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71. Jahrgang, 51–52/2021, 20.

Dezember 2021

AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
Fleisch
Gunther Hirschfelder Achim Spiller ∙ Gesa Busch
VOM WOHLSTANDS- WIE TIERE
ZUM KRISENSYMBOL ZU FLEISCH WERDEN
Bernd Ladwig Thorsten Schulten ∙ Johannes Specht
KRITIK AM FLEISCHKONSUM: EIN JAHR ARBEITSSCHUTZ-
MORALISCH ODER KONTROLLGESETZ
MORALISTISCH?
Deborah Williger
Martin Winter SCHÄCHTEN IN DER
FLEISCHKONSUM DEUTSCH-JÜDISCHEN
UND MÄNNLICHKEIT GESCHICHTE

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE


FÜR POLITISCHE BILDUNG
Beilage zur Wochenzeitung
Fleisch
APuZ 51–52/2021
GUNTHER HIRSCHFELDER ACHIM SPILLER · GESA BUSCH
VOM WOHLSTANDS- ZUM KRISENSYMBOL WIE TIERE ZU FLEISCH WERDEN
Fleisch beziehungswiese seine als Nahrungs- Um die rege Diskussion um die Zukunft der
mittel relevanten Hauptbestandteile Protein Tierhaltung und des Fleischkonsums zu verste-
und Fett haben entscheidend zur menschlichen hen, lohnt ein Blick auf die Wertschöpfungskette
Entwicklung und damit zur Herausbildung von der Fleischwirtschaft. Warum ist Fleisch so
Kultur beigetragen. Heute erlebt Fleisch eine billig? Welche Herausforderungen birgt das für
regelrechte Ansehenskrise. eine nachhaltige Fleischerzeugung?
Seite 04–12 Seite 26–35

BERND LADWIG THORSTEN SCHULTEN · JOHANNES SPECHT


KRITIK AM FLEISCHKONSUM: EIN JAHR ARBEITSSCHUTZKONTROLLGESETZ
MORALISCH ODER MORALISTISCH? Lange wurde die deutsche Fleischindustrie mit
Die Deutschen essen durchschnittlich etwa menschenverachtenden Arbeitsverhältnissen
57,3 Kilogramm Fleisch pro Jahr. Der Trend verbunden. Das im Dezember 2020 verabschie-
ist leicht rückläufig, das Niveau aber weiterhin dete Arbeitsschutzkontrollgesetz ist ein erster
hoch. Wie ist dieses Ernährungsverhalten Schritt, um das Geschäftsmodell der Branche
moralisch zu beurteilen? Ist es überhaupt ein grundlegend neu zu ordnen.
zulässiger Gegenstand moralischer Bewertung? Seite 36–41
Seite 13–18
DEBORAH WILLIGER
MARTIN WINTER SCHÄCHTEN IN DER DEUTSCH-JÜDISCHEN
FLEISCHKONSUM UND MÄNNLICHKEIT GESCHICHTE
Geschlecht und mithin Männlichkeit sind ein Fest in der jüdischen Tradition verankert, besitzt
wesentlicher Faktor für Fleischkonsum. Um- der Schächtkultus für Juden identitätsstiftenden
gekehrt spielt Fleischkonsum eine wesentliche Charakter. In Deutschland ist das Schächten
Rolle in der Konstruktion von Männlichkeiten. als Schlachttechnik verboten. Rechtshistorisch
Wo liegen die Ursprünge dieser Verbindung und bedingt stehen sich in der hiesigen Debatte
welchen aktuellen Trends unterliegt sie? Tierschutz und Religionsfreiheit gegenüber.
Seite 20–25 Seite 42–46
EDITORIAL
Weltweit werden jährlich rund 325 Millionen Tonnen Fleisch produziert. Im
Lichte des Bevölkerungswachstums und steigender Einkommen insbesondere
in den Ländern des Globalen Südens hat sich die Nachfrage in den vergangenen
zwei Jahrzehnten mehr als verdoppelt. Als einer der größten Fleischproduzen-
ten und -exporteure profitiert Deutschland von dieser Entwicklung. Zugleich
ist der Fleischkonsum hierzulande rückläufig: Aßen die Deutschen 2010
durchschnittlich 62,4 Kilogramm Fleisch, waren es 2020 noch 57,3 Kilogramm;
immer mehr Menschen ernähren sich vegetarisch oder verzichten ganz auf
tierische Produkte.
In Deutschland hat der kritische Diskurs zum scheinbar selbstverständ-
lichen Grundnahrungsmittel an Breite und Schärfe zugenommen. Neben
gesundheitlichen Aspekten des Fleischkonsums stehen vor allem die Auswir-
kungen der industriellen Fleischproduktion auf Tierwohl, Klima und Arten-
vielfalt im Mittelpunkt. Spätestens seit den massiven Corona-Ausbrüchen in
einigen großen Fleischbetrieben 2020 sind auch die prekären Arbeitsbedingun-
gen in der Branche, die – ganz untypisch für „Made in Germany“ – seit den
1990er Jahren auf möglichst geringe Produktionskosten setzt, in das öffentli-
che Bewusstsein gerückt.
Der tatsächliche Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit in der Fleischwirtschaft
erweist sich jedoch als zäh. Während mit dem im Dezember 2020 verabschie-
deten Arbeitsschutzkontrollgesetz, das unter anderem Werkverträge und
Leiharbeit in der Schlachtung, Zerlegung und Fleischverarbeitung verbietet, die
Grundlage für eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen geschaffen
wurde, steht in der Agrarpolitik die Umsetzung jahrelang diskutierter Vorhaben
wie ein staatliches Tierschutzlabel für Fleischprodukte weiter aus.

Anne-Sophie Friedel

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APuZ 51–52/2021

VOM WOHLSTANDS- ZUM KRISENSYMBOL


Eine Kulturgeschichte des Nahrungsmittels Fleisch
Gunther Hirschfelder

Wer sich zu Beginn der 2020er Jahre mit dem The- Der Mensch muss essen, aber er befriedigt seinen
ma Fleisch beschäftigt, ist irritiert. Auf der einen Hunger primär mit erlernten und tradierten, von
Seite ist breite Ablehnung allgegenwärtig: Im öf- der ihn umgebenden Gesellschaft gemeinhin ak-
fentlichen Raum und in den Medien ebenso wie in zeptierten Methoden. Diese wiederum sind kaum
der Politik werden Fleischproduktion und -kon- statisch, sondern stetem Wandel unterworfen.
sum als ökologisches und moralisches Problem Wenn Menschen über ihre Ernährung nach-
diskutiert, und Bekenntnisse zum Fleischverzicht denken oder die nächste Mahlzeit planen, spie-
gelten als Zeichen von Integrität – man gewinnt len oft rationale Erwägungen eine Rolle: Fakto-
beinahe den Eindruck, niemand äße mehr Fleisch. ren wie Geschmack und Preis, die enthaltenen
Wer hingegen Werbeprospekte studiert, durch die Nährstoffe oder auch gewünschte Wirkungen auf
Innenstädte streift, in Autobahnrasthöfen ein- den Körper sind dominant, denn über Ernährung
kehrt oder einen Supermarkt besucht, sieht über- wird kognitiv reflektiert. Das Essen wiederum ist
all Fleisch und Wurst. In der Tat ist der Fleisch- ein hochemotionaler Akt: Essen befriedigt Lust,
konsum in Deutschland in den vergangenen Jahren stiftet Geborgenheit und Sicherheit, weckt posi-
nur marginal zurückgegangen, er verharrt fast auf tive Erinnerung. Wer auf dem Weg zur Kantine
einem markant hohen Niveau: Von gut 60 Kilo- vorhat, den Salatteller zu wählen, mag sich an der
gramm pro Kopf und Jahr in der Mitte der 2010er Ausgabetheke kurzfristig anders entscheiden und
Jahre ist er auf knapp 57 Kilogramm im Jahr 2020 zur deftigen Fleischmahlzeit greifen. Ebenso wie
gesunken.01 Wer den Widerspruch zwischen ge- beim Einkauf im Geschäft schlägt das Gefühl die
sellschaftlicher (Selbst-)Wahrnehmung und realem Vernunft. Bei Fleischprodukten ist diese Versu-
Konsumverhalten verstehen will, muss die Aus- chung offenbar besonders groß, denn noch bis ins
gangslage der Ernährung in den Blick nehmen, letzte Drittel des 20. Jahrhunderts hinein stand es
aber auch in die Geschichte zurückblicken.02 für Wohlstand, Gesundheit und gutes Leben.
Zur Aufrechterhaltung des Stoffwechsels be- Fleisch erlebt heute eine regelrechte Anse-
nötigen Menschen wie alle Säugetiere Proteine, henskrise. Fleisch beziehungsweise seine an die-
Fette und Kohlenhydrate als Energiespender so- ser Stelle relevanten Hauptbestandteile Protein
wie Bausteine zur Erneuerung von Zellen. Für und Fett haben jedoch entscheidend zur mensch-
Menschen stellt die Aufnahme von Nahrung aber lichen Entwicklung und damit letztlich zur He-
mehr als nur die Aufrechterhaltung des Stoff- rausbildung von Kultur beigetragen. Diesen Wer-
wechsels dar, denn Essen ist vor allem auch ein degang werde ich im Folgenden skizzieren. Denn
kultureller Akt. Die Ernährung kann als sozia- in der geschichtlichen Betrachtung liegt nicht zu-
les Totalphänomen begriffen werden. Damit ge- letzt die Antwort auf die Frage, warum wir nicht
hen verschiedenste gesellschaftliche und kulturel- vom Fleisch lassen können04 und es vielleicht nie
le Wertigkeiten einher, und Ernährung ist „immer werden.05
auch als Symbolkonsum, als Spielart der mensch-
lichen Selbstausstattung mit Bedeutungen und ACHILLESFERSE DER FRÜHEN
damit auch als Verfahren der sozialen Selbstver- MENSCHLICHEN ERNÄHRUNG
ortung“ zu sehen.03 Daher lässt sich Esskultur,
in diesem Fall gewissermaßen Fleischkonsum- Die Entwicklung der Menschheit setzte vor über
kultur, als Bindeglied zwischen dem physiologi- drei Millionen Jahren ein und verlief proportio-
schen Bedürfnis – dem Hunger – und seiner Be- nal zur Fähigkeit der anfangs schmächtigen Früh-
friedigung – der Nahrungsaufnahme – begreifen: menschen, sich Protein- und Fettquellen zu er-

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Fleisch APuZ

schließen. Erst mit deren besserer Verfügbarkeit und starb aus. Fleischkonsum war elementar, aber
wuchs das Gehirn. So hatte etwa „Lucy“, jener eben nicht alles – die besseren sozialen Fähigkei-
Frühmensch der Gattung Australopithecus afa- ten des Homo sapiens stellten den entscheiden-
rensis, dessen etwa 3,2 Millionen Jahre alte Über- den Vorteil dar.08
reste 1974 in Äthiopien gefunden wurden, ein Das Leben der Frühmenschen war beschwer-
Hirnvolumen, das mit 400 bis 560 Kubikzentime- lich und stets gefährdet, denn das Jagdglück
tern nur ein Drittel unseres heutigen12345 umfasst06 – schwankte und der Fleischkonsum war risiko-
wohl nicht zuletzt deshalb, weil Lucy zwar sam- behaftet. Einen Wendepunkt brachte die Entde-
meln, aber noch nicht jagen konnte. Erst vor ckung der Feuerbereitung vor etwa einer Million
etwa 2,5 Millionen Jahren gelang es unserem di- Jahren. Fleisch konnte nun gegart werden, wurde
rekten Vorfahren, dem Homo erectus, sich mit also leichter verdaulich und sicherer, verringerte
dem Fleisch jagd- und fangbarer Tiere – inklusive sich dadurch doch das Risiko parasitären Faden-
Reptilien, Insekten, Fischen und Muscheln – wei- wurmbefalls (Trichinellose).09
tere Nahrungsquellen zu erschließen, sodass sich Vor etwa 12 000 Jahren wurden im Vorderen
das Hirnvolumen mehr als verdoppeln konnte.07 Orient aus den Jäger- und Sammler- allmählich
Fleischkonsum und Menschheitsentwicklung er- Ackerbauer- und Viehzüchtergesellschaften. Die-
scheinen vor diesem Hintergrund eng verzahnt. ser Prozess ist als „Neolithische Revolution“ be-
Der Homo erectus entwickelte sich in meh- kannt und vollzog sich in Europa rund fünf Jahr-
reren Linien weiter, aus denen der Homo sapiens tausende später.10 Die Fleischversorgung wurde
und der Homo neanderthalensis hervorgingen. deutlich stabiler, denn die inzwischen sesshaften
Beide lebten parallel, beide waren exzellente Jä- Menschen begannen, Wildtiere zu domestizie-
ger und hatten genügend Fleisch zur Verfügung. ren: Ziegen, Schafe, Rinder, Schweine und Geflü-
Gleichwohl unterlag der Neandertaler langfristig gel wurden zu Nutztieren, die man aufzog und
pflegte, um sie bei Bedarf zu töten und zu essen.
01 Vgl. Bundesinformationszentrum Landwirtschaft, Geflügel,
Fleisch wurde nun komplexer zubereitet, gerös-
9. 7. 2021, www.landwirtschaft.de/landwirtschaftliche-​produkte/ tet, gebraten, gedämpft oder gekocht, aber auch
wie-​werden-​unsere-​lebensmittel-​erzeugt/tierische-​produkte/ trocken zerkleinert und mit Fett vermischt. Mit
gefluegelfleisch. Dabei dürfte dieses Absinken vor allem dem dem stabileren Zugriff auf Fleisch ging ein deutli-
Rückgang des Außerhausverzehrs infolge der Corona-Pandemie
ches Bevölkerungswachstum einher.11
geschuldet sein.
02 Vgl. Gunther Hirschfelder/Lars Winterberg, Fleisch als
Kulturgut: Traditionen und Dynamiken, in: Ernährung im Fo- ANTIKE
kus 1/2020, S. 28–33.
03 Timo Heimerdinger, Schmackhafte Symbole und alltägliche Ab etwa 4000 v. Chr. entstanden aus den Ackerbau-
Notwendigkeit. Zu Stand und Perspektiven der volkskundlichen
kulturen am Nil und im Zweistromland allmäh-
Nahrungsforschung, in: Zeitschrift für Volkskunde 101/2005,
S. 205–218, hier S. 207.
lich Hochkulturen mit Schriftlichkeit, komplexen
04 Vgl. Manuel Trummer, Die kulturellen Schranken des Religionen und ausdifferenzierter Viehhaltung.
Gewissens – Fleischkonsum zwischen Tradition, Lebensstil und Die Landwirtschaft wie parallel auch die Techni-
Ernährungswissen, in: Gunther Hirschfelder et al. (Hrsg.), Was ken in den Bereichen Fischfang und Jagd – etwa
der Mensch essen darf. Ökonomischer Zwang, ökologisches
auf Zug- und Singvögel – waren effektiver gewor-
Gewissen und globale Konflikte, Wiesbaden 2015, S. 63–82.
05 Vgl. Gunther Hirschfelder/Manuel Trummer, Essen und
Trinken, 26. 6. 2013, http://ieg-​ego.eu/de/threads/hintergru- 08 Vgl. Rüdiger Wehner/Walter Gehring (Hrsg.), Zoologie,
ende/essen-​und-​trinken/gunther-​hirschfelder-​manuel-​trummer-​ Stuttgart 2007, S. 664.
essen-​und-​trinken; Neil Mann, Meat in the Human Diet: An 09 Vgl. Francesco Berna et al., Microstratigraphic Evidence
Anthropological Perspective, in: Nutrition & Dietetics 64/2007, of in situ Fire in the Acheulean Strata of Wonderwerk Cave,
S. 102–107; Donald Johanson/Edgar Blake, Lucy und ihre Northern Cape Province, South Africa, in: Proceedings of the
Kinder, München 2006; Gunther Hirschfelder, Fleischkonsum, National Academy of Sciences of the United States of America
in: Enzyklopädie der Neuzeit 3, Stuttgart–Weimar 2006, 109/2012, E1215–E1220.
Sp. 1015–1018; ders., Europäische Esskultur. Geschichte der 10 Vgl. Hansjürgen Müller-Beck, Die Steinzeit: Der Weg der
Ernährung von der Steinzeit bis heute, Frank­furt/M.–New York Menschen in die Geschichte, München 2004.
2005; Hans-Jürgen Teuteberg, Der Fleischverzehr in Deutsch- 11 Vgl. Gunther Hirschfelder, Nahrungsfette und Proteine –
land und seine strukturellen Veränderungen, in: ders. (Hrsg.), Zentrale Bausteine der Ernährung im Spannungsfeld von Kultur
Unsere tägliche Kost, Münster 1986, S. 63–74. und Physiologie, in: Dr. Rainer Wild-Stiftung (Hrsg.), Zucker –
06 Vgl. Mann (Anm. 5); Johanson/Blake (Anm. 5), S. 21. Fette – Proteine. Makronährstoffe im interdisziplinären Diskurs,
07 Vgl. Mann (Anm. 5). Heidelberg 2021, S. 160–193, hier S. 169 f.

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den,12 und vor allem wurden Nutztiere, insbeson- sum war prestigeträchtig, aber viel Fleisch zu es-
dere Rinder, planmäßig gezüchtet.13 sen, blieb Privileg der Oberschicht, während die
Für die klassische Antike lassen sich die Ver- Arbeiter auf den Landgütern und vor allem Skla-
hältnisse genauer rekonstruieren, und es wird ven sich mit geringen Mengen von deutlich unter
deutlich, wie sehr die entwickelten Gesellschaf- 20 Kilogramm pro Kopf und Jahr begnügen muss-
ten kämpfen mussten, um den Fleischbedarf zu ten.16 Die Reichen aßen gerne Schweinefleisch, wo-
decken. Auch lässt sich das außerordentlich hohe hingegen archäologische Funde darauf hindeuten,
Ansehen, das Fleisch genoss, klarer fassen. Weit dass in den Armenvierteln eher Rinder geschlach-
verbreitet waren rituelle Schlachtungen, bei denen tet wurden, die ein langes Arbeitsleben hinter sich
das Tier den Göttern geopfert wurde. Symbolisch hatten und deren Fleisch zäh war. Römische Sol-
wurde das Fleisch mit den Göttern geteilt und erst daten hatten deutlich mehr Zugriff auf Fleisch, was
dann verspeist – ein klares Indiz dafür, dass Fleisch die Attraktivität des Militärs fraglos erhöhte.
auf der Wertigkeitsskala ganz oben stand. Freilich Grundsätzlich besser war die Fleischversor-
blieb der Speisezettel der breiten Bevölkerung vor- gung nördlich der Alpen. Das Land war dünn be-
nehmlich pflanzlich geprägt, und es ist von einem siedelt, und Viehhaltung war hier effizienter als
Fleischkonsum von deutlich unter 20 Kilogramm der arbeitsintensive Getreideanbau. Während der
pro Kopf und Jahr auszugehen. Kulturmuster tra- Lebensstandard insgesamt deutlich niedriger blieb
ten zutage, die für die meisten vorindustriellen als im mediterranen Raum, können wir von einem
Gesellschaften charakteristisch sind: Das Fleisch signifikant höheren Fleischverbrauch ausgehen.
stammte oft von älteren Nutztieren. Es wurde, Weiderinder oder Schweine, die in kleinen Her-
wenn möglich, gekocht, denn die Mangelgesell- den in die Wälder getrieben wurden, um Kasta-
schaften konnten es sich kaum leisten, Fett durch nien, Eicheln oder Bucheckern zu fressen, kamen
das Braten auf dem Rost zu vergeuden. reichlich auf den Tisch der keltischen und germa-
In der griechischen Antike des ersten vor- nischen Bevölkerung oder auch der neuen römi-
christlichen Jahrtausends spielte Schweinefleisch, schen Machthaber. Das reichere Vorhandensein
das sich durch seinen hohen Fettanteil besonders von Holz ermöglichte das Garen über Feuer. Im
gut zum Konservieren durch Pökeln und für die römischen Germanien war die Küche daher deut-
Wurstherstellung eignet, eine bedeutende Rolle. lich fleischlastiger und deftiger als im Süden, aber
Während Ferkel als besondere Delikatesse galten, wohl schwächer gewürzt und weniger fi ­ ligran.17
standen Rind, Ochse und Kalb seltener auf dem
Speiseplan. Grundsätzlich wurde das ganze Tier MITTELALTER
verwertet: Es gab viele Gerichte, die auf Innerei-
en basierten, und Schnauzen, Nasenscheidewän- Ab dem 4. nachchristlichen Jahrhundert begann
de oder Bindegewebsfetzen wurden zu Würsten der Niedergang des Imperium Romanum. Immer
verarbeitet.14 wieder fielen germanische Kampfverbände aus
Ab dem ersten vorchristlichen Jahrtausend dem Norden ein, denn in Skandinavien und im
breitete sich das Imperium Romanum über die östlichen Europa hatten sich die Bedingungen für
Apenninenhalbinsel hinaus aus. Bald herrschte die Landwirtschaft durch das einsetzende mittel-
Rom über die mediterrane Welt und expandierte alterliche Klimapessimum massiv verschlechtert.18
in den nördlich der Alpen gelegenen Raum. Die- Während die römische Infrastruktur nördlich der
ser militärische Erfolg basierte nicht zuletzt auf ei- Alpen erodierte, stieg der Fleischverbrauch. Doch
ner Effizienzsteigerung der Landwirtschaft: Ge- freilich konnte auch die Tierhaltung kaum eine
biete mit hohen Getreideerträgen wie Sizilien oder stabile Versorgung gewährleisten – Seuchen, harte
Ägypten wurden dem Reich strategisch einver- Winter, Konflikte oder auch Bär und Wolf stellten
leibt, die Landwirtschaft wurde straff organisiert permanente Bedrohungen dar.19
und das Tier als Nutztier begriffen.15 Fleischkon-
16 Vgl. ders./Winterberg (Anm. 2), S. 30.
17 Vgl. ebd.; Hirschfelder (Anm. 11), S. 173.
12 Vgl. Jürgen Bär, Frühe Hochkulturen an Euphrat und Tigris, 18 Vgl. Kyle Harper, Climate, Disease and the Fate of Rome,
Darmstadt 2009. Princeton 2017; Rüdiger Glaser, Klimageschichte Mitteleuropas:
13 Vgl. Hirschfelder (Anm. 11), S. 170. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2013,
14 Vgl. ders./Winterberg (Anm. 2), S. 29. S. 59 ff.
15 Vgl. Hirschfelder (Anm. 11), S. 171 ff. 19 Vgl. Hirschfelder (Anm. 11), S. 173.

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Fleisch APuZ

Aus dieser Zeit ist die „Lex Salica“ erhalten,


eine Gesetzessammlung, die zwischen 507 und
511 n. Chr. auf Anordnung des Merowingerkönigs
Chlodwig verfasst wurde und umfangreiche Be-
stimmungen zur Schweinezucht nennt. Wie vom
oströmischen Arzt Anthimus (ca. 450–530 n. Chr.)
überliefert ist, war Schweinespeck die Leibspeise
der Franken. Er berichtete, besonderer Beliebtheit
erfreue sich gekochter Schinken, und roher Speck
gehöre zu den wichtigsten Heilmitteln.20
Der kulturelle Umgang mit Fleisch wurde in
der Folgezeit stark durch die Christianisierung
beeinflusst. In den verbindlichen Fastenzeiten –
an Freitagen und jeweils 40 Tage vor Ostern und
Weihnachten – durfte kein Fleisch gegessen wer-
den, und Fisch aus der nun expandierenden Teich-
wirtschaft sowie aus der Binnen- und Seefischerei
gewann an Bedeutung. Dafür litten jene, denen
aus strukturellen oder ökonomischen Gründen
kein Fisch zur Verfügung stand, nun unter pha- Schweineschlachtung im Mittelalter, Illustration aus
senweisem Proteindefizit.21 der Handreichung für eine gesunde Lebensführung
Die massiven Schwankungen in der Lebens- „Tacuinum sanitatis“, 14. Jahrhundert.
Quelle: Wikimedia Commons
mittelversorgung gingen mit dem beginnenden
Klimaoptimum ab Mitte des 10. Jahrhunderts zu-
rück. Die Ernteerträge wurden stabiler, und es
wurde immer mehr Getreide gegessen, während Das bedeutete für viele zunächst Hunger und Un-
der Fleischanteil drastisch sank. Insbesondere au- terversorgung. Mittelfristig verbesserte sich die Bo-
ßerhalb der wohlhabenderen Städte herrschte je- den-Mensch-Relation aber, und nun weitete sich
doch Mangel, sogar in den Klöstern. Was rar ist, die Viehhaltung wieder auf Kosten des Getreidean-
erscheint besonders begehrenswert, und so gal- baus aus. Vor allem im Norden und am Alpenrand
ten große Fleischportionen beim Adel als Zei- wurden immer mehr Rinder, aber auch Schweine,
chen hohen gesellschaftlichen Ranges. Vor allem Schafe und Ziegen gehalten, und die Fleischversor-
die Mahlzeiten der Wohlhabenden dürften aus gung wuchs so stark, dass der Verzehr von Fleisch
großen Mengen an einfach zubereitetem Fleisch pro Kopf und Jahr nördlich der Alpen temporär
bestanden haben, während die ländliche Bevöl- wahrscheinlich auf bis zu 100 Kilogramm anstieg
kerung einmal mehr von gravierenden Fett- und – Fleisch gab es im Überfluss.24 Im Einzugsgebiet
Proteindefiziten betroffen war.22 der Ostsee war Butter so reich verfügbar, dass sie
In der Mitte des 13. Jahrhunderts hatte das Kli- kaum mehr Ansehen genoss und als Bauernspeise
maoptimum seinen Zenit überschritten, und die galt, während sich die europäische bürgerliche Kü-
merkliche Abkühlung führte in den Jahren nach che auf Speck und Schmalz fokussierte.25
1315 zu einer dramatischen Hungersnot. Bald da-
rauf traf die „Schwarzer Tod“ genannte Pestepide- FRÜHE NEUZEIT
mie Europa mit voller Wucht und kostete mindes-
tens einem Drittel der Bevölkerung das Leben.23 Die Erfindung des modernen Buchdrucks 1453,
die „Entdeckung“ Amerikas 1492 und die 1517
20 Vgl. ders. (Anm. 5). beginnende Reformation markierten nicht nur
21 Vgl. ders. (Anm. 11), S. 174.
22 Vgl. Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Klimas: Von
der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2007, S. 112. 24 Vgl. Hans-Jürgen Teuteberg/Günter Wiegelmann, Nah-
23 Vgl. Manfred Vasold, Die Ausbreitung des Schwarzen Todes rungsgewohnheiten in der Industrialisierung des 19. Jahrhun-
in Deutschland nach 1348: Zugleich ein Beitrag zur deutschen derts, Münster 1995, S. 99 f.
Bevölkerungsgeschichte, in: Historische Zeitschrift Bd. 277/2003, 25 Vgl. Birgit Pelzer-Reith, Fettkonsum, in: Enzyklopädie der
S. 281–301. Neuzeit 3, Stuttgart–Weimar 2006, Sp. 965–971.

