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Bernd Florath

Akteure und Perspektive der Friedlichen


Revolution
Länderbericht DDR

Asymmetrie der Erinnerung


Wenn die Friedliche Revolution von 1989 als die einzige erfolg-
reiche der deutschen Geschichte gepriesen wird, so klingt gewiss
auch der neidvolle Blick zum französischen Nachbarn mit an.
Doch sollte bei allem Bedauern nicht aus den Augen verloren
werden, dass bislang keine Revolution jene Zwecke realisierte, die
in den Köpfen jener, die eingangs an ihrer Spitze standen, domi-
nierten. Nicht so rasch, wie erhofft, und nicht so ideal, wie ge-
wünscht, doch entschieden brachten auch die unvollendeten Revo-
lutionen von 1848 und 1918 die Demokratie in Deutschland vo-
ran. So auch die von 1989, die ebenfalls nur teilweise von Erfolg
gekrönt war – nur teilweise in den Augen vieler, die sie im Sep-
tember, Oktober und November antrieben, doch vor allem wenn
sie als deutsche Revolution aus heutiger Perspektive betrachtet
wird: Der Rückblick muss logischerweise äußerst disparat ausfal-
len – in einem Land, in dessen einem Drittel eine Revolution statt-
fand, deren Resultate vier Fünftel der Bewohner tangierten, als
die Messen bereits gesungen waren und es galt, die Kollekte zu
zahlen.
Aus der Asymmetrie der Revolution folgt die Asymmetrie
dessen, was in den Köpfen ihrer deutschen Zeitgenossen über-
liefert wird. Die grundsätzlich unterschiedliche Perspektive auf
die Ereignisse als Teilnehmende oder Beobachter teilt die Re-
flexion vielleicht sogar stärker als die Differenz zwischen den
sympathisierenden oder ablehnenden Ansichten, die jede Um-
wälzung mit sich bringt. Zumindest aber ist sie

eine Besonderheit, die nur dieser deutschen Revolution anhängt.


Die Friedliche Revolution von 1989/90 ist unterdessen hinläng-
lich (wenn auch nie hinreichend) untersucht, sodass ich im Fol-
genden nicht den Versuch unternehmen will, vorliegende Darstel-
lungen zu wiederholen oder auch nur zu summieren.1 Der Orien-
tierung dienen einige kurze Bemerkungen zur Periodisierung.
Nimmt man den Bogen des Jahres von Oktober 1989 bis Oktober
1990 als Rahmen, was nicht heißen soll, dass diesen Monaten
nicht wichtige Ereignisse vorangingen und folgen sollten, so lie-
ßen sich die folgenden Abschnitte benennen:
1. von Oktober bis zur Öffnung der Mauer am 9. November
1989;
2. von der Öffnung der Mauer bis zur Wahl der ersten demo-
kratischen Legislative der DDR am 18. März 1990;
3. von der Volkskammerwahl bis zum Inkrafttreten der Wäh-
rungsunion am 1. Juli 1990;
4. von der Währungsunion der beiden deutschen Staaten bis
zum Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundge-
setzes am 3. Oktober 1990.
In diesen verschiedenen Phasen standen jeweils andere Men-
schengruppen mit anderen Interessen im Brennpunkt des Gesche-
hens. Das soll nicht besagen, dass es sich dabei immer um andere
Individuen handelte, doch der Fokus des Agierens wandelte sich,
spülte neue Persönlichkeiten ins Rampenlicht, während sich ande-
re zurückzogen und Dritte ihre Position mitunter radikal änder-
ten.
Es seien zuerst die treibenden Kräfte in der DDR benannt.
Häufig wurde auf das spannungsreiche Verhältnis jener, die das
Land verließen, und jener, die blieben, aber die Verhältnisse än-
dern wollten, verwiesen.

