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„ „ VO LKMAR A DERHO LD  | HAMB URG

Das Un-Wesen
­psychischer Krankheiten
Über den aktuellen Zerfall von
­Krankheitskonstruktionen und
den phänomenalen Nutzen der
Übersicht:  In dem vorliegenden Bei­
trag wird zunächst aufgezeigt, welche ­Konstruktionslücke
Fehlentwicklungen in der psychiatri­
schen Diagnosestellung zu verzeichnen
sind. Die mit den Versionen der Dia­
gnosemanuale fortschreitende De-Kon­
textualisierung psychischer Störungen
DOI 10.21706/fd-42-2-112
zieht eine Biologisierung der Psychiatrie
nach sich, die letzten Endes eher der
Pharmaindustrie als den PatientInnen Was »sind« psychi- neurobiologische und biologische Aus­
dient. Die Befundlage der biologischen gangslagen noch Kontextfaktoren noch
Psychiatrie ist dabei alles andere als er­ sche Erkrankungen? kulturelle Bedingungen oder interakti­
mutigend, gerade weil die diagnosti­ ­Zweifel an der Vali­ onelle Faktoren. Die Phänomene ver­
schen Kategorien zu wenig valide sind. lieren ihren Reaktionscharakter und
Das neue System der Research Domain dität psychiatrischer werden so vereigenschaftlicht. Erkran­
Criteria (RDoC), was von funktionellen ­Diagnosen kungen »brechen aus« oder »exa­
neuronalen Teilsystemen des gesunden zerbieren« gemäß einer vermeint­
Gehirns ausgeht, könnte die Neurobio­ lich biologischen Gesetzmäßigkeit. Als
logie weiterbringen. Ob dies gelingt, ist Psychische Erkrankungen und ihre di­ psychisch krank bezeichnete Men­
nicht absehbar. agnostische Einteilung sind eine gesell­ schen werden in der Folge verdinglich­

»
Klinische Diagnosen dagegen sollten in schaftliche und fach-gesellschaftliche ter wahrgenommen und behandelt.
erster Linie dem Verstehen und der Ver­ Konstruktion. Die Symp­
ständigung dienen. Da sie grundsätzlich tome, die als Kriterien für
Ergebnis eines sozialen Konstruktions­ die Klassifikation dienen, Durch Diagnosen verlieren
prozesses sind, sollte ein dialogisches sind als Phänomene di­
Phänomene ihren Reaktions­
Ko-Konstruieren mit den bedeutungs­ mensional in einer Popula­
vollen Anderen in der sozialen Welt des tion ­verteilt, d. h. die Gren­ charakter und werden ver­
Betroffenen im Zentrum stehen. Not­ ze zwischen Normbereich eigenschaftlicht
wendig und unhintergehbar ist dabei (›Nor­­malität‹) und Ab­
eine innere und äußere Polyphonie die­ weichung (›psychische Er­
ser Wirklichkeitskonstruktionen. Psych­ krankung‹) ist eine willkürliche, auf Psychische Erkrankungen zu defi­
iatrisches Expertenwissen ist Teil dieser Konventionen beruhende Setzung. Di­ nieren wird in modernen Gesellschaf­
Polyphonie. agnosen geben also psychischen Phä­ ten an Expertinnen und Experten dele­
nomenen, die außerhalb einer statis­ giert. Symptomzentrierte Diagnosen
Schlüsselwörter:  Psychiatrische Dia­ tischen Norm liegen, eine scheinbar sind Ergebnisse eines Rituals, das als
gnosen, ICD, DSM, Komorbidität, kategoriale Ordnung, werden jedoch notwendig angesehen wird, um als me­
­De-­­Kontextualisierung, Biologisierung, allein durch das Clustern von Phäno­ dizinische Fachdisziplin anerkannt zu
Research Domain Criteria (RDoC), Dia­ menen hergestellt und gestellt. Diese werden. Und so nehmen Psychiaterin­
gnostik als dialogischer Prozess, Poly­ Cluster berücksichtigen keinerlei Ursa­ nen und Psychiater einen mehr oder
phonie chen, gleich welcher Art, also weder

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weniger ebenbürtigen Rang neben diglich ein Mindestmaß an diagnosti­ Heterogenität innerhalb der Syndro­
­ihren medizinischen Kolleginnen und schen Kriterien für die Diagnose erfüllt me. Dies wird als beabsichtigte und
Kollegen ein. Und auf diese Weise be­ sein muss; unscharfe Abgrenzung vorteilhafte ›Ätiologieunabhängigkeit‹
halten sie auch weitgehend die Kont­ ­zwischen Zusatzsymptomen und ko­ dargestellt.
rolle über ein Fachgebiet, für das auch morbiden Störungen; Nichtberücksich­ Daher hat Thomas Insel, seinerzeit
andere Disziplinen, allen voran die tigung von Ausschlusskriterien; Ein­ Direktor des National Institute of Mental
Psychologie, »Herrschaftsanspruch« er­ bezug sukzessiv (Längsschnitt) und Health (NIMH), bereits zwei Wochen
­­­heben könnten. simultan (Querschnitt) auftretender vor der Veröffentlichung des DSM-5
Ein großes Ziel des ICD-10 und Symptome. Der so entstehende Ein­ angekündigt, dass das NIMH dem Ma­
DSM-IV und ihrer Weiterentwicklung druck, dass es hohe Raten an »Komor­ nual die Unterstützung entziehe und
war es Mitte der 1990er Jahre, die Dia­ biditäten« gebe, steht im Widerspruch keine Forschung finanzieren werde,
gnosepraxis international und v. a. dazu, dass die Diagnosen keinesfalls die ausschließlich auf DSM-5-Diagno­
zwischen wissenschaftlichen Studien eigenständige Grunderkrankungen ab­ sen beruhe. Er begründete dies mit der

