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Bernd Florath

Andreas G. Graf (1952–2013)


Unter Historikern in der DDR gab es ganz verschiedene Grundtypen.
Natürlich gab es, und nicht zu knapp, jene Lakaien, die zur Beförderung
nicht nur ihrer akademischen Karriere bereit waren, jede jähe politische Wen-
dung mit historischen Argumenten auszufüttern, seien diese auch grotesk bis zu
Lächerlichkeit. Einigen dieser traurigen Gestalten gelang es, sich auf dieselbe
Weise selbst den postrevolutionären Verhältnissen zu akkommodieren.
Andere entwichen dem ideologischen Druck, indem sie sich Gebieten wid-
meten, die den politisch so sensiblen Themen fern genug waren. Auch unter die-
sen finden sich sehr unterschiedliche Typen – was hier aber nicht weiter interes-
sieren soll.
Doch was, wenn ein Historiker wie Andreas Graf aus Leidenschaft und Inte-
resse für seinen Gegenstand genau dort stand und grub, wo die herrschende Par-
tei ihr eigenes Selbstverständnis herauszog, und die Geschichte immer wieder
dem jeweils neuesten ihrer Richtungswechsel unterwarf? Und wenn seine ganze
menschliche Empathie und Sympathie gerade jenen Bewegungen, den in ihnen
bewegten und sie bewegenden Menschen galt, die – obzwar in ähnlichen Inten-
tionen, Hoffnungen und Utopien wurzelnd, von denen aus auch die in der DDR
herrschende Clique aufbrach – sich aber gegen deren Entstellung, Verrat, Ver-
stümmelung stellten, und die sich dagegen auflehnten, dass ein Projekt, dessen
Radikalität sich im kategorischen Imperativ bündelte, „alle Verhältnisse umzu-
werfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes,
ein verächtliches Wesen ist“, untere Hekatomben von Leichen – darunter auch
denen der eigenen Kombattanten – begraben worden und verkommen war zur
Karikatur seiner selbst oder wie Andreas Graf schlicht sagte: „ihres Sozialismus“,1

1
Vgl. Andreas Graf: Wirklichkeit zwischen „Liebe“ und „Bann“. Das Verständnis der Oppo-
sition in Akten der Staatssicherheit (Stasi) im Jahr 1989, in: Rainer Eckert, Wolfgang Küttler, Gus-
tav Seeber (Hrsg.): Krise – Umbruch – Neubeginn. Eine kritische und selbstkritische Dokumentati-
on der DDR-Geschichtswissenschaft 1989/90, Stuttgart 1992, S. 120.
d. h. dessen, was „die da oben“– oder wie man in Polen formulierte: „Oni“ –2 so
unter Sozialismus verstanden.
Andreas Graf zählte wahrhaftig nicht zu Friedrich Schillers Brotgelehrten,
die in Wahrheit nichts so fürchten als eine Wissenschaft, die Wissen schafft:
„Jedes Licht, das durch ein glückliches Genie, […] angezündet wird, macht ihre
Dürftigkeit sichtbar; […] Darum kein unversöhnlicherer Feind, kein neidischerer
Amtsgehülfe, kein bereitwilligerer Ketzermacher, als der Brodgelehrte. Je weniger
seine Kenntnisse durch sich selbst ihn belohnen, desto größere Vergeltung heischt
er von außen […], seinen Lohn erwartet er von fremder Anerkennung, von Ehren-
stellen, von Versorgung.[…] Er hat umsonst gelebt, gewacht, gearbeitet […], wenn
sich Wahrheit, für ihn nicht in Gold, in Zeitungslob, in Fürstengunst verwandelt.“3
Auf solcher Art Honorierung konnte Andreas Graf nicht rechnen, sie interessierte
ihn auch nicht. Sollte er aber unter den obwaltenden Umständen in der DDR auf
den Beruf verzichten oder auch nur auf das brisante Thema? Oder sollte er gar
sein Wissen den Wünschen der Auftraggeber unterwerfen?
Es vor allem zwei Strategien, die erlaubten, ganz offiziell in diesem Bereich
zu arbeiten, ohne sich zu verkaufen, aber auch ohne sich den mächtigen Herren
zu Fraße vorzuwerfen: Zum einen galt es, ideologische Zumutungen in der
Schraubzwinge nicht zu hintergehender Kenntnisse zu zerquetschen und andrer-
seits auf das Privileg zu verzichten, diese Kenntnisse im akademischen Normalbe-
trieb der DDR – von dem neuerdings die Rede ist – publizieren zu können. Ein Di-
lemma? – Sicher! Keinesfalls ein erstrebenswerter Zustand.
Ein Zustand vielmehr, der sich anfühlte, als füllte man den Kopf bis zum
Bersten, ohne Aussicht, all das akkumulierte Wissen auch wieder zu entäußern.
Es sei denn, es fanden sich kleine, intime Kreise von Gleichgesinnten, vertrau-
enswürdigen und interessierten Freunden, die an diesem privilegierten Wissen
teilhaben wollten. Denn es war ein Privileg, in der DDR Geschichte studieren zu
können, und es war ein noch größeres Privileg, diesen Beruf auszuüben zu kön-
nen, ohne sich zu verkaufen. Ohne diese billigen, oberflächlichen, verlogenen
Auftragsprodukte zu liefern, auf denen schwächere Charaktere ihre vermeintlich
wissenschaftliche Karriere gründeten.