1
Ich verweise nur stellvertretend auf die ungeheuer dichte, die Atmo-
sphäre der Zeit sehr lebendig reproduzierende Darstellung von Ilko-Sascha
Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009.

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Perspektive derer, die die DDR verließen
Es waren in den Sommermonaten 1989 überproportional viele
junge Leute, die das Land verließen. Sie wandten sich von der
DDR mit einer Radikalität ab, die deutlicher nicht hätte sein kön-
nen. Sie sahen für sich in dem Land keine Perspektive mehr. Sie
verweigerten sich der Zumutung, gewissermaßen mit ihren per-
sönlichen Plänen und Hoffnungen solange in Geiselhaft einer frei-
heits- und reformverweigernden Clique zu verbleiben, bis ihre Ju-
gend verflossen und die ihnen noch offenen Möglichkeiten eines
radikalen Neuanfanges in der Bundesrepublik verpasst waren.
Noch waren sie in der DDR nicht etabliert. Noch hatten sie hier
nichts zu verlieren: kein Eigenheim, keine halbwegs passable be-
rufliche Position, keine Aussichten auf Karriere, meist nicht ein-
mal eine eigene Wohnung. Und sie wollten dem politischen Druck
der SED, FDJ und anderen Organisationen entrinnen. Bei man-
chen mag das nicht einmal eine klare politische Entscheidung ge-
wesen sein, sondern schlicht der Wunsch, frei von Politik leben zu
dürfen, wählen zu dürfen, aber nicht zu müssen. Die nur wenig Äl-
teren, die zögerten, den radikalen Bruch mit dem eigenen bisheri-
gen Leben zu riskieren, sahen zwar die DDR auch nicht in einem
freundlicheren Licht, doch ihre Bindungen in dem Land waren be-
reits tiefer, eine Trennung wäre bei Weitem schmerzhafter gewe-
sen.
Jene, die DDR verließen, verweigerten dem System in radi-
kalster Form ihre Loyalität, sie schnitten den Bezug zu ihr gänz-
lich ab. Diese vollkommene Negation hieß indes gleichzeitig den
Verzicht auf Kritik und Opposition. Damit entwickelte die Flucht
keine ostdeutsche, nicht einmal eine gesamtdeutsche, sondern zu
diesem Zeitpunkt eher eine westdeutsche Perspektive.
Der massenhafte Exodus verursachte eine unglaubliche
Schwächung des „Systems DDR“. Er verstärkte die Labilität eines
an allen Ecken und Enden mürben wirtschaftlichen Systems, ent-
zog ihm die Kraft und Initiative der innovativen jungen, gut aus-
gebildeten, ehrgeizigen Menschen, die wegen ihres eigenen hohen
Anspruchs aus einer untergehenden Gesellschaft fortgetrieben
wurden.