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Stillleben mit Fleisch und der Heiligen Familie, Öl auf Tafel, Pieter Aertsen, 1551.
Quelle: Wikimedia Commons

das Ende des Mittelalters,26 alle drei Prozesse des Agrarsektors auf Großbetriebe vor allem öst-
wirkten sich auch nachhaltig auf Fleischproduk- lich der Elbe eine entrechtete und mittellose Kas-
tion und -konsum aus. Im Zuge des columbian te von Landarbeitern entstehen, deren eiweiß-
exchange gelangten aus der „Neuen Welt“ Mais arme Kost in krassem Widerspruch zu jener der
und Kartoffel nach Europa und damit hocheffizi- begüterten Grundherren stand.28
ente Futtermittel für eine ertragreichere Viehhal- Vor diesem Hintergrund wurde die fleisch-
tung. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts reiche Ernährung von einer stark getreideba-
verschlechterten sich die klimatischen Bedingun- sierten Lebensweise abgelöst. Der Fleisch-pro-
gen jedoch rapide, sodass die Agrarerträge sanken Kopf-Verzehr sank im Verlauf der Frühneuzeit
und die Viehbestände abnahmen.27 Die konfessi- von etwa 100 auf unter 16 Kilogramm jährlich.29
onellen Spannungen, die im Zuge der Reformati- Die tatsächlich konsumierte Menge war dabei in
on auftraten, entluden sich 1618 mit Beginn des hohem Maß von sozialen Zugehörigkeiten, etwa
Dreißigjährigen Kriegs, dessen Verwüstungen dem jeweiligen Stand, sowie räumlicher und zeit-
eine Dezimierung des Viehbestands und massive licher Verortung, also von der Wohnsituation
Preissteigerungen zur Folge hatte – Fleisch wurde auf dem Land oder in der Stadt und der jewei-
knapp und teuer. Zudem ließ die Konzentration ligen Konjunktur abhängig. Für den Konsum
wie auch für das kulinarische System hatte dieser
Rückgang weitreichende Folgen: Das Ansehen
26 Vgl. Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt: des Fleisches blieb groß, die Knappheit mach-
Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015,
te es zusätzlich begehrlich, und ausgeprägt war
München 2016.
27 Vgl. Behringer (Anm. 22); Dominik Collet, Die doppelte
Katastrophe: Klima und Kultur in der europäischen Hungerkrise 28 Vgl. Hirschfelder/Trummer (Anm. 5).
1770–1772, Göttingen 2019. 29 Vgl. Teuteberg/Wiegelmann (Anm. 24), S. 99.

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Fleisch APuZ

der Wunsch, es weiterhin in die Mahlzeitensyste- Die Entwicklung von Fleisch zum Massen-
me einzubinden. Daher entwickelten sich zuneh- produkt trug in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
mend Gerichte, bei denen der Fleisch­anteil varia- hunderts zu einem starken Bevölkerungsanstieg
bel gesteuert werden konnte, die also mit weniger bei. Zugleich basierte die Industrialisierung auf
Fleisch auskamen. Es deutet einiges darauf hin, der Ausbeutung fossiler Ressourcen, die nicht
dass Traditionsgerichte wie Maultaschen, Kohl- ge-, sondern verbraucht werden und damit un-
rouladen, Grützwurst, Saumagen oder – im Be- wiederbringlich verloren gehen.33 Den Zeitge-
reich der jüdischen Esskultur – Matzeklöße in nossen waren diese Gefahren nicht bewusst. Die
diesem Kontext entstanden. Die defizitäre Prote- Angst vor Hunger blieb lange größer als die Sorge
inversorgung wirkte sich tendenziell negativ auf um die zerstörerische Macht des Wohlstands, und
Gesundheitszustand und Körpergröße der Mit- man freute sich über das preisgünstige und leicht
teleuropäer aus.30 Das hatte nicht zuletzt zur Fol- zu verarbeitende Schweinefleisch. Würste und
ge, dass Übergewicht als Schönheitsideal galt, ein Würstchen, Frikadellen, Bouletten und Braten,
schlanker Körper hingegen mit Hunger und Ar- Schnitzel und Kotelett – die aufstrebende Gas­
mut assoziiert wurde. tro­no­mie, die Deutschland als dichtes Netz über-
zog und zum Treffpunkt vieler sozialer Gruppen
INDUSTRIEZEITALTER wurde, hatte all das im Angebot.
Ein erster durchschlagender Erfolg in Sachen
In den Jahren um 1800 wurde mit dem Über- bürgerlicher Küche war Henriette Davidis be-
gang zum Industriezeitalter die Talsohle der schieden, die 1845 jenes Kochbuch herausgab,
mitteleuropäischen Fleischversorgung durch- das ab der dritten Auflage als „Praktisches Koch-
schritten. Diese Tatsache trägt ihren Teil Verant- buch für die gewöhnliche und feine Küche“ fir-
wortung dafür, dass man die Frühzeit der Indus- mierte. Bürgerliche Kochbücher avancierten im
trialisierung auch als Zeitalter des Pauperismus 19. Jahrhundert bald zum beliebten Hochzeitsge-
bezeichnet. Ab etwa 1830 stieg der Fleischver- schenk und machen deutlich, wie stark die tägli-
brauch wieder kontinuierlich und erreichte um che Ernährung der Epoche auf Fleisch ausgelegt
1900 etwa 50 Kilogramm pro Kopf und Jahr.31 war. Außer freitags, wenn in katholischen Gebie-
Die Gründe lagen in der langen Friedenszeit ten Fisch gegessen wurde, stand jeden Tag Fleisch
nach dem Wiener Kongress 1815, dem stark be- auf dem Speiseplan – gerade auch in vielen Ar-
schleunigten wissenschaftlichen Fortschritt und beiter- und Bauernhaushalten. Speck, Schinken
in den Folgen der Industrialisierung. Gerade und Würste aus Schweinefleisch werden beson-
jene, die aus den armen Mittelgebirgsregionen ders häufig erwähnt. Für den obligatorischen
im Westen des Deutschen Bundes, aus Schlesien Sonntagsbraten favorisierte man Rind- und Kalb-
oder dem östlichen Preußen in die rasch wach- fleisch, zunehmend auch Huhn. Eine Analyse
senden Industriezentren des Ruhrgebiets und dieser Kochbücher zeigt, dass Menschen, die ihre
Sachsens zogen, wurden nicht zuletzt auch von Nahrung vorher selbst angebaut hatten, jetzt vie-
dem Nahrungsmittel angezogen, das sie lange le Produkte zukaufen mussten und sich immer
sehnlich vermisst hatten und nun billig haben weiter von der Lebensmittelerzeugung entfrem-
konnten: Fleisch. Von dessen enormem gesell- deten. Fleisch wurde zunehmend als ein vom Tier
schaftlichen Stellenwert zeugen die kunstvolle losgelöstes Produkt ­wahrgenommen.34
Architektur der neuen industriellen Schlachthö- Bei vielen Alten, kinderreichen Familien oder
fe, die an zentralen Stellen im Stadtbild errichtet einkommensschwachen Arbeitern kam auch
wurden, als Symbole von Fortschritt und gutem während der Hochkonjunktur des Kaiserreichs
Leben an Knotenpunkten zwischen Peripherie oft nur einmal pro Woche Fleisch auf den Tisch,
und ­Innenstadt.32 sodass dessen Konsum ein markanter Indikator
für Wohlstand blieb. Die Nachfrage nach tieri-
schen Produkten stieg permanent, das Angebot
30 Vgl. Frank Sirocko (Hrsg.), Wetter, Klima, Menschheitsent- konnte aber kaum mithalten. Vor allem die But-
wicklung: Von der Eiszeit bis ins 21. Jahrhundert, Darmstadt
terherstellung verharrte auf niedrigem Niveau. In
2009.
31 Vgl Hirschfelder/Winterberg (Anm. 2), S. 31.
32 Vgl. Christian Kassung, Fleisch. Die Geschichte einer 33 Vgl. Hirschfelder (Anm. 11), S. 177.
Industrialisierung, Paderborn 2020. 34 Vgl. ders./Winterberg (Anm. 2), S. 31.

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Arbeitsteilig organisierter Schlachthof in Cincinnati, Postkarte, 1873.


Quelle: Library of Congress

Frankreich wurde nach langwierigen Forschun- zent zurück, und es ist davon auszugehen, dass
gen eine neuartige Kunstbutter entwickelt: 1869 sich vor allem die vielen Verarmten, Witwen und
gelang es dem Chemiker Hippolyte Mège-Mou- mittellosen Alten kaum mehr Fleischprodukte
riès, eine Substanz zu entwickeln, die aussah wie leisten konnten – ein schmerzlicher und vor allem
Butter, aber überwiegend pflanzlich war; nur ein für jene harter kultureller Bruch, die in den Frie-
wenig Nierenfett, Lab und zerstoßene Kuheu- densjahren volle Teller genossen hatten.36 Auch
ter waren enthalten. Ebenso wie Fleisch und Fett in der Weimarer Republik blieb die Fleischkon-
stand diese Margarine für Wohlstand und Ge- sumschere weit geöffnet: Hohe Arbeitslosigkeit,
sundheit, denn viele litten unter Kalorienunter- die Hyperinflation 1923 und die Weltwirtschafts-
versorgung. So warb in den USA der Hersteller krise 1929 sorgten dafür, dass Fleisch für breite
eines Tonikums zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bevölkerungsschichten beinahe unerschwinglich
noch damit, dass sein Mittel und die zugehörigen wurde.37
Nahrungsmittel seine Konsumenten „fat“ mache. Mit der Machtübernahme der Nationalsozia-
Fett war dabei positiv besetzt und klar mit Ge- listen ging auch ein Paradigmenwechsel hinsicht-
sundheit assoziiert.35 lich des Fleischkonsums einher: Zwar propagierte
die Ideologie schmale und fleischarme Kost, aber
20. JAHRHUNDERT man suchte sich das Wohlwollen der Volksge-
meinschaft zu erkaufen, indem man für eine mög-
Während des Ersten Weltkriegs, der Mangel, lichst gute Fleischversorgung sorgte – allerdings
Hunger und Teuerung mit sich brachte, wurde nur für jene, die man dieser „Volksgemeinschaft“
die Fleischversorgung strukturell entdemokrati-
siert. Der Fleischkonsum ging um etwa 80 Pro- 36 Vgl. Eckart Ehlers, Das Anthropozän. Die Erde im Zeitalter
des Menschen, Darmstadt 2008, S. 230 ff.
35 Vgl. Hirschfelder (Anm. 11), S. 179 f. 37 Vgl. Hirschfelder (Anm. 11), S. 181.

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Fleisch APuZ

zurechnete. Zunächst führten Berufsverbote, te: Fleisch war nicht nur preiswert, sondern bil-
Ausschluss von Schulbesuch und -speisungen so- lig geworden, und das Grillen stand jedem offen.
wie erste Inhaftierungswellen dazu, dass immer Zugleich ging vom Grillen die Faszination des
mehr Menschen ihren Fleischkonsum stark redu- Elementaren aus: Rohes Fleisch und offenes Feu-
zieren mussten. Dagegen stiegen die Gesamtkon- er lassen sich vor diesem Hintergrund als Reflex
sumzahlen im Deutschen Reich. Der Überfall auf auf eine technisch überformte und von der Natur
Polen 1939 setzte eine ganz neue Entwicklung in entfremdete urbane Gesellschaft lesen.
Gang: Während des Zweiten Weltkriegs wurden Vom einst raren Prestigeprodukt war Fleisch
die von den Deutschen unterworfenen Länder zur Massenware geworden, die bereitwillig
systematisch ausgeplündert, sodass der Fleisch- nachgefragt wurde. Der wachsende Out-of-
konsum der betroffenen Bevölkerungen sich home-Konsum, der seinerzeit auf Fleischpro-
massiv reduzierte. Hunger und Fleischentzug dukten wie Hamburger, Wurst und Döner ba-
wurden zu systematisch eingesetzten Unterwer- sierte, die Entchronologisierung der Essalltage
fungs- und Demütigungsinstrumenten, gerade sowie die ständige Verfügbarkeit beschleunig-
auch in den Konzentrationslagern und gegenüber ten diese Prozesse. Mit dem zunehmenden und
den so­wje­tischen Kriegsgefangenen.38 oft übermäßigen Verzehr von Fett und Proteinen
In der Schlussphase des Kriegs und während wurde die Ernährung als wesentlicher Grund für
der Übergangsperiode zur Neuordnung Europas das Massenphänomen Übergewicht zugleich aus
bis in die Zeit um 1950 herrschte in weiten Teilen gesundheitlicher Sicht problematisch – und mit
Europas dramatische Mangelernährung.39 Durch ihr der Fleischverzehr.4141
das Hungertrauma kam es in den Jahren des Auf- Die Jahre um 1970 leiteten einen erneuten Pa-
schwungs zu einem weitverbreiteten Heißhun- radigmenwechsel ein. Die Umwälzungen im Rah-
ger auf Fleisch, der eine ganze Generation prägen men der Studentenunruhen 1968 führten dazu,
sollte – nicht zufällig wurde für die 1950er Jahre dass Kultur und Alltag stärker in ihren Umwelt-
der Topos von der „Fresswelle“ bemüht. In der bezügen reflektiert wurden, und auch die Wissen-
Bundesrepublik nahm der Konsum von Schwei- schaften fokussierten zunehmend auf dieses The-
nefleisch zwischen 1950 und 1960 von 19 auf bei- ma – die Publikation des Club of Rome über die
nahe 30 Kilogramm pro Kopf und Jahr zu, der „Grenzen des Wachstums“ 1972 war Meilenstein
Eierverbrauch stieg von 7,4 auf 13,1 Kilogramm und Initialzündung zugleich. Die Erkenntnis
und der Verbrauch von Geflügelfleisch verdrei- brach sich Bahn, dass globale Ökosysteme fragil
fachte sich sogar.40 Ab den 1960er Jahren kam es und eine Abkehr von dominanten Wirtschafts-
daher zu einer Protein- und Fettüberversorgung. und Konsumweisen erforderlich sind.424243 Aus der
In dieser Dekade stieg der Fleischkonsum auf außerparlamentarischen Ökologiebewegung ging
über 60 Kilogramm pro Kopf und Jahr und pen- 1980 die Partei Die Grünen hervor. Der Umgang
delt seitdem bei etwa plus/minus drei Kilogramm mit Nutztieren und Fleisch wurde zu einem im-
auf diesem Plateau. Eine ähnliche Entwicklung mer wichtigeren Thema, und ab den 1980er Jah-
verzeichnete die DDR. ren rückte die fundamentale Kritik am Fleisch-
Mit dem Übergang zur Dienstleistungs- und konsum in die gesellschaftliche Mitte. Sie blieb
Freizeitgesellschaft wurde das Kochen von ei- aber eher Narrativ, denn die Konsumgewohnhei-
ner Notwendigkeit zur Freizeitbeschäftigung – ten änderten sich nicht signifikant.43
Fleisch bildete dabei das zentrale Element. Die Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts lös-
Begeisterung kulminierte in der aufkommen- ten neue Diskurse die gesellschaftliche Orientie-
den Leidenschaft für das Grillen, das einen idea- rung an politischen Ideologien ab, in denen auch
len Gegenpart zur Büroarbeit bot und in das de- Ernährungsstile eine identitätsstiftende Funkti-
mokratische Ideal der Zeit sowie zum Konzept
der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ pass- 41 Vgl. Gunther Hirschfelder, Gesundheit und Ernährung: Die
Macht der Kultur, in: Biologie in unserer Zeit 48/2018, S. 106–112.
42 Vgl. Jan Grossarth, Die Vergiftung der Erde. Metaphern
38 Vgl. Fritz Keller, Die Küche im Krieg. Lebensmittelstandards und Symbole agrarpolitischer Diskurse seit Beginn der Industria-
1933 bis 1945, Wien 2015. lisierung, Frank­furt/M. 2018, S. 227 ff.
39 Vgl. Keith Lowe, Der wilde Kontinent: Europa in den Jahren 43 Vgl. Lars Winterberg, „Tracing and Tracking Meat“. Fleisch
der Anarchie 1943–1950, Stuttgart 2015. als Ressource und Speicher von (Welt-)Wissen, in: Hamburger
40 Vgl. Hirschfelder (Anm. 5), S. 234 ff. Journal für Kulturanthropologie 13/2021, S. 235–246.

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on erfüllen. Fleischverzicht wurde zur zentralen len fleischig schmecken. Jene aber, die heute ohne
Metapher. Parallel dazu trugen die Krise um die Fleisch aufwachsen, brauchen später auch kein
als „BSE“ bekannt gewordene Rinderkrankheit Ersatzfleisch. Auch werden die Fleischdiskur-
„Bovine spongiforme Enzephalopathie“, diver- se nur von einem Teil der Bevölkerung geführt.
se Gammelfleisch-Skandale und tierethische Dis- Viele finden dieses Thema grundsätzlich irrele-
kussionen dazu bei, den Themenkomplex Fleisch vant oder berufen sich auf ihr Recht, legale Pro-
weiter zu problematisieren. dukte nach Belieben konsumieren zu dürfen.
Und schließlich gibt es auch ein wachsendes Seg-
AUSBLICK ment von bewusst konsumierenden und hoch-
preisig orientierten Fleischliebhabern, die sich
Fleisch ist von einer Chiffre für Leben und Wohl- auf die Vorteile regionaler Produktion, den Ge-
stand zum Symbol für eine zerstörte Welt gewor- nussaspekt und die physiologischen Vorteile von
den. Dennoch wird Fleisch heute in Deutschland Fleisch berufen. So deutet einiges darauf hin, dass
in fast unveränderter Menge konsumiert. Das Fleisch zentraler Baustein der europäischen Er-
könnte sich im Laufe der 2020er Jahre ändern: nährung bleibt, sein Konsum aber wohl wieder
Die zunehmende Problematisierung drängt Po- exklusiver wird.
litik und Gesellschaft zum Handeln, und durch
verschärfte Produktionsbestimmungen werden
die Preise steigen. Dass Fleisch von Ersatzpro- GUNTHER HIRSCHFELDER
dukten wie pflanzlichen oder insektenbasierten ist Kulturanthropologe und Professor für Verglei-
Alternativen verdrängt wird, ist unwahrschein- chende Kulturwissenschaft an der Universität
lich. Diese erinnern derzeit strukturell stark an Regensburg.
die große Zeit des Fleischs: Vegane Burger sol- gunther.hirschfelder@sprachlit.uni-​regensburg.de

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Neu!
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Fleisch APuZ

KRITIK AM FLEISCHKONSUM
Moralisch oder moralistisch?
Bernd Ladwig

Die Deutschen essen im Durchschnitt pro Jahr zwar moralisch schlecht ist, für das die Akteu-
etwa 57,3 Kilogramm Fleisch.01 Der Trend ist rin aber keine Kritik verdient. Vielleicht konnte
leicht rückläufig, das Niveau aber weiterhin hoch, sie faktisch nicht anders handeln, oder sie besaß
zumal im globalen Vergleich. Wie ist dieses Er- entschuldigende oder gar rechtfertigende Grün-
nährungsverhalten moralisch zu beurteilen? Ist es de, um das Schlechte dennoch zu tun. Moralis-
überhaupt ein zulässiger Gegenstand moralischer tisch wäre es schließlich auch, ein moralisch alles
Bewertung? Ernährungsentscheidungen sind sehr in allem falsches Handeln maßlos zu verurtei-
persönlich: Sie haben uns alle von Kindheit an len. Bei einem minderschweren Fehler mag eine
stark geprägt, sie sind Ausdruck unseres Selbst- Mahnung angebracht sein, nicht aber regelrechte
und Weltverständnisses, und wir verbinden mit ­Entrüstung.02
ihnen auch wichtige und schöne Gemeinschafts- Die erste und grundlegende Frage lautet, wann
erlebnisse, vom Weihnachtsbraten im Familien- etwas moralisch Schlechtes geschieht. Nicht je-
kreis bis zur Grillparty unter Freundinnen und des noch so große Übel verdient ein moralisches
Freunden. Zu fragen wäre auch, wer, wenn über- Negativurteil. Wenn ein Stein ohne Fremdver-
haupt, die Kritik verdient und was sie im besten schulden eine Wanderin erschlägt, so ist das zwar
Fall bewirkt. Konsumentinnen und Konsumen- schrecklich, der Stein ist aber kein moralischer
ten auf Massenmärkten antworten auf Angebo- Akteur. Eine erste notwendige Bedingung für ein
te, die sie individuell kaum beeinflussen können, moralisches Übel ist daher, dass es in den Verant-
und das Wissen über die Methoden und die Fol- wortungsbereich moralischer Akteure fällt. Eine
gen der Herstellung dieser Angebote ist unvoll- moralische Akteurin kann etwas tun oder lassen,
ständig und ungleich verteilt. weil sie einsieht, dass es moralisch verlangt oder
verboten ist. Erforderlich ist zweitens, dass das
MORAL UND MORALISMUS Übel direkt oder indirekt jemanden (be)trifft, der
moralisch um seiner selbst willen zählt. Beide Be-
Hier sind vier Fragen zu unterscheiden, die auf- dingungen sind sicher erfüllt, wo jemand durch
einander aufbauen: Geschieht durch den Fleisch- sein Handeln einen menschenrechtlich erhebli-
konsum etwas moralisch Schlechtes? Wenn ja, chen Schaden hervorruft, den ein anderer erleidet.
ist es unter sonst gleichen Umständen moralisch Handlungen, die kausal zum Leiden oder vorzei-
falsch, Fleisch nachzufragen, um es zu essen? tigen Sterben anderer Menschen beitragen, sind
Wenn ja, ist dies auch alles in allem gesehen ver- moralisch schlecht.
kehrt? Und wenn ja, welche Art der Kritik oder Allerdings haben wir, selbst wenn wir ein
auch der Sanktion ist moralisch erlaubt oder so- Übel durch unser Handeln aufrechterhalten,
gar geboten? nicht immer die Fähigkeit, es zu verhindern
Wer andere für ein moralisch neutrales oder oder auf eine bessere Welt hinzuwirken. Viel-
erfreuliches Verhalten moralisch tadelt, verdient leicht können wir ein Problem kollektiven Han-
selbst einen Vorwurf, denn er urteilt und handelt delns, etwa auf Weltmärkten, nicht lösen, das uns
moralistisch. Moralismus ist ein unangebrachter an wirksamer Abhilfe hindert. Nicht alles, was
oder überzogener Gebrauch moralischer Begriffe moralisch schlecht ist, ist darum auch schon mo-
und Begründungen. Wer in diesem Sinne morali- ralisch falsch. Eine moralisch schlechte Hand-
siert, übt eine moralische Kritik, die nicht oder je- lung ist unter sonst gleichen Umständen mora-
denfalls nicht so angebracht ist. Moralistisch wäre lisch falsch, wenn die Akteurin in ihrer Situation
es auch, andere für ein Verhalten zu tadeln, das anders handeln und damit das moralische Übel

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vermeiden oder vermindern könnte. Allerdings ein Kilogramm Geflügel.04 Zugleich gelangen Ni-
könnte sie gleichwohl Gründe haben, die ihr trate, Pestizide und Antibiotika ins Wasser und
Handeln alles in allem rechtfertigen. Das mö- gefährden direkt oder indirekt die menschliche
gen zum Beispiel Rücksichten auf überwiegen- Gesundheit. Nicht zuletzt trägt die Fleischpro-
de Rechte Dritter oder unzumutbar hohe Kos- duktion auch zur globalen Erwärmung bei. Die
ten für die Handelnde selbst sein. Alles in allem industrielle Tierhaltung ist für 14,5 Prozent der
falsch ist ein moralisch schlechtes Handeln nur von uns verantworteten Treibhausgase verant-
dann, wenn die Akteurin anders handeln könn- wortlich.05 Sie trägt damit mehr zum Klimawan-
te und für ihr tatsächliches Tun oder Lassen kei- del bei als der gesamte globale Transportsektor.
ne zureichenden Rechtfertigungsgründe besitzt. Bezieht man alle relevanten Faktoren wie Land-
Verdient sie deshalb aber auch schon in jedem nutzung, Düngung, tierliche Verdauung und auch
Fall einen moralischen Vorwurf? Nicht unbe- die Produktions- und Lieferketten in die Bilanz
dingt, denn vielleicht konnte sie von einer fak- ein, so dürfte der Anteil der Treibhausgase aus
tisch falschen, für sie möglichen und auch zu- der Massentierhaltung noch weit höher liegen –
mutbaren Handlung nicht wissen, dass diese dem Worldwatch Institute zufolge bei mindes-
falsch war und dass sie die Möglichkeit gehabt tens 51 Prozent.06
hätte, auf zumutbare Weise anders zu handeln. Ausgeblendet blieben bis jetzt die Folgen für
Und auch wenn sie einen Vorwurf verdient, ist die Tiere. Zählen auch „Fleischtiere“ wie Schwei-
vielleicht nur ein milder Tadel angebracht, aber ne, Rinder und Puten moralisch um ihrer selbst
kein heftiger moralischer Angriff.12 willen? Sie sind jedenfalls Individuen, die etwas
empfinden und erleben können. Und so gut wie
GESCHIEHT DURCH keiner behauptet mehr, dass das Quälen eines Tie-
FLEISCHKONSUM ETWAS res moralisch neutral sei. Einem Tier Qualen zu
MORALISCH SCHLECHTES? bereiten, ist moralisch schlecht, und die direktes-
te Begründung dafür liegt im Tierleid selbst. Das
Legen wir diese Unterscheidungen an den heu- ist auch nicht mehr nur eine Frage der Moral. Das
tigen Fleischkonsum an, so lautet die erste Fra- deutsche Tierschutzgesetz zum Beispiel verbietet,
ge, ob durch ihn etwas moralisch Schlechtes einem Tier „ohne vernünftigen Grund Schmer-
geschieht. Die Antwort ist ja, denn die Fleisch- zen, Leiden oder Schäden“ zuzufügen.
tierhaltung trägt kausal zum Leiden und vorzeiti- Eine einfache Überlegung stützt diesen Mi-
gen Sterben anderer Menschen bei. nimalkonsens.07 Wenn wir moralisch urteilen,
Sie erschwert zunächst die Bekämpfung des müssen wir Willkür vermeiden und gleiche Fäl-
Welthungers, weil sie eine wenig effiziente Art le gleich beachten. Wir müssen uns etwa fragen,
und Weise der Gewinnung von Nährstoffen ist. welche unserer Interessen so stark sind, dass sie
Etwa ein Drittel des weltweit angebauten Ge- Pflichten der Rücksicht begründen. Entschei-
treides und 75 Prozent der Sojabohnen werden dend ist dann nicht, wer das Interesse hat, son-
an Vieh verfüttert, anstatt Menschen direkt zu dern wie wichtig es ist und welcher Gefährdung
ernähren. Tierprodukte beanspruchen 83 Pro- es unterliegt. Das sollte auch ungeachtet der bio-
zent der Ackerflächen auf der Welt, decken aber logischen Artengrenze gelten. Ein moralisch be-
nur 37 Prozent unseres Protein- und 18 Prozent deutsames Interesse, das wir mit vielen anderen
unseres Kalorienbedarfs.03 Auch der Wasserver- Tieren teilen, ist sicher die Vermeidung von Lei-
brauch für Fleischprodukte ist hoch: 15 415 Liter den. Selbst für Fische ist inzwischen gut belegt,
für ein Kilogramm Rindfleisch, 5988 Liter für ein
Kilogramm Schweinefleisch und 4325 Liter für
04 Siehe https://wfd.de/thema/fleisch-​milch.
05 Vgl. Food and Agriculture Organisation, Tackling Climate
01 Siehe www.landwirtschaft.de/landwirtschaft-​verstehen/ Change Through Livestock: A Global Assessment of Emissions
haetten-​sies-​gewusst/infografiken. and Mitigation Opportunities, Rom 2013.
02 Siehe dazu Bernd Ladwig, Ist der Veganismus ein Moralis- 06 Vgl. Robert Goodland/Jeff Anhang, Livestock and Climate
mus?, in: Christian Neuhäuser/Christian Seidel (Hrsg.), Kritik des Change. What if the Key Actors in Climate Change Are …
Moralismus, Berlin 2020, S. 331–358. Cows, Pigs and Chickens?, in: World Watch November/Decem-
03 Vgl. Joseph Poore/Thomas Nemecek, Reducing Food’s ber 2009, S. 10–19, hier S. 13.
Environmental Impacts Through Producers and Consumers, in: 07 Zum Folgenden ausführlich Bernd Ladwig, Politische Philoso-
Science 6392/2018, S. 987–992. phie der Tierrechte, Berlin 2020, Kap. 2.

