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Plenarprotokoll 14/112

Deutscher Bundestag
Stenographischer Bericht

112. Sitzung

Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Inhalt:

Begrüßung des ersten und letzten frei gewähl- Zusatztagesordnungspunkt 14:


ten Ministerpräsidenten der DDR, Herrn
Aktuelle Stunde betr. besserer Schutz der
Lothar de Maizière . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10600 D Bevölkerung – insbesondere von Kindern –
vor Angriffen von Kampfhunden . . . . . . 10618 A
Tagesordnungspunkt 19: Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 10618 B
Wahlvorschlag der Fraktionen SPD und Hartmuth Wrocklage, Senator (Hamburg) . . . 10619 B
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wahl eines Wolfgang Bosbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10620 B
Mitgliedes des Parlamentarischen Kon-
trollgremiums gemäß §§ 4 und 5 Abs. 4 des Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10621 B
Gesetzes über die parlamentarische Kon- Dr. Gregor Gysi PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10622 C
trolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit
des Bundes (Kontrollgremium – PKGrG) Rolf Stöckel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10623 D
(Drucksache 14/3663) . . . . . . . . . . . . . . . 10593 A Dr. Hans-Peter Uhl CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10624 D
Wahl des Abgeordneten Hermann Bachmaier Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10626 A
als Mitglied des Parlamentarischen Kontroll- Klaus Haupt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10627 A
gremiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10593 B
Günter Graf (Friesoythe) SPD . . . . . . . . . . . . 10628 B
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10596 D Beatrix Philipp CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 10629 A
Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . . 10630 B
Tagesordnungspunkt 17: Erwin Marschewski (Recklinghausen) CDU/
Vereinbarte Debatte anlässlich des zehnten CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10631 B
Jahrestages der Wirtschafts-, Währungs- Harald Friese SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10632 A
und Sozialunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10593 C
Hartmuth Wrocklage, Senator (Hamburg) . . . 10633 A
Sabine Kaspereit SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10593 D
Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . . 10633 C
Dr. Theodor Waigel CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10596 D
Dr. Hans-Peter Uhl CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10633 D
Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10601 A
Dr. Günter Rexrodt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 10603 C
Tagesordnungspunkt 20:
Dr. Christa Luft PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10605 D
Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Rainer
Rolf Schwanitz, Staatsminister BK . . . . . . . . 10607 D Jork, Katherina Reiche, weiterer Abge-
Dr. Kurt Biedenkopf, Ministerpräsident ordneter und der Fraktion CDU/CSU:
Lehrstellenmangel Ost mit wirksamen
(Sachsen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10611 A
Regelungen angehen
Dr. Mathias Schubert SPD . . . . . . . . . . . . . . . 10614 D (Drucksache 14/3185) . . . . . . . . . . . . . . . 10634 A
II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10634 B Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE


GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10649 A
Ingrid Holzhüter SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10636 A
Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU . . . . . . . . . 10637 A
Tagesordnungspunkt 24:
Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10637 D
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Antje Hermenau BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10639 A Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer Funke,
Gerhard Jüttemann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 10640 B weiteren Abgeordneten und der Fraktion
F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin BF . . . 10640 D zes zur Reform der Juristenausbildung
Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 10641 D (Drucksache 14/2666) . . . . . . . . . . . . . . . 10650 C

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10650 C


Tagesordnungspunkt 22:
Antrag der Fraktion PDS: Erleichterte Anlage 1
und erweiterte Rehabilitierung und Ent-
schädigung für Opfer der politischen Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 10651 A
Verfolgung in der DDR
(Drucksache 14/2928) . . . . . . . . . . . . . . . 10643 D
Anlage 2
in Verbindung mit Namensverzeichnis der Mitglieder des Deut-
schen Bundestages, die an der Wahl eines Mit-
gliedes des Parlamentarischen Kontrollgremiums
Zusatztagesordnungspunkt 12: gemäß §§ 4 und 5 des Gesetzes über die parla-
mentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher
Erste Beratung des von den Abgeordneten Tätigkeit des Bundes (Kontrollgremium –
Günter Nooke, Ulrich Adam, weiteren Ab- PKGrG) teilgenommen haben (Tagesordnungs-
geordneten und der Fraktion CDU/CSU ein- punkt 19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10652 B
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes
zur Bereinigung von SED-Unrecht (Drittes
SED-Unrechtsbereinigungsgesetz) Anlage 3
(Drucksache 14/3665) . . . . . . . . . . . . . . . 10643 D
Zu Protokoll gegebene Reden zum Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Reform der Juris-
in Verbindung mit
tenausbildung –
JurAusbReformG – (Tagesordnungspunkt 24) 10654 B
Zusatztagesordnungspunkt 13: Norbert Röttgen CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 10654 B
Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10655 C
Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE
der Fraktion CDU/CSU: Den jenseits von GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10657 B
Oder und Neiße Verschleppten wirksam
und dauerhaft helfen Dr. Edzard Schmidt-Jortzig F.D.P. . . . . . . . . . 10658 C
(Drucksache 14/3670) . . . . . . . . . . . . . . . 10643 D Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 10659 B
Petra Pau PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10644 A Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ . . . 10659 D
Günter Nooke CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 10644 D
Barbara Wittig SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10646 C Anlage 4
Jürgen Türk F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10648 C Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10660 C
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(A) (C)

