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Schwerpunkt: Standards und Methoden der Begutachtung – Originalie

Psychotherapeut 2010 · 55:389–393 Ralf Dohrenbusch1 · Thomas Merten2


DOI 10.1007/s00278-010-0764-5 1 Institut für Psychologie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Online publiziert: 11. August 2010 2 Klinik für Neurologie, Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Berlin
© Springer-Verlag 2010

Redaktion
Psychologische Mess-
W. Schneider, Rostock
und Testverfahren
Aussagekraft in der sozialmedizinischen
Begutachtung

Aus psychologischer Sicht ist die Ein- Überschätzung lichkeit, mit der der gemessene Einzelwert
beziehung psychologischer Mess- in dem Intervall liegt, nicht aber die Aus-
und Testverfahren in die sozialmedi- Die folgenden Annahmen, die eine Über- prägung des Merkmals selbst.
zinische Begutachtung von Personen schätzung psychologischer Testverfahren – Die Validität des individuellen Test-
mit psychischen Störungen unver- zum Ausdruck bringen, werden im Dis- ergebnisses muss bei reliablen und validen
zichtbar. In welchem Umfang die Ver- kurs der Gutachter häufig genannt: Testverfahren nicht mehr gesondert geprüft
fahren tatsächlich verwendet wer- – Testergebnisse liefern objektive Infor- werden.
den, ist nicht bekannt. Versicherer mationen über psychische Merkmale/Funk- Es ist ein Missverständnis, dass vali-
mahnen ihren verstärkten Einsatz an, tionen. dierte und normierte Instrumente auf-
um die Aussagekraft der sozialme- Tatsächlich liefern psychologische grund ihrer Testgüteeigenschaften nicht
dizinischen Beurteilung zu erhöhen Testverfahren keine objektiven (d. h. vom mehr am Einzelfall geprüft werden müss-
(Grosch et al. 2006). Untersucher unabhängigen) Erkenntnisse; ten. Reliabilität, Objektivität und Validi-
sie begrenzen lediglich Fehler- und Zufall- tät informieren lediglich über Testeigen-
Nutzen und Bedeutung der Verfahren seinflüsse, indem sie sich an bestimmten schaften unter Normalbedingungen; sie
werden indessen von Auftraggebern und Testgütekriterien orientieren (. Tab. 1). beschreiben z. B. die Wahrscheinlichkeit,
Anwendern nicht immer zutreffend ein- Ein psychologischer Testwert schätzt mit der mehrere Items das gleiche Merk-
geschätzt. Gutachter berichten, manche die Ausprägung eines Merkmals auf der mal messen oder sie bilden den Grad der
Sozialrichter hielten testpsychologische Grundlage wiederholter Messungen und Übereinstimmung ab, mit der verschie-
Befunde per se für wichtiger als Inter- erlaubt die Bestimmung eines statisti- dene Instrumente das gleiche Merkmal
viewinformationen. Diesen Hinweisen schen Vertrauensintervalls. Präzise fest- messen. Insbesondere bei Verfahren, de-
auf eine Überschätzung psychologischer gelegt ist dabei lediglich die Wahrschein- ren Messintention leicht durchschau-
Testergebnisse stehen generelle Zweifel an
deren Eignung für die Begutachtung ge-
genüber. Tab. 1  Gütekriterien psychologischer Tests
Gütekrite- Erläuterung
Problematische Annahmen zur rium
psychologischen Testdiagnostik Objektivität Testleiterunabhängigkeit, Verrechnungssicherheit, Interpretationseindeutigkeit
Reliabilität Genauigkeit, mit der ein Test ein Personenmerkmal misst
Der Nutzen psychologischer Mess- und Validität Grad, in dem der Test das Personenmerkmal misst, das er zu messen vorgibt
Testverfahren für die Begutachtung kann Normierung Liegt vor, wenn die Normen nicht veraltet sind, die Population, für die die Norm
sowohl über- als auch unterschätzt wer- gilt, definiert und die Stichprobe repräsentativ ist
den. Unterschätzungen können zum un- Skalierung Liegt vor, wenn die resultierenden Testwerte die empirischen Verhaltensrelationen
angemessenen Verzicht auf Tests füh- adäquat abbilden
ren, Überschätzungen zu einer unzutref- Ökonomie Liegt vor, wenn der Test, gemessen am Informationsgewinn, relativ wenig Ressour-
fenden Gewichtung der Ergebnisse. cen (Zeit, Geld) beansprucht
Nützlichkeit Liegt vor, wenn die auf der Testgrundlage getroffenen Entscheidungen mehr Nut-
zen als Kosten erwarten lassen

