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Diagnostik in der Verhaltenstherapie


M. Hautzinger

M. Linden, M. Hautzinger (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual, Psychotherapie: Praxis,


DOI 10.1007/978-3-642-55210-6_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

2.1 Allgemeine Beschreibung Als Grundlage der interventionsbezogenen Diag-


nostik gilt das Prinzip der Multimodalität (Seidenstü-
Psychodiagnostik steht im Dienste der angewandten cker u. Baumann 1987). Eine multimodale Diagnostik
Psychologie und damit vor allem auch im Dienste der sollte verschiedene (möglichst alle) Aspekte innerhalb
klinischen Psychologie und der Psychotherapie. Die der folgenden Kategorien berücksichtigen:
Funktionen psychologischer Diagnostik lassen sich 55 verschiedene Datenebenen (biologisch/somatisch,
einteilen in indikationsorientierte Diagnostik, in Ver- psychisch/psychologisch, sozial, ökologisch),
laufs- bzw. Prozessdiagnostik und in evaluative Diag- 55 unterschiedliche Datenquellen (befragte Person
nostik (Laireiter 2000; Hautzinger 2001). selbst, andere Personen, apparative Verfahren,
In jeder Phase erfüllt die Diagnostik unterschied- Testdiagnostik im Leistungs-, Intelligenz-, Per-
liche Aufgaben (. Abb. 2.1): sönlichkeitsbereich),
55 Vor Beginn der Therapie geht es um die Bestim- 55 unterschiedliche Untersuchungsverfahren
mung und Deskription der Ausgangslage des (Selbstbeobachtung, Fremdbeobachtung, Inter-
Patienten, die Klassifikation der Symptomatik, view, Felderhebung, apparative Verfahren, in-
die Erklärung und Genese der Symptomatik haltsanalytische Verfahren).
(funktionale Analyse), die therapeutischen Prob-
lemstellungen (Fallkonzeption, 7 Kap. 3, 7  Kap. 37 Ziel interventionsorientierter Diagnostik ist die
und 7  Kap. 38), die Selektion und Beschreibung Sammlung von Informationen über einen Patienten
therapeutischer Problem- und Zielbereiche, die und seine Lebensumstände, die Entscheidungen da-
Selektion angemessener Interventionsstrategien rüber erlauben, wie unerwünschte Ausgangszustän-
und spezifischer Vorgehensweisen (differenzielle de (Diagnosen, Probleme) mithilfe psychologischer
und selektive Indikation), die Abschätzung der Interventionen (Verhaltenstherapie) auf erwünschte
Veränderbarkeit der Symptomatik sowie des Ent- Zielzustände hin verändert werden können (Grosse-
wicklungsverlaufs der Therapie (Prognose). Holtforth et al. 2009).
55 Während der Behandlung erfüllt die Diagnostik
>> Ziel interventionsorientierter Diagnostik ist
Funktionen der Qualitäts- und Prozesskontrolle
die Sammlung von Informationen über einen
sowie der Therapiesteuerung (adaptive Indika-
Patienten und seine Lebensumstände, die
tion, 7 Kap. 6 und 7  Kap. 8).
Entscheidungen darüber erlauben, wie un-
55 Nach Abschluss der Behandlung leistet psycho-
erwünschte Ausgangszustände (Diagnosen,
logische Diagnostik die Beurteilung des Erfolges
Probleme) mithilfe psychologischer Interven-
und der Effektivität der Therapie (Evaluation).
tionen (Verhaltenstherapie) auf erwünschte
Zielzustände hin verändert werden können
Neben diesen phasenspezifischen Aufgaben erfüllt
(Grosse-Holtforth et al. 2009).
die Diagnostik weitere Funktionen. Diese sind die
Dokumentation des Behandlungsverlaufs, die Unter-
stützung der Supervision (7 Kap. 6), die Unterstützung
der Kommunikation innerhalb von und zwischen den 2.2 Indikationen
Fachdisziplinen sowie die Planung der Nachbehand-
lungsphase. Nicht zuletzt erfüllt die Psychodiagnostik Verhaltenstherapie ist, wie jede Psychotherapie, ohne
immer auch eine therapeutische Funktion (7  Kap. 78; ausführliche vorausgehende und abschließende zu-
Schulte 1974). verlässige und objektive Psychodiagnostik (. Abb. 2.1)
8 Kapitel 2 • Diagnostik in der Verhaltenstherapie