112. Sitzung

Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: Guten Morgen, liebe sichtlich noch nicht der Fall. – Ich frage noch einmal: Ha-
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. ben alle Mitglieder des Hauses – auch die Schriftführer –
ihre Stimmkarten abgegeben und gewählt? – Ich höre kei-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: nen Widerspruch mehr. Das ist dann offensichtlich der
Fall.
Wahlvorschlag der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/
Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführer, mit
DIE GRÜNEN
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl gebe
Wahl eines Mitgliedes des Parlamentarischen ich später bekannt.
Kontrollgremiums gemäß §§ 4 und 5 Abs. 4 des
Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle Wir setzen die Beratungen fort. Liebe Kolleginnen und
nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes Kollegen, ich darf Sie bitten, wieder Platz zu nehmen.
(Kontrollgremium – PKGrG)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
(B) – Drucksache 14/3663 – (D)
Die Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen Vereinbarte Debatte
schlagen auf Drucksache 14/3663 den Abgeordneten anlässlich des zehnten Jahrestages der Wirt-
Hermann Bachmaier vor. schafts-, Währungs- und Sozialunion
Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich um Ihre Auf- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
merksamkeit für einige Hinweise zum Verfahren: Die er- Aussprache zwei Zeitstunden vorgesehen, wobei die PDS
forderlichen blauen Stimmkarten wurden verteilt. Sollten zehn Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider-
Sie noch keine erhalten haben, können Sie diese jetzt noch spruch. Dann ist so beschlossen.
von den Plenarsekretären bekommen. Sie benötigen also
Ich eröffne die Aussprache und bitte Sie noch einmal
eine blaue Stimmkarte. Für die Wahl benötigen Sie außer-
sehr herzlich, Platz zu nehmen, damit wir in die Beratun-
dem Ihren weißen Wahlausweis, den Sie – soweit noch
gen eintreten können. Das Wort hat Kollegin Sabine
nicht geschehen – jetzt noch Ihrem Stimmkartenfach in
Kaspereit, SPD-Fraktion.
der Lobby entnehmen können.
Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mit-
Sabine Kaspereit (SPD): Herr Präsident! Verehrte
glieder des Bundestages auf sich vereint, das heißt, min-
Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag er-
destens 335 Stimmen erhält. Stimmkarten, die mehr als
innert heute an den 1. Juli 1990 – den Tag, an dem die
ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten, sind
Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion in Kraft gesetzt
ungültig. Die Wahl ist nicht geheim. Sie können die
wurde. Es war der Beginn einer Entwicklung, von der zu
Stimmkarte deshalb an Ihren Plätzen ankreuzen. Bevor
Recht gesagt wurde, dass danach nichts mehr so sein
Sie die Stimmkarte in eine der aufgestellten Wahlurnen
würde, wie es vorher gewesen war. Dieser Tag war aber
werfen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einem der
auch der Schlusspunkt einer historischen Entwicklung,
Schriftführer an den Wahlurnen. Die Abgabe des Wahl-
deren Etappen wir heute in Erinnerung rufen müssen: den
ausweises gilt als Nachweis der Teilnahme an der Wahl.
17. Juni 1953 in der DDR, den Herbst 1956 in Ungarn,
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die den Frühling 1968 in Prag und den Winter 1980 in Polen
vorgesehenen Plätze einzunehmen. bis schließlich zum Mauerfall am 9. November 1989. Das
ist das Fundament, auf dem die Bürgerinnen und Bürger
Ich eröffne die Wahl.
der DDR in den Monaten vor dem 1. Juli 1990 in einer
Haben alle Mitglieder des Hauses – auch die Schrift- friedlichen Revolution das kommunistische Regime der
führer – ihre Stimmkarten abgegeben? – Das ist offen- SED beseitigen konnten.
10594 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Liebe Kollegin, einen All das ist grundfalsch. Die ehemals blühende ost- (C)
kleinen Moment! Liebe Kolleginnen und Kollegen dort deutsche Industrielandschaft wurde während 40 Jahren
hinten, nehmen Sie doch Platz oder verlassen Sie den Ple- Sozialismus platt gemacht und nicht nach dem
narsaal! 1. Juli 1990.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem (Beifall bei der SPD und BÜNDNIS 90/
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
F.D.P.) CDU/CSU und der F.D.P.)
Frau Kollegin Kaspereit hat eine sanfte Stimme und Millionenfache Arbeitslosigkeit war in den sozialisti-
würde sonst rhetorisch behindert werden. Herzlichen schen Betrieben und Verwaltungen versteckt worden. Das
Dank. Volkseigentum stand zur Disposition einer winzigen Min-
derheit von Funktionären, die es verkommen ließen. Der
für alles zuständige fürsorgliche Staat hatte die Leis-
Sabine Kaspereit (SPD): Vielen Dank, Herr Präsi- tungsbereitschaft der Menschen gelähmt. Die Region, die
dent. vor dem Zweiten Weltkrieg an der vordersten Front des
Erst mit diesem Schritt wurde der Weg für die Vereini- industriellen Fortschritts stand, wurde an die Peripherie
gung Deutschlands in einem demokratischen und sozialen der wirtschaftlichen Entwicklung gedrängt und fiel im-
Rechtsstaat frei gemacht. Es hatte sich gezeigt, dass das mer mehr zurück. Das ist die Wahrheit.
Bewusstsein und die Verantwortung für die gemeinsame (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der
Geschichte, persönliche und verwandtschaftliche Bezie- CDU/CSU und der F.D.P.)
hungen und das Zusammengehörigkeitsgefühl der
Deutschen stärker waren als eine kommunistische Ideo- Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die überwiegende
logie und eine die Deutschen in Ost und West separie- Mehrheit der Ostdeutschen war und bleibt der 1. Juli 1990
rende Staatsräson. ein Tag der Freude und Erleichterung. Jetzt war klar, dass
die friedliche Revolution endgültig gesiegt hatte. Jetzt
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) war klar, dass die Wiedervereinigung kommen würde,
Es war deshalb kein Zufall, dass die Deutschen bei der schnell kommen würde, und das entsprach den Wünschen
ersten sich bietenden Gelegenheit die Chance zur Wie- der überwältigenden Mehrheit der Menschen in Ost und
dervereinigung nutzten. Das war unseren Nachbarn im West.
Westen, aber auch im Osten immer selbstverständlich und (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
immer präsent. Nur dem einen oder anderen im eigenen F.D.P.)
(B) Land schien das Gespür dafür abhanden gekommen zu Sosehr sich Freude und Erleichterung mit dem 1. Juli (D)
sein.
1990 verbinden – es gab auch Besorgnis vor dem, was
(Zustimmung bei der CDU/CSU) kommen würde. Wir fühlten, dass sich unser Leben
Dabei steht die historische Bedeutung des 1. Juli 1990 grundlegend ändern muss.
außer Frage. Der Schritt zur Wirtschafts-, Währungs- und Seit dem Mauerfall setzte eine Umwertung aller bisher
Sozialunion war das zentrale Ereignis im Prozess der geltenden Normen und Werte ein, eine Kulturrevolution
Wiedervereinigung Deutschlands. Dieser Schritt war not- im wahrsten Sinne des Wortes. Das, was zuvor des Teu-
wendig und ohne Alternative. Heute – zehn Jahre nach fels war, wurde nun hoch gelobt. Individualismus statt
den oft heftigen Debatten über ein Für und Wider – kann Kollektivismus, Verfolgen eigener Interessen statt Solida-
das so bestimmt festgestellt werden. rität, Wettbewerb statt Planung, Konkurrenzverhalten,
Doch die historische Bedeutung dieses Datums, die Selbstverwirklichung, Prestigedenken, ungenierter Ge-
Gefühle der Betroffenen und ihre Erinnerungen an das Er- brauch der Ellenbogen, Egozentrismus – so wurden die
eignis fallen merkwürdig auseinander. Es scheint: Je wei- neuen Herausforderungen umschrieben, denen wir uns
ter sich das Ereignis im zeitlichen Verlauf entfernt, desto stellen mussten und doch nur schlecht stellen konnten.
schwerer fällt es, gemeinsame Bilder, Bewertungen und Ich kann mich noch erinnern: Als Kinderzahnärztin
Erinnerungen zu finden. Zu viele Hoffnungen wurden hatte ich größte Schwierigkeiten, mit den neuen Gege-
seither enttäuscht, zu viele Wünsche blieben unerfüllt, zu benheiten im Gesundheitswesen zurechtzukommen. Nun
viele Versprechen wurden gebrochen, zu viele Lebens- hieß es nicht mehr allein, den Patienten in den Mund zu
entwürfe über den Haufen geworfen und Biografien ent- schauen, um zu sehen, ob sie gesunde Zähne hatten und
wertet. was zu tun wäre, wenn dies nicht der Fall war. Ich hatte
Für nicht wenige in den neuen Ländern erscheint der aber nie gelernt, den Patienten zuerst ins Portemonnaie
1. Juli deshalb als der Sündenfall schlechthin. Das ist für und dann in den Mund zu schauen.
sie der Tag, an dem die Industrielandschaft der DDR platt Mein Freundeskreis in der DDR, mit relativ homoge-
gemacht wurde und von dem an Millionen ihren Arbeits- nen Interessen verbunden, überlebte die Wende nicht und
platz verloren. Das ist für sie der Tag, an dem das Volks- zerfiel. Wir sprachen nicht mehr dieselbe Sprache und
eigentum der DDR verschleudert wurde oder in west- hatten sehr unterschiedliche Probleme zu lösen. Der eine
deutsche Hände fiel. Das ist für sie der Tag, an dem die gründete eine Firma, der Zweite brauchte eine halbe Mil-
Sicherheit eines umfassenden, fürsorglichen Staates ver- lion für eine Praxisgründung, der Dritte kam mit den Ver-
schwand. änderungen im Schulsystem nicht zurecht. Urlaubsfotos
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10595
Sabine Kaspereit