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Schwerpunkt: Standards und Methoden der Begutachtung – Originalie

Tab. 2  Übersicht über psychodiagnostische Methoden


Methodengruppe Erkenntnisgewinn durch die Methoden (Beispiele)
Freie Verhaltensbeobachtung Wie verhält sich der Proband vor, während und nach der Untersuchung? Wie reagiert er auf wechselnde soziale  
Bedingungen?
Verhaltensbeobachtung unter Wie ausgeprägt sind Instruktionsverständnis, Arbeitsgeschwindigkeit, Sorgfalt, Pausenbedürfnis?
Testdingungen
Interview/Exploration Wie stellt der Proband Beschwerden, Bewältigungsverhalten, Krankheitsverlauf, Ressourcen, Therapie dar?
Persönlichkeitsfragebögen Wie ausgeprägt sind Persönlichkeitsmerkmale, die gehäuft mit den beklagten psychischen Problemen einhergehen?
Klinische Fragebögen Wie ausgeprägt sind die psychischen, körperlichen und sozialen Störungen?
Fragebögen zu Arbeits- und   Wie bewältigt der Proband Belastungen im Alltag/am Arbeitsplatz?
Leistungsfunktionen
Antworttendenzskalen/Validie- Neigt der Proband zu verfälschenden Antworttendenzen?
rungsindizes
Beschwerdenvalidierungstests Ist das Antwortverhalten inkonsistent zu bekannten Gesetzmäßigkeiten?
Fremdberichte/Fremdbeobach- Wie verhält sich der Proband außerhalb der Begutachtungssituation?
tung
Konzentrationstests Sind alltagsübliche Aufmerksamkeitsleistungen beeinträchtigt?
Gedächtnistests Sind alltagsübliche Gedächtnisleistungen eingeschränkt?
Exekutive Funktionen Ist der Proband in der Lage, sein Verhalten zu planen und Entscheidungen zu treffen?
Intelligenztests Reicht das geistige Leistungsniveau zur Bewältigung beruflicher Anforderungen aus?
Sprachtests Bestehen Beeinträchtigungen in Bezug auf Sprachverständnis, Lesefähigkeit, Sprachproduktion?
Klinische (neuropsychologische) Nimmt der Proband eine Hälfte oder Teile seines Körpers oder seiner Umgebung nur unzureichend wahr (Neglect)?
Funktionstests
Standardisierte Arbeitsproben Kann der Proband handwerkliche, Büro- oder kaufmännische Tätigkeiten durchführen? Ändert sich die Belastbarkeit
im Tagesverlauf?
Wahrnehmungsexperimente/  Sind Angaben zur Schmerzempfindlichkeit valide?
psychophysikalische Tests
Physiologische Funktionsmes- Wie verändert sich das psychophysiologische Reaktionsmuster im Verlauf einer simulierten Arbeitsprobe?
sungen

Tab. 3  Persönlichkeitsfragebögen mit Skalen zur Aktivitäts- und Fähigkeitsbeurteilung