Voranalyse, Erstgespräch, Orientierung,


Planung der Informationserhebung

Abklärung Biografische Daten, Beschreibung der Funktionale Status-,


körperlicher Analyse von Symptome, Mikro-, Makro- Eigenschafts-
Faktoren Lebensbedingungen Diagnose Problemanalyse diagnostik

Physiologie, Persönliche Beschwerden und Bedingungsanalyse Neuropsychologische


Endokrinologie, Entwicklung, Lebens-, Symptome auf der relevanter Verhaltens- Diagnostik,
Laboranalysen Krankengeschichte, Ebene des Erlebens, und Problembereiche, Leistungs- und
körperlicher objektive Bedingungen des Fühlens, funktionale Fähigkeitsdiagnostik,
Parameter; ökonomischer, sozialer, des Denkens, Beziehungen Ressourcen,
Kooperation mit räumlicher, ökologischer, des Verhaltens, verschiedener Persönlichkeit, Traits,
Psychiater, gesellschaftlicher Art, der Motorik, Verhaltensmodalitäten Temperament
Psychophysiologe, aktueller, chronischer des Körpers; zu Reizmerkmalen,
Labormediziner, Stress, Zurechtkommen Klassifikation und Einstellungen und z.B. Aufmerksamkeit,
Allgemeinarzt usw. mit bzw. Management diagnostische Plänen sowie zu Gedächtnis,
der Belastungen und Entscheidungen, Konsequenzen des Neurotizismus,
Lebensbedingungen; Komorbidität; Verhaltens; negative Affektivität
z.B. Cortisol, EEG,
soziale Stützsysteme; Schwere und Dauer Zielanalyse und usw.
Schlafparameter,
Anamnese der Symptome; Behandlungsplan;
Schilddrüse usw.
Entwicklung und Selbstkontrolle
Verlauf

Indikationsentscheidung, Prognose, Erfolgsbeurteilung,


Therapieplanung, ausreichendes Änderungswissen,
Therapie- und Veränderungsmotivation

Psychoedukation, Verhaltenstherapie, Behandlungsdurchführung

Kontrollmessungen: Prozess- und Verlaufsdiagnostik

Erfolgsbeurteilung, Zielerreichung, Wirksamkeit,


Effektivität, unerwünschte Wirkungen

. Abb. 2.1  Ablaufschema der Diagnostik in der Verhaltenstherapie (aus Hautzinger 2001; mit freundlicher Genehmi-
gung des Thieme-Verlags, Stuttgart)