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dass sie Schmerz empfinden können. Aber Lei- Raum zusammen, dass sie sich gegenseitig angrei-
densfähigkeit ist nicht die einzige moralisch er- fen und einander schwer verletzen. Ihre Halterin-
hebliche Eigenschaft, die Menschen und Tiere nen und Halter greifen dagegen zu Maßnahmen
gemeinsam haben. Erlebensfähige Tiere können wie Schnabelkürzen ohne Betäubung und fügen
sich auch an Spielen, an sinnlich stimulierenden den Tieren damit schwere Schmerzen zu. Leid-
Umwelten und an Freiheiten der Bewegung er- voll ist oft auch die stunden- oder tagelange Fahrt
freuen. Höhere Tiere sind lernfähig und lösen in engen und heißen Lastwagen zum Schlachthof,
gern Probleme, die ihre Intelligenz beanspru- wo nicht wenige Tiere ein qualvoller Tod erwar-
chen. Sozial veranlagte Tiere schätzen zudem das tet, weil die Betäubung versagt.
Zusammensein und die Interaktion mit anderen Die kleinbäuerliche Landwirtschaft unter-
Individuen, seien es Artgenossen, andere Tiere scheidet sich hier höchstens graduell und nicht
oder auch Menschen. Viele Tiereltern empfinden grundsätzlich von der industriellen Tierhaltung,
offenbar Zuneigung zu ihrem Nachwuchs, sie die allerdings für die weitaus größte Menge an
bringen ihm etwas bei und verteidigen ihn gegen Leiden und für die weitaus meisten Tötungen
Bedrohungen.08 verantwortlich zeichnet. Eine Fleischtierhaltung,
Nicht zuletzt scheinen Tiere auch an ihrem die wirklich alle Grundbedürfnisse der Tiere be-
eigenen Leben zu hängen. Schweine etwa reagie- friedigte, wäre wirtschaftlich nicht rentabel. Die
ren ganz offenbar panisch, wenn sie im Schlacht- vergleichsweise wenigen Produkte, die sie ab-
hof das Blut ihrer Artgenossen riechen. Ist das würfe, wären prohibitiv teuer. Die allerwenigsten
nur eine biologisch funktionale Todesfurcht ohne Fleischtiere können daher vor ihrer Tötung art-
moralische Bedeutung? Immerhin scheinen die gerechte Gruppen bilden, sich angemessen frei in
meisten Tiere nicht wie wir Menschen auf ihr sinnlich anregenden Umgebungen bewegen und
Dasein als solches und als Ganzes reflektieren natürlichen Neigungen wie Spiel oder Nestbau
und um die eigene Sterblichkeit wissen zu kön- folgen. Und selbst die meisten Bio-Tiere wer-
nen. Doch wiederum trifft wenigstens ein Grund, den am Ende ihres Lebens bis zu vier Stunden
aus dem wir selbst das Weiterleben normaler- lang zum Schlachthof gefahren, wo sie das glei-
weise wertschätzen, auch auf alle anderen emp- che erleben und erleiden wie ihre übrigen Art-
findungs- und erlebensfähigen Tiere zu: Der Tod genossen auch. Eine Ausnahme machen hier nur
beraubt sie der Möglichkeit aller weiteren für sie (Freiland-)Rinder, die durch einen Kugelschuss
erfreulichen Erlebnisse. Wenn dies für selbstbe- auf der Weide getötet werden.09 Das ist vielleicht
wusste Personen ein eigenständiger Grund ist, der am wenigsten grausame Tod für ein Tier, das
den Tod zu fürchten, so ist dieser auch für Tie- aber dennoch etwas verliert: sein eines und ein-
re ein Übel. ziges Leben. Das gleiche gilt für die Jagd, die zu-
Die Fleischindustrie schädigt Tiere in all die- dem oft grausamer verläuft, als ihre Verteidiger
sen Hinsichten. Von Zukunftsszenarien wie be- uns glauben machen: Viele gejagte Tiere leiden
zahlbaren Steaks aus der Petrischale einmal ab- unter Stress und unter Todesangst, und nicht we-
gesehen, müssen Tiere sterben, damit Menschen nige verenden unter Schmerzen, weil die Kugeln
ihr Fleisch verzehren können. Die meisten soge- sie nicht sofort töten.10
nannten Fleischtiere werden zu diesem Zweck
gezüchtet, gefangen gehalten und schließlich ge- IST FLEISCHKONSUM
schlachtet. Nicht wenige leiden schon unter ih- MORALISCH VERKEHRT?
rer leiblichen Verfassung, wie Mastputen, deren
Oberschenkelknochen unter der Last der riesigen Wenn so vieles an und in der Fleischwirtschaft
Brustmuskeln brechen. Zuchtsauen in Kasten- moralisch schlecht ist, ist es darum auch unter
ständen und Abferkelbuchten sind auf so engem
Raum eingesperrt, dass sie sich nicht um die eige- 09 Diese Tötungsmethode ist nur nach ganzjähriger Freiland-
ne Achse drehen können. Hühner in Bodenhal- haltung erlaubt, weil sie waffenrechtliche Probleme aufwirft und
tung leben mit so vielen Artgenossen auf engem mit dem grundsätzlichen Betäubungsgebot im Tierschutzgesetz
kollidiert. Siehe dazu Rechtliche Hürden beim Kugelschuss.
Interview mit Dr. Birgit Mennerich-Bunge, in: Land in Form Spezi-
08 Vgl. die Liste tierlicher Grundfähigkeiten in: Martha C. Nuss- al 5/2015, S. 42 f.
baum, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität 10 Vgl. Jens Tuider/Ursula Wolf, Gibt es eine ethische Rechtfer-
und Spezieszugehörigkeit, Berlin 2014, S. 528–539. tigung der Jagd?, in: Tierethik 7/2013, S. 33–46.

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sonst gleichen Umständen moralisch verkehrt, sie ihren Boykott von vornherein unter dem Ge-
wenn Menschen Fleisch nachfragen und verzeh- sichtspunkt des Aggregateffekts vieler individuel-
ren? Sie müssten dazu in ihrer Situation die Mög- ler Handlungen vieler verschiedener Konsumen-
lichkeit haben, ein Übel zu vermeiden oder zu ten betrachten. Zu diesem Effekt trägt sie selbst
vermindern. Das kann, je nachdem, welche Mo- mit ihrem Boykott wie immer marginal bei, und
ralauffassung man vertritt, Verschiedenes bedeu- er erhöht insgesamt die Wahrscheinlichkeit, dass
ten. Konsequentialisten sind der Ansicht, dass die der Schwellenwert überschritten werden wird.12
moralische Richtigkeit oder Falschheit letztend- Außerdem könnte sie, indem sie individuell kein
lich immer von den Folgen bestimmt wird, die Fleisch mehr kauft, als Vorbild wirken: Ihr Bei-
unsere Handlungen oder auch Regelungen vo- spiel könnte anderen das Gefühl geben, dass sie
raussichtlich haben. Dagegen argumentieren De- mit einem Verzicht nicht allein dastehen und viele
ontologen, dass manche Handlungen und Rege- individuellen Handlungen zusammen sehr wohl
lungen in sich selbst verkehrt sind, weil sie etwa einen Unterschied machen. Nicht zuletzt könn-
moralische Rechte verletzen. te sie glaubwürdig für ein gemeinsames Vorgehen
Konsequentialistisch gesehen, scheinen Kon- gegen die Fleischwirtschaft werben. Die größte
sumentinnen und Konsumenten jedenfalls kei- Wirkung würden politische Veränderungen der
nen gravierenden moralischen Fehler zu ma- rechtlichen Rahmenbedingungen erzielen, für die
chen, wenn sie Fleisch kaufen. Die Strukturen der wir aber kollektiv eintreten müssten.
Fleischwirtschaft können jede individuelle Kauf- Damit ist allerdings auch gesagt, dass jeden-
verweigerung ganz oder teilweise neutralisie- falls bei einer folgenbezogenen Betrachtung der
ren. Anbieterinnen und Anbieter auf großen und mögliche moralische Fehler der Fleischkäufe-
komplexen (Massen-)Märkten produzieren nicht rin nicht sehr ins Gewicht fällt. Man mag daraus
auf Abruf, und sie werden Gütermengen erst re- schließen, dass ihre Kaufhandlung (wenn über-
duzieren oder gar gewisse Angebote ganz auf- haupt, dann) weniger kritikwürdig sei als die
geben, wenn die Boykotte einen Schwellenwert Handlungen von Akteuren, die über regelrechte
wirtschaftlicher Wahrnehmbarkeit überschreiten. Marktmacht verfügen. Aber man kann die Kri-
Keine individuelle Konsumentin kann wissen, tik verstärken, indem man auch deontologische
ob gerade sie mit ihrem Verzicht auf Fleisch ei- Einwände hinzuzieht. Die Philosophin Christine
nen solchen Unterschied macht. Dieses Problem Korsgaard argumentiert, dass jedes einzelne Tier
ist als Einwand der kausalen Wirkungslosigkeit ein Recht darauf habe, dass wir es immer auch als
(causal impotence objection) bekannt.11 Zweck und niemals nur als Mittel gebrauchen.
Nicht alle Konsequentialisten, die das Pro- Wir sollten uns daher fragen, welches Verhältnis
blem erkennen, denken allerdings, dass es die wir zu einem individuellen Tier eingehen, indem
moralischen Einwände gegen die Nachfrage nach wir sein Fleisch essen oder andere Produkte nut-
Fleisch entkräfte. Schließlich trage jede indivi- zen, die ihm ohne Rücksicht auf sein Wohl abge-
duelle Konsumentin mit einer gewissen, wenn presst wurden. Wir würden es als bloßes Mittel
auch von ihr nicht bezifferbaren Wahrschein- behandeln, und das sei verkehrt.13
lichkeit dazu bei, dass der Schwellenwert ein- Der Philosoph Blake Hereth argumentiert in
mal überschritten werden wird. Und dabei sei ähnlicher Weise, dass es in sich falsch sei, andere
nicht maßgeblich, ob gerade ihre Entscheidung Akteure für eine Ungerechtigkeit zu belohnen.14
die gewünschte Wirkung zeitigt. Vielmehr sollte Stellen Sie sich etwa vor, in einer vom Drogen-
krieg verheerten Gemeinde existiere ein Laden,
dessen Besitzerin die Kleidung von Mordopfern
11 Vgl. Peter Singer, Utilitarianism and Vegetarianism, in:
zu günstigen Preisen verkauft. Würden Sie einen
Philosophy and Public Affairs 4/1980, S. 325–337; Russ
Shafer-Landau, Vegetarianism, Causation and Ethical Theory,
solchen Laden aufsuchen, um von den Preisvor-
in: Public Affairs Quarterly 1/1994, S. 85–100; Gary Chartier,
On the Threshold Argument Against Consumer Meat Purchases,
in: Journal of Social Philosophy 2/2006, S. 233–249; Shelly 12 Vgl. Almassi (Anm. 11), S. 404.
Kagan, Do I Make a Difference?, in: Philosophy and Public 13 Vgl. Christine M. Korsgaard, Tiere wie wir. Warum wir mo-
Affairs 2/2011, S. 105–141; Ben Almassi, The Consequences ralische Pflichten gegenüber Tieren haben. Eine Ethik, München
of Individual Consumption. A Defence of Threshold Arguments 2021, S. 284.
for Vegetarianism and Consumer Ethics, in: Journal of Applied 14 Vgl. Blake Hereth, Animals and Causal Impotence: A Deon-
Philosophy 4/2011, S. 396–411. tological View, in: Between the Species 1/2016, S. 32–51.

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Fleisch APuZ

teilen zu profitieren? Dagegen spricht, dass Sie oder Konventionen. Man könnte allenfalls ein-
damit die Mordopfer missachteten und die Mord- wenden, dass doch die Interessen der Beschäf-
taten indirekt noch honorierten. Das erscheint tigten und der Unternehmer in der Nahrungsin-
falsch – auch unabhängig davon, ob ein wirt- dustrie, die vom Fleischverkauf leben, moralisch
schaftliches Scheitern des Ladens zum Ende des gewichtig seien. Aber diese Interessen legitimie-
Drogenkrieges beitrüge. Analog sollten Sie auch ren nicht die Erlaubnis, immer weiter sogenann-
kein Fleisch nachfragen, wenn den Tieren ein Un- te Fleischtiere zu züchten, zu halten und zu tö-
recht getan wurde, um es in den Handel zu brin- ten. Sie sprechen nur für öffentliche Hilfen beim
gen. Sie würden diese Handlungsweise durch ih- Übergang zu einer Landwirtschaft, die ohne die
ren Kaufakt nachträglich gutheißen, und das wäre Fleischerzeugung auskäme.
auch unabhängig von den kausalen Folgen falsch.
Aber ist diese Analogie nicht schon im An- WELCHE KRITIK VERDIENEN
satz verkehrt? Wie kann man Mordopfer in ei- KONSUMENTINNEN UND
nem Drogenkrieg mit Fleischtieren vergleichen? KONSUMENTEN?
Die einen sind Verbrechen zum Opfer gefal-
len, die anderen haben für einen legalen Zweck Es ist demnach nicht nur unter sonst gleichen
ihr Leben gelassen: uns Lebensmittel zu liefern. Umständen, sondern alles in allem gesehen mo-
Nur weil die Morde fraglos verwerflich waren, ralisch verkehrt, wenn wir Fleisch kaufen und
sind Kauf und Verkauf der Kleidung es auch. konsumieren. Aber auch wer etwas alles in allem
Die Fleischerzeugung könnte hingegen, im Ein- Falsches tut, verdient dafür nicht unbedingt mo-
klang mit dem geltenden Recht und den mora- ralische Kritik. Vorwerfbar ist eine alles in allem
lischen Überzeugungen der Mehrheit, gerecht- verkehrte Handlung nur, wenn die Akteurin ge-
fertigt sein. Auch wenn es unter sonst gleichen wusst haben musste, dass sie etwas Falsches tat,
Umständen verkehrt ist, Menschen zu schädigen und ihr eine andere, moralisch bessere Handlung
und Tiere zu quälen und zu töten, könnten doch möglich und zumutbar war. Damit soll indes
moralisch gewichtige Gründe diese Übel über- nicht gesagt sein, dass ein bloßes Nichtwissen sie
wiegen und der Fleischwirtschaft alles in allem schon entschuldigen würde. Weil die Fleischwirt-
Legitimität verleihen. Dies könnten überwie- schaft Menschen und Tiere schädigt, sollten wir
gende Rechte Dritter oder allzu große Opfer für uns auch aktiv um das nötige Wissen bemühen.
die Akteure selbst sein. Vielleicht müssen wir Da dies heute aber kein ernsthaftes Problem mehr
Fleisch essen, um Grundbedürfnisse befriedigen darstellt, dürfte ein anderes Hindernis praktisch
zu können. wichtiger sein.
Aber zur Deckung unseres Nahrungsbedarfs Wie die Sozialpsychologin Melanie Joy be-
durch Fleisch haben wir genügend bekömmliche, tont, gilt das Verspeisen mancher Tiere, wie
bezahlbare, schmackhafte und menschenwürdige Schweine, Rinder und Puten, in unseren Gesell-
Alternativen. In unseren westlichen Staaten und schaften als normal, natürlich und notwendig.16
Städten ist niemand auf Fleisch angewiesen, um Diese von ihr als „Karnismus“ bezeichnete Auf-
gesund und gut leben zu können.15 Wer es den- fassung entwickeln die meisten Menschen schon
noch isst, folgt damit vielleicht bestimmten Ge- in früher Kindheit, und sie wirkt nicht nur kogni-
schmacksvorlieben, Gewohnheiten oder sozia- tiv verzerrend, sondern formt auch die Gefühle.
len Konventionen. Das mag moralisch gesehen Der Fleischkonsum gehört zu einem System, das
nicht irrelevant sein, aber es rechtfertigt nicht, vielen Angehörigen unserer Gesellschaften zur
Menschen zu schaden und Tieren großes Leid zweiten Natur geworden ist. Ein tatsächliches
zuzufügen, um sie schließlich umzubringen. Die Unrecht ist für Menschen kaum zu erkennen und
Grundvoraussetzungen ihres guten Lebens und noch schwerer innerlich zu überwinden, wenn es
das Weiterleben selbst wiegen unparteiisch gese- ihre ganze Lebensform durchzieht. Moralistisch
hen schwerer als bloße Vorlieben, Gewohnheiten mutet daher auch eine moralische Verurteilung
von Menschen für ein Unrecht an, das sie nur bei
15 Dazu aus ernährungswissenschaftlicher Sicht Claus Leitz-
mann/Markus Keller, Vegetarische Ernährung, Stuttgart 2013; 16 Vgl. Melanie Joy, Warum wir Hunde lieben, Schweine essen
Heike Englert/Sigrid Siebert (Hrsg.), Vegane Ernährung, Bern und Kühe anziehen. Karnismus – eine Einführung, Münster 2015,
2016. S. 110.

17
APuZ 51–52/2021

einer ungewöhnlich weiten Distanzierung von schen Handeln von Menschen im Rahmen dieser
ihrem Umfeld und den vorherrschenden Recht- Verhältnisse sowie der Vorwerfbarkeit falscher
fertigungsmustern als verkehrt erkennen könn- Handlungen, die die Verhältnisse perpetuieren.
ten. Und das gilt abgeschwächt auch dann, wenn Nicht jede moralisch gerechtfertigte Verurteilung
sie zwar wissen sollten, dass ihr Verhalten ver- eines Systems und seiner tragenden Praktiken
kehrt ist, es ihnen aber innerlich schwerfällt, an rechtfertigt auch eine Verurteilung aller das Sys-
ihm etwas zu ändern. tem aufrechterhaltenden Akteure. Wer diese Un-
Vegetarierinnen und Veganer sollten daher terscheidungen beachtet, kann seine moralische
in ihren Urteilen auch bedenken, wie unwahr- Kritik von sowohl kränkenden als auch kontra-
scheinlich ihre eigenen Biografien sind. Sie sollten produktiven Gefühlsausbrüchen freihalten. Eben
nicht vergessen, dass auch die meisten von ihnen weil Kritikerinnen und Kritiker des Fleischkon-
als Fleischesser begonnen haben. Hier ist auch sums gegen ein institutionelles und auch ideolo-
vor einem gewissen Klassenhochmut zu warnen: gisches System ankämpfen, sollten sie dagegen
In den wohlhabenden Gesellschaften des Westens gefeit sein, die Menschen, die durch das System
ist nicht mehr Fleisch, sondern Fleischverzicht geprägt wurden und in seinem Rahmen handeln,
zu einem Distinktionsmerkmal von Menschen mit maßlosen und selbstgefälligen Vorwürfen zu
mit viel ökonomischem und kulturellem Kapital behelligen.
geworden. Mit zunehmender formaler Bildung Dies ist auch mit Blick auf die politische Ebe-
steigt die Wahrscheinlichkeit einer vegetarischen ne wichtig. Zwar ist grundsätzlich nicht einzu-
Ernährung. Menschen mit höherem Einkom- sehen, warum wir unsere moralischen Pflich-
men ernähren sich häufiger „flexitarisch“, das ten gegenüber Tieren nicht auch mit staatlichem
heißt, sie fragen weniger, dafür aber höherwerti- Zwang bewehren sollten. Immerhin stehen für
ges Fleisch nach.17 sie Grundmöglichkeiten eines guten Lebens auf
Das sind allerdings keine Gründe, auf mora- dem Spiel, die wir beachten könnten, ohne et-
lische Kritik am Fleischkonsum ganz zu verzich- was von vergleichbarer Bedeutung zu verlieren.
ten. Sie sprechen nur für eine gewisse Mäßigung Ganz offenbar wäre aber ein gesetzlicher Hebel,
im Vorbringen der Kritik oder auch schon in der um eine fleischlose Lebensweise durchzusetzen,
zugrundeliegenden Bewertung. Die Kritik soll- heute überall auf der Welt bestenfalls vergeb-
te nicht die Form eines regelrechten moralischen lich.19 Ohne eine kulturelle Revolution in unse-
Angriffs annehmen. Ein milderer Einspruch ist ren Einstellungen zu Tieren werden sich deren
nicht nur oft wirkungsvoller, weil er die Kriti- Ansprüche jedenfalls auf demokratische Wei-
sierten weniger in die Defensive drängt und sie se nicht erfüllen lassen. Bis auf Weiteres wer-
nicht zu Gegenvorwürfen verleitet. Strenge mo- den wir daher mit dem zweitbesten Mittel mo-
ralische Kritik ist auch eine Art der Sanktion, die ralischer Kritik auskommen und auf öffentliche
Menschen verletzen kann. Moralische Sanktio- Überzeugungsbildung setzen müssen. Umso
nen wirken innerlich, nicht äußerlich, aber das wichtiger ist es wiederum, auf Selbstgerechtig-
heißt nicht, dass es harmlos wäre, wenn jemand keit zu verzichten und Andersdenkende nicht zu
die Entrüstung oder Empörung anderer zu spü- dämonisieren. Dies gebietet erstens die Achtung,
ren bekommt.18 die wir freien und gleichen Mitbürgerinnen und
Dabei19 hilft wiederum die Unterscheidung Mitbürgern prinzipiell schulden. Es ist zweitens
zwischen den moralisch schlechten Verhältnis- auch ein Gebot politischer Klugheit. Die Kriti-
sen in der Fleischwirtschaft, dem moralisch fal- kerinnen und Kritiker des Fleischkonsums wer-
ben schließlich für Veränderungen, die die vor-
herrschenden Vorstellungen und Gefühle stark
17 Vgl. Laura Einhorn, Schwere Kost: Zur sozialen Ungleich-
heit von Fleischkonsum und Fleischverzicht in Deutschland, in:
strapazieren.
Christian Bala/Wolfgang Schuldzinski (Hrsg.), Armutskonsum –
Reichtumskonsum: Soziale Ungleichheit und Verbraucherpolitik,
Düsseldorf 2020, S. 57–78. BERND LADWIG
18 Vgl. Ernst Tugendhat, Dialog in Leticia, Frank­furt/M. 1996,
ist Professor für Politische Theorie und Philosophie
S. 56 f.
19 Man denke etwa an die heftigen Reaktionen auf den
am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der
Vorschlag eines „Veggieday“ in öffentlichen Kantinen, den die Freien Universität Berlin.
Grünen 2013 in ihr Bundestagswahlprogramm aufnahmen. bernd.ladwig@fu-​berlin.de