Verfahren Hauptskalen Zur Aktivitäts- und Fähigkeitsbeurteilung potenziell geeignete Dimensionen
NEO-Persönlichkeitsinventar Neurotizismus (N), Extraversion (E), Reizbarkeit, soziale Befangenheit, Impulsivität, Durchsetzungsfähigkeit,  
nach Costa und McCrae, revi- Offenheit (O), Verträglichkeit (A), Aktivität, Offenheit für Erfahrungen und Handlungen, Fantasie, Ordnungsliebe,
dierte Fassung (NEO-PI-R;   Gewissenhaftigkeit (C) Pflichtbewusstsein, Leistungsstreben, Selbstdisziplin, Besonnenheit
Ostendorf u. Angleitner 2003)
Trierer Integriertes Persönlich- Neurotizismus/geringe seelische Ablehnungssensibilität, Unselbstständigkeit, Nachgiebigkeit, Selbstvertrauen,
keitsinventar   Gesundheit, Extraversion/Offenheit, Offenheit für Neues, Tatendrang, Risikobereitschaft, Selbstbehauptung, recht-
(TIPI; Becker 2003) Unverträglichkeit, Gewissenhaftig- haberische Arroganz, Misstrauen, Gewalttätigkeit, Ausdauer/Sorgfalt, Planung,
keit/Kontrolliertheit Ordnungsstreben, Arbeitsorientierung
16-Persönlichkeits-Faktoren- Extraversion, Ängstlichkeit, Selbst- Logisches Schlussfolgern, emotionale Stabilität, Dominanz, Lebhaftigkeit,
Test, revidierte Fassung (16 PF- kontrolle, Unabhängigkeit, Unnach- Regelbewusstsein, soziale Kompetenz, Empfindsamkeit, Wachsamkeit, Abgeho-
R; Schneewind u. Graf 1998) giebigkeit benheit, Besorgtheit, Offenheit für Veränderung, Selbstgenügsamkeit, Perfektio-
nismus, Anspannung

bar ist, ist aber das Risiko einer Ergebnis- nen als stichprobennormierte Werte. – Aufgrund der Testgütemerkmale sind
verzerrung durch Test- und Antwortmo- Zum Beispiel können nichtstichproben- Fragebogen- und Testergebnisse explorativ
tive erhöht. Jeder Interpretation von Tes- normierte Befindlichkeitsskalen, die be- gewonnenen Befunden generell überlegen.
tergebnissen muss daher eine gesonderte lastungsabhängige Befindlichkeitsverän- Eine generelle Überlegenheit psycho-
Analyse von Test- und Antwortmotiven derungen im Untersuchungsverlauf ab- metrisch gewonnener Messergebnisse
vorausgehen. bilden, für die Beurteilung belastungs- gegenüber explorativen Zugängen kann
– (Stichproben-)normierte Testwerte abhängiger Leistungs- oder Befindlich- nicht angenommen werden. Das Erkennt-
sind grundsätzlich aussagekräftiger als keitsschwankungen im Tagesverlauf re- nisinteresse ist entscheidend: Beobach-
nichtnormierte Werte. levantere Informationen liefern als stich- tungs- und Interviewdaten können – je
Auch diese Aussage trifft nicht zu, weil probennormierte Fragebögen zum Allge- nach Fragestellung und Erkenntnisinter-
nichtnormierte Testverfahren je nach Er- meinbefinden. esse – in ihrer Bedeutung für die gutach-
kenntniswert aussagestärker sein kön- terliche Urteilsbildung gleichwertig oder

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Zusammenfassung · Abstract

auch überlegen sein. Beispiel: Ein Kon- Begutachtungsstichproben entwickelt Psychotherapeut 2010 · 55:389–393


