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE


FÜR POLITISCHE BILDUNG
Beilage zur Wochenzeitung
Schwarz und Deutsch
APuZ 12/2022
ROBBIE AITKEN JOSHUA KWESI AIKINS · TERESA BREMBERGER ·
BLACK GERMANY. ZUR ENTSTEHUNG EINER DANIEL GYAMERAH · MUNA ANNISA AIKINS
SCHWARZEN COMMUNITY IN DEUTSCHLAND AFROZENSUS. INTERSEKTIONALE ANALYSEN
Die Präsenz Schwarzer Menschen im deutsch- ZU ANTI-SCHWARZEM RASSISMUS IN
sprachigen Raum lässt sich bis ins Mittelalter DEUTSCHLAND
zurückverfolgen. Spätestens mit dem Kaiserreich Der Afrozensus, die erste umfassende Studie zu
wurde die Schwarze Community größer und Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen
sichtbarer. Warum ist Deutschlands Schwarze Lebensrealitäten in Deutschland, zeichnet
Vergangenheit dennoch so unbekannt? Muster des Anti-Schwarzen Rassismus nach und
Seite 04–10 zeigt, wie diese in verschiedenen Lebensberei-
chen zusammenwirken.
Seite 26–34
JULIA ROOS
DIE „FARBIGEN BESATZUNGSKINDER“
DER ZWEI WELTKRIEGE MAHRET IFEOMA KUPKA
Die Nachkommen alliierter Soldaten of Color SCHWARZE KÖRPER IN WEI ẞ EN
mit weißen deutschen Frauen standen seit der KUNSTRÄUMEN
Zwischenkriegszeit im Fokus rassistischer Schwarze deutsche Künstlerinnen und Künstler
Propagandakampagnen. Deren Auswirkungen organisieren sich seit Jahrzehnten. Heute stellen
spürten Schwarze Deutsche auch in der frühen sie vermehrt die Produktions- und Ausschluss-
Bundesrepublik. mechanismen des Kulturbetriebs infrage. Indes
Seite 11–18 verändern sich Institutionen wie Buchmessen,
Theater und Museen nur langsam.
Seite 35–41
PATRICE G. POUTRUS · KATHARINA WARDA
OSTDEUTSCHE OF COLOR. SCHWARZE
GESCHICHTE(N) UND ERFAHRUNGEN NACH IJOMA MANGOLD
DER DEUTSCHEN EINHEIT DIE RENAISSANCE DER HAUTFARBE.
Tausende Schwarze Menschen kamen zum EIN GESPRÄCH
Studieren, Arbeiten oder als Asylsuchende in die Ijoma Mangold ist Autor, Literaturkritiker und
DDR. In ihrem Alltag erlebten sie oftmals eine kulturpolitischer Korrespondent der Wochen-
Diskrepanz zwischen antirassistischer Symbol- zeitung „Die Zeit“. Im Interview spricht er über
politik und realer Diskriminierung, bis hin zu seine Kindheit in Heidelberg, über Identität und
Gewalttaten, die auch die 1990er Jahre prägten. Zugehörigkeit sowie über heutige antirassistische
Seite 19–25 Diskurse.
Seite 42–46
EDITORIAL
Heute leben rund eine Million Schwarze, afrikanische und afrodiasporische
Menschen in Deutschland, ihre Familien teils seit mehreren Generationen.
Dennoch werden viele auch heute noch regelmäßig mit Fragen nach ihrer
„eigentlichen“ Herkunft konfrontiert. Schwarz und Deutsch zu sein ist auch
2022 keine Selbstverständlichkeit. Die Zuschreibung von Fremdheit weist histo-
rische Kontinuitäten auf. An den Höfen der deutschen Feudalaristokratie in der
Frühen Neuzeit galten Schwarze Bedienstete als exotische Statussymbole. Im
Kaiserreich kamen vermehrt Menschen aus den Kolonien, und erste Schwarze
Communities wurden in deutschen Städten sichtbar. Doch wiederholte rassisti-
sche Propagandakampagnen, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg, gipfelten
schließlich in der Vertreibung, Zwangssterilisierung und Ermordung Schwarzer
Menschen im Nationalsozialismus.
Die Erinnerung an die Existenz einer Schwarzen deutschen Community
verblasste bald nach 1945. In der Phase der Zweistaatlichkeit erlebten Schwarze
Deutsche – etwa die Kinder von Besatzungssoldaten in der Bundesrepublik oder
Schwarze Vertragsarbeiter und Studierende in der DDR – wieder Ausgrenzung
und rassistische Übergriffe. In den 1980er Jahren wurden afrodeutsche Stim-
men lauter, und Selbstorganisationen wie die Initiative Schwarze Menschen in
Deutschland (ISD) wurden gegründet. Dennoch blieb Deutschlands Schwarze
Vergangenheit weitgehend unbekannt und eine Auseinandersetzung mit Anti-
Schwarzem Rassismus lange aus.
In den vergangenen Jahren ist – auch durch die transnationale Bewegung
Black Lives Matter – etwas aufgebrochen: Die Aufarbeitung deutscher Kolonial-
verbrechen wird mittlerweile vehement gefordert, ebenso die Beschäftigung mit
den Lebensrealitäten Schwarzer Menschen in Deutschland. Gleichzeitig stößt
der Kampf um Sichtbarkeit an diskursive Grenzen. Der Grat zwischen einem
verantwortungsvollen Umgang mit der Vergangenheit und Respekt füreinander
auf der einen Seite und einer dogmatischen Aufladung identitätspolitischer
Debatten auf der anderen ist schmal.

Julia Günther

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APuZ 12/2022

BLACK GERMANY
Zur Entstehung einer Schwarzen Community in Deutschland
Robbie Aitken

Geschätzt leben heute über eine Million Men- lonie sizilianischer Muslime im süditalienischen
schen afrikanischer Herkunft in Deutschland. Lucera umfasste, die sich dort im Exil befanden.
Die Präsenz Schwarzer Menschen im deutsch- Am Hof Friedrichs II. hatten Schwarze militäri-
sprachigen Raum lässt sich bis ins Mittelalter sche Positionen inne, waren Unterhaltungskünst-
zurückverfolgen. Seit geraumer Zeit dokumen- ler und Bedienstete. Zu ihnen gehörte Johannes
tieren Aktivistinnen und Aktivisten sowie Wis- Morus, der zum persönlichen Kammerdiener des
senschaftlerinnen und Wissenschaftler die aktive Kaisers aufstieg und auch in Lucera diente.03 Der
Rolle, die Schwarze Menschen in der deutschen Kenntnisstand über ihr Leben und ihre Erfahrun-
Geschichte über Jahrhunderte gespielt haben, gen ist jedoch nach wie vor gering.
und die Geschichte des europäischen Rassismus, Während der Frühen Neuzeit traten afrika-
der ihr Leben prägte.01 Dennoch werden die Bei- nische Pagen und Bedienstete an den Höfen der
träge Schwarzer Menschen zur deutschen Ge- deutschen Feudalaristokratie und in den Haus-
sellschaft in den Geschichtsbüchern häufig aus- halten der aufstrebenden bürgerlichen Handels-
geklammert oder totgeschwiegen, und so bleiben familien zunehmend als exotische Statussymbole
viele Lücken in den vorhandenen historischen in Erscheinung, ähnlich wie anderswo in Euro-
Aufzeichnungen. Dieser Beitrag bietet eine Ein- pa.04 An größeren Fürstenhöfen durchliefen jun-
führung in die Geschichte(n) Schwarzer Men- ge afrikanische Männer eine musikalische Ausbil-
schen in Deutschland. Ausgehend vom mittelal- dung. Einige dienten als Musiker im Militär, eine
terlichen Europa wenden wir uns zunächst dem Tradition, die bis ins 20. Jahrhundert fortgeführt
17. Jahrhundert zu, als die Zahl der Menschen wurde. Die meisten von ihnen waren ursprüng-
afrikanischer Herkunft im deutschsprachigen lich als Sklaven gekauft worden, und es war nicht
Raum langsam zunahm. Der Schwerpunkt der unüblich, dass Schwarze Jugendliche unter den
Darstellung liegt dann auf der Entwicklung einer Mitgliedern der europäischen Königshäuser als
beständigen Schwarzen Community in der Zeit Geschenke ausgetauscht wurden. Trotz der stark
von 1884 bis 1945. hierarchischen Ordnung des Lebens am Hof gab
es Möglichkeiten der Integration und des sozialen
VOM MITTELALTERLICHEN EUROPA Aufstiegs. Im 18. Jahrhundert wurden Afrikaner
BIS ZUR FRÜHEN NEUZEIT auch an die Höfe deutscher Fürsten gebracht, um
dort einen Beruf zu erlernen oder im Geiste der
Es gibt Belege dafür, dass sich bereits im Mit- Aufklärung eine Ausbildung zu erhalten. Seit die-
telalter Menschen afrikanischer Herkunft im ser Zeit ist auch belegt, dass Schwarze Menschen
deutschsprachigen Europa aufhielten. Insbeson- in deutschen Städten etwa als Hafenarbeiter, fah-
dere während der Herrschaft des Stauferkönigs rende Künstler oder Prostituierte arbeiteten.
Friedrichs II. als Kaiser des Heiligen Römischen Zu den wenigen Personen dieser Zeit, deren
Reiches (1220–1250) waren zahlreiche Schwarze Lebensläufe relativ gut dokumentiert sind, ge-
Männer und Frauen an seinem kosmopolitischen hören der ghanaische Philosoph Anton Wilhelm
Hof tätig.02 Sie wurden als Sklaven gekauft oder Amo (ca. 1703–1759), der den Herzögen von
im Rahmen diplomatischer Beziehungen von Braunschweig-Wolfenbüttel geschenkt worden
muslimischen Würdenträgern geschenkt. Ande- war und später an den Universitäten Halle und
re waren Untertanen des römisch-deutschen Rei- Jena lehrte, der gut vernetzte Wiener Höfling
ches, das sich über weite Teile Mitteleuropas und und Freimaurer Angelo Soliman (Mmadi Maki,
des heutigen Italiens erstreckte und auch eine Ko- ca. 1721–1796) und die Ostafrikanerin Machbu-

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Schwarz und Deutsch APuZ

ba (ca. 1825–1840), die als Jugendliche von Her- Deutsch-Ostafrika, das Teile der heutigen Staaten
mann von Pückler-Muskau als Sklavin gekauft Tansania, Burundi, Ruanda und kurzzeitig San-
und nach Europa gebracht wurde. Sie starb 1840 sibar umfasste, sowie in geringerem Umfang aus
in Muskau,1234 Sachsen.05 Doch erst im letzten Vier- dem damaligen Deutsch-Südwestafrika auf dem
tel des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der Män- Gebiet des heutigen Namibia.
ner und Frauen afrikanischer Herkunft, die sich Vor 1914 waren die Lebenswirklichkeiten
in Deutschland aufhielten, deutlich an – der Be- Schwarzer Menschen in Deutschland alles ande-
ginn einer kontinuierlichen Präsenz Schwarzer re als einheitlich, doch lassen sich durchaus eini-
Menschen in Deutschland. ge allgemeine Aussagen treffen.06 Erstens waren
Schwarze überall im deutschen Kaiserreich zu fin-
WACHSENDE SICHTBARKEIT den, in Ortschaften und Dörfern genauso wie in
IM KAISERREICH größeren Städten. Dies lag zum Teil daran, dass
diejenigen, die direkt am Kolonialprojekt betei-
Die Entwicklung einer dauerhaften – zwar klei- ligt waren, in der Regel auch diejenigen waren,
nen, aber sichtbaren – Schwarzen Community die Afrikaner nach Europa brachten – Missio-
in Deutschland war eine unvorhergesehene Fol- nare, Beamte, Militärs, Geschäftsleute und Zoo-
ge des europäischen Imperialismus und der frü- Unternehmer. Diese lebten über das ganze Land
hen Globalisierung. Diese Prozesse schufen Wege verstreut. Zweitens handelte es sich in jener Zeit
und Transportverbindungen, die es Schwarzen bei der Gruppe Schwarzer Menschen in Deutsch-
Männern und Frauen aus unterschiedlichen Ge- land um eine junge, männlich dominierte Bevöl-
genden erst ermöglichten, nach Europa und nach kerung – nur sehr wenige Schwarze Frauen waren
Deutschland zu gelangen. Zwischen 1884, den zu dieser Zeit in Deutschland. Dies ist auf die ge-
Anfängen des deutschen Kolonialreichs in Afri- schlechtsspezifische Struktur vieler afrikanischer
ka, und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs Bevölkerungsgruppen zurückzuführen, die an
1914 hielten sich mehrere tausend Menschen af- dieser Migration beteiligt waren, und hängt auch
rikanischer Herkunft aus fast allen Regionen Af- mit den Routen zusammen, über die die Menschen
rikas sowie aus der Karibik, Südamerika und den nach Europa kamen.07 Drittens handelte es sich bei
Vereinigten Staaten in Deutschland auf. Insbe- der überwiegenden Mehrheit der Ankommenden
sondere die regelmäßigen und direkten Schiffs- um Durchreisende, eine Bevölkerung in ständiger
verbindungen zu den neuen deutschen Kolonien Bewegung: Nur eine Minderheit betrachtete ihren
erleichterten die Zuwanderung, vor allem aus Ka- Aufenthalt nicht als vorübergehend, und nur sehr
merun, aber auch aus Togo und dem damaligen wenige blieben über einen längeren Zeitraum.
Schwarze Menschen kamen auf den unter-
schiedlichsten Wegen und aus den unterschied-
01 Zu den wichtigsten Werken gehören: Katharina Oguntoye,
Eine afro-deutsche Geschichte. Zur Lebenssituation von Afrika-
lichsten Gründen ins Kaiserreich. Einige waren
nern in Deutschland von 1884 bis 1950, Berlin 1997; Paulette von Zwang geprägt, andere ließen Handlungs-
Reed-Anderson, Eine Geschichte von mehr als 100 Jahren. Die spielraum und beruhten auf einer bewussten
Anfänge der afrikanischen Diaspora in Berlin, Berlin 1995; Peter Entscheidung für die Reise. Zahlreiche Men-
Martin, Schwarze Teufel, edle Mohren. Afrikaner in Geschichte
schen, darunter auch viele Frauen und Kinder,
und Bewußtsein der Deutschen, Hamburg 2001.
02 Vgl. Paul H. D. Kaplan, Black Africans in Hohenstaufen
wurden von Unternehmern als „Exponate“ für
Iconography, in: Gesta 26/1987, S. 29–36; Rashid-S. Pegah, Menschen-Zoos nach Europa geholt, in denen
Real and Imagined Africans in Baroque Court Divertissements, sie zur Unterhaltung des weißen Publikums ihre
in: Mischa Honeck/Martin Klimke/Anne Kuhlmann-Smirnov vermeintliche „Eingeborenenkultur“ vorführen
(Hrsg.), Germany and the Black Diaspora: Points of Contact,
sollten. Solche Spektakel waren oft ein großes
1250–1914, New York 2013, S. 74–91.
03 Vgl. Jeff Bowersox, Johannes dictus Morus (d. 1254),
Geschäft, organisiert von Impresarios wie dem
www.blackcentraleurope.com/sources/​1000-​1500/johannes-​
dictus-​m orus-​d -​1254/.
04 Vgl. Anne Kuhlmann-Smirnov, Schwarze Europäer im Alten 06 Vgl. Robbie Aitken, A Transient Presence: Black Visitors and
Reich: Handel, Migration, Hof, Göttingen 2013. Sojourners in Imperial Germany, 1884–1914, in: Immigrants and
05 Vgl. Stephen Menn/Justin Smith (Hrsg.), Anton Wilhelm Minorities 34/2016, S. 233–253.
Amo’s Philosophical Dissertations on Mind and Body, New York 07 Dieses Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen galt
2020; Philipp Blom/Wolfgang Kos (Hrsg.), Angelo Soliman – Ein nicht im Fall der afroamerikanischen Künstlerinnen und Künstler,
Afrikaner in Wien, Wien 2011. die nach Deutschland kamen.

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APuZ 12/2022

Hamburger Zoodirektor und Völkerschauaus- Die deutschen Kolonialbehörden in Berlin


richter Carl Hagenbeck. Auch der deutsche Staat und Afrika unterstützten zunächst die temporäre
förderte beispielsweise die Berliner Kolonialaus- Einwanderung, insbesondere aus den Kolonien,
stellung von 1896, zu deren Anlass rund hundert solange dies als vorteilhaft für die Ziele des deut-
Menschen aus den Kolonien in die Hauptstadt schen Imperialismus angesehen wurde. Eine dau-
gebracht wurden, um die Öffentlichkeit für die erhafte Ansiedlung von Afrikanern war jedoch
deutschen Übersee-Ambitionen zu begeistern.08 zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt, und bereits in
Noch einmal so viele junge afrikanische Männer den 1890er Jahren wurden Migrationsbeschrän-
trafen als Diener und Begleiter deutscher Kolo- kungen eingeführt, um die Zuwanderung aus den
nialfunktionäre, Missionare und Händler ein, die Kolonien zu kontrollieren und zu begrenzen. Die
auf Heimaturlaub waren. Darüber hinaus wurden Begründung war, dass junge Afrikaner durch den
Dutzende afrikanische Männer angestellt, um am Kontakt mit der europäischen Gesellschaft mo-
Hamburger Kolonialinstitut oder am Berliner ralisch korrumpiert würden und sich nach ihrer
Seminar für Orientalische Sprachen zukünftige Rückkehr nach Afrika nicht wieder in die strenge
deutsche Kolonisten in afrikanischen Sprachen Rassenhierarchie des kolonialen Umfelds einglie-
und Sitten zu unterrichten.09 dern wollten.11
Eine weitere treibende Kraft hinter den Mi­ Der Erfolg dieser wie auch späterer Beschrän-
gra­tions­bewegungen aus den Kolonien waren Tei- kungen ist fraglich. Afrikaner aus den deutschen
le der kolonisierten afrikanischen Gesellschaften Kolonien erreichten Deutschland noch bis zum
selbst. Mitglieder der wohlhabenden kameruni- Ausbruch des Ersten Weltkriegs in größerer Zahl.
schen und togolesischen Küstenelite etwa hatten Die überwiegende Mehrheit von ihnen kehrte vor
die finanziellen Mittel (oder aber Sponsoren), um Beginn der Kampfhandlungen nach Hause zu-
ihre Kinder, fast ausschließlich ihre Söhne, nach rück. Nichtsdestotrotz ließen sich einige Schwar-
Deutschland zu schicken, damit sie dort ausgebil- ze entweder aus freien Stücken oder aus der Not
det wurden oder eine Lehre absolvierten. Familien heraus längerfristig in Deutschland nieder, und
wie die Bells und Akwas in Douala in Kamerun so bildeten sich bereits vor 1914 in Städten wie
oder die Garbers und Lawsons in Aného in Togo Berlin, Hamburg und Hannover kleine Schwarze
erkannten in der Bildung einen Weg, über den sie Communities.
Prestige und politischen Einfluss gewinnen konn-
ten. Katholische und protestantische Missionsge- WEIMARER REPUBLIK
sellschaften mit Sitz in den deutschen Kolonien
waren ebenfalls daran beteiligt, junge Afrikaner in Der Krieg und der anschließende Versailler Ver-
Deutschland für den künftigen religiösen Dienst trag stellten eine Wende für die Schwarze Bevöl-
auszubilden. Darüber hinaus traf in den deut- kerung in Deutschland dar.12 Die hohe Mobilität
schen Häfen, vor allem in Hamburg, eine Vielzahl der Vorkriegszeit kam zum Erliegen und hinter-
Schwarzer Männer ein, die für die zunehmend in- ließ nach 1918 eine viel kleinere, stabile und sess-
ternational ausgerichtete deutsche Handelsflotte hafte Diaspora. Für die Dauer des Krieges saßen
arbeiteten. Und bereits vor 1914 traten Schwar- Schwarze Menschen, die sich eigentlich nur tem-
ze Künstlerinnen und Künstler, vor allem aus den porär in Deutschland aufgehalten hatten, im Land
Vereinigten Staaten, in deutschen Städten auf.10 fest. Mehrere Männer aus den Kolonien kämpf-
ten für die deutsche Armee in Europa und wur-
08 Vgl. Andrew Zimmerman, Anthropology and Antihumanism den für ihre Verdienste im Krieg ausgezeichnet.
in Imperial Germany, Chicago 2001, S. 24–37. Andere arbeiteten in Munitionsfabriken. Schwar-
09 Vgl. Aitken (Anm. 6), S. 240–243. Siehe auch Holger Stoe-
ze mit britischem oder französischem Pass wur-
cker, Afrikawissenschaft in Berlin von 1919 bis 1945. Zur Ge-
schichte und Topographie eines wissenschaftlichen Netzwerkes,
den zum Teil als Kriegsgefangene inhaftiert.
Stuttgart 2008; Marianne Bechhaus-Gerst, Kiswahili sprechende
Afrikaner in Deutschland vor 1914, in: Afrikanistische Arbeitspa- 11 Vgl. Robbie Aitken/Eve Rosenhaft, Black Germany: The
piere 55/1998, S. 155–172. Making and Unmaking of a Diaspora Community, 1884–1960,
10 Vgl. Jeff Bowersox, Seeing Black: Foote’s Afro-American Cambridge 2013, S. 37–43, S. 60–62.
Company and the Performance of Racial Uplift in Imperial Ger- 12 Während der Weimarer Zeit kamen etwa 600 bis 800
many in 1891, in: German History 38/2020, S. 387–413; Kira Kinder aus gemischten Beziehungen zwischen deutschen Frauen
Thurman, Singing Like Germans: Black Musicians in the Land of und den französischen Kolonialtruppen der Rheinlandbesetzung
Bach, Beethoven, and Brahms, Ithaca 2021. zur Welt. Siehe den Beitrag von Julia Roos in diesem Heft.

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Schwarz und Deutsch APuZ

Mit Ausnahme von Deutsch-Ostafrika, wo tige Ziel blieb jedoch, die Rückkehr der Männer
die Kämpfe bis Ende 1918 andauerten, war das nach Afrika sicherzustellen.
Deutsche Reich in Afrika bis 1916 praktisch zu- Trotz dieser beträchtlichen Hindernisse
sammengebrochen. Im Rahmen des Friedensab- konnten die Männer aus den ehemaligen Ko-
kommens wurde Deutschland seiner Kolonien lonien und anderen Regionen Afrikas, zusam-
enteignet, was der kontinuierlichen Einwande- men mit afroamerikanischen Männern aus den
rung aus den Kolonialgebieten und überhaupt USA und der Karibik, in der Zwischenkriegs-
der Immigration aus Afrika ein Ende setzte. Die zeit zunehmend Wurzeln in Deutschland schla-
deutschen Kolonien wurden unter zumeist fran- gen. Es wurden Ehen geschlossen und Famili-
zösische und britische Mandate gestellt. Dies be- en gegründet, obwohl die deutschen Behörden
deutete auch, dass die mutmaßlich mehreren hun- mitunter aktiv versuchten, gemischte Paare zu
dert Männer aus diesen Gebieten, die sich noch trennen. Angesichts des Ungleichgewichts zwi-
im Nachkriegsdeutschland befanden und den schen den Geschlechtern unter den Schwarzen
Großteil der Schwarzen Bevölkerung ausmach- Einwohnern bedeutete Heirat meist, eine wei-
ten, nun rechtlich den Mandatsmächten unter- ße Partnerin zu finden, und bis 1933 wurden
standen. Für ihre Rückkehr nach Afrika benö- mehrere Dutzend gemischte Ehen geschlos-
tigten sie also eine Erlaubnis der französischen sen.16 Aus diesen und nichtehelichen Bezie-
oder der britischen Behörden. Beide Staaten zö- hungen entwickelte sich eine neue Generation
gerten jedoch, diese Verantwortung wahrzu- Schwarzer Deutscher. Diese afrodeutschen Fa-
nehmen, und lehnten routinemäßig Anträge auf milien waren Teil des größeren Wandels hin zu
Rückkehr in die Heimat ab, sodass diese Männer einer stabilen, dauerhaft ansässigen Schwarzen
in Deutschland strandeten und sich dort notge- Community in der Zwischenkriegszeit. Doch
drungen ­niederließen.13 nach den Bestimmungen des deutschen Staats-
Ihr rechtlicher Status war komplex: Vor dem angehörigkeitsrechts erbten sowohl die Ehe-
Krieg waren sie nie deutsche Staatsbürger gewe- frauen als auch die Kinder der Männer aus den
sen, sondern eher Untertanen mit begrenzten und ehemaligen Kolonien deren faktische Staaten­
unklaren Rechten. Nach dem Krieg wären sie am losigkeit.17
ehesten als staatenlos zu bezeichnen.14 Denjeni- Die meisten Schwarzen Einwohnerinnen
gen, die die deutsche Staatsbürgerschaft beantrag- und Einwohner zogen in die expandierenden,
ten, wurde fast ausnahmslos die Einbürgerung kosmopolitischen Metropolen Berlin und Ham-
verweigert. In der Folge war es für sie alles andere burg, wo sie sowohl untereinander als auch
als einfach, sich ein Leben in Deutschland aufzu- für Außenstehende an Sichtbarkeit gewannen.
bauen. Die deutschen Behörden zeigten sich we- Schon in der Vorkriegszeit, aber zunehmend in
nig begeistert, sich dieser Männer anzunehmen, der Weimarer Republik, hatten gemeinsame In-
und die Linie der Politik ihnen gegenüber war bis teressen, die geteilten Erfahrungen von Rassis-
etwa 1939 von der Hoffnung geprägt, die verlo- mus und Kolonialismus und die Schwierigkeiten
renen Kolonien zurückzugewinnen. Ihre Anwe- des wirtschaftlichen und sozialen Überlebens in
senheit wurde geduldet, um negative Schlagzeilen Deutschland für Bindungen zwischen Schwar-
in der internationalen Presse zu vermeiden. Dazu zen mit teils sehr unterschiedlichen Hintergrün-
gehörte auch eine begrenzte finanzielle Unter- den gesorgt. Indem sie miteinander in Kontakt
stützung für arbeitslose Afrikaner.15 Das langfris- traten und informelle und formelle Netzwerke
auf lokaler und nationaler Ebene aufbauten, ent-
stand erstmals eine organisierte Gemeinschaft
13 Vgl. Aitken/Rosenhaft (Anm. 11), Kapitel 2.
Schwarzer Menschen in Deutschland. Die Sied-
14 Zwischen 1884 und 1945 erhielten lediglich drei Familien
die deutsche Staatsbürgerschaft. Vgl. Laura Frey/Robbie Aitken,
lungsmuster in Berlin und Hamburg sind ein
„Appartenances coloniales“. Les répercussions du traité de Beleg für diese sich entwickelnde Community.
Versailles sur le statut juridique des Allemands noirs et de leurs Typischerweise konzentrierten sich die Schwar-
familles entre les deux guerres, in: Revue d’Allemagne et des zen Bewohnerinnen und Bewohner auf eini-
pays de langue allemande 2/2020, S. 365–380.
ge wenige Gebiete, lebten und arbeiteten in un-
15 Vgl. Heiko Möhle, Betreuung, Erfassung, Kontrolle – Die
Deutsche Gesellschaft für Eingeborenenkunde, in: Joachim
Zeller/Ulrich van der Heyden (Hrsg.), Kolonialmetropole Berlin, 16 Vgl. Aitken/Rosenhaft (Anm. 11), Kapitel 3.
Berlin 2002, S. 243–251. 17 Vgl. ebd., S. 94–102.