(A) aus der Karibik verletzten den Stolz meiner arbeitslosen aufgefordert – ich zitiere mit Genehmigung des Präsiden- (C)
Nachbarin. Die Entscheidung für eine bestimmte Auto- ten –:
marke rief Schulterzucken hervor, früher eher Freude da-
Die Bundesregierung, insbesondere Finanzminister
rüber, dass das Auto endlich da war. Schließlich fehlten
Waigel, muss endlich ihren Widerstand gegen eine
die gemeinsamen Gesprächsthemen, über die man pre-
deutsch-deutsche Währungsunion aufgeben.
stige- und vorurteilsfrei hätte sprechen können.
(Lachen bei der CDU/CSU)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bilder vom
1. Juli 1990 sind haften geblieben und waren geprägt von Wer die Währungsunion auf den Sankt-Nimmer-
Menschenschlangen vor Sparkassen und Banken. Am leins-Tag verschiebt und sich, wie Herr Waigel, nur
2. Juli standen in den Regalen der Konsum-Verkaufsstel- als Oberbedenkenträger betätigt, der schadet den
len Waren, die wir nur aus der Werbung im Fernsehen Deutschen in Ost und West und behindert den orga-
kannten. Doch ebenso wie im Intershop waren diese Wa- nischen Prozess der deutschen Einigung.
ren nur gegen Westgeld zu erhalten. Aber – großes Stau-
nen – wir hatten ja plötzlich die D-Mark. Und wir drehten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
jede Mark zweimal um, bevor wir sie ausgaben. DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/
CSU]: Das ist ja peinlich!)
Das war der Schritt zur Wirtschafts-, Währungs- und
Sozialunion; aber es war weit mehr als nur der Tag, an So weit Wolfgang Roth, damals wirtschaftspolitischer
dem die Mark der DDR in D-Mark eingetauscht wurde. Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, und Ingrid
Entscheidend war: Die Wirtschafts-, Währungs- und So- Matthäus-Maier, finanzpolitische Sprecherin der SPD-
zialunion hat die Grundlagen für den Weg zur sozialen Bundestagsfraktion, am 2. Februar 1990.
Marktwirtschaft geschaffen und dieser Weg war bitter (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die hat doch
nötig, auch wenn das damals noch nicht von allen so ge- nur vom Jäger 90 gesprochen!)
sehen wurde.
Es waren im Übrigen auch Sozialdemokraten, die da-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) rauf gedrängt hatten, dass die mit der Währungsumstel-
Über das Ob, das Wie, das Wann einer Währungsunion lung verbundenen schmerzlichen Anpassungsschritte so-
wurde 1990 heftig gestritten, nicht nur in beiden Parla- zial und ökologisch begleitet werden müssten. Es ist nicht
menten, der Volkskammer und dem Bundestag, sondern zuletzt das Verdienst der SPD gewesen, Währungs-, Wirt-
auch innerhalb der Parteien, auch und gerade in meiner schafts- und Sozialunion als gemeinsames Projekt des
Partei. Angesichts der außerordentlichen Bedeutung die- Übergangs zur sozialen Marktwirtschaft zu definieren
ser Entscheidung war das nur allzu verständlich. und in die politische Debatte einzuführen.
(B) (Beifall bei der SPD) (D)
Ein bunter Strauß von Meinungen, Ansichten, Thesen
und Antithesen und Analysen wurde täglich feilgeboten. Es ist damals im Vorfeld der Entscheidungen häufig
Gewissheiten von heute waren morgen schon widerlegt, das Bild eines millionenfachen Exodus von DDR-Bür-
Unsicherheiten und Befürchtungen wurden bald zu Tatsa- gern in die Bundesrepublik bemüht worden, um das
chen. schnelle In-Kraft-Setzen der Wirtschafts-, Währungs- und
Aber es hat doch keinen Sinn, heute den Neunmalklu- Sozialunion zu begründen. Ich halte dieses Bild für zu ein-
gen zu spielen. Deshalb halte ich die häufig geführte Was- seitig und für zu eng. Mit ihm werden falsche Akzente ge-
wäre-wenn-Diskussion für so unnötig wie einen Kropf. setzt; denn es hat auch eine gewisse Suggestionskraft. Der
Das Gesetz des Handelns lag jedoch nicht in den Par- Slogan „Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu
lamenten, weder in Berlin noch in Bonn, sondern es lag ihr“ hat zudem etwas Drohendes und wohl auch etwas Be-
bei den Regierungen. Und die brauchten häufig länger als drohliches.
notwenig, um Entwicklungen angemessen zu beurteilen
und dementsprechend zu handeln. Die Notwendigkeit einer schnellen Vereinigung war
ganz offensichtlich: Der Sozialismus in der DDR hatte –
Es waren Sozialdemokraten, die bereits früh die Not- wie auch anderswo – buchstäblich abgewirtschaftet. Im
wendigkeit des Schrittes hin zur Währungsunion gefor- Übrigen wusste das keiner besser als die SED-Führung
dert und in die politische Debatte eingeführt hatten. selbst. Ich erinnere an Ehrensperger und Schürer.
(Beifall bei der SPD – Lachen bei der Nein, meine Damen und Herren von der PDS, es gab
CDU/CSU und der F.D.P.) zur schnellen Vereinigung keine Alternative. Es gab auch
Ich schaue mit Vergnügen auf die Tribüne dieses Hauses keine Alternative zu einem radikalen Neuanfang in Wirt-
und begrüße unsere ehemalige Kollegin, das heutige Vor- schaft und Gesellschaft. Die Wahrheit ist, dass die Wie-
standsmitglied der Kreditanstalt für Wiederaufbau, Frau dervereinigung die ostdeutsche Bevölkerung vor einem
Ingrid Matthäus-Maier. wirtschaftlichen und sozialen Absturz bewahrt hat.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vielen von uns war damals allerdings nicht klar, dass
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der die Wiedervereinigung nicht ein einmaliges Ereignis ist,
CDU/CSU und der PDS) sondern ein lang anhaltender, schwieriger Prozess sein
würde, den ich heute als eine einzigartige nationale Auf-
Zusammen mit ihrem Kollegen Wolfgang Roth hatte gabe definieren möchte.
Ingrid Matthäus-Maier in einer Pressemitteilung – bitte
hören Sie zu – vom 2. Februar 1990 die Bundesregierung (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
10596 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Sabine Kaspereit