zentrationstest kann – ohne Kontrolle wurden. Dennoch ist der Schluss falsch, DOI 10.1007/s00278-010-0764-5
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von Verfälschungstendenzen – zu einem sie seien deshalb nicht valide für die Be-
falschen Schluss über die Konzentrations- gutachtung. Es gibt keine Hinweise dar- Ralf Dohrenbusch · Thomas Merten
fähigkeit führen. Hingegen können Aus- auf, dass die Konstruktvalidität der ge- Psychologische Mess- und
sagen des Probanden über Konzentrati- messenen Eigenschaften stichprobenab- Testverfahren. Aussagekraft
onsprobleme, die grob von der in der Un- hängig stark variiert, dass also begutach- in der sozialmedizinischen
tersuchung gezeigten Konzentrationsfä- tete Probanden z. B. ihre emotionale La- Begutachtung
higkeit abweichen, als Belege für inkon- bilität mit anderen Merkmalen beschrei-
sistente Angaben bedeutsam sein. ben würden als nichtbegutachtete. Es gibt
Zusammenfassung
lediglich Belege dafür, dass in ihrer Mes- Die Verwendung psychologischer Mess- und
Unterschätzung sintention leicht durchschaubare Verfah- Testverfahren ist von fehlerhaften Annahmen
ren im Begutachtungssetting meist stärker zur Leistungsfähigkeit dieser Verfahren mit-
Die folgenden Annahmen spiegeln eine durch Antwort- oder Testmotive verzerrt bestimmt. Aus der Auseinandersetzung mit
Unterschätzung der Leistungsfähigkeit sind als außerhalb der Begutachtung. Dar- einigen dieser Annahmen wird begründet,
dass Tests notwendig sind, um die Datenbasis
psychologischer Testverfahren: aus kann aber nur gefolgert werden, dass
für die Beurteilung zu erweitern und die Mes-
– Psychologische Fragebögen sind über- jeder Testwertinterpretation eine Analyse sung psychischer Störungen und Funktionen
flüssig, weil die gleichen Informationen möglicher Antwort- und Testmotive vor- gegen Fehler und Zufälle abzusichern. Für
auch per Interview erhoben werden kön- ausgehen muss. verschiedene Ebenen der Funktions- und Par-
nen. – Die meisten psychologischen Mess- tizipationsbeurteilung werden exemplarisch
Zweifellos können Angaben über und Testverfahren sind nicht an Begutach- geeignete Testverfahren genannt. Die Inter-
pretation von Mess- und Testwerten setzt
Symptome oder Leistungsmerkmale auch tungsstichproben normiert, daher sind die regelmäßig geeignete Validierungsmaß-
im Interview erhoben werden; es feh- Normen nicht gültig. nahmen voraus. Die Praxis, Testdiagnostik ei-
len dann aber Angaben zur Testgüte. Die Auch dies trifft nicht zu, weil sich der ner messmethodisch unsicheren, eher intui-
„Messeigenschaften“ des Gutachters sind Wert der Norm daran bemisst, mit wel- tiven Beurteilungspraxis unterzuordnen, wird
nicht bekannt, und Messprinzipien wie cher Personengruppe der Proband ver- kritisch beleuchtet.
z. B. das der Messwiederholung wirken glichen werden soll. In aller Regel sollen
Schlüsselwörter
im freien Interview – anders als in einem Vergleiche nicht mit anderen Personen Psychische Störungen · Psychosomatische