»
vergleichbar zu machen. Das führte bilden. mangelhaften Validität des DSM-5 und
zwar national und interna­
tional zu ­ einer besseren
­Zuverlässigkeit (Reliabili­ Die schon früher bemängelte Beobachterabhängigkeit
tät) von Diagnosen in wis­
senschaftlichen klinischen der Diagnosen wurde durch das DSM-5 nicht reduziert,
Studien. In Feld­studien zur sondern nur stärker verschleiert
Verwendung des DSM-5 in
der Alltagspraxis war die
Reliabilität der Diagnosen jedoch Eine reine Querschnittsbetrachtung des darin enthaltenen Sammelsuriums
durchgängig schwach, oftmals nicht der Symptomatik führt außerdem an Symptombeschreibungen. Die Pati­
besser als mit den alten Diagnosesyste­ zu häufigen Diagnosewechseln, wenn entinnen und Patienten hätten etwas
men (Freedman et al., 2013). Die Fort­ Symptome hinzutreten oder wegfallen Besseres verdient. Er verglich diese Art
entwicklung der Diagnostischen Ma­ oder sich auch nur der Bericht der Pati­ psychiatrischer Diagnosestellung mit
nuale ging sogar mit gravierenden entinnen und Patienten über die Symp­ einer Praxis in der Somatik, bei der Be­
Fehlentwicklungen einher, wie im Fol­ tome ändert. schreibungen unterschiedlicher Arten
genden ausgeführt wird. Die schon früher bemängelte Beob- von Brustschmerz ohne eine Zuord­
Kulturelle Differenzen wurden durch achterabhängigkeit der Diagnosen wur­ nung zu den Ursachen als ausreichen­
die Diagnose-Manuale nivelliert. Dass de also nicht reduziert, sondern durch de Diagnosen verwendet würden (In­
indigene Sichtweisen und Erklärungen die scheinbar gewachsene Objektivität sel, 2013).
verdrängt wurden und sich die Phar­ nur stärker verschleiert. Sie wird unter Die Veränderungen der diagnos­
maindustrie weitere Märkte erschlie­ Umständen noch verstärkt durch man­ tischen Kategorien und der Kriterien
ßen konnte, wird als Kolonisierung gelhafte psychopathologische Kom­ innerhalb der Cluster sind, über die
­gewertet, die für die Bevölkerung der petenz, subjektive Vorlieben, Gegen­ verschiedenen Versionen der Diagno­
neu »erschlossenen« Länder oftmals übertragungsphänomene, aber auch se-Manuale hinweg, groß. Auch der
mehr Nachteile als Vorteile hervor­ strategische Überlegungen. Hierunter Versuch des DSM-5, Diagnosen neu zu
bringt (Summerfield et al., 2008; Wat­ fallen sowohl das betrügerische ›up­ ordnen, macht dies erneut deutlich.
ters, 2009). graden‹ aus ökonomischem Interesse Die Diagnose Schizophrenie zeigt
»Komorbidität« wird suggeriert, in­ als auch das ›downgraden‹ zur Stig­ma- besonders deutlich, wie willkürlich
dem frühere, sinnvolle Regeln des Minimierung. Diagnosen dienen auch die Ordnungsversuche der Diagnose-­
Diagnostizierens außer Kraft gesetzt
­ dazu, psychiatrische Leistungen abzu­ Manuale sind. Historisch liegt z. B. die
wurden. Zu den Fehlentwicklungen
­ rechnen. Was die Validität der Diagno­ Schnittmenge der verwendeten Symp­
gehören: die Abkehr von der Hierar­ sen betrifft, so zeigen sich Leistungsträ­ tomcluster für Schizophrenie seit ihrer
chie- und Schichtenregel bei Über­ ger weitgehend unbekümmert. Erfindung durch Bleuler (1911) bis
lappung diagnostischer Kategorien; Mit der Einführung des DSM-5 ging 1984 bei 27 %, d. h. über 70 % der Men­
falsche Interpretation diagnostischer die strukturelle Validität der diagnosti­ schen, die in einem System so definiert
Begriffe aufgrund fehlender oder un­ schen Konstrukte noch weiter verloren. werden, würden in einem anderen Dia­
präziser Definitionen; der sogenannte Was sich als eigenständige Krankheits­ gnose-System diese Diagnose nicht er­
polythetische Ansatz, demgemäß le­ kategorie eigentlich hinter einem Clus­ halten (Katschnig, 1984). Für Betroffe­
ter verbirgt, bleibt unzugänglich oder
verliert sich in der weiterhin großen