undenkbar, unethisch, unverantwortlich, eben ein Versorgungs- und Behandlungsleitlinien findet. Ent-
professionelles Fehlverhalten. Daher ist Psychodiag- sprechend und auf die Besonderheit der Psychothera-
nostik vor jeder Psychotherapie indiziert, auch wenn pie zugeschnitten, stehen jedem Therapeuten und da-
diese Aussage nicht durch kontrollierte wissenschaft- mit jedem Patienten unter dem Begriff »probatorische
liche Studien belegt ist. Doch ist es eine Tatsache, die Sitzungen«, ergänzt um die biografische Anamnese
auf einer von allen verantwortlich klinisch Tätigen ge- und weitere Testuntersuchungen, von den Kranken-
teilten Erfahrung beruht und sich daher auch in allen kassen bezahlte diagnostische Sitzungen zu, um die
2.4 • Vorgehen und technische Durchführung
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nachfolgende Psychotherapie angemessen zu begrün- Entwicklung bisher verlaufen ist, welche biografischen
den und erreichbare Therapieziele zu definieren. Es Einflussfaktoren für die Entwicklung von psychischen
stehen jedem Psychotherapeuten weiterhin im Verlauf Störungen eine Rolle spielen und wie sie ggf. in die
und zum Abschluss einer Psychotherapie wiederhol- Therapieplanung einbezogen werden müssen. Zur
te diagnostische Untersuchungen zu, die unabhängig Vorbereitung lassen sich Fragebögen, Überweisungs-
von den Behandlungsstunden abrechenbar sind. berichte und Krankenakten nutzen.
Das Vorliegen einer oder mehrerer psychischer
Störungen ist das Hauptindikationskriterium für
2.3 Kontraindikationen eine Psychotherapie. Die Linderung der Störung ist
das zentrale Kriterium für den Erfolg. Folglich ge-
Kontraindikationen sind nicht bekannt. Selbst in aku- hören das Erkennen und die Erfassung psychischer
ten Krisen (z. B. Suizidalität, akuter psychotischer Zu- Störungen zu den wichtigsten Anliegen der inter-
stand, akute Traumatisierung, deliranter Zustand) ist ventionsbezogenen Diagnostik. Ziel klassifikatori-
ein Minimum an Diagnostik erforderlich, etwa Ab- scher und kategorialer Diagnostik ist es, die Vielfalt
schätzung der Hoffnungslosigkeit, der Bewusstseins- der Erscheinungsformen psychischer Auffälligkeiten
trübung, der Orientiertheit oder der sozialen Lage, um anhand markanter, wissenschaftlich bestätigter Merk-
in dieser zugespitzten Situation eine (therapeutische) male zu ordnen und überschaubarer zu machen. Zur
Entscheidung, etwa stationäre Aufnahme oder die Klassifikation psychischer Störungen existieren die
Unterlassung von professioneller Betreuung, treffen 10.  Revision der Internationalen Klassifikation der
zu können. Im Rahmen einer ambulanten Psychothe- Krankheiten der World Health Organization (ICD-
rapie ist eine Kontraindikation der Psychodiagnostik 10, Kap.  V, Abschn.  F) und das Diagnostische Ma-
