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Fortbildung -- Schwerpunkt

Verdacht auf Demenz: So gelingt


die Früh- und Differenzialdiagnose
Von der Anamnese bis zur bildgebenden Diagnostik  -- Autor: A. H. Jacobs

Wie ist eine Demenz definiert? Wie wird der Verdacht abgeklärt? Macht das bereits bei den
ersten Anzeichen Sinn und warum? Diese und weitere Fragen, z. B. zur Einwilligungsfähigkeit der
Betroffenen und Aufklärung über die Fahrtauglichkeit, beantwortet der folgende Beitrag.
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Prof. Dr. med.


Andreas H. Jacobs
Klinik für Geriatrie Mit zunehmendem Lebensalter nehmen Mobilität tive Erkrankungen die funktionelle Eigenständigkeit
mit Neurologie, und Kognition ab. Neben dem Schlaganfall spielen und Lebensqualität im Alter bis hin zur Pflegebe-
Alterstraumato­
logisches Zentrum neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer- dürftigkeit.
(ATZ) und Alters­ Demenz (AD) und Parkinson-Syndrome die füh­
medizinisches Zen­
rende Rolle bei der Entwicklung motorischer und Was ist eine Demenz?
trum (AMZ),
Johanniter Kliniken kognitiver Einschränkungen im Alter. Somit gefähr- Nach der S3-Leitlinie 2016 [1] bezeichnet der Begriff
Bonn (JKB) den vor allem zerebrovaskuläre und neurodegenera- Demenz ein klinisches Syndrom mit länger als 6 Mo-

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FORTBILDUNG -- SCHWERPUNKT

nate bestehender und dabei progredienter Störung gemäß Leitlinie einen vergleichbaren Stellenwert
höherer kortikaler Funktionen wie wie z. B. die Diagnostik von Krebserkrankungen in
–Orientierung,
der Onkologie. Sie dient dazu, den Erkrankten und
–Auffassung
und Denken, seine Angehörigen über Symptomatik, Ätiologie,
–Gedächtnis
und Lernfähigkeit, Therapie, Prognose und präventive Maßnahmen
–Sprache
und Sprechen, aufzuklären. Damit sollen bei dem dynamischen
–Rechnen,
und progredienten Krankheitsprozess Möglich­
–Urteilsvermögen
im Sinne der Fähigkeit keiten der Funktionserhaltung ausgeschöpft und ein
zur Entscheidung. Hinausschieben von Pflegebedürftigkeit erreicht
werden.