Fragebogen – irritierend auf den Datenge- im Begutachtungssetting angestellt wer- Störungen · Psychologische Begutachtung ·
winnungsprozess. Insofern liefern Frage- den, sondern mit Normalpersonen, die Tests · Validität von Testergebnissen
bögen tatsächlich andere Informationen, unter Normalbedingungen leben oder ar-
die durch Interviews nicht kompensiert beiten. Entscheidend ist der Vergleich zu
werden können. altersgleichen Normalpersonen; der Ein-
Psychological assessment
– In einer Exploration können Täu- wand ist daher unbegründet.
methods. Informative value
schungstendenzen ebensogut identifiziert
in social medical expert
werden wie durch standardisierte Verfah- Methodenvielfalt als Grundlage assessment
ren. psychologischer Urteilsbildung
Diese Annahme überschätzt die Fä- Abstract
The use of psychological assessment meth-
higkeit des Untersuchers, Verfälschungen Grundlage psychologischer Begutach- ods is flawed by incorrect assumptions of
im Antwortverhalten zuverlässig zu er- tung ist die Verwendung mehrerer dia- their capacity. Some of these assumptions
kennen. Im Interview unterliegt die Be- gnostischer Zugänge, deren Informati- are discussed. It is argued that psychological
wertung individuellen Gewichtungen des onen direkt oder indirekt aufeinander be- tests are necessary to expand the database
Sachverständigen, Validitätsaußenkrite- zogen werden können. Selbstberichte der for expert reports about the impact of men-
tal disorders on work and different levels of
rien fehlen, der Sachverständige kann An- Probanden allein werden als nichtaus-
functioning. Tests help to protect psychologi-
nahmen immer nur an eigenen Kriterien reichend für die gutachterliche Urteils- cal assessments against errors and chance  
und damit an sich selbst überprüfen. Will bildung angesehen, und Testergebnisse bias. With respect to levels of functioning,  
man Informationen zur Glaubhaftigkeit sollten nicht ohne Bezug zu den Bedin- examples of German tests and questionnaires
zufallskritisch absichern, gibt es zu test- gungen interpretiert werden, unter de- are given. Test-based information requires
psychologischen und fragebogenbasier- nen sie erhoben wurden. Eine Übersicht objective validation methods and should not
be subordinated to an intuitive assessment
ten Zugängen keine Alternative. über die Methodengruppen, die in die Be-
strategy.
– Psychologische Testverfahren sind urteilung psychosozialer Funktionen und
nicht valide für die Begutachtung. Fähigkeiten einbezogen werden können, Keywords
Es trifft zu, dass mit Ausnahme von gibt . Tab. 2. Bei der Auswahl der Me- Mental disorders · Psychophysiologic disor-
Beschwerdevalidierungstests und eini- thoden ist es entscheidend, welche Funk- ders · Assessment, psychological · Validity of
gen neueren Kontrollskalen psycholo- tion bestimmte Mess- oder Testverfah- results · Psychological tests
gische Mess- und Testverfahren nicht an ren für die Beantwortung der gutachter-

