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VO Klinische Psychologie (200019, 2022W)

PD Dr Dr Ricarda Nater-Mewes & PD Dr Jennifer Randerath

Aufzeichnung starten!
1. Dienstag 04.10.: Was ist Klinische Psychologie? RNM
2. Dienstag 11.10.: Diagnostische Klassifikation psychischer Störungen JR
3. Dienstag 18.10.: Epidemiologische Beiträge zur KP RNM
4. Dienstag 25.10.: Kennen Sie die Grundlagen für diese VO? – Quiz mit den Online verfügbaren
Karteikarten: https://lehrbuch-psychologie-springer-com.uaccess.univie.ac.at/karteikarten/5648/1
5. Dienstag 08.11.: kurzer Überblick Therapieverfahren; Störungen im Zusammenhang mit
psychotropen Substanzen und abhängigen Verhaltensweisen I JR
6. Dienstag 15.11.: Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen und abhängigen
Verhaltensweisen II JR
7. Dienstag 22.11.: Affektive Störungen RNM
8. Dienstag 29.11.: Somatoforme Störungen und stressabhängige körperliche Beschwerden RNM
9. Dienstag 06.12.: Angststörungen I JR
10. Dienstag 13.12.: Angststörungen II JR
11. Dienstag 10.01.: Posttraumatische Belastungsstörung; Zwangsstörung RNM
12. Dienstag 17.01.: Psychotische Störungen und Schizophrenie JR
13. Dienstag 24.01.: Persönlichkeitsstörungen RNM
14. Dienstag 31.01.: 1. Prüfungstermin
VO Klinische Psychologie, Nater-Mewes & Randerath Seite 2
https://ufind.univie.ac.at/de/course.html?lv=200019&semester=2022W
Stellen Sie sich vor:
• Sie sind Gesundheitsminister*in und haben ein Budget von 1 Milliarde
Euro, um die psychische Gesundheit in Österreich zu verbessern.
• Wie investieren Sie dieses Geld? Welche Fragen müssten dafür
beantwortet werden?
• Oder sollten Sie das Geld lieber für die Erforschung und Behandlung von
Krebserkrankungen ausgeben?

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Relevanz psychischer Störungen:

Die 22 Hauptursachen für verlorene Lebensjahre durch Tod oder Behinderung („disability adjusted life
years“, DALY; Global Burden of Disease 2017); PS auf Platz 6 für alle Altersgruppen
Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1, © Springer-Verlag 2020
Stellen Sie sich vor:
• Sie eröffnen als Psychotherapeut*in eine eigene Praxis.
• Welche Diagnostik- und Therapiematerialien sollten Sie sich auf jeden
Fall anschaffen? Welche Gruppen sollten Sie anbieten?

• -> Epidemiologie

VO Klinische Psychologie, Nater-Mewes & Randerath Seite 5


Übersicht & Lernziele
1. Epidemiologische Grundlagen und Konzepte
2. Untersuchungsdesigns
3. Wichtige Ergebnisse für die Klinische Psychologie

-> Sie kennen die zentralen Aufgaben der Epidemiologie und können
Grundbegriffe einordnen
-> Sie können einschätzen, welches Forschungsdesign zur Beantwortung
welcher Fragen nützlich ist
-> Sie haben einen ersten Eindruck von der epidemiologischen Lage bei
psychischen Störungen

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Übersicht & Lernziele
1. Epidemiologische Grundlagen und Konzepte
2. Untersuchungsdesigns
3. Wichtige Ergebnisse für die Klinische Psychologie

-> Sie kennen die zentralen Aufgaben der Epidemiologie und können
Grundbegriffe einordnen
-> Sie können einschätzen, welches Forschungsdesign zur Beantwortung
welcher Fragen nützlich ist
-> Sie haben einen ersten Eindruck von der epidemiologischen Lage bei
psychischen Störungen

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Zentrale Aufgaben der Epidemiologie
1. Bestimmung der Häufigkeit, der Verteilung und des Spontanverlaufs
psychischer Störungen (deskriptive Epidemiologie),
2. Evaluation des Versorgungssystems sowie der Abschätzung des
Versorgungsbedarfs (Versorgungsepidemiologie),
3. Erforschung der Entstehungs- (Ätiologie) und Entwicklungsbedingungen
(Pathogenese) psychischer Störungen (analytische Epidemiologie) und
4. Ableitung von Konsequenzen für Gesundheitsförderung, Prävention,
Therapie und Rehabilitation sowie deren Überprüfung (experimentelle
Epidemiologie und Public Health).
Darüber hinaus trägt die epidemiologische Forschung zu psychischen
Störungen zu einer besseren Definition psychopathologischer Konstrukte
und einer optimierten Klassifikation bei.