90% Die kognitiven Einschränkungen beeinträchtigen


die Alltagsfunktionen (ADL). Ein Delir oder eine an-
dere psychische Erkrankung (z. B. Depression) liegen
Darüber hinaus soll bei nicht-degenerativen und
nicht-vaskulären Ursachen eines Demenzsyndroms
(Tab. 1) frühzeitig eine gezielte therapeutische Inter-
der Demenzerkrankungen
sind auf Neurodegene­ nicht vor. Es müssen mindestens zwei der folgenden vention erfolgen.
ration und vaskuläre Bereiche beeinträchtigt sein: Bei der Durchführung von diagnostischen Maßnah-
Alterung zurückzuführen. –Gedächtnisfunktionen
men ist die Einwilligungsfähigkeit des Patienten zu
–Sprachfunktionen
berücksichtigen. Ggf. muss eine gesetzliche Vertre-
–Räumlich-visuelle
Funktionen tung einbezogen werden, und das Vorliegen einer
–Veränderungen
im Verhalten („Persönlichkeits­ Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung ist zu
veränderungen“) beachten.
–Verstehen
und Durchführen komplexer Auf­ Aufklärung und Beratung ist eine interprofessio­nelle
gaben, Urteilsfähigkeit Aufgabe und umfasst die Erläuterung von Dia­gnose,
Therapiemöglichkeiten, Umgang mit der Erkran-
Wie wird eine Demenz diagnostiziert? kung, Prognose, Hilfe- und Unterstützungsangebo-
Basierend auf den diagnostischen und therapeu­ ten (z. B. Alzheimer-Gesellschaft) sowie Leistungen
tischen Entwicklungen der letzten Jahre hat die der Kranken- und Pflegeversicherung. Da­rüber hi-
frühzeitige Diagnostik von Demenzerkrankungen naus sind die Themen der sozialen Unterstützung,
gesellschaftlichen Teilhabe und von Versorgungs-
leistungen frühzeitig und krankheitsbegleitend zu
bearbeiten. Bei Progredienz der Erkrankung ist der
Welche Demenz-Ursachen müssen bedacht werden? Aufklärungs- und Beratungsprozess kontinuierlich
an die Bedürfnisse des Patienten und seiner Ange-
Das Gehirn altert prinzipiell über zwei Mechanismen:
hörigen anzupassen.
- Neurodegeneration (50–70%; z. B. Alzheimer-Demenz [AD], fronto-temporale In unserer „Mobilitäts-Gesellschaft“ spielt auch die
Lobärdegeneration [FTLD], Lewy-Körperchen-Demenz [LBD]) und Aufklärung über die Fahrtauglichkeit eine beson­
- vaskuläre Alterung (15–25%; z. B. subkortikale arteriosklerotische Enzephalo- dere Rolle. Dabei sollte darauf hingewirkt werden,
pathie [SAE], Multiinfarkt-Syndrom) [1, 2, 7]. dass der Betroffene rechtzeitig aus eigener Einsicht
auf das Fahren verzichtet. Die ärztliche Aufklärung
Beide Mechanismen sind für ca. 90% der Demenzerkrankungen verantwortlich
muss dokumentiert werden.
und können mittels bildgebender Verfahren diagnostiziert werden (Abb. 1). Bei
ca. 10% spielen andere systemische Faktoren ursächlich eine Rolle (entzündlich, Die Grundlage der Demenz-Diagnostik stellt die
metabolisch, neuroendokrin, Medikamenten-/Toxin-induziert, Vitaminmangel, Anamnese und die eingehende neuropsychiatrische
Tumor, Normaldruckhydrozephalus [NPH]) (Tab. 1). Daher ist zu Beginn der Untersuchung dar.
Erkrankung eine breite Labordiagnostik wichtig. Im fortgeschrittenen Lebens­
alter liegt in der Regel ein Mischdemenz vor mit Hinweisen für Neurodegenera­ Anamnese
tion und vaskuläre Veränderungen. Mit der Eigen-, Fremd-, Familien- und Sozialanam-
Pathophysiologisch kommt es bei der AD zu einer charakteristischen Kombination nese finden sich Hinweise für kortikale Funktions-
von extrazellulären Amyloidaggregaten, intrazellulärer Tau-Ablagerung und störungen, die bei neurodegenerativer Ursache lang-
sekundärer Mikrogliaaktivierung, die in Kombination mit mitochondrialer sam progredient sind, sodass Alltagsfunktionen be-
Dysfunktion und oxidativem Stress zum neuronalen Zelluntergang führt. Bei einträchtigt werden. Ein plötzlicher Beginn oder
20–40% der Patienten mit M. Parkinson kommt es nach mehreren Jahren zur eine stufenweise Verschlechterung sprechen für eine
Entwicklung einer Demenz, die als Parkinson-Demenz-Erkrankung (PDD) vaskulären Genese. Anamnestische Parameter, die
bezeichnet wird. Anders verhält sich der zeitliche Verlauf bei der LBD, bei der zur Einschätzung und Wertung kognitiver Ein-
typischerweise Demenz und extrapyramidalmotorische Symptome innerhalb schränkungen im Alter abgefragt werden sollten,
eines Jahres auftreten. Bei der PDD und LBD kommt es zu Alpha-Synuclein- beinhalten soziokulturellen Hintergrund, Ausbil-
Ablagerungen in Form der Lewy-Körperchen, die zur Neurodegeneration führen.
dungsgrad, früheres Leistungsniveau, Sprachkom-
petenz, sensorische Funktionen (Hören, Sehen), all-

