Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Susanne Knappe
Heruntergeladen von: Evangelisches Bildungszentrum für Gesundheitsberufe Stuttgart gGmbH. Urheberrechtlich geschützt.
Eine objektive, reliable und möglichst valide Diagnosestellung
dient einer korrekten Indikationsstellung, der individuellen
Fallkonzeption und ist Grundlage für die Abrechnung mit dem
Kostenträger. Dahinter steht ein vielschichtiger Prozess, bei dem
sich durch die Vielzahl diagnostischer Merkmale und Kategorien
und die Menge v erfügbarer Instrumente und Verfahren besondere
Herausforderungen ergeben. Dieser Beitrag beschreibt den
diagnostischen Prozess bei Angststörungen und verweist auf
Besonderheiten im klinischen Alltag.
Was beinhaltet Diagnostik? Diagnostik Diagnostik von Angststörungen Die ▶▶ Kategoriale Diagnostik führt letztlich zu
ist Teil (psycho-) therapeutischer Expertise Diagnostik von Angststörungen (und an- einer Ja/Nein-Entscheidung darüber, ob
und tägliche Praxis im ambulanten, sta deren psychischen Störungen) wird daher eine definierte diagnostische Schwelle
tionären und Reha-Setting. Sie ist auch ein unter Zuhilfenahme diagnostischer Kriteri- überschritten wurde. Sie stellt eine Ver-
Prozess, der Hypothesen prüft („Liegt eine en, klinischer Interviews und diagnostischer einfachung und Informationsreduktion
psychische Störung vor?“) und generiert Instrumente getroffen. Die Genauigkeit und dar, die letztlich abhängig ist vom aktu-
(„Die Beschwerden haben eine bestimmte Qualität der Diagnostik und diagnostischer ellen Erkenntnisprozess und Konsens.
Funktion, nämlich …“), um klinisch rele- Entscheidungen sind maßgeblich für die ▶▶ Für die meisten psychischen Erkrankun-
vante Entscheidungen zu treffen. Diagnostik Prognose und den Verlauf der Beschwerden, gen gibt es keine eindeutigen „natürli-
meint nicht nur das Feststellen einer psy- die Behandlungszuweisung und Evaluation chen“ Grenzen, die 100 %ig gesund und
chischen Erkrankung zu Therapiebeginn, der Therapieergebnisse. krank trennen. Tatsächlich bergen psy-
sondern auch die fortlaufende Dokumenta- ▶▶ Bis heute wurden hunderte psychome- chologische Störungskonzepte vielmehr
tion positiver und negativer Entwicklungen trische Skalen und Instrumente für die die implizite Annahme der Kontinuität
(Verlaufsdiagnostik), von Patienten- und Erfassung verschiedenster Aspekte von von normal zu abnormal (krank).
Therapeutenratings zum Therapieprozess Angst und Angststörungen entwickelt ▶▶ Fast alle psychischen Störungen erfor-
(Prozessdiagnostik) und die Ergebnisevalu- (Hoyer & Margraf 2003, Knappe & Hoy- dern daher neben einer kategorialen
ation. er 2014), für die eine Übersicht kaum zu Diagnostik einen weiterführenden (di-
leisten ist. Daher werden an dieser Stelle mensionalen) diagnostischen Prozess
Besonderheiten bei der Diagnostik von auf klinischer, instrumenteller und zeit-
Zusammengenommen gehören alle Untersu- Angst (-störungen) beschrieben und Hin- licher Ebene.
chungsmaßnahmen vor, während und nach weise für den klinischen Alltag angeboten.