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Aufgabenfeld Deskriptive Epidemiologie (Definitionen)

Die deskriptive Epidemiologie beschäftigt sich mit der räumlichen und zeitlichen Verteilung von
Erkrankungen oder anderen gesundheitsrelevanten Variablen (z.B.: Verhalten wie Rauchen,
behaviorale Epidemiologie) in einer genau definierten Zielpopulation, über die man Schlüsse
ziehen will. Außerdem beschreibt sie die Häufigkeit ihres Auftretens sowie den Beginn und
natürlichen Verlauf in Abhängigkeit von soziodemografischen Faktoren.
-> Stichwort „Exakte Falldefinition“
Die Zielpopulation kann dabei unterschiedlich definiert sein: Die Allgemeinbevölkerung
untersucht man am besten mit repräsentativen Stichproben der ganzen Bevölkerung eines
Landes, einer Region oder Stadt (epidemiologische „Feldstudien“). Zielpopulation kann aber z. B.
auch die Gesamtheit aller stationär psychiatrischen Patient*innen einer Einrichtung, Region oder
eines Landes in einem Bezugsjahr sein oder die Gesamtheit aller Patient*innen, die an einem
Stichtag Allgemeinärzt:innen aufsuchen.
Die Quellpopulation ist die Population, aus der man eine Stichprobe zieht. Idealerweise ist
Quellpopulation = Zielpopulation. Ein Gegenbeispiel ist, dass man sich für die gesamte
Bevölkerung Österreichs interessiert (Zielpopulation), aber nur eine bestimmte Region untersucht
(Quellpopulation). -> Selektionsbias? Externe Validität? Generalisierbarkeit?
-> Stichwort „Populationsbezogenheit“

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Repräsentative Stichprobe:
Wie kann man das
erreichen?

Sample Points des BGS 98 und DEGS1

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Aufgabenfeld Deskriptive Epidemiologie &


Versorgungsepidemiologie (Definitionen)
Wenn die Quellpopulation aus Einrichtungen besteht und die Daten einer Studie aus
vorhandenen Routinestatistiken der Einrichtungen, aus systematischen Registern (sog.
Fallregistern) oder Datensammlungen der Krankenkassen gewonnen werden, spricht man von
administrativen Daten. -> Selektionsbias?, Qualität ambulanter Diagnosen?

Möglich sind auch Untersuchungen in ereignisbezogenen Populationen. Solche Studien, die


Personen unter Risiko hinsichtlich des Eintretens einer Erkrankung oder Störung untersuchen,
werden auch als Kohortenstudien bezeichnet. Allgemein definiert sich eine Kohorte als
Gesamtheit einer Population, die ein Merkmal teilt (z. B. gemeinsam erlebtes Ereignis,
Geburtsjahrgang = Geburtskohorte).

Deskriptiv-epidemiologische Studien als Grundlage für die Evaluation von Gesundheitssystemen


und die Ermittlung von Versorgungsbedarfen und -defiziten sowie Barrieren der
Inanspruchnahme genutzt (Versorgungsforschung).

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Welche Aussagen sind möglich: Wie viele sind/ waren


erkrankt?
Prävalenz = Häufigkeit einer Erkrankung = Anteil aller Krankheitsfälle unter allen Individuen
in einer definierten Population.
- zu einem bestimmten Zeitpunkt (Punktprävalenz an einem bestimmten Stichtag)
- bzw. innerhalb einer bestimmten Zeitperiode (Periodenprävalenz, z. B. 12-Monats-
Prävalenz für das vergangene Jahr oder Lebenszeit-(Lifetime-) Prävalenz für die gesamte
Lebensspanne)
Die ermittelte (geschätzte) Prävalenz ist von den eingesetzten Diagnosekriterien (z. B.
gemäß ICD versus DSM -> Falldefinition), Erhebungsmethoden (z. B. standardisiertes
diagnostisches Interview versus Screeningfragebogen; Bias durch Messfehler) und der
Stichprobenziehung (Wahl der Quellpopulation und Ausschöpfungsquote; Selektionsbias)
abhängig.