(A) Ich werde nie die Bemerkung meines Mannes vergessen, Die Zeitspanne vom 9. November 1989, dem Zeitpunkt (C)
als er mich – noch immer berauscht von der Aussicht auf der Öffnung der Mauer, bis zum 3. Oktober 1990 war für
ein ostdeutsches Wirtschaftswunder, das die damalige uns eine Zeit der emotionalen Hochspannung und der
Kohl-Regierung uns täglich suggerierte – auf die Erde überschwänglichen Hoffnung, ja der illusionären Erwar-
zurückholte mit der Frage: Und was ist, wenn das Geld tungen. Es war eine Zeit der Erleichterung, der Erweite-
ausgegeben ist? rung unseres Horizonts und vor allem des besonderen Ge-
Ja, was ist eigentlich, wenn den Menschen das Geld schmacks der Freiheit, wie man ihn nur zu Zeiten von Re-
ausgeht, wenn die Farbfernseher, die Videorekorder, die volutionen schmeckt. Dies ist eine Erfahrung, die wir
Kameras gekauft, die Autos angeschafft sind und der Ur- Ostdeutschen unseren Mitbürgern in den alten Ländern
laub auf den Balearen vorbei ist? Die Wohnungen waren voraushaben und immer voraushaben werden.
noch immer eng. Die sanitären Verhältnisse waren er- Wir wurden wieder Subjekt unserer Geschichte, Han-
bärmlich. Die Braunkohleöfen und Fernheizungen stan- delnde, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen
ken wie eh und je. Wenn man sich dann auch noch den Zu- konnten. Dies ist nichts Abstraktes, sondern eine hautnahe
stand der Fabriken und der Verwaltungen anschaute, dann Erfahrung, die ich als Bürgermeisterin einer Gemeinde
war klar: Uns trennen nicht Jahre, uns trennen Jahrzehnte von nur wenigen hundert Einwohnern machen konnte.
von den Verhältnissen in den Betrieben und Verwaltungen Die Gemeinde hatte plötzlich ihre kommunale Selbst-
in der alten Bundesrepublik. Die Verkehrswege, das Tele- verwaltung entdeckt. Dies ist eine Erfahrung, die im Be-
fonnetz, die Wasserversorgung und die Abwasserentsor- wusstsein hängen bleibt und die das Leben der überwälti-
gung waren nahezu unverändert auf dem Stand von vor genden Mehrheit der Menschen in den neuen Ländern
dem Zweiten, zum Teil sogar noch auf dem vor dem Ers- verändert hat.
ten Weltkrieg.
Letztendlich sind es diese alltäglichen Erfahrungen der
In den vergangenen zehn Jahren ist in Ostdeutschland Selbstbestimmung und der Verantwortung, die zählen. Sie
unendlich viel geschehen. Wer heute selbst durch abgele- sind ein wesentlicher Teil des Fundamentes, auf dem wir
gene Regionen reist, kommt häufig aus dem Staunen nicht uns seither bewegen und das uns in den kommenden Jah-
mehr heraus. Ich lade gerade unsere westdeutschen Mit- ren trotz aller Probleme und Frustrationen immer wieder
bürgerinnen und Mitbürger ein, sich in den neuen Ländern tragen wird.
umzusehen. Wer die Landschaften noch von Verwandten-
besuchen zu DDR-Zeiten kennt, wird sehen, welche enor- Danke schön.
men Fortschritte im vergangenen Jahrzehnt gemacht wor-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
den sind. Ich möchte das jetzt gar nicht alles aufzählen.
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Aber Sie werden dann auch sehen, was noch zu tun übrig
(B) geblieben ist. Sie werden besser verstehen, dass wir noch CDU/CSU) (D)
immer auf die Solidarität aus dem Westen angewiesen
sind. Präsident Wolfgang Thierse: Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich darf Ihnen zwischendurch das Ergebnis
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) der Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kon-
trollgremiums bekannt geben. Abgegebene Stimmen 573.
Mit der Entscheidung für einen schnellen Übergang Ungültige Stimmen 1. Mit Ja haben gestimmt 390, mit
zur Marktwirtschaft und zur Einheit und damit zur vollen Nein haben gestimmt 167, Enthaltungen 15. 1)
Integration in die Weltwirtschaft war das Todesurteil über
den ostdeutschen Kapitalstock gesprochen, mit all den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Folgen für Wachstum und Beschäftigung in den neuen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Ländern. Das war übrigens den Experten klar. Sie haben PDS)
sich ebenso klar dazu geäußert. Der Abgeordnete Hermann Bachmaier hat die nach § 4
Wenn heute das DIW beklagt, dass das Primat der Abs. 4 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle
Politik über die Ökonomie einen hohen Preis gefordert nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes erforderli-
hat, so möchte ich dem nicht widersprechen; aber es war che Mehrheit von 335 Stimmen erreicht. Er ist damit als
eine richtige und politisch mutige Entscheidung, die der Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums ge-
Ausnahmesituation angemessen war. wählt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der
Es gehört allerdings zu den entscheidenden politischen F.D.P. und der PDS)
Fehlern der Kohl-Regierung, die Menschen in Ost und
West auf die Konsequenzen eines schnellen Übergangs Wir fahren in der Debatte fort. Ich gebe dem Kollegen
nicht vorbereitet zu haben. Im Gegenteil, mit dem Gerede Theodor – – Theo Waigel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
über blühende Landschaften und über die Angleichung
der Lebensverhältnisse in wenigen Jahren sind vor allen Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU) (von der CDU/CSU
Dingen Ostdeutsche fehlorientiert worden – mit fatalen mit Beifall begrüßt): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine
Folgen für die weitere Entwicklung.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 1) Anlage 2
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10597
Dr. Theodor Waigel