2
Vgl. Teresa Torańska: Die da oben. Polnische Stalinisten zum Sprechen gebracht, Köln
1987, polnischer Originaltitel: „Oni“ („Sie“).
3
Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? In:
Der Teutsche Merkur, 4, 1789, S. 105–135

2
Ein Privileg allerdings, das nicht geschenkt oder verliehen wurde – es muss-
te erkämpft, erarbeitet, erschlichen, ja ertrickst werden. Es war eine Frage der
Ehre, besser zu sein als die Angepassten. Es war eine Frage des Selbstachtung,
darauf zu verzichten, in deren dissonanten Chören mitzusingen.
Was war es für eine Befreiung, all diese Schranken 1989 niederzuwerfen!
Ich habe Andreas Graf Anfang 1990 bei der Gründung des Unabhängigen Histori-
kerverbandes kennengelernt. Stefan Wolle und Armin Mitter hatten dessen
Gründung mit einem Pamphlet initiiert, dass in groben Strichen die moralische
und fachliche Verkommenheit der historischen Zunft in der DDR geißelte. Mir
war der grobe Strich anfänglich zu stark gezogen, doch die damals sehr raschen
Ereignisse überzeugten auch eine konfliktscheue Person wie mich, dass anders
als mit der Brechstange diese DDR-Zunft nicht zu knacken war. In Andreas Graf
fand ich einen ganz ähnlich gestrickten Freund und Kollegen, dem die akribisch
gesetzte Fußnote als Werkzeug zum Ausmisten dieses Augiasstalles allemal lieber
war als die rasche Denunziation korrupter Charaktere – so zutreffend die auch
immer gewesen sein mag.
Sein Augenmerk galt dann vor allem den Medien, deren ideologische
Krankheit zum Tode sich im Kern nicht von der der historischen Zunft unter-
schied. Das Thema, das ihn sein Leben lang umtrieb: die Geschichte des Anar-
chismus, der libertären Strömungen der Arbeiterbewegung vor allem in Deutsch-
land, ihrer selbstbestimmen Kultur, ihres Widerstandes gegen Herrschaft und
Ausbeutung, gegen die opportunistische Anpassung an die herrschenden Ver-
hältnisse in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, aber auch gegen die
die eigene Freiheit zerstörende Bürgerkriegsdisziplinierung in der kommunisti-
schen Partei und – welche Frage – selbstverständlich ihres Widerstandes gegen
die Nazis – dieses Thema musste zeitweise hintanstehen. Es war dies zugleich ei-
ne Lebensauffassung und eine Lebenskultur, die seiner eigenen entsprach, die er
persönlich lebte: eine solidarische, unabhängige und selbstbestimmte Existenz in
der Mitte Gleichgesinnter.
Der rasche Weg in die Bundesrepublik – Sicherung der gerade errungenen
Freiheit zweifelsohne, aber auch der gleichzeitige Verzicht darauf, die im Kalten
Krieg auf der anderen Seite der deutsch-deutschen Grenze gewachsenen Kor-
ruptheiten des politischen Systems und erst recht des ökonomischen überhaupt
noch infrage zu stellen – ließ manche Vorstellungen über eine unabhängige Pres-
se platzen. Auf dem Weg in die Wissenschaftslandschaft der neuen Heimat be-
gegneten ihm – wie uns, die wir den gleichen Verhältnissen entronnen waren –