„wahre“ Prävalenz: die Häufigkeit von Erkrankungen in der Zielpopulation ist (Allgemeinbevölkerung).
Behandlungsprävalenz: nur diejenigen Fälle, die auch in Kontakt mit Versorgungs- bzw.
Behandlungseinrichtungen stehen.
Administrative Prävalenz: beruht auf administrativen Routinestatistiken, z.B. Fallregister, bei denen in
einer umschriebenen Region oder Einrichtungsart alle Krankheitsfälle mit bestimmten Merkmalen
systematisch gesammelt werden (z. B. Krebsregister).

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Welche Aussagen sind möglich: Wie viele haben wie viele?


Komorbidität = das Vorliegen mindestens einer weiteren Diagnose, zusätzlich zu der einer
interessierenden Krankheit (oft aber auch einfach das Vorliegen mehrerer Diagnosen bei
einer Person innerhalb eines definierten Zeitraums).
Dabei ist u. a. Folgendes zu beachten:
• der konzeptuelle Rahmen: vollständig erfüllte Diagnosekriterien (DSM-5, ICD-10) versus
Einbezug unterschwelliger Syndrome;
• die diagnostische Bandbreite und der Auflösungsgrad: aggregierte Diagnosen oder
spezifische Diagnosen bis hin zu Subtypen (z. B. irgendeine Angststörung versus
Panikstörung, generalisierte Angststörung etc., verschiedene Subtypen der Phobien),
Einbezug von Persönlichkeitsstörungen, körperlichen Erkrankungen etc.;
• das Zeitfenster: Werden nur simultan auftretende Diagnosen als komorbid betrachtet
oder bezieht sich die Analyse auf einen längeren Zeitraum?

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Welche Aussagen sind möglich: Wie viele erkranken neu?

Inzidenz = Häufigkeit des Neuauftretens einer Erkrankung


Die Inzidenzrate bezeichnet den Anteil der Personen in einer definierten Population, die
eine Krankheit innerhalb eines bestimmten Zeitraumes neu bekommen haben (z. B. 12-
Monats-Inzidenz) – unabhängig davon, ob die Erkrankung am Ende der Zeitperiode noch
besteht oder nicht.
Der Nenner (die „Risikopopulation“: alle, die die Krankheit haben könnten) umfasst hier nur
die Personen, die die Erkrankung vorher noch nicht hatten = „Fallinzidenz“.

Kumulierte Lebenszeitinzidenz: gibt an, wie viele Menschen einer Population jemals von
einer Störung betroffen waren; für deren Berechnung verwendet man Längsschnittdesigns,
deren Erhebungen zusammengenommen das gesamte bisherige Leben abdecken (sollte
eigentlich das gleiche Ergebnis haben wie eine Erfassung der Lebenszeitprävalenz, diese
wird aber oft in Querschnittstudien retrospektiv erfasst).

z.B. wichtig im Bereich Prävention (-> wie kann die Inzidenz gesenkt werden?) und auch für
Forschung, die sich mit auslösenden Faktoren beschäftigt (-> wie viele „gesunde“ Personen
muss ich erheben, um genug Personen in meiner Stichprobe zu haben, die dann auch das
Störungsbild bekommen?)
Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Zentrale Aufgaben der Epidemiologie
1. Bestimmung der Häufigkeit, der Verteilung und des Spontanverlaufs
psychischer Störungen (deskriptive Epidemiologie),
2. Evaluation des Versorgungssystems sowie der Abschätzung des
Versorgungsbedarfs (Versorgungsepidemiologie),
3. Erforschung der Entstehungs- (Ätiologie) und
Entwicklungsbedingungen (Pathogenese) psychischer Störungen
(analytische Epidemiologie) und
4. Ableitung von Konsequenzen für Gesundheitsförderung, Prävention,
Therapie und Rehabilitation sowie deren Überprüfung (experimentelle
Epidemiologie und Public Health).
5. Darüber hinaus trägt die epidemiologische Forschung zu psychischen
Störungen zu einer besseren Definition psychopathologischer
Konstrukte und einer optimierten Klassifikation bei.
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Aufgabenfeld Analytische Epidemiologie (Definition)