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Perspektive der Opposition
Die dem herrschenden SED-Regime entgegenstehenden Kräfte
hatten bereits seit mehreren Jahren ein Netzwerk mehr oder min-
der stabil arbeitender Gruppen gebildet, deren politisches Ziel, in
unterschiedlicher Radikalität, die Demokratisierung der DDR
war. Je nach Akzentuierung ihres Ausgangspunktes handelte es
sich um Menschenrechts-, Friedens-, Umwelt- und Dritte-Welt-
Gruppen. Allerdings gingen diese Themen fließend ineinander
über. Der SED stellten sie die Forderungen nach Machtkontrolle,
Publikmachen politischer Entscheidungen, nach freier öffentlicher
Diskussion entgegen. Ihre Schwäche war wahrscheinlich die kaum
vorhandene Bereitschaft, die politische Verantwortung für die
Führung des Landes der SED abzuringen und selbst zu überneh-
men. Doch ihre engagierte Kritik der SED-Politik, mobilisierte ei-
ne relevante Zahl politischer Aktivisten. Als schließlich die Füh-
rungsriege der SED angesichts der Massenflucht in augenschein-
licher Agonie erstarrte, waren es genau diese Oppositionellen, die
mit ihrer Antithese zur Flucht, dem Slogan „Wir bleiben hier“,
unmissverständlich das Signal setzten, dass die DDR nicht länger
die Verfügungsmasse der SED-Führung sein darf.
Dieser zahlenmäßig kleinen Opposition gelang es, im histo-
risch kurzen Moment der Schwäche der Herrschenden, die politi-
sche Meinungsführerschaft zu erringen. Ihre Erklärung, im Lan-
de bleiben zu wollen, die ein – kritisches – Bekenntnis zur DDR
war, ließ ihr die Aufmerksamkeit auch jener Teile der Bevölke-
rung zuwachsen, die aus den unterschiedlichsten Gründen das
Land nicht verlassen wollten oder konnten. Es brachte ihnen
auch die Aufmerksamkeit bislang loyaler Schichten ein, weil die
SED-Führung im Spätsommer 1989 angesichts der schreienden
Herausforderungen wie gelähmt und sprachlos blieb. So wurde
die Absicht, hier bleiben zu wollen, zu einer Alternative zur
Flucht und die Kritik an der Politik der SED zur Antwort auf die
Ursachen der Flucht. Ohne diese entscheidenden Breschen in die
ideologische Macht der SED wäre das Aufbrechen der politi-
schen Hegemonie durch eine Massenbewegung, die letztlich den
Sturz der SED zur Folge hatte, nicht möglich

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gewesen. Und der Sturz eines Regimes – selbst eines ökonomisch
ungeheuer geschwächten – findet nicht aus bloßer Schwäche statt.
Das zeigte sich am Ende der ersten Phase der Revolution: Der
letzte Versuch der SED-Führung, mit der Öffnung der Grenzen
am 9. November 1989 eine der zentralen Forderungen der Bevöl-
kerung zu erfüllen und so die politische Initiative zurückzugewin-
nen, scheiterte. Die Menschen nahmen das Danaergeschenk an,
reisten begeistert, soweit sie konnten, und straften die SED mit
sich vertiefender Verachtung. Zugleich begann sich das Themen-
set zu verschieben. Aus dem Ruf „Wir sind das Volk“, der das be-
stehende Regime negierte und sich gegen SED, Polizei und den
Staatssicherheitsdienst richtete, wurde der Ruf „Wir sind ein
Volk“, der ein neues politisches Projekt positiv formulierte und auf
die Vereinigung der deutschen Staaten abzielte. Diesem Wandel
erwiesen sich die Oppositionsgruppen strukturell am Ende nicht
gewachsen.
Das große Ideal der Organisationen, die im September 1989
nicht als politische Parteien, sondern als offene Bürgerbewegun-
gen entstanden, war die sich engagierende Bürgerin, der sich be-
wegende Bürger, die die Angelegenheiten in die eigenen Hände
nahmen. Was als demokratische Selbstermächtigung viel breiter
wirkte als die demokratische Konkurrenz politischer Parteien, im-
plizierte allerdings den Mangel an Leadership – und das wiederum
führte von der Hochzeit der Bürgerbewegungen im
Herbst/Winter 1989 zu deren Marginalisierung im Win-
ter/Frühjahr 1990 durch die politischen Parteien westlicher
Struktur. Letztere gewannen die Dominanz des politischen Rau-
mes dank ihrer organisatorischen Festigkeit, der programmati-
schen Angebote und Perspektiven.

Welches war die Perspektive der Reformer in der SED?