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FORTBILDUNG -- SCHWERPUNKT

Tab. 1  Differenzialdiagnose von kognitiven Einschränkungen Bei der Medikamentenanamnese sollten zentral-wirk-
(Häufigkeiten in Klammern) same Medikamente hinsichtlich ihres anticholinergen
1 . Neurodegenerativ (50–70%) Wirkspektrums überprüft und möglichst aus­
schleichend abgesetzt werden (z. B. tri­zyklische Anti-
Alzheimer-Demenz mit frühem Beginn < 65 LJ (EOAD)
depressive, Neuroleptika, Benzodiazepine).
(AD) mit spätem Beginn > 70 LJ (LOAD)
Fronto-temporale Lobärdegeneration (FTLD) Ausführliche internistische, neurologische und
Lewy-Körperchen-Demenz (LBD) psychische Untersuchung
Diese fahndet nach Hinweisen für mögliche
Demenz bei M. Parkinson (PDD)
Demenz­ursachen, u. a. nach
Progressive supranukleäre Parese (PSP) –kardio-
und zerebrovaskulären Erkrankungen
selten: Demenz bei Motoneuronerkrankung –metabolischen
und endokrinologischen Erkran-
Kortikobasale Degeneration (CBD) kungen
2. Zerebrovaskulär (15–25%) –extrapyramidalmotorischen
Auffälligkeiten
–Hinweisen
für einen Normaldruckhydrozephalus
Subkortiale arteriosklerotische Enzephalopathie (SAE)
(Hakim-Trias)
Multiple Schlaganfälle (Multiinfarkt-Syndrom) –Hinweisen
für Delir, Depression, schizophrenes
CADASIL Residuum, Abhängigkeitserkrankungen.
Amyloidangiopathie
Spezifische Diagnostik
Vaskulitiden
Die spezifische Demenz-Diagnostik beinhaltet eine
3. Behandelbar (10%) genaue neuropsychologische Testung, ein breites
Hypo-/Hyperthyreose Labor und eine Bildgebung des Gehirns.
Hypo-/Hyperparathyreoidismus
Hypo-/Hypernatriämie Neuropsychologische Testung
In der weiterführenden neuropsychologischen
Niereninsuffizienz
endokrin – Testung (NPT) werden die kognitiven Defizite
metabolisch – Leberinsuffizienz quantifiziert. Kognitive Kurztests erlauben eine
toxisch Vitamin-Mangel (B1, B6, B12, Folsäure) orien­tierende Einschätzung und können in jeg­
Medikamente (Benzo­diazepine, Neuroleptika, lichem klinischen Umfeld durchgeführt werden:
Antihypertensiva) –Mini-Mental-Status-Test
(MMST)
Alkohol, Drogen –DemTect