Die analytische Epidemiologie geht über die Beschreibung von Populationen hinaus, indem
sie Faktoren untersucht, die eine Krankheit oder Störung vorhersagen oder gar an deren
Verursachung beteiligt sind. Ebenso beschäftigt sie sich mit Faktoren des Verlaufs von
Krankheiten oder Störungen.
Ziel ist also, Erkenntnisse über Ursachen, Risiko- und Auslösefaktoren genetischer
(genetische Epidemiologie), biologischer, sozialer, psychologischer und umweltbezogener Art
und deren Zusammenwirken zu gewinnen.

Epidemiologische Studien, die derartige Fragestellungen an klinischen Kohorten untersuchen


(z. B. definierten Krankheitsgruppen), werden auch häufig als klinisch-epidemiologische
Studien bezeichnet.

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Klassisches Modell der Epidemiologie

Die klassische epidemiologische Trias; entwickelt von Robert Koch für übertragbare Krankheiten
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Integrative Perspektive; biopsychosoziale & interaktionelle
Modelle

Vulnerabilitäts-Stress-Modell/ Diathese Stress-Modell psychischer Störungen


Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Welche Aussagen sind möglich: Wie viele werden


wahrscheinlich erkranken?
Risiko = die Wahrscheinlichkeit für ein unerwünschtes Ereignis, z. B. eine Krankheit zu
bekommen
Lebenszeitrisiko = die Erkrankungswahrscheinlichkeit eigentlich bis zum Lebensende,
praktisch aber bis zu dem höchsten in einer Studie untersuchten Alter.
Das Maximalalter in Studien zur Häufigkeit psychischer Störungen bei Erwachsenen beträgt
meist 65 Jahre, manchmal aber auch 79 Jahre (oder höher). Hier meint „Lebenszeitrisiko“
also die Wahrscheinlichkeit, eine Störung jemals bis zum Alter von 65 bzw. 79 zu entwickeln.
In der Regel variieren solche Studien im Alter (es werden also verschieden alte Personen
untersucht), wodurch bei den Jüngeren ein Teil der „Lebensgeschichte“ fehlt. Das
Lebenszeitrisiko wird daher durch eine statistische Projektion der Älteren auf die Jüngeren
geschätzt.

Wichtig ist, dass das Lebenszeitrisiko größer ist als die Lebenszeitprävalenz, da die
Lebenszeitprävalenz sich nur auf das bisherige Leben bezieht (nicht auf die künftigen
Lebensjahre, die bis zum Alter von 65 bzw. 79 noch fehlen).

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Warum erkrankt jemand? Arten von Risikofaktoren*

* Eine vorausgehende, (binäre) Variable, die mit einem erhöhten Risiko einer späteren Erkrankung bzw. Störung
einhergeht (z. B. frühkindliche Traumatisierung vs. keine frühkindliche Traumatisierung für spätere Angststörung).
Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Übersicht & Lernziele
1. Epidemiologische Grundlagen und Konzepte
2. Untersuchungsdesigns
3. Wichtige Ergebnisse für die Klinische Psychologie

-> Sie kennen die zentralen Aufgaben der Epidemiologie und können
Grundbegriffe einordnen
-> Sie können einschätzen, welches Forschungsdesign zur Beantwortung
welcher Fragen nützlich ist
-> Sie haben einen ersten Eindruck von der epidemiologischen Lage bei
psychischen Störungen

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Deskriptive Epidemiologie: Beobachtungsstudien


1. Querschnittsstudie

-> Prävalenz
-> mögliche Risikofaktoren
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Statische Kennwerte: Risikodifferenz (RD)