Zweifelsohne gab es innerhalb der SED abweichende Mei-
nungen und politische Konzepte, die in bestimmter Hinsicht
denen der oppositionellen Gruppen verwandt waren. Auch
hier hatte sich das Demokratie-

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defizit der SED-Herrschaft als kontraproduktives Element offen-
bart. Die Suche nach demokratischen Reformen intendierte zwei-
felsohne nicht den Sturz der SED, sondern die Neulegitimierung
ihrer Macht. Wie diese demokratischen Reformversuche ausgegan-
gen wären, muss offen bleiben, da sie durch die politische Mei-
nungsführerschaft der Bürgerbewegungen obsolet wurden. Die
Entwicklung der KPdSU unter Gorbatschow skizzierte indes die
politischen Möglichkeiten eines Erfolges im Sinne der Demokrati-
sierung unter anderen politischen Ausgangsbedingungen. Doch im
Kern litt auch das sowjetische Beispiel an denselben strukturellen
Problemen wie die SED-Reformbemühung. Nimmt man die ein-
flussreichsten und am besten strukturierten Zirkel der Reformintel-
lektuellen der SED als Maßstab – die universitären Arbeitsgruppen
„moderner Sozialismus“ –, so entwickelten sie geheime Konzepte,
bei denen mitunter selbst das Ministerium für Staatssicherheit
(MfS) als Braintrust konzeptionell (und in wirklichen Bündnissen)
eingebunden wurde. Man mag es als kommunistisches Erbe des
Blanquismus zu sehr in eine historische Maske zwängen, doch in-
tendierten sie die Implementierung von Demokratie in geheim-
bündlerischer Weise durch eine „klandestine Gegenelite“ – eine
Condradictio in re, an der am Ende entweder das Ziel verfehlt oder
seine Protagonisten an ihren Methoden scheitern mussten.2
Dennoch waren die SED-Reformer für den Prozess der
Zersetzung der Machtstrukturen der SED bis hin zum Rück-
tritt ihrer gesamten alten Führungsgarnitur am 3. Dezember
1989 von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Beim zweifa-
chen Versuch, die SED zur Selbstauflösung zu veranlassen,3
scheiterten die Reformer letztlich sowohl am Beharrungs-

2
Vgl. Rainer Land/Ralf Possekel, Fremde Welten. Die gegensätzliche
Deutung der DDR durch die SED-Reformer und Bürgerbewegung in den 80er
Jahren, Berlin 1999.
3
Die beiden Versuche fanden auf dem außerordentlichen Parteitag und
im Januar als Auflösungsantrag der Plattformen (WF-Plattform, sozialdemo-
kratische Plattform, Plattform 3. Weg, Demokratische Sozialisten, Kreisver-
band Akademie der Wissenschaften der DDR) in der SED-PDS statt.

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willen und -vermögen des Apparats als auch an romantischen so-
zialrevolutionären Stimmungen der verbliebenen Mitgliedschaft.

Die Sicht der staatstragende Schichten


Weniger einfach ist die Perspektive zu rekonstruieren, aus der
heraus die den SED-Staat tragenden alten Eliten an der Friedli-
chen Revolution teilhatten. Mehr als zwei Millionen erwachsene
Menschen waren Mitglieder der SED. Hierzu sind noch all jene
im Staatsdienst stehenden und das System in Funktion haltenden
Nichtmitglieder (Parteilose und Mitglieder von Blockparteien) zu
zählen. All diese Menschen sorgten, solange das System funktio-
nierte, in der einen oder andern Weise für dessen Stabilität. Sie
arbeiteten loyal und unterwarfen sich dem bestehenden Herr-
schaftssystem mehr oder weniger von dessen Legitimität über-
zeugt. Dieses schier unüberwindliche Bollwerk zerbrach 1989 in-
nerhalb weniger Monate, ja Wochen.4 Auch wenn ein Machtblock
noch so groß ist – er kann zerfallen, wenn die Legitimität des Sys-
tems erschüttert ist und zugleich Faktoren einer alternativen Le-
gitimität aufscheinen. Noch im Januar 1988 war es der SED mü-
helos möglich, unter ihren Mitgliedern kurzfristig Gruppen zu
organisieren, die die Demonstration von Oppositionellen anläss-
lich der Liebknecht-Luxemburg-Kundgebung zurückdrängten.
Schon im November desselben Jahres traf die Parteiführung eini-
germaßen überraschend die Empörung seitens vieler Parteimit-
glieder über das Verbot der sowjetischen Zeitschrift Sputnik. Sie
signalisierte einen sich vertiefenden Riss in der kommunistischen
Loyalität der Parteiführung gegenüber. Mit der offen zutage tre-
tenden Kontroverse zwischen Moskau und Berlin, zwischen einer
Linie von Perestroika und Glasnost und einer der