einer Therapie, die zu Entscheidungen füh- Klinische Ebene Angst oder Furcht sind
ren, zum diagnostischen Prozess. Kategoriale und dimensionale Diag- wichtige Basisemotionen. Angst ist damit
nostik Die diagnostischen Klassifikations- nicht notwendigerweise ein psychopatho-
systeme (ICD, DSM) liefern diagnostische logischer Zustand; die Unterscheidung von
Diagnostik liefert die Grundvoraussetzun- Prinzipien und standardisierte Kriterien, „normaler“ und „pathologischer“ Angst ist
gen für die Zuordnung der Problemstruktur um psychische Störungen verlässlich zu eine der wichtigsten diagnostischen Aufga-
zu einer oder mehreren Diagnosen und den beschreiben und ein pathologisches von ei- ben und berücksichtigt Emotionen, Denken,
Einsatz klinisch-psychologischer Interven nem nicht pathologischen Beschwerdebild Verhalten und körperliche Funktionen oder
tionen. zu unterscheiden. Empfindungen. Dabei interessieren
32
Psychotherapie im Dialog 2• 2015
▶▶ Art, Ausmaß, Anzahl und Dauer erlebter Kasten 1: Häufig eingesetzte diagnostische Instrumente
Angstsymptome,
▶▶ deren Beginn und Verlauf, Standardisierte und (halb-)strukturierte Interviews erlauben die reliable Erfassung einer
▶▶ vorausgehende und nachfolgende Bedin- Bandbreite klinischer Merkmale; je nach Interview werden auch Informationen zu Beginn und
gungen Verlauf, aktuellem Status und bisherigen Behandlungsmaßnahmen erfasst. In der klinischen
▶▶ und die Rolle somatischer Faktoren. Praxis allerdings werden diagnostische Interviews mit dem Verweis auf begrenzte zeitliche und
Bislang fehlen objektive Marker für Angst- personelle Ressourcen nicht immer eingesetzt (Hoyer & Knappe 2012). Dabei sind die Überein-
Heruntergeladen von: Evangelisches Bildungszentrum für Gesundheitsberufe Stuttgart gGmbH. Urheberrechtlich geschützt.
störungen, sodass die Beobachtung und Er- stimmungsraten zwischen Diagnosen basierend auf standardisierten oder (halb-)strukturier-
fassung von Symptomen durch Selbst- bzw. ten Interviews mit sog. klinischen Routinediagnosen für die meisten psychischen Störungen
Fremdbericht maßgebend sind für die Be- gering, und Verlässlichkeit und Aussagekraft klinischer Routinediagnosen liegen deutlich unter
fundung als „pathologisch“. denen diagnostischer Interviews (Hoyer & Knappe 2012).
Die bekanntesten strukturierten und halb-strukturierten diagnostischen Interviews für den Ein-
Instrumentelle Ebene Die Auswahl dia- satz bei Erwachsenen im deutschsprachigen Raum sind das SKID (Wittchen, Zaudig & Fydrich
gnostischer Instrumente basiert auf 1997) und DIPS (Schneider & Margraf 2006) bzw. das Mini-DiPS (Margraf 1994), unter den stan-
▶▶ der diagnostischen Fragestellung, dardisierten diagnostischen Interviews das computerisierte CIDI (Wittchen & Pfister 1997).
▶▶ den psychometrischen Eigenschaften Durch den modularen Aufbau der Interviews können auch einzelne Sektionen durchgeführt
des Instrumentes wie Objektivität, Relia- werden, etwa nur zu Angststörungen. Dann ist besonderes Augenmerk auf die Differenzial
bilität, diskriminanter und konkordanter diagnostik zu legen. Das abschließende klinische Urteil, etwa über Primär- und Sekundärdiag-
Validität, Spezifität, Sensitivität, Vorher- nosen, kann jedoch kein Interview leisten und bleibt Aufgabe des Interviewers.
sagekraft sowie Praktikabilität,
▶▶ der benötigten Genauigkeit und Aus- Klinische Rating- / Beurteilungsskalen sind für diagnoseübergreifende oder spezifische Sym-
führlichkeit, ptome bzw. Syndrome konzipiert. Für Angststörungen zählen neben der HAM-A (Hamilton
▶▶ sowie dem Zeitpunkt der Erhebung (vor, 1959) für die Erfassung ängstlicher Stimmung, Furcht und assoziierter Symptome auch die Lie-
während, nach einer Behandlung oder bowitz Soziale Angstskala (LSAS; Liebowitz 1987) und die Y-BOCS (Goodman et al. 1989) für
Anzahl der Messzeitpunkte). die Schwere von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen zu den bekanntesten Ratingskalen.
Weiterhin sind klinische Erfahrung und Symptomübergreifende Instrumente erfassen ausgewählte Bereiche, die über Angststörun-
Trainings im Umgang mit dem jeweiligen In- gen hinweg relevant sind und für die Behandlung und ggf. Prognose einer Person bedeutsam
strument sowie klinisches Wissen zur Psy- sind. Beispiele hierfür sind das Spielberger Angstinventar (STAI, Spielberger Gorsuch & Lushene
chopathologie zu berücksichtigen. 1970), das Beck Angstinventar (BAI, Beck et al. 1988) oder der Fearquestionnaire (FQ, Marks &
Matthews 1978).