kaum vorstellbar. Widerstand oder Ablehnung seitens nual Psychischer Störungen (DSM-5) der American
der Patienten gegenüber bestimmten diagnostischen Psychiatric Association. Die Kodierungen von ICD-
Maßnahmen (z.  B. einer häuslichen Verhaltensbe- 10 und DSM sind weitgehend ineinander überführ-
obachtung oder einer Partnerbefragung) begründen bar. Zur objektiven und zuverlässigen Diagnostik mit
niemals den Verzicht auf diagnostische Maßnahmen, ihrer Vielzahl von Einschluss- und Ausschlusskrite-
bestenfalls werden diese aufgeschoben oder über an- rien sind verschiedene diagnostische Interviews und
dere Modalitäten möglich. Checklisten entwickelt worden. Bei der Entscheidung,
welches Verfahren im Einzelfall zur Anwendung kom-
men sollte, müssen Präzision und Reliabilität gegen
2.4 Vorgehen und technische Effizienz und Flexibilität der infrage kommenden Ver-
Durchführung fahren abgewogen werden. Manche Verfahren decken
das ganze Spektrum psychischer Störungen ab (z. B.
2.4.1 Eingangs- und SKID, MINI, DIA-X), während andere nur bestimmte
Entscheidungsdiagnostik Bereiche oder bestimmte Zielgruppen berücksich-
tigen (z.  B. SKID-II, MINI-Kids). In strukturierten
Zur Bestimmung des Ausgangszustandes einer Thera- Interviews werden systematisch alle Diagnosebereiche
pie gehört zunächst die Erhebung von Informationen mit vorformulierten Fragen erfasst. Die Reihenfolge
über Voraussetzungen und Umstände des Therapie- der Fragen sowie die Sprungregeln und Antwortkate-
begehrens, was meist in einem relativ wenig forma- gorien sind vorgegeben, aber die Fragen selbst können
lisierten Erstinterinterview (u.  U. sogar am Telefon) bei Verständnisproblemen umformuliert, erklärt oder
geschieht. In einem therapeutischen Erstgespräch ver- ergänzt werden. Die Anwendung dieser strukturierten
sucht der Kliniker, möglichst schnell einen umfassen- Interviews ist in jedem Fall den freieren Diagnose-
den Überblick über die wichtigsten Informationen zu checklisten vorzuziehen.
Person, Problematik, Problemgeschichte, Biografie, Zur objektiven und genaueren Erfassung der Aus-
Therapieanlass, aktueller Lebenssituation sowie zum prägung (Schweregrad) von Symptomen können ver-
Störungsmodell des Patienten, zu Erwartungen an die schiedene standardisierte Selbst- und Fremdbeurtei-
Therapie, Motivationslage und Therapiezielen zu er- lungsverfahren angewendet werden. Es liegen zahl-
halten. reiche gut bewährte, psychometrisch überzeugende
Bei der Erhebung der Lebensgeschichte des Patien- und normierte störungsübergreifende und eine noch
ten versucht ein Kliniker sich ein möglichst systema- größere Zahl störungsspezifischer Instrumente vor
tisches Bild davon zu machen, wie die individuelle (Hautzinger 2001; Grosse-Holtforth et al. 2009). Weit
10 Kapitel 2 • Diagnostik in der Verhaltenstherapie