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APuZ 12/2022

Schauspielerinnen und Schauspieler bei Dreharbeiten zum Spielfilm „Einbrecher“ von Hanns Schwarz in
den Ufa-Ateliers Neubabelsberg, Potsdam, im Jahr 1930.
Quelle: Sammlung des Autors

mittelbarer Nähe zueinander und teilten sich Schwarze Darsteller dauerhaften Erfolg.18 Doch
manchmal Unterkünfte. Ein deutliches Zeichen in einer Zeit, in der die deutsche Wirtschaft auf
für die Bildung einer Community war überdies eine Krise zusteuerte, bot die Arbeit als Schau-
die Entstehung sozialer Räume, die explizit von spieler einen beträchtlichen finanziellen Zuver-
Schwarzen Menschen frequentiert wurden, wie dienst. Film, Theater und Zirkus wurden zu Or-
die von dem Inder Hardas Singh betriebene „In- ten, an denen Schwarze Menschen miteinander
dian Bar“ in Hamburg oder das Café Central in in Kontakt kamen, was das Gemeinschaftsgefühl
Berlin. unter ihnen stärkte. Feste Strukturen ergaben sich
Das Café Central war nicht nur ein Treffpunkt für sie schließlich durch die sozialen und politi-
für Schwarze, sondern diente auch als Rekrutie- schen Organisationen, die Schwarze Menschen in
rungsstätte für Film-, Theater- und Zirkusdirek- Deutschland selbst gründeten.
toren, die nach Schwarzen Darstellerinnen und
Darstellern suchten. In den späten 1920er Jah- SCHWARZER AKTIVISMUS
ren waren die meisten Schwarzen fast vollständig
von anderen Beschäftigungsmöglichkeiten aus- 1921 schrieb Louis Brody einen offenen Brief
geschlossen und versuchten, ihren Lebensunter- an die Berliner Zeitung „B. Z. am Mittag“, in
halt stattdessen durch Film- und Bühnenauftrit- dem er gegen die rassistischen Beschimpfun-
te zu bestreiten. Die Rollen, die ihnen angeboten gen protestierte, denen die Schwarze Bevölke-
wurden, entsprachen in der Regel dem Stereotyp rung Deutschlands aufgrund der „Schwarzen
„des Schwarzen“ als primitiv oder exotisch. Ab-
gesehen von dem Kameruner Bebe Mpessa, bes- 18 Vgl. Tobias Nagl, Die unheimliche Maschine. Rasse und
ser bekannt als Louis Brody, hatten nur wenige Repräsentation im Weimarer Kino, München 2009, S. 557–590.

08
Schwarz und Deutsch APuZ

Schmach“ ausgesetzt war.19 Dabei handelte es Juni 1918 übergaben Dibobe und seine 17 Mit-
sich um eine zutiefst rassistische Propaganda- streiter dem Reichskolonialamt eine 32 Punkte
kampagne gegen den Einsatz französischer Ko- umfassende Petition. Die an die Weimarer Na-
lonialtruppen während der alliierten Besetzung tionalversammlung gerichtete Eingabe sah eine
des Rheinlandes.20 Brodys Intervention steht in radikale Neuverhandlung der Beziehungen zwi-
einer längeren Tradition von Schwarzem Akti- schen Kamerun und Deutschland vor. Die bei-
vismus in Deutschland, der schon in den frühe- den Länder sollten zwar weiterhin eng mitei-
ren antikolonialen Aktivitäten der Kameruner nander verbunden sein, Kamerun sollte jedoch
Alfred Bell und Mpundu Akwa sowie in ei- aus dem Griff des Kolonialismus befreit und Ka-
nem Zeitungsartikel des Togolesen Kuaku Karl meruner und Deutsche sowohl in Deutschland
Atiogbe aus dem Jahr 1908 seinen Ausdruck als auch in Afrika politisch und sozial gleich-
fand. In besagtem Zeitungsartikel stellte Atiog- gestellt werden. Angesichts des antikolonialen
be die vorurteilsbehafteten Annahmen der Deut- Charakters der Petition überrascht es nicht, dass
schen über Schwarze Menschen ganz grundsätz- die Forderungen der Männer ignoriert wurden.
lich in Frage.21 Der AH, der 1920 43 Mitglieder zählte, vertrat
Brodys Brief von 1921 wurde im Namen des die Interessen der Schwarzen Gemeinschaft in
Afrikanischen Hilfsvereins (AH) veröffentlicht. Deutschland bis zu seiner Auflösung Mitte der
Der 1918 in Hamburg gegründete Verein war ein 1920er Jahre.24
Sprachrohr der sich entwickelnden Schwarzen 1929 gründeten einige Unterzeichner der Pe-
Gemeinschaft in Deutschland. Er wurde als zen- tition sowie ehemalige AH-Mitglieder eine deut-
traler Organisationspunkt für alle Menschen af- lich politischere, kommunistisch finanzierte, an-
rikanischer Herkunft in Deutschland gegründet, tikoloniale Nachfolgeorganisation in Berlin.25
um Fürsorge und Rechtsberatung zu bieten und Auch sie wurde von Kamerunern dominiert
als Ersatz für die „Stammesgemeinschaft und Fa- und versuchte, die Interessen der Schwarzen in
milie der Heimat“ zu dienen.22 Von den 32 Grün- Deutschland zu vertreten und gleichzeitig gegen
dungsmitgliedern waren die meisten Kameruner, die weltweite Ausbeutung von Menschen afri-
aber die Mitgliedschaft stand jedem in Deutsch- kanischer Herkunft zu protestieren. Ihre Netz-
land lebenden Schwarzen offen. Auch Männer werke reichten über Deutschland hinaus zu einer
aus Togo, Ost- und Westafrika und der Karibik Schwesterngruppe in Paris, zu afrikanischen an-
engagierten sich im Verein. Obwohl viele Mitglie- tikolonialer Aktivisten in anderen europäischen
der in Hamburg und Berlin ansässig waren, betä- Ländern und zu kommunistischen Aktivisten in
tigte sich die Gruppe landesweit und hatte auch Moskau. Ihre zentrale Figur war der kameruni-
in Ostpreußen, Bayern, Westfalen und Mecklen- sche Kommunist Joseph Ekwe Bilé, der als Red-
burg Unterstützer. ner bei antiimperialistischen Demonstrationen
Obwohl der Verein sich selbst als unpoli- der Kommunistischen Internationale auftrat. Mit
tisch bezeichnete, meldete er sich zu Themen zu der Machtübernahme durch die Nationalsozialis-
Wort, die für die Mitglieder von großem sozi- ten im Januar 1933 fand der öffentliche Schwarze
alen und politischen Interesse waren. Ein Kreis politische Aktivismus in Deutschland jedoch ein
um den Kameruner Martin Dibobe versuchte, jähes Ende.
sich in die Nachkriegsdebatten über das Schick-
sal der deutschen Kolonien einzuschalten.23 Im Reed-Anderson, Hearing Colonial Voices: Martin Dibobe and
the 1919 Cameroonian Petition, in: Mont Cameroun 2/2005,
S. 49–64.
19 Vgl. Louis Brody, Die deutschen Neger und die „schwarze 24 Zur Geschichte des Afrikanischen Hilfsvereins vgl. Peter
Schmach“, in: B. Z. am Mittag, 24. 5. 1921. Martin, Anfänge politischer Selbstorganisation der deutschen
20 Siehe den Beitrag von Julia Roos in diesem Heft. Schwarzen bis 1933, in: Marianne Bechhaus-Gerst/Reinhardt
21 Zu Bell siehe Aitken/Rosenhaft (Anm. 11), S. 24–28; Karl Klein-Arendt (Hrsg.), Die (koloniale) Begegnung. AfrikanerInnen
Atiogbe, Ein Wort für meine schwarzen Brüder, in: Berliner in Deutschland 1880–1945, Deutsche in Afrika 1880–1918,
Tageblatt, 2. Beiblatt, 15. 3. 1908. Frank­furt/M. 2003, S. 200–201.
22 Statut des Afrikanischen Hilfsvereins, Staatsarchiv Hamburg 25 Zur „Liga zur Verteidigung der Negerrasse“ (LzVN) vgl.
331–333, SA 2819. Robbie Aitken, From Cameroon to Germany and Back via
23 Vgl. Stefan Gerbing, Afrodeutscher Aktivismus. Interven- Moscow and Paris: The Political Career of Joseph Bilé (1892–
tionen von Kolonisierten am Wendepunkt der Dekolonisierung 1959), Performer, „Negerarbeiter“ and Comintern Activist, in:
Deutschlands 1919, Frank­furt/M. 2010, S. 47–55; Paulette Journal of Contemporary History 43/2008, S. 597–616.

09
APuZ 12/2022

VERFOLGUNG Bis zum Sommer 1940 wurde die antischwar-


IN NAZI-DEUTSCHLAND ze Politik bis zu einem gewissen Grad durch die
Hoffnung auf die Rückgewinnung der Kolonien
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten abgefedert. Der koloniale Revisionismus eröff-
hatte große Auswirkungen auf das Leben al- nete vorübergehend sichere Räume für Einzel-
ler Schwarzen in Deutschland. Mitglieder der personen und Familien. Mit dem Ausbruch des
Schwarzen Community erinnerten diesen Mo- Zweiten Weltkriegs sahen sich Schwarze und ihre
ment als einen Wendepunkt in ihrer persönlichen weißen Partner und Partnerinnen jedoch einem
Geschichte.26 Als nicht ins Rassekonzept der Na- erhöhten Maß an Gewalt ausgesetzt, da der Ko-
zis passende Außenseiter sollten sie von der Zu- lonialrevisionismus und die Sorge um das inter-
gehörigkeit zum neuen Deutschland systematisch nationale Ansehen Deutschlands keine Priorität
ausgeschlossen werden. Auf lokaler Ebene wur- mehr hatten.27 Immer mehr Menschen wurden
den Einzelpersonen von fanatisierten Parteigän- in Konzentrationslagern, Zwangsarbeitslagern
gern schikaniert. Wenige Monate nach der Macht- und Sanatorien inhaftiert, sterilisiert und/oder
ergreifung im Jahr 1933 wurde der Künstler und ­ermordet.
Aktivist Hilarius Gilges in Düsseldorf von ei-
nem Mob lokaler NS-Funktionäre und -Anhän- NACHWEHEN
ger ermordet. Einige Familien wurden aus ihren
Häusern vertrieben, andere verloren ihre Exis- Die Schwarze Bevölkerung, die die NS-Zeit über-
tenz. Die Viktimisierung erstreckte sich auch auf lebte, zählte nun deutlich weniger Menschen, und
in Deutschland geborene Schwarze Kinder, die die Community, die sich seit dem späten 19. Jahr-
in der Schule rassistischen Beleidigungen ausge- hundert entwickelt hatte, war verstreut und trau-
setzt waren, und fast ausnahmslos wurde ihrem matisiert. Mit der Zeit wurden Freundschaften
Bildungsweg mit der Nazifizierung des Schul- und Netzwerke wiederhergestellt. Ihre Erfah-
systems vorzeitig ein Ende gesetzt. Es überrascht rungen und Leiden bleiben jedoch in der öffent-
nicht, dass sich viele zur Flucht aus Deutschland lichen und historischen Erinnerung an das Dritte
entschieden. Reich fast gänzlich unerwähnt, was die Unsicht-
Die Ausgrenzung wurde noch beschleunigt, barkeit dieser Schwarzen Gemeinschaft sowie
als Reichsinnenminister Wilhelm Frick 1935 die der Schwarzen deutschen Vergangenheit in der
Nürnberger Gesetze, die Eheschließungen zwi- allgemeinen deutschen Geschichtsschreibung wi-
schen sogenannten Ariern und Juden untersag- derspiegelt. Diese Unsichtbarkeit ist das Ergeb-
ten, in Teilen ausdrücklich auf Schwarze ausdehn- nis mehrerer komplexer Ursachen: dem schieren
te. Nun waren Ehen zwischen zeugungsfähigen Ausmaß der nationalsozialistischen Gräueltaten,
Menschen afrikanischer Herkunft und weißen der zahlenmäßig geringen Größe der Schwar-
Europäern und Europäerinnen verboten. Die zen Bevölkerung in Deutschland vor 1945, dem
Anträge auf Erlaubnis zur Eheschließung wurden Mangel an Archiv-Dokumentation und der an-
ausnahmslos abgelehnt, und die Nazis versuchten haltenden Unfähigkeit, sich konstruktiv mit der
aktiv, bestehende Partnerschaften durch die An- kolonialen Vergangenheit Deutschlands aus-
drohung von Sterilisation und Inhaftierung auf- einanderzusetzen. Die Folge ist, dass es kaum
zulösen. Dies verdeutlicht die völkermörderische eine Erinnerung daran gibt, dass es in Deutsch-
Absicht der antischwarzen Politik und Praxis der land einmal eine Schwarze Bevölkerung gegeben
Nazis. Das Ziel des Regimes bestand letztlich da- hat, die größtenteils aus den deutschen Kolonien
rin, das Heranwachsen künftiger Generationen stammte.
von Schwarzen Deutschen zu verhindern.27
Aus dem Englischen von Birthe Mühlhoff, Dinslaken
26 Siehe zum Beispiel Doris Reiprich/Erika Ngambi Ul Kuo,
Unser Vater war Kameruner, unsere Mutter Ostpreußin, wir
sind Mulattinnen, in: Katharina Oguntoye/May Opitz/Dagmar
Schultz (Hrsg.), Farbe bekennen, Frankfurt/M. 2006, S. 73–92;
ROBBIE AITKEN
Gert Schramm, Wer hat Angst vorm schwarzen Mann, Berlin
2011; Theodor Wonja Michael, Deutsch sein und schwarz dazu,
ist Professor für Geschichte an der Sheffield Hallam
München 2013. University, Vereinigtes Königreich.
27 Siehe Aitken/Rosenhaft (Anm. 11), Kapitel 7. r.aitken@shu.ac.uk

10
Schwarz und Deutsch APuZ

DIE „FARBIGEN BESATZUNGSKINDER“


DER ZWEI WELTKRIEGE
Julia Roos

Nach beiden Weltkriegen waren im besetzten Geschichte beider Generationen von Besatzungs-
Rheinland neben weißen alliierten Truppen auch kindern vergleichend betrachten, werden wich-
Soldaten of Color stationiert. In der Weimarer tige Defizite der öffentlichen Erinnerung in den
Republik handelte es sich überwiegend um fran- Fünfzigerjahren sichtbar, die eine konsequen-
zösische Kolonialtruppen aus Nordafrika, Mada- te Bekämpfung rassistischer Denk- und Hand-
gaskar, dem Senegal und Vietnam. In der frühen lungsweisen wesentlich erschwerten.
Bundesrepublik waren schwarze Besatzungssol-
daten mehrheitlich afroamerikanische GIs. Die PROPAGANDAKAMPAGNE
außerehelichen Kinder alliierter Soldaten of Co- „SCHWARZE SCHMACH AM RHEIN“
lor mit deutschen Frauen sind für die Geschichte
politischer Konflikte darüber, ob es möglich ist, Am 20. Mai 1920 verabschiedete die Deutsche
zugleich schwarz und deutsch zu sein, von zen- Nationalversammlung eine förmliche Anfrage
traler Bedeutung.01 Dies gilt zum einen in quan- an die Reichsregierung „betreffend Verwendung
titativer Hinsicht: Im 20. Jahrhundert bildeten farbiger Truppen in den besetzten Gebieten der
die Söhne und Töchter schwarzer Besatzungssol- Rheinlande,“ die von allen Abgeordneten mit
daten lange die größte Gruppe schwarzer Deut- Ausnahme der Unabhängigen Sozialdemokra-
scher. Von den (relativ wenigen) Menschen, die ten (USPD) unterstützt wurde. Die Verfasser be-
vor 1919 aus den ehemaligen Kolonien einge- zeichneten es als „eine Schmach“, dass Soldaten
wandert waren, hatte nur eine kleine Minderheit of Color „in deutschen Kulturländern Hoheits-
die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Im Ge- rechte ausüben“, für deutsche Frauen und Kinder
gensatz dazu waren die sogenannten Besatzungs- seien „diese Wilden eine schauerliche Gefahr“,
kinder in der Regel gebürtige Deutsche. Da sie und die Zustände seien „schandbar, erniedrigend,
von Soldaten abstammten, die für viele Deut- unerträglich!“ In der ganzen Welt erhöben sich
sche nicht nur die als demütigend empfundene „immer mehr entrüstete Stimmen, die diese un-
Kriegsniederlage, sondern auch eine vermeintli- auslöschliche Schmach verurteilen“.03
che „rassische Bedrohung“ verkörperten, waren Die Anfrage verdeutlicht wesentliche Aspek-
sie bevorzugte Zielscheibe nationalistischer Res- te der rassistischen Propagandakampagne gegen
sentiments. Im Dritten Reich wurden Hunderte die „schwarze Schmach am Rhein“, deren Ent-
von ihnen zur „Reinhaltung der Rasse“ zwangs- stehung eng mit den innen- und außenpolitischen
sterilisiert. Krisen des Frühjahrs 1920 verknüpft war.04 Im
Die Kulturtheoretikerin Michelle Wright hat Verlauf des blutigen Ruhrkampfs, den der rechts-
darauf hingewiesen, dass die Besonderheiten der extreme Kapp-Putsch vom 13. März ausgelöst
Entstehungsgeschichte der schwarzen Diaspora hatte, drangen Reichswehreinheiten illegal in die
in Deutschland wesentlich zur Formierung eines entmilitarisierte Zone ein. Daraufhin besetzten
rassistischen Diskurses beitrugen, der schwar- belgische und französische Truppen kurzfristig
ze Deutsche als „Afri­ka­ner*­innen“ beziehungs- Frankfurt am Main. Dort kam es am 7. April zu
weise als „von außen kommende Fremde“ (Oth- Zusammenstößen zwischen marokkanischen Sol-
ers-from-without) konstituierte.02 Im Folgenden daten und deutschen Zivilisten, bei denen mehrere
sollen daher Debatten über „farbige Besatzungs- Deutsche getötet wurden. Bereits einen Tag spä-
kinder“ zwischen 1920 und 1960 mit einem Fo- ter begann das Auswärtige Amt mit den Vorbe-
kus auf ihre Ursprünge, Kontinuitäten und Ver- reitungen für eine Auslandspropaganda zum The-
schiebungen untersucht werden. Indem wir die ma „Ausschreitungen farbiger Truppen“.05 Der

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APuZ 12/2022

ausschließliche Blick auf Soldaten of Color führte gung“ Deutschlands durch „afrikanische Wilde“
zu groben Verzerrungen. Zeitgenössische Statisti- sollte international gegen den Versailler Vertrag
ken zeigten, dass nur ein sehr geringer Prozent- Stimmung gemacht werden. Dieses Kalkül schien
satz kolonialer Truppen an gewaltsamen Über- zunächst aufzugehen. In den frühen Zwanziger-
griffen gegen deutsche Zivilisten beteiligt war. Ein jahren unterstützten zahlreiche ausländische Per-
Beispiel verdeutlicht dies: Ein Bericht des Reichs- sönlichkeiten und Vereine die Kampagne gegen
kommissars für die besetzten rheinischen Ge- Frankreichs Kolonialtruppen.09 Aus deutscher
biete vom Januar 1922 beschuldigte französische Sicht besonders ergiebig war die Kollaboration mit
Kolonialsoldaten, zwischen September 1920 und dem englischen Journalisten und Labour-Politi-
Juni 192112345 siebenundzwanzig Straftaten begangen ker E. D. Morel.10 In seiner auflagenstarken Schrift
zu haben.06 Im gleichen Zeitraum belief sich die „The Horror on the Rhine“ warnte Morel vor dem
durchschnittliche Stärke der im Rheinland stati- Sexualtrieb der „primitiven Rassen“, der sehr viel
onierten Kolonialtruppen auf 25 000.07 Hinter ge- „aggressiver“ und „ungehemmter“ sei als der eu-
schlossenen Türen gaben Regierungsbeamte zu, ropäischer Männer. Der „französische Militaris-
dass weiße alliierte Truppen eine ernstere Bedro- mus“ habe die afrikanischen Soldaten gewaltsam
hung für die öffentliche Sicherheit darstellten als von ihrem „eigenen Weibervolk“ getrennt und auf
Kolonialsoldaten.08 das Rheinland „losgelassen“. Zwangsläufige Folge
Im Zentrum der stark pornografisch anmuten- sei, dass „die sexuellen Bedürfnisse der nord- und
den Bildsprache der „schwarzen Schmach“ standen westafrikanischen Truppen an den Körpern weißer
Sexualverbrechen, die französische Kolonialsolda- Frauen befriedigt werden müssen“.11
ten angeblich an rheinischen Frauen und Mädchen Rassistische Diskurse über die „Black Peril“
verübt hatten. Mithilfe der reißerischen Metapher (angebliche Vergewaltigungen weißer Frauen durch
der Rheinlandbesetzung als brutale „Vergewalti- schwarze Männer) waren ein globales Phänomen
der Zwanzigerjahre.12 Im deutschen Kolonialreich
01 Vgl. Fatima El-Tayeb, Schwarze Deutsche, Der Diskurs um
waren zwischen 1906 und 1912 „Mischehen“ zwi-
„Rasse“ und nationale Identität 1890–1933, Frankfurt/M. 2001. schen deutschen Siedlern und indigenen Frauen auf
02 Vgl. Michelle Wright, Becoming Black. Creating Identity in dem Verordnungsweg verboten worden.13 Obwohl
the African Diaspora, Durham 2004, S. 190. Deutschland 1919 seine Kolonien offiziell verlor,
03 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Natio-
trug die Bewegung gegen die „schwarze Schmach“
nalversammlung, Bd. 343, Berlin 1920, S. 3407.
04 Vgl. Christian Koller, „Von Wilden aller Rassen niedergemet-
wesentlich dazu bei, dass zentrale Elemente kolo-
zelt“. Die Diskussion um die Verwendung von Kolonialtruppen in nialer Debatten über die „biologischen Gefahren“
Europa zwischen Rassismus, Kolonial- und Militärpolitik (1914– der „Rassenkreuzung“ weiterlebten, indem sie auf
1930), Stuttgart 2001; Sandra Maß, Weiße Helden, schwarze die deutsche Gesellschaft übertragen wurden.14
Krieger. Zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutschland
Für Besatzungskinder of Color war dies eine fata-
1918–1964, Köln 2006; Iris Wigger, Die „schwarze Schmach am
Rhein“. Rassistische Diskriminierung zwischen Geschlecht, Klasse,
Nation und Rasse, Münster 2007; Julia Roos, Nationalism, Ra- 09 Vgl. Wigger (Anm. 4), S. 34–66; Koller (Anm. 4), S. 284–311.
cism and Propaganda in Early Weimar Germany. Contradictions 10 Robert Reinders, Racialism on the Left. E. D. Morel and the
in the Campaign against the „Black Horror on the Rhine“, in: „Black Horror on the Rhine,“ in: International Review of Social
German History 1/2012, S. 45–74. History 13/1968, S. 1–28.
05 Vgl. das Schreiben Carl-Ludwig Diego von Bergens, des 11 E. D. Morel, The Horror on the Rhine, London 1921, S. 10.
Botschafters des Deutschen Reichs beim Heiligen Stuhl, an Unter- Aus dem Englischen übersetzt durch die Autorin.
staatssekretär Edgar Haniel von Haimhausen vom 8. 4. 1920, so- 12 Vgl. Ann Laura Stoler, Carnal Knowledge and Imperial Pow-
wie Haniels internes Memorandum vom gleichen Tag, in: Politisches er. Race and the Intimate in Colonial Rule, Berkeley 2010, S. 58.
Archiv des Auswärtigen Amts (PAAA) R. 74.427, ohne Paginierung. 13 Vgl. Birthe Kundrus, Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich
06 Bericht des Reichskommissars für die besetzten rheinischen im Spiegel seiner Kolonien, Köln 2003, S. 219–279; Krista Mol-
Gebiete vom 28. 1. 1922, in: Landesarchiv Nordrhein Westfalen, ly O’Donnell, The First Besatzungskinder. Afro-German Children,
Regierung Düsseldorf Nr. 15148, S. 90–110. Colonial Childrearing Practices, and Racial Policy in German
07 Vgl. Maß (Anm. 4), S. 79. Southwest Africa, 1890–1914, in: Patricia Mazon/Reinhild Stein-
08 Margarete Gärtner, die Vorsitzende der halbamtlichen gröver (Hrsg.), Not So Plain as Black and White. Afro-German
Rheinischen Frauenliga (RFL) im Reichsinnenministerium, be- Culture and History, 1890–2000, Rochester 2005, S. 61–81.
merkte, dass die „sittlichen Zustände“ im amerikanisch besetzten 14 Vgl. Alexandra Przyrembel, „Rassenschande“. Reinheits-
Gebiet, in dem nahezu ausschließlich weiße Truppen stationiert mythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus,
waren, „am schlimmsten“ seien. Protokoll einer Sitzung der RFL Göttingen 2003, S. 43; Tina Campt, Other Germans. Black
vom 9. 4. 1921, Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHS- Germans and the Politics of Race, Gender and Memory in the
tA) Haupthilfsstelle Pfalz (HHStPf) Nr. 35, ohne Paginierung. Third Reich, Ann Arbor 2004, S. 28.

12
Schwarz und Deutsch APuZ

le Entwicklung. Fortan verbanden sich in der sym- Foto zeigte die Amerikanerin mit einem schwar-
bolischen Figur des schwarzen Besatzungskinds zen Jungen und einem weißen Mädchen, das sich
die rassistischen Stereotype des die deutsche Nati- hilfesuchend an Beveridge klammert. Angeblich
on von außen bedrohenden schwarzen „Fremden“ handelte es sich bei den Kindern um „ein Bastard-
mit der Furcht vor „innerer Verseuchung“. Kind, 9 Monate alt, das Kind einer deutschen wei-
Im April 1922 erschien in der Tageszeitung ßen Mutter und eines farbigen Franzosen“ und
„Münchner Neueste Nachrichten“ ein Beitrag des um ein „deutsche[s] unterernährte[s] Kind, 6 Jahre
Arztes Franz Rosenberger. Rosenberger war Vor- alt, ein Opfer der unmenschlichen Hungerblocka-
standsmitglied des Vereins „Deutscher Notbund de“.18 Die Nachricht war eindeutig: Besatzungs-
gegen die schwarze Schmach“, der enge Kontak- kinder of Color waren keine Deutschen, son-
te zur antisemitischen völkischen Bewegung un- dern gewaltsam in die Bevölkerung eingeschleuste
terhielt. Vom besetzten Rheinland ausgehend, so „Fremdkörper“, die den „echten“ deutschen Kin-
Rosenberger, „droht dem deutschen Volke eine au- dern lebenswichtige Ressourcen entzogen.
ßerordentliche Gefahr durch gewaltsame Vermi- Eine Anfrage des Reichsfrauenausschusses der
schung mit Farbigen, durch Verseuchung mit Ge- Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) an den
schlechtskrankheiten (…).“ Das wahre Ausmaß Reichsminister für die besetzten rheinischen Ge-
der „rassischen Verunreinigung“ sei schwer zu er- biete vom Februar 1927 verdeutlicht, welch tiefe
messen, denn die Träger „artfremden Bluts“ seien Wurzeln die rassistische Hysterie über die angebli-
oft nicht als solche erkennbar. „Ganze Generatio- chen Gefahren der „Mischlingskinder“ geschlagen
nen können scheinbar rein kaukasisch sein, ein jun- hatte. Der Ausschuss bat „um gefällige Mitteilung,
ges Paar aus solchen ‚seit Menschengedenken‘ rein ob irgend welche Einrichtungen bestehen, um Kin-
weißen Familien heiratet, freut sich auf den Spröß- der, die von farbigen Truppen im besetzten Gebiet
ling, und es kommt ein erbärmlicher Mischling.“ stammen, zu versorgen und zu verhindern, dass
Die Kränklichkeit der „Mischlinge“ rühre daher, solche Mischlinge im deutschen Volke aufgehen“.19
dass die Kinder weder den klimatischen Bedingun- Der Reichsminister äußerte sich pessimistisch: Da
gen noch den sozialen Anforderungen des „ver- die meisten der Kinder unehelich geboren waren,
wickelten Ablauf[s] europäischen Geschehens“ hatten sie die Staatsbürgerschaft ihrer Mutter ge-
gewachsen seien. Rosenberger prophezeite eine erbt und waren somit Reichsangehörige. „Hieraus
düstere Zukunft: „Wehe der weißen Rasse, wenn ergibt sich, dass ihrer Abkunft wegen irgendwelche
das dichtbevölkerte Rheinland der Mulattisierung Sondermaßnahmen gegen sie nicht werden ergrif-
im Herzen des rein weißen Europas verfällt!“15 fen werden können.“ Die Anfrage motivierte den
Auch staatliche Stellen trugen zu einem öffent- Minister, eine neuerliche Zählung der „farbigen Be-
lichen Diskurs bei, der Besatzungskinder of Color satzungskinder“ in Auftrag zu geben. Das Ergebnis
als bedrohliche „Keimträger“ brandmarkte. Die war bescheiden: 1927 befanden sich im Rheinland
Haupthilfsstelle Pfalz, eine Einrichtung der bayeri- nur einige Hundert Kinder, die bekanntermaßen
schen Regierung, arbeitete eng mit der amerikani- von französischen Kolonialsoldaten abstammten.20
schen Journalistin Ray Beveridge zusammen, die in Bezeichnenderweise hatte die geringe Zahl
ihren Reden unter anderem zu Lynchjustiz gegen von schwarzen rheinischen Kindern keinerlei mil-
Kolonialsoldaten aufrief.16 1922 veröffentlichte dernden Einfluss auf Ängste vor „rassischer Ver-
Beveridge ihren Vortrag „Die schwarze Schmach – seuchung“. In der bayerischen Pfalz waren 715
Die weiße Schande“, in dem sie behauptete, dass außereheliche Kinder gezählt worden, deren Vä-
„60 Prozent der Kinder, die durch die französische ter Besatzungssoldaten waren; nur neun Prozent
Besatzung das Licht der Welt erblicken, schon mit (68) stammten von Kolonialsoldaten ab.21 Den-
Syphilis zur Welt kommen“, und dass „Mischlings-
kinder meistens die schlechten Eigenschaften und 18 Ebd., Titelblatt.
Laster beider Eltern in sich tragen“.17 Ein gestelltes 19 Dr. von Dryander an den Reichsminister für die besetzten
Gebiete, 12. 2. 1927, in: Bundesarchiv Berlin (BAB), Reichsministe-
rium für die besetzten Gebiete, R1601/2234, ohne Paginierung.
15 Franz Rosenberger, Gefahr der Mulattisierung, in: Münch- 20 Reichsminister für die besetzten Gebiete an Dr. von Dryan-
ner Neueste Nachrichten, 18. 4. 1922. der, 23. 2. 1927, in: BAB R1601/2234.
16 Vgl. Wigger (Anm. 4), S. 56–61. 21 Vgl. Oberlandesgericht Zweibrücken, „Übersicht über die
17 Ray Beveridge, Die schwarze Schmach. Die weiße Schande, Zahl der unehelichen Kinder in der Pfalz, die von Besatzungsan-
Hamburg 1922, S. 22. gehörigen stammen“, in: BAB R 1601/2234.