CO, Blei, Quecksilber, Kupfer, Perchlorethylen
–Test
zur Früherkennung von Demenzen mit
Depressionsabgrenzung (TFDD)
Bakteriell: Borrelien, Treponemen, Mykobakterien,
M. Whipple
–Montreal
Cognitive Assessment Test (MoCA)
infektiös –
entzündlich – Neurotrope Viren: HSV-1, CMV, HIV, JCV (PML)
immunogen – Im Rahmen des geriatrischen Assessments wird z. B.
häma­tologisch Vaskulitis, primär zerebrale Vaskulitis, Sarkoidose regelmäßig der MMST (Kognition) in Kombination
Anämie, Polyzythämie, multiples Myelom mit dem Uhren-Test (Visuokonstruktion) und der
Meningeom, Gliom, Metastasen geriatrischen Depressionskala (GDS) als Screening
Raumforderung – durchgeführt. Zeigen sich hier Auffälligkeiten, ist
paraneoplastisch Hirnabszess, chronisches Subduralhämatom (SDH)
eine weiterführende umfassende NPT mittels
Limbische Enzephalitis CERAD (s. u.) notwendig.
Normaldruckhydrozephalus (NPH) Zu beachten ist der behutsame Umgang mit dem Be-
Spätstadium Multiple Sklerose troffenen im Rahmen des NPT-Settings, das häufig
Verschiedenes negativ empfunden wird. Man sollte einleitend
Spätformen Leukodystrophie
unter­streichen, dass die NPT keine Prüfungssitua-
Chronische Schädel-Hirn-Traumen
tion wie in der Schule darstellt.
CADASIL = zerebrale autosomal-dominante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten und Leukenze-
phalopathie ; HSV = Herpes-simplex-Virus; CMV = Cytomegalievirus; PML = progressive multifokale
Bei auffälligen Kurztests ist eine weiterführende
Leukenzephalopathie NPT notwendig, z. B. mittels
–Testbatterie
des Consortiums to Establish a
Re­gistry for Alzheimer’s Disease (CERAD)
tägliches so­ziales Umfeld (z. B. soziale Isolation), –Alzheimer’s
Disease Assessment Scale-cognitve
psychiatrische Erkrankungen und Geriatrie-typi- Subscale (ADAS-cog)
sche Multimorbidität (z. B. Herzinsuffizienz, COPD, –Clinical
Dementia Rating Scale (CDR)
Tumor). –weitere
Testverfahren nach der Leitlinie 2016.

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FORTBILDUNG -- SCHWERPUNKT

Alzheimer-Erkrankung und Mini-Mental-Status-Test fortgeschrittenen Lebensalter ist aufgrund der häu-