4
Vgl. Bernd Florath, Die SED im Untergang, in: ders. (Hg.), Das Revo-
lutionsjahr 1989. Die demokratische Revolution in Osteuropa als transnationale
Zäsur, Berlin 2011, S. 63–104.

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konservativen Reformverweigerung begann die Orientierung der
SED-Mitglieder zu schlingern. Je stärker die Sympathien für die
Moskauer Reformen anwuchsen, desto grotesker wurde das In-
strumentarium der SED gegen deren Träger in den eigenen Rei-
hen. Gegen „Meckerer und Nörgler“ werde mit aller Schärfe der
Parteireinigung vorgegangen.5
Im September 1989 schwieg die Parteiführung, verlangte
zugleich aber unbedingte Loyalität, während die Töchter und
Söhne der Genossen das Land verließen oder auf die Straße gin-
gen. Sollten sie in Kampfgruppenuniform die eigenen Kinder zu-
sammenschlagen, die sich lediglich wagten auszusprechen, was ih-
re Eltern dachten, aber (noch) nicht über die Lippen brachten?
Das Heer der Parteimitglieder, der Staatsdiener und Wirtschafts-
funktionäre schreckte vor dieser Konsequenz zurück und versagte
schließlich als dienliches Machtinstrument der SED-Führung.
Im Unterschied zu anderen kommunistischen Parteien Ost-
mitteleuropas verfügte die SED nicht über die integrationsfähige
Reserveideologie des Nationalismus, die zumindest zeitweilig eine
Bündelung der Kräfte und die Neuetablierung der Macht der Par-
tei unter einer anderen politischen Agenda ermöglichte. Anders
als Politikern, die mehr oder minder fließend von kommunisti-
schen zu nationalistischen Positionen übergingen,6 blieb den SED-
Größen ein solcher Weg versperrt.

Internationale Perspektiven
Das europäische System des Gleichgewichts der Großmächte
hatte seit 1945 den Frieden durch ein machtpolitisches
Patt erhalten. Gorbatschow erkannte auf der
einen Seite, dass die Sowjetunion den noch

5
Zum einheitlichen und geschlossenen Handeln der Mitglieder und
Kandidaten der SED, [SED-interne] Informationen, Nr. 245, 4/1988, März
1988.
6
Vgl. István Eörsi, Der rätselhafte Charme der Freiheit. Versuche über
das Neinsagen., Frankfurt a. M. 2003, S. 90.

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unter Breschnew provozierten neuen militärischen Wettlauf nicht
auf derselben Ebene bestehen konnte. Er suchte nach asymmetri-
schen Antworten auf militärischem, aber auch auf politischem Ge-
biet. Er setzte mehr und mehr auf eine kooperative Politik, suchte
wechselseitige Abhängigkeiten, die die Konfrontation nicht nur
weniger sinnvoll, sondern auch mehr und mehr schädlich für die
eigenen Interessen werden ließ. Die DDR verlor an Bedeutung für
die Sicherheit der Sowjetunion, sie wurde in den Überlegungen
über die Neustrukturierung der internationalen Verhältnisse zu
einem variablen Faktor.
Auf der anderen Seite verabschiedete sich Ronald Reagan
von einer Politik, die für den Erhalt internationaler Stabilität die
politischen Unfreiheiten auf der kommunistischen Seite hinnahm.
Das System von Jalta, das die Staaten Ostmitteleuropas ungefragt
dem Machtbereich Moskaus zuordnete, wurde auch in diesen Län-
dern selbst – vor allem in Polen und Ungarn nicht mehr hinge-
nommen. Schon im Sommer 1987 forderte Reagan Gorbatschow
auf, die Mauer abzureißen.