• Differenz im Risiko für eine Krankheit zwischen den Individuen mit (X = 1) und ohne (X =
0) einen Faktor (in der Zielpopulation).
• Beispiel: Die Risikodifferenz zwischen dem Risiko einer Angststörung bei Frauen (pFrauen)
und Männern (pMänner) beträgt RD = pFrauen– pMänner

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Statische Kennwerte: Odds Ratio (OR)


• Quotient des Odds für eine Krankheit bei Individuen mit einem Faktor (X = 1) dividiert durch das Risiko bei
Individuen ohne den Faktor (X = 0) (in der Zielpopulation).
• „Odds“ = der Quotient p/(1–p) aus dem Risiko (z. B. für eine Angststörung) und der
Gegenwahrwahrscheinlichkeit (keine Angststörung). Man spricht auch von Chancenverhältnis.
• Ein Odds von 1 bedeutet, dass ein Ereignis mit derselben Wahrscheinlichkeit eintritt und nicht eintritt (p =
0,5). Odds > 1 steht für wahrscheinliche Ereignisse (p > 0,5), und Odds < 1 für unwahrscheinliche Ereignisse
(p < 0,5).
• Das Odds Ratio (OR) berechnet sich dann als Quotient aus den Odds in zwei Gruppen, etwa Frauen versus
Männer:
ORFrauen/Männer = OddsFrauen/OddsMänner = [pFrauen/(1-pFrauen)]/[pMänner/(1-pMänner)]
• Es wird öfter eingesetzt, weil es zum einen auch für querschnittliche Zusammenhänge sinnvoll ist. Das
liegt daran, dass die Rollen von X und Y als unabhängige und abhängige Variable vertauscht werden
können, OR bleibt unverändert (symmetrisches Zusammenhangsmaß; nützlich, wenn die zeitliche
Reihenfolge von X und Y unklar ist).
• Das OR liegt zwischen null und + unendlich.
• Beispiele:
• ORFrauen/Männer = 1 → Frauen und Männern sind gleich häufig betroffen
• ORFrauen/Männer > 1 → Frauen sind häufiger betroffen als Männer
• ORFrauen/Männer < 1 → Frauen sind seltener betroffen als Männer
• ORFrauen/Männer = 2 → Frauen haben ein doppeltes Odds (nicht Risiko) wie Männer
Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Deskriptive/ Analytische Epidemiologie: Beobachtungsstudien


2. Fall-Kontroll-Studie

-> Prävalenz
-> mögliche Risikofaktoren
Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Deskriptive/ Analytische Epidemiologie: Beobachtungsstudien


3. Kohortenstudie (Längsschnittstudie)

-> Prävalenz
-> Inzidenz
-> Beginn & Verlauf
-> Vulnerabilitäts- und Risikofaktoren
Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Statische Kennwerte: Relatives Risiko (RR; Risk Ratio)

• Quotient des Risikos für eine Krankheit bei Individuen mit einem Faktor (X = 1) dividiert
durch das Risiko bei Individuen ohne den Faktor (X = 0) (in der Zielpopulation).

• Beispiele:
• Das Risk Ratio für das Risiko einer Angststörung im Vergleich von Frauen (pFrauen) und
Männern (pMänner) beträgt RRFrauen/Männer = pFrauen/pMänner
• RRFrauen/Männer = 3 → Frauen haben ein 3-mal so hohes Risiko wie Männer
• RRFrauen/Männer = 4 → Frauen habe ein 300% höheres Risiko (RR-1*100)

RR kann nur in Studien berechnet werden, die Inzidenzraten (Wahrscheinlichkeit, eine


Störung zu entwickeln) erfassen (Kohortenstudien im Längsschnitt)

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Statische Kennwerte: Population Attributable Fraction (PAF)