verbreitet als störungsübergreifendes Instrument ist gen mithilfe von Selbstauskünften oder szenischen
etwa die SCL-90, die jedoch zur Erfassung der globa- Rekonstruktionen zugänglich werden.
len Belastung (GSI) durch psychische Symptome in Ressourcen sind Merkmale der Person und der
einer Kurzform (10 Items) völlig ausreichend ist. Umwelt, die es erlauben, mit belastenden Lebensum-
2 Fragebogen (etwa WHO-5, CAGE) können auch ständen und Problemen konstruktiv umzugehen. Co-
zur groben Vorauswahl (Screening) von Personen mit ping oder auch Selbstkontrollfähigkeit (7 Kap. 81) sind
psychischen Störungen verwendet werden. kognitive und behaviorale Fertigkeiten, die es einer
Soziale Anpassung bezeichnet das »Funktionie- Person ermöglichen, externe und interne Anforde-
ren« eines Individuums in spezifischen sozialen Rol- rungen ohne größere Störung zu bewältigen.
len einer Gesellschaft. Meist werden zur Erfassung Überdauernde Merkmale der Person (Ressourcen,
des sozialen Funktionsniveaus globale Beurteilungen, Fähigkeiten, Persönlichkeit, Temperament, Reak-
etwa GAF, verwendet. Die GAF ist eine Skala von 0 tionsmuster) zeigen sich im Verhalten in kritischen
bis 100 und berücksichtigt bei der Beurteilung mittels Situationen (7  Kap.  60), in experimentellen Verhal-
eines globalen Werts unterschiedlichste Aspekte der tenstests (z.  B. Arbeitsproben, Belastungstests), in
Selbstfürsorge, der Hygiene, der sozialen Beziehun- neuropsychologischen Tests (z.  B. Aufmerksamkeit,
gen, der Aktivität, der Arbeitsfähigkeit, der Bewälti- Gedächtnis) oder über Fremd- bzw. Selbstauskünfte
gung von alltäglichen Anforderungen. mittels objektiven Tests (z. B. Intelligenz, Persönlich-
Belastende Ereignisse lassen sich hinsichtlich der keitsfaktoren, Stressverarbeitung).
Valenz, des Anpassungsaufwandes, der Intensität, der Bei jeder psychischen Störung, jedoch ganz be-
Vorhersehbarkeit, der Normativität und der Unab- sonders bei chronischen organischen Erkrankungen
hängigkeit der Ereignisse unterscheiden. Lebensereig- (sog. psychophysiologischen Störungen), bedarf es
nisse (z. B. Trennung, Verluste) sind diskrete Ereignis- immer auch einer Abklärung somatischer Faktoren
se, die eine erhebliche Neuorganisation im Verhalten (zentralnervöse, endokrinologische, immunologi-
und Erleben der Person erfordern und im Individu- sche, vegetative Indikatoren). Dies erfordert konsili-
um nachhaltige emotionale Reaktionen hervorrufen. arische Zusammenarbeit mit Haus- bzw. Fachärzten
Trauma bezeichnet das Erleben oder Miterleben einer sowie ggf. den Einsatz von bildgebenden und labor-
Situation, die Tod oder eine schwerwiegende Bedro- medizinischen Verfahren.
hung der körperlichen Unversehrtheit (z.  B. Unfall, Ganz entscheidend für die Therapieplanung und
Überfall) beinhaltet. Chronische Belastungen hingegen Fallkonzeption ist die Erarbeitung eines individuellen
definieren sich durch das Anhalten der Belastung und Erklärungsmodells zur Entstehung und Aufrecht-
betreffen in erster Linie die Bereiche Arbeit, Familie erhaltung einer Störung (7  Kap 78). Aus der Fallkon-
(z.  B. Pflege von Angehörigen) und Lebensumstän- zeption wird das therapeutische Vorgehen abgeleitet
de (z.  B. Arbeitslosigkeit). Alltagsbelastungen (z.  B. (Ziele, Interventionen, 7 Kap. 3). Im Rahmen der Ver-
Schichtarbeit, Kleinkinder, Ehekonflikte) erfordern haltenstherapie ist hierfür die funktionale Diagnostik,
eine hohe Wiederanpassungsleistung, aber eine gerin- die Verhaltens- und Problemanalyse, entscheidend.
ge Anpassungszeit. Die Mikro- und Makro-Verhaltensanalyse (7  Kap.  37
Zwischenmenschliche Faktoren können zur Ent- und 7  Kap. 38) erarbeitet gemeinsam mit den Patien-
stehung und zur Aufrechterhaltung von psychischen ten funktionale Zusammenhänge der verschiede-
Störungen und Problemen beitragen, können selbst nen Problemverhalten (beobachtbares, motorisches,
Hauptproblem und Behandlungsanliegen sein, kön- interaktives Verhalten, physiologische Reaktionen,
nen jedoch auch eine wichtige Ressource bei der affektive und kognitive Prozesse), mit vorausgehen-
Überwindung von Störungen sein. Soziale Unter- den und nachfolgenden Bedingungen (Stimuli und
stützung lässt sich definieren als das Erleben, geliebt, Konsequenzen) auf horizontaler Ebene (Verhalten
geachtet, anerkannt, umsorgt und Teil einer sozialen in Situationen) und mit Entwicklungserfahrungen,
Gruppe zu sein. Das soziale Netz wird definiert als die mit Überzeugungen bzw. Einstellungen auf vertikaler
Anzahl der (regelmäßigen) sozialen (familiären, selbst Ebene (Plan- und Schemaanalyse). Therapieziele wer-
erworbenen) Kontakte. Familien- und Partnerschafts- den basierend auf der funktionalen Verhaltensanalyse
beziehungen zeigen sich ebenso wie der internalisierte in freier Form erfasst (.  Abb.  2.2) und zur Verlaufs-
Bindungsstil im Interaktions- und Kommunikations- und Erfolgskontrolle der Behandlung eingesetzt.
verhalten (7 Kap. 73), während die Bindungserfahrun-
2.4 • Vorgehen und technische Durchführung
11 2