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ne ist jedoch von lebensgeschichtlich zu siebenstelligen jährlichen Honora­ In Deutschland werden nichtsdesto­
entscheidender Bedeutung, ob sie diese ren. Viele machen geltend, sie seien trotz immer häufiger SSRI bei depres­
Diagnose erhalten oder nicht. ­unbeeinflussbar, da sie Honorare von siven Syndromen verschrieben, ohne
Mit dem DSM-5 wurden auch die mehreren Firmen bezögen. dass z. B. jemals eine verkürzte Ar­
Untergruppen der Schizophrenie nach Die meisten Cluster, die psychische beitsunfähigkeit nach Pharmakothera­
Bleuler (1911) – hebephren, kataton, Abweichung bezeichnen, unterliegen pie bei den Krankenkassen zu ver­
paranoid und undifferenziert – wegen kulturellen Normen und werden seit zeichnen war. Dies ist ein Beispiel
geringer Stabilität, Reliabilität und Jahrzehnten von den Vermarktungs­ dafür, wie de-kontextualisierende dia­
prognostischer Relevanz abgeschafft.
­ interessen der Pharmaindustrie beein­ gnostische Kategorien einen direkten
Ebenso werden die Symptome 1. Ran­ flusst. So sorgten z. B. Initiativen der und schwer korrigierbaren Weg in die
ges von Kurt Schneider nicht mehr als Pharmaindustrie in Japan dafür, dass Pharmakotherapie ebnen und – im In­
Kriterien angewendet. Schneider hatte zuvor als nicht krankhaft erlebte leich­ teresse der Pharmaindustrie – auch eb­
diese ursprünglich (1938) zwar nur tere Depressionen nach der Einfüh­ nen sollen.
heuristisch angenommen, sie galten rung der Antidepressiva vom Typ SSRI Geradezu irreführend ist auch
jedoch über Jahrzehnte als »patho­
­ für die Verordnung der SSRI zugäng­ folgende Therapieempfehlung: Die
­
gnomonisch«, d. h. für eine sichere Dia­ lich wurden. Dass bei leichten und aktuelle Versorgungsleitlinie für De­
­
gnosestellung ausreichend. Nach über mittelschweren Syndromen die Anti­
­ pressionen (2016) fasst im Abschnitt
70 Jahren wurden sie nun doch nicht depressiva den Placebos so gut wie ­Pharmakotherapie mittelschwere und
1
empirisch bestätigt. Späte Empirie für nicht überlegen sind (NNT = 10) und schwere Depressionen einfach zu­
eine angeblich evidenzbasierte wissen­ diese Syndrome auch ohne Medikation sammen (S. 66). Bei mittelschweren
schaftliche Diagnostik! remittieren, konnte erst später in Me­ Depressionen, bei denen es kaum
­
Zur Diagnose einer Schizophrenie taanalysen nachgewiesen werden, in­ Wirkvorteile der Pharmakotherapie im
reichen im ICD-10 und wohl auch im dem aufgrund des freedom of informati- Vergleich mit Placebo (NNT = 10) gibt,
kommenden ICD-11 vier Wochen Sym­ on act (US-Congress 2005) auch sollen so offenbar ebenfalls möglichst
ptomdauer aus, im DSM sind es hinge­ unpublizierte Studien mit negativen viele Betroffene »leitliniengerecht« mit
gen sechs Monate. Das ist ein gravie­ Ergebnissen ausgewertet werden Antidepressiva behandeln werden.

› 
render Unterschied, der auch nach drei konnten: Weitere Anstiege der Verschreibun­
Revisionen zwischen den ExpertInnen­ gen gelingen sogar auch mit den
gruppen bestehen bleibt. Dies belegt In einer Metaanalyse, in der Studien Neuroleptika – und das trotz vieler
­
erneut, wie willkürlich Entscheidun­ mit direkten Vergleichen zwischen offe- alarmierender Befunde über ihre
gen getroffen werden – Entscheidun­ ner Psychotherapie und offener Pharmako- schädigenden Nebenwirkungen. Zu­
­
gen, die gleichwohl gravierende Fol­ therapie depressiver Episoden ausgewertet dem zeigen neuere Studien eine deut­
gen für viele Klientinnen und Klienten wurden, fand sich eine signifikante, in Be- lich geringere nachweisbare Wirkung
haben. zug auf die absolute Patientenzahl jedoch mit e­ iner Erhöhung der NNT von frü­
geringe Überlegenheit von Antidepressiva her 3 – 4 auf heute 6.
gegenüber Psychotherapie (NNT = 14) Steigerungen der Medikamenten-
(Cuipers et al., 2015), sodass die Autoren Verordnungen sind ebenfalls bei der
Interessengeleitetes selbst zum Schluss kommen, dass die hier generalisierten Angststörung, dem
Vorgehen identifizierten Unterschiede wohl nicht ADH-Syndrom, der Bipolaren Störung
als klinisch relevant betrachtet werden im Kindes- und Jugendalter zu ver­


Fachgesellschaften berufen sich bei der können.  zeichnen – und demnächst vermutlich
Definition diagnostischer Einheiten (S3 NVL Unipolare Depression,  auch bei Trauerreaktionen, die, halten
zwar auf wissenschaftliche Evidenz. Version 3, 2015, S. 19) sie länger als vier Wochen an, gleich­
Tatsächlich erfolgt die Entscheidungs­ falls als pathologisch gewertet werden,
findung jedoch durch Mehrheitsab­ sodass eine antidepressive Therapie
­
stimmungen – und diese sind inte­ empfohlen wird.
ressengeleitet. Denn die Mehrheit der
Abstimmenden partizipiert an dem 1
NNT: Number needed to treat, dt. Anzahl
­lukrativen Pharmalobbyismus mit bis der notwendigen Behandlungen. Die NNT
ist eine statistische Maßzahl, die angibt, wie
viele Patientinnen und Patienten pro Zeit­
einheit (z. B. ein Jahr) mit der Testsubstanz
oder Testmethode behandelt werden müs­
sen, um das gewünschte Therapieziel zu
erreichen.