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APuZ 12/2022

noch machten bayerische Beamte im Sommer se Neuerung zugutekommen. So erklärte sich der
1927 einen radikalen Vorstoß. Im Juli bat Pfalz- marokkanische Soldat Messaoud ben Y. im No-
kommissar Heinrich Jolas den bayerischen Ver- vember 1929 damit einverstanden, zum Unterhalt
treter beim Reichsrat, Ministerialrat Franz Sperr, seiner in Frankfurt am Main lebenden vierjährigen
beim Reichsgesundheitsamt Erkundigungen ein- Tochter I. K. beizutragen.25 Deutsche Frauen und
zuziehen, „ob sich zur Reinhaltung der Rasse im Kolonialsoldaten, die heiraten wollten, begegne-
besetzten Gebiet von farbigem Blut nichts machen ten allerdings weiterhin erheblichen Widerständen
lässt“. Wie Diskussionen im bayerischen Innen- vonseiten deutscher Behörden.
ministerium ergeben hätten, sei „die Unfrucht-
barmachung von Mischlingen durch einen gänz- NATIONALSOZIALISMUS:
lich schmerzlosen Eingriff zu erzielen“. Jolas war KONSTRUKTION VON „RASSE“
sich „darüber klar, daß solcher Eingriff nach der
gegenwärtigen Rechtslage unzulässig ist“.22 Die Machtübernahme der Nationalsozialisten lös-
In den darauffolgenden Monaten eruierte der te einen Radikalisierungsschub in Diskursen über
Reichsminister für die besetzten Gebiete zwei alter- schwarze Besatzungskinder aus. Als im Frühling
native „Lösungen“ des behaupteten Problems der 1933 über das Gesetz zur Verhütung erbkranken
„Mischlingskinder“: Zwangssterilisation oder Exi- Nachwuchses (GVeN) beraten wurde, mehrten
lierung. Da Deutschland jedoch zu diesem Zeit- sich die Forderungen nach einer Ausweitung des
punkt noch kein Sterilisationsgesetz besaß, waren Sterilisationsgesetzes auf schwarze Besatzungskin-
Zwangssterilisationen letztlich zu riskant. Zur Er- der. In seiner Schrift „Rasseprobleme im Dritten
forschung der bestehenden Möglichkeiten, die Kin- Reich“ rief Hans Macco dazu auf, die „Überbleib-
der nach Übersee abzuschieben, wandte sich das sel der schwarzen Schmach am Rhein auszumer-
Ministerium an Johannes Witte von der Ostasien- zen“. Die „Mulattenkinder“ seien „entweder durch
mission des Allgemeinen Evangelisch-Protestanti- Gewalt entstanden, oder aber die weiße Mutter
schen Missionsvereins. Anfang Januar 1928 berich- war eine Dirne. In beiden Fällen besteht nicht die
tete Witte, dass man die Idee, die Kinder in deutsche geringste moralische Verpflichtung gegenüber die-
Missionen im Ausland zu verbringen, wohl aufge- ser fremdrassischen Nachkommenschaft“.26 Das
geben müsse. „Meine Erkundigungen über die Fra- GVeN vom 14. Juli 1933 bot jedoch keine Hand-
ge der dunkelfarbigen Mischlingskinder im be- habe, Menschen allein aufgrund ihrer „Rassezuge-
setzten Gebiet haben ergeben, dass die sämtlichen hörigkeit“ zwangsweise zu sterilisieren.27
Pfarrer, in deren Gebiet sich solche Kinder finden, Im April 1933 ordnete der preußische Innen-
die Meinung vertreten, daß es in den allermeisten minister Hermann Göring an, alle „Mischlin-
Fällen unmöglich sein wird, die Angehörigen zu be- ge“ erneut zu zählen. Zeitgleich wurde das Ber-
wegen, einem Abtransport des Kindes nach Afrika liner Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie,
oder in andere Länder zuzustimmen.“23 menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) mit
Infolgedessen konzentrierten sich staatliche einer Lokalstudie rheinischer „Mischlingskinder“
Stellen verstärkt darauf, von alliierten Regierungen beauftragt.28 Die Studie sollte dazu dienen, „ein
und Soldaten Unterhaltszahlungen für deutsche einwandfreies Urteil über den körperlichen und
Besatzungskinder einzufordern. Nur Frankreich geistigen Zustand der Bastardkinder und über die
war jedoch bereit, in bestimmten Fällen Alimen- rassische Bedeutung dieser Beimischung fremden
tenklagen unverheirateter deutscher Mütter gegen Blutes in unseren westlichen Grenzgebieten zu
Soldaten der französischen Armee zuzulassen.24 gewinnen“.29 Dazu untersuchte der Anthropolo-
Auch Besatzungskindern of Color konnte die- ge Wolfgang Abel, ein Assistent des KWI-A Di-

22 Heinrich Jolas an Ministerialrat Sperr, 21. 7. 1927, abge- 25 Vgl. ebd., S. 176.
druckt in: Reiner Pommerin, „Sterilisierung der Rheinlandbas- 26 Hans Macco, Rasseprobleme im Dritten Reich, Berlin 1934,
tarde“: Das Schicksal einer farbigen deutschen Minderheit S. 13.
1918–1937, Düsseldorf 1979, S. 92–93. 27 Vgl. Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialis-
23 Dr. J. Witte an den Reichsminister für die besetzten Gebiete, mus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986.
11. 1. 1928, in: BAB R 1601/2234. 28 Vgl. Pommerin (Anm. 22), S. 45–48.
24 Vgl. Julia Roos, Racist Hysteria to Pragmatic Rapprochement? 29 Ludwig Grauert, Bericht an den Herrn Ministerpräsidenten,
The German Debate over Rhenish „Occupation Children“ 1920– 28. 2. 1934, in: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHS-
1930, in: Contemporary European History 2/2013, S. 155–180. tAW), Regierungspräsident Wiesbaden Abt. 405/3158, S. 447.

14
Schwarz und Deutsch APuZ

rektors Eugen Fischer, im Sommer 1933 in Wies- In den folgenden Monaten wurden preußische
baden dreiunddreißig Kinder marokkanischer Kreisärzte ermutigt, Besatzungskinder of Color
beziehungsweise vietnamesischer Väter. Abel ver- daraufhin zu untersuchen, ob sie die Kriterien des
zichtete dabei bewusst auf die Einbeziehung einer Sterilisationsgesetzes zumindest oberflächlich er-
Kontrollgruppe weißer Besatzungskinder. Den- füllten. Dies führte zu einer zunehmenden sozialen
noch behauptete er, bewiesen zu haben, dass Be- Ausgrenzung der Kinder und zu einer Intensivie-
satzungskinder of Color aufgrund ihrer „rassi- rung ihrer vermeintlich objektiven „rassischen Be-
schen Veranlagung“ sowohl körperlich als auch urteilung“ durch Ärzte und Lehrerinnen.
geistig „arischen“ Kindern unterlegen waren, was Vier Jahre lang dauerte das politische Tauziehen
er damit erklärte, dass es im französischen Protek- darüber, wie man die vorgebliche „rassische Ge-
torat Marokko zu einer ungewöhnlich „starken fahr“ der rheinischen Kinder am wirkungsvollsten
Mischung von negriden mit orientalischen und bekämpfte. Im Verlauf einer Tagung der Arbeits-
mediteranen (…), z. T. auch nordeuropäischen gruppe II des Sachverständigenbeirats für Bevölke-
Rasseelementen“ gekommen sei.30 Im Gegen- rungs- und Rassenpolitik, die am 11. März 1935 im
satz zu den Kindern vietnamesischer Soldaten, die Reichsministerium des Innern stattfand, formier-
Abel als „leicht erziehbar und folgsam“ beschrieb, ten sich rivalisierende Positionen. In seinem Vor-
zeichneten sich die „Marokkaner-Bastarde“ an- trag „Wege zur Lösung der Bastardfrage“ sprach
geblich durch „Unfolgsamkeit, Liederlichkeit, sich der Leiter des Rassenpolitischen Amts der
Vorliebe für Straßenleben, große Erregbarkeit und NSDAP, Walter Groß, für die Zwangssterilisation
Jähzorn“ aus.31 Allerdings habe die starke „Mi- der „Mischlinge“ aus. Groß gab zu, dass eine sol-
schung“ des Erbguts ihrer marokkanischen Väter che Maßnahme nicht mit dem Sterilisationsgesetz
bei zwei Mädchen dazu geführt, dass „der fremde vereinbar war und daher heimlich von der Gestapo
Einschlag nur schwach zu sehen“ sei.32 Damit sug- koordiniert und von regimetreuen Ärzten durch-
gerierte Abel, dass von den Kindern marokkani- geführt werden müsse. Vertreter des Auswärtigen
scher Soldaten eine besonders akute Gefahr für die Amts sowie Ministerialdirektor Arthur Gütt, der
„Reinhaltung der Rasse“ ausging, da ihre „Fremd- Leiter der Abteilung Volksgesundheit im Reichs-
artigkeit“ potenziell „unsichtbar“ war. ministerium des Innern und „Vater“ des GVeN,
Im Anschluss an Abels Wiesbaden-Studie kam befürworteten dagegen eine Politik der systema-
es zu einer Reihe von Verschärfungen in der Erfas- tischen Exilierung, um potenzielle diplomatische
sung schwarzer Besatzungskinder. Am 28. Februar Konflikte zu vermeiden. Schließlich war es jedoch
1934 fasste Staatssekretär Grauert für Göring zu- die von Groß favorisierte Strategie, die sich durch-
sammen, dass für Preußen 145 „Mischlinge“ ermit- setzte.34 Am 18. April 1937 erließ Hitler persönlich
telt worden seien, er diese Zahl jedoch für zu nied- den Befehl, „die Maßnahmen zur Durchführung
rig halte, da „erfahrungsgemäß die Mischlinge oft der Unfruchtbarmachung der Rheinlandbastarde
einen fast rein europäischen Typ zeigen“. Schät- sofort in Angriff zu nehmen“.35
zungen, die von 500–600 Kindern ausgingen, seien Im Verlauf des Sommers 1937 wurden schät-
realistischer. Der Staatssekretär bedauerte, dass die zungsweise zwischen 400 und 600 Besatzungskin-
Sterilisierung aller „Mischlinge“ durch ein Sonder- der of Color zwangssterilisiert.36 Drei regionale
gesetz zu unerwünschten Spannungen mit Frank- Sonderkommissionen, die in Koblenz, Ludwigs-
reich und Japan führen würde. „Immerhin dürfte hafen und Wiesbaden unter Vorsitz hochrangiger
aufgrund der bisherigen Untersuchungsergebnisse Gestapobeamter tagten, koordinierten die heimli-
anzunehmen sein, dass namentlich unter den Misch-
lingen marokkanischer Herkunft eine größere Zahl
34 Vgl. Pommerin (Anm. 22), S. 71–77; Robbie Aitken/Eve Rosen-
erblich Minderwertiger ist, auf die das Gesetz vom
haft, Black Germany. The Making and Unmaking of a Diaspora
14. Juli 1933 ohne weiteres anwendbar ist.“33 Community 1884–1960, Cambridge 2013, S. 264–265.
35 Dokument Nr. 82 und Anhang, FV 200*, in: Friedrich Hart-
mannsgruber (Hrsg.), Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler
30 Wolfgang Abel, Über Europäer-Marokkaner und Europäer- 1933–1945. Bd. IV (1937), München 2005, S. 273–275; 744.
Annamiten-Kreuzungen, in: Zeitschrift für Morphologie und Vgl. Gisela Tascher, Handeln auf Befehl des Führers. Die illegale
Anthropologie Bd. XXXVI/1937, S. 311–328, hier S. 313. und streng geheime Zwangssterilisation der „Rheinlandbastarde“
31 Ebd., S. 327. von 1937 und die Strafverfolgung der ärztlichen Täter nach
32 Ebd., Tafel LI. 1945, in: Deutsches Ärzteblatt 10/2016, S. A 420–422.
33 Grauert (Anm. 29), S. 450. 36 Vgl. Campt (Anm. 14), S. 73; Bock (Anm. 27), S. 354.

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APuZ 12/2022

che Aktion. Den Kommissionen beigeordnet wa- kommen alliierter Soldaten befanden sich 4776 (sie-
ren Eugeniker, die mehrheitlich mit dem Berliner ben Prozent) schwarze Kinder. Neun Prozent (417)
KWI-A affiliiert waren (darunter auch Abel und der schwarzen Kinder waren von ihren Müttern
Fischer) und deren „anthropologische Gutach- zur Adoption freigegeben worden. Bei den wei-
ten“ letztlich darüber entschieden, ob ein Kind ßen Kindern waren es drei Prozent (1744).39 Ob-
sterilisiert wurde. Unter den Opfern der Mas­ wohl Besatzungskinder auch in der Weimarer Re-
sen­ste­ri­lisa­tionen war auch I. K., die außereheli- publik wiederholt durch staatliche Stellen gezählt
che Tochter des Soldaten Messaoud ben Y., deren worden waren, waren Informationen immer nur
Mutter acht Jahre zuvor erfolgreich für Unter- bruchstückhaft an die Öffentlichkeit gelangt. So-
haltszahlungen gekämpft hatte. Das Mädchen wohl in den Zwanzigerjahren als auch im Dritten
stand am 19. Juni 1937 im Alter von zwölf Jah- Reich dienten separate Statistiken über schwar-
ren vor den Mitgliedern der Sonderkommission I ze Besatzungskinder primär propagandistischen
(Wiesbaden) und wurde von Abel untersucht. Zwecken. Im Gegensatz hierzu erfasste die Erhe-
Laut Kommissionsbericht kam Abel zu dem bung von 1956 schwarze und weiße Besatzungs-
Schluss, „dass die I. K. Abkomme eines farbigen kinder gemeinsam und machte die Ergebnisse einer
Angehörigen der ehemaligen Besatzungstruppen breiten Öffentlichkeit zugänglich. War dieser ver-
(Afrikaner) ist und eindeutig entsprechende an- änderte Umgang mit Statistiken über Besatzungs-
thropologische Merkmale aufweist. Sie ist des- kinder auch Ausdruck einer größeren Bereitschaft,
halb unfruchtbar gemacht ­worden.“37 schwarze Kinder nicht als „Fremdkörper“, sondern
als Teil der deutschen Gesellschaft zu betrachten?
DISKURSE UND VERGESSEN His­to­ri­ker*­innen haben zu Recht auf die tie-
IN DER BUNDESREPUBLIK fen politischen Ambivalenzen hingewiesen, die
bundesrepublikanische Diskurse über Besat-
Im Oktober 1956 veröffentlichte das Statistische zungskinder of Color kennzeichneten.40 Dies
Bundesamt die Erhebung „Die unehelichen Kinder verdeutlicht eine frühe Zählung, die das Bundes-
von Besatzungsangehörigen im Bundesgebiet und innenministerium am 8. November 1950 veran-
Berlin (West)“. Das Amt begründete die Erhebung lasste und die offen darauf zielte, schwarze Be-
damit, dass die Lage außerehelicher Besatzungs- satzungskinder zu identifizieren, die „außerhalb
kinder, von denen auch nach Erlöschen des Besat- eines familiären Zusammenhangs“ lebten und so
zungsstatuts im Mai 1955 nur eine begrenzte Zahl für eine Übersiedlung „in das Heimatland ihrer
Anspruch auf väterliche Unterhaltszahlungen hatte, Väter“ in Frage kamen.41 In den Fünfziger- und
seit längerem ein zentrales Thema der „sozialpoliti- Sechzigerjahren arbeiteten staatliche Stellen eng
schen Diskussion“ sei. Außereheliche Besatzungs- mit kirchlichen und privaten Organisationen zu-
kinder, deren Mütter nicht für den Unterhalt ihres sammen, um schwarze Kinder in internationale
Kindes aufkommen konnten, hatten ein Anrecht auf Adoptionen zu vermitteln. Solche Bemühungen
öffentliche Unterstützung. Es sei, so das Statistische waren oft von ehrlicher Sorge um das Wohlerge-
Bundesamt, jedoch wenig bekannt über die Gesamt- hen der Kinder motiviert; gleichzeitig spielten je-
zahl der Kinder sowie das Ausmaß der Kosten „für doch auch zwiespältige und rassistische Gründe
diese besondere Art der Kriegsfolgen“.38 eine Rolle, etwa die Befürchtung, dass die „An-
Die Erhebung erfasste Kinder, die unter „Amts- dersartigkeit“ der Kinder ein unüberbrückbares
vormundschaft der Jugendämter und (…) un- Hindernis für ihre Eingliederung in die deutsche
ter Einzel-, Vereins- und Anstaltsvormundschaft“ Gesellschaft darstelle.
standen. Sie unterschied zwischen weißen Kindern
und Besatzungskindern „farbiger Abstammung“.
39 Ebd., Tab. 1.
Unter den 67 753 gezählten außerehelichen Nach- 40 Vgl. Yara-Colette Lemke Muniz de Faria, Zwischen Fürsorge
und Ausgrenzung. Afrodeutsche „Besatzungskinder“ im Nach-
kriegsdeutschland, Berlin 2002; Heide Fehrenbach, Race after
37 Sonderkommission I Wiesbaden an Städtisches Gesund- Hitler. Black Occupation Children in Germany and America,
heitsamt Frankfurt am Main, 16. 8. 1937, in: Institut für Stadtge- Princeton 2005; Silke Satjukow/Rainer Gries, „Bankerte“. Besat-
schichte Frankfurt am Main (IfS), Stadtgesundheitsamt 5.131. zungskinder in Deutschland nach 1945, Frankfurt/M. 2015.
38 Statistisches Bundesamt, Die unehelichen Kinder von Besat- 41 Dr. Rothe, Bundesinnenministerium, an den Bayerischen
zungsangehörigen im Bundesgebiet und Berlin (West), in: dass. Innenminister, 8. 11. 1950, in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv
(Hrsg.), Statistische Berichte, 10. 10. 1956, S. 2. München, Ministerium des Innern/81083, keine Paginierung.

16
Schwarz und Deutsch APuZ

Die Erkenntnis, dass die überwiegende Mehr- welche grundgesetzwidrigen Schwierigkeiten ge-
heit der schwarzen Besatzungskinder zumindest macht werden, wird die Bundesregierung im Rah-
mittelfristig in Deutschland bleiben würde, führ- men der ihr durch das Grundgesetz gegebenen
te zu einer Reihe von Maßnahmen, die die Kin- Möglichkeiten sofort um Sicherung der ihnen (…)
der vor rassistischer Diskriminierung schützen gewährleisteten Rechte besorgt sein.“44
sollten. Behördenvertreter, kirchliche Organi- Wie erfolgreich waren diese Initiativen, rassis-
sationen und liberale Intellektuelle betrachteten tische Diskriminierung gegen schwarze Deutsche
die erfolgreiche Integration der Kinder als einen zu bekämpfen? Ein Artikel, der 1962 in dem Wo-
„Prüfstein“ der westdeutschen Demokratie und chenmagazin „Stern“ erschien, beleuchtete die un-
als eine wertvolle Möglichkeit, ihre deutschen terschiedlichen Lebenserfahrungen einer kleinen
Mit­bür­ger*­innen zu größerer Toleranz zu erzie- Gruppe afrodeutscher Kinder und Jugendlicher aus
hen. Auch international – besonders auch unter Hamburg, Frankfurt am Main und München. Eini-
Afro­ame­ri­ka­ner*­innen – bestand Besorgnis da- ge berichteten von offenen rassistischen Anfeindun-
rüber, ob Besatzungskinder of Color in Deutsch- gen, etwa in der Schule. Typisch schien zu sein, dass
land in Sicherheit leben könnten.42 Für den west- die jungen Frauen und Männer sich in ihrem un-
deutschen Staat hing die Frage des Schutzes der mittelbaren Familien- und Freundeskreis akzeptiert
schwarzen Besatzungskinder daher auch damit fühlten, dagegen aber oft von Menschen, die sie nicht
zusammen, der Weltöffentlichkeit beweisen zu kannten, als „fremdartig“ behandelt und rassistisch
können, dass die Bundesrepublik kategorisch mit beleidigt wurden. Eine Protagonistin des Artikels
dem Nationalsozialismus gebrochen hatte. vermutet, das entspringe „mehr der Dummheit oder
Ab 1951 konsultierte die Bundesregierung der Neugierde“ denn einer bewussten Taktlosigkeit.
prominente Psychologen und die Gesellschaft Der Autor resümiert: „800 Mischlinge (…) wuchsen
für christlich-jüdische Zusammenarbeit bei der nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland auf. Sie
Ausarbeitung von Materialien und Richtlinien, sind, soweit sie nicht auswanderten, zum überwie-
die Schulbehörden, Leh­rer*­innen und Eltern auf genden Teil in einer gleichgültigen oder abweisen-
die schwarzen Erstklässler vorbereiten sollten. Im den Umwelt untergegangen.“45
Mai 1952 entschied die Konferenz der Kultusmi- Behauptungen, die Weimarer Generation
nister der Länder, Erlasse an die Schulen zu sen- schwarzer Besatzungskinder sei mehr oder weniger
den, „in denen die Lehrer und Eltern gebeten wer- spurlos aus der deutschen Gesellschaft verschwun-
den sollen, die Mitschüler zu kameradschaftlicher den, durchziehen bundesrepublikanische Diskurse
Haltung gegenüber farbigen Schulneulingen an- über die Generation des Zweiten Weltkriegs.46 In
zuhalten“.43 In den späten Fünfzigerjahren richte- Wirklichkeit lebte eine nennenswerte Zahl der ers-
te sich das Augenmerk verstärkt auf Gefahren der ten Generation in der Bundesrepublik. Unter ihnen
Diskriminierung am Ausbildungsplatz. Im Sep- war L. M. aus Wiesbaden, die einen marokkanischen
tember 1959 wies der Präsident der Bundesanstalt Vater hatte und als Kind an der Abel-Studie teilneh-
für Arbeit die Landesarbeitsämter darauf hin, dass men musste. Sie war im Sommer 1937 zwangsste-
die ersten der rund 6000 „farbigen Besatzungs- rilisiert worden. 1942 wurde sie von der Gestapo
kinder“ demnächst auf Ausbildungsplatzsuche verhaftet und bezichtigt, ein verbotenes Verhältnis
gehen würden. Es müsse erreicht werden, „dass zu einem Tschechen gehabt zu haben. Zunächst im
die farbigen Kinder in Gemeinschaft mit den üb- Mädchenkonzentrationslager Uckermark inhaf-
rigen Jugendlichen und unter den gleichen Bedin- tiert, wurde sie im Februar 1943 in das unmittelbar
gungen wie diese ihre Ausbildung erfahren“. Die angeschlossene Frauenkonzentrationslager Ravens-
Bundesregierung, so der Präsident, „steht mit ab- brück überwiesen, aus dem sie Ende April 1945 ent-
soluter Selbstverständlichkeit zu Art. 3 Abs. 3 des
Grundgesetzes, demzufolge niemand wegen sei- 44 Der Präsident des Bundesamts für Arbeit an die Landesar-
ner Rasse benachteiligt oder bevorzugt werden beitsämter, 9. 9. 1959, in: BAK B149/8679, S. 60.
darf. (…) Sollten den Mischlingskindern irgend- 45 Heidi mit der dunklen Haut, in: Stern 25/1962, S. 40, IfS
Fürsorgeamt Nr. 4991: „Amtsvormundschaft farbige Besatzungs-
kinder“, 1962–69.
42 Vgl. Lemke Muniz de Faria (Anm. 40), S. 99–106. 46 Vgl. Julia Roos, The Race To Forget? Bi-Racial Descendants
43 Auszugsweise Abschrift aus einer Niederschrift über die of the First Rhineland Occupation in 1950s West German De-
Besprechung der Kultusminister am 5. 5. 1952, in: Bundesarchiv bates about the Children of African American GIs, in: German
Koblenz (BAK), B304/2059, keine Paginierung. History 4/2019, 517–539.