• Maßzahl für die Größe des Zusammenhangs zwischen einem Faktor X und einer Krankheit
Y, die auch die Prävalenz von X berücksichtigt.
• PAF quantifiziert, wie wichtig X für die Risikoerhöhung in der Bevölkerung ist. Konkret ist
PAF der Anteil der inzidenten Fälle von Y, der verhindert werden könnte, wenn man die
Prävalenz von X auf 0 reduzieren würde.
• Beispiel: Wenn 30% der Individuen einer Population eine frühkindliche Störung haben,
und eine frühkindliche Störung das Risiko einer späteren Depression von 10 % auf 20 %
erhöht (relatives Risiko = 2), dann beträgt PAF 23 %. In derselben Population, in der es
aber frühkindliche Störungen nicht gäbe, würde man eine um 23 % geringere Inzidenzrate
von Depression erwarten. Dies setzt jedoch voraus, dass das relative Risiko von 2 die
kausale Risikoerhöhung ist.
• Die „attributable fraction“ dagegen bezieht sich nur auf diejenigen mit dem Faktor (X = 1,
die Exponierten), nicht auf die ganze Population (Exponierte und Nichtexponierte). Sie
beschreibt den Anteil unter den Exponierten, die die Krankheit entwickeln, und berechnet
sich als (RR-1)/RR.

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Analytische Epidemiologie: Interventionsstudien


Experimentelle Studien (Spezialfall: Randomisierte klinische
Studie)

-> (kausale) Risiko- und


protektive Faktoren
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Komplexere Zusammenhänge zwischen Risikofaktor und
Erkrankung: Mediation

Vulnerabilitäts-Stress-Modell/ Diathese Stress-Modell psychischer Störungen


Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Komplexere Zusammenhänge zwischen Risikofaktor und


Erkrankung: Mediation

Eine Mediatorvariable ist eine Variable ME, die zeitlich zwischen


Risikofaktor X und Outcome Y liegt und den möglichen Einfluss von X auf
Y vermittelt. X muss also mit ME zusammenhängen und ME mit Y. So
kann z. B. der Zusammenhang zwischen Depression und ungünstigem
Verlauf koronarer Herzerkrankungen über ein ungünstiges
Copingverhalten in einem quantifizierbaren Ausmaß mediiert werden.
Für Mediation im kausalen Sinne müssen u. a. konfundierende Variablen,
gemeinsame Ursachen von X und ME, X und Y sowie ME und Y beachtet
werden. Hier muss X ME beeinflussen und ME Y.

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Komplexere Zusammenhänge zwischen Risikofaktor und
Erkrankung: Moderation

Vulnerabilitäts-Stress-Modell/ Diathese Stress-Modell psychischer Störungen


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Komplexere Zusammenhänge zwischen Risikofaktor und


Erkrankung: Moderation

Eine Moderatorvariable MO sagt einen unterschiedlichen


Zusammenhang zwischen X und Y voraus; z. B. könnte mit größerer
sozialer Unterstützung (MO) die Assoziation zwischen frühkindlichem
Trauma und späterem psychischem Befinden kleiner werden.
Im Fall eines kausalen Effekts von X auf Y gibt es zum einen Moderatoren,
die einen unterschiedlichen Effekt vorhersagen, z. B. könnte in einem RCT
bei komorbiden Patient*innen (MO) ein kleinerer Therapieeffekt
gefunden worden sein.
Davon zu unterscheiden sind Moderatoren, die einen kausalen Effekt
kausal verändern, also Faktoren, die, wenn man sie verändert, z. B. einen
Therapieeffekt erhöhen.

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Übersicht & Lernziele
1. Epidemiologische Grundlagen und Konzepte
2. Untersuchungsdesigns
3. Wichtige Ergebnisse für die Klinische Psychologie

-> Sie kennen die zentralen Aufgaben der Epidemiologie und können
Grundbegriffe einordnen
-> Sie können einschätzen, welches Forschungsdesign zur Beantwortung
welcher Fragen nützlich ist
-> Sie haben einen ersten Eindruck von der epidemiologischen Lage bei
psychischen Störungen

VO Klinische Psychologie, Nater-Mewes & Randerath Seite 34


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Trotz höherer Prävalenz kann die Anzahl betroffener Personen in einzelnen Fällen geringer ausfallen als bei Störungen
mit geringerer Prävalenz, weil sich die Schätzungen bei den einzelnen Störungen auf unterschiedliche Altersgruppen
beziehen können
Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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D: Bundesgesundheitssurvey
1998/99 (BGS 98) und Studie
zur Gesundheit Erwachsener
in D 2008-2011 (DEGS1)

Sample Points des BGS 98 und DEGS1

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Häufigkeit psychischer Störungen bei Erwachsenen


(gerundete Prozentangaben)
Affektive Störungen: 9%
Angststörungen: 15%
Störungen durch Substanzgebrauch (inkl. Nikotin): 17%
Zwangsstörung: 4% 28%
Posttraumatische Belastungsstörung: 2,5%
Somatoforme Syndrome: 3,5%
Essstörungen: 1%
….