18
Elke Diehl /Jens Tuider (Hrsg.)
Haben Tiere Rechte?
Aspekte und Dimensionen der
Mensch-Tier-Beziehung

Cornelie Jäger
Das Tier und der Nutzen
Wie landwirtschaftliche Tierhaltung
endlich allen gerecht wird

2019
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APuZ 51–52/2021

FLEISCHKONSUM
UND MÄNNLICHKEIT
Martin Winter

Fleisch und Männlichkeit sind in der Krise. Aus Die in dem Werbefilm dargestellte Verbin-
der einstigen Bastion des Mannes, dem Grillen dung von Fleisch und Männlichkeit lässt sich also
von Fleisch, ist ein „Puppenfest“, ein „Barbie- ganz deutlich statistisch belegen. Aber die Wer-
Q“ geworden. In dieser Dramatik skizziert es der bung zeigt eben noch mehr. Denn der Werbeclip
Werbefilm „Herren des Feuers“ von Edeka aus behauptet den Fleischhunger der Männer und il-
dem Jahr 2017.01 Das Gartenfest mit einer brei- lustriert damit aktuelle gesellschaftliche Diskur-
ten Palette an Speisen wird in letzter Konsequenz se und Debatten, in denen Fleisch nicht nur ve-
von einer Armee niedergerissen, um zu dem zu- hement kritisiert, sondern auch genauso beherzt
rückzukehren, „was von Natur gegeben, man als verteidigt wird. Geschlecht und mithin Männ-
Mann nur will“: Fleisch, das auf offener Flamme lichkeit sind, so werde ich in diesem Text zeigen,
auf einem Grill zubereitet wird. Dieses von der ein wesentlicher Faktor für den Fleischkonsum.
Werbeagentur Jung von Matt aufwendig produ- Umgekehrt spielt aber auch der Fleischkonsum
zierte „Heldenepos“ – so das Marketingmagazin eine wesentliche Rolle in der Konstruktion von
„Horizont“ – zeichnet eine Männlichkeit, die von Männlichkeiten. Ausgehend von dieser Diagnose
der aktuellen „Food-Obsession“ befreit werden unternehme ich im Folgenden eine Spurensuche
müsse, die dem Mann andere Speisen als gegrilltes nach den Ursprüngen dieser Verbindung und be-
Fleisch aufdränge, obwohl das ja gar nicht das sei, leuchte, welche Entwicklungen sich gegenwärtig
was der „richtige“ Mann essen wolle. abzeichnen.
Kaum ein Lebensmittel löst derart hitzige De-
batten aus wie Fleisch. Die Kritik an dem Lebens- KRAFT, ARBEIT,
mittel ist dabei vielschichtig und weitreichend:02 MÄNNLICHKEIT
Fleisch wird mit negativen Folgen für das Klima
und die menschliche Gesundheit verbunden, und Ein Blick auf die historischen Prozesse rund um
auch ethische Aspekte der (Massen-)Tierhaltung das Verhältnis von Fleisch und Männlichkeit er-
und des Tierwohls bringen Fleisch immer wieder öffnet eine Perspektive auf das Gewordensein der
in die Kritik. Angesichts derartiger Nachteile des gegenwärtigen Verhältnisse.
Fleischkonsums ist erklärungsbedürftig, warum Mit einem kulturhistorischen Ansatz hat der
nach wie vor so große Mengen konsumiert wer- Soziologe Norbert Elias in seinen Arbeiten zum
den – insbesondere von Männern. Laut „Natio- „Prozess der Zivilisation“ anhand der Untersu-
naler Verzehrsstudie II“ essen Männer etwa dop- chung von Benimmhandbüchern das gesellschaft-
pelt so viel Fleisch wie Frauen. Darüber hinaus liche Verhältnis zu Fleisch nachgezeichnet. Ihm
liegen die ermittelten Konsummengen bei Män- zufolge können für das Mittelalter anhand der
nern deutlich über den Empfehlungen: „Männer Konsummengen drei Gruppen unterschieden
überschreiten die für die Beurteilung zugrunde werden: die weltlichen Oberschichten, die sehr
gelegte Menge von 300 g bis 600 g (…) pro Woche große Mengen Fleisch konsumierten; die kleri-
um fast das Doppelte (1092 g). Bei Frauen liegt die kalen Schichten, die asketisch auf Fleisch ver-
Verzehrmenge mit durchschnittlich 595 g/Woche zichteten; und die untere Schicht der Bauern, die
(…) an der oberen Grenze dieser Werte.“03 Diffe- aus Mangel kaum Fleisch aßen. Die Konsum-
renziert man die Gruppe der Männer nach sozi- menge war folglich eher eine Frage der sozialen
alem Status, fällt auf, dass Männer in niedrigeren Schichtung als des Geschlechts. Letzteres spiel-
gesellschaftlichen Schichten mehr Fleisch konsu- te vor allem in der Beziehung zum Fleisch eine
mieren als andere.04 Rolle. Denn in dieser Zeit wurde zumeist das

20
Fleisch APuZ

ganze Tier bei Tisch zerlegt und verteilt – „eine Der Historiker Ole Fischer hat zu der Fra-
besondere Ehre. Sie steht meist dem Herrn des ge, wer wieviel Fleisch aß, eine Analyse des er-
Hauses zu.“ 05 Mit der Zeit verlagerte sich aber nährungswissenschaftlichen Fachdiskurses des
die Zerteilung der Tierkörper zunehmend vom 19. Jahrhunderts vorgenommen. Die ersten Spu-
Tisch weg in weniger sichtbare Bereiche, und da- ren finden sich um 1850: Ab diesem Zeitpunkt
mit verschwand auch das Prestige dieser Tätig- wurde Männern aufgrund physiologischer Ei-
keit: „Ganz allmählich hört in der französischen genschaften zugeschrieben, eher in der Lage zu
Oberschicht im 17. Jahrhundert das Zerlegen des sein als Frauen, das zähe Lebensmittel Fleisch
Tieres bei der Tafel auf, ein unentbehrliches Kön- zu verdauen. Dies sei eine parallele Entwicklung
nen des Mannes von Welt, wie Jagen, Fechten und zwischen der wissenschaftlichen Bewertung des
Tanzen, zu sein.“06 Elias argumentiert, dass dieser Fleischkonsums und dem Aufkommen des natur-
Prozess, in dem allmählich eine immer größere wissenschaftlichen Diskurses über Geschlecht,
Distanz zwischen dem Lebensmittel Fleisch und mit dem Geschlecht zu einer „natürlichen Tatsa-
dem getöteten und geschlachteten Tier entsteht, che“ wurde und Eigenschaften mit der physiolo-
auch Folge einer gesellschaftlichen Veränderung gischen Wesenhaftigkeit von Männern und Frau-
der Haushaltsstrukturen sei. Mit der Auflösung en begründet wurden.08 Eine bis heute relevante
des „ganzen Hauses“ wurde auch das Töten von Verschiebung erfuhr der Diskurs um Fleischkon-
Tieren an spezialisierte Betriebe ausgelagert, an sum mit der aufkommenden Dominanz des che-
handwerkliche und zunehmend auch industriali- mischen Wissens über Ernährung, durch die sich
sierte Schlachtereien. der Fokus auf die Nährwerte und Kalorien von
Mit der Industrialisierung setzte die zuneh- Lebensmitteln und deren Verarbeitung im Kör-
mende Verbreitung des Fleischkonsums ein. Der per verschob. Fischer arbeitet heraus, dass „sich
Sozialhistoriker Hans-Jürgen Teuteberg hat auf zunehmend die Vorstellung durch[setzte], dass es
der Grundlage von Schlachtzahlen einen signi- einen direkten Weg vom Fleischkonsum über den
fikanten Anstieg der Fleischproduktion ab Mit- Muskelaufbau zur männlich interpretierten Ener-
te des 19. Jahrhundert nachgewiesen. Er kommt gie und Leistungsfähigkeit gibt“.09 Vor allem Ar-
zu dem Schluss, dass „der Anstieg des Fleischver- beiter und Soldaten seien demnach besonders mit
brauches in Deutschland erstaunlich parallel mit Fleisch versorgt worden. Diese Verbindung eines
der123456 Industrialisierung“ verlief. 07 Der Anstieg des starken Körpers mit Männlichkeit hing auch mit
Fleischkonsums sei ein Indikator für die neuen der einsetzenden zunehmenden Sphärentrennung
technologischen Möglichkeiten sowie eine allge- und Arbeitsteilung zusammen, die zumindest in
meine Wohlstandssteigerung. Mit der Industria- bürgerlichen Schichten als Ideal verbreitet war:
lisierung und der Entstehung der kapitalistischen Frauen wurde die häusliche Sphäre der Repro-
Moderne setzte auch die weitere Differenzierung duktionsarbeit zugeschrieben, Männern die öf-
der Konsummuster ein. fentliche Sphäre der Produktion – körperlich an-
strengende Arbeit galt somit als männlich.
01 Siehe www.youtube.com/watch?​v=​noEKku7eJOk. Das naturwissenschaftliche Ernährungswis-
02 Vgl. Frithjof Nungesser/Martin Winter, Meat and Social sen war und ist eng mit politischen Zielen ver-
Change, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 2/2021,
knüpft. Während große Teile der arbeitenden
S. 109–124.
03 Max Rubner-Institut, Nationale Verzehrsstudie II. Lebens­
Klassen verelendeten, sollte die Wissenschaft eine
mittelverzehr und Nährstoffzufuhr auf Basis von 24h-Recalls, Wissensgrundlage dafür bereitstellen, wie viel
Mai 2013, S. 3. Nahrung die Arbeiter*­innen „wirklich“ bräuch-
04 Vgl. Dietmar Bartz, Der Tierverbrauch im Lebenslauf, ten. Wer von einem solchen Lohn nicht überle-
in: Heinrich-Böll-Stiftung/Bund für Umwelt und Naturschutz
ben könne, sei selbst schuld: „Die Argumentati-
Deutschland/Le Monde diplomatique (Hrsg.), Fleischatlas extra:
Abfall und Verschwendung, Berlin 2014, S. 11–19.
on entpolitisierte die Magenfrage als soziale Frage
05 Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogene-
tische und psychogenetische Untersuchungen. Wandlungen des 08 Vgl. dazu Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechts­
Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, charaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs-
Bd. 1, Frank­furt/M. 19785, S. 160. und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte
06 Ebd., S. 161. der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363–393.
07 Hans Jürgen Teuteberg, Der Fleischverzehr in Deutschland 09 Ole Fischer, Männlichkeit und Fleischkonsum. Historische
und seine strukturellen Veränderungen, in: ders., Unsere tägliche Annäherungen an eine gegenwärtige Gesundheitsthematik, in:
Kost, Münster 19882, S. 63–73, hier S. 73. Medizinhistorisches Journal 1/2015, S. 42–65, hier S. 52 f.

21
APuZ 51–52/2021

und individualisierte die Verantwortung für Hun- mit Essen, dass eine „richtige“ Mahlzeit Fleisch
ger und Mangelernährung.“10 In den sogenannten enthalten müsse. Fleisch zu essen, sei daher eine
Kostsätzen, in denen die zur körperlichen Repro- „von den meisten Menschen nicht hinterfragte
duktion vermeintlich notwendige Nahrung defi- Grundregel“.13
niert wurde, spiegelte sich so dann auch die oben Eine der umfassendsten Untersuchungen des
skizzierte Verbindung von Fleisch, Männlichkeit Fleischkonsums in der Industriegesellschaft hat
und körperlicher Stärke: Am Beispiel der „Kost- der französische Soziologe P ­ ierre Bourdieu in
maße“ des Physiologen Carl Voit (1831–1908) seiner berühmten Studie „Die feinen Unterschie-
zeigt die Sozialwissenschaftlerin Lisa Mense, de“ 1979 vorgelegt. Er erarbeitete die These, dass
dass „mittleren Arbeitern“ ein extrem hoher Ei- der „Geschmack“ für bestimmte Speisen auf für
weißbedarf zugeschrieben wurde, der nur durch die jeweilige soziale Position spezifisch erwor-
Fleisch zu decken gewesen sei. Die Kostmaße benen Dispositionen des „Habitus“ basiert. Ein
waren also „keineswegs geschlechtsneutral, denn „legitimer Geschmack“ diene so der Distinkti-
im Grundsatz sollte dabei das Fleisch den Män- on, also der symbolischen Abgrenzung zwischen
nern vorbehalten sein“.11 In den Kostmaßen zeigt verschiedenen Klassenpositionen und zwischen
sich nicht zuletzt auch die Analogie zwischen der den Geschlechtern. Zwischen den unteren und
Dampfmaschine, der zu dieser Zeit alles domi- oberen Klassen unterscheiden sich Essensprakti-
nierenden technischen Errungenschaft, und dem ken nach ihrer zentralen Funktion „Form“ oder
Bild des männlichen arbeitenden Körpers, der „Substanz“: „Substanz“ zu konsumieren, bedeu-
die Kalorien der Nahrung „verbrennt“. Das na- te, reichlich stärkende Lebensmittel zu konsu-
turwissenschaftliche Wissen drückte ein bürger- mieren, die vor allem den Männern unbegrenzt
liches Verständnis von Männlichkeit aus, denn es zustehen, während „Form“ als asketische Pra-
„nährte sich mithin aus einer sozialen Praxis von xis die ästhetische Komponente durch Essen ein-
Männlichkeit, die durch Kraft und Arbeit charak- schließe. Die sozial differenzierte Nahrungspra-
terisiert sowie an der Optimierung des Verhält- xis hänge weiterhin mit sozial differenzierten
nisses beider im Rahmen einer industrialisierten Körperbildern zusammen und resultiere schluss-
Produktionsweise und Erwerbstätigkeit ausge- endlich in sozial differenzierten Körpern: „Der
richtet war“.12 Geschmack für bestimmte Speisen und Geträn-
ke hängt (…) sowohl ab vom Körperbild, das in-
FLEISCHKONSUM nerhalb einer sozialen Klasse herrscht, und von
ALS DISTINKTION der Vorstellung über die Folgen einer bestimm-
ten Nahrung für den Körper, das heißt auf des-
Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist sen Kraft, Gesundheit und Schönheit.“14 Das Re-
Fleischkonsum breiten gesellschaftlichen Schich- sultat sei daher die „Körper gewordene Klasse“15
ten erschwinglich und damit zu dem Massen- beziehungsweise das „Körper gewordene Ge-
phänomen geworden, wie wir es heute kennen. schlecht“,16 wie die Soziologin Monika Setzwein
Fleisch kommt dabei im Speiseplan eine beson- ergänzt. Der Geschmack für Fleisch spielt bei der
dere Stellung zu. Der Anthropologe Nick Fid- Distinktion zwischen den Geschlechtern dann
des beschreibt die Stellung von Fleisch in der Ge- eine herausragende Rolle: „Fleisch, die nahr-
genwart so, dass es nahezu gleichbedeutend ist hafte Kost schlechthin, kräftig und Kraft, Stär-
ke, Gesundheit, Blut schenkend, ist das Gericht
der Männer, die zweimal zugreifen, während die
10 Eva Barlösius, Soziologie des Essens. Eine sozial- und Frauen sich mit einem Stückchen begnügen.“17
kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung,
Weinheim–München 20112, S. 61.
11 Lisa Mense, Gesunde Ernährung im Kontext von Lebens- 13 Nick Fiddes, Fleisch. Symbol der Macht, Frank­furt/M. 19933,
stilen und Geschlecht, in: Zeitschrift für Frauenforschung und S. 18.
Geschlechterstudien 1/2007, S. 23–35, hier S. 25. 14 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesell-
12 Maria Osietzki, Körpermaschinen und Dampfmaschinen. schaftlichen Urteilskraft, Frank­furt/M. 1987, S. 305.
Vom Wandel der Physiologie und des Körpers unter dem Einfluß 15 Ebd., S. 307.
von Industrialisierung und Thermodynamik, in: Philipp Sarasin/ 16 Monika Setzwein, Ernährung – Körper – Geschlecht. Zur
Jakob Tanner (Hrsg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft. sozialen Konstruktion von Geschlecht im kulinarischen Kontext,
Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und Wiesbaden 2004, S. 226.
20. Jahrhundert, Frank­furt/M. 1998, S. 313–346, hier S. 321 f. 17 Bourdieu (Anm. 14), S. 309.

22
Fleisch APuZ

Die in der Industrialisierung entstandene Eingangsbeispiel des Edeka-Spots zeigt, ist das
Verbindung von Kraft und Stärke, Fleisch und Grillen von Fleisch eine über die Klassengren-
Männlichkeit hat sich demzufolge durch das Ein- zen hinweg sehr stark männlich codierte Praxis.
schreiben in habituelle Handlungsmuster in der Grillen von Fleisch auf offenem Feuer als beson-
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kulturell dere Zubereitungsart existiert in seiner heutigen
stabilisiert. Allerdings ist diese Norm vor allem Form seit den 1960er Jahren und ist damit auch
in unteren Schichten wirksam und nimmt nach als Folge der Elektrifizierung des Kochens im
oben hin im sozialen Raum ab. In einem Ver- Haus zu betrachten.21 Dass Männer am Grill ste-
gleich der Koch- und Konsumpraktiken von vier hen, ist damit einerseits an die vergeschlechtlichte
unterschiedlich situierten Paaren zeigen die So- Aufteilung der Sphären von innen und außen ge-
zialwissenschaftlerinnen Petra Frerichs und Mar- bunden und andererseits als Folge davon zu be-
garete Steinrücke, wie Fleisch zwischen den Klas- trachten, dass das Zubereiten auf offenem Feuer
sen „eine Art Scheidemarke [ist] (…). [F]ür das zu einer besonderen Tätigkeit wurde, die sich von
Arbeiterpaar [ist] Fleisch als traditionelle Kraft- der alltäglichen Kocharbeit unterscheidet. Erst so
nahrung nach wie vor von großer Bedeutung.“18 erlaubt Grillen die Konstruktion einer Männlich-
In einer aktuelleren Analyse von verschiede- keit, in der sich „der Mann als mutiger Urmensch
nen Lebensmittelwerbungen bestätigen die Ge- inszeniert“, sowie die „Vorstellung einer traditi-
schlechterforscherinnen Sabine Flick und Lot- onellen Gesellschaft (…), in der der Mann Ober-
te Rose, dass Fleisch eher „in einem männlichen haupt und Ernährer“ ist.22
Milieu verortet wird, das nicht hegemonial ist“.19
Die Rolle, die Fleisch in der Konstruktion von FLEISCH, SEXISMUS
Männlichkeiten einnimmt, unterscheidet sich UND DIE „NEUEN KARNIVOREN“
folglich stark nach der jeweiligen Klassenpositi-
on. Je höher die Position, desto stärker nimmt die Neben der Verbindung von Fleisch und Männ-
Wichtigkeit der Fleischmenge ab und die Quali- lichkeit über körperliche Kraft und Stärke, die
tät beziehungsweise das symbolische Prestige des die Geschlechterdifferenz körperlich inszeniert,
verzehrten Fleisches zu. glaubhaft macht und die Position des Mannes als
Nicht nur der Verzehr von Fleisch ist ge- vermeintlich „starkes Geschlecht“ reproduziert,
schlechtlich strukturiert, auch die Zubereitung ist gibt es noch eine weitere relevante Verbindungs-
unterschiedlich verteilt – entsprechend der „tra- linie: Aufgrund der Eigenschaft, dass Fleisch
ditionellen“ Arbeitsteilung, die der Frau in he- notwendigerweise das Produkt des Tötens ei-
terosexuellen Partnerschaften die Reprodukti- nes Tieres ist, ist es ein „natürliches Symbol der
onsarbeit zuschreibt. Frerichs und Steinrücke Macht“.23 Fleisch symbolisiert aber nicht nur die
zeichnen nach, dass in oberen Klassenfraktionen Herrschaft des Menschen über die Natur, son-
die Frauen eher die alltägliche Kocharbeit leisten, dern auch die patriarchale Herrschaft des Man-
während Männer die aufwendigen Gerichte für nes über die Frau. Die Einverleibung des getö-
Gäste zubereiten. Die Autorinnen folgern, dass teten Tieres erzeuge eine „karnivore Virilität“.24
Männer „sich auf das Feld des Kochens in Form Das zeigt sich auch darin, dass die „Assoziationen
öffentlicher Selbstdemonstration und Selbstbe- zwischen Fleischerei und Sexualität (…) eine lan-
hauptung (…) begeben. Sofern Kochen zu einem ge Tradition“ haben.25 Es „erweckt den Eindruck,
‚männlichen Spiel‘ konstituiert ist, lohnt es sich als ob Frauen von Männern so wahrgenommen
für sie, sich daran zu beteiligen.“20 Wie auch das

21 Vgl. Sacha Szabo, Natural Born Griller. Die Inszenierung


18 Petra Frerichs/Margareta Steinrücke, Kochen – ein männli- von Männlichkeit am Grill, in: Sacha Szabo/Hannah Köpper
ches Spiel? Die Küche als geschlechts- und klassenstrukturierter (Hrsg.), BBQ. Grillen – eine Wissenschaft für sich. Antworten der
Raum, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hrsg.), Ein alltägliches Spiel. Forschung auf ein Massenphänomen, Marburg 2014, S. 9–24,
Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frank­furt/M. hier S. 21.
1997, S. 231–255, hier S. 252. 22 Ebd., S. 21 f.
19 Sabine Flick/Lotte Rose, Bilder zur Vergeschlechtlichung des 23 Fiddes (Anm. 13).
Essens. Ergebnisse einer Untersuchung zur Nahrungsmittelwer- 24 Jacques Derrida, „Man muß wohl essen“ oder die Berech-
bung im Fernsehen, in: Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur nung des Subjekts, in: ders., Auslassungspunkte. Gespräche,
und Gesellschaft 2/2012, S. 48–65, hier S. 52. Wien 1998, S. 267–298, hier S. 291.
20 Frerichs/Steinrücke (Anm. 18), S. 254. 25 Setzwein (Anm. 16), S. 135.

23
APuZ 51–52/2021

würden, als seien sie mit gejagtem oder gezüch- Discounter, sondern fährt mit seinem Landrover
tetem Fleisch vergleichbar“.26 In ihrer berühmten selbstverständlich 100 km weit, um beim Gallo-
Studie zur „Geschlechterpolitik des Fleisches“ way-Züchter ein halbes Rind zu kaufen, das er
zeigte die Feministin und Tierrechtlerin Carol J. in seiner 50 qm großen Küche selbst entbeint.“31
Adams, wie die Sprache der Fleischerei sich auf Diese Rückkehr zum „richtigen“ Fleischkonsum
Felder einer männlich-dominierten Sexualität, grenzt sich in dieser Form von dem Massenkon-
der Pornografie bis hin zu sexualisierter Gewalt sum unterer Schichten ab. Diese Art der „neuen
erstreckt: „‚Fleisch‘ wird zu einem Begriff, der Karnivoren“32 ist dabei auch eine offensive Ver-
die Unterdrückung von Frauen zum Ausdruck teidigung von Männlichkeit und der Herrschaft
bringt, und wird in diesem Sinn genauso vom über die Natur.
Patriarchat wie von Frauen verwendet, die sa-
gen, eine Frau ist ein ‚Stück Fleisch‘.“27 In aller VEGETARISMUS, VEGANISMUS
Deutlichkeit zeigt sich der Zusammenhang von UND MÄNNLICHKEIT
Sexismus und Fleisch in der Werbung. Die Ger-
manistin Nicole Wilk demonstriert anhand eines Diese Position wird herausgefordert von Ent-
Wiesenhof-Spots, in dem Dieter Bohlen und eine wicklungen, in deren Zuge Fleischkonsum zu-
Frau im Bikini zu sehen sind, ein „Changieren gunsten einer veganen, vegetarischen oder fle-
zwischen Sex- und Essbegehren (…) in sprach- xitarischen Ernährungsweise aufgegeben oder
lich und bildlich wechselnder Bezugnahme vom bewusst reduziert wird. Vegetarische Ernährung
Tier- auf den Frauenkörper“.28 ist aber kein neues Phänomen. Vielmehr ging
Diese Bildsprache nutzt auch das vieldisku- mit der Zunahme des Fleischkonsums ab Mit-
tierte Magazin „Beef!“. Als erste explizit an Män- te des 19. Jahrhunderts auch eine entsprechende
ner gerichtete Ernährungszeitschrift orientiert es Gegenbewegung einher: Mit der Lebensreform-
sich in der Darstellung von Fleisch an pornografi- bewegung kam auch die vegetarische Ernährung
schen Inszenierungen, wie der Chefredakteur Jan als antimoderne Protesthaltung auf.33 Bemer-
Spielhagen selbst erklärt: „In derselben Art und kenswert ist, dass die damals überwiegend männ-
Weise, wie der ‚Playboy‘ Frauen darstellt, stellen lichen Vegetarier große Anstrengungen unter-
wir Cuts von Fleisch dar.“29 Sexistische Referen- nahmen, um zu demonstrieren, dass die damals
zen werden in dieser Zeitschrift gepaart mit ei- neue, dominierende Männlichkeit, die sich durch
ner scheinbar widersprüchlichen Kombination körperliche Stärke und Leistungsfähigkeit aus-
aus hochgradig technologisierten Zubereitungs- zeichnet, auch ohne Fleisch möglich ist.34 Diese
wegen wie Knochensägen oder Weber-Grills und Strategie zeigt, wie wichtig Fleisch und körper-
der Darstellung von Ursprünglichkeit in Form liche Stärke für die Verkörperung einer „ech-
von offenem Feuer – in dieser Verbindung eine ten“ Männlichkeit war und bis heute ist, denn der
Distinktionspraxis höherer Klassenpositionen.30 Fleischverzicht galt und gilt als weiblich codiert:
Bemerkenswert ist dabei auch, dass nicht nur „Vegetarisch lebende Männer gelten vielfach als
die Zubereitung und das Essen von Fleisch be- verweichlichte Schwächlinge.“35
handelt werden, sondern auch das eigenhändi- Der Vegetarismus war nach seiner Hochpha-
ge Zerteilen des Tieres für den „Mann von Welt“ se mit der Lebensreformbewegung in der zweiten
eine Renaissance erfährt: „Der Mann, den BEEF! Hälfte des 20. Jahrhunderts eher ein Randphä-
konstruiert, kauft nicht das abgepackte Steak im nomen. Der Anteil der Vegetarier*­ innen in
Deutschland lag Anfang der 1980er Jahre bei un-
ter einem Prozent, ist seitdem aber konstant ge-
26 Fiddes (Anm. 13), S. 179.
stiegen und liegt mittlerweile bei etwa zehn Pro-
27 Carol J. Adams, Zum Verzehr bestimmt. Eine feministisch-
vegetarische Theorie, Wien 2002, S. 52.
28 Nicole M. Wilk, Vom „Curryking“ zum „LadyKracher“.
Kultursemiotischer Wandel in der Werbung von Geflügelfleisch, 31 Julia Bodenburg, Fleisch – letzte Zuflucht des Maskulinen,
in: Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesell- in: Figurationen 1/2014, S. 56–66, hier S. 61.
schaft 1/2013, S. 120–128, hier S. 123. 32 Jovian Parry, Gender and Slaughter in Popular Gastronomy,
29 Zit. nach Carsten Otte, Der gastrosexuelle Mann: Kochen in: Feminism & Psychology 3/2010, S. 381–396.
als Leidenschaft, Frank­furt/M. 2014, S. 87. 33 Vgl. Barlösius (Anm. 10), S. 118–122.
30 Vgl. Alexandra Rabensteiner, Fleisch. Zur medialen Neuaus- 34 Vgl. Fischer (Anm. 9), S. 58 ff.
handlung eines Lebensmittels, Wien 2017, S. 119. 35 Setzwein (Anm. 16), S. 133.