Westdeutsche Perspektiven und Akteure


In der Bundesrepublik der 1980er Jahre war die gesamtdeut-
sche Perspektive indes über die Jahre marginalisiert und zu ei-
nem mehr oder minder abstrakten Topos herabgesunken. Prak-
tisch bewegte sich die Politik in den deutsch-deutschen Bezie-
hungen auf der Ebene der gegebenen Verhältnisse, um deren
Stabilisierung und Vervielfältigung es der Bundesregierung
ging. So blieb die DDR-Politik der Bundesrepublik in einem Di-
lemma gefangen: Beziehungen in den anderen Staat konnten
nur zur Führung gepflegt werden, Kontakte zur Opposition ge-
rieten zum Konfliktstoff und wurden durch die SED als Einmi-
schung in deren innere Angelegenheiten tabuisiert. War dies
für Regierungsvertreter vielleicht noch erträglich – grotesk
wurde es in dem Moment, wo selbst die größte westdeutsche
Oppositionspartei ihre Partner nicht in der ostdeutschen Oppo-
sition, sondern in der SED suchte und so auf

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Parteiebene die Amputation innerdeutscher Kontakte reproduzier-
te. Von ruhmvollen Ausnahmen einzelner Politiker abgesehen,
waren es im Wesentlichen nur die Grünen, die – wenn auch
durchaus nicht einhellig – ostdeutsche Oppositionellen als ihre
Partner ansahen und sie nachhaltig unterstützten. So erbrachte je-
ne Partei, die vielleicht am deutlichsten auf gesamtdeutsche Sonn-
tagsreden zum 17. Juni verzichtete, in der Sache den wichtigsten
Beitrag zur Vorbereitung jener Umwälzung in der DDR, die die
primäre Voraussetzung für die Überwindung der Spaltung
Deutschlands bildete. Eine List der Geschichte, die Hegel sicher-
lich als besonders feine Illustration seines Arguments genutzt hätte.
Für die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung war die
DDR längst ein fernes Land geworden, ihre Anteilnahme am dorti-
gen Geschehen verlor sich in dem Maße wie verwandtschaftliche
Bande verblassten, das Interesse war um Größenordnungen geringer
als das in umgekehrter Richtung. Dass das Zusammengehörigkeits-
gefühl dennoch nicht erstorben war, zeigt sich nach dem 9. Novem-
ber 1989. Die ungezwungene und innerliche Rührung über den Fall
der Mauer, die West-Berlins Bürgermeister auf den schlichten Satz
brachte „Heute sind wir das glücklichste Volk auf der Welt“, war
auch mit der ernsthaften Bereitschaft verbunden, Solidarität zu üben.
Die entscheidenden Umbrüche der Deutschlandpolitik der
Bundesregierung fanden erst in der zweiten Phase der Revolution
statt. Sie waren Reaktionen auf die Öffnung der Mauer. Die Wo-
chen zuvor sind eher von ungläubiger Beobachtung, von Mah-
nungen zu Zurückhaltung und Gewaltlosigkeit, aber auch er-
staunlichen Fehleinschätzungen geprägt. Die Graswurzelbewe-
gungen wurden von der Bundesregierung als politischer Faktor
vollkommen unterschätzt: „Die in unserer Presse veröffentlichten
Berichte über die ‚Opposition‘ in der DDR sind übertrieben
und aufgebauscht.“7 Der Bundeskanzler beurteilt die

7
Bertele an den Chef des Bundeskanzleramtes, 20.9.1989, in: Hanns Jür-
gen Küsters/Daniel Hofmann (Hg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deut-
sche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90,
München 1998, S. 410.

