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Das Squigglespiel
Funktion des Squigglespiels nach Winnicott
für die Diagnostik, Beziehungsgestaltung
und Therapieindikation in der Kinder-
und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
Emil Branik
Zusammenfassung
Im ersten Teil der Arbeit wird die heute vorherr- se in Kontakt zu treten. Möglichkeiten des „Squig-
schende rein deskriptive diagnostische Praxis in gelns“, die kinder- und jugendpsychiatrische Diag-
der Kinder- und Jugendpsychiatrie kritisch disku- nostik, Beziehungsgestaltung und Therapieindika-
tiert. In ihr werden pathogenetische Überlegungen tion zu bereichern, werden dargestellt und durch
weit gehend ausgeklammert und psychoanalyti- ein Fallbeispiel illustriert. Die Interaktionsabhängig-
sche Krankheits- und Persönlichkeitstheorien elimi- keit sowie die intersubjektive Natur eines solchen
niert. Der Reliabilität und Operationalisierbarkeit Kontaktes wird im Gegensatz zu der heute vorherr-
von Diagnosen wird oberste Priorität eingeräumt. schenden psychiatrischen Diagnostik nicht als Stör-
Demgegenüber wird im zweiten Teil des Artikels faktor gesehen, sondern als Chance und Ressource
das Squiggle-(Kritzel-)Spiel von Winnicott als eine sowohl im psychotherapeutischen Erstkontakt mit
genuin psychoanalytische Weise vorgestellt, mit ei- einem Kind oder Jugendlichen als auch im Hinblick
nem Kind oder Jugendlichen in spielerischer Wei- auf die Therapieindikation.
Abstract
In the first section of the article the prevailing de- a child or adolescent. The way “squiggles” enrich the
scriptive diagnostic practice and classification in assessment process and therapeutical decisions in
child and adolescent psychiatry is critically dis- child and adolescent psychiatry is pointed out und il-
cussed. The current psychiatric classification elimi- lustrated by a case report. The intersubjective nature
nates pathogenetical considerations and psychoana- of squiggle interviews and their dependence on in-
lytical theories of disorders and personality. Reliabil- teraction between the therapist and the patient is
ity and operationalisation of diagnoses have high stressed. This is not seen as a disturbing factor but as
priority. In contrast, the second section of the arti- a resource to refine diagnostical and therapeutical
cle presents Winnicott’s squiggle game as a genuine decisions regarding each individual patient.
psychoanalytical way to communicate playfully with
Abb. 2 8 Ich zeichnete aus seinem Kritzel eine stürmische See mit einem wie nach Luft schnap-
penden Fisch. Ich fragte K., ob er den Spruch „stumm wie ein Fisch“ kenne, und wir sprachen
darüber, dass Fische uns von der Körpersprache her unverständlich sind
F Statt auf das symptomatische Krankhafte F Auch in Fällen, in welchen starre Abwehr von
wird die Aufmerksamkeit im Kontakt mit seelischem Leid die kreativen Ausdruckmög-
dem Patienten auf seine Kommunikations- lichkeiten des Kindes blockiert und ein spie-
und Beziehungsfähigkeit fokussiert. Dadurch lerischer, potenziell therapeutischer Dialog
kann über die Klärung der Indikationsstellung im oben beschriebenen Sinne nicht zustande
zur Psychotherapie hinaus beim Patienten die kommt, kann eine Squiggle-Sitzung qualitati-
Hoffnung geweckt werden, dass ihm in einer ve Hinweise auf die Art der Konflikte liefern,
(psycho-)therapeutischen Begegnung aus sei- die der psychischen Überforderung zugrun-
ner seelischen Notlage geholfen wird. Dies de liegen (vgl. folgendes Fallbeispiel).
stärkt seine Therapiemotivation.
F Die deskriptiven Diagnosen unserer Klassi- Fallbeispiel
fikationssysteme beschreiben in der Mehr-
zahl Sammeltöpfe von heterogenen Störun- Das diagnostische Interview mit einem fast 5 Jah-
gen. Phänomenologisch gleiche Symptomatik re alten Jugendlichen wurde ca. 4 Tage nach der
kann auf dem Boden unterschiedlicher Ätio- stationären Aufnahme durchgeführt, zu der es we-
logien und Problemlagen entstehen. Psychody- gen eines depressiven Zustandsbildes mit Suizida-
namische Beziehungsdiagnostik kann helfen, lität, Sich-Ritzen und somatoformen Störungen
die geeignete Therapie auszuwählen und de- kam. Psychopathologisch präsentierte sich der
ren Durchführung, Schwerpunkte und Prog- Patient affektisoliert, für sein Alter unnatürlich
nose besser einzuschätzen. altklug, scheinbar bedürfnislos und einzelgänge-
Diskussion