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kam. 1954 stellte L. M. einen Entschädigungsantrag le der westdeutschen Öffentlichkeit und der staat-
in Wiesbaden. Im August 1963 wies die Wiesbade- lichen Behörden, die zweite Generation vor ras-
ner Entschädigungsbehörde ihren Antrag mit der sistischer Diskriminierung zu schützen. Dadurch
Begründung zurück, „die Antragstellerin ist nicht eröffneten sich potenziell neue Spielräume, inner-
aus rassischen Gründen, sondern aus fürsorgepoli- halb derer schwarze Deutsche ihre Rechte effekti-
zeilichen Erwägungen inhaftiert worden. Aufgrund ver verteidigen konnten. Im Verlauf der Sechziger-
ihres vorangegangenen Lebenswandels wurde (…) jahre gerieten die „Mischlingskinder“ des Zweiten
die sogenannte Fürsorgeerziehung angeordnet. Da- Weltkriegs mehr und mehr in Vergessenheit.48 Da-
mit wurde der Antragstellerin im Wege eines or- mit verblassten auch die Debatten über Deutsche
dentlichen Gerichts- bzw. Vormundschaftsverfah- of Color und ihren Platz in der deutschen Ge-
rens die Freiheit entzogen“.47 sellschaft. Die selbstgefällige Wahrnehmung, dass
Die48 Weimarer Generation von Besatzungskin- Westdeutschland die schwarzen Besatzungskinder
dern of Color war dem unnachgiebigen Hass aus- letztlich ohne nennenswerte Probleme erfolgreich
gesetzt, den die Propagandakampagne gegen die integriert habe, spielte in diesem Prozess eine zen-
„schwarze Schmach“ geschürt hatte. Im Natio- trale Rolle. Diese Haltung war wesentlich dadurch
nalsozialismus wurden die Nachkommen franzö- erleichtert worden, dass die Geschichte der Verfol-
sischer Kolonialsoldaten gewaltsam verfolgt und gung der Weimarer Generation schwarzer Besat-
zwangssterilisiert. Schwarze Besatzungskinder, zungskinder und die Realität ihrer Präsenz in der
die in der Bundesrepublik aufwuchsen, begegne- deutschen Nachkriegsgesellschaft im öffentlichen
ten oft tiefsitzenden rassistischen Ressentiments Bewusstsein weitgehend ausgeblendet waren.
und Vorurteilen. Gleichzeitig bemühten sich Tei-
JULIA ROOS
ist Professorin für Geschichte an der Indiana
47 Der Regierungspräsident Wiesbaden/Entschädigungs-
University in Bloomington, USA, mit einem Schwer-
behörde, Bescheid in der Entschädigungssache der Arbeiterin
L. M., 22. 8. 1963, in: HHStAW 518/1071, S. 53. punkt auf der Geschichte der Weimarer Republik.
48 Vgl. Fehrenbach (Anm. 40), S. 178. roos@indiana.edu

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18
Schwarz und Deutsch APuZ

OSTDEUTSCHE OF COLOR
Schwarze Geschichte(n) der DDR und Erfahrungen
nach der deutschen Einheit
Patrice G. Poutrus · Katharina Warda

Ost-Berlin, Schönefeld, September 1972. Am Heimat, den USA der McCarthy-Ära, mit star-
Flughafen herrscht Chaos. Statt der 3000 an- ken Repressionen ­leben.02
gekündigten Be­such­er:­innen erscheinen knapp Auch Angela Davis genoss bei Besuchen in
50 000 Menschen. Ein Meer aus Fotoapparaten, der DDR und anderen sozialistischen Ländern
Transparenten, Sonnenschirmen und Blumen- einen Schutz, der für sie als bekannte Schwarze
sträußen. Sie umringen das gelandete Flugzeug, Bürgerrechtlerin in den USA der 1970er Jahre
jubeln und begrüßen in ekstatischen Sprechchö- nicht selbstverständlich war – den Schutz, sich frei
ren eines der größten politischen Idole der DDR: und ohne Angst um ihr Leben in der Öffentlich-
„unsere schwarze Schwester Angela“. keit bewegen zu können.03 Gleiches galt etwa für
Dem vorausgegangen war eine Solidari- Martin Luther King und seinen Nachfolger Ralph
tätskampagne zur Freilassung der 1970 durch Abernathy, der sich 1971 beeindruckt von den So-
das FBI inhaftierten US-amerikanischen Bür- lidaritätsbemühungen für Angela Davis zeigte.04
gerrechtlerin und Kommunistin Angela Da- Davis selbst wurde nach ihrer Freilassung ein ge-
vis, die sich bis heute im kollektiven Gedächt- feierter Star in der weißen Mehrheitsgesellschaft
nis der Ostdeutschen verankert hat. Unter dem der DDR: Ihr Gesicht wurde in Zeitschriften, auf
Slogan „1 Million Rosen für Angela“ schrieben Postkarten und Demonstrationstransparenten
DDR-Bür­ger:­innen in den Jahren 1970 bis 1972 abgebildet, die Stadt Magdeburg ernannte sie zur
Tausende Postkarten und Protestschreiben, die Ehrenbürgerin, die Universität Leipzig verlieh ihr
ihre Freilassung forderten. Im Jahr 1971 verging vor einem Publikum von 200 000 Menschen die
kaum ein Tag, an dem die Staatsmedien nicht Ehrendoktorwürde.
über Davis und ihre Inhaftierung berichteten. Dennoch verblieb aus heutiger Sicht dieser
Als Kommunistin verkörperte sie für die DDR- Antirassismus vor allem auf der Repräsentati-
Führung ein „anderes Amerika“ – einen im mar- onsebene: Während Davis, Robeson, King und
xistisch-leninistischen Sinne revolutionären Teil Abernathy als Symbole einer neuen Gesellschaft
der US-Bevölkerung. gefeiert wurden, fanden ihre Lehren selbst kaum
Zudem wurde in den sozialistischen Län- Verankerung in der Gesellschaft der DDR, son-
dern die afroamerikanische Bevölkerung gene- dern standen lediglich für das „andere Amerika“.
rell als das „andere Amerika“ angesehen und Auch wurden weder sie als Personen noch ihr an-
Rassismus als Instrument kapitalistischer Un- tirassistisches Bewusstsein ein alltäglicher Teil der
terdrückung betrachtet.01 Vor diesem Hinter- DDR.
grund pflegte die So­wjet­union bereits in den Doch war die DDR selbst auch keine homo-
1930er Jahren Kontakte zu afroamerikanischen gen weiße Gesellschaft. Seit ihrer Gründung hatte
Ak­ti­vist:­innen. Prominente Beispiele sind der es neben repräsentativen Besuchen weniger dip-
Schwarze Musiker, Bürgerrechtler und Sozia- lomatischer Abgesandter auch größere Migrati-
list Paul Robeson und seine Frau, die Autorin onsbewegungen gegeben. Die daraus hervorge-
und Panafrikanistin Eslanda Goode Robeson, henden Schwarzen DDR-Bür­ger:­innen erlebten
die 1934 die So­wjet­union besuchten und mehre- in ihrem Alltag eine Diskrepanz zwischen an-
re Jahre in der DDR lebten. Während Paul Ro- tirassistischer Symbolpolitik einerseits und ei-
beson in der sozialistischen Welt ein gefeierter nem Mangel an antirassistischem Bewusstsein
Musiker und Aktivist war, musste er in seiner anderer­seits.

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Die US-amerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis (2. v. r.) bei einem Freundschaftstreffen mit Erich
Honecker (m.) am 11. September 1972 im Friedrichstadtpalast in Ost-Berlin.
Quelle: picture alliance / dpa-Zentralbild

WEGE SCHWARZER MENSCHEN keit für die Aufnahme politischer Flüchtlinge.05


IN DIE DDR In Artikel 10 wurde denjenigen Ausländern Asyl
gewährt, die „wegen ihres Kampfes für die in
Asylsuchende dieser Verfassung niedergelegten Grundsätze im
Schwarze1234 Menschen kamen auf verschiedenen Ausland verfolgt werden“. In der sozialistischen
Wegen in die DDR. Eine Gruppe waren Asylsu- Verfassung von 1968 wurde dieses Asylrecht in
chende. Dem so­wje­tischen Beispiel folgend, bot Artikel 23 jedoch zu einer reinen Kann-Bestim-
die erste Verfassung der DDR zwar eine Möglich- mung. Entscheidungsträger waren die Führungs-
gremien der kommunistischen Staatspartei der
01 Vgl. Maria Schubert, Solidarität! Angela Davis und die DDR, DDR, das Politbüro und das Sekretariat des Zen-
in: Kathleen Reinhardt (Hrsg.), 1 Million Rosen für Angela Davis, tralkomitees der SED, die als zentrale nicht-staat-
Ausstellungskatalog, Staatliche Kunstsammlungen Dresden 2020, liche Gremien über die Gewährung von Asyl be-
S. 56–58.
ziehungsweise den dauerhaften Aufenthalt von
02 Vgl. Michael Rauhut, The Voice of the Other America:
African-American Music and Political Protest in the German
Asylsuchenden ­entschieden.
Democratic Republic, in: Timothy Brown/Lorena Anton (Hrsg.), Es entwickelte sich eine Aufnahmepraxis, die
Between the Avant-Garde and the Everyday. Subversive den jeweils aktuellen außenpolitischen Interes-
Politics in Europe from 1957 to the Present, Kopenhagen 2011, sen der SED nachgeordnet war und einen beding-
S. 96–101.
ten Aufnahmewillen der Staatspartei spiegelte.
03 Vgl. Kathleen Reinhardt, 1 Million Rosen für Angela Davis,
in: Reinhardt (Anm. 1), S. 16.
04 Vgl. Sophie Lorenz, Chronologie der Ereignisse, in: Reinhardt 05 Vgl. Patrice G. Poutrus, Umkämpftes Asyl. Vom Nachkriegs-
(Anm. 1), S. 46. deutschland bis zur Gegenwart, Berlin 2019, S. 103–160.

20
Schwarz und Deutsch APuZ

Die Unterstützung sogenannter fortschrittlicher mus“ durchaus möglich, im Alltag chauvinistische


Kräfte im Kampf gegen den Imperialismus zeigte Vorurteile und rassistische Stereotype aufrechtzu-
sich in der Ausbildung und begrenzten Aufnahme halten, ohne dadurch in Konflikt mit der sozialis-
von Funktionären und als zuverlässig geltenden tischen Staatsmacht zu geraten.07
Mitgliedern politischer Bewegungen im Ausland,
wie der Palästinensischen Befreiungsorganisation Ausländische Studierende
(PLO), der namibischen Südwestafrikanischen In der Zeit von 1951 bis 1989 erwarben zwischen
Volksorganisation (SWAPO), des Afrikanischen 64 000 und 78 400 ausländische Studierende aus
Nationalkongresses (ANC) in Südafrika und la- mehr als 125 Staaten an tertiären Bildungseinrich-
teinamerikanischer Befreiungs­bewegungen.06 tungen der DDR einen Abschluss und machten
Bei den Aufgenommenen handelte es sich damit bis zu drei Prozent aller Hoch­schul­ab­sol­
nicht lediglich um Opfer oder Verfolgte von Will- vent:­innen aus. Für 1952 weisen die internen Sta-
kür und Gewaltherrschaft in den Herkunftslän- tistiken des Ministeriums für Hoch- und Fach-
dern. Als politische, meist kommunistische Geg- schulwesen der DDR erstmals 16 ausländische
ner der jeweiligen Regime in ihrer Heimat galten Studierende an den Hochschulen und Universi-
sie als Verbündete im Kalten Krieg. Für diesen täten in der DDR aus. Die Zahl stieg kontinuier-
Personenkreis war es unter Umständen möglich, lich an, und für 1989 wurden 13 410 ausländische
mit der gesamten Familie in die Emigration zu Studierende in der DDR gezählt. Nicht alle kamen
gehen. Durch das Überschreiten der Demarkati- aus den kommunistisch beherrschten Ländern in
onslinie zwischen Ost und West in der Zeit der Ostmittel-, Südost- und Osteuropa oder Ostasien.
Blockkonfrontation fiel diesen sogenannten poli- Obwohl die DDR-Funktionäre die Aufnah-
tischen Emigranten jedoch eine äußere wie innere me ausländischer Studierender beharrlich als Aus-
Mehrdeutigkeit zu: Ihre zumeist kommunistische druck der sozialistischen Solidarität und des pro-
Gesinnung und politische Loyalität gegenüber letarischen Internationalismus darstellten, war sie
dem SED-Staat stand einer emotionalen Bindung doch zugleich auch außen- und handelspolitischen
an das verlassene Heimatland gegenüber. Die Fol- Zielen unterworfen. So veränderte sich die Her-
ge waren Konflikte, in denen sie in Abhängigkeit kunftsstruktur der ausländischen Studierenden in
zu den Institutionen des SED-Staates standen und der DDR gemäß den sich wandelnden außenpoliti-
sich, angesichts der Unmöglichkeit, Rechtsgaran- schen Interessen des SED-Staates. Die Zahl der ara-
tien einzuklagen, in einer schwachen und letztlich bischen Studierenden ging zwischen 1959 und 1967
gefährdeten Position ­befanden. um zehn Prozent zurück, während der Prozentsatz
Der von der SED reklamierte Anspruch auf der Studierenden aus afrikanischen Ländern um
„gesellschaftlichen Fortschritt durch den Kampf zehn Prozent anstieg und die Zahl der Studieren-
gegen den Imperialismus“ – das heißt, gegen den den aus Asien, Westeuropa und Lateinamerika in
„kapitalistischen Westen“ – war kein rein ideolo- diesem Zeitraum relativ konstant blieb.08
gisches Etikett, sondern verstärkte zugleich den Während ihres Aufenthalts waren die ausländi-
Unwillen des Regimes, sich im Grundsatz wie im schen Studierenden in der DDR einem erheblichen
Einzelfall mit den Schwierigkeiten im Zusammen- Anpassungsdruck ausgesetzt. Es wurde erwartet,
leben von Einheimischen und Fremden auseinan- dass sie die gegebenen politischen und ökonomi-
derzusetzen. Entscheidend für den Umgang mit schen Verhältnisse im SED-Staat hinnahmen. Es
Fremden im Staatssozialismus war die mit der To- steht außer Frage, dass die DDR vielen Menschen
talität des marxistisch-leninistischen Herrschafts- eine Hochschulbildung ermöglichte, die sie ansons-
anspruchs verbundene Homogenitätsvorstellung ten nicht erhalten hätten. Die individuellen Bedürf-
der kommunistischen Staatspartei. Nicht das Pos- nisse dieser Menschen jedoch wurden von Ver­tre­
tulat des universalen Menschheitsfortschritts, son- ter:­innen des SED-Staats im Allgemeinen ignoriert.
dern die dichotome Struktur des Klassenkampfes
kann für den Umgang mit Fremden im „Arbei-
ter-und-Bauern-Staat“ als grundlegend angese- 07 Vgl. ebd., S. 158 f.
08 Zu den Zahlenangaben vgl. Damian Mac Con Uladh, „Stu-
hen werden. Für DDR-Bür­ger:­innen war es unter
dium bei Freunden?“ Ausländische Studierende in der DDR bis
Berufung auf den „proletarischen Internationalis- 1970, in: Christian Th. Müller/Patrice G. Poutrus (Hrsg.), Ankunft
– Alltag – Ausreise. Migration und interkulturelle Begegnungen
06 Vgl. Poutrus (Anm. 5), S. 105. in der DDR-Gesellschaft, Köln 2005, S. 175–220.

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Trotz der Rhetorik des Internationalismus und der präsentanten der jeweiligen Entsendeländer und
Solidarität sahen diese die ausländischen Studie- ihre administrativen Partner in der DDR sowie
renden vor allem als außen- und handelspolitisches die ostdeutsche Bevölkerung davon aus, dass mit
Kapital an. Die Verantwortlichen führten sich die der Arbeitsmigration keine langfristige Einwan-
unvermeidlichen sozialen Konsequenzen nicht vor derung verbunden sein würde. In der offiziellen
Augen, die es haben musste, wenn junge Studieren- Propaganda galt der Aufenthalt als „Arbeitskräf-
de für viele Jahre in einer von rassistischen Einstel- tekooperation“ im Rahmen der „sozialistischen
lungen geprägten Gesellschaft lebten. Das zerstörte ökonomischen Integration“. Dadurch sollte das
letztlich nicht nur viele positive Beispiele für in- unterschiedliche Entwicklungsniveau zwischen
terkulturelle Verständigung in der DDR, es mach- den sozialistischen Staaten und den sogenannten
te auch den erhofften Effekt der Verbreitung eines Jungen Nationalstaaten ausgeglichen werden.11
positiven DDR-Bildes bei den Bür­ger:­innen nicht- In der Presse wurde ein ausnahmslos harmoni-
sozialistischer Länder zunichte. sches Bild vom Leben und Arbeiten von Ver­trags­
Weil die DDR-Behörden sich bei der Entwick- ar­bei­ter:­innen in der DDR-Gesellschaft gezeich-
lung eines Alumni-Netzwerks schwerfällig zeig- net. Hilfsbereitschaft und Solidarität mit und vor
ten, ist es kaum möglich, systematisch die weite- allem vonseiten der ostdeutschen Kol­ leg:­
innen
ren Lebenswege der Menschen nachzuvollziehen, wurden hervorgehoben. Neben Rührung, Herz-
die in der DDR studierten. Einiges weist jedoch lichkeit und Zuneigung kam das alltägliche, von
darauf hin, dass viele Ab­sol­vent:­innen schlussend- Mangel und Misstrauen geprägte Zusammenle-
lich in Westdeutschland oder bei westdeutschen ben schlicht nicht vor. Widersprüche und Kon-
Firmen im Ausland Arbeit fanden. Ironischer- flikte wurden – wenn überhaupt – nur als Anpas-
weise hat so letztlich wohl gerade die Bundesre- sungsprobleme der Ar­beits­mi­grant:­innen an den
publik am stärksten vom Ausländerstudium in Alltag in der „fortschrittlichen“ Industrieproduk-
der DDR profitiert. Zugleich wies das Ausländer- tion dargestellt. Implizit erschienen die Ver­trags­
studium bereits in den späten 1950er und frühen ar­bei­ter:­innen entweder als Bestätigung des kom-
1960er Jahren Merkmale auf, die in der Folgezeit munistischen Ideals vom Revolutionär in der Welt
zu Grundlinien der SED-Politik gegenüber Aus­ oder sie galten als behütete Schützlinge und folg-
län­der:­
innen im Allgemeinen und insbesondere same Schü­ler:­innen des Sozialismus in der DDR.12
gegenüber Ar­beits­mi­grant:­innen wurden.09 Gemessen an ihrer Anzahl und Aufenthalts-
dauer, prägten insbesondere Menschen aus Vietnam
Ver­trags­ar­bei­ter:­innen und Mosambik das Bild der Ar­beits­mi­grant:­innen.
Im Jahr 1989 registrierte der SED-Staat rund 95 000 1989 waren aus den beiden Staaten rund 52 000 be-
ausländische Beschäftigte, hauptsächlich aus Viet- ziehungsweise 15 000 Personen als Beschäftigte in
nam, Mosambik, Angola, Kuba und Polen. In der der DDR registriert. Vietnam, Mosambik und An-
neueren Forschung herrscht weitgehende Einig- gola rangen seit Ende der 1970er Jahre mit den
keit darüber, dass der entscheidende Grund für die Folgen jahrzehntelanger Dekolonisationskonflik-
Beschäftigung von ausländischen Ar­beits­mi­grant:­ te, die durch die globale Blockkonfrontation im
innen der zunehmende Arbeitskräftemangel in der Kalten Krieg ausgeweitet worden waren: Massive
zentralistischen Planwirtschaft war.10 Zugleich Kriegszerstörungen, hohe Auslandsverschuldung,
gingen die ausländischen Arbeitskräfte, die Re- Wirtschaftskrisen sowie Versorgungsengpässe bei
Grundnahrungsmitteln und gleichzeitige Massen-
erwerbslosigkeit führten dazu, dass die kommu-
09 Vgl. Patrice G. Poutrus, Migranten in der „Geschlossenen
Gesellschaft“. Remigranten, Übersiedler, ausländische Studie-
rende, Arbeitsmigranten in der DDR, in: Jochen Oltmer (Hrsg.), schung, in: Duygu Gürsel/Zülfukar Çetin/Allmende e. V. (Hrsg.),
Handbuch Staat und Migration vom 17. Jahrhundert bis zur Wer Macht Demo_kratie? Kritische Beiträge zu Migration und
Gegenwart, Berlin–Boston 2016, S. 967–995, hier S. 981–984. Machtverhältnissen, Münster 2013, S. 138–150.
10 Vgl. Jonathan R. Zatlin, Scarcity and Resentment. Economic 11 Vgl. Mirjam Schulz, Migrationspolitik der DDR. Bilaterale
Sources of Xenophobia in the GDR 1971, in: Central European Anwerbungsverträge von Vertragsarbeitnehmern, in: Kim
History 4/2007, S. 683–720; Mike Dennis, Asian and African Christian Priemel (Hrsg.), Transit – Transfer. Politik und Praxis der
Workers in the Niches Society, in: ders./Norman LaPorte, State Einwanderung in der DDR 1945–1990, Berlin 2011, S. 143–168.
and Minorities in Communist East Germany, New York 2011, 12 Vgl. Ann-Judith Rabenschlag, Völkerfreundschaft nach
S. 87–123; Urmila Goel, Ungehörte Stimmen. Überlegungen zur Bedarf, Ausländische Arbeitskräfte in der Wahrnehmung von
Ausblendung von Migration in die DDR in der Migrationsfor- Staat und Bevölkerung der DDR, Stockholm 2014.

22
Schwarz und Deutsch APuZ

nistischen beziehungsweise prokommunistischen Wenngleich dieser staatliche Druck auf pri-


Regierungen dieser Staaten großes Interesse an vate Beziehungen Ausdruck der generellen Po-
Vereinbarungen zum Arbeitskräftetransfer in die litisierung eines jeden Auslandskontakts war, so
verbündeten Staaten in Europa hatten. Angewor- erwies sich diese Gemengelage de facto doch als
ben werden sollten insbesondere Menschen zwi- geeignet, ohnehin bestehende rassistische Vorbe-
schen 18 und 35 Jahren, weil diese Altersgruppe als halte in der ostdeutschen Bevölkerung durch eine
besonders leistungsfähig angesehen wurde. Die Be- institutionelle Rahmensetzung zu bestätigen. Die
schäftigung der Ver­trags­ar­bei­ter:­innen sollte auf ei- ganze Aufmerksamkeit der verantwortlichen Tei-
nen Zeitraum von jeweils vier Jahren begrenzt sein, le des Partei- und Staatsapparates richtete sich auf
wobei die Möglichkeit einer Verlängerung auf sie- die Entlastung der angeschlagenen Planwirtschaft
ben Jahre bestand, wenn die Betriebe sie für unab- der DDR durch den Arbeitskräftetransfer. Wenn
kömmlich hielten. Ab 1987 sollte es möglich sein, auch die Willkür im institutionellen Handeln da-
dass vietnamesische Ver­trags­ar­bei­ter:­innen für fünf bei zuweilen überraschende Spielräume für einzel-
Jahre in der DDR einer Arbeit nachgingen. Aller- ne beziehungsweise paradoxe Lebensumstände für
dings war ein Übergang in eine permanente Anstel- manche Ver­trags­ar­bei­ter:­innen mit sich bringen
lung mit einem entfristeten Aufenthaltsrecht kein konnte, entwickelte sich die gesellschaftliche Inte-
Gegenstand der bilateralen Übereinkünfte.13 gration der Ver­trags­ar­bei­ter:­innen in die ostdeut-
Insbesondere, wenn es zwischen Ver­trags­ar­bei­ sche Gesellschaft nie zum Ziel. Erwartet wurde
ter:­innen und Einheimischen zu gewaltsamen Aus- eine umfassende Anpassung an die vorgefundenen
einandersetzungen kam, verurteilten die Justizor- Arbeits- und Lebensverhältnisse sowie eine unbe-
gane des SED-Staates bei gleichen Strafvorwürfen dingte Anerkennung der staatlichen Autorität.15
Ausländer deutlich härter als ostdeutsche Ange- Mit dem rapiden Machtverlust der SED im
klagte. Insbesondere mosambikanische Vertrags- Herbst und Winter 1989/90 ging nicht nur die Il-
arbeiter wurden überdurchschnittlich oft wegen lusion der Reformierbarkeit der Planwirtschaft
Sexualdelikten angeklagt und verurteilt. Gewalt- verloren, sondern auch die Kontrolle über die
same Ausschreitungen gegen Ver­trags­ar­bei­ter:­ staatlichen Betriebe. Damit landeten die Ver­
innen, etwa gegen algerische Ar­beits­mi­grant:­innen trags­ar­bei­ter:­innen trotz fortwährender Gültig-
in Erfurt im August 1975 oder gegen zwei kubani- keit der bilateralen Entsendevereinbarungen in
sche Männer im August 1979 in Merseburg, wur- einem rechtlichen Niemandsland. In der sich ab-
den in der DDR-Öffentlichkeit nicht thematisiert. zeichnenden Systemkrise standen viele nun mas-
Ver­trags­ar­bei­ter:­innen waren gegenüber ihren ost- siv unter Druck: Ver­trags­ar­bei­ter:­innen waren von
deutschen Kol­leg:­innen und den Institutionen des betrieblichen Kündigungen betroffen, und be-
SED-Staats situativ und strukturell gefährdet.14 triebliche Unterkünfte wurden aus Kostengrün-
Dennoch kam es zwischen Ver­trags­ar­bei­ter:­ den geschlossen. Insbesondere am Rande ostdeut-
innen und DDR-Bür­ger:­innen auch zu privaten scher Großstädte breitete sich ein xenophobes
Kontakten und Beziehungen. Wenn binationa- Klima aus, dessen radikalster Ausdruck gewalt-
le Paare heiraten wollten, benötigten sie für die same Übergriffe auf Aus­län­der:­innen waren. Um
Eheschließung das Einverständnis beider Staa- diesen Verhältnissen zu entgehen, folgten zahlrei-
ten, und dies war weder in der DDR noch in den che Ver­trags­ar­bei­ter:­innen dem Weg ihrer ostdeut-
Entsendeländern ein mit Wohlwollen begleiteter schen Kol­leg:­innen und beantragten nach dem Fall
Vorgang. Viele Beziehungen scheiterten an der der Mauer in Westdeutschland Asyl. Zugleich be-
staatlichen Willkür, manche deutsche Frau ver- mühte sich die inzwischen frei gewählte und zu-
leugnete gar den ausländischen Vater ihres Kin- gleich letzte Regierung der DDR im Sommer 1990
des, um den Männern Schwierigkeiten nach der darum, die gezielte Rückführung der nun ehema-
Rückkehr ins Heimatland zu ersparen. ligen Ver­trags­ar­bei­ter:­innen in ihre Entsendelän-
der durch finanzielle Unterstützungszahlungen
13 Vgl. Patrice G. Poutrus, Fremd im Bruderland. Vertragsarbeit zu befördern. Die gewandelte gesellschaftliche Si-
und das Ende des Goldbroilers, in: Lydia Lierke/Massimo Perinelli tuation in der DDR und die damit einhergehenden
(Hrsg.), Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und
jüdischer Perspektive, Berlin 2020, S. 277–298, hier S. 284–291.
14 Vgl. Jürgen Mense, Ausländerkriminalität in der DDR. Eine 15 Vgl. Christoph Lorke, Verhandelte Grenzüberschreitungen –
Untersuchung zu Kriminalität und Kriminalisierung von Mosam- Binationale und interkulturelle Eheschließungen und Paarbezie-
bikanern 1979–1990, in: Priemel (Anm. 11), S. 211–244. hungen in der DDR, 13. 10. 2021, www.bpb.de/​342017.