24
Fleisch APuZ

zent.36 Der Anstieg der fleischfreien Ernährung gien entwickeln, ihre Männlichkeit abzusichern:
hat sicherlich mit den zunehmenden Problemati- Wie schon zu Zeiten der Lebensreformbewegung
sierungen von Fleisch zu tun. Allerdings lässt sich werden reale oder vermeintliche Leistungsvortei-
auch ein allgemeiner ernährungskultureller Wan- le beim Sport hervorgehoben.40 Besonders ein-
del beobachten, der diesen Anstieg begünstigt drücklich zeigt sich das an der Dokumentation
und bei dem auch Männlichkeiten eine wichtige „The Game Changers“, in der Stars wie Arnold
Rolle spielen. Mit dem „neoliberalen“ Um- be- Schwarzenegger oder Lewis Hamilton auftreten.
ziehungsweise Abbau sozialer Sicherungssysteme Auffällig ist, dass mit der Betonung von körper-
einerseits und der Prekarisierung in der Arbeits- lichen Vorteilen veganer Ernährung die ethischen
welt, mit der auch die vermeintliche Sicherheit Motive weniger im Vordergrund stehen. Der His-
der Position des Mannes als „Ernährer“ der Fa- toriker Ole Fischer kann belegen, dass diese his-
milie verschwindet,37 wird die individuelle Sorge torisch eher als weiblich gelten,41 und auch heute
um den Körper und dessen „Fitness“ immer be- gibt es ähnliche Tendenzen, wie etwa die Bewe-
deutender: „In diesem Sinne wäre die Anerken- gung der „Hegans“ zeigt. Mit dieser Wortschöp-
nung von Körpern, auch der Geschlechtskörper, fung aus „He“ für health und „vegan“ grenzen
nicht mehr gerahmt als Verkörperung einer on- sich Männer von ethischen Überzeugungen ab.42
tologischen Natur, sondern als Willen zur sicht- Diese Bewegung ist aber nicht die einzige Art, wie
baren Körperarbeit. Wer diesen Willen nicht ver- die Verbindung von Fleisch und Männlichkeit he-
körpert, gilt zunehmend, so ließe sich warnend rausgefordert wird. Während dort eher Fleisch
sagen, als nicht inklusionsfähig.“38 Die eigene Er- als Quelle von Körperkraft zurückgewiesen und
nährung verliert damit an Selbstverständlichkeit das Konzept starker Maskulinität nicht angegrif-
und bedarf einer zunehmenden Rechtfertigung – fen wird, gibt es in Verbindung mit Fleischver-
mit dem Effekt, dass der Verzicht auf Fleisch an zicht auch alternative und „hybride“ Männlich-
Legitimität gewinnt, wenn er als Selbstoptimie- keitskonzepte, die als Form einer „empathischen
rung verstanden wird.39 40123 Männlichkeit“ ethische und moralische Überzeu-
Die enge Verbindung von Fleisch, körperli- gungen als Abgrenzung zur naturbeherrschenden
cher Stärke und Männlichkeit sowie die weibli- Männlichkeit der „neuen Karnivoren“ ins Feld
che Konnotation pflanzlicher Kost sind aber nach führen.43
wie vor wirkmächtige kulturelle Leitbilder. Dies Die Frage, ob und wenn ja welches Fleisch
zeigt sich daran, dass männliche Veganer Strate- konsumiert wird und in welcher Menge, ist da-
mit zu einer gesellschaftlichen Kampfarena um
die „richtige“ Verkörperung von Männlichkeit
36 Vgl. Claus Leitzmann/Markus Keller, Vegetarische Ernäh- geworden. Eine starre Zuweisung – Fleisch und
rung, Stuttgart 2010, S. 17.
nur Fleisch ist männlich – wird zunehmend von
37 Vgl. Cornelia Koppetsch/Sarah Speck, Wenn der Mann kein
Ernährer mehr ist. Geschlechterkonflikte in Krisenzeiten, Berlin
anderen Männlichkeitskonzepten herausgefor-
2015. dert, woraufhin wiederum eine Männlichkeit zu
38 Paula-Irene Villa, Prekäre Körper in prekären Zeiten – Am- verzeichnen ist, die sich zurück in eine Positi-
bivalenzen gegenwärtiger somatischer Technologien des Selbst, on des patriarchalen „Herren des Feuers“ imagi-
in: Ralf Mayer/Christiane Thompson/Michael Wimmer (Hrsg.),
niert – auch, wenn es nur für das Gartenfest mit
Inszenierung und Optimierung des Selbst, Wiesbaden 2013,
S. 57–73, hier S. 69.
der Nachbarschaft ist.
39 Vgl. Martin Winter, Vegan – Fit – Männlich. Veganismus
zwischen Selbstoptimierung und hegemonialer Männlichkeit, in:
Jana Rückert-John/Melanie Kröger (Hrsg.), Fleisch. Vom Wohl-
standssymbol zur Gefahr für die Zukunft, Baden-Baden 2019,
S. 447–466.
40 Vgl. Jennifer Brady/Matthew Ventresca, „Officially A Vegan
Now“: On Meat and Renaissance Masculinity in Pro Football, in:
Food and Foodways 4/2014, S. 300–321.
41 Vgl. Fischer (Anm. 9), S. 57.
42 Justine Ann Johnson, Hegans. An Examination of the
MARTIN WINTER
Emerg­ing Male Vegan, Mankato 2011.
43 Vgl. Jessica Greenebaum/Brandon Dexter, Vegan Men
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für
and Hybrid Masculinity, in: Journal of Gender Studies 6/2018, Soziologie der Technischen Universität Darmstadt.
S. 637–648; Winter (Anm. 39). winter@ifs.tu-​darmstadt.de

25
APuZ 51–52/2021

WIE TIERE ZU FLEISCH WERDEN


Transformationsherausforderungen
der Fleischwirtschaft
Achim Spiller · Gesa Busch

In weiten Teilen der Öffentlichkeit läuft der- wirtschaftlichen Strategieplan innerhalb des Eu-
zeit eine rege Diskussion um die Zukunft der ropean Green Deals die Bezeichnung „From
Tierhaltung und des Fleischkonsums. In der Farm to Fork“.03
hochgradig politisierten und polarisierten so- Zentrales Glied in der Wertschöpfungskette
wie medial aufgeladenen Debatte geht es um ist die Tierhaltung. 2020 gab es in Deutschland
die Nachhaltigkeit individueller Ernährungssti- 75 200 Mastrinderbetriebe. In diesem Bereich
le, um die Entwicklung der Land- und Fleisch- sind kleine Betriebsstrukturen dominierend,
wirtschaft sowie um Agrar- und Ernährungs- durchschnittlich zählt hier ein Betrieb 13 Tiere.
politik. In Deutschland ernährten sich im Jahr Die Rindfleischproduktion in Deutschland wird
2021 etwa fünf bis sechs Prozent der Menschen stark durch die Milchviehhaltung beeinflusst,
vegetarisch und essen kein Fleisch und keine denn Tiere, die dort nicht zur Reproduktion be-
Wurst, ein bis zwei Prozent ernähren sich ve- nötigt werden, landen in der Regel als Masttie-
gan und verzichten auf tierische Produkte. 01 re in der Rindfleischproduktion. Neben diesen
Obwohl also für einen Großteil der Menschen Masttieren werden auch rund 640 000 Mutter-
in Deutschland Fleisch und Wurst nach wie vor kühe gehalten, deren Kälber nach dem Abset-
zur Ernährung gehören, wünschen sich viele zen in die Rindermast gehen.04 Im Bereich der
eine veränderte, bessere Form der Tierhaltung, Schweinemast halten die rund 20 400 Betriebe
und auch viele Wis­sen­schaft­ler:­innen sprechen im Schnitt 1250 Tiere. Diese Betriebe erhalten
sich für eine Transformation der landwirt- die benötigten Ferkel entweder von spezialisier-
schaftlichen Nutztierhaltung aus.02 Ein Umbau ten Sauenbetrieben oder ziehen die Ferkel selbst
der Tierhaltung ist jedoch mit vielfältigen He- im sogenannten geschlossenen System auf. 3200
rausforderungen verbunden. In diesem Beitrag Betriebe halten in Deutschland Masthühner. Die
wollen wir aufzeigen, wie Wertschöpfungsket- durchschnittliche Betriebsgröße liegt bei knapp
ten in der Fleischwirtschaft aufgebaut sind, vor 30 000 Tieren pro Betrieb, standardmäßig um-
welchen Herausforderungen sie stehen und fassen die Ställe heutzutage jedoch knapp 40 000
welche Handlungspfade sich daraus für eine Tiere. Auf 6800 Betrieben wird weiteres Geflü-
nachhaltigere Fleischerzeugung in Deutsch- gel wie Puten, Enten oder Gänse gemästet. Da-
land ergeben. bei sind die Putenbetriebe mit durchschnitt-
lich 6000 Tieren deutlich größer als Enten- oder
WERTSCHÖPFUNGSKETTE Gänsehaltungen.
DER FLEISCHWIRTSCHAFT Ein wesentlicher Treiber der landwirtschaft-
lichen Produktionssteigerung ist die Tierzucht.
Die landwirtschaftliche Tierhaltung ist einge- Durch systematische Selektion, die durch die
bunden in eine Wertschöpfungskette, die von Verfügbarkeit genetischer Informationen über
der Futtermittelproduktion bis zum Lebens- die Tiere noch präziser geworden ist, werden
mittelhandel reicht (Abbildung). Nur wenn man die „Leistungen“ der Tiere im Sinne von täg-
den Blick auf diese gesamte meat chain richtet, licher Mastzunahme erhöht. Besonders gro-
lassen sich die ökonomischen Entwicklungen ße Produktivitätsfortschritte hat die Geflü-
verstehen und Nachhaltigkeitskonzepte einord- gelzucht erzielt. Strukturell schlägt sich die
nen. Die EU verwendet deshalb für ihren land- Technisierung der Geflügelzucht in einem sehr

26
Fleisch APuZ

Wertschöpfungskette für Fleisch in Deutschland 2020 (abweichende Bezugsjahre sind angegeben)

Tierzucht Mischfuttermittel Stallbau &


Beispielsweise: Beispielsweise: Stalleinrichtung
Beispielsweise:

Tierhaltung
Mastrinder Schweine
Anz. tierhaltender Betriebe 75.200 20.400 3.200 6.800
Anz. Tiere gesamt 943.000 25,5 Mio. 92,5 Mio. 14,0 Mio.
Tiere pro Betrieb 13 1.250 29.278 2.074

Viehhandel/Genossenschaften

Schlachtung & Zerlegung Anzahl geschlachteter Tiere

Tierart 2020*
Schwein Rind Vorjahr (%)

Schwein 53.214,5 -3,5


Westfleisch 30%
Vion Food
42% Rind 3.244,8 -4,2
Andere 14% 5 Mrd. Umsatz 2,7 Mrd. Umsatz 670.136,5 +1,9
14% (2019) (2019)
Einheit: Marktanteile in % *Einheit: 1000 Tiere

Wurstverarbeitung
1000
The Family Butcher 720
Sutter 326
0 100 200 300 400 500 600 700 800 900 1000
Umsatz in Mio.
= Produktion von 1,56 Mio. Tonnen Wurst insgesamt in Deutschland (2019)

Lebensmitteleinzelhandel Weitere Import/ Export


Absatzwege Fleisch Einfuhr Ausfuhr SVG Pro-Kopf-
Top 1 Top 2 Top 3 Top 4 - Gastronomie,
nach
Tierart
(to) (to) * (%) Verbrauch
Jahr (kg)
Fast-Food-Anbieter
- Metzgereien Schwein 956.600 2.278.400 125 45,5

- Online-Fleischversand 944.300 728.000 97 22,3


- Convenience-
Produkte Rind, 460.000 359.100 95 14,3
Kalb
= zusammen 74,5 % Marktanteil
*Selbstversorgungsgrad

Quelle: eigene Darstellung auf Basis von Daten aus der „Allgemeinen Fleischerzeitung“, der Bundesanstalt Landwirtschaft und Ernäh-
rung, des Bundesinformationszentrums Landwirtschaft, des Bundesverbands der deutschen Fleischwarenindustrie, des Situationsberichts
des Deutschen Bauernverbands, der „Lebensmittelzeitung“, des Statistisches Bundesamtes und des Thünen-Instituts.

27
APuZ 51–52/2021

hohen Konzentrationsgrad der Zuchtunterneh- Die Futtermittelindustrie produziert auf der


men nieder, gefolgt von der Schweinezucht, Basis landwirtschaftlicher Erzeugnisse wie Mais
während in der Rinderzucht noch deutlich oder Getreide, verschiedenen Verwertungsresten
mehr kleinere Anbieter auf dem Markt vertre- der Lebensmittelindustrie wie Schlachtneben-
ten sind. Beim Mastgeflügel ist die EW Group produkten oder Brauresten und Zusatzstoffen
(Erich-Wesjohann-Gruppe) in Visbek einer der wie Aminosäuren und Mineralstoffen sogenann-
beiden globalen Marktführer. tes Mischfutter, das landwirtschaftliche Betrie-
In der Landwirtschaft werden Tiere heute be neben den selbst angebauten Futtermitteln
überwiegend in Ställen gehalten.1234 Stallbau­unter­ wie Grassilage für Rinder verfüttern. In der flä-
nehmen und Tierhaltungstechnik sind daher chenlosen Intensivtierhaltung bei Geflügel und
ein wichtiger Teil der Wertschöpfungskette. Die- Schweinen gibt es auch Betriebe, die gar kein ei-
ser Markt ist wesentlich konzentrierter als die genes Futter erzeugen, sondern das Futter kom-
landwirtschaftlichen Betriebe. Weltmarktfüh- plett zukaufen. Im Vergleich zu anderen Sektoren
rer ist das in Vechta-Calveslage angesiedelte Un- ist der Konzentrationsgrad bei den Mischfutter-
ternehmen Big Dutchman International GmbH, herstellern vergleichsweise gering.
das mit Tochtergesellschaften in mehr als 100 In Schlacht- und Verarbeitungsunterneh­
Ländern Ställe für die Geflügel- und Schweine- men werden die Tiere getötet und zu Fleisch und
haltung vertreibt. Während Ställe in den vergan- Wurst weiterverarbeitet. Die Branche hat sich
genen Jahrzehnten zunehmend vergrößert und in den vergangenen Jahren in Deutschland stark
technisiert wurden, hat die Auslauf- beziehungs- konzentriert. Tönnies ist Marktführer und Leit-
weise Freilandhaltung bei den meisten Tieren an unternehmen bei der Schweineschlachtung. Der
Bedeutung verloren. Unter dem Begriff precis- Marktanteil der vier größten Anbieter liegt hier
ion livestock-farm­ing wird die Indoor-Haltung bei rund 58 Prozent. Tönnies ist nach einigen
mittels digitaler Technologien wie zum Beispiel Übernahmen auch der größte deutsche Wurst-
Transpondern zur automatischen Tiererkennung produzent. Die Zahl kleinbetrieblicher und
und -sortierung, Pedometern zur Aktivitätserfas- handwerklicher Schlachtbetriebe ist seit Jahren
sung oder Anlagen zur automatischen Steuerung rückläufig. So hat sich die Zahl der Fleischerfach-
des Stallklimas professionalisiert, während ver- betriebe (Metzger) von knapp 15 500 Betrieben
gleichsweise wenig zu arbeitsintensiveren Out- 2010 auf 11 191 im Jahr 2020 verringert.05 Noch
door-Systemen geforscht wird. konzentrierter als bei Rindern und Schweinen
ist die Geflügelschlachtung. Hier ist die PHW-
Gruppe (Lohmann & Co. AG) Marktführer, mit
01 Zahlen zum Vegetarier- und Ve­g a­n er:­innen­a n­teil einigem Abstand gefolgt von Rothkötter und der
in Deutschland schwanken je nach Quellenangabe. Das
Sprehe-Gruppe. Eine Besonderheit der Geflügel-
Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft gibt
diesen im Ernährungsreport 2020 mit insgesamt sechs
branche ist die starke vertikale Integration, bei
Prozent der Bevölkerung an, siehe www.bmel.de/Shared- der fast die gesamte Wertschöpfungskette einem
Docs/Downloads/DE/Broschueren/ernaehrungsreport-​2 020. Unternehmen untersteht. So besitzt die PHW-
pdf. Das Institut für Demoskopie Allensbach kommt für Gruppe neben Schlachtung und Verarbeitung
2020 auf 9,2 Prozent der Menschen, die weitgehend auf
auch eigene Eltern­ tier­
herden, Brütereien und
Fleisch verzichten, siehe Codebuch AWA 2020, Essen und
Trinken, 4. 11. 2021, www.ifd-​a llensbach.de/fileadmin/AWA/
Futtermühlen.
AWA2020/Codebuchausschnitte/AWA2020_Codebuch_Es- Der Lebensmitteleinzelhandel ist der wich-
sen_und_Trinken.pdf. tigste Abnehmer von Fleisch- und Fleischer-
02 Vgl. Achim Spiller et al., Wege zu einer gesellschaftlich zeugnissen und steht für etwa 70 bis 80 Prozent
akzeptierten Nutztierhaltung, Gutachten des Wissenschaftlichen
des inländischen Absatzes. Der Rest entfällt auf
Beirats für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung
und Landwirtschaft, Berichte über Landwirtschaft, Sonderheft
den Außer-Haus-Konsum in der Gastronomie,
221/2015. auf Fast-Food-Anbieter sowie Mensen und Kan-
03 Siehe https://ec.europa.eu/food/horizontal-​topics/farm-​ tinen. Ein erheblicher Teil des Fleisches wird
fork-​strategy_de. exportiert: 33 Prozent bei Rind, 45 Prozent bei
04 Vgl. Zazie von Davier/Johan Schütte/Josef Efken, Steck­
briefe zur Tierhaltung in Deutschland: Mastrinder 2020, Thünen-
Institut, 21. 10. 2020, www.thuenen.de/media/ti-​themenfelder/ 05 Vgl. Anzahl der Betriebe im Fleischerhandwerk in Deutschland
Nutztierhaltung_und_Aquakultur/Haltungsverfahren_in_ in den Jahren 2002 bis 2020, 28. 10. 2021, https://de.statista.com/
Deutschland/Rindermast/Steckbrief_Mastrinder_​2020.pdf. statistik/daten/studie/​310568.

28
Fleisch APuZ

Eine Sau säugt ihre neugeborenen Ferkel in einem Kastenstand.


© laif / Nadja Wohlleben

Schwein und 44 Prozent bei Geflügel. Hier han- ÖKONOMIE DER


delt es sich vor allem um Teile, die in Deutsch- FLEISCHWIRTSCHAFT
land kaum oder gar nicht (mehr) gegessen wer-
den, beispielsweise sehr fette Teile, Innereien In den 1990er bis 2010er Jahren war die deut-
oder Füße.06 sche Fleisch- und Milchwirtschaft mit einem
Die Verzahnung zwischen den Stufen der für Deutschland untypischen Wettbewerbsmo-
Wertschöpfungskette wird zunehmend enger. So dell erfolgreich: der Kostenführerschaft, also
haben die großen Schlachtunternehmen durch- der Strategie, sich durch möglichst geringe Pro-
gehende Verarbeitungsketten vom Lebendtier duktionskosten mit möglichst niedrigen Ver-
bis zum verpackten Frischfleisch und zur Wurst kaufspreisen am Markt durchzusetzen. Erreicht
aufgebaut. In der Geflügelwirtschaft und zuneh- hat sie diese Position durch technologische In-
mend auch bei den anderen Tierarten integrieren novationen, züchterischen Fortschritt und ein
sie dabei auch die Landwirtschaft durch eigene beachtliches Größenwachstum der Betriebe.
Farmen oder durch Lohnmaststrukturen, in de- Dadurch konnten die Kosten pro Produktions-
nen die Land­wirt:­innen zwar formal selbständig, einheit massiv gesenkt werden.
wirtschaftlich aber abhängig eingebunden sind Für die Fleischwirtschaft ist das Beispiel Tön-
und nach bestimmten Vorgaben produzieren. nies kennzeichnend: Das Unternehmen hat seit
Zudem haben fast alle großen Handelsunter- den 1990er Jahren eine hocheffiziente Produkti-
nehmen inzwischen eigene Fleischwerke für den on mit bis zu 30 000 geschlachteten Schweinen pro
Selbstbedienungsfleischmarkt und die Wurst- Tag und Fabrik aufgebaut, kombiniert mit einer
produktion errichtet und damit ihre Machtpo- Verarbeitung des Fleisches, die bis zu verpacktem
sition gestärkt. Selbstbedienungsfleisch und der Wurstproduktion
reicht. Der Name des größten deutschen Schlacht-
06 Siehe https://bzl-​datenzentrum.de/versorgung/versorgungs- unternehmens und Wurstproduzenten ist am Pro-
bilanz-​fleisch-​grafik. dukt selbst aber nicht erkennbar, da die meisten

29
APuZ 51–52/2021

Produkte als Handelsmarken der großen Discoun- duktion des Fleischkonsums.09 Die Datenlage in
ter vermarktet werden. Auch im Export ist Tön- der Ernährungsforschung ist an dieser Stelle al-
nies erfolgreich und exportiert nach Gewicht mehr lerdings nicht besonders eindeutig. Es gibt eini-
als die Hälfte seiner Erzeugnisse in 82 Länder.07 ge Evidenz für negative Gesundheitseffekte ei-
Ein weiterer Grund für preiswertes Fleisch ist nes hohen Konsums von verarbeitetem Fleisch
die systematische Externalisierung von Umwelt- und Rotfleisch, wahrscheinlich verursacht durch
und sozialen Kosten sowie die Ausblendung von hohen Salzgehalt, gesättigte Fettsäuren und den
Tierschutzproblemen. Die „wahren“ Kosten der Einsatz von Nitritpökelsalz. Die Effekte sind
Lebensmittelproduktion liegen erheblich über aber nicht stark, und beim Geflügelfleischkon-
den heutigen Marktpreisen. Würde man allein die sum zeigen sich kaum Zusammenhänge zur Ge-
externen Kosten der Treibhausgasemissionen aus sundheit.10 Die Empfehlungen der Deutschen
der Tierproduktion einbeziehen, so würden die- Gesellschaft für Ernährung (DGE) zur deutli-
se über verschiedene Kategorien mit 2,41 Euro chen Reduzierung (Halbierung) des Fleischkon-
pro Kilogramm zu Buche schlagen – für Schwei- sums werden entsprechend ganzheitlicher mit
nefleisch wären es 1,72, für Geflügelfleisch 2,85 Bezug auf Nachhaltigkeit begründet. Die soge-
und für Fleisch von Wiederkäuern wie Rindern nannte planetary health diet, die von der EAT-
sogar 6,65 Euro pro Kilogramm.08 Lancet Commission als gesunde Ernährung
Die Kostenführerstrategie hat zu einer star- für Menschen und den Planeten vorgeschlagen
ken Standardisierung der Tierhaltung geführt wird, erachtet ebenfalls eine massive Reduktion
– trotz der vergleichsweise hohen Anzahl land- des Konsums tierischer Produkte auf etwa ein
wirtschaftlicher Betriebe. Differenzierungsmög- Viertel des heutigen Niveaus in Deutschland als
lichkeiten im Markt durch Unterschiede auf Ebe- notwendig.11
ne der landwirtschaftlichen Tierhaltung waren
daher, abgesehen vom Bio-Markt, lange kaum Umwelt- und Klimaschutz
vorhanden. Konsequenz der relativ einheitli- In den Agrarwissenschaften steht der Begriff
chen Produktion ist, dass Fleisch als sogenanntes „Veredelungsverluste“ für den Verlust von Ka-
commodity gehandelt wird, also als austauschba- lorien durch den Einsatz von pflanzlichen Kalo-
res Gut. Dabei ist aufgrund mangelnder Unter- rien, die in der Tierhaltung in tierische Kalorien
schiede zwischen Fleisch verschiedener Herstel- umgewandelt werden. Hierin liegt die natur-
ler allein der Preis kaufentscheidend. Durch diese wissenschaftliche Ursache der Belastung von
Austauschbarkeit haben die Handelsunterneh- Umwelt und Klima durch die Tierhaltung. Auf
men mehr Spielraum, den Preis zu drücken. etwa zehn Millionen Hektar wird in Deutsch-
land Tierfutter angebaut – das entspricht mehr
VIER GRO ẞ E NACHHALTIGKEITS­ als der Hälfte der landwirtschaftlich genutzten
HERAUSFORDERUNGEN Fläche. Von diesen zehn Millionen Hektar ist
wiederum etwa die Hälfte Grünland, die ande-
Einer nachhaltigen Ernährung wird wachsende
Bedeutung beigemessen. Mit Blick auf die vier
09 Vgl. Dominic Lemken/Achim Spiller/Birgit Schulze-Ehlers,
Dimensionen nachhaltiger Ernährung wirft die
More Room for Legume – Consumer Acceptance of Meat
Wertschöpfungskette der Fleischwirtschaft an Substitution with Classic, Processed and Meat-Resembling
unterschiedlichen Stellen Probleme auf. Legume Products, in: Appetite 143/2019, DOI: 10.1016/j.
appet.2019.104412.
Gesundheit 10 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ernährung
und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesminis-
Für viele Kon­ su­
ment:­
innen spielt Gesundheit
terium für Ernährung und Landwirtschaft (WBAE), Politik für
eine zentrale Rolle bei Überlegungen zur Re- eine nachhaltigere Ernährung: Eine integrierte Ernährungspo-
litik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten,
Gutachten, 21. 8. 2020, www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/
07 Siehe www.toennies.de/geschaeftsfelder/division-​internati- DE/_Ministerium/Beiraete/agrarpolitik/wbae-​gutachten-​nach-
onal. haltige-​ernaehrung.html.
08 Vgl. Maximilian Pieper/Amelie Michalke/Tobias Gaugler, 11 Vgl. Walter Willet et al., Food in the Anthropocene: The
Calculation of External Climate Costs for Food Highlights Inade- EAT–Lancet Commission on Healthy Diets from Sustainab-
quate Pricing of Animal Products, in: Nature Communications le Food Systems, in: The Lancet Commissions 10170/2019,
11/2020, Artikelnr. 6117. S. 447–492.