Interviews vs. Fragebögen Standardi- Spezifische Angstskalen für umgrenzte Problembereiche erfassen dagegen somatische, kog-
sierte oder strukturierte Interviews wer- nitive und verhaltensbezogene Aspekte und die Schwere bestimmter Angststörungen. Diese
den häufig als Goldstandard genannt. Ihr Instrumente können aus verschiedenen Gründen sinnvoll sein:
Einsatz erfordert mitunter mehr personelle ▶▶ wenn es bereits verlässliche Hinweise auf eine Angststörung gibt (z. B. basierend auf
und zeitliche Ressourcen als Fragebögen zur kategorialer Diagnostik),
Selbst- oder Fremdauskunft und klinische ▶▶ wenn die Schwere von Angstsymptomen bei bereits erkannten Fällen, der Verlauf oder das
Ratings. Angesichts der zahlreichen diag- Ergebnis einer Intervention (Behandlung) evaluiert wird
nostischen Kriterien und Kategorien fällt es ▶▶ und um Rückfälle zu erkennen.
jedoch schwer, alle Kriterien und Entschei- Diese Instrumente sind i. d. R. nicht geeignet, zwischen verschiedenen Angststörungen, Angst-
dungsregeln während des Gesprächs mit störungen und anderen psychischen oder somatischen Erkrankungen zu unterscheiden.
dem Patienten zu bedenken, sodass die Vor- q Tab. 1 und 2 zeigen einige Beispiele für symptomübergreifende und spezifische Angstskalen.
teile einer formalisierten (instrumentenba-
sierten) Diagnostik überwiegen (q Kasten 1). Verhaltensbezogene Maße zur Beobachtung und Messung von Verhaltensweisen und Emotionen
in spezifischen Situationen beinhalten eine Vielzahl von Methoden (q Kasten 2), schließen auch
Zeitliche Ebene Die einfachste Variante Verhaltensexzesse und -defizite ein, sowie Faktoren, die diese Verhaltensweisen beeinflussen.
einer Verlaufsdiagnostik ist ein Prä/Post-
Vergleich der Angstsymptomatik, wobei
engmaschigere Messungen auch die Beob- Hierfür werden meist kürzere symptom- zogene Maße können dazu beitragen, für
achtung positiver wie negativer Entwicklun- übergreifende oder -spezifische Verfahren Therapeut und Patient gleichermaßen den
gen erlauben und somit eine Begründung bevorzugt, die in wenigen Minuten bear- individuellen Fortschritt zu verdeutlichen
für therapeutisches Handeln liefern können. beitet werden können. Auch verhaltensbe- (q Kasten 2).
33
Aus der Praxis Psychotherapie im Dialog 2• 2015
Heruntergeladen von: Evangelisches Bildungszentrum für Gesundheitsberufe Stuttgart gGmbH. Urheberrechtlich geschützt.
elektronische Gedankenprotokolle oder Tagebücher (Apps) genutzt werden. Motivation und Zuversicht
▶▶ Selbstberichtete Kognitionen, also Aussagen über das Selbst, automatische Gedanken oder ▶▶ Fragebogen zur Analyse Motivationaler
innere Dialoge können mittels Produktions- oder Bestätigungsmethoden erfasst werden. Schemata (FAMOS)
Produktionsmethoden meinen das Aufschreiben oder Aufnehmen verbalisierter Erwartun- (Grosse Holtforth & Grawe 2002b)
gen, Sorgen, Gedanken etc. bezüglich vorangegangener, aktueller oder zukünftiger Behandlungserwartungen
Ereignisse. Bestätigungsmethoden beinhalten eine Liste von Gedanken bezogen auf das ▶▶ Wie sinnvoll erscheint Ihnen die
Angsterleben der jeweiligen Person, die gebeten wird, den Grad der Zustimmung oder Behandlung?
Ablehnung anzugeben (Hoyer & Chaker 2009). ▶▶ Wie zuversichtlich sind Sie, dass die
Behandlung Ihre ______reduzieren
Subjektive Einschätzungen wird?
▶▶ Subjektive Enschätzungen helfen beim Erfassen der Intensität von Angst und Furcht (oder ▶▶ Würden Sie die Behandlung einem/r
anderen emotionalen oder kognitiven Reaktionen), vorzugsweise in spezifischen Situatio- Freund/in, der/die unter _______ leidet,
nen. Auf einer Skala von 0–10 oder 0–100 stehen höhere Werte für ein höheres Niveau von empfehlen?
Angst oder Anspannung. Verschiedene Abwandlungen, etwa als Furchtthermometer oder ▶▶ Was glauben Sie, wie erfolgreich die
visuelle Analogskalen, sind bekannt. Behandlung die ______ vermindern
▶▶ Der Vorteil besteht in der unmittelbaren Abfrage und Einschätzung des Erlebten, sodass wird?