23
APuZ 12/2022

staatlichen Maßnahmen führten schließlich dazu, der Berliner Mauer auf. In Ostberlin ging ich zur
dass von den Ende 1989 registrierten etwa 59 000 Schule und absolvierte meine erste Berufsausbil-
vietnamesischen und 15 100 mosambikanischen dung als Elektronikfacharbeiter. Ich fühlte mich
Ver­trags­ar­bei­ter:­innen zum Zeitpunkt der deut- in dieser Zeit dem SED-Staat stark verbunden,
schen Einheit lediglich noch 21 000 beziehungs- war stolzer Thälmann-Pionier und erhielt die Ju-
weise 2800 in Ostdeutschland lebten.16 gendweihe. Mit 18 Jahren wurde ich Mitglied der
SED und diente von 1981 bis 1984 als Unteroffi-
LEBENSWEGE SCHWARZER zier in der NVA. Während der Militärzeit wur-
OSTDEUTSCHER den meine Frau und ich Eltern von zwei Söhnen
und erhielten vom Staat relativ zügig eine Woh-
Die, die blieben, erwarteten die Wirren und die nung. Meine Frau studierte an der Humboldt-
Gewalt der Wendejahre. Das betraf zum einen Universität und wurde Lehrerin, ich war haupt-
weit verbreitete Phänomene wie Arbeitslosigkeit amtlicher Funktionär der FDJ, zuerst in meinem
und die Abwertung von Qualifikationen und Bil- Ausbildungsbetrieb, später in der Berliner Be-
dungsabschlüssen, die Schwarze Ostdeutsche po- zirksleitung der FDJ. Ich suchte in dieser Wirk-
tenziell schneller und stärker trafen als ihre wei- lichkeit nach Anerkennung und schien sie als jun-
ßen Kol­leg:­innen. Zum anderen waren Schwarze ger Mann auch gefunden zu haben.
Menschen der rechten Gewalt, die sich in der Allerdings gab es in den Jahren zwischen dem
DDR bereits abzeichnete, aber sich mit der Wie- Ende meiner Schulzeit und dem Ende der DDR
dervereinigung in einem erschütternden Ausmaß auch Episoden und Ereignisse, die ich mir nicht
im Osten ausbreitete, oft am stärksten ausge- erklären konnte. Warum wollten unbekannte
setzt. Am 6. Dezember 1990 wurde der aus Ango- Menschen meine Haare berühren? Warum erwar-
la stammende Vertragsarbeiter Amadeu Antonio teten Lehrer und Mitschüler, dass ich ein beson-
in Eberswalde ermordet. In Hoyerswerda kam es ders guter Sportler oder talentierter Tänzer sein
1991 und ein Jahr später in Rostock-Lichtenha- musste? Warum verprügelte ein Vater seine Toch-
gen zu rassistischen Pogromen. Aber auch im All- ter, nachdem ich sie nach der Disco nach Hause
täglichen hat und hatte der Umgang mit Schwar- gebracht hatte? Warum mussten sich junge Frau-
zen Menschen in der DDR-Gesellschaft für viele en in meiner Begleitung anzügliche Bemerkungen
Menschen biografische Konsequenzen. Diese sind über ihre Partnerwahl gefallen lassen? Es gab Zei-
in journalistischen, literarischen und geisteswis- ten, da mied ich im Sommer die Sonne, damit ich
senschaftlichen Darstellungen und Deutungen der nicht gar zu verschieden aussah. Ich wollte, dass
Verhältnisse in Ostdeutschland bisher nachrangig die „Genossen“ erkannten, dass sie sich auf mich
behandelt worden, was Aussagen über wiederkeh- verlassen konnten. Dennoch ergab es sich mehr-
rende Muster, Gemeinsamkeiten und Unterschie- fach, dass mein abwesender Vater ausreichender
de in den Biografien Schwarzer Menschen in der Grund dafür war, dass ich bei der Berufswahl,
DDR und Ostdeutschland erschwert. Deshalb beim Militär und auch bei der FDJ nicht als hin-
möchten wir im Folgenden unsere persönlichen reichend vertrauenswürdig galt und deshalb be-
Lebenserfahrungen schildern und damit andere stimmte Stellen nicht einnehmen sollte.
Schwarze Menschen aus Ostdeutschland ermu- Ich hatte das Ende des SED-Staates nicht kom-
tigen, hervorzutreten und ihre Geschichten und men sehen; ich habe es so auch nicht wirklich ge-
Sichtweisen vorzustellen. wollt und war deshalb Ende 1989 tief enttäuscht –
enttäuscht vom real existierenden Kommunismus,
Patrice Poutrus von der DDR (als vermeintlicher Alternative zur
Als Sohn einer Ostberliner Buchhändlerin und Bundesrepublik) und vor allem von mir selbst. Ich
eines afrikanischen Studenten war bis 1989 die gehörte nicht zu den Siegern der Geschichte, wie
DDR Dreh- und Angelpunkt meines Lebens. ich es in der Schule, beim Militär und in der SED
Ich wurde hier geboren und wuchs in der Nähe gelernt und mir auch gewünscht hatte. Nicht nur
das Politbüro der SED war gescheitert, sondern
auch meine Hoffnung auf Anerkennung und Teil-
16 Vgl. Almuth Berger, Nach der Wende: Die Bleiberechtsre-
gelung und der Übergang ins vereinte Deutschland, in: Karin
habe hatte sich als vergeblich erwiesen. Die frühen
Weiss/Mike Dennis (Hrsg.), Erfolg in der Nische? Die Vietname- 1990er Jahren waren für mich eine Zeit schwe-
sen in der DDR und in Ostdeutschland, Münster 2005, S. 69–76. rer Enttäuschungen, großer Ängste und schwer-

24
Schwarz und Deutsch APuZ

wiegender Verluste. Gleichzeitig zu meiner per- zu sagen, dass ich Schwarz bin. Damit meine ich
sönliche Sinnkrise veränderte sich die Stimmung eine Art und Weise, zu einer vermeintlich „Ande-
in Ostdeutschland und Ostberlin auf gefährliche ren“ gemacht zu werden, „nicht gern gesehen“,
Weise. Ich hatte den Eindruck, dass sich mir be- nicht gern besprochen zu sein. Meine Kindheit
kannte Orte und Menschen zu einer Gefahr ent- war geprägt von einem Schweigen, wenn es zum
wickelten, und jeder Blick in die Medien zu dieser Beispiel um meinen Vater und seine Geschichte in
Zeit verstärkte dieses Gefühl. der DDR ging, oder wenn es um Dinge ging, die
In dieser Zeit fand ich in Kreuzberg zur Initia- mir passierten und die ich heute als rassistisch be-
tive Schwarze Deutsche (ISD) und lernte die Poe- nennen kann; von einer Sprachlosigkeit im Um-
tin May Ayim kennen. Wie ich schon zuvor erfah- gang mit Schwarz-Sein in dem Deutschland, in
ren hatte, war May in dieser Szene von Menschen, dem ich aufwuchs.
denen ich mich verwandt fühlte, durch ihre histo- In meiner Erinnerung an die DDR stehen die
risch-publizistische Arbeit und nicht zuletzt durch Erfahrungen im Kindergarten, das Warten auf die
ihre Poesie zu einer der herausragenden Frauen Pionierweihung und Alltägliches wie Besuche im
geworden, und ich bewunderte sie. Die wöchentli- Zoo im Vordergrund. Doch mit der Wende im Al-
chen Zusammenkünfte der ISD in Kreuzberg, und ter von fünf Jahren brach die ganze Dimension
ganz besonders der Black History Month, wurden mangelnder antirassistischer Praxis über mich he-
für mich zu Zufluchts-, Sehnsuchts- und Inspirati- rein. Auf einmal, mit dem Aufbrechen der Regeln,
onsräumen. Dies ist auch ein Grund dafür, warum die zuvor galten, gab es eine Sprache für mich als
ich mich nicht, trotz Treuhand-Skandalen und all Schwarze Person; eine gewaltvolle Sprache der
der Härten der Transformation in Ostdeutsch- Außenwelt – die ihre Entsprechung in Anfein-
land, an Wessi-Ossi-Zerwürfnissen der vergange- dungen und körperlicher Gewalt auf der Straße
nen Jahre beteiligen mag. Westberlin war für mich fand. Als ich sieben Jahre alt war, verfolgte mich
in den sogenannten Baseballschlägerjahren zum eine Gruppe Berufsschülerinnen auf dem Weg von
Zufluchtsort geworden. Durch die ISD habe ich der Grundschule nach Hause. Sie bewarfen mich
mein Selbstbewusstsein als Schwarzer Ostdeut- mit Steinen, riefen Beleidigungen und wünschten
scher gefunden, und die Worte von May Ayim mich dahin zurück, „wo ich herkomme“. Ich frage
werden mich immer begleiten. mich bis heute manchmal, wo das eigentlich sein
soll. Denn so sehr ich mich aufgrund meiner Er-
Katharina Warda fahrungen als Ostdeutsche fühle, so wenig finde
1985 werde ich in Wernigerode geboren, einer Klein- ich als Schwarze Frau bis heute in Erzählungen
stadt im Harz. Meine Mutter ist weiße ostdeutsche der DDR und Ostdeutschlands im öffentlichen
Fabrikarbeiterin, mein Vater südafrikanischer Stu- Raum statt. Es scheint, als wiederhole sich die
dent, der über den ANC in die DDR kam. Ihn habe Wortlosigkeit der DDR gegenüber ihren Schwar-
ich bis zum heutigen Tag nie kennengelernt, weil zen Bür­ger:­innen bis heute in der beharrlichen Be-
die Beziehung meiner Eltern von den staatlichen trachtung der DDR und Ostdeutschlands als ho-
Funktionären „nicht gern gesehen“ wurde. „Nicht mogen weiße Gesellschaft ohne Migration, anstatt
gern gesehen“ – die Worte meiner Mutter schei- eine antirassistische Sprache zu finden und Ost-
nen sich verselbstständigt zu haben, auch wenn es deutsche of Color selbst zu Wort zu bitten.
generell um Schwarze Menschen in der DDR und
Ostdeutschland geht. „Nicht gern gesehen“ – ei- PATRICE G. POUTRUS
gentlich gar nicht gesehen und besprochen. Denn ist Zeithistoriker, Migrationsforscher und wissenschaft-
so real eine Schwarze DDR-Bevölkerung auch war licher Mitarbeiter an der Universität Erfurt mit einem
und so virulent antirassistische Kämpfe im Ausland Schwerpunkt auf der DDR und Ostdeutschland.
gefeiert wurden, so wenig wurden beide im Alltag patrice.poutrus@uni-​erfurt.de
der DDR zusammengebracht. Es fehlte ein gelebter
Antirassismus in Praxis und Sprache. KATHARINA WARDA
Meine Mutter sagte mir in meiner Kindheit ist Literaturwissenschaftlerin, Soziologin und
oft, meine Haare sähen aus wie die von Ange- freie Autorin mit den Schwerpunktthemen Ost-
la Davis. Ein gewisser Stolz und Anerkennung deutschland, marginalisierte Identitäten, Rassismus,
blitzten dann immer in ihren Augen auf. Ich glau- Klassismus und Punk.
be heute, das war ihre einzige Metapher, um mir katharina.warda@gmail.com

25
APuZ 12/2022

AFROZENSUS
Intersektionale Analysen zu Anti-Schwarzem Rassismus
in Deutschland
Joshua Kwesi Aikins · Teresa Bremberger ·
Daniel Gyamerah · Muna AnNisa Aikins

„Black Lives Matter – Schwarze Leben zählen!“ – Der Afrozensus, eine Onlineerhebung zu Le-
unter diesem Motto gingen auch in Deutschland bensrealitäten Schwarzer Menschen in Deutsch-
2020 tausende Menschen auf die Straße. In Medi- land, soll das ändern: Im Sommer 2020 nahmen
en und Politik wurde wochenlang über Rassismus knapp 6000 Schwarze, afrikanische und afrodias-
diskutiert. Schnell etablierten sich jedoch bekann- porische Menschen an einer Befragung zu ihren
te Muster: Schwarze Menschen wurden aufgefor- Lebensrealitäten, Diskriminierungserfahrungen,
dert, von persönlichen Rassismuserfahrungen zu zu Anti-Schwarzem Rassismus, aber auch zu ih-
berichten. Im öffentlichen Diskurs gab es aber rem Engagement und ihrem Vertrauen in politi-
wenig Bereitschaft, die darin sichtbar werdenden sche und gesellschaftliche Institutionen teil. Die-
Muster von Anti-Schwarzem Rassismus (ASR) se Daten lenken den Blick auf das Ausmaß, die
sowie dessen Einbettung in institutionelle und Muster und die Folgen der Diskriminierungser-
strukturelle Verhältnisse in Deutschland anzuer- fahrungen und machen in den Erfahrungen Ein-
kennen, geschweige denn, den Fokus auf notwen- zelner die institutionelle und strukturelle Ver-
dige institutionelle Veränderungen zu ­legen. ankerung des Anti-Schwarzen Rassismus in
Die beständige Reinszenierung immer glei- Deutschland sichtbar.03 Für Schwarze Menschen
cher Fragen erzeugte innerhalb der Schwarzen ist wegen der häufigen Leugnung der Existenz
Communities vielfach den Eindruck einer be- von ASR die Validierung der eigenen Diskrimi-
kannten, kräftezehrenden Dynamik: Am Ende nierungserfahrung von besonderer Bedeutung.
der Debatten stehen meist allgemeine Appel-
le und Bekundungen, in denen Anti-Schwar- ANTI-SCHWARZER RASSISMUS
zer Rassismus meist nicht einmal mehr benannt
wird. In krassem Kontrast dazu steht der Hand- In der Onlinebefragung des Afrozensus wurde
lungsbedarf zur Sicherung von Menschenrechten, Anti-Schwarzer Rassismus wie folgt definiert:
Grundfreiheiten und der Menschenwürde von „Anti-Schwarzer Rassismus (ASR) ist eine spezi-
Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen fische Form des Rassismus und hat in Europa und
Menschen, die in Deutschland weit verbreitetem Deutschland seit der Zeit der Versklavung Tradi-
Rassismus ausgesetzt sind. tion. Bei ASR handelt es sich um eine spezifische
Die gemeinsame Reflexion von Anti-Schwar- Herabwürdigung, Entmenschlichung und rassis-
zem Rassismus ist zwar schon lange Bestandteil tische Diskriminierung von Schwarzen Menschen
Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer afrikanischer Herkunft. Ungeachtet der Realität
Wissenspraxen, dennoch fehlte bisher eine empi- von Diskriminierung oder Hierarchisierung nach
rische Diskussionsgrundlage mit differenzierten ‚Hautschattierung‘ (Colorism), ist ASR nicht auf
Daten, obwohl weit mehr als eine Million Schwar- Diskriminierung in Bezug auf die ‚Hautfarbe‘ re-
ze, afrikanische und afrodiasporische Menschen duzierbar, da spezifische Dynamiken bei Anti-
in Deutschland leben01 und die Bundesregierung Schwarzer Diskriminierung existieren und diese
diese neben Sinti*zze und Rom*nja, Jüdinnen von Menschen afrikanischer Herkunft mit unter-
und Juden sowie Mus­lim*­innen als eine von vier schiedlichen ‚Hauttönen‘ erlebt werden.“04 Die-
Gruppen benennt,02 die in Deutschland in beson- se Definition basiert auf theoretischen und histo-
derer Weise von Rassismus betroffen sind. rischen Arbeiten zu ASR05 sowie auf einem seit

26
Schwarz und Deutsch APuZ

Generationen transnational geteilten und für un- wirkenden zu gewinnen – Schwarze Menschen
terschiedliche Schwarze, afrikanische und afrodi- waren im Afrozensus-Projekt nicht die passiven
asporische Erfahrungen in Deutschland und der Objekte einer vornehmlich weißen Forschungs-
Welt12345 ausdifferenzierten Erfahrungswissen.06 Auf perspektive, sondern die Subjekte einer Wissens­
Basis dieser Definition identifiziert der Afrozen- produktion, die Fragestellungen auf die Bedarfe
sus zentrale Muster des ASR.07 Die quantitative der Communities fokussiert.
Onlinebefragung sowie die qualitative Vertiefung
der Analyse durch Interviews und Fokusgrup- METHODEN UND
pen in den Bereichen Gesundheit und Bildung STICHPROBENDEMOGRAFIE
ermöglichen eine empirische Überprüfung und
Präzisierung der Wirkungsweise dieser Muster.08 Der Afrozensus besteht aus einer quantitati-
Sowohl die Vertiefung der Themenbereiche ven Online-Befragung sowie qualitativen Inter-
Gesundheit und Bildung als auch die auf Alltags- views und Fokusgruppengesprächen. Schwarze,
situationen basierende Abfrage von ASR-Mus- afrikanische und afrodiasporische Menschen in
tern sind aus Konsultationen mit Ver­tre­ter*­innen Deutschland waren678 per Selbstidentifikation zur
Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Teilnahme an der Online-Befragung in deutscher,
Communities in Deutschland entstanden – dieses englischer und französischer Sprache eingeladen
Vorgehen verweist ebenso wie die Durchführung – unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft. Da es
des Afrozensus durch die Selbstorganisation Each keine genauen Erkenntnisse über die Größe dieser
One Teach One (EOTO) in Zusammenarbeit mit Gruppe in Deutschland gibt – und aufgrund his-
Citizens For Europe (CFE) auf eine in Deutsch- torischer Erfahrungen mit dem Missbrauch von
land in dieser Form – und mit diesem Methoden- Forschungsdaten für rassistische Diskriminie-
mix – neue, communities-basierte und zivilgesell- rung09 –, handelt es sich um eine eher versteckte
schaftlich verankerte Forschung. Diese war vor und nur schwer zu erreichende Grundgesamtheit.
dem Hintergrund historischer und gegenwärtiger In Verbindung mit forschungsökonomischen
Erfahrungen wichtig, um das Vertrauen der Mit- Faktoren macht dies eine völlig zufällige Stich-
probenziehung unmöglich. Wir haben daher ein
Schneeball-Sampling-Verfahren angewendet. Mit
01 Vgl. Muna AnNisa Aikins et al., Afrozensus 2020: Perspektiven,
Hilfe von EOTO und weiteren, insbesondere
Anti-Schwarze Rassismuserfahrungen und Engagement Schwarzer,
afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland,
Schwarzen Selbstorganisationen und Un­ter­stüt­
Berlin 2021, S. 57. www.afrozensus.de/reports/​2020. zer*­innen haben wir dazu aufgerufen, sich auf der
02 Vgl. Bundesministerium des Innern/Bundesministerium für Projektwebsite für eine Teilnahme anzumelden.
Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Nationaler Aktionsplan Insgesamt sind die Antworten von 5793 Teil-
gegen Rassismus: Positionen und Maßnahmen zum Umgang mit
nehmenden in die Analyse eingegangen. Auf-
Ideologien der Ungleichwertigkeit und den darauf bezogenen
Diskriminierungen, Berlin 2017, www.bmfsfj.de/resource/blob/​
grund der Corona-Pandemie konnten Menschen
116798. vor Ort, etwa in Geflüchtetenunterkünften,
03 Anti-Schwarzer Rassismus ist in Deutschland seit der Betei- Afroshops, Kirchen, Moscheen und anderen
ligung mehrerer deutscher Vorläuferstaaten am Versklavungs- Treffpunkten nicht persönlich angesprochen wer-
handel überliefert. Vgl. Klaus Weber, Germany and the Early
den – die Beteiligung einiger Teilgruppen ist da-
Modern Atlantic World: Economic Involvement and Historiogra-
phy, in: Rebekka von Mallinckrodt/Josef Köstlbauer/Sarah Lentz
her geringer ausgefallen als erhofft.
(Hrsg.), Beyond Exceptionalism. Traces of Slavery and the Slave
Trade in Early Modern Germany, 1650–1850, München 2021.
04 Vgl. Aikins et al. (Anm. 1), S. 39 f. 06 Vgl. Michelle M. Wright 2004 (Anm. 5).
05 Vgl. Michael J. Dumas/kihana miraya ross, „Be Real Black 07 Vgl. Aikins et al. (Anm. 1), S. 40 ff.
for Me“: Imagining BlackCrit in Education, in: Urban Educa- 08 Vgl. ebd., S. 212–222.
tion 4/2016, S. 415–442; Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße 09 Schwarze Menschen waren im Verlauf des 20. Jahrhunderts
Masken, Frankfurt/M. 1980; Grada Kilomba, Plantation Memories: wiederholt Gegenstand sozialanthropologischer und psycho-
Episodes of Everyday Racism, Münster 2010; Charles W. Mills, An logischer Studien in rassistischer Tradition. Vgl. Robbie Aitken/
Illumination Blackness, in: The Black Scholar 4/2013, S. 32–37; Eve Rosenhaft, Black Germany: The Making and Unmaking of
Katharina Oguntoye/May Opitz/Dagmar Schultz, Farbe bekennen. a Diaspora Community, 1884–1960, Cambridge 2013, S. 264;
Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Berlin Tina Campt/Pascal Grosse, „Mischlingskinder“ in Nachkriegs-
1986; Michelle M. Wright, Becoming Black: Creating Identity in the deutschland: Zum Verhältnis von Psychologie, Anthropologie
African Diaspora, Durham 2004; dies., Physics of Blackness: Beyond und Gesellschaftspolitik nach 1945, in: Psychologie und Ge-
the Middle Passage Epistemology, Minneapolis 2015. schichte 1–2/1994, S. 48–78.

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APuZ 12/2022

Abbildung 1: Relative Häufigkeit von eigenen Diskriminierungserfahrungen der Afrozensus-Befragten nach


Lebensbereichen in Prozent
Öffentlichkeit und Freizeit 6,8 20,4 37,1 22,0 13,6 4746

Medien und Internet 14,5 13,9 21,5 25,7 24,4 3568

Geschäfte und Dienstleistungen 14,9 23,6 36,1 18,2 7,3 4435

Arbeitsleben 15,3 22,8 33,0 18,1 10,9 4098

Privatleben 17,0 31,3 32,9 12,9 5,9 4456

Polizei 17,9 21,6 25,1 19,2 16,2 1617

Bildung 18,9 24,7 31,0 16,3 9,1 3380

Sicherheitspersonal 23,7 24,2 23,9 17,0 11,2 1691

Wohnungsmarkt 25,9 16,5 21,5 18,7 17,5 2325

Ämter und Behörden 33,5 21,8 22,2 14,4 8,1 2973

Gesundheit und Pflege 35,4 27,7 23,5 9,1 3385

Justiz 38,9 19,5 19,5 12,6 9,4 563

Kunst und Kultur 45,8 24,8 17,3 8,4 2985

Banken und Versicherungen 53,2 23,5 14,6 5,9 2204

nie selten manchmal oft sehr häufig N


N weist die Gesamtzahl der Antworten in den Lebensbereichen aus. Angaben wurden nur von denjenigen Teilnehmenden gemacht,
die im relevanten Zeitraum Kontakt zum jeweiligen Bereich hatten.
Quelle: Aikins et al., Afrozensus 2020, Abb. 22. Datenteam: L. Reiber, J. Vivanco | Design: C. Scherer | Lizenz: CC-BY-NC by EOTO &
CFE | afrozensus.de.

Die Stichprobendemografie zeigt, dass wir im aber zur Gruppe Schwarzer, afrikanischer und af-
Afrozensus häufiger cis-weibliche10 Befragte mit rodiasporischer Menschen. Hier wird deutlich,
überdurchschnittlichen Bildungsabschlüssen er- wie wichtig es ist, in Befragungen nicht nur nach
reicht haben, die in Relation zum Durchschnitt dem Migrationshintergrund zu fragen, um eine
aller Menschen mit afrikanischem Migrationshin- Unsichtbarmachung zu ­vermeiden.
tergrund11 in Deutschland etwas älter sind und ein
höheres Einkommen haben. Im Vergleich zur Ge- ERGEBNISSE
samtbevölkerung sind sie jedoch im Durchschnitt
jünger und verdienen weniger. Die Befragten sind Die Teilnehmenden wurden zu Diskriminierungs-
in 144 unterschiedlichen Ländern geboren, der erfahrungen in 14 Lebensbereichen befragt. Dabei
Großteil jedoch in Deutschland (71,0 Prozent). werden einerseits Unterschiede in den Erfahrun-
Etwa ein Viertel der Befragten hat statistisch ge- gen verschiedener Teilgruppen deutlich. Anderer-
sehen keinen Migrationshintergrund,12 gehört seits erlebt selbst im Bereich mit der geringsten
Diskriminierungserfahrung (Banken und Versi-
cherungen) immer noch fast die Hälfte der dazu
10 „Cis“ (lat. diesseitig) bezeichnet Menschen, deren Befragten13 (46,8 Prozent) Diskriminierung. Am
Geschlechtsidentität mit ihrem bei Geburt zugewiesenen Ge-
häufigsten mit jeweils mehr als 85 Prozent geben
schlecht übereinstimmt.
11 Da über die Zielgruppe Schwarze, afrikanische und afro-
diasporische Menschen keine Statistiken vorliegen, konnten wir wurde oder eine nichtdeutsche Staatsangehörigkeit hat oder als
das Sample nur näherungsweise mit Menschen afrikanischer Schutzsuchende*r unter Berufung auf humanitäre Gründe nach
Herkunft vergleichen. Zu den Quellen vgl. Aikins et al. (Anm. 1), Deutschland geflohen ist.
S. 56, Anhang 1. 13 Da die Beantwortung der einzelnen Fragen freiwillig war
12 Keinen Migrationshintergrund zu haben bedeutet nach der und es sich teils um Filterfragen handelt, ist im Afrozensus zu je-
im Afrozensus operationalisierten Definition, dass kein Elternteil dem Ergebnis das spezifische „n“, also die Anzahl der Personen,
nach 1955 aus einem anderen Land auf das heutige Gebiet die die Frage beantwortet hat, angegeben. Vgl. Aikins et al.
der Bundesrepublik Deutschland zugewandert ist, eingebürgert (Anm. 1), S. 53.

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Schwarz und Deutsch APuZ

die Befragten an, in den vergangenen beiden Jah- Antworten häufig so lange nicht zufriedenstellen,
ren in den Bereichen „Öffentlichkeit und Frei- wie die Fragenden davon ausgehen, dass die ge-
zeit“, „Medien und Internet“, „Geschäfte und nannten Orte mehrheitlich von weißen Menschen
Dienstleistungen“ und „Arbeitsleben“ diskrimi- bewohnt werden. 78,6 Prozent sind schon min-
niert worden zu sein. Die Angabe, „sehr häufig“ destens einmal aufgefordert worden, „dahin zu-
diskriminiert worden zu sein, machen die meis- rückzukehren wo sie hergekommen sind“. Dieses
ten Befragten in den Lebensbereichen „Medien Muster der Fremdverortung spricht Schwarzen
und Internet“ (24,4 Prozent), „Wohnungsmarkt“ Menschen die Zugehörigkeit zu Deutschland ab,
(17,5 Prozent) und „Polizei“ (16,2 Prozent). was sich in Äußerungen bis hin zu Abschiebe-
Die Befragten sollten zunächst angeben, mit und Deportationsfantasien als Teil rassistischer
welchen der 14 Lebensbereiche sie in den ver- Beleidigungen und Übergriffe zeigt.
gangenen beiden Jahren Kontakt hatten. Im An- Mit dem Überschreiten persönlicher geht häu-
schluss konnten sie angeben, ob beziehungsweise fig auch ein Überschreiten körperlicher Grenzen
wie häufig auf einer 5er-Skala von „nie“ bis „sehr einher: 90,4 Prozent der Befragten geben an, dass
häufig“ sie Diskriminierung erlebt haben. Gaben ihnen ungefragt in die Haare gegriffen wird. Hier
die Befragten an, in einem Lebensbereich diskri- werden Ideen von der Verfügbarkeit Schwar-
miniert worden zu sein, konnten sie aus einer Lis- zer Körper wirkmächtig. In diesem Zusammen-
te von 22 Diskriminierungsmerkmalen auswäh- hang ist auch die Sexualisierung Schwarzer Men-
len. Mehrfachantworten waren dabei möglich. schen eine häufige Erfahrung. Insgesamt geben
In der Analyse werden über alle Lebensberei- fast 80 Prozent an, auf Dating-Apps sexualisier-
che hinweg für Diskriminierungen am häufigsten te Kommentare bezüglich ihres Aussehens bezie-
rassistische Gründe oder „ethnische Herkunft“ hungsweise ihrer „Herkunft“ zu erhalten.
(93,9 Prozent) und Hautfarbe (91,5 Prozent) ge- Auch die Kriminalisierung ist eine geteilte Er-
nannt, gefolgt von den Merkmalen Geschlecht fahrung. Über 56 Prozent geben an, gefragt zu
(52,5 Prozent), Name (44,8 Prozent), Haare/Bart werden, ob sie Drogen verkaufen, und ebenfalls
(38,1 Prozent) und sozialer Status (33,5 Prozent). über 56 Prozent bekunden, ohne erkennbaren
Auffällig ist, dass sich die Rangfolge der am häu- Grund von der Polizei kontrolliert zu werden.
figsten genannten Diskriminierungsmerkmale je In den Daten zeigen sich darüber hinaus Me-
nach Teilgruppen verändert. So nimmt beispiels- chanismen wie die Aberkennung von Kompe-
weise das Merkmal „Geschlecht“ bei Cis-Frauen tenzen, die Entindividualisierung und die Ho-
(Rang 3) einen deutlich höheren Rang ein als bei mogenisierung Schwarzer Menschen. Diese sind
Cis-Männern (Rang 11).14 Obwohl die Befragten insbesondere in den Fokusgruppeninterviews für
an dieser Stelle der Umfrage noch allgemein nach die Bereiche Gesundheit und Bildung themati-
ihren Diskriminierungserfahrungen und nicht siert worden. So benennen etwa Schwarze Ärzt*­
explizit nach Rassismuserfahrungen gefragt wur- innen die Muster der Fremdmachung, die ihnen
den, spielt rassistische Diskriminierung schon in den Bereichen Forschung, Diagnostik, Versor-
hier eine relevante Rolle. Die Verschränkungen gungsstrukturen und auch bereits in der Ausbil-
mit zahlreichen weiteren Diskriminierungsmerk- dung und Qualifizierung begegnen. Sie beschrei-
malen wie etwa Geschlecht und sozialer Status bis ben intersektionale Diskriminierung, in der sich
hin zum Körpergewicht spiegeln die Bedeutung Rassismus, Sexismus und Klassismus überschnei-
intersektionaler Diskriminierungs­erfahrungen. den: „(…) da gibt es irgendwie so einen Knick
97,3 Prozent der Afrozensus-Befragten geben in der Logik für ganz viele Leute, die können es
an, dass sie persönlich ASR erleben, fast die Hälf- [Schwarz sein/Afrikanisch sein und ein Medi-
te (42,9 Prozent) „oft“ oder „sehr häufig“. ASR zinstudium] irgendwie schwer zusammenbrin-
wirkt spezifisch über wiederkehrende Mechanis- gen und dann halt kommen immer (…) noch so
men. Dabei werden häufig Ideen von einer angeb- Classicism dazu, (…) das haben mich total viele
lich „wesenhaften Andersartigkeit“ Schwarzer im Studium immer gefragt, ‚du musst adoptiert
Menschen mobilisiert: 99,1 Prozent der Befrag- sein‘, das können die gar nicht verstehen.“ Dies
ten berichten davon, gefragt worden zu sein, wo setzt sich im Arbeitsalltag fort, wenn Schwarze
sie wirklich herkommen, wobei geographische Ärzt*­innen routiniert für Krank­en­pfle­ger*­innen
oder das Reinigungspersonal gehalten werden.
14 Vgl. Aikins et al. (Anm. 1), Anhang 8. In diesem Zusammenhang beobachten sie auch,

