Redaktion
Psychologische Mess-
W. Schneider, Rostock
und Testverfahren
Aussagekraft in der sozialmedizinischen
Begutachtung
Aus psychologischer Sicht ist die Ein- Überschätzung lichkeit, mit der der gemessene Einzelwert
beziehung psychologischer Mess- in dem Intervall liegt, nicht aber die Aus-
und Testverfahren in die sozialmedi- Die folgenden Annahmen, die eine Über- prägung des Merkmals selbst.
zinische Begutachtung von Personen schätzung psychologischer Testverfahren – Die Validität des individuellen Test-
mit psychischen Störungen unver- zum Ausdruck bringen, werden im Dis- ergebnisses muss bei reliablen und validen
zichtbar. In welchem Umfang die Ver- kurs der Gutachter häufig genannt: Testverfahren nicht mehr gesondert geprüft
fahren tatsächlich verwendet wer- – Testergebnisse liefern objektive Infor- werden.
den, ist nicht bekannt. Versicherer mationen über psychische Merkmale/Funk- Es ist ein Missverständnis, dass vali-
mahnen ihren verstärkten Einsatz an, tionen. dierte und normierte Instrumente auf-
um die Aussagekraft der sozialme- Tatsächlich liefern psychologische grund ihrer Testgüteeigenschaften nicht
dizinischen Beurteilung zu erhöhen Testverfahren keine objektiven (d. h. vom mehr am Einzelfall geprüft werden müss-
(Grosch et al. 2006). Untersucher unabhängigen) Erkenntnisse; ten. Reliabilität, Objektivität und Validi-
sie begrenzen lediglich Fehler- und Zufall- tät informieren lediglich über Testeigen-
Nutzen und Bedeutung der Verfahren seinflüsse, indem sie sich an bestimmten schaften unter Normalbedingungen; sie
werden indessen von Auftraggebern und Testgütekriterien orientieren (. Tab. 1). beschreiben z. B. die Wahrscheinlichkeit,
Anwendern nicht immer zutreffend ein- Ein psychologischer Testwert schätzt mit der mehrere Items das gleiche Merk-
geschätzt. Gutachter berichten, manche die Ausprägung eines Merkmals auf der mal messen oder sie bilden den Grad der
Sozialrichter hielten testpsychologische Grundlage wiederholter Messungen und Übereinstimmung ab, mit der verschie-
Befunde per se für wichtiger als Inter- erlaubt die Bestimmung eines statisti- dene Instrumente das gleiche Merkmal
viewinformationen. Diesen Hinweisen schen Vertrauensintervalls. Präzise fest- messen. Insbesondere bei Verfahren, de-
auf eine Überschätzung psychologischer gelegt ist dabei lediglich die Wahrschein- ren Messintention leicht durchschau-
Testergebnisse stehen generelle Zweifel an
deren Eignung für die Begutachtung ge-
genüber. Tab. 1 Gütekriterien psychologischer Tests
Gütekrite- Erläuterung
Problematische Annahmen zur rium
psychologischen Testdiagnostik Objektivität Testleiterunabhängigkeit, Verrechnungssicherheit, Interpretationseindeutigkeit
Reliabilität Genauigkeit, mit der ein Test ein Personenmerkmal misst
Der Nutzen psychologischer Mess- und Validität Grad, in dem der Test das Personenmerkmal misst, das er zu messen vorgibt
Testverfahren für die Begutachtung kann Normierung Liegt vor, wenn die Normen nicht veraltet sind, die Population, für die die Norm
sowohl über- als auch unterschätzt wer- gilt, definiert und die Stichprobe repräsentativ ist
den. Unterschätzungen können zum un- Skalierung Liegt vor, wenn die resultierenden Testwerte die empirischen Verhaltensrelationen
angemessenen Verzicht auf Tests füh- adäquat abbilden
ren, Überschätzungen zu einer unzutref- Ökonomie Liegt vor, wenn der Test, gemessen am Informationsgewinn, relativ wenig Ressour-
fenden Gewichtung der Ergebnisse. cen (Zeit, Geld) beansprucht
Nützlichkeit Liegt vor, wenn die auf der Testgrundlage getroffenen Entscheidungen mehr Nut-
zen als Kosten erwarten lassen
bar ist, ist aber das Risiko einer Ergebnis- nen als stichprobennormierte Werte. – Aufgrund der Testgütemerkmale sind
verzerrung durch Test- und Antwortmo- Zum Beispiel können nichtstichproben- Fragebogen- und Testergebnisse explorativ
tive erhöht. Jeder Interpretation von Tes- normierte Befindlichkeitsskalen, die be- gewonnenen Befunden generell überlegen.
tergebnissen muss daher eine gesonderte lastungsabhängige Befindlichkeitsverän- Eine generelle Überlegenheit psycho-
Analyse von Test- und Antwortmotiven derungen im Untersuchungsverlauf ab- metrisch gewonnener Messergebnisse
vorausgehen. bilden, für die Beurteilung belastungs- gegenüber explorativen Zugängen kann
– (Stichproben-)normierte Testwerte abhängiger Leistungs- oder Befindlich- nicht angenommen werden. Das Erkennt-
sind grundsätzlich aussagekräftiger als keitsschwankungen im Tagesverlauf re- nisinteresse ist entscheidend: Beobach-
nichtnormierte Werte. levantere Informationen liefern als stich- tungs- und Interviewdaten können – je
Auch diese Aussage trifft nicht zu, weil probennormierte Fragebögen zum Allge- nach Fragestellung und Erkenntnisinter-
nichtnormierte Testverfahren je nach Er- meinbefinden. esse – in ihrer Bedeutung für die gutach-
kenntniswert aussagestärker sein kön- terliche Urteilsbildung gleichwertig oder