(A) Damen und Herren! Herr Präsident, Sie dürfen ruhig Otto von Bismarck lag sicherlich richtig mit seinem Hin- (C)
Theodor zu mir sagen. Auch Franz Josef Strauß hat das weis, die Geschichte habe nicht immer das große Los im
gesagt. Theodor heißt „Geschenk Gottes“. Nicht alle wis- Topf. Ob die staatliche Wiedervereinigung Jahre später
sen das. noch möglich gewesen wäre, ist mehr als fraglich. Ich bin
(Heiterkeit im ganzen Hause – Beifall bei der überzeugt: Der Preis für die Zustimmung der Nachfolge-
CDU/CSU und der F.D.P.) staaten der Sowjetunion zur Wiedervereinigung wäre mit
Sicherheit um ein Vielfaches höher gewesen als die
Ich bin also durchaus auf den ganzen Vornamen stolz. 18 Milliarden DM, die wir für den Abzug der letzten Rot-
Der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- armisten von deutschem Boden bezahlt haben.
und Sozialunion war ein entscheidender Meilenstein im Auch die ökonomische Bedeutung des Angebots der
Prozess der Wiedervereinigung zwischen dem 9. Novem- Währungsunion dürfte heute nicht mehr umstritten sein.
ber 1989 und dem 3. Oktober 1990. Die politische Be- Es war für die Ausreisewilligen ein Signal zum Bleiben,
deutung des Vertrages liegt auf der Hand: Er war der un- gleichsam der Startschuss für einen ökonomischen
umkehrbare Schritt zur staatlichen Einheit Deutschlands. Neuanfang durch endgültige Absage an die sozialistische
Das wussten wir und das wollten wir. Planwirtschaft und Übergang zum Modell der sozialen
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Marktwirtschaft.
Mit der Übertragung der währungspolitischen Souve- Das Konzept der Währungsunion steht historisch
ränität auf die Bundesbank war ein eigenständiger ost- ohne Vorbild da. Die handelnden Politiker diesseits wie
deutscher Staat nicht zu vereinbaren. Es dauerte mehr jenseits der Elbe konnten weder auf wissenschaftliche
als 40 Jahre von der letzten gesamtdeutschen Konferenz noch auf empirische Untersuchungen zurückgreifen.
der Ministerpräsidenten in München bis zur ersten Beiträge zur so genannten Transformationstheorie haben
Sitzung des gesamtdeutschen Bundestages. Viele hatten erst in späteren Jahren das Licht der Welt erblickt. Ich
das Ziel der Wiedervereinigung schon aufgegeben. Frau sage das vor allem an die Adresse der Ex-post-Besserwis-
Kaspereit, manches von dem, was Sie gesagt haben, war ser, die Jahre später lautstarke Kritik erhoben, von denen
richtig; nicht alles war ganz richtig. Manchmal waren es aber in den entscheidenden Wochen und Monaten nichts
ganze Fraktionen, die den Gedanken an die Wiederverei- zu hören war.
nigung schon aufgegeben hatten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Außer bedenkens- und dankenswerten Beiträgen von
Aber ich will in die heutige Debatte keine zusätzliche Kurt Biedenkopf und Karl Schiller sowie des Wissen-
(B) Schärfe hineinbringen. schaftlichen Beirats beim Wirtschaftsministerium galt da- (D)
Die Teilung des deutschen Vaterlandes konnte nicht mals unbestritten das Primat der Politik.
das letzte Wort der Geschichte sein. Wer das Konzept der Währungsunion würdigen will,
Jedes Volk hat das Recht auf Selbstbestimmung. der muss sich der politischen Großwetterlage Ende der
80er-Jahre erinnern. Der NATO-Doppelbeschluss hatte
Auch namhafte Persönlichkeiten aus dem Bereich von die sicherheitspolitische Entschlossenheit des Westens
Kunst und Kultur erhielten den Willen nach Gemeinsam- unterstrichen. Die Ergebnisse der Helsinki-Konferenz
keiten aufrecht. Ich erinnere stellvertretend für viele an blieben auch den Menschen in Osteuropa nicht unbe-
Martin Walser, der in den Münchner Kammerspielen ein kannt. Michail Gorbatschow bemühte sich, mit systemim-
Jahr vor der Wiedervereinigung ausführte: manenten Reformen das sozialistische Wirtschafts- und
Aus meinem historischen Bewusstsein ist Deutsch- Gesellschaftsmodell im Osten zu reformieren. Die gra-
land nicht zu tilgen. Sie können neue Landkarten vierenden Wirtschaftsprobleme des Ostblocks allerdings
drucken, aber sie können mein Bewusstsein nicht neu beruhten auf einem Versagen des Systems. Was folgte,
herstellen. Ich weigere mich, an der Liquidierung war eine politische Eigendynamik sondergleichen, an de-
von Geschichte teilzunehmen.... Wir müssen die ren Ende die friedlichen Revolutionen in Warschau, Prag
Wunde namens Deutschland offenhalten. und Budapest standen.
Respekt, Martin Walser! Dieser Entwicklung konnte sich der SED-Staat nicht
entziehen. In 40 Jahren war es in Ostdeutschland nicht ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie lungen, eine eigene nationale Identität zu entwickeln.
bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS- Trotz schön gefärbter Bilanzen nahmen die Wirt-
SES 90/DIE GRÜNEN) schaftsprobleme zu. Die Transferleistungen der Bundes-
Heute wissen wir: Es war richtig, am Ziel der Einheit republik und die Kredite des Westens trugen trotz gegen-
in Freiheit festzuhalten, auch wenn der Zeitpunkt der teiliger Äußerungen keineswegs zur Verlängerung der Le-
Vereinigung nicht voraussehbar war. Es war die große his- benszeit der DDR bei. Sie waren schon von ihrem
torische Leistung von Helmut Kohl, die damalige Chance Volumen her nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen
zur Wiedervereinigung mit Mut und mit Augenmaß er- Stein.
griffen zu haben.
Die Demonstrationen von Ostberlin bis Leipzig ver-
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall deutlichten ohne Wenn und Aber den Willen der Ostdeut-
bei der F.D.P.) schen nach Veränderung. Das Streben nach Freiheit,
10598 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Dr. Theodor Waigel

(A) Selbstbestimmung und Demokratie lässt sich auf Dauer verständnis und mit der Verfassung Deutschlands nicht (C)
nicht unterdrücken. vereinbar gewesen.
Die Öffnung der Mauer war die Folge. Die Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie
regierung antwortete darauf mit dem Angebot zur poli- bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS-
tischen und ökonomischen Zusammenarbeit. Die Zeit SES 90/DIE GRÜNEN)
drängte. Spielraum für Zwischen- oder Übergangslösun-
gen bestand faktisch nicht. Die politische und ökonomi- Übrigens hätte auch der Verzicht auf die Einheit den
sche Entwicklung hatte eine unaufhaltsame Eigendyna- Ostdeutschen einen tief gehenden Strukturwandel mit Re-
mik gewonnen. zession und Arbeitslosigkeit nicht erspart.