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De-Kontextualisierung wie ein Patient mit zu hohem Blutzucker


Insulin braucht. Durch Reden geht das
und Biologisierung Problem nicht weg.
psychischer Phänomene (Falkai, zit. n. Hübener, 2012, S. 18)

Die gute Absicht und der gute Zweck, Angebliche »Nicht-Versteh­


die Diagnosestellung unabhängig von barkeit« von Verhalten
der theoretischen Orientierung des Di­
agnostikers zu machen, hat sich ins Ge­ Je stärker die Gesellschaften, die in­
genteil verkehrt: Mit den Theorien sind ternationale Diagnosen verwenden,
auch die psychosozialen Kontexte aus von den (Post-)Industriegesellschaften
dem Blick geraten. Und obwohl heuti­ abweichen, umso weniger kulturell
ge Diagnosen scheinbar ursachenun­ kompatibel sind diese Diagnosen.
­
abhängig gestellt werden, führt die Zudem entfremden sie von anderen
­
Diagnosestellung oft zu einer impli­
­ gesellschaftlichen/ethnischen Verste­
ziten und expliziten Biologisierung hens- und Handlungskonzepten. Be­
und ›Genetisierung‹ der syndromalen kannt ist diesbezüglich das schamani­
Konstrukte. Beides hat Nachteile. Die sche Konzept eines »initial call«, das
De-Kontextualisierung führt häufig
­ phänomenologisch oftmals einer ers­
dazu, dass die Diagnose für die betrof­ ten psychotischen Episode entspricht,
fenen Menschen ungünstige bzw. die und der Besessenheit von Geistern, die
falschen Konsequenzen hat. Die Biolo­ mit einem Ritual für die Betroffenen
gisierung bahnt zu oft den Weg in pri­ und ihre Familie oder die Dorfgemein­
märe oder sogar ausschließliche Phar­ schaft beantwortet wird.
makotherapie. Nachfolgend gehe ich
auf die Nachteile im Einzelnen ein. Prognose

Primat der Pharmakotherapie Diagnosen erlauben keine auch nur an­


nähernd sichere Prognose. Von Gesun­
Die Biologisierung dient v. a. der Phar­ dung bis Chronifizierung ist meist alles
makologisierung der psychiatrischen möglich. Trotzdem werden Diagnosen
Behandlung. Syndrome werden so de­ oft zu einer selbsterfüllenden Prophe­
finiert, dass sie spezifischen pharma­ zeiung, indem sie eine negative Zu­
kologischen Interventionen zugänglich kunft vorhersagen.
werden.
Scham etwa wird durch die genera­ Stigmatisierung
lisierte Angststörung den Antidepres­
siva zugänglich, »aufsässiges« Verhal­ Diagnosen haben oft stigmatisieren­
ten von Kindern durch die Bipolare den, seltener entlastenden Charakter.
Störung den Antipsychotika, eine län­ Der Versuch, das Ausmaß der Stigmati­
gere Trauerreaktion den Antidepres­ sierung psychischer »Erkrankungen«
siva. Die Gattungsnamen der Psy­cho­ durch ihre Biologisierung zu mindern,
pharmaka suggerieren eine diagno­ ist vermutlich gescheitert. Mit der
sespezifische heilsame Wirkung. Oft gesellschaftlichen Expansion biologi­
­
wird – völlig irreführend – eine Analo­ scher Erklärungsmodelle nimmt die
gie zur Diabetesbehandlung mit Insu­ soziale Stigmatisierung eher zu, nicht

› 
lin hergestellt: ab. Hirnkranke erfahren stärkere sozia­
le Ablehnung als Menschen, die durch
Ein Psychose-Kranker in der akuten negative Lebenserfahrungen in psychi­
Situation hat ein Problem mit dem Ge- sche Krisen geraten sind. Sie scheinen
hirnbotenstoff Dopamin. Diese Menschen uns fremder, in ihren Handlungen
brauchen dann ein Medikament, genauso ­unverständlicher und unkontrollierba­
rer – und sich selbst ebenfalls (Anger­
meyer et al., 2014).

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Placebostudien und Tierforschung schiedlichen Krankheitskategorien zu­ Aktuelle Krise der


legen jedoch die hohe Bedeutung von ordnen, ebenso gibt es kaum geneti­
positiven Erwartungen und Hoffnung sche oder neurobiologische Befunde,
Psychiatrie
für neuroplastische Prozesse auch und die nicht mehreren Kategorien zuge­  »Der Krug geht so lange
gerade unter Psychopharmaka nahe. ordnet werden können. Psychische  zum Brunnen, bis er …«
Psychopharmaka können unter ne­ Phänomene lassen sich also keines­
gativen Erwartungsbedingungen eine wegs durch genetische oder neuro­ Die Psychiatrie hat sich in eine Situa­
ebenfalls negative Wirkung haben biologische Befunde erklären. Beide tion hineinmanövriert, die von großer
­(Nocebo-Effekt, vgl. Rief et al., 2016). Phänomenbereiche sind relativ unab­ Verunsicherung und Instabilität ge­