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Zustimmung sigkeitstest (RWT); Aschenbrenner et al.


2001] oder zum logischen Denken [z. B.
Wilde-Intelligenztest- (WIT-)2; Kers-
formal Ablehnung ting et al. 2008]. Die derzeit vollständigs-
te deutschsprachige Übersicht über neu-
ropsychologische Funktions- und Leis-
Kategorien-
präferenz tungstests geben Schelling et al. (2009).
Antwortstile
Soziale Mess- und Testverfahren zur Kontrolle
Erwünschtheit von Antworttendenzen und zur Be-
schwerdevalidierung.  Hierzu gehören
Unwahr- Messverfahren zur Kontrolle formaler und
inhaltlich scheinliche
Symptome inhaltlicher Antwortstile (. Abb. 1).
Auffällige Werte in Kontrollskalen et-
Leugnung
Abb. 1 9 Einteilung wa zur Zustimmungstendenz, zur Ver-
vermeintlicher
Schwächen verfälschender   wendung vager oder extremer Antwort-
Antwortstile kategorien (Kategorienpräferenz) oder
die Angabe auffällig vieler unwahrschein-
licher Symptome können die Interpre-
lichen Fragestellungen haben, ob sie z. B. Beschreibung von Fähigkeiten tierbarkeit der Skalenwerte erheblich ein-
eher zur ergänzenden Beschreibung des und Aktivitäten schränken. Die meisten empirisch geprüf-
Beschwerdebilds oder eher zur zufalls- ten Möglichkeiten zur Beurteilung verfäl-
kritischen Absicherung der Angaben ver- Selbstberichtsverfahren zur Beschrei- schender Antworttendenzen liefert der-
wendet werden. bung potenziell geminderter Aktivi- zeit der Minnesota Multiphasic Persona-
täten und Fähigkeiten.  Zum Beispiel der lity Inventory 2 (MMPI-2; Hathaway u.
Testdiagnostik auf verschiedenen Fähigkeit zur Anpassung an Regeln und McKinley 2000). Die Bedeutung dieses
Funktionsebenen Routinen, zur Strukturierung von Auf- Fragebogens liegt weniger in der inhalt-
gaben oder zur Entscheidungs- und Ur- lichen Aussagekraft der Messdimensi-
Nach der von Schneider et al. (2010) im teilsfähigkeit. Diese bei Linden u. Baron onen als in der Bereitstellung von Infor-
vorliegenden Heft skizzierten Systema- (2005) genannten Dimensionen liefern mationen zum Antwortverhalten.
tik erfordert die sozialmedizinische Be- Ansatzpunkte für die Auswahl geeigneter Ergänzend dazu prüfen Beschwerdeva-
urteilung psychischer Störungen psycho- psychologischer Mess- und Testverfah- lidierungstests die Wahrscheinlichkeit, mit
diagnostisch abgesicherte Informationen ren. Zu unterscheiden sind dabei Persön- der die Ergebnisse neuropsychologischer
auf der Ebene der psychischen (Funk- lichkeitsfragebögen (. Tab. 3) und Frage- Funktions- und Leistungstests durch be-
tions-)Störungen, der Ebene der Aktivi- bögen zum Umgang mit Belastungen und wusstseinsnahe willentliche Tendenzen
täten und Fähigkeiten sowie der Ebene Anforderungen (z. B. Stressverarbeitungs- bzw. Testmotive verzerrt oder verfälscht
der Partizipation. Je nach Ebene kommen fragebogen; Erdmann u. Janke 2009). sind. Grundlage dieser Verfahren [z. B.
unterschiedliche psychologische Mess- Testbatterie zur Forensischen Neuropsy-
und Testmethoden infrage. Einige werden Psychologische Funktions- und Leis- chologie (TBFN), Heubrock u. Petermann
nachfolgend exemplarisch genannt. tungstests zur Erfassung mentaler 2000] sind Testprinzipien, die motivatio-
Fähigkeiten.  Diese Gruppe von Verfah- nale Einflüsse wahrscheinlichkeitsbasiert
Beschreibung psychischer ren gliedert sich in Konzentrationstests und zufallskritisch abschätzen. Je nach
(Funktions-)Störungen [z. B. Frankfurter Aufmerksamkeits-In- Fragestellung und Messbereich wird z. B.
ventar (Fair); Moosbrugger 1996], Ge- geprüft, wie häufig extrem leichte Items
Klinische Fragebögen zur Beschreibung dächtnistests [z. B. Verbaler Lern- und gelöst werden, inwiefern das Reaktions-
des Störungs-/Krankheitsbildes [z. B. Merkfähigkeitstest (VLMT); Helmsta- muster von Ratewahrscheinlichkeiten ab-
Beck-Depressions-Inventar-2 (BDI-II); edter et al. 2001] und Tests zu exekutiven weicht, inwiefern Performanzkurven von
Beck et al. 2006; Borderline-Persönlich- Funktionen. Letztere umfassen Verfahren gedächtnispsychologischen oder kogniti-
keitsinventar (BPI); Leichsenring 1997]. zur Untersuchung von Funktionen wie onspsychologischen Gesetzmäßigkeiten
Persönlichkeitsfragebögen zur ergän- z. B. solcher zum Initiieren oder Hemmen abweichen oder ob das Reaktionsmuster
zenden Erfassung störungsassoziierter ha- von Handlungen [z. B. Testbatterie zur generell gegen Lernprinzipien oder Re-
bitueller Merkmale [z. B. Toronto-Alexi- Aufmerksamkeitsprüfung (TAP); Zim- geln der Informationsverarbeitung ver-
thymie-Skala 26 (TAS-26); Kupfer et al. mermann u. Fimm 2007], zur Kontrolle stößt.
2001]. von Interferenzen [z. B. Farb-Wort-Inter- Antworttendenzskalen und Beschwer-
ferenztest (FWIT); Bäumler 1985], Wort- devalidierungstests dienen gleichermaßen
flüssigkeit [z. B. Regensburger Wortflüs- dazu, die Erkenntnisse über psychische