3
manch sehr vertraute Zwänge von einst wieder. Anders motiviert vielleicht, auch
anders moderiert: kein Parteistaat mit seinen außerökonomischen, ein Geldstaat
mit ökonomischen Zwängen bedrängt freie und unabhängige Forschung. Ein Ge-
meinwesen mit ideologischer Wahlfreiheit – was sehr wohl zu schätzen ist –,
aber keines mit der Freiheit von knechtenden Ideologien.
Die einmal antrainierte Skrupulosität der Arbeit, die Akribie der wissen-
schaftlichen Beweisführung und mehr noch: Sein Verantwortungsgefühl unserer
deutschen Sprache gegenüber standen nun einer Karriere im Wege, die sich an
der Länge von Publikationslisten misst. Und das, obwohl ich keine Text von An-
dreas Graf kenne, der es nicht mühelos mit Dutzenden Publikationen aufnehmen
könnte, deren einzige Opfer die Bäume sind, die für das so misshandelte Papier
sterben mussten.
Vielleicht war es auch das Intermezzo in der Medienwelt, das ihn vor der
kurzatmigen Öffentlichkeitssucht, vor der Verwandlung von Wissen in bloße
Nachrichten, vor der Dominanz des ahnungslosen Nachrichtenwerts anstelle so-
lider Fundierung in reflektierter Wissenschaft zögern ließ, wenn es darum ging,
die reichen Früchte seiner Arbeit in eine endgültige Form zu gießen. Dabei zeigen
selbst seine in dem, rasenden historischen Jahrzehnten gleichen, einen Jahr 1990
festgehaltenen Einwürfe in die Debatte, mit welch feinem Gespür er das Wesen
der Dinge erfasste, selbst wenn deren Material noch nicht hinreichend offen lag
und er auf etwas angewiesen war, das er so gar nicht mochte: Mutmaßungen.
Lassen Sie mich einige Passagen aus einem Text in Erinnerung rufen, in de-
nen er unsere damals ganz frischen und noch wenig wirklich materialgesättigten
Einblicke in den Herrschaftsapparat der DDR charakterisierte, die noch immer er-
frischend und hellsichtig etwas beschreiben, was auch bei Kenntnis aller 100 o-
der 200 lfd. km Akten kaum treffender ausgedrückt werden könnte:
„Der Eindruck, den man aus diesen Lageberichten gewinnt, ist ein doppelter: Ei-
nerseits bieten sie sachliche und detaillierte Einblicke, andererseits zeugen sie von
völligem Unverständnis gegenüber den tatsächlichen Intentionen der Opposition,
von Selbsttäuschungen, die einen Mechanismus der Ausgrenzung und eine Psy-
chodynamik von Ausschließungsprozessen zur Folge haben. Die sprachliche Armut
und die formelhafte Begriffswahl wären eine eigene Untersuchung wert. […] Die
Erkenntnisse tragen metareligiöse Züge. In dem Mangel an Selbstreflexion zeigt
sich die Pose der Arroganz, eine geistige Pädokratie. […] Alles in allem: Die Stasi,
eingeschreint in ein hermetisches Gehäuse, war wissend, ab er blicklos, allein auf