› 
hängig voneinander: kennzeichnet ist. Das Projekt Neuro-
Biologisierung der Psychiatrie hat bis­
Biologische Looking for the neurochemistry of her keine Ergebnisse von tragfähiger
mental disorders that don’t necessarily Evidenz erbringen können: Diagnos­
­Argumente gegen exist has turned out to be as futile as using tik, Genetik, ursächliche biologische
die Biologisierung a map of the moon to get around Manhat- Mechanismen, kausal wirkende Phar­
tan.« (»Die Suche nach der Neurochemie makotherapie, ausreichende Effekte
Diagnosen lassen sich bis heute nicht von psychischen Störungen, die nicht un- der Pharmakotherapie, Verminderung
durch eindeutige biologische Phäno­ bedingt existieren, hat sich als so sinnlos der Chronifizierungstendenz, wirk­
mene (Biomarker) absichern. Es gibt erwiesen, wie sich mit einer Karte des Mon- same pharmakotherapeutische Früh­


z. B. bis heute – also auch nach 40 Jah­ des in Manhattan zu orientieren.«) interventionen (bis auf Fischöl bei
ren Bildgebung – keine konsistenten (Greenberg, 2013; Übersetzung  ­sogenannten Hochrisiko-Personen für
und verlässlichen anatomischen und von mir, V. A.) Psychosen) gibt es nicht. Nur aus Sym­
funktionellen Veränderungen, die sich ptomen lassen sich keine validen Syn­
eindeutig den klinischen Beobachtun­ Zum biologischen Determinismus ge­ drome ableiten, die durch spezifische
gen bei Menschen mit Schizophrenie- sellt sich oft noch ein mehr oder weni­ neurobiologische Prozesse determi­
Diagnose zuordnen lassen oder die zu ger ausgeprägter genetischer Determi­ niert werden. Andererseits lassen sich
Veränderungen in der Behandlung ge­ nismus hinzu. Dabei ist heute erwiesen, gegenwärtig aus den neurobiologi­
führt hätten (Fusar-Poli et al., 2016, dass Gen-Umwelt-Interaktionen weit schen Befunden keine konsistenten di­
S. 2011). Der Nachweis, dass es sich bei komplexer sind, als es die immer noch agnostischen Klassifikationen ableiten.
der Schizophrenie um eine Erkran­ verbreitete 50/50 %-Zuschreibung zu Diese Lücke soll durch neue basale dia­
kung des Gehirns handelt, konnte also Gen und Umwelt glauben macht. Die gnostische Kriterien geschlossen wer­
bis heute nicht erbracht werden. Grie­ Verheißungen waren vor 20 Jahren den.
singers Diktum »Geisteskrankheiten groß, aber echte therapierelevante Fort­ Als basale Kategorien sollen so­
sind Hirnerkrankungen« sollte drin­ schritte in der Genetik sind bis heute genannte Research Domain Criteria
gend ad acta gelegt werden. Auch für nicht zu verzeichnen. Die Genetiker (RDoC) gelten. Sie stellen den Beginn
Depressionen wurden bis heute keine selbst schreiben die Stagnation in der eines neuen Ordnungssystems für die
brauchbaren neurobiologischen Er­ Forschung der Tatsache zu, dass bis Grundlagenwissenschaft dar. Dieses
klärungen gefunden. Die »chemical heute keine validen und ausreichend System ist vollkommen unbeeinflusst
imbalance«-Theorie ist mittlerweile ob­ homogenen diagnostischen Konstruk­ von bestehenden diagnostischen Kate­
solet. Auch wenn sich neurobiologi­ te existieren, d. h. auch innerhalb einer gorien, stattdessen geht es von den
sche Substrate vereinzelt finden lassen, diagnostischen Kategorie die Hetero­ neuronalen Systemen des gesunden
sind sie fast immer nur ein Zwischen­ genität zu groß ist. Die genetischen De­ Gehirns aus. Die RDoC sind:
glied in einer langen Transmissions­ terminanten werden bei Menschen mit
kette mit unklarem Beginn. So ist z. B. »Schizophrenie-Diagnose« heute in in­ „„ negatives Valenz-System (aversive
regional erhöhtes Dopamin bei psy­ dividuell unterschiedlichen polygene­ Motivation/Angst),
chotischen Phänomenen sicher nicht tischen Clustern und einzelnen nukleo­ „„ positives Valenz-System,
die »Ursache« von Psychosen. tid Polymorphismen (SNP) vermutet, „„ kognitives System,
Viele psychische Phänomene lassen die jedoch jeweils nur minimale Effekt­ „„ System für soziale Prozesse,
sich als Symptome mehreren unter­ stärken aufweisen. Genetische sowie „„ arousal/regulatorisches System.
neurobiologische Befunde treffen ent­
weder auf mehrere diagnostische Kate­
gorien oder nur auf Subsyndrome zu.
Andere diagnostische Kategorien sind
nicht in Sicht.