Ziele Wichtigkeit/ Zielerreichung


Machbarkeit
100%

75%

50%

25%

0 1 2 3 4 5 6 7 8 Zeitpunkte

. Abb. 2.2  Arbeitsblatt: Ziele und Zielerreichung

2.4.2 Therapiebegleitende Diagnostik los am Computer umgesetzt werden – mit der Mög-
lichkeit, anschauliche Kurvenverläufe auszudrucken
Die therapiebegleitende Diagnostik umfasst Prozess- und während der Therapie zu besprechen.
und Verlaufsdiagnostik und ermöglicht die Erstellung
von Verlaufs- und Ergebnisprognosen, sodass proble-
matische Entwicklungen früh erkannt werden können 2.4.3 Evaluative Diagnostik
und die Behandlung entsprechend angepasst werden
kann. Die Ergebnisse der therapiebegleitenden Dia- Mit Recht interessiert Patienten und Angehörige, doch
gnostik können für die Supervision genutzt werden auch Überweiser, Mitbehandler, Kostenträger und
und sind Bestandteil der Qualitätssicherung. Therapeuten die Wirksamkeit einer Therapie. Dazu
Das am weitesten verbreitete Verfahren der Pro- sollten objektive und zuverlässige diagnostische Me-
zessdiagnostik ist die freie Dokumentation der The- thoden (z.  B. Interviews, Fremd- und Selbstbeurtei-
rapiesitzungen mithilfe von Dokumentationsbögen, lungen, Verhaltensbeobachtung, physiologische In-
Ton- oder Videoaufnahmen. dikatoren), die bereits bei der Eingangsuntersuchung
Neben diesen qualitativen Verfahren sind ver- zur Anwendung kamen, eingesetzt werden. Diese di-
schiedene standardisierte Verfahren zur Beziehungs- rekte, idealerweise unabhängige Erfolgsmessung lässt
beurteilung (Patient und Therapeut), zur Symptom- sich gut Patienten rückmelden und im Behandlungs-
bzw. Belastungsbeurteilung (Patient) und zur Adhä- bericht darstellen. Zielerreichungsskalierungen als
renz- bzw. Kompetenzbeurteilung (Supervision, un- Erfolgsmaß zeichnen sich durch die große Nähe zum
abhängige Beurteiler) verfügbar. therapeutischen Geschehen aus, doch sind sie weniger
Es empfiehlt sich beim heutigen Stand der Tech- objektiv. Dabei sind gerade die auf den individuellen
nik, von jeder Therapiesitzung eine Bandaufnahme zu Fall zugeschnittenen Zielformulierungen und deren
machen und diese ggf. in der Therapie zu nutzen. Es Erreichung (.  Abb.  2.2) aussagekräftiger und für die
empfiehlt sich weiterhin, nach jeder zweiten Sitzung Aufrechterhaltung des Erreichten durch die Patienten
eine Symptom- bzw. Belastungsbeurteilung von dem motivierender als allein ein Differenzwert auf einer
Patienten zu erbitten. Auch dies kann heute problem- Skala. Besonders relevant für die Bewertung des The-
12 Kapitel 2 • Diagnostik in der Verhaltenstherapie