4
die Sicherung eines Bestandes bedacht, der längst abgebrochen war. Es fällt
schwer eine Zeit zu finden, die so lange bei sich ausharrte.“4
Die Bundesrepublik ist wahrlich ein eigentümlicher Staat, dass er einen Anarchis-
ten zum Beamten macht. Ein guter Stoff für freundschaftliche Frotzeleien, für
Spott auch, den Andreas wohl zu teilen wusste, zumal die Ironie seiner verbeam-
teten Anstellung an der Freien Universität in re eher ein Spiegel der Ignoranz, ja
der instinktiven Aversion seinem Gegenstand gegenüber glich.
Die „Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der
deutschen Arbeiterbewegung“, ein Kind des Kalten Krieges, gezeugt von wirkli-
chen Freunden der Arbeiterbewegung, die das (schein-)wissenschaftliche Mono-
pol kommunistischer Hagiographie aufbrechen wollten, war aus diesem einen
Grunde wichtig – solange es den Kommunismus gab. Mit dessen Ende müssen
sich einige Leute des Umstandes erinnert haben, dass zwischen Arbeiterbewe-
gung und Kapitalismus ein gewisser Gegensatz auch dann bestehen bleibt, wenn
zwischen beiden Seiten Konsens über die zivilgesellschaftlich demokratischen
Austragungsregeln des Gegensatzes besteht. Wozu also sollte ein Staat, dessen
Umarmung durch das Kapital so heiß und innig ist, ein Blatt finanzieren, dass sich
mit allem Ernst und aller wissenschaftlichen Sorgfalt der Geschichte derer wid-
met, die ihn aus dieser so satten, wärmenden und nicht zuletzt einträglichen
Umarmung befreien wollen?
Selbst die amtliche Anerkenntnis des wissenschaftlichen Wertes einer sol-
chen Zeitschrift blieb nur das Futter, das den Brotgelehrten in die Zähne gewor-
fen wurde. Der „Zladkoisierung“ der Wissenschaft, wie es der damals dem Pro-
jekt gewogene Herausgeber der Zeitschrift formulierte,5 fiel zuerst deren Redak-
teur zum Opfer. Andreas, der diese Bürde übernommen hatte, als Günter
Krüschet – ein Bruder im Geiste – so früh aus dem Leben gerissen wurde,6 wurde
behandelt wie ein Aussätziger. Die Finanzen nahm die Universität gern, allein das
wesensfremde Projekt und seinen störrischen Redakteur duldete sie nur auf Ab-
ruf. In diesem Kampf und dem, die Zeitschrift zu retten, in die er seine ganze Le-
bensenergie steckte, rieb er sich, der nun sozial wieder dort stand, wo ein Mann
seiner Haltung offenbar auch heute noch hingehört, auf.

4
Graf: Wirklichkeit, S. 120 f.
5
Vgl. Peter Steinbach. Henryk Skrzypczak: Über "Eska", auch "Eskanowitsch" genannt, in:
IWK, 2000, 1, S. 5.
6
Vgl. Andreas G. Graf: Die Familie Krüschet im Widerstand, in: IWK, 2000, 1, S. 29–33.

5
Andreas Graf blieb, der er immer war – nur dass ihn niemand mehr ent-
lohnte, blieb, wie ihn Schiller beschrieben hatte, im 18. Jahrhundert am eigenen
Leibe sehr genau um die Lebenswirklichkeit der heroischen Beschreibung wis-
send:
„… der philosophische Geist findet in seinem Gegenstand, in seinem Fleiße selbst,
Reiz und Belohnung. […] Nicht was er treibt, sondern wie er das, was er treibt, be-
handelt, unterscheidet den philosophischen Geist.“7
Seine Energie, sein Können, sein Wissen steckt Andreas Graf nicht zuletzt auch in
die Texte, die er als Redakteur an die Öffentlichkeit brachte. So zeichnete sich die
IWK durch seine Handschrift auch in jenen Beiträgen aus, die andere verfasst
hatten, vor der Drucklegung aber seinem unnachsichtigen Sinn für Qualität, für
Substanz und Form standhalten mussten. Auch hier scheint, als habe der alte
Schiller ihn gut gekannt:
„Kein gerechterer Beurtheiler fremden Verdiensts, als der philosophische Kopf.
[…] Für ihn arbeiten alle Köpfe – alle Köpfe arbeiten gegen den Brodgelehrten. Je-
ner weiß alles was um ihn geschiehet und gedacht wird, in sein Eigenthum zu
verwandeln – zwischen denkenden Köpfen gilt eine innige Gemeinschaft aller Gü-
ter des Geistes“.8
Was ist indes die „eine innige Gemeinschaft aller Güter des Geistes“ Anderes als
die Gütergemeinschaft, der Kommunismus des Gedankens? Sie ist keine Utopie,
sie ist Programm, das, bezogen auf seine, auf unsere Vergangenheit in der DDR
Andreas so formulierte:
„Was bleibt, ist die Aufgabe, die Erfahrungen der Menschen in der DDR wirklich zu
vergesellschaften, den Zusammenhang mit der Vergangenheit subjektiv herzustel-
len und nicht massenhaft ‚objektiv‘ zu suspendieren.“9
Diese Aufgabe hat er uns hinterlassen. Gehen wir an die Arbeit.

7
Schiller, a.a.O.
8
Ebenda.
9
Graf: Wirklichkeit, S. 121.

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