29
APuZ 12/2022

dass die Aberkennung von Fachlichkeit nach Zu- in den meisten Fällen gesellschaftlich tendenziell
schreibungen zu Sprache und afrikanischer Her- deprivilegierte Teilgruppen signifikant häufiger an-
kunft so nuanciert wird, dass etwa togolesische geben, diskriminiert worden zu sein, als die gesell-
oder kenianische Kol­leg*­innen noch einmal deut- schaftlich tendenziell privilegierten Teilgruppen.
lich andere Diskriminierungserfahrungen ma- Auf diese Weise differenzieren und ergänzen
chen als afrodeutsche, in Deutschland sozialisier- die Afrozensus-Daten den Wissensstand zu Dis-
te Ärzt*­innen mit einem weißen Elternteil. kriminierungsrealitäten in unterschiedlichen Le-
bensbereichen um Einblicke in spezifische Ef-
INTERSEKTIONALE fekte der Mehrfachdiskriminierung Schwarzer,
ANALYSE afrikanischer und afrodiasporischer Menschen.
Diese sind zum Beispiel neben und in Verschrän-
Auf Basis der unterschiedlichen Vielfaltsdimensi- kung mit den bekannten Diskriminierungsdyna-
onen, die für den Afrozensus mithilfe der sozio­ miken im deutschen Bildungssystem, die etwa
demografischen Angaben der Befragten operati- Menschen mit Beeinträchtigung und mit einem
onalisiert wurden,15 war es uns möglich, für die niedrigen Einkommen benachteiligen, von wei-
verschiedenen Lebensbereiche und für in Com- teren Diskriminierungsformen betroffen, wobei
munities-Konsultationen entwickelte Situations- sich alle dargestellten Formen mit Anti-Schwar-
beschreibungen16 zu konkreten Ausprägungen zem Rassismus verschränken.
von Anti-Schwarzem Rassismus Teilgruppen- Eine Teilgruppe, die sich als besonders gefähr-
analysen durchzuführen. Dabei haben wir un- det herausgestellt hat, sind Befragte mit zwei af-
tersucht, zwischen welchen Teilgruppen (zum rikanischen/afrodiasporischen Elternteilen. Die
Beispiel Cis-Frauen, Cis-Männern und TIN*- Operationalisierung dieser Teilgruppe gründe-
Befragten17) einer Vielfaltsdimension (etwa te auf unserer Vermutung, dass Schwarze Men-
Geschlechteridentität(en)) sich signifikante18 Un- schen im Kontext von ASR nach zugeschriebenen
terschiede in den Angaben zu Diskriminierungs- phänotypischen und kulturellen „afrikanischen“
erfahrungen feststellen lassen. Die differenzierte Merkmalen hierarchisiert, bewertet und diskri-
Erfassung von ASR im Erleben von Teilgruppen miniert werden. Je „afrikanischer“ eine Person
ermöglicht es, differenzierte Gefährdungsprofile wahrgenommen wird, desto intensiver ist ihre
herauszuarbeiten, die unterschiedliche Schutzbe- ASR-Erfahrung. Diese Vermutung wird über fast
dürfnisse sichtbar werden lassen. Es zeigt sich, dass alle Lebensbereiche hinweg bestätigt: In 12 von
14 Lebensbereichen geben Befragte mit zwei afri-
kanischen/afrodiasporischen Elternteilen signifi-
15 Für eine Übersicht sowie Angaben zur Operationalisierung kant häufiger an, in den vergangenen beiden Jah-
aller 17 im Afrozensus abgefragten Vielfaltsdimensionen vgl.
ren diskriminiert worden zu sein, als Befragte mit
Aikins et al. (Anm. 1), S. 59.
16 Dabei wurden zwei Sets mit je 23 Aussagen zu diskri-
einem afrikanischen/afrodiasporischen Elternteil.
minierenden Situationen abgefragt. Die Befragten erhielten Über die Hälfte der Befragten mit zwei afrika-
zufällig zugeteilt entweder Set 1 oder Set 2. Von diesen 23 nischen/afrodiasporischen Elternteilen (57,7 Pro-
Aussagen kamen vier aufgrund ihrer erhöhten Relevanz für die zent) geben an, dass ihnen in der Schule davon
Schwarzen Communities jeweils in beiden Sets vor (zu Racial
abgeraten wurde, Abitur zu machen, und statt-
Profiling, Hatespeech, Leugnung von ASR und der Bezeichnung
mit dem N-Wort). Daraus ergibt sich für einige der Fragen eine
dessen geraten wurde, einen Ausbildungsberuf
geringere Gesamtzahl der Befragten. Vgl. Aikins et al. (Anm. 1), zu erlernen oder im Bereich Sport und Entertain-
Anhang 12. ment zu arbeiten. Bei Befragten mit nur einem af-
17 Das Akronym TIN* steht für trans*, inter* und nicht-binär. rikanischen/afrodiasporischen Elternteil war das
Für detaillierte Erklärungen vgl. Aikins et al. (Anm. 1), S. 308.
nur bei knapp der Hälfte der Fall.
18 Zur Berechnung der Signifikanz wurden mit der tendenziell
deprivilegierten Gruppe und der tendenziell norm-privilegierten
Dieses Muster und die Intensivierung von ASR
Gruppe (z. B. Befragte mit und ohne Beeinträchtigung) der jewei- über eine Nähe zu zugeschriebenen „afrikani-
ligen Vielfaltsdimension ein Zweistichproben-t-Test durchgeführt. schen“ Merkmalen bestätigt sich ebenfalls in der
Für alle Werte von p unter 0,1 wurde ein signifikanter Unter- vertieften qualitativen Analyse der Studie, in der
schied zwischen den jeweiligen Gruppen für einen bestimmten
unter anderem Ärzt*­innen und Eltern von Kin-
Lebensbereich festgestellt. Als Signifikanzniveau wurde p ≤ 0,1
(Irrtumswahrscheinlichkeit kleiner als 10 Prozent) verwendet. Für
dergarten- und Schulkindern diese Dynamiken be-
die genauen p-Werte der Teilgruppenanalysen vgl. Aikins et al. schreiben. Die größten Unterschiede in Bezug auf
(Anm. 1), Anhang. Diskriminierungserfahrungen zwischen Befragten

30
Schwarz und Deutsch APuZ

Abbildung 2: Häufigkeit von Diskriminierungserfahrungen entlang ausgewählter Vielfaltsdimensionen im


Lebensbereich „Bildung“
70% 75% 80% 85% 90%

Anzahl afr. Elternteile


Ein Elternteil Zwei Elternteile

Beeinträchtigung
Nein Ja

Bildungsgrad
Hoch Mittel Niedrig

Dt./EU-Staatsangehörigkeit
Nein Ja

Fluchterfahrung
Nein Ja
n: 86
Genderidentität
Cis-Mann Cis-Frau TIN*

LSBAQ
steht für lesbisch, schwul, Nein Ja
bisexuell, asexuell und queer.
n: 1852
Muslimisch
Nein Ja

Nettoeinkommen
Hoch Mittel Niedrig

privilegiert 3000 Antworten


1000 500
nicht privilegiert 100 10
Quelle: Aikins et al., Afrozensus 2020, Abb. 57. Datenteam: L. Reiber, J. Vivanco | Design: C. Scherer | Lizenz: CC-BY-NC by EOTO &
CFE | afrozensus.de.

mit einem und solchen mit zwei afrikanischen/af- zei“, „Sicherheitspersonal“ sowie „Geschäfte und
rodiasporischen Elternteilen finden sich in den Le- Dienstleistungen“ cis-männliche Befragte signifi-
bensbereichen „Wohnungsmarkt“, „Ämter und kant häufiger als cis-weibliche Befragte an, Dis-
Behörden“ und „Sicherheitspersonal“. Lediglich kriminierung erlebt zu haben. Dies verdeutlicht,
im Bereich Privatleben geben Befragte mit einem warum wir prinzipiell und vor allem im Kontext
afrikanischen/afrodiasporischen Elternteil häufi- von Anti-Schwarzem Rassismus von tendenzi-
ger an, Diskriminierung zu erleben als Befragte mit ell gesellschaftlich deprivilegierten und privile-
zwei afrikanischen/afrodiasporischen Elterntei- gierten Gruppen sprechen: Schwarze Cis-Frau-
len. Der Unterschied ist signifikant. Gestützt auf en sind in vielen der abgefragten Bereiche zwar
die Antworten auf die offenen Fragen der Analy- gegenüber Schwarzen Cis-Männern benachtei-
se vermuten wir, dass Schwarze Menschen mit ei- ligt – gleichzeitig ergeben sich durch die Inter-
nem weißen oder People-of-Color-Elternteil auch sektion von rassistischer und sexistischer Diskri-
durch eigene Familienmitglieder im Privatleben minierung für Schwarze Männer in bestimmten
vermehrt rassistische Diskriminierung erleben. Kontexten Diskriminierungsdynamiken, die sie
Weitere Abweichungen vom Muster, dass die gegenüber Schwarzen Cis-Frauen benachteiligen.
gesellschaftlich eher deprivilegierte Teilgruppe Besonders deutlich wird das im Kontakt mit
häufiger von Diskriminierung berichtet als die der Polizei. Insgesamt geben mehr als die Hälfte
privilegierte Teilgruppe, zeigen sich in den Er- der Afrozensus-Befragten (56,7 Prozent) an, be-
gebnissen zur Teilgruppenanalyse der Vielfaltsdi- reits ohne für sie erkennbaren Grund von der Po-
mension „Geschlechteridentität(en)“. So geben in lizei kontrolliert worden zu sein. Cis-Männer ge-
den Lebensbereichen „Wohnungsmarkt“, „Poli- ben mit 78,0 Prozent signifikant häufiger an, von

31
APuZ 12/2022

der Polizei kontrolliert zu werden als Cis-Frauen Abbildung 3: Erfahrungen mit der Leugnung von
(47,9 Prozent). Anti-Schwarzem Rassismus
Dieses Ergebnis bestätigt das ASR-Muster
sehr häufig: 33,9%
von angeblicher Kriminalität, das vor allem bei
der Diskriminierung von Schwarzen Männern in selten: 11,6% Nein
Form von Racial Profiling zum Tragen kommt. 6,7%
63,3 Prozent der befragten Personen, die sich als
trans*, inter* oder non-binär identifizieren, wer-
den regelmäßig von der Polizei kontrolliert, sie Wenn ich
geben signifikant am häufigsten an, Polizeigewalt Rassismus anspreche,
wird mir nicht
zu erleben. 58,3 Prozent von ihnen sind von Poli- geglaubt.
zeigewalt betroffen, bei Cis-Männern und -Frau- N = 4658
en sind es 45,6 und 27,3 Prozent.
Die Erfahrungen Schwarzer Menschen mit manchmal: Ja
der Polizei unterscheiden sich grundlegend von 22,2% 93,3%
den Erfahrungen der Gesamtbevölkerung: Zwar
liegen bisher keine vergleichenden Daten für Dis-
kriminierung im direkten Kontakt mit der Polizei oft: 25,7%

vor, ein erster Hinweis könnte allerdings die Fra- Quelle: Aikins et al., Afrozensus 2020, Abb. 77. Datenteam: L.
ge nach dem Vertrauen in die Polizei sein: Wäh- Reiber, J. Vivanco | Design: C. Scherer | Lizenz: CC-BY-NC by
EOTO & CFE | afrozensus.de.
rend in der Gesamtbevölkerung nur 2 Prozent
„gar kein Vertrauen“ in die Polizei haben,19 sind
es unter Afrozensus-Befragten mehr als ein Vier-
tel (28,0 Prozent). Darüber hinaus gibt fast die ge haben. Wenn ASR jedoch nicht angesprochen
Hälfte der Befragten an, in den vergangenen bei- wird, ist klar, dass die Betroffenen – und potenzi-
den Jahren den Kontakt zur Polizei aus Angst vor ell viele andere nach ihnen – im jeweiligen Kon-
Diskriminierung gemieden zu haben. text weiterhin ASR ausgesetzt sein werden. Die
Tatsache, dass 45,7 Prozent der Befragten ange-
LEUGNUNG VON RASSISMUS ben, die Polizei zu meiden, während 22,3 Pro-
zent die Justiz und 21,4 Prozent Ämter und Be-
Die Bagatellisierung und Ableugnung von ASR ist hörden meiden, dokumentiert die gravierende
eine Erfahrung, die viele Befragte teilen: Fast alle Einschränkung von gesellschaftlicher Teilhabe
Befragten (93,3 Prozent) geben an, dass ihnen nicht als eine Folge von Anti-Schwarzem Rassismus
geglaubt wird, wenn sie Rassismus ­ansprechen. in Deutschland. Ein Teilnehmer beschreibt fol-
Zudem erleben viele Befragte, wenn sie Dis- gende Situation: „Ich wurde, ohne erkennbaren
kriminierung melden, einen unsachgemäßen oder Grund, extrem aggressiv von Türstehern aus [ei-
gar diskriminierenden Umgang damit. Das hat ner] Studi-Party geschmissen und getreten. Die
zur Folge, dass viele Befragte Institutionen oder Anzeige bei der Polizei wurde am Ende für mich
Lebensbereiche meiden, um sich vor Diskrimi- gefährlich, da ich eine Gegenanzeige bekam, der
nierung zu schützen. nach Aussage der Polizei eher geglaubt [werden
Aus diesen Angaben und den in der qualita- würde] vor Gericht. Als Hauptproblem meiner
tiven Analyse vertieften Betrachtungen der Um- Anzeige benannte der Polizist, dass ich erwähn-
gangsweisen mit ASR konnten wir das Dilemma te, dass ich die Vermutung hatte, dass die Situ-
identifizieren, mit dem sich die Befragten konfron- ation aufgrund rassistischer Vorurteile (ich als
tiert sehen:20 Das Ansprechen oder Melden von Schwarzer Mann als besonders gefährlich wahr-
ASR kann Ableugnung oder sogar weitere und genommen) so eskaliert ist. Im Anschluss wurde
verstärkte rassistische Diskriminierung zur Fol- mir von einem Chirurgen noch gesagt, dass er es
nicht mehr hören kann, dieses ’Rassismus’[-The-
ma]. Ich solle einfach eingestehen, dass ich daran
19 Vgl. Infratest Dimap, Vertrauen der deutschen Bevölkerung
in die Polizei, 2020, www.infratest-​dimap.de/umfragen-​analy-
Schuld habe.“21
sen/bundesweit/umfragen/aktuell/vertrauen-​in-​die-​polizei/.
20 Vgl. Aikins et al. (Anm. 1), S. 157. 21 Ebd., S. 224.

32
Schwarz und Deutsch APuZ

Die Erfahrung, dass auf Meldungen entspre- Aufgrund der gesellschaftlichen Verankerung
chender Vorfälle unsachgemäß reagiert wird, des ASR muss auch dessen Zurückdrängung eine
ist eine naheliegende Erklärung dafür, wes- gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, sie kann
halb 77,8 Prozent der Befragten Diskriminie- nicht in der alleinigen Verantwortung Schwarzer,
rung nicht melden. Dies ist jedoch nicht mit ei- afrikanischer und afrodiasporischer Menschen
nem rein passiven Umgang gleichzusetzen. Denn liegen. ASR muss zu einem Problem derer wer-
gleichzeitig sind die Befragten überdurchschnitt- den, die ihn ausüben, und darf nicht länger vor-
lich engagiert, etwa in der Empowermentarbeit: nehmlich mit denen assoziiert werden, die ihn
46,8 Prozent geben an, ehrenamtlich aktiv zu erleben. Gleichzeitig ist die wichtige Arbeit von
sein, die meisten davon im sozialen Bereich. Da- Selbstorganisationen aus rassismuserfahrenen
mit liegt die Engagement-Quote unter den Teil- Gemeinschaften anzuerkennen und zu stärken, da
nehmenden deutlich höher als im Bevölkerungs- auch im Afrozensus Aktivitäten von Schwarzen
durchschnitt.22 Menschen selbst als diejenigen benannt werden,
die Anti-Schwarzen Rassismus am effektivsten
HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN vermindern. Communities-basierte Antidiskri-
AN POLITIK, VERWALTUNG minierungs- und Empowermentarbeit sind da-
UND COMMUNITIES her zentrale Bausteine der Zurückdrängung von
ASR, die entsprechende Anerkennung und Un-
Vor diesem Hintergrund wird der dringende terstützung verdienen sowie einer gezielten und
Handlungsbedarf zur gezielten Zurückdrängung langfristigen Förderung bedürfen. Dafür sind
von ASR und zur Etablierung eines angemessenen substanzielle Aktionspläne notwendig, die durch
Umgangs mit Rassismus deutlich. Daher haben eine unabhängige Ex­pert*­in­nen­kom­mis­sion flan-
wir im Afrozensus auf Basis der erhobenen Daten kiert werden sollten. Zur Schließung der Schutz-
und der qualitativen Analysen detaillierte Hand- lücken des Allgemeinen Gleichbehandlungsge-
lungsempfehlungen zusammengestellt, die sich setzes (AGG), insbesondere in den Bereichen
sowohl an Politik und Verwaltungen in Bund und Bildung und Polizei, gehört zudem die (Weiter-)
Ländern als auch an Schwarze, afrikanische und Entwicklung von Landesantidiskriminierungsge-
afrodiasporische Selbstorganisationen richten. setzen sowie des AGG zu einem Bundesantidis-
Eine zentrale Handlungsempfehlung zielt auf kriminierungsgesetz, das auch bei Diskriminie-
die Professionalisierung des Umganges mit An- rung durch staatliche Stellen Anwendung findet.
ti-Schwarzem Rassismus in Deutschland: Anstel- Die Stärkung der Antidiskriminierungsinfra-
le der Leugnung des Problems und der Wahrneh- struktur insgesamt, etwa durch unabhängige Be-
mung der gemeldeten Fälle als Anschuldigungen schwerdestellen mit ASR-Fachkompetenz, muss
müssen Beschwerdestellen und Verfahren treten, die genannten Maßnahmen flankieren.
die ASR kompetent und mit einem Verständnis Für Selbstorganisationen bieten die Afrozen-
für dessen strukturelle Einbettung und Intersek- sus-Daten eine Gelegenheit, ihre wichtige Arbeit
tionalität untersuchen und bearbeiten. für Betroffene von intersektional intensiviertem
Zur Anerkennung der Realität von ASR und ASR zu vertiefen. Die Tatsache, dass der erste Af-
einem professionellen Umgang damit gehört zu- rozensus im Jahr 2020 von zivilgesellschaftlichen
dem das Ausarbeiten einer Definition, die Ein- Organisationen durchgeführt wurde, verweist auf
gang in Verwaltungshandeln findet, ASR in sei- die Notwendigkeit der Etablierung von universitä-
ner Spezifik fasst und Politik und Verwaltungen ren Departments für Schwarze Studien/Black Stu-
dazu befähigt, präventiv, aber auch ahndend tätig dies – in Deutschland gibt es bisher kein ­einziges.
zu werden. Die im Afrozensus vorgelegte Defini- Der Afrozensus selbst kann nur der Anfang
tion und die empirisch herausgearbeiteten ASR- weiterer Forschung zur Lebenssituation Schwar-
Muster können dafür ein Anhaltspunkt sein. zer, afrikanischer und afrodiasporischer Men-
schen in Deutschland sein. Er wurde ausführlich
in den Medien rezipiert und hat Diskussionen in
22 Vgl. Julia Simonson et al., Freiwilliges Engagement in
Sozialverbänden, in Politik und Verwaltung so-
Deutschland. Zentrale Ergebnisse des Fünften Deutschen Freiwilli-
gensurveys, Berlin 2019, www.bmfsfj.de/resource/blob/176836/
wie in den vielfältigen Schwarzen, afrikanischen
7dffa0b4816c6c652fec8b9eff5450b6/freiwilliges-engagement- und afrodiasporischen Selbstorganisationen an-
in-deutschland-fuenfter-freiwilligensurvey-data.pdf. gestoßen. Nun gilt es, die Einblicke interdiszi-

33
APuZ 12/2022

plinär – und ausgehend von Schwarzen kollekti- JOSHUA KWESI AIKINS


ven Erfahrungen und Wissenstraditionen – weiter ist Politikwissenschaftler und gehört als Senior
zu vertiefen. Der Afrozensus ist technisch so an- Researcher bei Citizens For Europe zum Kernteam
gelegt, dass Folgebefragungen möglich sind, um des Afrozensus. Er ist außerdem wissenschaftlicher
die Entwicklung der Perspektiven, Erfahrungen, Mitarbeiter und Doktorand an der Universität
Verhältnisse und Einschätzungen der Beteilig- Kassel.
ten im Zeitverlauf betrachten zu können. Soll-
te sich diese Möglichkeit eröffnen, verweisen die TERESA BREMBERGER
Ergebnisse des Afrozensus auf Kernthemen, die ist Sozialwissenschaftlerin. Sie ist wissenschaftliche
wir in einer Folgebefragung fokussieren würden: Mitarbeiterin bei Citizens For Europe und war
Im Auswertungsprozess wurde immer wieder zuvor bei EOTO e. V. als eine der Projektleiterinnen
deutlich, wie wichtig die Resilienz der Befragten, im Afrozensus tätig.
aber auch Empowermentaktivitäten von und für
die Communities sind. Resilienz- und Empow- DANIEL GYAMERAH
ermentstrategien wären daher Schwerpunkte für ist Politik- und Verwaltungswissenschaftler. Er ist
eine zweite Runde des Afrozensus. Bereichsleiter bei Citizens For Europe und ehren-
amtlich im Vorstand von EOTO e. V. tätig.
Der Afrozensus ist im Volltext unter www.afro-
zensus.de/reports/​2020 verfügbar, die Creative MUNA ANNISA AIKINS
Commons Lizenz (CC-BY-NC) für Text und Grafiken ist Sozialwissenschaftlerin und Dozentin mit dem
ermöglicht die Verwendung der Analyse in der Schwerpunkt auf Menschenrechten und leitet bei
Presse, in Lehre, Forschung und der politischen EOTO e. V. die Praxisforschung im Kompetenzzent-
Bildung sowie der Advocacy Arbeit. rum Anti-Schwarzer Rassismus (KomPAD).

34
Schwarz und Deutsch APuZ

ESSAY

SCHWARZE KÖRPER
IN WEIẞEN KUNSTRÄUMEN
Für eine Kultur des Kontakts
Mahret Ifeoma Kupka

Die Frage nach Einfluss und Rolle Schwarzer en und Preise?03 Und sind das nicht Fragen, die
Deutscher im Kulturbetrieb wirft zunächst eini- der Kulturbetrieb selbst diskutieren müsste, eher
ge Fragen auf. Am dringlichsten ist vielleicht die als jene, die Ausgrenzung erfahren – gerade dann,
nach dem vermeintlichen Graben zwischen Kul- wenn er, der Kulturbetrieb, sich als weltoffen,
turbetrieb01 und Einflussnahme, als sei das eine divers, demokratisch und anti-diskriminierend
ohne das andere denkbar, so als gäbe es einen Kul- versteht?04
turbetrieb, in dem Schwarze Personen eine Rol- 2015 trafen sich in Berlin im Ballhaus
le spielen können oder auch nicht. Eine weitere Naunynstraße im Rahmen der Veranstaltungs-
Frage ist die danach, was überhaupt „Schwarze reihe „We are tomorrow“ Schwarze, in Deutsch-
Deutsche“ sind und wie sich diese zum Kultur- land tätige Kulturschaffende zur „Ersten Inda-
betrieb, welcher auch genauer zu definieren wäre, ba“. „Indaba“ ist ein Begriff aus dem isiZulu und
verhalten (können). bedeutet Zusammenkunft, Konferenz oder auch
Angelegenheit, Affäre und beschreibt genau, wo-
DEUTUNGSMACHT UND rum es ging: eine Versammlung zum Austausch
AUSSCHLUSSMECHANISMEN über die jeweilige kulturelle Praxis in Deutsch-
land. Für das Theater waren Simone Dede Ayivi,
In einem Video-Essay mit dem Titel „Black Sto- Wagner Carvalho, Lara-Sophie Milagro und Julia
ries“ befasste ich mich 2020 im Rahmen der Wissert dabei, im Bereich der Kunst Sandrine Mi-
Frankfurter Buchmesse mit den Fragen, was cossé-Aikins, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung
Schwarze deutsche Literatur ist oder sein könn- und Manuela Sambo, für die Literatur Stefanie-
te, ob ein derartiges Label überhaupt nützlich ist, Lahya Aukongo, Sharon Dodua Otoo, Michael
und wenn ja, für wen und wenn nein, für wen Götting und Chantal Sandjon und für die Theorie
nicht.02 Die Gespräche, die ich mit den Schwar- Joshua Kwesi Aikins und Jean-Paul Bourelly.05
zen Au­tor*­innen Michael Götting, Sharon Do- Die Protokolle wurden im Anschluss als Buch
dua Otoo und Natasha A. Kelly sowie den Kri- publiziert, das „allen Schwarzen Kunst- und Kul-
tikern Eric Otieno und René Aguigah und der turschaffenden in Deutschland und anderswo“
Vorsitzenden des Börsenvereins des deutschen gewidmet ist und sich auch an Ent­schei­dungs­trä­
Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs, dazu ger*­innen der Kulturpolitik richtet“.06 Das Ball-
führte, offenbarten alle eine gewisse Uneindeu- haus Naunynstraße wurde 2008 gegründet und
tigkeit, die zur Überlegung führte, ob die ge- versteht sich als postmigrantisches Theater. Seit
stellten Fragen überhaupt die richtigen waren. der Leitung durch Wagner Carvalho (2013) liegt
Besonders dann, wenn es eigentlich um Fragen ein Programmfokus auf Schwarzen Perspektiven,
der Deutungsmacht, Marginalisierung und Aus- Perspektiven of Color und queeren Perspektiven.
schlussmechanismen innerhalb eines Teilbereichs Das Haus bezeichnet sich „als Impulsgeber für
des Kulturbetriebs – der Literatur – gehen soll- eine Reflexion postkolonialer Strukturen in All-
te. Wer bestimmt eigentlich, was Literatur ist? Ist tag und Kunst, es interveniert für die gesellschaft-
von Schwarzen Personen geschriebene Literatur liche Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit
keine Literatur? Wessen Werke werden von gro- Deutschlands, des strukturellen Rassismus und
ßen Verlagen veröffentlicht? Wer erhält Stipendi- intersektionaler Ausschlussmechanismen“.07 Die