30
Fleisch APuZ

Schweinehälften frisch geschlachteter Schweine hängen in der Auskühlhalle eines Schlachthofes.


© laif / Stefan Volk

re Hälfte sind Ackerflächen und somit Flächen, bei Schwein und Geflügel. Geflügel ist in die-
auf denen auch Nahrungsmittel für die direk- ser Hinsicht am effizientesten. Ein Masthähn-
te menschliche Ernährung produziert werden chen in Deutschland erreicht heute eine Fut-
könnten.12 Etwa 34 Prozent der weltweiten an- terverwertung im Verhältnis von 1,6 zu 1 – es
thropogenen Treibhausgasemissionen kommen nimmt also mit 1,6 Kilogramm Futter etwa ein
aus der Lebensmittelproduktion – davon ent- Kilogramm Körpergewicht zu. So hat es bereits
fallen etwa 70 Prozent auf Landwirtschaft und im Alter von 30 Tagen ein (Schlacht-)Gewicht
Bodennutzung inklusive Landnutzungsände- von etwa 1,6 Kilogramm erreicht. Aus diesem
rungen.13 Betrachtet man den Anteil der Tier- Grund weist Geflügel auch die günstigste Kli-
haltung an den Treibhausgasemissionen aus der ma-Bilanz beim Vergleich verschiedener Flei-
Landwirtschaft in Deutschland, so liegt die- scharten auf – erkauft mit massiven Tierschutz-
ser bei 61,6 Prozent.14 Durch intensive Tier- problemen, die unter anderem in der Zucht
züchtung wurde der Umwandlungsverlust von begründet liegen.
pflanzlichen in tierische Kalorien in den vergan-
genen Jahrzehnten allerdings reduziert – gerade Soziale Gerechtigkeit
Die sozialen Bedingungen in der Fleischwirt-
schaft fanden lange wenig Beachtung.15 Erstmals
12 Siehe www.landwirtschaft.de/landwirtschaft-​verstehen/
wie-​arbeiten-​foerster-​und-​pflanzenbauer/was-​waechst-​auf-​
breit diskutiert und politisch adressiert wurden
deutschlands-​feldern. die seit geraumer Zeit bekannten prekären Ar-
13 Vgl. Monica Crippa et al., Food Systems Are Responsible beitsbedingungen in der Schlachtwirtschaft im
for a Third of Global Anthropogenic GHG Emissions, in: Nature Zuge der Corona-Krise.16 Weniger Aufmerk-
Food 2/2021, S. 198–209.
14 Vgl. Beitrag der Landwirtschaft zu den Treibhausgas-Emissi-
onen, 18. 10. 2021, www.umweltbundesamt.de/daten/land-​forst- 15 Siehe den Beitrag von Thorsten Schulten und Johannes
wirtschaft/beitrag-​der-​landwirtschaft-​zu-​den-​treibhausgas#​ Specht in dieser Ausgabe.
treibhausgas-​emissionen-​aus-​der-​landwirtschaft. 16 Vgl. Spiller et al. (Anm. 2).

31
APuZ 51–52/2021

samkeit als die Leiharbeitskräfte in der Schlacht- den und Tiere vor ihrer Schlachtung ein „gutes Le-
und Verarbeitungsindustrie fand bisher die Si- ben“ geführt haben sollten.19
tuation in der Landwirtschaft mit einer gerade
in den größeren landwirtschaftlichen Betrieben HANDLUNGSPFADE
verbreiteten Niedriglohnbeschäftigung in der DER TRANSFORMATION
Tierbetreuung.17 Zum Thema der sozialen Ge-
rechtigkeit zählt jedoch nicht nur der Umgang Die Fokussierung der gesamten Wertschöp-
mit und die Entlohnung von angestellten Ar- fungskette der Fleischwirtschaft auf kosten-
beitskräften, sondern auch das Einkommen in günstige Produktion von Standarderzeugnis-
Familienbetrieben. Immer wieder protestierten sen über Jahrzehnte hat die Kultur der Branche
in den vergangenen Jahren Land­wirt:­innen öf- geprägt. Innovatoren in Nischen hatten wenig
fentlich gegen zu geringe Preise für ihre Produk- Chancen. Allerdings treten die Grenzen der
te. Die finanzielle Situation der landwirtschaft- kostenorientierten Wettbewerbsstrategie für
lichen Betriebe ist allerdings differenziert zu die deutsche Fleischwirtschaft in jüngster Zeit
betrachten. Viele große Tierhaltungsbetriebe ha- deutlich hervor.
ben längere Zeit durchaus hohe Gewinne erzielt, Auf Druck der EU-Kommission und des
während Kleinbetriebe beispielsweise durch Di- Europäischen Gerichtshofes war Deutschland
rektvermarktung nur eine Chance in Nischen- gezwungen, die Düngemittelgesetzgebung zu
märkten haben. Seit 2020 gibt es, unter anderem verschärfen. Dies zwingt die landwirtschaftli-
bedingt durch die Afrikanische Schweinepest, chen Betriebe in den Kernregionen der Tierpro-
Probleme durch die Corona-Pandemie und ei- duktion, die Exkremente in Ackerbauregionen
nen Nachfragerückgang, ein massives und an- zu transportieren, wo sie sinnvoll als Dünge-
haltendes Preistief, das zu verstärkten Betriebs- mittel eingesetzt werden können. Der Transport
aufgaben führt. ist aber bei Schweinegülle aufgrund des hohen
Wasseranteils aufwendig und verteuert die Tier-
Tierschutz haltung im Vergleich zu anderen europäischen
Das Thema Tierwohl und Tierschutz in der Land- Regionen wie Spanien und Polen, die derzeit
wirtschaft nimmt seit vielen Jahren an Bedeutung ihre Tierhaltung ausbauen. Die Kosten der Tier-
zu. 2015 sprach sich der Wissenschaftliche Beirat haltung steigen zudem durch verschärfte Tier-
für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Er- schutzauflagen. Auch hier waren es mehrfach
nährung und Landwirtschaft in einem Gutachten die Gerichte, die Änderungen erzwungen haben.
vor allem aus Tierschutzgründen für eine umfassen- So ordnete das Oberlandesgericht Magdeburg
de Transformation des Sektors aus.18 In der konven- eine Verbreiterung der sogenannten Kastenstän-
tionellen Haltung von allen Nutztierarten gibt es de in der Schweinehaltung an, in denen die Tie-
erhebliche Defizite in den Bereichen Tierwohl und re beim Hinlegen ihre Beine nicht ausstrecken
Tierschutz. Diese reichen von Einschränkungen der konnten. 2020 wurde ein Verbot der Kastenstän-
natürlichen Verhaltensweisen der Tiere etwa durch de mit einer Übergangsfrist von acht Jahren ge-
mangelnden Auslauf und Bewegungsmöglichkei- setzlich beschlossen. Schließlich führt der neu
ten über Tiergesundheitsprobleme wie zum Bei- eingeführte Mindestlohn dazu, dass die Arbeits-
spiel Lahmheit durch Zucht, Haltungsbedingungen kräfte in den großen Tierhaltungsanlagen besser
und Management bis hin zu Amputationen am Tier bezahlt werden müssen und die Produktions-
wie das Enthornen bei Rindern, das Schwänzeku- kosten somit steigen.
pieren bei Schweinen oder das Schnabelkürzen bei Die relative Kostenposition der deutschen
der Pute. In westlichen Gesellschaften wandelt sich Schlachtunternehmen hat sich mit dem Verbot
das Mensch-Tier-Verhältnis, und damit steigen auch von Leiharbeit und Werkverträgen in der Fleisch­
die Ansprüche an einen ethisch korrekten Umgang industrie 2020 ebenfalls erheblich verschlech-
mit Tieren. Viele Menschen vertreten heute eine
ethische Position, nach der die Bedürfnisse und das
19 Vgl. Sarah Hölker et al., Animal-Ethical Intuitions in Ger-
Wohlbefinden der Tiere stärker berücksichtigt wer-
many: Developing a Measuring Instrument to Capture Domain-
Specific Values in the Context of the Human-Animal Relation-
17 Vgl. WBAE (Anm. 10). ship, in: German Journal of Agricultural Economics 4/2019,
18 Vgl. Spiller et al. (Anm. 2). S. 299–315.

32
Fleisch APuZ

Mitarbeiter einer Schlachterei zerlegen Fleischstücke an der Schlachtstraße.


© VISUM, Martin Ziemer

tert. Insgesamt verliert damit die Schweinehal- rung.20 Begleitet und angefeuert wird der sinkende
tung derzeit rasant gegenüber Ländern wie Polen Fleischkonsum durch die starken Entwicklun-
und Spanien und perspektivisch auch gegenüber gen und Innovationen im Bereich der Fleischer-
Russland und China an Wettbewerbsfähigkeit satzprodukte. 2019/20 stieg innerhalb eines Jah-
im Markt für Standardprodukte. Ähnlich ergeht res die Produktion von Fleisch­er­satz­pro­duk­ten in
es der Geflügelwirtschaft. Hier sind Länder wie Deutschland um knapp 39 Prozent,21 obwohl die-
Brasilien und Thailand Konkurrenten, die bereits se Ersatzprodukte derzeit noch relativ teuer sind.
jetzt wesentlich günstiger produzieren. Import- Langfristig werden sie günstiger als Fleisch wer-
zölle der EU verhindern hier derzeit noch stärke- den, denn pflanzliches Fett kostet nur rund ein
re Marktanteilsverluste. Drittel im Vergleich zu tierischem Fett. Perspekti-
Schließlich verändert sich die Konsumhöhe tie- visch könnte auch In-vitro-Fleisch, also im Labor
rischer Produkte. Während der Geflügelkonsum erzeugtes Fleisch, einen Teil des Marktes über-
aufgrund von Gesundheitsvorteilen, Preisgüns- nehmen, wenn hier aufgrund der enormen glo-
tigkeit und Veränderungen in der Bevölkerungs- balen Risikokapital-Investitionen technologische
struktur etwa mit Blick auf religiöse Präferenzen Durchbrüche ­gelingen.
stabil bleibt, sinkt insbesondere der für Deutsch- Ökonomisch stellen diese Entwicklungen
land lange Zeit charakteristische hohe Schweine- eine massive Herausforderung für die Fleisch-
fleischverzehr. In bestimmten Altersgruppen und wirtschaft dar. Tierische Erzeugnisse stehen für
sozialen Milieus nimmt der Fle­xi­ta­rier:­in­nen-, Ve­ mehr als die Hälfte der Wertschöpfung in der
ge­ta­rier:­in­nen- und Ve­ga­ner:­innen­an­teil zu. Vie-
le Menschen entscheiden sich für einen reduzier-
20 Vgl. Anke Zühlsdorf et al., Politicized Eater: Jugendreport
ten Fleischkonsum und essen seltener, dann aber
zur Zukunft nachhaltiger Ernährung, Göttingen 2021.
nachhaltigeres Fleisch (Less-but-better-Strategie). 21 Vgl. Zahl der Woche. Vegetarische und vegane Lebensmit-
Bei jungen Menschen ist der Ve­ge­ta­rier:­in­nen­an­ tel, 18. 10. 2021, www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilun-
teil doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölke- gen/Zahl-​der-​Woche/​2020/PD20_​30_p002.html.

33
APuZ 51–52/2021

Landwirtschaft und in der Ernährungsindustrie. Biofleisch bei Schweinen und Geflügel bei rund
Für Schlachtunternehmen ist neben der Betriebs- zwei Prozent, und ein staatliches Tierschutzlabel
größe der Auslastungsgrad der zweite zentrale ist nach wie vor nicht umgesetzt. Wie in anderen
Kostentreiber. Kommt es zu einer Reduktion der Sektoren wie etwa Energie und Mobilität auch,
Tierzahlen, dann wird es einen starken Verdrän- zeigt sich, dass die Nachhaltigkeitstransforma-
gungswettbewerb auf der Schlachtseite geben, tion politisch initiiert werden muss. Auch wenn
mit entsprechendem Preisdruck auf die landwirt- sich die Werte und Einstellungen der Menschen
schaftliche Seite. In jüngster Zeit zeigen sich erste gegenüber der Tierhaltung massiv verändert ha-
Vorboten einer solchen Entwicklung – stark ge- ben, bleibt doch eine tiefe Lücke zwischen Bür­
pusht durch die von der Corona-Pandemie ver- ger:­innen-Einstellungen und Ver­brauch­er:­innen-
ursachte Kaufzurückhaltung sowie die Afrikani- Verhalten beim Einkauf.24
sche Schweinepest und die damit einhergehenden Eine Politik zur Transformation der Tierhal-
Exportverbote in viele Länder. Die bei Schwei- tung kann allerdings nicht allein auf der Ange-
nefleisch immer wieder periodisch schwanken- botsseite, also bei der Landwirtschaft, ansetzen.
den Preise („Schweinepreiszyklus“) haben 2021 Steigende Auflagen würden bei offenen Märkten
eine bisher unbekannte lange Tiefpreisphase er- zu einer Abwanderung der Produktion ins Aus-
lebt. Gekoppelt mit laufenden Tierschutzdiskus- land führen, ohne dass damit ein Mehr an Tier-
sionen hat dies eine tiefe Verunsicherung über oder Klimaschutz verbunden wäre. Ökonomisch
die Zukunftsperspektiven der gesamten Bran- betrachtet, ist das Klima ein globales öffentliches
che ausgelöst. Eine Folge sind die Treckerprotes- Gut, dessen Schutz nur durch eine Reduktion des
te der Land­wirt:­innen und auf politischer Ebe- Konsums tierischer Erzeugnisse, nicht aber durch
ne die Einrichtung einer Zukunftskommission eine Reduktion der Produktion in einzelnen Län-
Landwirtschaft. dern erreicht werden kann. Beim Tierschutz geht
Die Zukunftskommission Landwirtschaft, ein es deshalb um Verbesserungen in der Haltung in
vom Bundeskabinett einberufenes Multi-Stake- Deutschland beziehungsweise der EU, ohne dass
holder-Gremium, hat in ihrem einstimmigen Be- es zu einer Abwanderung in Länder mit niedri-
schluss eine tiefgreifende Transformation der Ag- geren Standards kommt und Fleisch dann impor-
rarwirtschaft und insbesondere der Tierhaltung tiert wird.
angemahnt.22 Sie nimmt dabei Bezug auf einen Der Vorschlag der Zukunftskommission
vorhergehenden, ebenfalls fast einstimmig ge- Landwirtschaft und des Kompetenznetzwerks
fassten Beschluss einer weiteren Regierungskom- Nutztierhaltung besteht deshalb im Kern aus
mission, des Kompetenznetzwerks Nutztierhal- drei Elementen: erstens einer klaren Zielvorga-
tung.23 Diese hat einen umfassenden Umbau der be für neue tierfreundliche Haltungssysteme, de-
Tierhaltung in Deutschland bis zum Jahr 2040 ren Umsetzung aufgrund der kleinbetrieblichen
vorgeschlagen, in dessen Zuge Außenklima- und Strukturen in der Landwirtschaft einige Jahre in
Auslaufhaltung von Tieren zum Standard werden Anspruch nehmen muss; zweitens einer Verteu-
sollen. erung des Konsums tierischer Erzeugnisse durch
Eine wesentliche Besonderheit dieser poli- eine spezifische Tierschutzabgabe in Höhe von
tischen Vorschläge liegt in der Erkenntnis, dass 40 Cent pro Kilogramm Fleisch, die die Käu­fer:­
der Markt allein eine Transformation zu einer innen zahlen. Drittens sollen die Mittel aus dieser
nachhaltigeren Tierhaltung nicht bewerkstelli- Tierschutzabgabe zielgerichtet zur Finanzierung
gen kann. Nach mehr als zehnjähriger Diskussi- von Tierschutzinvestitionen und der laufenden
on über Tierschutzlabel liegt der Marktanteil von Mehrkosten einer tierfreundlichen Haltung ein-
gesetzt werden, da diese Kosten nach allen Erfah-
22 Vgl. Zukunftskommission Landwirtschaft, Zukunft Landwirt-
rungen nur zu einem kleinen Teil durch ein Tier-
schaft: Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Empfehlungen der schutzlabel am Markt erlöst werden können.
Zukunftskommission Landwirtschaft, August 2021, www.bmel.
de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/abschlussbericht-​
zukunftskommission-​landwirtschaft.pdf. 24 Vgl. Gesa Busch/Achim Spiller, Warum wir eine Tierschutz-
23 Vgl. Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung, Empfehlungen steuer brauchen. Die Bürger-Konsumenten-Lücke, Positions-
des Kompetenznetzwerks Nutztierhaltung, 11. 2. 2020, www. papier, Georg-August-Universität Göttingen, Department für
bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Tiere/Nutztiere/​200211-​ Agrarökonomie und Rurale Entwicklung, Diskussionspapier
empfehlung-​kompetenznetzwerk-​nutztierhaltung.pdf. 2001/2020.

34
Fleisch APuZ

Trockenwürste in einer Metzgerei


© laif / Markus Kirchgessner

Politisch interessant sind die Wirkungen die- schaft durch eine kluge politische Regulierung im
ser vom Bundestag mehrheitlich und vom Bun- Zusammenspiel mit zukunftsgerichteten Impul-
desrat sogar einstimmig gestützten Empfehlun- sen marktmächtiger ökonomischer Akteure ge-
gen auf den Markt: Die Handelsunternehmen lingt, kann zurzeit noch nicht abgeschätzt wer-
Aldi, Rewe und Lidl/Kaufland haben im Som- den. Die Governance-Herausforderungen sind
mer 2021 ihrerseits eine Umsetzung der Tier- erheblich.
schutzvorgaben mit einem ambitionierteren Zeit-
plan angekündigt. Bis 2030 soll Frischfleisch nur
noch aus tierfreundlicheren Ställen stammen. Mit
dieser öffentlichen Selbstverpflichtung zur Aus-
listung von Standardware haben die Lebensmit-
telhändler den Druck auf die Branche und die Po-
litik verstärkt.
Die Tierhaltung ist damit ein Bestandteil der
„Großen Transformation“ zu mehr Nachhaltig- ACHIM SPILLER
keit.25 Das durch Politikversagen unterstützte ist Professor für Marketing für Lebensmittel und
Sondermodell einer Billigfleischproduktion im Agrarprodukte an der Georg-August-Universität
Hochlohnland Deutschland erodiert bereits jetzt. Göttingen.
Inwieweit die Transformation der Fleischwirt- a.spiller@agr.uni-​goettingen.de

GESA BUSCH
25 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale
ist wissenschaftliche Post-Doc-Mitarbeiterin am
Umweltveränderungen, Hauptgutachten: Welt im Wandel – Ge-
sellschaftsvertrag für eine Große Transformation, 2011, www.
Lehrstuhl Marketing für Lebensmittel und Agrarpro-
wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/hauptgut- dukte der Georg-August-Universität Göttingen.
achten/hg2011/pdf/wbgu_jg2011.pdf. gesa.busch@agr.uni-​goettingen.de

35
APuZ 51–52/2021

EIN JAHR
ARBEITSSCHUTZKONTROLLGESETZ
Grundlegender Wandel in der Fleischindustrie?
Thorsten Schulten · Johannes Specht

Lange wurde die Fleischindustrie wie kaum eine Ob mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz tat-
zweite Branche in Deutschland mit Ausbeutung sächlich auch eine grundlegende Verbesserung
und menschenverachtenden Arbeitsverhältnissen der Arbeitsbedingungen einhergeht, lässt sich
verbunden. Geprägt wurde das Bild durch vor- noch nicht abschließend beurteilen. Die bisheri-
nehmlich aus Osteuropa stammende Ar­beits­mi­ gen Erfahrungen zeigen ein ambivalentes Bild. Ei-
grant:­
innen, die in ihren Heimatländern ange- nerseits haben die Fleischkonzerne immer wieder
worben wurden, um als Werkvertragsbeschäftigte versucht, durch die Übernahme vormaliger Sub-
in den hiesigen Schlachthöfen und Fleischfabri- unternehmen alte Arbeitsstrukturen auch unter
ken zu arbeiten. Wiederkehrende Berichte über neuen Bedingungen aufrecht zu erhalten. Ande-
extrem harte Arbeits- und Lebensbedingungen rerseits hat das Werkvertragsverbot die Möglich-
der Fleisch­arb­eit­er:­innen erinnerten dabei eher an keiten der gewerkschaftlichen und betrieblichen
Upton Sinclairs 1906 erschienenen Roman „Der Interessenvertretung wieder erheblich verbessert
Dschungel“ über die Chicagoer Schlachthöfe und im ersten Schritt die Möglichkeit für einen
des ausgehenden 19. Jahrhunderts als an eine Be- neuen Tarifvertrag über einen branchenweiten
schreibung der Gegenwart in Deutschland. Mindestlohn eröffnet. Für einen grundlegenden
Mit dem zunehmenden Einsatz osteuropäi- Wandel des auf Billigproduktion basierenden Ge-
scher Ar­beits­mi­grant:­innen war es der deutschen schäftsmodells der deutschen Fleischindustrie
Fleischindustrie ab den 1990er Jahren unter Aus- müssten die Arbeitsbedingungen in der Branche
nutzung des starken Lohngefälles im europäischen jedoch deutlich aufgewertet werden.
Binnenmarkt gelungen, vormals bestehende Tarif-
vertragsstrukturen aufzukündigen. Im Ergebnis BILLIGE MASSENWARE
waren hochgradig prekäre Arbeitsverhältnisse ent- ALS GESCHÄFTSMODELL
standen, die neben der zunehmenden Industriali-
sierung der Landwirtschaft für die Fleisch­indus­trie Bis in die 1980er Jahre hinein war die deutsche
die wichtigste Grundlage eines neuen Geschäfts- Fleischindustrie eher klein- und mittelständisch
modells bildeten, das im Wesentlichen darauf be- geprägt und produzierte im Wesentlichen für lo-
ruhte, billige Massenware herzustellen. kale und regionale Märkte. Die Schlachtung er-
Nachdem bislang alle Ansätze für eine Verbes- folgte entweder durch die Betriebe selbst oder
serung der Arbeitsbedingungen in der Fleischin- wurde von kommunalen Schlachthöfen über-
dustrie weitgehend wirkungslos geblieben waren, nommen. Die meisten Fleischunternehmen wa-
wurde im Dezember 2020 das Gesetz zur Verbes- ren an regionale Branchentarifverträge gebunden,
serung des Vollzugs im Arbeitsschutz (Arbeits- die die wichtigsten Arbeitsbedingungen festleg-
schutzkontrollgesetz) verabschiedet. Mit diesem ten und durch regelmäßige Lohnverhandlungen
Gesetzespaket wurde ein umfassendes Maßnah- für kontinuierliche Lohnzuwächse sorgten.
menbündel beschlossen, in dessen Mittelpunkt Während die kommunalen Schlachthöfe bereits
ein Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit in ab den 1970er Jahren zunehmend privatisiert wur-
der Schlachtung, Zerlegung und Fleischverarbei- den, setzte ab Ende der 1980er Jahre eine grund-
tung steht. Damit wurde die deutsche Fleisch- legende Restrukturierung der deutschen Fleischin-
wirtschaft gezwungen, ihr bisheriges Geschäfts- dustrie ein. In einer großen Konzentrations- und
modell grundlegend neu zu ordnen. Übernahmewelle etablierten sich einige wenige