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Oppositionsgruppen „zum Teil skeptisch […] Die eigentliche
Opposition schweige bisher.“8 Als die eigentliche Opposition be-
trachtete er groteskerweise die Blockparteien!
Mit der Öffnung der Grenze und der Bildung der Regierung
Modrow änderte sich die Verhandlungsbasis. Kohls 10-Punkte-
Programm vom 28. November 1989 entwickelte das Konzept des
neuen Charakters der deutsch-deutschen Beziehungen mit der
mittelfristigen Perspektive konföderativer Strukturen. Kohls Zeit-
horizont ließ sich indes nicht aufrechterhalten. Schon bei seinem
ersten DDR-Besuch im Dezember zeigte sich auf Dresdens Stra-
ßen: Es waren die Ostdeutschen, die den Druck auf Verkürzung
des zeitlichen Rahmen erzwangen. Sie zogen die Bundesregierung
gleichsam ins Geschehen und übten einen Sog aus, dem diese nicht
allein aus patriotischer Anteilnahme, sondern zweifelsohne auch in
Wahrnehmung eigener Interessen folgte. Damit verwandelte sich
zuerst die Bundesregierung, parallel dazu aber auch die oppositio-
nellen politischen Kräfte der Bundesrepublik mehr und mehr zu
direkten und nicht bloß von außen wirkenden Akteuren. Der Be-
schluss des Zentralen Runden Tisches der DDR über die Unzuläs-
sigkeit der Beteiligung westdeutscher Parteien am Volkskam-
merwahlkampf wurde zum letzten Akt der Souveränität der neu-
en, demokratischen DDR – nur dass er sich angesichts der politi-
schen Realitäten schon bei seiner Abfassung als obsolet erwies.

Vernetzte Revolutionen Europas


Im Streit um Prioritäten und Marginalien in der Betrachtung
der Friedlichen Revolution wird zumeist eine Perspektive
sträflich vernachlässigt: So wie die Friedliche
Revolution in der DDR sich in ihrem Verlauf

8
Gespräch Kohls mit Delors, 5.10.1989, in: ebenda, S. 445.

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zu einem gesamtdeutschen Epochenbruch wandelte und die Be-
grenztheit im staatlichen Rahmen der DDR sprengte, um die
deutsche Teilung in europäischer Einbettung zu überwinden, war
sie von Anfang an ein Teil der ostmitteleuropäischen Freiheitsre-
volutionen. Wie 1789, 1848 und 1918 erlebte der Kontinent auch
1989 in vielen seiner Staaten und Regionen einen Umbruch epo-
chalen Charakters, der heute zu Recht als zeitliche Zäsur des
„kurzen 20. Jahrhunderts“ gängiges Interpretationsmuster der
Neuesten Geschichte ist. Die DDR war Teil des kommunistischen
Ostblocks – insofern war der Untergang der SED nichts anderes
als ein Teilprozess der Metamorphosen der herrschenden kom-
munistischen Parteien, der mit deren Machtverlust begann. Die
Opposition in der DDR war aber ebenso Teil einer ost- und ost-
mitteleuropäischen demokratischen Opposition. Ohne den sich
gegenseitig inspirierenden geistigen Austausch, das Beispiel
selbstlosen Einsatzes im scheinbar fruchtlosen Anrennen gegen
eine unüberwindlich scheinende totalitäre Macht wären die Frei-
heitsrevolutionen von 1989 nicht zustande gekommen. Zweifels-
ohne war die DDR-Opposition in diesem Kontext mit spezifischen
Schwierigkeiten konfrontiert, doch mit ihrer Initiative und ihren
Ideen und Aktivitäten stand sie fest verwurzelt in diesem kreati-
ven Konzert der östlichen Demokraten.