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Den RDoC werden dann genetische, tierung, soziale Notlagen, soziale werden, man wird keine Ursachen,
bildgebende, physiologische und kog­ Ablehnung und Niederlagen, Bullying, sondern allenfalls Begleitumstände,
­
nitive Daten zugeordnet, um weitere Diskriminierung, Migration, Cannabis. neu­­­ronale Korrelate oder Bindeglieder
Erkenntnisse aus dieser Zusammen­ Diese dekonstruktive Darstellung in den Entstehungsmechanismen psy­
schau zu gewinnen. Diese Daten wer­ von »invaliden« Krankheitskonstruk­ chischer Phänomene als Ausdruck le­
den jedoch nicht mehr durch Dia­ tionen soll ermutigen. Das brüchige bendiger Selbstorganisation finden.
gnosen abgegrenzt bzw. ausgegrenzt. Gebäude psychischer Erkrankungen Nimmt man die immer komplexe­
Diese Cluster sollen dann mit Sympto­ wird nur noch notdürftig von ei­ ren und immer stärker sozial deter­
men und Behandlungseffekten in Be­ nem Gerüst aus diagnostischen und miniert erscheinenden neurowissen­
ziehung gesetzt werden. Dieses Projekt ­pharmakologischen Gewohnheiten schaftlichen Befunde zu Bewusstsein,
wird viele Jahre bis Jahrzehnte dauern. stabi­
lisiert. Dieser Psychiatrie sollte Selbst- und Wirklichkeitserleben ernst,
Ob es erfolgreich sein wird, ist unklar. man unverfroren(er) gegenübertreten. wird man in den Erwartungen sehr viel
Schon jetzt werden von namhaften Längst hat der Kaiser keine Kleider bescheidener und vorsichtiger. Offen­
Wissenschaftlern erhebliche Zweifel mehr an. Psychotherapeutisches Han­ sichtlich sind wir nicht mit subjektiv
geäußert (z. B. Fava, 2014). Das NIMH deln sollte sich keinesfalls mehr an erlebten Wirklichkeiten, sondern nur
hingegen ist begeistert. Im Prinzip diese Krankheits- und Diagnosekonst­ mit inneren repräsentierenden Struk­
­können die Wissenschaftlerinnen und rukte binden und binden lassen. turen für die Welt und unser Selbst im
Wissenschaftler so weitermachen wie Im Grunde genommen macht die Kontakt. Einen direkten Kontakt durch
­bisher, lediglich werden die Befunde Neurobiologie mit der Entwicklung Sinneswahrnehmungen mit einer Au­
ver­­feinert und man ordnet diese ein­ der oben beschriebenen RDoC vor, ßenwelt haben wir jedoch nicht. Es
ander anders zu. dass ein anderes Ordnungssystem ­erscheint uns nur so durch sogenann­
Das Gehirn aber ist ein soziales Or­ möglich ist – ein Ordnungssystem, das te phänomenale Repräsentationen im
gan, das durch solche Konzepte nicht sich am gesunden Hirn orientiert und Sinne eines naiven Realismus (Metzin­
zu fassen ist. Soziale Erfahrungen sind neue Verstehensansätze eröffnet. Auch ger, 2013).
weitgehend bestimmend für kognitive, im psycho-sozial-spirituellen Phäno­ Die RDoC sind also eine Anstren­
affektive und relationale Lern- und menbereich brauchen wir sinnvolle, gung mit offenem Ausgang, die wohl
Entwicklungsprozesse. Im Hinblick Orientierung gebende Verstehensan­ recht sicher zehn Jahre und länger in
auf die Ausprägung von normab­ sätze, die wir ja schon haben und die es Anspruch nehmen wird. Es ist nicht zu
weichenden psychischen Phänomenen weiterzuentwickeln gilt. Es wäre an erwarten, dass die gegenwärtigen Dia­
sind weitere negative soziale Ereignis­ der Zeit, dass sie aus ihrem Schatten­ gnosesysteme bis dahin aufgegeben
se und Prozesse von entscheidender dasein treten und die Lücken, die heu­ werden. Daher muss man einen strate­
Bedeutung. Wie auch immer die ererb­ tige Diagnosemanuale bisher hinter­ gischen Umgang mit ihnen finden, sie
te genetische Disposition sich darstellt, lassen oder hergestellt haben, durch jedoch nicht allzu ernst nehmen. Dies
sie ist vermutlich nie hinreichend, um ihre verstehende und auch erklärende lässt sich in der Regel mit den Betroffe­
erhebliche normabweichende Syndro­ Potenz schließen. nen gut besprechen. Oft ist es sinnvoll,
me zu determinieren. Es ist vermutlich sie selbst zu fragen, welchen Umgang
eher umgekehrt: Bereits sehr frühe sie sich mit Diagnosen wünschen.
soziale Erfahrungen scheinen die
­ Diagnosen als Klinische Diagnosen sollten dem
­Genom-Funktion, z. B. durch DNA-­ Verstehen und der Verständigung die­
Methylierung, rückwirkend zu mo­ ­dia­logische De- und nen. Da sie grundsätzlich Zuschrei­
dulieren. ­Re-Konstruktion bungen darstellen und eine starke
Für Psychosen wurden z. B. die ­Tendenz zur Identifikation, Verdingli­
­folgenden sozialen Faktoren ermittelt Diagnosen bleiben auch weiterhin his­ chung, zur potenziellen Selbstentfrem­
und bereits repliziert: biologische und torisch geprägte, d. h. Übergangsphä­ dung oder auch Zurückweisung sowie
psychische Schwangerschaftskompli­ nomene. Daran ändert selbst der Um­ Aufrechterhaltung dieser Zuschrei­
kationen, Geburtskomplikationen, frü­ stand nichts, dass neurobiologisch bung durch institutionelle, soziale und
he Verlusterfahrungen, frühe instabile orientierte Wissenschaftlerinnen und individuelle adaptive Prozesse in Gang
Umwelten, elterliche Konflikte, sexu­ Wissenschaftler neue Systeme in der setzen können, ist Vorsicht geboten.
elle, physische und emotionale Trau­ Erwartung konstruieren, mit ihnen Dadurch, dass vielfältige belastende,
matisierungen, Vernachlässigung, Auf­ als abweichend definierte psychische pathogene, traumatisierende soziale
wachsen in Städten, soziale Fragmen­ Phänomene später erklären zu können. Prozesse personal verortet und so ver­
Man darf gespannt und begründet eigenschaftlicht werden, führen Diag­
skeptisch sein: Wie auch immer die
Befunde korreliert und kategorisiert
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nosen weiterhin zu einer hauptsächlich struktion von Wirklichkeiten gerecht che und den gegenwärtigen Denkmus­
individuellen Attribuierung der be­ zu werden. tern von Psychologie und Psychiatrie
dingenden sozialen, kulturellen, ge­ Jede psychiatrische Diagnose ist Er­ gestellt. Der Konstruktionsprozess
sellschaftlichen und ökonomischen gebnis eines sozialen Konstruktions­ dieser Diagnosen bezieht seine Berech­