fig bestehenden Multimorbidität (z. B. degenerative
Bei der Alzheimer-Erkrankung erlaubt die quantitative Einteilung im MMST in Gelenkerkrankung, lumbale Spinalkanalstenose,
zentral-wirksame Medikation) eine Differenzierung
- normal (27–30 Punkte)
fokal-neurologischer Ausfälle komplex und Bedarf
- leicht (20–26 Punkte) der genauen klinischen Untersuchung, Analyse und
- mittel (10–19 Punkte) Erfahrung.
Ausschlusskriterien für eine AD sind
- schwer (< 10 Punkte) –plötzlicher
Beginn
die Indikation für Acetylcholinesteraseinhibitoren (leicht bis mittel) und des –Gangstörung,
Krampfanfall, extrapyramidal­
NMDA-Rezeptor-Antagonisten (mittel bis schwer). Die klinische Erfahrung zeigt, motorische Zeichen, Halluzinationen
dass die Alltagsfunktionen bei weniger als 15 Punkten im MMST deutlich –Fokal-neurologische
Zeichen
beeinträchtigt sind und spätestens dann Pflegegrad, Vorsorgevollmacht, –Fluktuation
der kognitiven Störungen.
Betreuung und Versorgung einzurichten sind.
Fronto-temporale Lobärdegeneration
Bei der FTLD kommt es zu Persönlichkeitsverände-
rungen und Verlust sozialer Fähigkeiten mit Ent-
Im Rahmen der vertieften neuropsychologischen hemmung, im weiteren Verlauf auch zu Störungen
Früh- und Differenzialdiagnostik sollte basierend auf von Gedächtnis und Sprache. Basierend auf den Be-
diesen standardisierten Testverfahren das kognitive funden der NPT werden folgende FTLD-Varianten
Profil quantifiziert werden für die Bereiche Orientie- differenziert:
rung und Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis, –Behaviorale
Variante (bvFTLD)
Sprache, Praxie und Handlungsplanung. –Primär
progressive Aphasie (PPA)
Da die Beeinträchtigung der Alltagsfunktionen zum
diagnostischen Kriterium der Demenz gehört, wer- Parkinson-Demenz-Erkrankung
den zur Einschätzung der ADL weitere Testverfah- Für eine Demenz, die sich im Verlauf einer Par­
ren notwendig (z. B. Barthel-Index, Instrumentelle kinson-Erkrankung entwickelt (PDD), müssen für
Aktivitäten nach Lawton und Brody [IADL] oder das die Diagnosestellung mehr als eine der folgenden
neuropsychiatrische Inventar [NPI]). Die Demenz- kog­nitiven Domänen betroffen sein:
assoziierten psychischen und Verhaltenssymptome –Aufmerksamkeit;
mit Fluktuationen im Tages­
und Beeinträchtigungen der Alltagsbewältigung so- verlauf und von Tag zu Tag
wie die Belastung der pflegenden Angehörigen spie- –Exekutive
Funktionen, kognitive Flexibilität,
Die len eine besondere Rolle und sollten ins­besondere im Brady­phrenie
Symptomkon- Verlauf immer wieder mit erhoben werden. Nur so –Visuell-räumliche
Funktionen
stellation der lässt sich die Wirksamkeit therapeutischer Maß­ –Gedächtnis,
v. a. freier Abruf kürzlich statt­
kortikalen nahmen (medikamentös, behavioral) umfassend be- gefundener Ereignisse
Funktionsein- urteilen. –Sprache,
insbesondere Bildung komplexer Sätze
schränkungen Sind die ADL noch nicht beeinträchtigt bei objek­ beeinträchtigt
ist bei jedem tivierbaren kognitiven Defiziten, liegt eine milde
Patienten mit kognitive Dysfunktion (MCI) vor. Lewy-Körperchen-Demenz
einer Bei der LBD stehen Störungen der Aufmerksamkeit,
Alzheimer- Alzheimer-Krankheit der exekutiven und visuoperzeptiven Funktionen im
Demenz Basierend auf den mittels NPT quantifizierten kor- Vordergrund. Zu den Kernmerkmalen gehören
unterschied- tikalen Funktionsstörungen werden bei der Alzhei- Fluktuationen von Aufmerksamkeit und Wachheit,
lich. mer-Krankheit folgende Varianten beobachtet: visuelle Halluzinationen, Parkinson-Symptome und
–Amnestische
Variante als häufigste Form mit Überempfindlichkeit gegenüber Neuroleptika.
Defiziten der episodischen Gedächtnisfunktionen
–Sprach-bezogene
Variante Labor
–Visuell-räumliche
Variante In der breiten Labordiagnostik wird nach behandel-
–Exekutive
Variante baren Ursachen (~ 10%; Tab. 1) für kognitive Ein-
schränkungen gefahndet wie folgt:
Jeder Patient mit einer AD ist in Bezug auf die Symp­ –Anämie

tomkonstellation der kortikalen Funktionsein- –Elektrolyt-
und Blutglukosestörungen
schränkungen unterschiedlich. Fokal-neurologische –Leber-
und Niereninsuffizienz
Ausfälle bestehen bei der AD nicht, während sie bei –Schilddrüsen-,
Nebenschilddrüsen- und Hypo­
einer vaskulären Genese häufig zu finden sind. Im physenfunktionsstörungen

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FORTBILDUNG -- SCHWERPUNKT

Abb. 1  Befunde bei Neurodegeneration (AD, FTLD), vaskulärer Gehirnalterung –Intoxikationen


mit Industriegiften (CO, Kupfer,
(SAE) und symptomatischen Demenzursachen (NPH, frontales Meningeom) Blei, Quecksilber)
–Zentral
wirksame Medikamente, Drogen und
Alkohol
–ggf.
Blutgasanalyse, Phosphat, Homocystein,
Schilddrüsen-AK, Kortisol, Coeruloplasmin

Die Laborparameter haben eine hohe klinische


Relevanz zur Identifizierung einer potenziell rever-
siblen Demenzursache. Dabei werden Risiko und
Kosten als gering eingestuft. Als Risikofaktor für
eine AD gilt die Epsilon-4-Variante des Apolipopro-
tein-E-Gens. Eine isolierte Bestimmung des ApoE-
Genotyps wird aufgrund mangelnder diagnostischer
Trennschärfe und prädiktiver Wertigkeit nicht emp-
fohlen.
Es sollte beachtet werden, dass im fortgeschrittenen
Lebensalter Laborparameter häufig pathologisch
sind (z. B. Anämie, Hyponatriämie, Niereninsuffi-