rapieerfolges ist die Stabilität der Effekte über das The- ferenziellen Indikation. Dabei spielen diagnostische
rapieende hinaus. Katamnesen im Abstand von sechs Informationen (. Abb. 2.1) eine wesentliche Rolle.
Monaten sollten eingeplant und durchgeführt werden. Die selektive Indikation betrifft die Frage, ob, und
wenn ja, welche Art der Psychotherapie bei einem Pa-
2 tienten indiziert ist. Dabei sind normalerweise folgen-
2.5 Grad der empirischen de Fragen abzuklären:
Absicherung und persönliche 1. Ist bei einem Patienten mit der jeweils gegebenen
Bewertung spezifischen Problematik eine Psychotherapie
überhaupt indiziert?
Die Qualität der Psychodiagnostik bestimmt sich Indikative Entscheidungen sind nicht unabhän-
allein durch die Qualität der Messungen und die gig vom jeweiligen sozialen, kulturellen und
Multimodalität der Erhebungen. Eine gute und an- gesellschaftlichen Kontext des Patienten und
gemessene Psychodiagnostik im Rahmen der Verhal- des Therapeuten zu treffen. In der Psychothe-
tenstherapie benutzt möglichst objektive und reliable rapie geht es zumeist um eine Veränderung der
Instrumente. Dies gilt für Interviews ebenso wie für persönlichen Lebensgestaltung der Menschen,
Selbst- und Fremdbeurteilungen, Tests und Verhal- die um therapeutische Hilfe nachsuchen. Dabei
tensbeobachtungen. unterscheiden sich die jeweils möglichen Thera-
Im Setting einer psychotherapeutischen Praxis pieangebote in ihren grundlegenden Wert- und
oder einer Klinik sollte zumindest folgende minimale Zielvorstellungen z. T. erheblich. Die Frage,
Psychodiagnostik stattfinden: welche Form der psychosozialen Hilfestellung
55 Eingangsuntersuchung und Indikationsstellung: bei einem Patienten geeignet scheint, beinhaltet
Biografie und Anamnese, strukturierte Inter- deshalb immer zugleich eine Reihe wesentlicher
views zur Diagnosestellung, störungsüber- Wertentscheidungen. Diese müssten günstigen-
greifende und störungsspezifische Selbst- und falls vorab ausführlich mit dem Patienten be-
Fremdbeurteilungen, Beurteilung des sozialen sprochen werden (z. B. die Frage realistischer
Funktionsniveaus, Verhaltensbeobachtung in der Therapieerwartungen, Unterschiede zwischen
Lebenswelt, Verhaltensanalyse (Mikro- und Mak- den Ansprüchen des Patienten und denen seiner
roanalyse), Vereinbarung von Therapiezielen. Angehörigen an einen Therapieerfolg o. Ä.).
Fakultativ: Persönlichkeits-, Intelligenz- und 2. Ist die von einem Therapeuten vertretene The-
neuropsychologische Funktionstests. rapierichtung für die Behandlung der jeweiligen
55 Verlaufsdokumentation: Bandaufzeichnungen der Probleme eines Patienten geeignet?
Sitzungen, Zielerreichungsbeurteilung, störungs- Die Entscheidung für ein bestimmtes psychothe-
spezifisches Verlaufsmaß. rapeutisches Verfahren kann immer nur mit Blick
55 Evaluation und Enderhebung: Wiederholung auf die jeweils betroffene Person in ihrer konkre-
der störungsübergreifenden und störungsspezi- ten Lebenssituation unter Berücksichtigung all
fischen Eingangsdiagnostik (Selbst- und Fremd- ihrer individuellen Besonderheiten getroffen wer-
beurteilung), Beurteilung des sozialen Funktions- den. Psychotherapeuten sind meist bestimmten
niveaus, Beurteilung der Zielerreichung. Therapierichtungen verpflichtet. Dennoch sollte
die Frage, ob die Überweisung an einen Fachkol-
Es wäre falsch, anzunehmen, dass diese Standards legen nicht eine bessere Behandlungsperspektive
Patienten irritieren bzw. überfordern. Patienten ha- eröffnen könnte, bei jeder selbstkritischen Prü-
ben ein Recht auf eine angemessene, zuverlässige und fung des Einzelfalls mit beantwortet werden.
möglichst valide Eingangs-, Verlaufs- und Enddiagno- 3. Ist bei einem Patienten mit der jeweils gegebenen
stik. Dabei darf es einerseits natürlich nicht zu Über- Problematik eine Verhaltenstherapie sinnvoll?
forderungen kommen, andererseits sollte nur das an Es ist vor allem einigen entscheidenden Ver-
Diagnostik gemacht werden, was unbedingt sein muss besserungen in der psychiatrischen Diagnostik
(Minimalprinzip) und was für die Verhaltenstherapie zu verdanken, dass zunehmend störungsspezi-
(Indikation, Prognose, Effekt) nützlich bzw. erforder- fische Behandlungskonzepte entwickelt wurden
lich ist. und werden. Vor allem in der Verhaltenstherapie
Eine wichtige Entscheidung in jeder Psychothe- gibt es heute für die meisten eindeutig definier-