Komorbidität (44% haben 2 oder mehr Störungen)

Soziodemografische Korrelate:
♀ (33%) > ♂ (22%)
Alter (18–34: 37% versus 65–79 Jahre: 20%)
Niedriger SES (38%) > hoher SES (22%) 37
Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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(Jacobi et al., 2014, Int J Methods Psych Res: 12-Monats-Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung; gewichtet)
38

Zusammenhang mit körperlichen Krankheiten

12-Monats-Komorbidität von körperlichen Erkrankungen und Depressionen (Major Depression und/oder


Dysthymie)

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Alter bei Krankheitsbeginn (Persistenz, Remission??)

-> erhöhtes Risiko für weitere psychische Störungen


-> spezifische Stabilität sehr variabel (bei
Adoleszenten 44% für Panikstörung, 30% für
spezifische Phobie; 16% für soziale Angststörung,
13% für Agoraphobie)
Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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40
Versorgungslage/ Kosten

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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Gustavsson et al. (2011). European Neuropsychopharmacology


41

Versorgungslage: Depression

Behandlungsbedarf
(„objektive“ Einschätzung
anhand klinischer Kriterien)
vs.
Behandlungsbedürfnis
(subjektive Einschätzung
der/ des Betroffenen)

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
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42

Zeit bis zur Inanspruchnahme von psychologischer/


psychotherapeutischer/ psychiatrischer Behandlung

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1, © Springer-Verlag 2020

Mack et al. (2014). Int J Methods Psych Res


Übersicht & Lernziele
1. Epidemiologische Grundlagen und Konzepte
2. Untersuchungsdesigns
3. Wichtige Ergebnisse für die Klinische Psychologie

-> Sie kennen die zentralen Aufgaben der Epidemiologie und können
Grundbegriffe einordnen
-> Sie können einschätzen, welches Forschungsdesign zur Beantwortung
welcher Fragen nützlich ist
-> Sie haben einen ersten Eindruck von der epidemiologischen Lage bei
psychischen Störungen

VO Klinische Psychologie, Nater-Mewes & Randerath Seite 43


1. Dienstag 04.10.: Was ist Klinische Psychologie? RNM
2. Dienstag 11.10.: Diagnostische Klassifikation psychischer Störungen JR
3. Dienstag 18.10.: Epidemiologische Beiträge zur KP RNM
4. Dienstag 25.10.: Kennen Sie die Grundlagen für diese VO? – Quiz mit den Online verfügbaren
Karteikarten: https://lehrbuch-psychologie-springer-
com.uaccess.univie.ac.at/karteikarten/5648/1
5. Dienstag 08.11.: kurzer Überblick Therapieverfahren; Störungen im Zusammenhang mit
psychotropen Substanzen und abhängigen Verhaltensweisen I JR
6. Dienstag 15.11.: Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen und abhängigen
Verhaltensweisen II JR
7. Dienstag 22.11.: Affektive Störungen RNM
8. Dienstag 29.11.: Somatoforme Störungen und stressabhängige körperliche Beschwerden RNM
9. Dienstag 06.12.: Angststörungen I JR
10. Dienstag 13.12.: Angststörungen II JR
11. Dienstag 10.01.: Posttraumatische Belastungsstörung; Zwangsstörung RNM
12. Dienstag 17.01.: Psychotische Störungen und Schizophrenie JR
13. Dienstag 24.01.: Persönlichkeitsstörungen RNM
14. Dienstag 31.01.: 1. Prüfungstermin
VO Klinische Psychologie, Nater-Mewes & Randerath Seite 44
https://ufind.univie.ac.at/de/course.html?lv=200019&semester=2022W

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