© Klinik für Radiologie, Johanniter Kliniken Bonn; MPI für neurologische Forschung Köln
zienz, Hypothyreose, Vitamin-B12-Mangel, Entzün-
dungswerte, zentral dämpfende Medikation) und
darüber hinaus Zeichen der temporalen Atrophie
(Hinweis für Neurodegenera­t ion) und Zeichen der
subkortikalen arteriosklerotischen Enzephalopathie
(SAE) (Hinweis für vaskuläre Demenz) i. S. einer
multi-faktoriellen Genese der Kognitionseinschrän-
kung zu finden sind. In diesem Fall ist ein multimo-
daler Therapieansatz bei Kognitionseinschränkung
notwendig [8, 9].

Liquordiagnostik
Die Liquordiagnostik ist zur weiteren Abklärung der
A1|B|C: Bei AD findet sich strukturell eine temporale Atrophie (A1) und im PET eine patho­gnomonische Verminde­
rung des Glukosestoffwechsels in den temporo-parietalen Assozia­tionsarealen (B). Bei fronto-temporaler Lobär­ Alzheimer-Erkrankung indiziert. Als lösliche Bio-
degeneration findet sich die verminderte Glukoseaufnahme in fronto-temporalen Regionen (C). marker gelten
A2|D: Bei der vaskulären Alterung finden sich hypodense Areale im cCT (A2, D1) oder hyperintense Areal im FLAIR- –Erhöhung
von Tau und/oder phospho-Tau
gewichteten MRT (D2) in unterschiedlichen subkortikalen Regionen.
–Erniedrigung
von Amyloid-β42
A1 und A2 zeigt das cCT eines 88-jährigen Patienten mit Sarkopenie, drohender Immobilität, kognitiven Ein­
schränkungen und Drang-Inkontinenz bei (i) lakunärem Infarkt der Capsula interna links (A2), (ii) SAE (A2) und
(iii) AD-typischer temporaler Atrophie (A1), sodass die Demenz als „Mischdemenz“ einzustufen ist. Darüber hinaus werden mit der Liquordiagnostik
D1 und D2 zeigt das cCT (D1) und FLAIR-gewichtete MRT (D2) eines 78-jährigen Pa­tienten mit seit einem Jahr zu­ entzündliche ZNS-Erkrankungen und weitere Dif-
nehmenden kognitiven Einschränkungen, unsicherem Gang mit Stürzen und intermittierender Drang-Inkontinenz ferenzialdiagnosen als mögliche Demenzursachen
mit den Zeichen einer ausgeprägten SAE bei langjähriger arteriellen Hypertonie und Diabetes mellitus. Das Ausmaß
der SAE wird auch als „brain frailty“ bezeichnet. Therapeutisch steht die Einstellung der zerebrovaskulären Risikofak­ ausgeschlossen:
toren, allen voran der arteriellen Hypertonie, im Vordergrund. –Virus-
und postvirale Enzephalitiden
E|F: Behandelbare Ursachen einer Demenz. –Lues
und Neuroborreliose
E1 und E2 zeigt das cCT einer 79-jährigen Patientin mit einer für NPH typischen Hakim-Trias mit progredienter –M.
Whipple, Neurosarkoidose, ZNS-Tuberkulose
Gang­s törung (seit 15 Jahren) mit rezidivierenden Stürzen (seit 2 Jahren) sowie kognitiven Einschränkungen und –Hirnabszess
und Vaskulitiden
Drang-Inkontinenz (seit 6 Monaten) mit den typischen Zeichen eines Hydrocephalus internus und Liquortaschen (E1)
sowie verstrichenem Cortex (E2). Nach Liquorpunktion besserte sich die Gangstörung. –Metastasen
und paraneoplastische limbische
F zeigt das MRT einer 82-jährigen Patientin mit einem ausgedehnten fronto­b asalen Meningeom. Klinisch stand ein Enzephalitiden
aspontanes Psychosyndrom im Vordergrund, welches sich als beginnende Demenz mit Einschränkungen der Alltags­ –Multiple
Sklerose
funktionen präsentierte. Nach Resek­tion waren die kognitiven Einschränkungen regredient, sodass die Selbststän­
digkeit im Alltag erhalten blieb.
Bildgebung (CT, MRT, PET, SPECT)
In der bildgebenden Diagnostik mittels kranialer
–Mangel
der B-Vitamine und Folsäure Computertomografie (cCT) wird nach behandel­
–Systemische
Entzündung (BSG, Differenzialblut- baren Ursachen gefahndet:
bild, ggf. C-reaktives Protein) –Normaldruckhydrocephalus
(NPH)
–Infektion
mit neurotropen Erreger wie HSV-1, –Subdurales
Hämatom (SDH)
HIV, Borrelien, Treponemen –Tumor