35
APuZ 12/2022

„Erste Indaba“ ist Teil der Absicht, durch Konti- turgeschichte, im Kontext mit anderen Werken,
nuität und Nachhaltigkeit zur Entwicklung neu- sind die Produktionen und Erzeugnisse den-
er Perspektiven in den darstellenden Künsten noch nicht, die lange – wenn überhaupt bemerkt
beizutragen. Philipp Khabo Koepsell, Moderator – als „exotisch“ oder genuin „afrikanisch“ mar-
der Veranstaltung und Herausgeber der beglei- kiert waren. 2013 noch wurde das „Black Lux
tenden Publikation, betont die Kontinuität, in der Festival“ am Ballhaus Naunynstraße, das Kunst,
die Veranstaltung steht, und hofft auf – der Name Theater, Performances und Tanz Schwarzer
impliziert es – folgende Indaba.1234 Künst­ler*­innen zeigte, in der Berichterstattung
Denn Schwarze Kulturschaffende organisie- als „Afrikafestival“ bezeichnet.09 Philipp Kha-
ren sich in Deutschland seit vielen Jahrzehnten. bo Koepsell beschreibt ein Phänomen, das viele
Bereits in den 1930er Jahren schrieb der deutsch- Schwarze deutsche Künst­ler*­innen kennen: Ihre
kamerunische Schauspieler und Aktivist Louis Fördergesuche würden von den Entscheidungs-
Brody seine afrozentrische Theaterrevue „Sun- trägern mit dem Hinweis, man fördere im vor-
rise in Morningland“. In den späten 1970er Jah- gesehenen Programm nur deutsche, keine inter-
ren wurde das „Fountain Tanz Theater“ gegrün- nationalen Projekte, abgelehnt: „Zugrunde liegt
det, und wenig später organisierte die „African der vorherrschende Irrglaube, es könne sich bei
Writers Association“, ein Zusammenschluss im den schwarzen An­trag­stel­ler*­innen (unabhängig
Exil lebender afrikanischer Kulturschaffender in ihrer tatsächlichen Nationalität)56789 nicht um Deut-
West-Berlin, Theaterstücke und Performances. sche, beziehungsweise beim Fokus ihrer Ar-
Auch die Arbeit der Vereine Initiative Schwarze beit kaum um für Deutschland relevante The-
Menschen in Deutschland e. V. (ISD) und Adefra men handeln.“10 Das Bewusstsein darüber, dass
e. V., die beide Mitte der 1980er Jahre gegrün- Deutsche nicht nur weiß sind, verändert sich
det wurden, umfasste von Beginn an ein kul- langsam, ebenso langsam wie eine Verständi-
turelles Programm mit Konzerten, Ausstellun- gung darüber, was deutsche Themen sind. Dieser
gen, Lesungen, Performances und Theater sowie Mangel macht die Archivierung, Aufarbeitung
die Publikation von Büchern und Zeitschriften und Kontextualisierung nach wie vor schwierig.
(etwa „Afro Look“ und „Afrekete“), um nur Wissen geht verloren oder gerät in Privatarchi-
einige Beispiele neben all den einzeln agieren- ven in Vergessenheit, sodass mit jeder Produkti-
den Schwarzen Kulturschaffenden in Deutsch- on, Publikation oder Ausstellung der Eindruck
land zu nennen.08 Wirklich Teil deutscher Kul- entsteht, etwas genuin Neues würde geschaffen,
statt es in einer Kontinuität zu betrachten und
01 Kulturbetrieb ist im Text bewusst kursiv gesetzt, um den historisch einzuordnen. Mein eingangs erwähn-
Betrieb als soziales Feld zu markieren, in dem die Handelnden je ter Video-Essay für die Frankfurter Buchmesse
nach ihrer Disposition und abhängig von historischen Bedin-
beginnt mit einem Kommentar des Autors und
gungen um Macht und Einfluss ringen. Vgl. Pierre Bourdieu,
Soziologische Fragen, Frankfurt/M. 1993 und ders., Praktische
Wissenschaftlers Eric Otieno zum breiten Inte-
Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt/M. 1998. resse an Schwarzem Leben in Deutschland im
02 Der Video-Essay „Black Stories“ entstand im Auftrag der Kontext der Black-Lives-Matter-Proteste 2020:
Frankfurter Buchmesse 2020 für das digitale Programm der „Ich fand die Diskussion (…) sehr komisch. In-
Messe „Signals of Hope“, www.youtube.com/watch?​v=​3UTH-
sofern als keine Kontinuitäten gemacht wurden
lYHhT98.
03 Die Nominierungen für den Preis der Leipziger Buchmesse
zu Personen oder Akteuren, die dieses Thema
2021 wurden in einem offenen Brief scharf kritisiert. Vgl. Preis
der Leipziger Buchmesse. Der deutschsprachige Literaturbetrieb
ist weiß, 26. 4. 2021, www.deutschlandfunkkultur.de/preis-​der-​ 05 Die Zuordnung der Teil­neh­mer*­innen zu Disziplinen erfolgte
leipziger-​buchmesse-​der-​deutschsprachige-​100.html. zur groben Orientierung. Tatsächlich sind die jeweiligen Prakti-
04 Ein Beispiel ist die Frankfurter Buchmesse 2021: Eine ken zumeist interdisziplinär.
Reihe von Ver­tre­ter*­innen marginalisierter Gruppen sagte ihre 06 Philipp Khabo Koepsell (Hrsg.), Erste Indaba Schwarzer
Teilnahme ab, weil sie sich bei gleichzeitiger Präsenz rechter Kulturschaffender in Deutschland: Protokolle, Berlin 2015, S. 4.
Verlage auf der Messe nicht sicher fühlten. Die Buchmesse gab 07 Vgl. Eigendarstellung des Ballhaus Naunynstraße,
bekannt, dass die Meinungs- und Publikationsfreiheit an oberster www.ballhausnaunynstrasse.de/about/.
Stelle stehe, was auch für rechte Verlage gelte. Vgl. Rechte 08 Vgl. Koepsell (Anm. 6), S. 11 f.
Verlage auf der Buchmesse. Wehrhaft sein und es den Rechten 09 Vgl. Patrick Wildermann, Ein Fest für die Heimat. „Black
ungemütlich machen, 21. 10. 2021, www.deutschlandfunkkul- Lux“ im Ballhaus Naunynstraße zeigt die schwarze Community,
tur.de/rechte-​verlage-​auf-​der-​buchmesse-​wehrhaft-​sein-​und-​ 3. 9. 2013, www.tagesspiegel.de/kultur/​8729638.html.
es-​den-​100.html. 10 Koepsell (Anm. 6), S. 6.

36
Schwarz und Deutsch APuZ

schon vor Jahren thematisiert hatten. Es ist sehr nicht länger außerhalb dieser Struktur zu veror-
wichtig, diese Kontinuitäten zu zeigen, damit ten“. Damit ist unbedingt verbunden, „diese Po-
man nachvollziehen kann, wie sich Schwarzes sition und die damit verbundene Autorität zur
Leben in Deutschland entwickelt hat.“11 Disposition zu stellen“, so Roth.14
Toni Morrisons Essays sind auch für vie-
DEUTSCHE (FEUILLETON-)KULTUR le Schwarze Kulturschaffende in Deutsch-
land wichtige Referenzen, wenn es darum geht,
2004 erschien der Roman „Liebe“ der afroame- strukturelle Ausschlussmechanismen benenn-
rikanischen Autorin und Literaturkritikerin Toni bar zu machen und Lösungsstrategien zu entwi-
Morrison in deutscher Übersetzung. Seit den ckeln. Morrisons Essays sind auch essenziell für
1990er Jahren analysiert die Literaturwissen- das umfassende Verständnis ihrer Romane, doch
schaftlerin Julia Roth die Rezeption von Morri- wurde dieser Kontext in der deutschen Literatur-
sons Werk im deutschsprachigen Raum, und auch kritik ignoriert und damit auch eine breite An-
2004 stellte sie einen Unwillen (weißer) deutscher schlussfähigkeit an hiesige Diskurse unmöglich
Kri­ti­
ker*­
innen fest, sich umfassend mit dem gemacht. „Das Problem des Rassismus und der
Werk der amerikanischen Autorin auseinander- Marginalisierung bleibt ein ‚Schwarzes‘ und zu-
zusetzen. Morrison allein als Romanautorin und dem auf den spezifischen US-amerikanischen
nicht als Essayistin zu rezipieren, was – so arbeitet Kontext beschränkt“, so Roth.15 Zudem ließen
es Roth heraus – in den deutschen Medien zu je- die meisten weißen deutschen Rezensionen von
ner Zeit passierte, greife zu kurz: „In Toni Morri- Toni Morrisons Essays eine regelrechte Weige-
sons literaturkritischen Essays geht es darum, den rung einer konkreten inhaltlich-kritischen Aus-
Zusammenhang zwischen bestimmten Repräsen- einandersetzung und einer Anerkennung als Bei-
tationsformen des ‚Anderen‘ im Bereich der Li- trag zum literaturkritischen Diskurs erkennen. Es
teraturkritik sowie dem literarischen Kanon und gäbe deutlichen Widerstand gegen das Konzept
spezifischen Machtstrukturen innerhalb dieses Whiteness „und der damit verbundenen Auflö-
Bereichs aufzudecken und in Frage zu stellen“, sung der binären Opposition, die die weiße Sei-
schreibt Roth.12 Morrison plädiere für eine neue te privilegiert“.16 Der hegemoniale Anspruch auf
Lesart der zum US-amerikanischen Kanon gehö- die Dominanz gesellschaftspolitischer und kultu-
renden Texte, „die die bisher unmarkierte weiße reller Diskurse bleibt bestehen.
Position kritisch reflektierend aufnimmt. Rassis- Einige Jahre später wiederholt sich Ähnliches
mus bleibt so kein rein ‚Schwarzes‘ Problem, son- bei Erscheinen des Romans „Brüder“ der deut-
dern stellt ein Verhältnis dar, das auf einer Ideolo- schen Autorin Jackie Thomae. Der Roman, in
gie der binären Opposition basiert, die die weiße dem Thomae die Geschichte zweier ungleicher
Seite privilegiert. Die Essays verhandeln den Dis- Brüder erzählt, streift viele Themen: Es geht um
kurs um die Repräsentations-, Definitions- und Beziehungen, um alleinerziehende Frauen, die
Handlungsmacht marginalisierter Gruppen“.13 DDR, ums Erwachsenwerden, um die Sinnsu-
Es gehe Morrison darum, „die eigene Machtposi- che. Die dunkle Hautfarbe der Männer sowie die
tion und die damit verbundenen Einschluss- und (rassistischen) Erfahrungen, die sie machen, spie-
Ausschlussstrategien zu hinterfragen und sich len eine eher nebensächliche Rolle. Nun gibt es
in Deutschland Schwarze Personen, die sich nicht
11 Vgl. Kupka (Anm. 2); der Autor und Filmemacher Oliver mit Rassismus auseinandersetzen (wollen), und
Hardt weist darauf hin, dass Ausstellungen, die andere Themen die sich nicht als „Schwarz“ bezeichnen. Und
als die des Kunstbetrieb-Mainstreams behandeln, aufgrund auch diese Geschichten sollen, dürfen und müs-
fehlender Kontinuität und Kontextualisierung zumeist verein-
sen in einer multi-perspektivischen Gesellschaft
zelt wirken und dadurch nicht umfassend diskutiert und für
deutsche Diskurse fruchtbar gemacht werden. Vgl. Round Table.
erzählt werden. Nur: Einen Roman, in dem es
Kara Walker’s Art in the German Context, 6. 12. 2021, www.
youtube.com/watch?​v=​vigSXSDuB2M.
12 Julia Roth, „Stumm, bedeutungslos, gefrorenes Wissen“. Der 14 Ebd.
Umgang mit Toni Morrisons Essays im weißen deutschen Kontext, 15 Ebd., S. 491.
in: Maureen Maisha Eggers et al. (Hrsg.), Mythen, Masken und 16 Roth führt als Beispiele Rezensionen u. a. in der Zeitschrift
Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster „Literaturen“, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dem Tages-
2020, S. 491. spiegel, der Stuttgarter Zeitung und der „Brigitte“ an. Vgl. ebd.,
13 Ebd., S. 492. S. 497.

37
APuZ 12/2022

nicht um Rassismus gehen soll, als „Kontrapunkt einem Thema, dessen Aufarbeitung in Deutsch-
zu den oft überhitzt geführten Debatten über land kaum auf Traditionen zurückgreifen kann.
Identität und Rassismus“17 oder als „Plädoyer Zwar machen einzelne Wis­sen­schaft­ler*­innen
gegen die Gefahr, farbfehlgeleitet durch die Welt und Initiativen wie die ISD, Adefra oder Each
zu gehen“18 zu rezipieren, wird dem Roman nicht One Teach One e. V. (EOTO) wichtige Arbeit.
gerecht. 2019 war „Brüder“ auf der Shortlist des Weiterhin fehlt es allerdings an der Bereitschaft
Deutschen Buchpreises. Umgeben von allgemei- der Dominanzgesellschaft, dieses generierte Wis-
nen Feuilleton-Debatten um „Rassismus-Keu- sen auch in den Kanon zu implementieren und
len“, „Cancel Culture“ und „Political Correct- breit zugänglich zu machen. Es fehlt weiterhin
ness“ muss der Roman einer Schwarzen Autorin, an akademischer Verankerung und an Wis­sen­
in dem es nur am Rande um Rassismus geht, wie schaft­ler*­innen, die zu Schwarzer deutscher Ge-
eine Erleichterung wirken. Auffällig ist, dass sich schichte und Kultur in Deutschland forschen.
die Rezensionen nur darum drehen, wie wenig es Entsprechende Forschung findet fast ausschließ-
in dem Roman um Rassismus geht. Dabei treten lich im Ausland an entsprechenden Instituten
alle anderen Aspekte der Handlung in den Hin- statt.21 Allerdings geht es nicht allein darum, für
tergrund. Hinzu kommt der bereits oben thema- marginalisierte Positionen Raum zu schaffen. Es
tisierte Mangel an Kontinuität. Es mag sein, dass muss darum gehen, ein System zu hinterfragen,
es in Deutschland „bisher keine Entsprechung um- und neuzugestalten, das diese Marginalisie-
zu so etwas wie der afroamerikanischen Litera- rung überhaupt erst produziert.
turtradition gibt“,19 wie es in einer weiteren Re-
zension der Romans heißt. Allerdings versäumt FÜR EINE KULTUR DES KONTAKTS
es die Rezensentin, auf die durchaus existieren-
de Schwarze deutsche Literaturtradition zu ver- In meinem Essay für die Buchmesse waren sich
weisen, in deren Kontext sich Thomaes Roman alle Ge­sprächs­part­ner*­innen ebenso wie die Teil­
vergleichend diskutieren ließe. Problematisch ist neh­mer*­innen der „Ersten Indaba“ bezüglich ei-
nicht, was diskutiert wird, sondern was nicht dis- ner gewissen Schieflage zulasten marginalisierter
kutiert wird.20 (Schwarzer) Au­tor*­innen einig. Die Marginali-
Die weltweiten Black-Lives-Matter-Proteste sierung lässt sich in Deutschland nicht allein aus
haben in Deutschland zu einer weiteren Sensibi- einer realen quantitativen Differenz erklären,
lisierung für Anti-Schwarzen Rassismus geführt. sondern sie ist auch auf systemische Ausschluss-
Aktionen wie beispielsweise das Teilen eines mechanismen, die sich aus einem festen Ver-
schwarzen Quadrats in den Sozialen Medien, das ständnis von Kultur ergeben, zurückzuführen.
am 2. 6. 2020 zum #blackouttuesday auch vie- Mangelnde Sichtbarkeit und Förderung sowie
le Kulturinstitutionen in Deutschland posteten, eklatante Wissenslücken in deutscher Geschichte
zeigten eine Art Konsens darüber, dass etwas und Lebensrealitäten vonseiten eines weiß domi-
passieren muss. Sie offenbarten aber auch eine nierten Kulturbetriebs (oder einzelner Individu-
große Unwissenheit und Hilflosigkeit gegenüber en) sind demnach nicht Gründe dieser Schiefla-
ge, sondern viel eher Symptome eines Systems,
das diese Schieflage produziert beziehungsweise
17 Juliane Liebert, Brüder. Das Glück lauert an der Ecke.
Wie werden wir, wer wir sind? Jackie Thomae erzählt von
durch seine Ak­teur*­innen (re-)produzieren lässt.
zwei afrodeutschen Brüdern, die in verschiedenen Welten Die Kommunikationswissenschaftlerin Nata­
leben, 25. 9. 2019, www.zeit.de/​2019/​40/brueder-​jackie-​ sha A. Kelly weist in ihren Publikationen immer
thomae-​roman. wieder darauf hin, dass es zentral sei, Diskrimi-
18 Tobias Becker, Jackie Thomae über Herkunft und Heimat.
nierungsformen wie Rassismus nicht als singu-
Steckt Deutschsein in den Genen oder im Kopf?, 16. 8. 2019,
www.spiegel.de/kultur/​a-​0 0000000-​0 002-​0 001-​0 000-​0 001​
läres Phänomen oder Erfahrungen Einzelner zu
6545​4515.
19 Marie Schmidt, Roman von Jackie Thomae. Eine große
deutsche Neuigkeit, 14. 10. 2019, www.sueddeutsche.de/​ 21 Zahlreiche deutsche Aka­de­mi­ker*­innen wandern zur For-
1.4603017. schung ins Ausland ab, hauptsächlich in die USA, die Schweiz,
20 Die Rezeption von Jackie Thomaes Roman habe ich in Kanada und UK. Nicht selten erfährt ihre Arbeit erst dadurch
einem Essay für Deutschlandfunk Kultur ausführlich kommentiert: Aufmerksamkeit in Deutschland. Das betrifft u. a. Fatima El-
Identitäten (6/7). Farbe bekennen, www.deutschlandfunk.de/ Tayeb, Natasha A. Kelly, Yvette Mutumba, Vanessa E. Thompson
identitaeten-​6 -​7-​farbe-​bekennen-​100.html. oder Alexander G. Weheliye.

38
Schwarz und Deutsch APuZ

begreifen, sondern als „Machtmechanismen, die Die Welt war damals schon komplexer als
in Individuen, Gesellschaften oder Institutionen hier dargestellt und ist seitdem noch komplexer
verankert sind und diese negativ beeinflussen“.22 geworden. Doch hilft dieses Definitionsgerüst,
Am Umgang der deutschen Medien und der Po- einige bis heute wirksame Mechanismen zu ver-
litik mit den Black-Lives-Matter-Protesten 2020 stehen. Es hilft auch zu verstehen, warum der
bemängelt sie vor allem „ein falsches, verkürztes (moderne) Kulturbetrieb als ein auf bestimmten
Verständnis von Rassismus, das seine strukturelle Vorstellungen von Kultur basierendes System so
Dimension ­ignoriert“.23 ist, wie er ist, und warum eine Einflussnahme ge-
Das von Christian Kravagna entwickelte Mo- wissen Regeln folgen muss.
dell der Transmoderne lässt sich zum besseren Diese „Kolonialität der Moderne“, auf die
Verständnis der Funktionsweise dieses Systems sich Kravagna bezieht, wurde zunächst in den an-
mit Blick auf Kunst und Kultur heranziehen. tikolonialen Schriften nicht-westlicher Au­ tor*­
Der Kunsthistoriker Kravagna sieht Moderne, innen wie Aimé Césaire und Frantz Fanon einer
„beziehungsweise das westliche Konzept von radikalen Kritik unterzogen. „Scheinbar uni-
Moderne und Modernität“, als „untrennbar mit versale Konzepte von Subjektivität, Rationali-
der auf dem Kolonialismus beruhenden globalen tät, Fortschritt und Zivilisation wurden aus der
Machtordnung und deren Formationen des Wis- Perspektive der Kolonisierten als tragende Ele-
sens verknüpft“.24 Es sind dieselben Ordnun- mente eines westlichen Herrschaftssystems be-
gen, die „Rasse“-Kategorien wie „schwarz“ und nannt.“27 Kravagna sieht die Transmoderne in
„weiß“ auf der Basis rassistischer Ideologien im- dieser Tradition „als kritische Positionierung zu
plementierten und die seitdem in unzähligen all- den Grenzziehungen und Ausschlussmechanis-
täglichen Gesten reproduziert und gefestigt wer- men der dominanten Euromoderne“.28 Es geht
den. Ein Grund für diese Kategorisierung sei die ihm um die „Überwindung des kolonialen Den-
Suche nach einer Legitimierung von vermeint- kens der Grenze, der ‚Rasse‘ und der ethnisch de-
licher Zivilisierung, Ausbeutung, Versklavung finierten kulturellen Differenz“29 sowie „ihrer
und Verfolgung kolonisierter Bevölkerungen kunstideologische[n] Manifestation im moder-
mit zumeist dunkler Hautfarbe (Schwarz) durch nistischen Dogma der Reinheit der Kunst“.30 Da-
europäische Kolonisatoren mit heller Hautfar- bei fokussiert Kravagna auf eine „transkulturel-
be (weiß) gewesen: „In der Ära der Aufklärung le globale Moderne, die in der ersten Hälfte des
mit ihren Dogmen von Vernunft und Fortschritt 20. Jahrhunderts aus den Kontakten zwischen
wurde der Diskurs von kultureller und ‚rassi- Akteur/innen unterschiedlicher Herkunft, Posi-
scher‘ Differenz für die ideologische Bestäti- tionen im kolonialen Machtgefüge und künstle-
gung und machtpolitische Befestigung der kolo- risch intellektueller Sozialisierung hervorgeht“,31
nialen Grenzen unentbehrlich.“25 Die bis heute entgegen der Praxis „der einseitigen Aneignung
hoch geschätzten Errungenschaften der Auf- anderer Kulturen und Ästhetiken in der Euro-
klärung galten nie für alle, sondern ganz aus- moderne und der diffusionistischen Vorstellun-
schließlich für weiße (Männer), und durch die gen, nach der das Neue in den westlichen Zen-
Erfindung von Menschenrassen, denen unter- tren produziert würde und dann seine Wirkung
schiedliche genetisch bedingte Fähigkeiten zu- auf die Peripherien der Welt hätte“.32 Diesem An-
gesprochen wurden, war es künftig möglich, das satz folgend gab es nie einen „Graben“ zwischen
vermeintlich wissenschaftlich zu untermauern.26 Kulturbetrieb und Schwarzen Künstler*­ innen,
Schwarz und weiß in dieser Wirkungsweise sind die darauf Einfluss nehmen können. Es handelt
weiße Erfindungen mit dem deutlichen Ziel der sich dabei vielmehr um eine Konstruktion, eine
Unterwerfung alles Nicht-Weißen. künstliche Abspaltung weißer oder europäischer
von außereuropäischer Kulturproduktion.
22 Natasha A. Kelly, Rassismus. Strukturelle Probleme brau-
chen strukturelle Lösungen, Zürich 2021, S. 10.
23 Ebd., S. 9. 27 Kravagna (Anm. 24), S. 15.
24 Christian Kravagna, Transmoderne. Eine Kunstgeschichte 28 Ebd., S. 12.
des Kontakts, Berlin 2017, S. 15. 29 Ebd., S. 15 f.
25 Ebd., S. 19. 30 Ebd., S. 23 f.
26 Vgl. u. a. Susanne Wernsing et al. (Hrsg.), Rassismus. Die 31 Ebd.
Erfindung von Menschenrassen, Göttingen 2018. 32 Ebd., S. 50.

39
APuZ 12/2022

EMANCIPATE YOURSELF fremden Kulturen assoziiert wird, sondern in ei-


FROM MENTAL SLAVERY 33 nem europäischen Museum und damit selbstver-
ständlich zeitgenössische Interpretationen mus-
Die Künst­ ler*­
innen Joana Tischkau und Anta limischer Bekleidungstraditionen in deutsche
Helena Recke begaben sich gemeinsam mit dem Kulturgeschichte einschrieb. 2020 zeigte „Life
Musikwissenschaftler Frieder Blume und der doesn’t frighten me. Michelle Elie wears Com-
Dramaturgin Elisabeth Hampe für ihre Ausstel- me des Garçons“ zum Höhepunkt der weltwei-
lung „Deutsches Museum für Schwarze Unter- ten Black-Lives-Matter-Proteste eine Melange
haltung und Black Music“ (DMSUBM), die vom aus japanischem Avantgarde-Design und Lebens-
25. August bis zum 3. September 2020 im Mu- realität der Schwarzen Designerin und Stil-Ikone
seum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main Michelle Elie. Die Ausstellung war auch (politi-
zu sehen war, auf die Suche. Hier war von Be- scher) Kommentar zu Fragen der Repräsentati-
ginn an klar: Es ist ein deutsches Thema, und es on und Diversität Schwarzer Perspektiven in der
geht darum, vergessene und verdrängte Aspek- Mode und in Museumsräumen. Fünfzig Pup-
te deutscher Musikgeschichte herauszuarbeiten pen, die nach Elies Abbild gestaltet waren, ver-
und in der Nebeneinanderstellung dokumentari- deutlichten, dass es bei der Ausstellung einerseits
schen Materials wie Schallplatten, CDs, (Auto-) um Elies Erfahrung in Kleidern von Comme des
Biografien, Zeitungsartikeln, Plakaten, Inter- Garçons ging, um das Spiel mit Raum und Bewe-
views und Film- und Fernsehauszügen Schwarze gung, Blick und Darstellung, das Annehmen der
Unterhaltungskultur in Deutschland in der Brei- eigenen Körperlichkeit, andererseits aber auch
te sicht- und kritisch diskutierbar zu machen. Es um die Besetzung eines politischen Raums, den
ging Tischkau und Recke auch darum, sich als des Museums, der seit jeher als anders Kategori-
Schwarze deutsche Künst­ ler*­
innen (historisch) sierte entweder ausschloss oder zum ausgestellten
zu verorten, in Form eines performativen Aus- Objekt machte.35
stellungsprojekts, das sich in einen bestehenden Eine derart selbstkritische Auseinanderset-
Museumsbetrieb eingliederte.34 zung deutscher Institutionen mit der eigenen
Dass das Vorhaben glückte und breit disku- Ausstellungpraxis ist noch eher eine Ausnahme.
tiert wurde, liegt auch an der Bereitschaft der In- Aktuelle Restitutionsdebatten haben den Druck
stitution, den Begriff der Angewandten Kunst auf ethnologische Museen erhöht und Dekoloni-
kritisch zu reflektieren und zu erweitern. Das sierungsprozesse vorangebracht. So befasst sich
Museum zeigt sich seit seiner Neupositionie- etwa das Museum am Rothenbaum. Künste und
rung 2012 als Möglichkeitsraum. Das bedeutet Kulturen der Welt (MARKK) in Hamburg seit
auch, Themen vorzustellen, die Klassifizierun- seiner Neuausrichtung 2018 kritisch mit der ei-
gen und überkommene Hegemonien infrage stel- genen Verwobenheit in den Kolonialismus. Aus-
len. 2019 wurde die Ausstellung „Contemporary stellungen wie „Hey Hamburg, kennst Du Duala
Muslim Fashions“ deutschlandweit kontrovers Manga Bell?“ oder „Benin. Geraubte Geschich-
diskutiert. Ein Teil der Kritik rührte daher, dass te“ machen zusätzlich die Involvierung Ham-
die Schau nicht in einem ethnologischen Muse- burgs in den Kolonialismus als kapitalistisches
um stattfand, das nach wie vor mit vermeintlich Projekt deutlich. Mit „Mapping the Collection“
konzentrierte sich 2020 das Museum Ludwig in
33 „Emancipate yourselves from mental slavery, none but Köln auf die Lücken in der eigenen Sammlung.
ourselves can free our minds“, aus: Bob Marley & The Wailers, Die von Janice Mitchell kuratierte Ausstellung
Redemption Song, 1980. zeigte Arbeiten US-amerikanischer Künst­ ler*­
34 Vgl. Mahret Ifeoma Kupka, Das Deutsche Museum für
innen der 1960er und 1970er Jahre aus der Mu-
Schwarze Unterhaltung und Black Music, in: Das Wetter. Ma-
gazin für Text und Musik 22/2020, S. 32 f. In diesem Kontext ist
seumssammlung gemeinsam mit Werken queerer
auch die Ausstellung von James Gregory Atkinson „6 Friedberg- und BIPoC Künst­ler*­innen der gleichen Zeit, die
Chicago“ im Dortmunder Kunstverein zu erwähnen. Darin nicht Teil der Sammlung sind: Ein Anstoß zur Er-
beleuchtet er anhand eigens für die Ausstellung entstandener
Arbeiten und kollaborativer Projekte einen Teil afroamerika-
nisch-deutscher Geschichte, auf persönlicher, gesellschaftlicher 35 Vgl. Mahret Ifeoma Kupka, Hold On to Your Love. Was
und politischer Ebene, www.dortmunder-​kunstverein.de/de/ Mode zu Mode macht, in: Martin Seiler (Hrsg.), Ich bin, weil
ausstellungen/aktuell-​vorschau/vorschau/james-​gregory-​at- wir sind. Warum Haltung das Miteinander stärkt, Frankfurt/M.
kinson.htm. 2021, S. 56–61.