Plädoyer für Multiperspektivität


Je nachdem, aus welcher Perspektive man die Ereignisse von 1989
betrachtet, wird sich das Urteil über sie färben. Das Resümee fällt
am weitesten auseinander, befragt man die ehemals Mächtigen der
SED-Führung oder deren Kontrahenten in der DDR-Opposition.
Was den einen eine Konterrevolution ist den anderen der Durch-
bruch zur Freiheit. Und es sei den Gestürzten ihr Jammer über die
verlorene Macht gegönnt. Die errungene Freiheit erlaubt ihnen,
nostalgisch den für sie besseren Zeiten nachzuweinen. Nur be-
dauern muss man sie deshalb nicht.

80
Lenin, der Vater der russischen Revolution von 1917 – ein
belesener Kenner und Praktiker politischer und sozialer Umwäl-
zungen –, hatte eine revolutionäre Situation sehr präzise als den
Moment beschrieben, in dem die Herrschenden auf alte Art nicht
mehr in der Lage sind, ihre Macht aufrechtzuerhalten und die Be-
herrschten nicht mehr willens, sie länger zu ertragen. Doch er
fügte hinzu, dass auch unter dieser notwendigen Bedingung die
Herrschaft des alten Regime „niemals, nicht einmal in einer Kri-
senepoche ‚zu Fall kommt‘, wenn man sie nicht ‚zu Fall bringt‘“.9
Der von Helmut Kohl betonte Mangel an „Bimbes“ in Gor-
batschows Staatskasse10 oder die von Thomas Schmid ins Zent-
rum gerückten Folgen der Massenflucht im Sommer 198911 gehö-
ren zweifellos zu den Voraussetzungen der Friedlichen Revoluti-
on, doch ohne das engagierte Handeln der Oppositionellen, die
Neudefinition der politischen Agenda durch ihre Aktionen im
Herbst hätte die Situation ebenso gut verpuffen können und die
Herrschaft der SED wäre nicht erschüttert worden. Und ohne das
Ändern derselben Agenda durch die ostdeutschen Demonstranten
und Wähler wäre die zweite Phase der Revolution nicht zustande
gekommen, durch die mit den freien Wahlen und dem Sieg der De-
mokratie die wesentlichen Forderungen der Oppositionellen durch-
gesetzt worden waren. Die Friedliche Revolution wäre dann nicht zu
jenem gesamtdeutschen Umbruch fortgeschritten, in dessen Folge,
durch den Druck der Ostdeutschen und das aktive Ein-

9
Wladimir I. Lenin, Der Zusammenbruch der II. Internationale, in:
ders., Werke, Bd. 21, Berlin 1984, S. 206 f., bes. S. 207.
10
So kolportieren Heribert Schwan und Tilman Jens Kohls privatim
gemachte Äußerungen in: ders, Vermächtnis. Die Kohl-Protokolle, München
2014, S. 261.
11
In einer Aufwallung spezifisch deutsch-deutschen Revolutionsneids be-
stritt der gescheiterte APO-Veteran der Friedlichen Revolution das Normativ einer
Revolution. – Vgl. Thomas Schmid, Die schöne Idee von der Revolution. Nicht ein
Aufstand bereitete der DDR ein Ende. Sie implodierte, weil ihr eine Mehrheit das
letzte Licht von Zustimmung und Achtung ausknipste, in: Die Welt vom 8.11.2014.

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greifen der westdeutschen politischen Klasse, die Teilung
Deutschlands hätte aufgehoben werden können.

Eine Revolution ist ein Konzert. Sie findet nicht im luftlee-


ren Raum statt. Daher sollte man nichts überhören – kein Grund-
rauschen, keinen Paukenschlag, nicht einmal die Blockflöten.

Andreas H. Apelt; Robert Grünbaum, Martin Gutzeit (Hg.):


Umbrüche und Revolutionen in Ostmitteleuropa 1989
Berlin: Metropol 2015

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