Beim Angebot der Währungsunion spielten ökonomi- Es gab damals Stimmen, die sich für einen Wirt-
sche Notwendigkeiten eine wichtige Rolle. Es zeigte sich schafts- und Währungsverbund aussprachen. Nur wäre
schnell: Eine eigenständige DDR würde aus eigener Kraft ein Festkurs zwischen Ost-Mark und D-Mark mit ent-
die Defizite bei der Infrastruktur, im Umweltbereich, bei sprechender Interventionsverpflichtung der Bundesbank
der Arbeitsproduktivität, bei der Wettbewerbsfähigkeit ganz sicher politisch nicht durchsetzbar gewesen und auf
und beim Konsumniveau nicht beseitigen können. Dies den geschlossenen Widerstand aller deutschen Wirt-
war nur durch Mobilisierung westlichen Kapitals mög- schaftsexperten gestoßen. Auch Kapitaltransfers, die der
lich. Entscheidend waren jedoch politische Gesichts- westdeutsche Steuerzahler hätte aufbringen müssen, um
punkte. Bis Ende Dezember 1989 belief sich die Zahl ein neues Wirtschaftsexperiment auf deutschem Boden
der Übersiedler auf über 120 000. Nur dadurch, dass ih- mit plan- und marktwirtschaftlichen Elementen zu finan-
nen ökonomische Zukunftsperspektiven eröffnet wurden, zieren, wären im Westen auf wenig Gegenliebe gestoßen.
konnte eine weitere Abstimmung mit den Füßen verhin-
dert werden. Dies war der politische Aspekt. Es bleibt der wiederholte Hinweis auf Stufenlösun-
gen. Doch auch diese Option hält im Rückblick nicht
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stand. Hätten wir gewartet, bis die ostdeutsche Wirtschaft
neten der F.D.P.) das westdeutsche Leistungs- und Produktionsniveau
Bereits im Dezember, Frau Kaspereit, wurde im BMF annähernd erreicht hätte, gäbe es noch heute keine
eine Arbeitsgruppe eingerichtet. Ich erinnere mich noch Währungsunion, geschweige denn die Wiedervereini-
gut an die Diskussionen, die wir damals im Rahmen einer gung.
Klausurtagung des Bundesministeriums der Finanzen zur Meine Damen und Herren, als das Statistische Bundes-
Konkretisierung des Währungsprojekts führten. Zur glei- amt uns bei der Umsetzung der Europäischen Währungs-
chen Zeit, am 19. Januar 1990, wies Kurt Biedenkopf auf
(B) die Unmöglichkeit hin, die Währungsfrage behutsam zu union mitteilte, dass unser Defizit 2,7 Prozent beträgt, (D)
wollte uns ein bestimmtes Wirtschaftsforschungsinstitut
lösen, und die frühere Kollegin Ingrid Matthäus-Maier
forderte in der „Zeit“ einen Währungsverbund mit einer aufgrund seiner Berechnungen glauben machen – das hat
einheitlichen Währung, also eine Währungsunion. Der viel Verwirrung geschaffen –, dass es bei 3,4 Prozent
Sprung ins Wasser war unvermeidlich; mit den Worten liege. Später hat sich herausgestellt, dass es bei 2,6 Pro-
von Vaclav Havel ausgedrückt: Man kann einen Abgrund zent lag. Ausgerechnet dieses Institut kommt jetzt, nach
nicht mit zwei Sprüngen überqueren. Man muss den mu- zehn Jahren, im Rückblick zu dem Ergebnis, man hätte
tigen Schritt auf einmal tun. den Kurs auf 1:4 oder 1:5 festsetzen sollen. Ich frage Sie:
Was hätten wohl die Menschen in Ostdeutschland gesagt,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie wenn wir die Rentner mit 150 bis 200 DM und die Ar-
bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS- beitnehmer mit 350 bis 400 DM zurückgelassen hätten?
SES 90/DIE GRÜNEN) Es ist doch geradezu abstrus, welche Vorstellungen zehn
In der Tat war dies ein revolutionärer Schritt mit weit- Jahre später entwickelt werden!
reichenden, teilweise ungewissen Folgen. Aber gab es da-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.
mals wirklich Erfolg versprechende Optionen für andere
Lösungen? Entscheidend war für mich die politische Dy- sowie bei Abgeordneten der SPD)
namik. Die Menschen im Osten verlangten überzeugende
Signale. Die Stimmen wurden lauter: Kommt die D-Mark, Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Waigel, ge-
bleiben wir; kommt sie nicht, gehen wir zu ihr. statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel?
Eine Alternative bestand sicherlich in der „Österreich-
Lösung“, das heißt der Aufrechterhaltung einer politisch Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU): Herr Kollege
und ökonomisch selbstständigen DDR. Ich will heute Meckel, ich schätze Sie sehr, aber ich bitte um Verständ-
nicht die Schlachten von gestern wiederholen. Nur, eine nis, dass ich hier im Zusammenhang vortragen möchte.
neue Paragraphenmauer zum Stopp der Zuwanderung war
moralisch nicht mehr vertretbar. Wer heute glaubt, wir Ich sehe bis heute kein besseres Konzept als die von
hätten damals noch die Zeit für Stufenlösungen gehabt, uns gewählte Währungsunion. Die DDR-Planwirtschaft
der muss den Menschen gleichzeitig sagen, dass wir eine war am Ende. Ohne Marktwirtschaft und Gemeinschafts-
neue Mauer aus Paragraphen, eine neue Mauer für den währung wäre der dringend erforderliche Zufluss von öf-
Handel, eine neue Mauer in Form von Ausreisebeschrän- fentlichem und privatem Kapital aus Westdeutschland Il-
kungen aufgerichtet hätten. Das wäre mit unserem Selbst- lusion geblieben.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10599
Dr. Theodor Waigel

(A) Sicherlich: Der ökonomische Wiederaufbau dauerte voraussehbaren Wegbrechen der Ostmärkte und der – (C)
länger und erfordert mehr Finanzmittel als ursprünglich darin sind sich nahezu alle deutschen Wirtschaftsforscher
geplant. Exakte Daten über das tatsächliche Produkti- einig – zu schnellen Angleichung des Lohnniveaus.
vitätsniveau und den Kapitalstock lagen nicht vor. Was Wer den Erfolg der Währungsunion infrage zu stellen
den erforderlichen Finanzaufwand betraf, gab es eben- versucht, der hat den Kontakt mit den Realitäten verloren.
falls nichts als vage Schätzungen. Selbst die Wirtschafts- Die Angleichung der Einkommens- und Lebensver-
forschungsinstitute standen weitgehend mit leeren Hän- hältnisse in Deutschland ist in nur zehn Jahren spürbar
den da. So bezifferte das von mir bereits apostrophierte vorankommen. Wer heute den Mangel an blühenden
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung den jährlichen Landschaften beklagt, der verschweigt bewusst, wie die
Sanierungsbedarf auf 50 Milliarden DM, während nach Situation vor fünf oder vor zehn Jahren ausgesehen hat.
Auffassung der Berliner Experten die Sanierung der Be-
triebe ausschließlich durch privates Kapital erfolgen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
sollte. Die Umweltverschmutzung hat drastisch ab- und die Pro-
Noch bei den Verhandlungen über den Staatsvertrag duktivität kräftig zugenommen. Die Modernisierung der
wurde von einem dreistelligen Milliardengewinn in der Infrastruktur ist für jeden sichtbar. Ein breiter Mittelstand
Privatisierungsbilanz ausgegangen, der dann für die Be- hat sich etabliert. Viele Betriebe haben Anschluss an das
teiligung der Mitarbeiter zur Verfügung gestellt werden Weltmarktniveau gefunden.
sollte. Hans Modrow ging von 1 000 Milliarden Ostmark Wer heute Kosten und vermeintliche Erblasten beklagt,
bzw. 500 Milliarden DM aus. Detlef Rohwedder, der sein der hätte vor zehn Jahren, gerade aus dem Bereich der
Leben auf tragische Weise verlor und dessen zu gedenken Bundesländer, durchaus mehr Solidarität unter Beweis
gerade heute Anlass ist, stellen können.
(Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ging von 600 Milliarden DM aus. Es gehört zu der Tragik Innerhalb von zehn Jahren lässt sich jedoch das De-
in jenen Zeiten, dass Detlef Rohwedder damals um die saster einer 40-jährigen Misswirtschaft nicht beseitigen.
Jahreswende seinen Posten verlassen wollte. Wir haben Die noch bestehenden Herausforderungen bezüglich des
ihn aber eindringlich gebeten, seine verdienstvolle Arbeit Kapitalstocks, der Pro-Kopf-Produktion, der Export-
fortzuführen. Seiner und seiner Familie zu gedenken steht schwäche und vor allem der Arbeitslosigkeit und des
uns in dieser Stunde gut an. nachlassenden Wachstums können nur durch die Fortset-
zung des Solidarpaktes bewältigt werden. Es wäre je-
Sicherlich mussten damals Kompromisse geschlossen doch falsch, einer dauerhaften Subventionsmentalität
(B) werden. Das gilt vor allem für die Regelung der Vermö- Vorschub zu leisten. Deshalb müssen die Hilfen schritt- (D)
gensfragen. Ungeachtet unterschiedlicher Rechtsauffas- weise zurückgeführt werden.
sungen über die Enteignungen in der Zeit von 1945 bis
1949 bleibt daran zu erinnern, dass es ohne die damals ge- Die von vielen befürchteten gesamtwirtschaftlichen
fundene Lösung nicht zur Zweidrittelmehrheit der DDR- Verwerfungen blieben aus. Eine Überforderung der deut-
Volkskammer zum Einigungsvertrag gekommen wäre. schen Volkswirtschaft konnte verhindert werden. Die
Dämme haben gehalten! Sowohl bei der Wachstums- und
(Zustimmung bei der SPD) Beschäftigungs- als auch bei der Preisentwicklung schnit-
Richard Schröder hat dies hier vor wenigen Wochen, wie ten wir im Zeitraum 1990 bis 1998 besser ab als unsere
ich meine, eindrucksvoll und sehr ehrlich dargestellt. EU-Partner. Der Vorsitzende des Währungsausschusses,
der Brite Sir Nigel Wicks, hat vor ein paar Jahren im Eco-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der fin gesagt: Die deutsche Volkswirtschaft hat im letzten
F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Jahrzehnt Herausforderungen bewältigt wie keine andere
SES 90/DIE GRÜNEN) Volkswirtschaft der Welt und wie sie vielleicht auch keine
Die Treuhand wurde später zu Unrecht zum Sünden- andere bewältigt hätte. Vier bis fünf Prozent des Brut-
bock gestempelt. Auch wenn es in Einzelfällen zu Fehlern toinlandsproduktes für eine große nationale Herausforde-
gekommen sein mag, so hat doch die Treuhand mit über rung zur Verfügung zu stellen ist eine große nationale
40 000 Privatisierungen hervorragende Arbeit geleistet. Leistung.
Es war damals richtig, auf Experimente eines dritten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Weges, auf staatliche und genossenschaftliche Eigen-
tumskonstruktionen sowie auf dirigistische Strukturpoli- Auch bei der Finanzierung der Wiedervereinigung
tik und Ähnliches zu verzichten. Unsere Leitlinie, von wurden weitgehend die richtigen Schritte gewählt. Trotz
Rohwedder geprägt, war: schnelle Privatisierung, ent- der einigungsbedingten Sonderlasten haben wir das Defi-
schlossene Sanierung und behutsame Stilllegung. zitkriterium von Maastricht erreicht. Wie das Rheinisch-
Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung in einer Si-
Die Währungsunion brachte für die ostdeutsche Wirt- mulationsrechnung ermittelt hat, war der von uns ge-
schaft gewaltige Anpassungslasten mit sich. Der Über- wählte Mix von Ausgabenkürzungen, Steuererhöhungen
gang zur Marktwirtschaft legte die Wettbewerbs- und Ausweitung der Neuverschuldung unter den gegebe-
schwächen der Ostbetriebe offen. Aber die entscheiden- nen Umständen und Rahmenbedingungen richtig. Aller-
den Probleme resultieren nicht aus dem gewählten dings war die einseitige Lastenverschiebung auf den Bun-
Wechselkurs, der ziemlich genau den Vorstellungen der deshaushalt kein Ruhmesblatt für den deutschen Födera-
Bundesbank entsprach, sondern vor allem aus dem nicht lismus.
10600 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Dr. Theodor Waigel