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Beschwerden oder Funktionen abzusi- in der sozialmedizinischen Leistungsbe- Literatur
chern. urteilung eingesetzt.
Aschenbrenner S, Tucha O, Lange KW (2001) Regensburger
Wortflüssigkeitstest (RWT). Hogrefe, Göttingen
Beschreibung von Partizipati- Integration von Bäumler G (1985) Farb-Wort-Interferenztest (FWIT) nach
J.R. Stroop. Hogrefe, Göttingen
onsbeeinträchtigungen unter testpsychologischer Information Beck AT, Steer RA, Brown GK (2006) BDI-II. Beck-Depres-
spezifischen Kontextbedingungen sions-Inventar, 2. Aufl. Harcourt Test Services, Frank-
furt a.M.
Psychologische Begutachtung räumt Becker P (2003) Trierer Integriertes Persönlichkeitsinventar
Innerhalb der Gruppe der Selbstberichts- einem multimethodalen Zugang und den (TIPI). Hogrefe, Göttingen
Dietrich M, Goll M, Tress J et al (2001) hamet 2. Handlungs-
verfahren ist die Unterscheidung in Fra- Prinzipien psychologischen Messens und orientierte Module zur Erfassung und Förderung be-
gebögen zu Funktionsbeeinträchtigungen Testens Vorrang ein. In der Praxis hat aber ruflicher Kompetenzen. BBW, Waiblingen
Erdmann G, Janke W (2009) SVF Stressverarbeitungsfrage-
im Alltag und speziell arbeitsbezogene eine auf die Deutung von Übertragungs- bogen. Stress, Stressverarbeitung und ihre Erfassung
Fragebögen üblich. Außerdem existieren prozessen ausgerichtete Informations- durch ein mehrdimensionales Testsystem, 4., überarb.
und erw. Aufl. Hogrefe, Göttingen
Tests zur beruflichen Leistungsfähigkeit, sammlung oft einen höheren Stellenwert. Grosch EV, Fischer K, Irle H et al (2006) Leitlinien für die so-
die ganz oder in Auszügen zu gutachter- Der Gutachter muss also entscheiden, zialmedizinische Beurteilung von Menschen mit psy-
chischen Störungen. DRV-Schriften, Berlin
lichen Zwecken verwendet werden kön- ob eher die Aufdeckung latenter Kon- Hathaway SR, McKinley JC (2000) MMPI-2. Minnesota Mul-
nen. flikte oder die zufallskritische Überprü- tiphasic Personality Inventory 2, deutsche Bearbei-
tung von Rolf R. Engel. Huber, Bern
fung bewusstseinsnaher Denk- und Ver- Hautzinger M, Bailer M, Worall H, Keller F (1995) Beck-De-
Fragebögen zu Funktionsbe- haltensmuster sowie deren testpsycholo- pressions-Inventar (BDI). Hogrefe, Göttingen
Helmstaedter C, Lendt M, Lux S (2001) Verbaler Lern- und
einträchtigungen im Alltag gische Überprüfung zur Entscheidungs- Merkfähigkeitstest (VLMT). Hogrefe, Göttingen
Schumacher et al. (2003) geben eine Über- bildung beitragen sollen. Letztlich müs- Heubrock D, Petermann F (2000) Testbatterie zur Foren-
sischen Neuropsychologie (TBFN). Testmanual. Neuro-
sicht über ca. 70 Fragebögen zu krank- sen psychopathologische Auffälligkeiten psychologische Diagnostik bei Simulationsverdacht.
heitsbedingten Beeinträchtigungen des ebenso wie Art und Ausmaß der Funk- Swets & Zeitlinger, Frankfurt a.M.
Hossiep R, Paschen M (2003) Bochumer Inventar zur berufs-
psychischen und körperlichen Wohlbe- tions-, Aktivitäts- und Partizipationsbe- bezogenen Persönlichkeitsbeschreibung. BIP, 2. vollst.
findens. Die meisten der Verfahren erfas- einträchtigungen schlüssig nachgewiesen überarb. Aufl. Hogrefe, Göttingen
Hütter BO, Würtemberger G (2002) Sickness Impact Pro-
sen Beeinträchtigungen störungsbildü- werden, um z. B. eine Erwerbsminderung file (SIP) – German version. In: Salek S (Hrsg) Compen-
bergreifend [z. B. Sickness Impact Profile zu begründen. Derzeit scheinen aber In- dium of quality of life instruments. Wiley, Chichester,
West Sussex
(SIP), deutsche Version; Hütter u. Wür- formationen, die durch unmittelbare Ein- Kersting M, Althoff K, Jäger AO (2008) WIT-2. Der Wilde-In-
temberger 2002]. Sie differenzieren zwi- drucksbildung, Exploration und Verhal- telligenztest. Verfahrenshinweise. Hogrefe, Göttingen