36
Fleisch APuZ

große Fleischkonzerne, die bis heute den Markt Arbeitskosten bildeten die Grundlage dafür, dass
dominieren.01 Der mit Abstand größte Konzern die Fleischkonzerne immer mehr billige Massen-
ist dabei die Tönnies-Gruppe, gefolgt von dem ware produzieren konnten. Die deutsche Fleisch-
niederländischen Vion-Konzern und dem Genos- industrie entwickelte sich dadurch in den 2000er
senschaftskonzern Westfleisch. Auf diese drei ent- Jahren von einer eher binnenorientierten Bran-
fallen 58 Prozent aller Schweineschlachtungen in che zu einer expandierenden Exportindus­trie. Zu-
Deutschland. Neben den wenigen großen Fleisch- gleich begannen ausländische Fleischunterneh-
konzernen gibt es nach wie vor eine Vielzahl klei- men wie Vion oder Danish Crown hierzulande
ner und mittlerer Unternehmen. Nach Angaben Schlachtkapazitäten zu übernehmen und einen
der Bundesagentur für Arbeit arbeiteten Mitte Teil der Produktion aus Kostengründen aus ihren
2020 etwa 150 000 Beschäftigte in der Fleischverar- Heimatländern nach Deutschland zu ­verlagern.
beitung und knapp 35 000 auf den Schlachthöfen.02 Schließlich wurde das auf billiger Massenware
Ab den 1990er Jahren wurden in der deutschen beruhende neue Geschäftsmodell der deutschen
Fleischindustrie zunehmend Stammbelegschaf- Fleischindustrie auch durch große Handelskon-
ten durch osteuropäische Arbeitskräfte ersetzt. zerne vorangetrieben. Während sich der Absatz
Deren Einsatz wurde zunächst durch bilaterale von Fleischprodukten immer mehr hin zu großen
Verträge mit einzelnen osteuropäischen Staaten Supermarktketten und Discountern verschoben
geregelt, bis Ende der 2000er Jahre mit der EU- hat, nutzen Letztere ihre zunehmende Markt-
Osterweiterung und dem Auslaufen der Über- macht, um gegenüber den Fleischproduzenten
gangsregelungen die vollständige Arb­eit­nehm­er­ immer niedrigere Preise durchzusetzen.
f­rei­züg­ig­keit für die osteuropäischen EU-Staaten
hergestellt wurde. Zunächst wurden die osteuro- ANSÄTZE ZUR VERBESSERUNG
päischen Arb­ei­ter:­innen von in ihren Heimatlän- DER ARBEITSBEDINGUNGEN
dern ansässigen Unternehmen nach Deutschland
entsandt, wo sie aufgrund einer fehlenden ver- Obwohl die Arbeitsbedingungen der Werkver-
bindlichen Lohnuntergrenze zu extrem niedri- tragsbeschäftigten durch Medienberichte regelmä-
gen Löhnen beschäftigt wurden. Das große Gefäl- ßig skandalisiert wurden, gab es lange Zeit keinen
le zu den deutschen Löhnen führte dazu, dass der Hebel, diese zu verbessern. Dies änderte sich erst
Anteil osteuropäischer Werkvertragsbeschäftigter ab 2015 mit der Einführung des gesetzlichen Min-
immer größer wurde. In vielen Fleischbetrieben destlohns, der erstmals auch für die Werkvertrags-
bestand bis in das Jahr 2020 die Mehrheit der Be- beschäftigten eine verbindliche Lohnuntergrenze
legschaft aus Werkvertragsbeschäftigten, die for- definierte. Hinzu kam, dass 2014 auch ein tarifver-
mal bei Subunternehmen angestellt waren. traglicher Branchenmindestlohn für die Fleisch-
Diese Entwicklung hatte zugleich auch Rück- industrie vereinbart worden war. Die Arbeitgeber
wirkungen auf die Arbeitsbedingungen der ver- waren hierzu bereit gewesen, da sie auf diese Weise
bliebenen, meist deutschen Kernbelegschaften. für eine Übergangsperiode noch einen Lohn unter-
Nahezu alle Branchentarifverträge in der Fleisch- halb des gesetzlichen Mindestlohns festlegen konn-
industrie wurden im Laufe der 1990er Jahre von ten. Nach deren Auslaufen verloren sie jedoch ihr
den Arbeitgebern nicht mehr verlängert, sodass Interesse an einer tarifvertraglichen Regelung.04
die Tarifbindung immer weiter zurückging und Während von nun an das Lohnniveau der
nur noch einige wenige Haustarifverträge in Be- Werkvertragsbeschäftigten formal durch den ge-
trieben mit einem vergleichsweise hohen gewerk- setzlichen Mindestlohn bestimmt wurde, fanden
schaftlichen Organisationsgrad übrigblieben.03 die Subunternehmen der Fleischindustrie immer
Die durch den wachsenden Einsatz osteuropä- neue Wege, um den tatsächlichen Lohn zu drü-
ischer Werkvertragsbeschäftigter stark reduzierten cken.05 Beispielsweise mussten die Werkvertrags-
beschäftigten in erheblichem Maße unbezahl-
01 Vgl. Heinrich-Böll-Stiftung/Bund für Umwelt und Naturschutz
Deutschland/Le Monde diplomatique (Hrsg.), Fleischatlas 2021,
Berlin 2021, S. 18 f. 04 Vgl. Claudia Weinkopf/Frederic Hüttenhoff, Der Mindestlohn
02 Vgl. Bundestagsdrucksache 19/32204, 24. 8. 2021, S. 2. in der Fleischwirtschaft, in: WSI-Mitteilungen 7/2017, S. 533–539.
03 Vgl. Serife Erol/Thorsten Schulten, Neuordnung der Arbeits- 05 Vgl. im Folgenden z. B. Ministerium für Arbeit, Gesundheit
beziehungen in der Fleischindustrie, Wirtschafts- und sozialwis- und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Faire Arbeit in
senschaftliches Institut, WSI Report 61/2021, Düsseldorf, S. 12 ff. der Fleischindustrie. Abschlussbericht, Düsseldorf 2019.

37
APuZ 51–52/2021

te Mehrarbeit leisten, sodass ihr Stundenlohn Arbeitsschutzkontrollgesetz, das erstmalig den


de facto deutlich unterhalb des Mindestlohns lag. Kern des bisherigen Geschäftsmodells berührte
Zugleich wurden den Beschäftigten verschiedene und damit zu einer Zäsur für die Fleischindustrie
Beträge vom Gehalt abgezogen, etwa überteuer- werden sollte.
te Wohn- und Transportkosten oder verschiedene Das Arbeitsschutzkontrollgesetz umfasst ein
Gebühren für Arbeitskleidung oder -werkzeug Gesetzespaket, mit dem eine Reihe bestehen-
(„Messergeld“). der Gesetze verändert und erweitert werden. Die
Die zunehmende öffentliche Kritik an diesen wichtigste Änderung besteht hierbei in einer Er-
Praktiken führte schließlich dazu, dass die Fleisch­ gänzung des GSA Fleisch, wonach ab dem 1. Janu-
industrie 2015 eine freiwillige Selbstverpflichtung ar 2021 in den Bereichen Schlachtung, Zerlegung
für bessere Arbeitsbedingungen beschloss. Die und Fleischverarbeitung keine Werkvertragsbe-
Unternehmen verpflichteten sich darin, den An- schäftigten mehr eingesetzt werden können. Glei-
teil der eigenen Stammbelegschaften wieder aus- ches gilt ab dem 1. April 2021 für Leiharbeitsbe-
zubauen und nur noch solche Subunternehmen schäftigte, wobei für eine Übergangszeit von drei
zu beschäftigen, die ihre Mit­arb­ei­ter:­innen nach Jahren noch im begrenzten Umfang Leiharbeit
deutschem Sozialversicherungsrecht anstellen und eingesetzt werden darf, wenn dies im Rahmen ei-
die deutschen Arbeitsgesetze einhalten. In der nes Tarifvertrags vereinbart wurde. Mit dieser Re-
Praxis erwies sich die Selbstverpflichtung jedoch gelung wollte der Gesetzgeber explizit einen An-
im Wesentlichen als Feigenblatt, ohne die Arbeits- reiz für die Aufnahme von Tarif­ver­handlungen
bedingungen nennenswert zu ­verbessern.06 setzen.
Die Politik reagierte schließlich 2017 mit dem Darüber hinaus enthält das Arbeitsschutz-
Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten kontrollgesetz eine Reihe von Maßnahmen, die
in der Fleischwirtschaft (GSA Fleisch), mit dem die Einhaltung bestehender Arbeitsgesetze ver-
das Prinzip der Generalunternehmerhaftung ein- bessern sollen. Hierzu gehört die verpflichtende
geführt wurde. Die Fleischbetriebe waren von nun Einführung einer elektronischen Arbeitszeiter-
an dafür verantwortlich, dass die Subunternehmen fassung, die Betrachtung von Rüst-, Umkleide-
angemessene Sozialversicherungsbeträge bezahlen und Waschzeiten als Teil der Arbeitszeit, die Ein-
und die deutschen Arbeitsgesetze einhalten. Um führung einer Mindestquote von fünf Prozent
eine weitere Umgehung des Mindestlohns zu ver- pro Bundesland für Kontrollen in der Fleischin-
hindern, wurde außerdem festgelegt, dass Arbeits- dustrie sowie eine Verdopplung der Geldbußen
mittel, Schutzkleidung und -ausrüstung unent- bei Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz auf
geltlich vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt 30 000 Euro. Schließlich werden durch eine Än-
werden müssen. Der Kern des auf Werkverträgen derung der Arbeitsstättenverordnung auch neue
basierenden Geschäftsmodells blieb jedoch auch Mindestanforderungen für von den Unterneh-
mit dem GSA Fleisch u ­ nangetastet. men betriebene Gemeinschaftsunterkünfte au-
ßerhalb des Betriebsgeländes formuliert.
ARBEITSSCHUTZKONTROLLGESETZ
BISHERIGE AUSWIRKUNG
Mit den an Häufigkeit wie Fallzahlen umfang-
reichen Corona-Ausbrüchen in einigen großen Nachdem das Arbeitsschutzkontrollgesetz nun
deutschen Fleischbetrieben gerieten im Frühjahr knapp ein Jahr inkraft ist, fällt die bisherige Bi-
2020 die seit Langem bekannten Missstände er- lanz eher gemischt aus. Einerseits haben die
neut in den Fokus der Öffentlichkeit. Die Kri- Fleischunternehmen tatsächlich das Werkver-
tik erreichte hierbei ein Ausmaß, das auch den tragssystem weitgehend beendet. Andererseits
Fleischkonzernen deutlich machte, dass grundle- sind andere Punkte des Gesetzes, etwa die Frage
gende Reformen nicht mehr zu verhindern wa- der Unterkünfte oder die erhöhte Kontrollquote,
ren. Im Dezember 2020 verabschiedeten Bun- noch nicht entscheidend vorangekommen. Auch
destag und Bundesrat mit großer Mehrheit das die Arbeitsbedingungen der ehemaligen Werk-
vertragsbeschäftigten haben sich in vielen Unter-
06 Vgl. Gerhard Bosch/Frederic Hüttenhoff/Claudia Weinkopf,
nehmen bislang kaum verbessert.
Corona-Hotspot Fleischindustrie: Das Scheitern der Selbstverpflich- Ab Herbst 2020 haben die Fleischunterneh-
tung, Institut für Arbeit und Qualifikation, IAQ-Report 7/2020. men in Erwartung des Arbeitsschutzkontrollge-

38
Fleisch APuZ

setzes damit begonnen, schrittweise die Beschäf- Machtfülle ausgestattet war: Wer als einfache:r
tigten der Subunternehmen selbst anzustellen. Beschäftigte:r in Ungnade fiel, weil er oder sie an-
Vor allem die großen Fleischkonzerne haben geblich zu langsam arbeitete, wer sich krankmel-
hierbei oft die kompletten Werkvertragsunter- dete, wer einen Arbeitsunfall meldete, wer mit
nehmen mit der gesamten Belegschaft übernom- Ge­werk­schafts­ver­tre­ter:­innen sprach oder wer
men. Zum Ende des Jahres 2020 waren mehrere nicht bereit war zu überlangen Arbeitstagen und
Zehntausend ehemalige Werkvertragsbeschäftigte Sonderschichten, bekam im mildesten Fall eigent-
nun direkt in den Unternehmen der Fleischindus- lich zugesagten Urlaub und damit den Familien-
trie angestellt. Allein bei Tönnies sind nun 6000, besuch im Heimatland gestrichen. Im schlimms-
bei Westfleisch 7000 und bei Vion 3300 ehemalige ten Fall wurde er oder sie angebrüllt, schikaniert,
Werkvertragsbeschäftigte tätig.07 bedroht, innerhalb kürzester Zeit aussortiert und
Um neue Arbeitskräfte zu rekrutieren, arbei- verlor den Job. Da an die Arbeit auch meistens
ten viele Fleischunternehmen jedoch nach wie vor der Schlafplatz in der Wohnung gekoppelt war,
auch mit Subunternehmen zusammen.08 Letztere bedeutete das von einem Tag auf den anderen das
treten nun als Personalvermittler auf und bieten Ende des Traumes, in Deutschland mit harter Ar-
an, neue Beschäftigte in verschiedenen osteuropä- beit genug Geld zu verdienen, um in der Heimat
ischen Staaten zu rekrutieren. Hierzu organisieren die Familie zu unterstützen. Wer wagt es, ange-
sie Fahrten nach Deutschland, regeln die Formali- sichts so einer Lage, auf seinen Ansprüchen zu be-
täten und kümmern sich um die Unterkünfte. Da- stehen, sein Recht einzufordern? Alleingelassen,
bei gibt es auch Fälle, wo die ehemaligen Subun- ohne Sprachkenntnisse oder Kenntnisse des deut-
ternehmer selbst Anweisungen geben und in den schen Arbeitsrechts, ohne Betriebsrat, hat sich
Arbeitsablauf eingegliedert sind, indem sie etwa faktisch nur ein sehr geringer Teil der Menschen
die neu angekommenen Beschäftigten aus Ost- gegen solche Praktiken gewehrt. Die Fortsetzung
europa einarbeiten.09 Ob diese Art des On-sight- der alten Hierarchie- und Arbeitsstrukturen in
Manage­ments ein Umgehungsversuch des Arbeits- den Fleischunternehmen führt dazu, dass viele
schutzkontrollgesetzes darstellt, wird sich klären, ehemalige Werkvertragsbeschäftigte seit der Ein-
wenn durch die Kontrollbehörden einzelne gut führung des neuen Gesetzes kaum Veränderungen
dokumentierte betriebliche Fälle geprüft werden. ihrer konkreten Arbeitssituation erlebt haben.11
Mit der Übernahme kompletter Subunter- Im Hinblick auf die Wohnverhältnisse haben ei-
nehmen wurden jedoch auch deren Hierarchie- nige große Konzerne begonnen, die miserabelsten
strukturen und problematische Arbeitskultu- Unterkünfte sanieren zu lassen oder deren Anmie-
ren mit übernommen und unter neuem Gewand tung zu beenden. Hier und da kündigt ein Unter-
fortgeführt.10 So wurden nicht nur die ehemali- nehmen den Erwerb oder Neubau von Werkswoh-
gen Werkvertragsbeschäftigten, sondern auch de- nungen an. Auch hierfür gelten die Vorgaben des
ren Vor­arb­ei­ter:­innen und Leitungskräfte in den Arbeitsstättenrechts, wo Mindeststandards für
Fleischunternehmen eingestellt, wo sie oft naht- Unterkünfte festgeschrieben sind. Es wird aber da-
los ihre frühere Funktion fortsetzen. Genau diese rauf ankommen, ob die zuständigen Kontrollbe-
Personengruppe aber war es, die in den Subunter- hörden diese Standards auch durchsetzen.
nehmen den direkten Druck auf die Werkver- Zur Bilanz nach einem Jahr Arbeitsschutzkon­
tragsbeschäftigten ausübte und mit einer enormen trollgesetz gehört auch, dass hiermit keineswegs au-
tomatisch eine Verbesserung der Arbeitsbedingun-
gen verbunden ist. Das Gesetz hat, vor allem mit
07 Vgl. Werkverträge in der Fleischbranche: So ist der Stand dem Verbot der Werkverträge, die „Spielregeln“ in
nach drei Monaten, 9. 4. 2021, www.deutsche-handwerks-zei-
der Branche neu bestimmt und damit die Chancen
tung.de/werkvertraege-in-der-fleischbranche-so-ist-der-stand-
nach-drei-monaten-166322.
erhöht, bessere Arbeitsbedingungen durchzuset-
08 Vgl. Michael Verfürden/Jan Keuchel, Aus für Werkverträge: zen. Entscheidend für die Neuordnung der Bran-
So gehen die Fleischkonzerne mit der Zäsur in ihrer Branche che wird vor allem die Entwicklung der betriebli-
um, 6. 1. 2021, www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-​
konsumgueter/​26746504.html.
09 Vgl. Szabolcs Sepsi/Anna Szot, Das Arbeitsschutzkontrollge- 11 Vgl. Szabolcs Sepsi, Umbruch in der Schlachtindustrie?,
setz in der Praxis. Eine erste Bilanz aus der Perspektive von Faire 25. 6. 2021, https://jacobin.de/artikel/schlachtindustrie-​gesetz-​
Mobilität, Berlin 2021. subunternehmen-​fleischindustrie-​tonnies-​westfleisch-​vion-​faire-​
10 Vgl. ebd., S. 5 f. mobilitaet-​werkvertraege.

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APuZ 51–52/2021

chen und gewerkschaftlichen Interessenvertretung te Tendenz, die vormals schwache Tariflandschaft


sein. Nur starke Betriebsräte und Gewerkschaften in der Branche weiter auszubauen.
mit umfassenden Tarifverträgen werden auf Dauer Die Tarifvertragsparteien schlossen neben dem
eine substanzielle Verbesserung der Arbeitsbedin- Branchenmindestlohn auch noch eine Regelung
gungen gewährleisten können, die über die gesetz- zur Leiharbeit ab, womit sie die tarifdispositive
lichen Mindeststandards hinausgeht. Öffnungsklausel des Arbeitsschutzkontrollgeset-
zes nutzten. Unternehmen der Fleischverarbei-
NEUGESTALTUNG DER tung, die etwa Schinken, Bratwürste oder Pasteten
ARBEITSBEZIEHUNGEN herstellen, dürfen in begrenztem Umfang Leih­
arb­ei­ter:­innen einstellen, wenn sie tarifgebunden,
Die Entwicklung der Fleischindustrie stand in also Mitglied in einem regionalen Arbeitgeberver-
den vergangenen beiden Jahrzehnten auch exem- band sind. Dieser sogenannte Tarifvorbehalt war
plarisch für die Erosion des deutschen Modells bewusst so im Gesetz festgesetzt worden, um Ta-
der Arbeitsbeziehungen mit hoher Tarifbindung rifverhandlungen in der Branche zu unterstützen.
und entwickelten Mitbestimmungsstrukturen. Anders als der Mindestlohntarifvertrag soll dieser
Die Zäsur, die mit dem Arbeitsschutzkontrollge- Tarifvertrag ausdrücklich nicht allgemeinverbind-
setz für die Branche verbunden ist, birgt nun die lich erklärt werden, sodass er ausschließlich ver-
Chance für eine grundlegende Neugestaltung der bandsgebundenen Unternehmen zugutekommt
Arbeitsbeziehungen. und einen Anreiz zur Mitgliedschaft in einem der
Der erste Ansatzpunkt hierfür wurde in der regionalen Arbeitgeberverbände schafft. Im Be-
Tarifpolitik deutlich. Nachdem die Fleischindus- reich der Schlachtung und Zerlegung besteht hin-
trie, von einigen wenigen Haustarifverträgen ab- gegen weiterhin ohne Ausnahme ein striktes Ver-
gesehen, zu einer weitgehend tarifvertragslosen bot von Werkverträgen und Leiharbeit.
Zone geworden war, zeigen sich nun erste Ansät- Die Tarifverhandlungen wurden auf Arbeit-
ze für eine Reorganisation der Tarifvertragsbezie- nehmerseite von zahlreichen Aktionen und Warn-
hungen auf Branchenebene. Erstmals seit Langem streiks begleitet, die für die Branche äußerst un-
wurden im März 2021 Tarifverhandlungen für ei- gewöhnlich sind. Dies gilt erstens für Umfang
nen spezifischen Mindestlohn in der Fleisch­ und Intensität der Aktionen: Einige Schlachthö-
in­dus­trie aufgenommen, die im Juni 2021 zum fe wurden ganztägig bestreikt und damit de fac-
Abschluss eines branchenweiten Mindest­ lohn­ to stillgelegt. In vielen Betrieben gab es zum ers-
tarif­vertrags führten.12 Beide Tarifvertragspartei- ten Mal überhaupt Warnstreiks. Insgesamt wurden
en haben im Anschluss die Allgemeinverbindlich- von der zuständigen Gewerkschaft Nahrung-Ge-
erklärung des Tarifvertrags beantragt, damit er nuss-Gaststätten (NGG) bundesweit über hun-
für alle Unternehmen und Beschäftigte der Bran- dert kleinere oder größere Aktionen registriert.
che greift. Der vereinbarte Branchenmindestlohn Zweitens wurden die Streiks in erheblichem Um-
beträgt ab Januar 2022 11 Euro und soll bis De- fang von osteuropäischen Ar­beiter:­innen getragen.
zember 2023 schrittweise auf 12,30 Euro steigen. Durch die aktive Beteiligung ehemaliger Werkver-
Anschließend wurden auf Ebene der Be- tragsbeschäftigter mussten Flugblätter und andere
triebe und Konzerne weitere Tarifverhandlun- Streikmaterialien in bis zu zehn Sprachen übersetzt
gen geführt, um die Löhne oberhalb des neuen werden. Die Gewerkschaft NGG verzeichnete
Branchenmindestlohns deutlich anzuheben. Im während der Tarifauseinandersetzung etwa 1800
Konzern Vion gelang es, erstmals einen bundes- neue Mitglieder, von denen etwa zwei Drittel ehe-
weit gültigen Konzerntarifvertrag für alle eigenen malige Werkvertragsbeschäftigte waren.
Schlachtstandorte in Deutschland abzuschließen. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung war
Beim Konkurrenten Westfleisch haben Tarifver- auch der weitere Ausbau von Unterstützungs-
handlungen über weitergehende tarifliche Rege- netzwerken für die Beschäftigten der Fleisch-
lungen begonnen. Insgesamt zeigt sich eine leich- wirtschaft, in dem neben den Gewerkschaften die
Beratungsstellen von Faire Mobilität und anderen
Organisationen, kirchliche und soziale Gruppen,
12 Vgl. Johannes Specht/Thorsten Schulten, Mindestlohn-
tarifvertrag in der Fleischwirtschaft, 14. 6. 2021, www.wsi.de/
kommunalpolitisch Aktive und andere Helfer-
de/blog-​17857-​mindestlohntarifvertrag-​in-​der-​fleischwirt- kreise zusammenarbeiten. Diese Unterstützungs-
schaft-​33525.htm. netzwerke, die sich aus sozialen und ethischen

40
Fleisch APuZ

Motiven für die Menschenwürde in der Arbeits- rührt. Ausgelöst durch die Corona-Ausbrüche
welt einsetzen, haben wesentlich dazu beigetra- wurde dies möglich durch den öffentlichen Druck
gen, die osteuropäischen Beschäftigten über ihre einer breiten zivilgesellschaftlichen Allianz von
neuen Rechte nach dem Arbeitsschutzkontroll- Umwelt- und Verbraucherverbänden, Tier­schüt­
gesetz zu informieren und während der Tarifaus- zer:­innen, politischen Parteien und Gewerkschaf-
einandersetzungen zu unterstützen. ten, die aus unterschiedlichen Perspektiven das
Nach dem gemeinsamen Willen von Arbeitge- vorherrschende Modell der Fleischproduktion kri-
bern und Gewerkschaft sollen die branchenweiten tisieren. Hierbei geht es um Fragen des Tierwohls
Tarifvertragsbeziehungen auch zukünftig weiter und des Fleischkonsums, um die Umweltfolgen
ausgebaut werden. Vereinbart wurde, als nächs- industrieller Fleischproduktion sowie um die Ar-
ten Schritt über einen Manteltarifvertrag zu ver- beitsbedingungen der Fleisch­ar­beit­er:­innen. Auch
handeln, der bestimmte Arbeitsbedingungen wie wenn mit diesen Fragen unterschiedliche und teil-
Arbeitszeiten, Urlaubstage, Sonderzahlungen und weise auch widerstrebende Interessen verbunden
Zuschläge für Mehr- oder Nachtarbeit regelt. Bis- sind, so implizieren sie doch alle die Notwendig-
lang gelten für viele Beschäftigte der Fleischindus- keit eines umfassenden Wandels hin zu einem sozi-
trie hier nur die gesetzlichen Mindestbestimmun- al und ökologisch nachhaltigen Geschäftsmodell.13
gen. Die Zusage für Verhandlungen über einen Die Veränderung der Arbeitsbedingungen
branchenweiten Manteltarifvertrag wurde bislang ist für einen solchen Wandel von zentraler Be-
jedoch nur von den großen Schlachthöfen und Zer- deutung. Das bisherige Geschäftsmodell bil-
legebetrieben erteilt, während die Unternehmen liger Massenproduktion beruht vor allem auf
der Geflügelwirtschaft sowie der gesamte Bereich menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und
der Fleischverarbeitung erklärt haben, derzeit kein insbesondere der Ausbeutung Zehntausender
Interesse an weiteren Tarifverhandlungen zu haben. osteuropäischer Ar­beits­mi­grant:­innen. Das Ar-
Neben13 dem Neuaufbau branchenweiter Tarif- beitsschutzkontrollgesetz allein führt noch nicht
vertragsstrukturen ermöglicht das Arbeitsschutz- zu guten Arbeitsbedingungen. Es verändert aber
kontrollgesetz auch eine Neugestaltung der be- die Spielregeln der Branche und damit die Chan-
trieblichen Mitbestimmungsstrukturen. Bislang ce der Beschäftigten, bessere Arbeitsbedingungen
waren die Betriebsräte in den Fleischunterneh- durchzusetzen. Eine nachhaltige Veränderung
men lediglich für die Stammbelegschaften zustän- erfordert jedoch auch eine grundlegende Neu-
dig, die oft nur eine Minderheit der Beschäftigten gestaltung der Arbeitsbeziehungen, die ein ko-
repräsentierten. Mit der Integration der ehema- operatives Miteinander von Unternehmen und
ligen Werkvertragsbeschäftigten verändern sich Beschäftigten möglich macht. Voraussetzung
auch die Anforderungen an die betriebliche Inte- hierfür ist eine neue Machtbalance in der Branche,
ressenvertretung, die nun die gesamte Belegschaft für die es wiederum eines Ausbaus betrieblicher
in den Blick nehmen muss. Mit den im Frühjahr Mitbestimmungsstrukturen, der Entwicklung ei-
2022 anstehenden Betriebsratswahlen werden zu- nes umfassenden branchenweiten Tarifvertrags-
dem viele neu zusammengesetzte Betriebsratsgre- system und nicht zuletzt einer Stärkung gewerk-
mien entstehen. Auch ehemalige Werkvertrags- schaftlicher Organisationsmacht bedarf.
beschäftigte haben dann die Chance, für einen
Betriebsrat zu kandidieren und ihre Anliegen THORSTEN SCHULTEN
selbst in die Hand zu nehmen. ist wissenschaftlicher Leiter des Tarifarchivs des
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts
AUSBLICK der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf und lehrt
als Honorarprofessor am Institut für Politikwissen-
Mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz wurde eine schaft der Universität Tübingen.
Zäsur in der Fleischindustrie eingeleitet, die an die thorsten-schulten@boeckler.de
Grundfesten ihres bisherigen Geschäftsmodells
JOHANNES SPECHT
leitet die Tarifabteilung in der Hauptverwaltung der
13 Vgl. Guido Zeitler, Gesundes Essen – nachhaltige Produkti-
on – faire Arbeit? in: Reiner Hoffmann (Hrsg.), Arbeit aufwerten,
Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG)
Demokratie stärken. Gewerkschaftliche Gestaltungsperspekti- in Hamburg.
ven, Bonn 2021, S. 81–94. johannes.specht@ngg.net