Erinnerungsverzerrungen vorgebeugt werden (im Vergleich zu einem Symptomfragebo- ▶▶ Folgende Situationen können bei Ihnen
gen, der am Ende der Sitzung oder der Exposition vorgelegt wird). Letztlich können aber Angst auslösen oder nicht [nenne
auch absichtlich niedrige Werte berichtet werden, um der Situation vorschnell zu Situationen]. Wenn diese Ihnen Angst
entkommen, oder aber höhere Werte als Signal für Hilfesuchverhalten. machen, wie zuversichtlich wären Sie,
dass diese Behandlung die Angst
Verhaltensproben / Verhaltenstests beseitigt?
▶▶ Verhaltensproben / Verhaltenstests sind mehr oder weniger standardisierte Tests, um a ▶▶ Wie stark ist Ihre ______zum jetzigen
priori ausgewählte Verhaltensweisen (problematisches Verhalten) zu beobachten, die Zeitpunkt?
natürlicherweise produziert werden, z. B. der Abstand zwischen einer Person und der ▶▶ Was erwarten Sie, wie stark Ihre ______
gefürchteten Spinne. Ziel ist es, dass der Befragte sich in der Situation präsent fühlt und unmittelbar nach der Behandlung ist?
somit jenes Verhalten zeigt, was auch in einer „echten Situation“ zu beobachten wäre. ▶▶ Was erwarten Sie, wie stark Ihre ______
Ausgewählt werden meist idiosynkratrische Verhaltensweisen, die nicht oder nur schlecht 1 Jahr / 5 Jahre nach der Behandlung ist?
verbalisiert werden können. Therapieverlauf
▶▶ Verhaltenstests liefern eine unmittelbare Rückmeldung sowie Informationen für die ▶▶ Fragebogen zur Evaluation von
Fallkonzeption, Behandlungsplanung und Ergebnisevaluation. Therapieverläufen (Lutz & Böhnke 2008)
▶▶ Gerade für Angststörungen bieten sich Verhaltenstests an, da sie über angstauslösende ▶▶ Stundenbogen für die Allgemeine und
Reize, automatisierte Sicherheitsverhaltensweisen, Kognitionen und körperliche Angstsym- Differentielle Einzelpsychotherapie
ptome informieren. Erhoben werden z. B. der Abstand zur Spinne in cm oder m, Anzahl der (STEP) (Krampen 2002)
Etagen, die mit dem Fahrstuhl gefahren werden, oder die Teilschritte bis zum Erreichen ▶▶ Bonner Fragebogen für Therapie und
eines vorher festgelegten Ziels (Angsthierarchie). Beratung (BFTB) (Fuchs et al. 2003)
▶▶ Ängstliches Vermeidungsverhalten kann insbesondere mit dem Behavioral Avoidance Test ▶▶ Stations-Erfahrungsbogen (SEB) zur
(BAT; Craske, Barlow & Meadows 2000) erfasst werden: Hier werden Angstsymptome wie Erfassung des Verlaufs stationärer
Atemlosigkeit, Herzklopfen oder Schwindel z. B. durch Hyperventilation, wiederholtes schnelles Psychotherapie
Drehen auf einem Drehstuhl oder durch das Einatmen durch einen Strohhalm provoziert. (Sammet & Schauenburg 1999)
▶▶ Besonderes Augenmerk muss auf die Gültigkeit des Tests für das Alltagsgeschehen des Compliance, Mitarbeit
Befragten gelegt werden; daher sind Verhaltenstests i. d. R. hochindividualisiert. ▶▶ Pünktlichkeit, Regelmäßigkeit der
▶▶ Verhaltenstests ersetzen keine Techniken zur Verhaltensmodifikation wie Konfrontations- Termine, Hausaufgaben ect.
basierte Interventionen oder Verhaltensexperimente.
34
Psychotherapie im Dialog 2• 2015
Heruntergeladen von: Evangelisches Bildungszentrum für Gesundheitsberufe Stuttgart gGmbH. Urheberrechtlich geschützt.
Angstsensitivitätsindex (ASI-3) somatische, soziale und kognitive Bedenken bezüglich Angsterleben
Cross-D Angststörungsübergreifend ist im Zuge der Revision des DSM eine Skala entwickelt worden, die die Häufigkeit und
Intensität physiologischer, kognitiver und behavioraler Symptome erfasst.
35