(A) Wie haltlos das Gerede von der Erblast ist, hat die Bun- rund um die Uhr viel mehr geleistet haben, als man ei- (C)
desbank in ihrem Monatsbericht April dargelegt. Dort gentlich normalerweise von jemandem erwarten kann.
heißt es, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
dass die Finanzpolitik im letzten Jahrzehnt trotz der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
überwiegend schwachen Wirtschaftsentwicklung auf SES 90/DIE GRÜNEN)
Konsolidierungskurs war. Über den gesamten Zeit- Ich nenne nur die Namen Köhler, Klemm, Haller,
raum hinweg wurde das konjunkturbereinigte Defizit Schmidt-Bleibtreu und Sarrazin und aus dem Kreis der
stark reduziert, und zwar von 4 Prozent des BIP im Staatssekretäre Klaus Kinkel und von Würzen. Das war
Jahr 1991 auf ½ Prozent im Jahr 1999. eine großartige Zusammenarbeit.
Verehrter Herr Staatssekretär, veranlassen Sie einmal, Wir sind stolz, dass wir am Projekt der Währungsunion
dass sich Ihr Minister das von seinem Freund Welteke zu- mitarbeiten und dadurch einen Beitrag zur Wiederverei-
faxen lässt, damit er das nachlesen kann. nigung leisten durften. Die Wiedervereinigung war, ist
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und bleibt der entscheidende Schritt zur Entspannung
neten der F.D.P.) auf dem Kontinent, das heißt zur Sicherung des Frie-
dens durch die Beseitigung des größten Spannungsherdes
Zehn Jahre nach dem In-Kraft-Treten der Währungs- in Europa. Damit erfolgte ein Paradigmenwechsel der
union besteht wahrlich kein Anlass zum Lamentieren. Die Weltpolitik.
größte Solidaraktion in der deutschen Geschichte greift.
Wer sich schon 1990 eine Schweiß-und-Tränen-Rede des (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.
Bundeskanzlers gewünscht hätte, sei daran erinnert, dass sowie bei Abgeordneten der SPD)
sich in einer konsumorientierten Gesellschaft die Solida- Die 90er-Jahre haben all jene widerlegt, die als Folge
ritätsbereitschaft, ausgedrückt als nationale Begeisterung der Wiedervereinigung ein Wiederaufflammen des deut-
für Steuererhöhungen, in recht engen Grenzen hält. schen Nationalismus befürchtet hatten. Das vereinigte
(Heiterkeit bei der CDU/CSU) Deutschland hat sich zum berechenbaren und geschätzten
Partner auf der Bühne der internationalen Politik ent-
Wer immer noch über die hohen Kosten der Einheit wickelt. Zusammen mit Frankreich haben wir das Projekt
klagt, der sei an Ernst Jünger erinnert, der in diesem Zu- der Europäischen Union mit einem gemeinsamen Wirt-
sammenhang auf die Frage „Was kostet die deutsche Ein- schaftsverbund und einer einheitlichen Währung auf den
heit?“ geantwortet hat: „Wenn dein Bruder vor der Tür Weg gebracht. Wenn wir diesen Weg mit Mut und mit Be-
steht, lässt du ihn rein und fragst nicht, was es dich kosten sonnenheit weiter verfolgen, dann können wir mit Opti-
wird.“ mismus auf Deutschlands Zukunft blicken.
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Die Jahre von 1990 bis 2000 werden einmal als das (D)
sowie bei Abgeordneten der SPD) beste Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts in die deutsche
Ich füge hinzu: Was hätten nicht Adenauer, Schumacher, Geschichte eingehen.
Heuss und Strauß gegeben, wenn sich ihnen die Chance (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie
zur Wiedervereinigung eröffnet hätte! bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS-
(Zuruf von der SPD: Bei Strauß: ein Geschäft SES 90/DIE GRÜNEN)
machen!) Es ist etwas Großartiges und es war uns vergönnt, die
Meine Damen und Herren, ich darf mit einigen per- Präambel des Grundgesetzes, das politische Vermächtnis
sönlichen Worten schließen. Das waren für mich damals der Gründungsväter unserer Republik, zu verwirklichen.
spannende und aufregende Tage: die Diskussionen in der Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den
Fraktion, im Kabinett, im Bundestag, im Bundesrat, Menschen waren wir von dem Willen beseelt, die natio-
ebenso die Verhandlungen mit Walter Romberg, Walter nale und staatliche Einheit zu wahren und in einem ver-
Siegert, Lothar de Maizière und die Pressekonferenz da- einten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen. Das
mals am 1. Juli, die Angela Merkel in Ostberlin geleitet deutsche Volk hat in freier Selbstbestimmung seine Ein-
hat. Wir hatten es nicht immer leicht miteinander. heit und Freiheit vollendet.
Man kann nicht allen danken, die zum Gelingen der Ich danke Ihnen.
Währungsunion beigetragen haben. Aber einige wenige (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der
Namen seien genannt: für die CDU/CSU der damalige F.D.P. – Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Bundeskanzler Kohl, die Bundesminister Seiters und
Schäuble, der Fraktionsvorsitzende Dregger, der Landes-
gruppenvorsitzende Bötsch und Michael Glos; für die Präsident Wolfgang Thierse: Bevor ich dem nächs-
F.D.P. Bundesminister Genscher, der Vorsitzende Graf ten Redner das Wort erteile, möchte ich die Gelegenheit
Lambsdorff und der unvergessene Fraktionsvorsitzende nutzen, sehr herzlich den ersten und letzten frei gewähl-
Wolfgang Mischnick; für die SPD der Fraktionsvorsit- ten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière,
zende Dr. Vogel, Frau Matthäus-Maier, Wolfgang Roth auf der Besuchertribüne zu begrüßen. Seien Sie uns herz-
und natürlich der große alte Willy Brandt; für die Bun- lich willkommen!
desbank die Herren Pöhl, Schlesinger und Tietmeyer. (Beifall)
Außerdem möchte ich – das sei mir erlaubt – vor allen
Dingen den Frauen und Männern im Bundesministerium Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Oswald Metzger,
der Finanzen danken, die wirklich über Monate hinweg Bündnis 90/Die Grünen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10601