rapie umfasst die Frage nach der selektiven und dif- baren Störungsbilder differenziert ausgearbeitete
Literatur
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und gut evaluierte Behandlungsprogramme, sind damit vor allem psychische Probleme, die durch
die zumeist bereits in Manualform vorliegen extreme Verhaltensdefizite und eine starke Motiva-
(7 Sektion IV dieses Buches). Da insbesondere tionsproblematik gekennzeichnet sind und bei denen
die störungsspezifischen Behandlungskonzepte die Betroffenen vielfach die Einsicht in die eigene
zumeist in der Verhaltenstherapieforschung ent- Notlage verloren haben und unter chronifizierten Stö-
wickelt und evaluiert wurden, ist eine selektive rungsverläufen leiden. Die Schwere der Störung führt
Indikation zur Verhaltenstherapie immer dort dann vielfach zu der Entscheidung, dass eine Psycho-
sinnvoll, wo die psychischen Probleme der Pa- therapie stationär durchgeführt werden sollte.
tienten eindeutig definierbar sind.
>> Eindeutige, zweifelsfreie oder gar wissenschaft-
4. Sind unabhängig oder ergänzend zur Psychothe-
lich überzeugend belegbare (differenzielle
rapie weitere Möglichkeiten psychosozialer Hilfe-
und selektive) Indikationen im Rahmen einer
leistung sinnvoll oder sogar notwendig?
Psychotherapie fehlen jedoch oft noch. Es
In vielen Fällen ist die Psychotherapie nur eine
bleibt eine wichtige Forschungsaufgabe, die
von mehreren Möglichkeiten, die zur Änderung
Frage nach den »Moderatoren« (Indikatoren)
der Probleme, die den Patienten in die Psycho-
für bestimmte Behandlungsprogramme bzw.
therapie geführt haben, in Betracht gezogen
bestimmte Therapiestrategien zu klären.
werden müssen. Sind z. B. körperliche Ursachen
für die Entstehung und Aufrechterhaltung psy-
chischer Störungen nicht auszuschließen, ist die
konsultierende Kooperation des Psychotherapeu- Literatur
ten mit einem Fachmediziner selbstverständlich.
Eine Reihe von Problemen erfordert zwingend Grosse-Holtforth, M., Lutz, W., & Grawe, K. (2009). Interven-
die Hinzuziehung weiterer Spezialisten oder die tionsbezogene Diagnostik. In M. Hautzinger & P. Pauli
Ergänzung der Psychotherapie um eigenständige (Hrsg.), Psychotherapeutische Methoden. Enzyklopädie
Behandlungsanteile, etwa durch Juristen, Sozial- der Psychologie. Göttingen: Hogrefe.
Hautzinger, M. (2001). Diagnostik in der Psychotherapie. In
arbeiter, Berufsberater, Ämter usw.
R. D. Stieglitz, U. Baumann & H. J Freyberger (Hrsg.), Psy-
chodiagnostik in der Klinischen Psychologie, Psychiatrie
Die differenzielle Indikation betrifft die Entscheidung, und Psychotherapie (2. Aufl.). Stuttgart: Thieme.
welches therapeutische Vorgehen und welches kon- Laireiter, A. R. (2000). Diagnostik in der Psychotherapie. Wien:
krete Behandlungssetting bei den jeweils gegebenen Springer.
Problemen eines Patienten die besten Behandlungsef- Schulte, D. (1974). Der diagnostisch-therapeutische Prozess
fekte versprechen. Dies beinhaltet vor allem die Frage, in der Verhaltenstherapie. In D. Schulte (Hrsg.), Dia-
ob die Therapie mit einem Patienten ambulant oder gnostik in der Verhaltenstherapie. München: Urban &
stationär erfolgen sollte bzw. ob und wann man mit Schwarzenberg.
dem Patienten allein (Einzelbehandlung) oder mit Seidenstücker, G., & Baumann, U. (1987). Multimodale
Diagnostik als Standard in der Klinischen Psychologie.
einem erweiterten Personenkreis (z.  B. Gruppen-,
Diagnostica, 33, 243–258.
Angehörigen- oder Familientherapie) arbeiten sollte.
Die Diagnosestellung führt in der Folge einer stö-
rungsspezifischen Eingangsdiagnostik (.  Abb. 2.1) zu
der Entscheidung, Patienten die zumeist längerfristige
Teilnahme an einer störungsspezifischen Verhaltens-
therapie zu empfehlen. In störungsspezifischen Thera-
pieprogrammen werden die für die Behandlung einer
spezifischen psychischen Störung als sinnvoll erach-
teten Maßnahmen üblicherweise in sog. multimoda-
len oder Breitspektrumtherapien für den Einzelfall
zusammengestellt und aufeinander abgestimmt. Die
meisten dieser Behandlungsprogramme eignen sich
zugleich für verhaltenstherapeutische Gruppen, in
denen Patienten mit gleicher Problematik das jewei-
lige Behandlungsprogramm gemeinsam absolvieren.
Die Verhaltenstherapie darf heute als die Psycho-
therapie für sog. schwere Störungen gelten. Gemeint

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