41
APuZ 51–52/2021

VERBOTENER STANDARD
Schächten in der deutsch-jüdischen Geschichte
Deborah Williger

Das Schächten ist ein Schlachtverfahren zur begegnen (Tza’ar Ba’al Chajim)09 und ihr Le-
Fleischgewinnung aus der Haustierhaltung von bensrecht zu achten.10
Wiederkäuern und Geflügel. Es gehört seit jeher Aus biblischer und mündlicher Überlieferung
zum kultischen Fundament jüdischer Lebensfüh- stammen die halachischen Handlungsanweisun-
rung und wurde vor rund 1700 Jahren von sie- gen zur Schechita, die im Talmudtraktat Chullin
delnden Juden in die Regionen nördlich der Alpen (Profanes) enthalten sind. In deutscher Überset-
mitgebracht. Der Begriff „Schächten“ (Schechi- zung umfasst Chullin rund 950 Seiten.11 Die über
ta) kommt aus dem Hebräischen und wird vom 1500 Jahre alten Tal­mud­aus­führungen stehen ak-
Verb schachach abgeleitet, das „hin- und herzie- tuellen EU-Schlachthof-Bestimmungen in ihrer
hen“ (des Messers) bedeutet. Fest in der jüdi- Detailfülle in nichts nach.
schen Ernährungslehre, der Kaschrut, und da- Tiere müssen bis zum Schächtakt gesund
mit in der religiösen Tradition gerechter jüdischer und unversehrt bleiben. Fleisch von geschächte-
Lebensführung (Halacha) verankert, besitzt der ten Tieren gilt nach eingehender Bedika (Fleisch-
Schächtkultus für Juden bis heute identitätsstif- beschau) als koscher, also als rein, und darf wei-
tenden Charakter. Der Blick in die deutsch-jüdi- terverarbeitet und verzehrt werden. Weist die
sche Geschichte legt den Schluss nahe, dass aus Bedika auch nur ein winziges Loch in der Hirn-
der jeweiligen mehrheitspolitischen Positionie- hautmembran nach oder ist das Rückenmark ab-
rung zum Schächtkultus auf die Selbstverständ- gerissen, ist das Fleisch trefa (unrein), also für den
lichkeit jüdischen Lebens in Deutschland ge- Verzehr nicht geeignet.12 Solche Verletzungen
schlossen werden kann.01 können vom Bolzenschuss oder vom Aufhän-
gen an den Hinterbeinen vor dem Tötungsschnitt
RELIGIÖSE GRUNDLAGEN herrühren, beide Schlachtpraktiken sind daher
unzulässig. Ferner beschreibt Chullin ausführlich
Nach jüdischer Tradition führen die freiwillige unter anderem fünf untersagte Fehlhandhabun-
Befolgung aller Gebote und die Mäßigung per- gen des Schächtinstruments: Schehija – Unterbre-
sönlicher Begierden zu einer gerechten Lebens- chen, Derassa – Druck, Halada – Vergraben, Ha-
führung.02 Eine Reihe von Geboten begrenzt den grama – Versetzen und Iḳur – Verreißen.
Fleischverzehr – das Speiseideal ist ein veganes.03 Mögliche Blutreste müssen vor dem Kochen
Fleischgenuss steht auf niedriger moralischer Stu- oder Braten durch mehrmaliges Salzen und Wa-
fe.04 Fleischige Lebensmittel werden von milchi- schen entfernt werden,13 denn im Blut findet sich
gen getrennt, bei Rohprodukten, Geschirr und die Seele lebendigen Fleisches,14 und aus Res-
Speisen.05 Nur Fleisch von „reinen“ Tierarten pekt vor dem Leben darf Blut weder aufgefan-
ist erlaubt.06 Laut Überlieferung wurden je sie- gen, gesammelt noch konsumiert werden. Den
ben Paare dieser Arten auf die Arche Noah ge- Anblick großer Blutmengen sollen die Menschen
rettet, sonst hätten die Dankopfer nach der Sint- aus Selbstschutz vermeiden.15 Das blutige Zeugnis
flut bereits gerettete Tierarten ausgerottet.07 Die des Tabubruchs der Tötung, des Vertrauensbruchs
noachidischen Gebote verlangen unter anderem, der „Hirt*­innen“ an ihren Tieren, muss zugedeckt
Tiere vor Qual zu bewahren.08 Das jüdische Re- werden.16 Selbst an entlegensten Orten und selbst
ligionsgesetz schreibt außerdem vor, lebenden wenn nichts anderes als Goldstaub zur Verfügung
Tieren kein Körperteil zu entreißen oder sie zur steht, muss vergossenes Blut bedeckt werden.17
Vergnügung zu benutzen. Jagen wird ebenfalls Alle Israeliten, also befähigte jüdische Männer,
abgelehnt. Vielmehr ist Tieren mit Mitgefühl zu Frauen und Heranwachsende, können die Schechi-

42
Fleisch APuZ

ta ausführen. Zur Ausbildung gehören praktische HISTORISCHE


und ideelle Vorbereitungen. Ein Schochet (Schäch- ENTWICKLUNG
ter) nimmt Leben, das von Gott kommt und ver-
sieht eine ehemals priesterliche Aufgabe. Vor dem Überall in Europa sah sich das Schächten Hun-
Schächten werden Segenssprüche gesprochen. Die derte von Jahren einer gewaltigen Opposition
Schlachtinstrumente müssen schartenfrei geschlif- gegenüber. Es galt als „unmenschlich“. Die mit-
fen sein und einer Nagelprobe1234567890 unterzogen wer- telalterliche christliche Lesart unterstellte Juden
den.18 Unabhängig davon, ob das Schlachttier liegt Grausamkeit und Blutdurst.21 Lange durfte nur
oder steht, muss der Hals vor dem Schnitt gestreckt so viel geschächtet werden, wie es für die De-
sein. Nur der oberste Knorpelring der Luftröhre ist ckung jüdischen Eigenbedarfs nötig war. Damit
geschlossen.19 Das Messer muss blitzschnell vor- sollte der Fleischverkauf von Juden an Christen
und zurückgezogen werden, bis alle Halsweichtei- verhindert werden, um die Pfründe christlicher
le durchtrennt sind – auch sämtliche Nervenenden Metzgerzünfte zu wahren.22 Schächter waren
der zwei Halspartien, sodass die Schmerzleitung vom Rabbiner bestellte Gemeindebeamte.
umgehend erlischt. Dadurch spürt das Tier den Vor dem 19. Jahrhundert lebten 90 Prozent
Schnitt kaum, etwa vergleichbar damit, wenn man der Juden auf dem Land. Grundlose Landjuden
sich an scharfem Papier verletzt.20 Aus der klaffen- waren Hausierer, Gebrauchtwaren-, Landpro-
den Wunde schießt das Blut. Durch das Absacken dukte- und Viehhändler oder waren im Güter-
des Blutes aus dem Kopf verliert das Tier in Sekun- transport123456789012 und Kleinkreditwesen tätig. Da ihnen
den sein Bewusstsein. Bewusstlos stirbt es. Erst über Jahrhunderte hindurch berufliche Alterna-
der komplett ausgeblutete Schlachtkörper wird tiven verwehrt blieben, waren Juden versiert bei
der Bedika unterzogen. Nicht-koschere Körper- der Kapitalisierung von Erträgen.23 Ab Ende des
partien wie Hinterviertel mit Spannader, Vorder- 18. Jahrhunderts veränderten sich in den deut-
füße, Organe außer der Leber, Knochen, Rücken- schen Staaten die alten Herrschaftsstrukturen aus
mark, Fettgewebe, Röhren und Gefäße, der Kopf Adel und Kirche, und die Säkularisierung nahm
mit Ausnahme der Zunge, Hals, Sehnen- und Ner- zu.24 Die zuvor weitestgehend autonom verwal-
venstränge werden aussortiert und üblicherweise teten jüdischen Gemeinden wurden nun dem
zum Teil an Nichtjuden verkauft. Staat unterstellt. Ihm oblag jetzt das Hoheitsrecht
über immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen
01 Vgl. Mordechai Breuer, Die jüdische Minorität im Staat
Lebens, auch das Schlachten gelangte unter staat-
des aufgeklärten Absolutismus, in: Michael A. Meyer (Hrsg.), liche Aufsicht und Kontrolle.
Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 1: Tradition
und Aufklärung 1600–1780, München 2000, S. 141–159,
hier S. 143; Stefi Jersch-Wenzel, Bevölkerungsentwicklung und 12 Vgl. Levinger (Anm. 8), S. 13–16.
Berufsstruktur, in: Michael A. Meyer (Hrsg.), Deutsch-jüdische 13 Vgl. Lion Wolff, Lehrbuch der Schichta und Bdika, Leipzig
Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2: Emanzipation und Akkulturati- 1901, S. 11.
on 1780–1871, München 2000, S. 57–95, hier S. 67. 14 Lev 17,12–14.
02 Pirke Avot 6,2. Vgl. Mosche Ben Maimon, Regimen Sanitas, 15 bKidusch 82a.
Kap. I und II. 16 Lev 11,33.
03 Gen 1,29. 17 Tur, Jore Dea 28, bChul 83b, Hiob 28,6.
04 Ex 16,3; Jes 11. 18 Vgl. Joseph Caro, Schulchan Aruch, Venedig 1565, Jore
05 Ex 23,19; Ex 34,26. Dea, 18 : 9,.
06 Lev 11,1–12,8. 19 mChul 1,3.
07 Gen 8,20. 20 Vgl. Levinger (Anm. 8), S. 19–25.
08 bSanh 56b; bSchab 128b; Num 22,28; Deut 11,15; Deut 21 Vgl. Ronit Gurtman, Shehita, Jewish Ritual Slaughter, Paper,
25,4. Vgl. Michael Landmann, Das Tier in der jüdischen Wei- Harvard University 2005, S. 33; Robin Judd, Contested Rituals:
sung, Heidelberg 1959, S. 46; Israel Meir Levinger, Schechita im Circumcision, Kosher Butchering, and Jewish Political Life in
Lichte des Jahres 2000, Jerusalem 1996, S. 13–16. Germany, 1843–1933, Ithaca 2007, S. 25.
09 jBabMez 32b. 22 Vgl. Breuer (Anm. 1), S. 143; Jersch-Wenzel (Anm. 1), S. 67.
10 Deut 25,4. Vgl. Beth Berkowitz/Marion Katz, The Cowering 23 Vgl. Monika Richarz, Berufliche und soziale Struktur, in:
Calf and the Thirsty Dog: Narrating and Legislating Kindness to Michael A. Meyer, (Hrsg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der
Animals in Jewish and Islamic Texts, in: Anver M. Emon (Hrsg.), Neuzeit, Bd. 3: Umstrittene Integration 1871–1918, München
Islamic and Jewish Reasoning, London 2016, S. 61–112, hier 2000, S. 39–68, hier S. 47.
S. 69. 24 Vgl. Michael A. Meyer, Jüdische Identität in den Jahrzehn-
11 Vgl. Der Babylonische Talmud, Übersetzung von Lazarus ten nach 1848, in: ebd., Bd. 2, S. 328–340; ders., Jüdische
Goldschmidt, Frank­furt/M. 1996. Gemeinden im Übergang, in: ebd., S. 109 ff.

43
APuZ 51–52/2021

1791 hatte die französische Nationalversamm- Das traf auch die Praxis des Schächtens. Erst-
lung die juristische und bürgerliche Gleichstel- mals Gegenstand parlamentarischer Debatten
lung für Juden beschlossen. Nach französischem war das Schächten bereits 1864 im Landtag von
Vorbild kam es auch in den deutschen Staaten zu Baden gewesen.32 Auch in weiteren Länderpar-
Emanzipationsgesetzgebungen wie beispielswei- lamenten sowie auf Reichsebene wurden in der
se 1808 in Westfalen, 1812 in Preußen und 1813 Folge Gesetzesvorlagen zum Verbot des Schäch-
in Bayern. Juden wurden nun eingebürgert,25 an tens eingereicht, die allesamt abgewiesen wurden.
manchen Fakultäten zum Studium zugelassen, Einzig das Königreich Sachsen erließ 1892 ein
und mancherorts wurde ihnen der freie Grund- Schächtverbot.
erwerb erlaubt.26 Berufsbeschränkungen betra- 1891 wurde das Komitee zur Abwehr des
fen noch lange den höheren Staats- und Militär- Antisemitismus gegründet. Der Verein war eine
dienst.27 Mit zunehmender Industrialisierung und christliche Organisation mit einem großen An-
Verstädterung veränderten sich die Lebensweisen teil jüdischer Mitglieder und Förderer. Zwischen
der Menschen. Juden verbanden Produktion und 1897 und 1910 beschäftigte sich das Komitee mit
Landhandel mit der Gründung von Einzelhandels- rund 5000 Fällen, insbesondere mit Ritualmord-
geschäften in Städten. Sie wurden Fabrikanten und anschuldigungen und dem Schächtverbot.33 1894
drangen in selbstständige akademische Berufe.28 gab das Komitee eine Gutachtensammlung he-
Die Integrationsbestrebungen in die deutschen raus, in der 250 unabhängige europäische Ex-
Gesellschaften wurden begleitet von offen antise- perten aus Universitäten, Veterinärämtern und
mitischen Zurückweisungen, rechtlichen Benach- Schlachterinnungen in einer internationalen Ver-
teiligungen und gewaltsamen Ausschreitungen gleichsstudie zu dem Schluss kamen, dass Schäch-
wie die von Würzburg ausgehenden „Hep-Hep- ten nach jüdischem Vorbild die humanste aller
Unruhen“ 1819.29 Konservative, Adelige, der gegenwärtigen Schlachtmethoden sei.34 Bereits
preußische König Friedrich Wilhelm III., christ- 1893 war in Preußen verfügt worden, dass sämt-
liche Philosophen und Wissenschaftler, Litera- liche lokalen Schächtverbote zu annullieren seien.
ten und Politiker agitierten gegen die bürgerliche Nachdem die Medizinische Fakultät der Univer-
Gleichstellung von Juden. Erst mit der Reichs- sität Dresden Schächten ebenfalls für nicht in-
gründung 1871 kam es schließlich zur rechtli- human befand, wurde 1910 auch das sächsische
chen Gleichstellung. Dennoch blieb die „Juden- Schächtverbot zurückgenommen. In der Folge
frage“ ständiges Thema politischer Debatten.30 wurde Schächten deutschlandweit zur Standard-
Als Deutschland in den 1880er und 1890er Jah- methode beim Schlachten. Metzgerinnungen und
ren im Strudel der ersten globalen Wirtschaftskri- Großschlächtereien stellten sich entsprechend
se in die Inflation geriet und zwei Jahre mit Miss- um, christliche Schlachter erlernten das Schäch-
ernten aufeinander folgten, konnten viele Bauern ten bei Juden, und sogar das kaiserliche deutsche
durch den Geldwertverlust ihre Erntekredite bei Heer wurde bis 1916 mit Fleisch aus Schächtun-
jüdischen Landhändlern nicht zurückzahlen. Die gen ­versorgt.35 Ende des 19. Jahrhunderts waren
Schuld an der Misere wurde Juden angelastet. An- die meisten der in Gewerbe und Industrie be-
tisemitismus durchzog Stadt und Land.31 schäftigten männlichen Juden im Fleischerhand-
werk tätig.36
25 Vgl. Stefi Jersch-Wenzel, Rechtslage und Emanzipation, in:
Ab Ende der 1920er Jahre griffen natio-
ebd., S. 15–56, hier S. 26–42. nalsozialistische Gruppierungen das Thema
26 Vgl. dies. (Anm. 1). Schächtverbote wieder auf. In einem Vortrag
27 Vgl. Mordechai Breuer, Die Landjudenschaften, in: ebd., mit dem Titel „Kampf der NSDAP gegen Tier-
Bd. 1, S. 187–198.
quälerei. Tierfolter und Schächten“ bezeichne-
28 Vgl. Peter Pulzer, Rechtliche Gleichstellung und öffentliches
Leben, in: ebd., Bd. 3, S. 151–192, hier S. 159.
29 Vgl. Nachum T. Gidal, Die Juden in Deutschland von der 32 Vgl. Gurtman (Anm. 21), S. 29.
Römerzeit bis zur Weimarer Republik, Köln 1997, S. 149. 33 Vgl. Michael Graetz, Jüdische Aufklärung, in: Meyer
30 Vgl. Andreas Brämer, Der lange Weg von der Duldung zur (Anm. 1), Bd. 1., S. 251–350, hier S. 251, S. 259.
Emanzipation (1650–1871), in: Arno Herzig/Cay Rademacher 34 Vgl. Komitee zur Abwehr antisemitischer Angriffe (Hrsg.),
(Hrsg.), Die Geschichte der Juden in Deutschland, Hamburg Gutachten über das jüdisch-rituelle Schlachtverfahren („Schäch-
2007, S. 80–97. ten“), Berlin 1894, S. IIIff.
31 Vgl. Peter Pulzer, Die Wiederkehr des alten Hasses, in: 35 Vgl. Gurtman (Anm. 21), S. 29 f.
Meyer (Anm. 23), S. 193–248, hier S. 240. 36 Vgl. Richarz (Anm. 23), S. 53.

44
Fleisch APuZ

te der Arzt Albert Eckhard 1931 in Hannover mit den Pogromen am 9. und 10. November 1938
das Schächten als archaisch, grausam, blutrüns- und der Schoa.
tig, abartig und als von Juden einzig aus Geld-
gier betrieben – seit dem Mittelalter für antise- SCHÄCHTEN HEUTE
mitische Hetze typische Attribute.37 Angeblich
objektive Referenz liefere die Fülle der Ritual- Die Nachkriegsgesetzgebung revidierte das nati-
mordgerichtsakten. Grausamkeit gegen Tiere onalsozialistische Tierschutzgesetz nicht. Schäch-
sei ein kennzeichnendes Laster eines niederen ten ist bis heute in Deutschland gesetzlich verbo-
und unedlen Volkes. Schächten entstamme ei- ten. Bei der Novellierung des Tierschutzgesetzes
nem „uralten Blut­aberglau­ben“. 1999 wurde der Paragraf 4a hinzugefügt, der vor-
Mit zunehmendem nationalsozialistischen sieht, dass Angehörige von Religionsgemeinschaf-
Einfluss wurde Schächten in mehreren Länder- ten mit dem Status „Gesellschaft des öffentlichen
parlamenten verboten, ab Mai 1933 im gesamten Rechts“, einen Antrag auf Ausnahmegenehmi-
Deutschen Reich. Um den Vollzug zu beschleu- gung vom allgemeinen Schächtverbot stellen
nigen, wurden bereits im Sommer 1933 sämtliche können. Diesen Status besitzen jüdische Zentral-
Schächtmesser konfisziert.38 Die Nationalsozia- ratsgemeinden. In fast allen Bundesländern sind
listen hatten im Strafgesetzbuch das erste deut- die behördlichen Hürden für einen entsprechen-
sche Tierschutzgesetz installiert. Schlachtgesetze, den Antrag sehr hoch. In Berlin werden wenige
die zuvor Teil des Allgemeinen Gesetzbuchs ge- Tiere pro Woche von einem geprüften Schochet
wesen waren, wurden dem neuen Tierschutzge- der etwa 20 000 Mitglieder zählenden jüdischen
setz untergeordnet. Zuwiderhandlungen konn- Gemeinde geschächtet. Weder ihm noch anders-
ten nun mit Geldbußen und Gefängnis bestraft wo in Deutschland steht moderne Schächttechnik
werden. Die Hammerschlagmethode, die etwa zur Verfügung.39 Koscheres Fleisch wird ebenso
vier Jahrzehnte lang bedeutungslos gewesen war, wie Halal-Fleisch hauptsächlich importiert. Es ist
wurde zur einzig zulässigen Schlachtmethode, teuer und darf offiziell kein Bio-Siegel tragen.
und Schächten wurde von einem Tag auf den Folge der rechtspolitischen Kontinuität ist
anderen kriminalisiert und als Tierquälerei dif- eine gesellschaftliche und juristische Polarisie-
famiert. Juden begaben sich auf die Suche nach rung zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz
gesetzeskompatiblen Schächtmethoden und ex- mit Blick auf das Schächten. Die deutsche Nach-
perimentierten mit elektrischen Schocks und kriegsgesellschaft lehnt Schächten mehrheitlich
Stickstoffinhalation, was beides von deutschen ab. In der Debatte wird die Praxis mit religiöser
Rabbinern aber als nicht zufriedenstellend be- Verblendung gleichgesetzt, und immer wieder
funden wurde. Die flächendeckende Infrastruk- scheinen klassische antisemitische Vorurteile hin-
tur mit jüdischen Metzgereien wurde zerstört. ter den Argumenten der Humanität und des „ge-
Schnell wurde koscheres Fleisch knapp. Impor- sunden Menschenverstands“ durch.
te aus Dänemark und Südamerika wurden 1936 Alle Schlachtmethoden beenden das Leben
verboten. Ein Schwarzmarkt kam kaum zustan- von Tieren mit einem gnadenlosen Gewaltakt.
de, denn viele Juden wollten dieses Fleisch nicht Beim Vergleich verschiedener Schlachttechniken
essen. Die Einhaltung der Reinheitsgebote war muss es immer darum gehen, zu belegen, dass
fraglich, weil keine rabbinische Aufsicht garan- mit der jeweils verwendeten Technik den Tierop-
tiert war, und es erschien vielen unmoralisch, un- fern möglichst wenig Leid zugefügt wird. Hier ist
ter Gefährdung des Lebens der Schächter her- auch die in Deutschland gängige Schlachtmetho-
gestelltes Fleisch zu genießen. Unter deutschem de nicht über jeden Zweifel erhaben. Das Tier-
Einfluss wurde das Schächten in weiteren euro- schutzgesetz verbietet „Schlachten ohne vorhe-
päischen Ländern verboten. Jüdisches Streben rige Betäubung“. Gesetzlich konform sind etwa
und Leben in Deutschland und Europa erlosch die nicht umkehrbare Hirnzertrümmerung mit
einem Bolzenschussgerät, Elektroschocks oder
Gasvergiftung. In Deutschland finden jährlich
37 Vgl. Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus, Antise-
mitismus in Deutschland. Erscheinungsformen, Bedingungen,
Präventionsansätze, November 2011, S. 11 f.; Christoph Nonn, 39 Vgl. Temple Grandin/Joe M. Regenstein, Religious Slaughter
Antisemitismus, Darmstadt 2008, S. 15. and Animal Welfare, in: Meat Focus International 3/1994,
38 Vgl. hier und im Folgenden Gurtman (Anm. 21), S. 33 f. S. 115–123.

45
APuZ 51–52/2021

mehrere Hundertmillionen Schlachtungen statt,40 graf 4a etwa auf staatlich geprüfte muslimische
bei denen in zehn Prozent aller Fälle Fehlleistun- und Sikh-Schäch­ ter*­
innen erweitert und eine
gen bei der Betäubung nachgewiesen werden.41 moderne Schächtausstattung in Schlachthö-
Jedes zehnte Tier erlebt also bei Bewusstsein die fen zur Auflage gemacht werden. Damit wäre
qualvollen Entblutungsschnitte oder das Köpfen eine rechtskonforme Versorgung mit Fleisch
und Zerteilen der Körper. Das entspricht etwa aus Schächtung im Inland gewährleistet. Impor-
200 000 Tieren täglich. te entfielen, illegales Schächten beispielsweise
Es ist erforderlich, Systeme und Traditio- zum muslimischen Opferfest würde ebenso ver-
nen immer wieder auf den Prüfstand zu stellen, hindert wie quälende Lebendtierexporte zum
um zeitgemäße Lösungen zu finden, die Religi- Schächten im Ausland. Stattdessen gibt es star-
onsgesetz und Ergebnisse aus Verhaltens- und ke Bestrebungen, den Paragrafen 4a komplett zu
naturwissenschaftlich-technischer Forschung streichen.
vereinen können. Eine Novellierung der Ge-
setzesgrundlage in Deutschland könnte eini-
ges für das Tierwohl bewirken. So könnte Para-

DEBORAH WILLIGER
40 Siehe www.bmel-​statistik.de/ernaehrung-​fischerei/ernaeh-
rungsgewerbe/lebensmittelindustrie.
ist Kuratorin und Dozentin am interdisziplinären
41 Vgl. Bundestagsdrucksache 17/10021, 15. 6. 2012, Tier- Institut für Theologische Zoologie in Münster.
schutz bei der Tötung von Schlachttieren. d.williger@theologische-​zoologie.de

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Jüdisches Leben in Deutschland
Das Online-Dossier
„Jüdisches Leben in Deutschland –
Vergangenheit und Gegenwart“
versammelt zahlreiche
Textbeiträge, Videos
und einen Podcast:
© picture alliance / ZB | Oliver Killig

www.bpb.de/juedischesleben

46
Impressum
Herausgegeben von der
Bundeszentrale für politische Bildung
Adenauerallee 86, 53113 Bonn
Telefon: (0228) 9 95 15-0

Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 10. Dezember 2021


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