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FORTBILDUNG -- SCHWERPUNKT

Die weiterführende Diagnostik mittels Magnet­ gen Defizits bei der LBD ist nur mittels PET und
resonanztomografie (MRT) und Positronen-Emis­ SPECT möglich.
sions-Tomografie (PET) sucht nach charakteristi- Die PET-Diagnostik sollte vornehmlich in Zentren
schen Krankheitsmerkmalen für AD und vaskulärer erfolgen, die die Bildgebungsdaten im Rahmen von
Demenz (Abb. 1). Bei der Interpretation der Befunde klinischen Studien einfließen lassen, z. B. für die
ist die Erfahrung des Befunders mit zu berücksich- Entwicklung PET-basierter immuntherapeutischer
tigen, da sonst wichtige Bildinformationen unterge- Verfahren [12] oder zum besseren Verständnis der
hen können. Folgende Bildparameter spielen eine Rolle der mikroglialen Aktivierung in unterschied-
Rolle: lichen Krankheitsstadien der Neurodegeneration [3,
Literatur  4, 5, 6].
als Zusatz­material unter Strukturell (cCT/MRT) Im jüngeren Lebensalter schließt ein negativer Amy-
springermedizin.de/mmw
–Atrophie
(T1-gewichtetes MRT) in krankheits­ loid-PET-Befund mit überwiegender Wahrschein-
Title:
Early and differential spezifischen Regionen lichkeit eine Konversion in eine manifeste AD aus
diagnosis of dementia – temporal: AD (Abb. 1 A1) [10]. Somit hat das Amyloid-PET einen hohen Stel-
Keywords: – frontale und/oder anterior-temporale: FTLD lenwert im Kontext eines Ausschlusses oder zumin-
Cognitive impairment, – links posterior fronto-insulär: Primäre pro- dest eines „fehlenden Hinweises für“ einer/eine Alz-
frailty, dementia, alzheimer’s
disease, vascular dementia, gressive Aphasie (PPA) heimer-Erkrankung.
PET –Subkortikale
signalintense Veränderungen (T2/
FLAIR): SAE (Abb. 1 A2|D) Weitere neurologische Diagnostik
–Hydrocephalus
internus mit „Capping“ (T2/ Die weitere neurologische Standarddiagnostik wie
FLAIR): Normaldruckhydrozephalus (Abb. 1 E1) Elektroenzephalografie (EEG), Duplexsonografie
–Tumor
unterschiedlichster Lokalisationen: und transkranielle Dopplersonografie sind im Ge-
Meningeom, Gliom, Metastase (Abb. 1 F) samtkontext der Demenzabklärung nicht zwingend
–Signalintense
Veränderungen bei limbischer erforderlich, aber nützlich. Bei der AD sind die Be-
Enzephalitis funde normal. Bei der vaskulären Demenz finden
sich ggf. duplexsonografische Hinweis auf Arterio-
Krankheitsspezifische molekulare Prozesse (PET/SPECT) sklerose oder Stenosen der gehirnversorgenden Ge-
–Verminderung
des Glukosemetabolismus in fäße als Zeichen der generalisierten Makroangiopa-
krankheitsspezifischen Regionen thie. In diesem Fall sollte eine weitere kardiologische
– temporoparietal: AD (Abb. 1 B) Diagnostik im Hinblick auf behandelbare Schlagan-
INTERESSEN­