»
Faktoren. Menschen neigen dazu, prozesses, der nicht physikalische, tigung aus seiner therapeutischen
Fremdzuschreibungen in ihr eigenes nicht einmal biologische,
Selbstbild zu übernehmen und sich sondern psychische und
demgemäß zu verhalten (Wiesner, Ep­ soziale Phänomene inter­ Verstehen gelingt nur durch
stein & Duda, 2015; Hacking, 2006). subjektiv konstruiert. Die
Wichtig und eine große Chance für Be­ Kontext­ und Beobachterab­
Individualisierung und
troffene wäre es deshalb, psychische hängigkeit psychischer Phä­ nicht durch Klassifizierung
Phänomene durchgängig auf ihren re­ nomene ist insofern konse­ und Kategorisierung
lationalen Charakter hin zu untersu­ quent zu berücksichtigen.
chen. Sie sind fast immer Ausdruck ei­ Alles ist immer nur von ei­
nes Beziehungsgeschehens. Aber auch nem bestimmten Beobachter gesagt Funktion. Im besten Falle führt der dia­
diese Betrachtungsweise wäre noch zu und gilt nur in den untersuchten Kon­ gnostische Prozess zum Gefühl des
schwach, um der intersubjektiven Kon­ texten. Diagnosen werden in der Spra­ Verstanden­Werdens und Sich­selbst­
Verstehens, im schlechtesten Falle zum
Gefühl der Stigmatisierung und Dis­
kriminierung.
WERKZEUGKASTEN Für das therapeutische Handeln
sollten Benennungen von abweichend
„ Vergegenwärtige dir, dass Diagnosen immer nur historisch vorübergehende
erlebten oder definierten psychischen
Konstruktionen darstellen.
Phänomenen hilfreich und nicht behin­
„ Diagnosen sind sprachliche Konventionen, die scheinbare Wirklichkeiten mit
dernd oder sogar destruktiv sein bzw.
all ihren Missverständlichkeiten zwischen Menschen erschaffen.
wirken. Damit sind an Diagnosen
„ So stellen sich Diagnosen schnell verzerrend zwischen dich und den Klien­
andere Anforderungen zu stellen. Sie
ten/die Klientin.
sollten sich ihres historischen Über­
„ Nimm die aktuellen Diagnosen des ICD­10 und DSM­5 nicht allzu ernst.
gangscharakters bewusst sein und da­
Sie gelten schon heute als überholt.
mit nicht als wahr, sondern im besten
„ Fasse Diagnosen weder als Ding an sich noch als persönliche Eigenschaft
Falle als nützlich aufgefasst werden.
deiner PatientInnen auf.
Sie sollten dem individuellen und in­
„ Wenn du von »Komorbiditäten« sprichst, bedenke, dass die einzelnen
tersubjektiven Verstehen und Verstan­
Diagnosen keinesfalls eigenständige Grunderkrankungen bezeichnen.
den­Werden dienen, wobei der Andere
„ Versuche zu verstehen, welche vielfältigen belastenden, pathogenen, trau­
nicht allein der professionelle Andere
matisierenden sozialen Prozesse als auch weitere soziale, kulturelle, gesell­
ist, sondern auch die lebensweltlich be­
schaftliche und ökonomische Faktoren zur Entstehung einer psychischen
deutsamen Anderen einzubeziehen
Krise beigetragen haben könnten. Kurz: Beachte Ätiologie und Kontext!
sind. Der Einzelne sollte als soziales
„ Verwende im therapeutischen Handeln nur solche Benennungen von als ab­
Individuum in einem Kontext ver­
weichend erlebten oder definierten psychischen Phänomenen, die hilfreich
standen werden, der die subjektiven
und nützlich sind.
Wirklichkeiten und das Selbsterleben
„ Bedenke, dass Diagnosen zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden
ko­konstruiert. Diese Betrachtungs­
können. Menschen neigen dazu, sich mit ihnen zu sehr zu identifizieren.
weise wird durch das Addieren von
„ Stelle Diagnosen in den Dienst des Verstehens und Verstanden­Werdens,
Symptomen, die teilweise und zeitwei­
und beziehe lebensweltlich bedeutsame Andere mit ein.
se vorhanden sein müssen, unmöglich
„ Führe Dialoge über Diagnosen, und finde im diagnostischen Prozess gemein­
gemacht. Verstehen gelingt nur durch
sam mit den bedeutungsvollen Anderen Sinn und Bedeutung in der sozialen
Individualisierung und nicht durch
Welt des Betroffenen – statt professionell zu extrahieren und zu abstrahieren.
Klassifizierung und Kategorisierung.
„ Erlaube dir, auch Diagnosen als eine fortlaufende gemeinsame Konstruktion
Am Anfang des diagnostischen Pro­
in einem dialogischen Prozess der Verständigung aufzufassen und zu ver­
zesses steht die individuelle Beschrei­
wenden.
bung. Diese jedoch ist ein dialogisches
„ Verstehe neurobiologische Konstruktionen als grundsätzlich anderen Zugang
zu psychischen Phänomenen. Sie können dazu beitragen, psychische Phäno­
mene zu erklären. Halte sie jedoch nicht für die Ursachen.