40
Schwarz und Deutsch APuZ

weiterung des herrschenden Rezeptionsrahmens was sichtbar ist, kann auch geändert werden. Ab-
US-amerikanischer Kunst. Parallel dazu war im lehnung aber von essentialistischen Ausprägun-
Museum das Langzeitprojekt „Center of Unfini- gen zugunsten wechselseitiger Beziehung und
shed Business“ der in Berlin ansässigen Online- Solidarität. Kravagna schreibt: Die „antikolonia-
plattform Contemporary&36 unter Leitung von len Kritiker/innen [wiesen] die westlichen Kon-
Julia Grosse und Yvette Mutumba zu sehen: ein zepte von Humanismus und Universalismus (…)
partizipativer Leseraum mit Publikationen, deren nicht einfach zurück, sondern unterzogen sie ei-
Fokus – ebenso wie der der Plattform selbst – auf ner neuen Interpretation auf Basis der kolonialen
Kunst und Kultur aus Afrika und der globalen Erfahrung und im Rahmen der globalen Allian-
Diaspora liegen. Der Museumsbesuch wurde so zen antikolonialer Kämpfe.“41 Davon ausgehend
weniger zu einer Bestätigung einer überkomme- ändert sich die Perspektive auf Kultur, ihren Be-
nen Vorstellung von Kultur, sondern machte auf trieb und die Möglichkeiten der Einflussnahme.
Brüche und Entwicklungspotenziale aufmerksam Werden die Konstruktionsbedingungen mit in die
und lud ein, westlich zentrierte Kunstgeschich- Betrachtung von Kunst und Kultur einbezogen,
te zu hinterfragen.37 Der Berliner Kunst- und weitet sich der Blick über vermeintliche Ränder
Projektraum Savvy Contemporary hat seit sei- hinaus, werden Verknüpfungen und gegenseitige
ner Gründung 2009 das Ziel, „durch die Kunst Einflussnahmen und (Re-)Aneignungen sichtbar.
Diskurse zwischen dem Westen und dem Nicht- Schwarze Kulturpraxis – oder als solche markier-
Westen in den Vordergrund zu bringen“.38 Der te – ist so nicht mehr in einem Außen verortet,
Ansatz ist theoretisch und kritisch. Es werden von wo aus auf etwas (Inneres) Einfluss genom-
Symposien und Diskursveranstaltungen organi- men werden kann, sondern ist (Teil von) Kultur.
siert. Künstlerischer Leiter war von Beginn an Damit einher geht eine Veränderung der Instituti-
der Kurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, onen. Es geht nicht länger darum, vermeintliches
der 2023 die Intendanz am Haus der Kulturen der Wissen durch Reproduktion zu festigen, sondern
Welt (HKW) in Berlin übernehmen wird.39 die Schönheit des Aufbrechens zu gestalten. Das
führt zu prozesshaften (Re-)Präsentationskon-
… NOTHING CAN BE CHANGED zepten, die sich vorsichtig herantasten an eine Zu-
UNTIL IT IS FACED 40 kunft, von der wir selbst noch keine klare Vor-
stellung haben können.
Dieser41 Text kann keine Auflistung Schwarzer
Kulturpraxis sein, weil sich diese – und das hof-
fe ich mit diesem Beitrag zu zeigen – genau die-
ser Zuschreibung entzieht. Schwarz, geschrieben
mit großem S, symbolisiert – in all seiner Ambi-
valenz – Widerstand gegen ein System, das die-
se Unterscheidung erst schafft beziehungsweise
geschaffen hat. Schwarz ist auch Widerspruch,
weil sich darin zugleich Aneignung und Ableh-
nung finden: Aneignung von Fremdzuschreibung
zur Markierung geschaffener Differenz, denn nur

36 Die Serie „Auf Deutsch“ zeigt aktuelle Kunst- und Kulturpro-


duktionen Schwarzer Künst­ler*­innen aus dem deutschsprachigen
Raum: www.contemporaryand.com/auf-​deutsch-​2/.
37 Vgl. Mahret Ifeoma Kupka, Paving the Way for Institutional
Changes. A Look at Germany’s Exhibition Landscape Shows the
Importance of Identifying Blind Spots, 30. 9. 2020, www.frieze.​com/​
article/​paving-​way-​institutional-​changes. MAHRET IFEOMA KUPKA
38 Koepsell (Anm. 6), S. 34. ist promovierte Kunstwissenschaftlerin, freie Autorin
39 Vgl. Margarita Tsomou, Wir waren nie Peripherie, 6. 10. 2021,
und seit 2013 Kuratorin für Mode, Körper und
www.freitag.de/autoren/der-​freitag/wir-​waren-​nie-​peripherie.
40 „Not everything that is faced can be changed. But nothing
Performatives am Museum Angewandte Kunst in
can be changed until it is faced“, James Baldwin. Frankfurt am Main.
41 Kravagna (Anm. 24), S. 15. www.mahretkupka.de

41
APuZ 12/2022

INTERVIEW mir als Kind so nicht vorgelegt,


aber unbewusst gespürt ha-

DIE RENAISSANCE
ben – auch so ein ungutes Kli-
schee, das damals im Schwan-

DER HAUTFARBE
ge war im Kontext der GIs.
Heidelberg war Headquarter
der amerikanischen Armee. Da
Ein Gespräch über gab es viele GIs und ich weiß,

Kindheitserfahrungen, Identität dass mich öfter mal Erwachse-


ne fragten, ob mein Vater ein
und antirassistische Diskurse GI sei. Und damit war immer
ein Schwarzer gemeint, der
sich nach der Zeugung aus dem
mit Ijoma Mangold Staub macht. Und dass es nicht
zur Ehre der eigenen Mutter
gereicht, wenn sich der Erzeu-
Herr Mangold, in „Das deutsche heit in der heutigen Gesell- ger aus dem Staub gemacht hat,
Krokodil“ erzählen Sie, wie schaft, in der wir leben, lauter dieses Gefühl hatte ich als Kind
Sie als Sohn einer Schlesierin ­Privilegien. sehr stark, auch wenn die Ge-
und eines Nigerianers in den In der Ablehnung dessen, schichte faktisch eine völlig an-
1970er Jahren in Heidelberg was bei uns anders war, spiel- dere war.
aufgewachsen sind. Sie te das Afrikanische schon eine
beschreiben darin, dass Sie sich Rolle. Aber in Wahrheit stand Sie sprechen in dem Zusammen-
für alles Afrikanische an sich im Vordergrund vielleicht eher hang manchmal davon, dass Sie
oder an Ihrem Zuhause häufig etwas anderes, nämlich der ab- in dieser Zeit gar nicht wirklich
eher geschämt haben. Können wesende Vater. Das, was ich als Rassismuserfahrungen gemacht
Sie sich heute erklären, warum Kind als die größte Gefahr sah, haben, sondern eher von
das so war? die Schwachstelle, durch die Selbstdiskriminierung. Können
Ijoma Mangold – Ja, natürlich. man bedroht werden könnte, Sie erklären, was Sie damit
Es ist ganz einfach: Menschen war, aus keiner vollständigen meinen?
oder zumindest Kinder wol- Familie zu stammen. Um mich – Den Begriff „Selbstdiskrimi-
len gerne Normalität in ihren herum hatten alle meine Freun- nierung“ habe ich nicht ver-
eigenen Verhältnissen haben, de Vater und Mutter, das war ja wendet. Aber ich ahne, was Sie
weil sie ein unbewusstes Ge- noch nicht jene Zeit, die dann damit meinen. Vielleicht wür-
spür dafür haben, dass Abwei- erst 20 Jahre später begann, als den manche Leute behaupten,
chung immer mit einer Erhö- man die alleinerziehende Mut- dass ich dazu neige, aufgrund
hung des Risikos einhergeht. ter zum neuen Mythos des meines sonnigen Gemüts nega-
Das hat sich heute vielleicht ein Übermenschen ausrief, son- tive Erfahrungen zu verdrän-
bisschen verändert, denn der dern das waren noch „ordent- gen. Aber ich kann ja nur darü-
kollektive Trend läuft auf Indi- liche“ Kleinfamilien. Davon ber reden, was mir bewusst ist.
vidualisierung hinaus. Das war wichen Mama und ich ab, und Und bewusst, würde ich sagen,
aber in den 70er Jahren nicht das fand ich bedenklich. Dem gab es überhaupt keine rassis-
so – schon gar nicht bei einem konnte ich nichts Positives tischen oder zurückweisenden
fünfjährigen Kind. Das wäre ja abgewinnen. Und ich glaube, oder unangenehm ausgrenzen-
auch absurd. Als Kind woll- das Afrikanische hat die Sache den Erfahrungen. Ganz im Ge-
te ich gerne, dass bei mir alles quasi verstärkt, denn die Fra- genteil, in 99 Prozent der Zeit
so ist wie bei allen anderen. ge, „Warum gibt es da eigent- meiner Kindheit spielte das gar
Später, als Erwachsener, habe lich keinen Vater?“, verwies keine Rolle. Es gab immer nur
ich gelernt, dass es ein riesiger zwingend auf Afrika. Wenn der diese klassischen Standardsitu-
Vorteil ist, wenn man anders Vater aus Afrika kommt und ationen. Wenn jemand fragte
ist, abweichend ist von den an- nicht anwesend ist, bedient das „Wie spricht man denn deinen
deren, dann hat man in Wahr- gleichzeitig – das werde ich Namen aus?“, dann musste ich

42
Schwarz und Deutsch APuZ

den logischerweise mehrmals dass das möglicherweise so schon nach England gezogen –,
sagen. Und dann kam die Frage sein könnte. Ich habe dann hat mir viele tolle Lesungen an
„Wo kommt er denn her?“, und aber sehr, sehr viele Leserei- Universitäten in Oxford und
da dachte ich mir schon manch- sen gemacht. Und da waren Cambridge organisiert. Und
mal: Warum bin ausgerechnet viele Menschen mit unfass- das waren hochinteressan-
ich es, der immerzu sagen muss, bar identischen Biografien wie te und spannende Begegnun-
wo dieser Name herkommt? Es der meinen. Es ist immer der gen. Und zwar, weil natürlich
kam auch vor, dass ältere Da- Vater aus Afrika, und er stu- der postkoloniale Erfahrungs-
men mir mal übers Haar fuhren diert immer Medizin und geht horizont in UK weiter ist als in
und sagten: „So tolle Locken.“ in der Regel nach dem Studi- Deutschland. Wie sollte es auch
Und natürlich fand ich das auch um zurück nach Afrika und so anders sein, wir haben eine an-
nicht toll. Ein Trauma war es weiter. Die Überschneidungen dere Vergangenheit. Das heißt,
gleichwohl nicht. sind verblüffend. Selbstver- auch dieses Genre von Litera-
Ich vergleiche das eigentlich ständlich teilen nicht alle mei- tur ist – sagen wir mal stich-
immer gerne mit einem ange- ne Ansichten, aber ich würde wortartig seit Zadie Smith –
borenen Fluchtreflex, den zum tatsächlich sagen, eine deutli- wohl etabliert in der Literatur
Beispiel Tiere haben. Bevor das che Mehrheit tut das. Und die des Commonwealth, während
Rehkitz je einen Säbelzahnti- Frage, wie man dann insgesamt es in Deutschland ein jünge-
ger zu Gesicht bekommen hat, auf die Gesellschaft schaut, ist res Genre ist. Wobei hier zu
hat es ja schon den Fluchtre- ja auch noch mal eine andere. differenzieren wäre: Es ist ein
flex, das heißt, ich glaube, dass Es gibt zum Beispiel Leute – seit 20 Jahren etabliertes Genre
Kinder schon so eine instinkti- jede Position ist ja legitim und mit Blick auf italienische, tür-
ve Ahnung davon haben, dass jeder soll seinen Weg finden –, kische, griechische, arabische
Abweichung eine Gefahr sein die wie ich keinerlei rassisti- Einwanderung. Aber mit Blick
kann und man damit irgend- sche Erfahrung gemacht haben, auf Schwarzsein doch ein jün-
wie umgehen muss. Und inso- aber trotzdem der Meinung geres, da würde ich fast sagen,
fern war meine Sorge, dass das sind, dass unsere Gesellschaft war mein Buch 2017 eines der
möglicherweise nicht gut geht eine rassistische ist, auch wenn frühen oder sogar der ersten.
mit meinem seltsamen Vorna- sie es selber nie zu spüren be- Das ist der erste Unterschied,
men und meinem seltsamen kommen. Ja, ich verstehe diese wenn Sie vor englischem Publi-
Aussehen. Das war eine rein Haltung. Ich glaube, sie kann kum sprechen. Und dann gibt
theoretische Sorge, die durch konsistent sein. Ich möchte ihr es an diesen sehr internatio-
keine Erfahrung in dieser auch nicht den Respekt ver- nalen Universitäten auch eine
Wirklichkeit gedeckt war, aber sagen, aber meine ist es nicht. ganz andere Bandbreite an bio-
eine, die auch nicht vollstän- Und nein, ich glaube nicht, grafischen Erfahrungen.
dig aus dem heiteren Himmel dass es eine Singularitätserfah- Nach einer Lesung kam
gefallen ist, sondern gewis- rung ist, die ich gemacht habe. beispielsweise eine junge Stu-
sermaßen intuitiv. Ich würde dentin auf mich zu und sagte:
sagen: ein anthropologischer „Das deutsche Krokodil“ ist „Ihr Buch hat mir so viel gege-
Pessimismus, wie er gesünder vor kurzem auch auf Englisch ben. Ich habe mich so erkannt,
nicht sein kann. Und ich dan- erschienen. Wie schaut man aus das ist bei mir alles ganz genau-
ke Gott, dass sich all das gar internationaler Perspektive auf so.“ Das fand ich sehr schön,
nicht bewahrheitet hat. Trotz- diese Geschichte? nur fiel mir auf, dass sie so gar
dem ist Vorsicht die Mutter der – Das ist total spannend und nicht aussah wie ich. Ihre El-
Porzellan­kiste. hat mich auch selber wahn- tern waren aus der Mongo-
sinnig gefreut. Die engagierte lei, insofern hatte sie eine ganz
Können Sie nachvollziehen, wenn Verlegerin des kleinen engli- andere Geschichte. Aber die
manche Leute sagen, dass das schen Verlags, die selbst aus Erfahrung, sich 100 Prozent
eine eher untypische deutsche einer ähnlichen Konstellati- identisch mit der in diesem Fall
Lebenserfahrung ist? on kommt wie ich – der Vater britischen Gesellschaft zu füh-
– Nein, nicht mehr. Ich dachte, Nigerianer und eine deutsche len, aber qua Aussehen nicht
während ich das Buch schrieb, Mutter, allerdings als Kind so zu wirken, die teilten wir.

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Dieses Moment der visuellen Kurzum: Der Horizont Gastarbeiter. Das heißt, dieses
Andersheit, mit der gewisser- an Erfahrungen ist weit. Des- Moment, dass man von ande-
maßen kein entsprechendes In- wegen, glaube ich, kann auch ren wahrgenommen und in be-
nenleben korrespondiert, war „Das deutsche Krokodil“ auf stimmte Schubladen gesteckt
etwas Verbindendes. ganz unterschiedliche Weise wird, ist bei einer Singularität
Eine andere spannende Be- andocken. Ganz viele werden viel schwächer ausgeprägt. Da
gegnung war mit einem Jour- das Buch unbedingt zurück- überwiegt die Neugier, zumal
nalisten Mitte 30, sein Vater weisen und, so hoffe ich, es zu einem Zeitpunkt, wo die
Nigerianer und seine Mutter auch für einen Skandal halten. Gesellschaft insgesamt noch
Polin. Er kennt Nigeria recht Ich bin ein polemisches Na- homogener war. Da findet man
gut, weil er seine Verwandt- turell, und ich wollte mit dem das natürlich besonders inte-
schaft dort regelmäßig besucht. Buch durchaus einen bestimm- ressant. Und das wäre heute
Ich war mir hingegen manch- ten identitätspolitischen Dis- anders.
mal bei meinem Buch unsi- kurs angreifen und zurück­ Es gab mal so eine Über-
cher, ob ich vielleicht in der weisen. gangsphase. Vor rund 20 Jahren
Beschreibung meiner nigeriani- habe ich bei mir plötzlich fest-
schen Familie überhaupt nichts Sie haben bereits anklingen gestellt, wenn ich Kinder sah,
Allgemeines beschrieben hat- lassen, dass Ihre Geschichte wo- die einen ähnlichen Teint hat-
te, sondern nur den zufälligen möglich anders verlaufen wäre, ten wie ich, dass ich die immer
Spezialfall meiner Familie und wären Sie in der Gegenwart in so besonders liebevoll anschau-
ihrer Verhaltensweisen – auch, Heidelberg aufgewachsen. Was te und hoffte, dass die meinen
weil meine Erfahrungsbasis wären die größten Unterschiede? Blick erwidern, von Brother zu
nicht sehr groß war; sie fußte – Na ja, der „Exotikbonus“ Brother. Und da kam natürlich
vor allem auf zwei Monaten, würde natürlich wegfallen. nie was zurück, weil die gar
die ich in Nigeria verbracht Das wäre ja nichts Besonde- nicht wussten, warum der Alte
hatte. Und da war ich ganz res mehr. Und vor allem wäre sie so ansieht. Das löste bei de-
beruhigt, als er sagte: Genau es eine grundsätzlich andere nen nichts aus. Die hatten nicht
so sind die Nigerianer, genau Sozialisierungserfahrung. Was die Idee, dass es irgendwas Ver-
so läuft es ab, genau so ist ihr sehr wichtig ist, um die ewi- bindendes zwischen uns geben
Habitus. ge Frage nach dem Rassismus könnte.
Ich erinnere mich auch an sinnvoller zu situieren: Ich war
ein schönes Literaturfestival, in Heidelberg eine Singulari- Sie haben mal gesagt, dass
auf dem ich mit einer anderen tät. Es gab nur einen Menschen Sie sich eigentlich aufgrund
Autorin aus England auf der mit einem afrikanischen Vater dieser Singularität nicht zu einer
Bühne saß, die eine ganz an- im Umfeld meiner Schule oder schwarzen Community zugehörig
dere Geschichte hatte. Für sie der Sportvereine, denen ich an- gefühlt haben. Gibt es denn
war es wichtig, sich endlich zu gehörte. Wenn Sie eine Singu- ein solches Community-Gefühl
ihrer schwarzen Hautfarbe zu larität sind, dann werden Sie aufgrund von spezifischen
bekennen, und zwar aus einer von der Mehrheitsgesellschaft geteilten Erfahrungen?
sehr nachvollziehbaren Situa- als exotisch wahrgenommen. – In den 70er und 80er Jahren,
tion heraus: Sie wurde adop- Aber es gibt in dem Sinne kei- als ich Kind und Schüler war,
tiert von weißen, nordirischen nen Rassismus gegen Sie, denn da gab es einfach keine Com-
Eltern, die ihr nie gesagt hat- Rassismus ist eine kollektive munity, der ich mich hätte zu-
ten, dass sie schwarz war. Und Verurteilung von Gruppeni- gehörig fühlen können. Das
sie hat sehr, sehr, sehr lange dentitäten. Es gab aber keine erste Mal, dass ich mit einer
gebraucht, bis bei ihr der Gro- Gruppe von Afro-Deutschen Black Community zu tun hat-
schen fiel. Das kann man sich in Heidelberg, für die man ir- te, war, als ich nach dem Abi-
vielleicht kaum vorstellen, aber gendwelche Klischees oder tur in die USA reiste und fest-
das ist das Interessante an der Schubladen hätte öffnen kön- stellte, dass die mich immer als
Hautfarbe: Sie ist etwas Physi- nen, in die man sie steckt – wie einen der ihren betrachteten.
sches, aber am Ende doch auch es sie selbstverständlich gab Das hat mich total irritiert. Ich
etwas sozial Verhandeltes. für griechische oder türkische wusste gar nicht, auf welcher

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Schwarz und Deutsch APuZ

belastbaren gemeinsamen Er- ren Themen mehr. Sie können dung des mir verhassten Be-
fahrungsgrundlage das statt- das Feuilleton komplett mit griffs PoC – People of Co-
fand. Es war aber gleichzeitig postkolonialen Diskussions- lor – erklären. Es geht wirklich
ein toller Einblick, eine tolle themen füllen, ohne dass es be- um die Hautfarbe. Das ist die
Form des Willkommenseins sonders auffiele. Und das war große Linie, die wir in diesem
in einer fremden Communi- anders, als ich 2000 anfing als Diskurs erleben, die Renais-
ty. Aber in Deutschland gab es Redakteur. Da spielte das al- sance der Hautfarbe. Martin
die nicht. les noch kaum eine Rolle. Zu Luther King träumte mal von
Heute gibt es das vielleicht der Zeit war ein großes Thema einer Gesellschaft, in der die
auf der Meta-Reflexionsebene. für mich als Redakteur Litera- Menschen nach ihrem Charak-
Ich habe mehr Leute mit afri- tur mit migrantischem Hinter- ter, nicht nach ihrer Hautfarbe
kanischen Wurzeln im Freun- grund. Da gab es eine irrsinni- beurteilt oder gewürdigt wer-
deskreis. Ich würde sagen, uns ge Fülle und Bandbreite toller den. Und das ist jetzt vorbei.
verbindet nicht die Zugehö- Romane. Und spätestens etwa Das ist Vergangenheit, das gilt
rigkeit zu einer Community, im Jahr 2010 war ein Punkt er- als reaktionär und vorgestrig.
trotzdem können wir uns na- reicht, wo klar war, dass ein Jetzt zählt wieder die Haut-
türlich bestimmte Geschich- gutes Drittel der bedeutenden farbe, und sie allein entschei-
ten gegenseitig erzählen, wie und wichtigen deutschen Ge- det darüber, ob man Rederecht
wir sie anderen nicht erzählen genwartsautoren auf eine Mig- hat und ob man etwas beurtei-
können, die nicht die gleichen rationserfahrung zurückblickt, len oder eine Meinung zu et-
Erfahrungen gemacht haben. von Terézia Mora bis Feridun was beisteuern kann. Das gilt
Es gibt etwas Verbindendes. Zaimoğlu und so weiter. 2017 natürlich umgekehrt auch für
Aber wissen Sie, wenn wir bei- hat schließlich der verdienst- die weiße Hautfarbe, die in der
de uns lange genug unterhal- volle Albert-von-Chamisso- gleichen Weise quasi-religiös
ten, werden wir auch etwas Preis seine Existenz von selbst als das Böse aufgeladen wird,
Verbindendes finden. Mit je- aufgegeben, sich sozusagen wie die schwarze als das Gute.
dem Menschen gibt es irgend- selbst abgeschafft. Der wur- Und insofern gibt es in meiner
etwas Verbindendes, man muss de seit Mitte der 1980er Jahre Perspektive eigentlich keine
nur lange genug suchen, und verliehen an Autoren, deren Kontinuität aus dieser migran-
es ist manchmal spannend und Muttersprache nicht Deutsch tisch-deutschen Literatur der
manchmal weniger spannend. war. Und hier sagte man ir- 2000er Jahre zu den antiras-
Das macht uns noch nicht zu gendwann: Mission accom- sistischen Modediskursen, die
einer Community. Trotzdem plished. Es braucht jetzt kei- wir jetzt erleben. Ich würde
würde ich lügen, wenn ich jetzt ne Förderung mehr. Das ist sie geradezu als gegensätzlich
nicht auch einräumte: Je älter im Mainstream angekommen, empfinden.
ich werde, desto mehr macht es hat sich durchgesetzt. Das
es mir Freude, mehr Leute mit war aber trotzdem, wie man Würden Sie sagen, dass
ähnlicher Sozialisierung im jetzt gerade auch im Rückblick diese „Fetischisierung“, wie Sie es
Freundeskreis zu haben. Es ist sieht, ein ganz anderer Diskurs genannt haben, auch ein Grund
schon so! Warum, das kann ich als der, den wir jetzt führen. dafür ist, warum bei dem Begriff
Ihnen nicht sagen. In den letzten drei Jah- „postkolonial“ die einen schon
ren haben wir die komplet- die Augen verdrehen, während
Sie waren viele Jahre Literatur- te Fetischisierung der Far- die anderen betonen, dass wir
chef bei der Wochenzeitung „Die be Schwarz erlebt. Das heißt, uns nicht genug mit unserer
Zeit“ und arbeiten jetzt dort als das, was noch vor 10 oder vor Kolonialgeschichte auseinander-
kulturpolitischer Korrespondent. 15 Jahren als fortschrittlich, setzen?
Wie präsent sind in Ihrer Arbeit weil migrantisch wahrgenom- – Da würde ich doch gerne
die Themen Kolonialismus und men worden ist, das gilt jetzt differenzieren. Es ist unend-
Rassismus, und hat sich das in als kaum noch der Rede wert, lich viel zu gewinnen, wenn
den letzten Jahren verändert? weil: Schwarz muss die Haut- wir unseren postkolonialen
– Es hat sich total verändert. farbe sein. Nur so kann sich Blick schärfen und uns für
Es gibt ja quasi gar keine ande- die enorme, auratische Aufla- die eigene Kolonialgeschich-

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te interessieren, da ist ganz barkeit der Antworten groß aufeinander zu prallen scheinen
viel Unerzähltes, was span- ist, diese komplette Überra- und es gar nicht mehr weitergeht
nend ist und was wichtig ist schungsfreiheit, mit der jedes in dem Diskurs?
und was natürlich auch zu geschichtliche Erbe in Misskre- – Na ja, ich habe da vielleicht
neuen Werturteilen führt. Das dit gebracht wird, weil es nicht so einen hegelianischen Op-
heißt, per se bin ich sowie- der Moral unserer Gegenwart timismus, dass ich denke, ir-
so immer der Ansicht: Bei al- entspricht, empfinde ich als in- gendwann werden die Leute
lem, was einem ein Mehr an tellektuell steril. Und vor allem doch an der eigenen Langewei-
Erfahrung ermöglicht, da ist mit der ahistorischen Morali- le eingehen. Und das ist ja im-
man auf einem guten Weg. sierung, die den postkolonialen mer so, wenn etwas orthodox
Deswegen finde ich auch das Diskurs fest im Griff hat, kann und dogmatisch wird, wie die
Postkoloniale toll und aufre- ich gar nichts anfangen. Ich Religion, wie der Puritanismus
gend. Viele Länder haben völ- verweigere mich diesen Wert- im 19. Jahrhundert, dann ruft
lig unterschiedliche postkolo- urteilen der woken Gegenwart, das oft eine starke Gegenbewe-
niale Geschichten. Und auch die heute vorherrschend sind, gung hervor, und dann kommt
Deutschland hat eine post- und finde es todlangweilig, ganz sicher die nächste Jugend-
koloniale Geschichte, weil es weil es nicht meinem histori- generation und wird diese Or-
eben auch eine Kolonialge- schen Sinn entspricht. Übri- thodoxie und ihre dogmatische
schichte hat. Es ist gar nicht gens: Allein schon durch den Sterilität zurückweisen und
zu leugnen, dass das Interesse Umstand, dass diese Urteile wieder ganz andere, neue Fra-
und die Aufmerksamkeit da- seit drei Jahren herrschen, ist gen stellen. Und dann wird das
für früher sehr schwach ausge- völlig klar, dass sie in drei Jah- wieder aufgerissen, dann wird
bildet waren. Ich weiß noch, ren schon nicht mehr herrschen es auch wieder lebendiger. Und
mit welchem Erstaunen ich als werden, sondern dann schon ich glaube, so einen Punkt, an
Student in den 90er Jahren den wieder als vorgestrig erschei- dem viele es schon merken,
Roman „V“ von Thomas Pyn- nen und von einer neuen Nor- dass so vieles versteinert ist,
chon las, in dem ein ganz ent- mativität überboten worden den haben wir jetzt erreicht.
scheidender Erzählstrang vom sein werden. Ich kann nicht
Genozid an den Herero han- jede Vergangenheit daran mes- Das Gespräch führte Julia
delt. Und das war mir etwas sen, ob sie den moralischen Er- Günther.
völlig Neues. Als Deutscher wartungen der Gegenwart ent-
mit hohem deutschem Ge- spricht. Dann wird Geschichte
schichtsbewusstsein wusste ich tot und steril, dann braucht
zwar schon, dass wir ein paar man überhaupt nicht nach hin-
Kolonien hatten. Aber wie ten zu blicken, weil die Ge-
dieses Aushungern durch den genwart sich nur noch an sich
General Trotha stattgefunden selbst und ihrer eigenen Moral
hat, davon hatte ich damals berauschen kann. Ein solcher
als 22- oder 23-Jähriger noch Blick auf Geschichte, der inter-
nichts mitbekommen. Ich fand essiert mich nicht. Und deswe-
das sehr bedrückend und fand gen habe ich eine große Skep-
auch da schon: Das muss ei- sis gegenüber breiten Teilen
gentlich weitererzählt werden. des postkolonialen Diskurses.
Ein bisschen später las ich den Aber damit meine ich nicht die IJOMA MANGOLD
tollen Roman „Morenga“ von Auseinandersetzung mit die- ist Autor, Literaturkritiker und
Uwe Timm, der sich desselben sen Gegenständen. Da ist noch kulturpolitischer Korrespondent
Themas in Form eines histori- sehr viel zu leisten. der Wochenzeitung „Die Zeit“.
schen Romans annahm. 2017 veröffentlichte er seine
Ich will nur sagen: Postko- Haben Sie denn eine Idee, Autobiografie „Das deutsche
lonialismus ja – nur dort, wo er wie man aus dieser Sackgasse Krokodil“. Zuletzt erschien von
zu einer modischen Ideologie wieder herauskommt, in der ihm „Der innere Stammtisch: Ein
wird, wo vor allem die Erwart- nur vorgefertigte Denkmuster politisches Tagebuch“.

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Impressum
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Bundeszentrale für politische Bildung
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Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 11. März 2022

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