KONFLIKT – f rontal und/oder anterior-temporal: FTLD fallrisikofaktoren, allen voran arterielle Hypertonie
Es bestehen keinerlei (Abb. 1 C) und Vorhofflimmern erfolgen.
Interessenkonflikte. – links posterior fronto-insulär: PPA Bei nicht-neurodegenerativer und nicht-vaskulärer
–Nachweis
von Amyloid oder Tau Demenz kann das EEG pathologisch sein (z. B. bei he-
–Nachweis
von Mikrogliaaktivierung patischer Enzephalopathie, nicht-konvulsiver Status,
Delir) und liefert damit wichtige Hinweise auf eine
Für die PET-Untersuchungen mittels Fluordesoxy- möglicherweise behandelbare Demenzursache. ■
glucose (FDG) und Amyloid-Tracer müssen vor der
Untersuchung Kostenübernahmen von der Kran- Autor:
Prof. Dr. med. Andreas H. Jacobs
kenkasse beantragt werden. Klinik für Geriatrie mit Neurologie, Johanniter Krankenhaus Bonn
Nach der S3-Leitlinie Demenz 2016 [1] soll grund- Johanniter-Str. 1–3, D-53113 Bonn,
sätzlich eine bildgebende Untersuchung des Gehirns ahjacobs@uni-muenster.de
Centrum für integrierte Onkologie (CIO), Universitätsklinikum Bonn (UKB)
(cCT, cMRT) bei der Demenzdiagnostik erfolgen. European Institute for Molecular Imaging (EIMI), Westfälischen Wilhelms
Dies gilt auch für hochbetagte Patienten mit Universität (WWU) Münster
Danksagung: Hiermit danke geriatrie­t ypischer Multimorbidität. Im cCT ergeben
ich meinen Lehrern (Prof. Dr.
Alexander Hartmann [Universität
sich erste Hinweis auf SDH, SAE oder Multiinfarkt-
Bonn], Prof. Dr. Wolf-Dieter Heiss syndrom (Abb. 1 A). Die weiterführende cMRT-Dia­ FAZIT FÜR DIE PRAXIS
[Universität Köln], Frau Prof.
Xandra O. Breakfield [Harvard
gnostik sollte erfolgen, um temporale Atrophie, Aus- 1. Neurodegenerative und zerebrovaskuläre Erkrankungen
Medical School, Boston], Prof. Dr. maß der SAE (Abb. 1 D2) oder das Capping beim führen zu den häufigsten und maßgeblichsten funktio­
Ronald G. Blasberg [Memorial
Sloan Kettering Cancer Center,
NPH besser bewerten zu können. nellen Einschränkungen im Alter (Kognition, Motorik).
New York] sowie meinen zahl­ Eine PET-Untersuchung ist im fortgeschrittenen Le- 2. Die frühzeitige Diagnostik mittels neuropsychologischer
reichen Kolleginnen und Kollegen,
Schülern und Patienten, von
bensalter entbehrlich. Demgegenüber dient die PET Testung, Labor und Bildgebung soll behandelbare Demenz­
denen ich immer wieder auf viel­ bei jungen Patienten mit kognitiven Einschränkun- ursachen aufdecken.
fältigste und unterschiedliche Art
und Weise lernen durfte.
gen zur Frühdiagnose der AD und Differenzialdia­ 3. Die ätiologische Zuordnung soll dazu beitragen, die Be-
gnose anderer neurodegenerativer Demenzformen handlungsoptionen und die Prognose abzuschätzen.
[11]. Insbesondere die Feststellung eines dopaminer-

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