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dynamik
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AU TORE NE X E M P LA R – NUR Z UR P E RSÖ NLICHE N VE RW E NDUN G

Geschehen, bezieht also immer den 10. Begründungen und Bedingtheiten, of biological psychiatry has not been
Anderen mit ein, verändert sich durch 11. intersubjektive Bedeutungen, very encouraging. The new Research
den und die Anderen, allein aufgrund 12. innere Penetranz der Phänomene Domain Criteria (RDoC) system pro­
der Komplexität. Die infrage stehen­ (Wie stark habe ich sie? Bin ich sie?). ceeding on the basis of functional neu­
den psychischen und sozialen Phäno­ ronal part-systems in the healthy brain
mene sind unscharf, vage, vieldeutig. Psychische Krisen werden so in die may represent an advance in neurobio­
Diese Intersubjektivierung und das di­ Identität und das biografische Selbst­ logy. In the near future there is little
alogische Ko-Konstruieren in einem di­ verständnis re-kontextualisiert. Diag­ hope of establishing whether or not
agnostischen Prozess mit den bedeu­ nosen werden dann Teil von Narrati­ this is so.
tungsvollen Anderen in der sozialen ven, eher im Sinne von Sprachbildern Clinical diagnoses, by contrast,
Welt des Betroffenen sollten statt pro­ (Metaphern) statt fixer Kategorien. should primarily serve understanding
fessioneller Extraktion und Abstrak­ Diese Konstruktionen sollten pro­ and communication. As in fundamen­
tion im Vordergrund stehen. Not­ zessoffen und hermeneutisch vielfältig tal terms they are the outcome of a soci­
wendig und unhintergehbar ist dabei und unabschließbar sein, um eine un­ al construction process, their chief con­
eine innere und äußere Polyphonie angemessene Identifikation mit einer cern should be co-construction based
dieser Wirklichkeitskonstruktionen. Konstruktion zu vermeiden. Vermut­ on dialogue with the Significant Others
Jeder sieht notwendig nur einen/seinen lich ließen sich durch ein solches Vor­ in the social world of the patient in
Teil, der andere sieht es notwendig an­ gehen viele Syndrome bereits im Pro­ question. Necessary and irreducible is
ders als wir, und wir sehen es meist un­ zess der Verständigung nach Monaten the internal and external polyphony of
terschiedlich zu unterschiedlichen Zei­ abschwächen oder weitgehend wieder these reality constructions. Expert psy­
ten oder sogar auch zur selben Zeit. auflösen. chiatric knowledge is part of that poly­
Psychiatrisches Expertenwissen ist Teil Ob ein solcher verstehender, dialo­ phony.
dieser Polyphonie. Der diagnostische gischer, intersubjektiver Prozess An­
Konstruktionsprozess wäre dement­ schluss finden könnte an die neuro­ Keywords: psychiatric diagnoses, ICD,
sprechend Teil der natürlichen Lebens­ biologischen Konstruktionen, bleibt DSM, co-morbidity, decontextualisa­
welt, vielperspektivisch und vieldi­ abzuwarten. Beide bleiben zwar grund­ tion, biologisation, Research Domain
mensional. Im dialogischen Prozess sätzlich unterschiedliche Zugänge mit Criteria (RDoC), diagnosis as a dialogic
wäre dann Diagnostik und Therapie unterschiedlichen Reichweiten. In An­ process, polyphony
kaum mehr zu trennen. Prototyp eines erkennung des jeweils anderen haben
dialogisch-diagnostisch-therapeuti­ sowohl erklärende wie verstehende
ÎÎ Bibliografie
schen Prozesses wären Netzwerkge­ Zu­­gänge auch auf unabsehbare Dauer
spräche der wichtigsten Protagonisten. ihre Berechtigung. Damit könnte sich Angermeyer, M. C., Millier, A., Kouki, M.,
In ihnen kommen vor: die aktuelle Psychiatrie wieder heraus­ Refaï, T., Schomerus, G., & Toumi, M.
trauen in ein mehr suchendes, in ethi­ (2014). Biogenetic explanations and emo­
tional reactions to people with schizo­
1. subjektive und intersubjektive Phä­ scher Weise auch experimentelles Vor­
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eher vage und mehrdeutig, Cuijpers, P., & Cristea, I. A. (2015). What if a
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4. Entwicklungsgeschichte, Entwick­
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lungsbedingungen, The Non-Entity of Psychic Disorders – On
DOI 10.1002/wps.20249.
5. Rekonstruktion von Sinn und Be­ the Present Disintegration of Illness Con­ Fava, G. A. (2014). Road to nowhere. World
deutung von bedeutsamen Lebens­ structions and the Phenomenal Perks of the Psychiatry, 13, 49 – 50.
erfahrungen/-ereignissen, Construction Gap DOI 10.1002/wps.20108.
6. Auswirkungen im Alltag und Le­ The article begins by indicating misde­ Freedman, R., Lewis, D. A., Michels, R., Pine,
bensumfeld, velopments in psychiatric diagnosis. D. S., Schultz, S. K., Tamminga, C., Gab­
7. Prozesshaftigkeit der Phänomene, The progressive decontextualisation of bard, G. O., Gau, S. S., Javitt, D. C., Oquen­
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lichen Adaptationsfähigkeit von In­ lysis benefits the pharmaceutical in­ DOI 10.1176/appi.ajp.2012.12091189.
dividuen und Systemen, dustry more than the patients. Because
9. Ressourcen, the diagnostic categories are not suf­
ficiently valid, the diagnostic showing

Familien
dynamik
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