Kupfer J, Brosig B, Brähler E (2001) Toronto-Alexithymie-
schen körperlichen, psychischen sowie tensbeobachtung bestimmt sind, stärker Skala-26. Deutsche Version (TAS-26). Manual.  
sozialen Beeinträchtigungen und gehen in gewichtet zu werden als testpsychologisch Hogrefe, Göttingen
Leichsenring F (1997) Borderline-Persönlichkeits-Inventar
ihrer Differenziertheit deutlich über Ein- abgesicherte Informationen. (BPI). Handanweisung. Hogrefe, Göttingen
punktschätzungen wie z. B. den von Sche- Lienert GA, Schuler H (1994) Revidierter Allgemeiner Büro-
arbeitstest (ABAT-R). Hogrefe, Göttingen
pank (1995) vorgeschlagenen Beeinträch- Fazit für die Praxis Linden M, Baron S (2005) Das MINI-ICF-Rating für psy-
tigungsschwere-Score (BSS) hinaus. chische Störungen (MINI-ICF-P). Ein Kurzinstrument
zur Beurteilung von Fähigkeitsstörungen bei psy-
Aus psychologischer Sicht erscheint es chischen Erkrankungen. Rehabilitation 44:144–151
Berufsbezogene Verfahren problematisch, die Ergebnisse psycholo- Moosbrugger H (1996) Frankfurter Aufmerksamkeits-In-
ventar (Fair). Testmanual 1. Aufl. Huber, Bern
In diese Kategorie fallen Instrumente zu gischer Mess- und Testergebnisse in eine   Ostendorf F, Angleitner A (2003) NEO-Persönlichkeitsin-
berufsbezogenen persönlichen Eignungs- Bewertungsheuristik zu integrieren, die ventar nach Costa und McCrae, Revidierte Fassung
(NEO-PI-R). Hogrefe, Göttingen
voraussetzungen [z. B. Bochumer Inven- vergleichsweise wenig Wert auf psycho- Schelling D, Drechsler R, Heinemann D, Sturm W (Hrsg)
tar zur berufsbezogenen Persönlichkeits- metrische Qualitäts- und Gütekriterien (2009) Handbuch neuropsychologischer Testverfah-
ren, Bd 1: Aufmerksamkeit, Gedächtnis, exekutive
beschreibung (BIP) 2, Hossiep u. Paschen legt. Wenn Testergebnisse erst nachge- Funktionen. Hogrefe, Göttingen
2003] oder das Osnabrücker Arbeitsfä- ordnet einbezogen werden, steigt das   Schepank H (1995) Der Beeinträchtigungsschwere-Score
(BSS). Ein Instrument zur Bestimmung der Schwere ei-
higkeitenprofil; Wiedl u. Uhlhorn 2006), Risiko, dass Mess- und Testergebnisse   ner psychogenen Erkrankung. Hogrefe, Göttingen
das sich zur Beurteilung der Anpassung lediglich zur Illustration des klinischen Schneewind KA, Graf J (1998) 16-Persönlichkeits-Faktoren-
Test, revidierte Fassung. Hogrefe, Göttingen
psychisch Erkrankter an den Arbeits- Eindrucks verwendet werden. In diesen   Schneider W, Becker D, Dohrenbusch R et al (2010) Be-
platz eignet. Andere Verfahren erfassen Fällen wird ihr Potenzial nicht ausrei- rufliche Leistungsfähigkeit. Begutachtung bei psy-
chischen und psychosomatischen Erkrankungen. Psy-
arbeitsplatzbezogene Leistungen anhand chend genutzt. chotherapeut, doi 10.1007/s00278-010-0762-7
von Arbeitsproben [z. B. Revidierter All- Schumacher J, Klaiberg A, Brähler E (Hrsg) (2003) Diagnos-
tische Verfahren zu Lebensqualität und Wohlbefin-
gemeiner Büroarbeitstest (ABAT-R), Lie- Korrespondenzadresse den, Bd 2: Diagnostik für Klinik und Praxis. Hogrefe,
nert u. Schuler 1994] für Bürotätigkeiten PD Dr. Ralf Dohrenbusch Göttingen
Institut für Psychologie, Rheinische Friedrich- Wiedl KH, Uhlhorn S (2006) Osnabrücker Arbeitsfähigkei-
oder die handlungsorientierten Modu- tenprofil. Hogrefe, Göttingen
le zur Erfassung und Förderung beruf- Wilhelms-Universität Bonn Zimmermann P, Fimm B (2007) TAP Testbatterie zur Auf-
Kaiser-Karl-Ring 9, 53111 Bonn merksamkeitsprüfung, Version 2.1. Psytest, Herzo-
licher Kompetenzen (hamet 2, Dietrich et r.dohrenbusch@uni-bonn.de genrath
al. 2001). Bislang werden arbeitsplatzbe-
zogene Leistungstests nur unzureichend Interessenkonflikt.  Der korrespondierende Autor
gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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