(A) Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den Landschaften auf der Metaebene eine realitätsnahe (C)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts Einschätzung der wirtschaftlichen Konsequenzen der
dessen, was Kollege Waigel soeben gesagt hat, möchte ich Wiedervereinigung und der Kosten verhindert hat und
ein paar Vorbemerkungen machen: Auch ich als Grüner dass deshalb die in unserer Gesellschaft durchaus vorhan-
bin der Auffassung, dass die Wiedervereinigung, die sich dene Bereitschaft, für den Glücksfall Wiedervereinigung
an die Währungsreform anschloss – die war praktisch die auch etwas zu zahlen, sträflich vernachlässigt wurde.
Vorstufe zur Wiedervereinigung –, einen Glücksfall für
die deutsche Geschichte darstellt, vor allem deshalb, weil (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
unser Volk im letzten Jahrhundert entscheidend dazu und bei der SPD)
beitrug, dass über diesen Kontinent, ja über die ganze
Welt kriegerische Auseinandersetzungen kamen, und weil Allein dieses „rein in die Kartoffeln, raus aus den Kar-
die Teilung als Folge des Zweiten Weltkriegs, den toffeln“ im Hinblick auf den Solidaritätszuschlag in den
Deutschland zu verantworten hatte, nach einer friedlichen Anfangsjahren zeigt im Nachhinein deutlich, dass diese
Revolution in einer nicht nur für Deutschland guten Weise Fehleinschätzung die Kosten der Wiedervereinigung
überwunden werden konnte. Ein solches Glück haben auf buchstäblich diskreditiert hat und dass ab einem gewissen
dieser Welt nicht viele Völker. Zeitpunkt die Kosten der Einheit von den politischen Par-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN teien im Westen Deutschlands als Belastung eingestuft
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der wurden. Wir hätten in den Jahren 1989/90 an die Solida-
CDU/CSU und der F.D.P.) rität der Menschen appellieren sollen und eine entspre-
chende Weichenstellung vornehmen müssen.
Zum anderen stelle ich gerade deshalb, weil beide Re-
gierungsfraktionen vorhin beim Lob für Helmut Kohl und Diese Fehleinschätzung hat zu einem weiteren Pro-
seinen Beitrag zur deutschen Einheit nicht geklatscht ha- blem geführt, das Sie, Herr Waigel, überhaupt nicht be-
ben, fest: Ich persönlich bin der Meinung, dass man trotz leuchtet haben: Wir haben die Kosten der Einheit nicht
politischer Konkurrenz und auch angesichts dessen, was nur in extremer Weise über Verschuldung finanziert, was
gestern im Untersuchungsausschuss passierte, nicht ver- angesichts der damals bestehenden Herkulesaufgabe in
leugnen kann, dass diese historische Leistung in seine Teilen durchaus vertretbar war, sondern wir haben sie
Amtszeit fällt und er einen entscheidenden Anteil daran
auch auf die Sozialversicherungen abgewälzt. Sie, die
hatte, dass es zur Wiedervereinigung kam. Das zu würdi-
gen gehört zum Anstand. Sie damals in der Regierung waren, haben dafür gerade-
zustehen, dass der in den 90er-Jahren erfolgte Anstieg der
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Sozialversicherungsbeiträge um 6,5 Prozent ein deutli-
DIE GRÜNEN und der SPD sowie bei der CDU/ ches Zeichen dafür ist, dass die Sozialversicherungen und (D)
(B) CSU und der F.D.P.) damit verbunden die Lohnkosten sowie die Nettoeinkom-
Wenn wir uns die ökonomischen Konsequenzen an- men der Arbeitnehmer die eigentliche Zahlmasse für die
schauen, die, wie Sie, Herr Kollege Waigel, richtig gesagt Transfers in den Osten Deutschlands waren, was zu ex-
haben, jetzt im Nachhinein vom DIW als Fehlkalkulation tremen Bremsspuren in der deutschen Volkswirtschaft
demaskiert werden – das ist richtig, wenn man eine rein führte.
ökonomische Betrachtung zum Beispiel im Hinblick auf
die Wechselkursparitäten der Währungsunion anstellt –, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dann muss man feststellen: Es gibt in diesem Bereich, und bei der SPD)
ökonomisch betrachtet, einige Kernfehler, die man hätte Zwar gibt es im Osten Deutschlands – das ist zu be-
erkennen können; dann wären die Rentnerinnen und sichtigen – eine Vielzahl an Bauinvestitionen, die mit die-
Rentner sowie die Sparerinnen und Sparer nicht bestraft
sen Transfers bezahlt wurden. Keine Frage! Aber die
worden. Der entscheidende Fehler war, im Rahmen des
blühenden Landschaften im Osten wurden damit erkauft,
Umrechnungskurses von 1:2 aus Buchungsschulden echte
Schulden zu machen, die für viele Unternehmen in Ost- dass wir, ökonomisch gesehen, auf dem Arbeitsmarkt in
deutschland zu einer drückenden Last wurden. Deutschland mit einem Anstieg der Arbeitskosten ein
absolut falsches Signal gesetzt haben. Dadurch haben wir
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, in Deutschland in den Jahren 1997/98 zusammen mit Ita-
bei der SPD und der PDS – Dr. Theodor Waigel lien das Schlusslicht bei der wirtschaftlichen Entwicklung
[CDU/CSU]: Wir haben jeden Sanierungsfähi- in Europa gebildet. Das war in Ihrer Amtszeit.
gen entschuldet!)
Gott sei Dank läuft es jetzt – nicht nur aufgrund des Re-
Diese Last war eine Hiobsbotschaft für eine Ökonomie,
gierungswechsels, sondern auch aufgrund des weltwirt-
die nach 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft und –
was man nicht vergessen darf – nach einer nationalsozia- schaftlichen Umfeldes – so gut, dass Deutschland im Mo-
listischen Politik, die unter ökonomischen Aspekten auch nat Mai beim realwirtschaftlichen Wachstum erstmals
nicht gerade gut war, zu Hinterlassenschaften geführt hat, wieder in die Spitzengruppe der EU aufschließen konnte.
die aufzuarbeiten waren. Das ist dringend nötig, damit unser Land in der Lage ist,
die Transfers in den Osten zu finanzieren, die auch noch
(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs) in den nächsten Jahren und Jahrzehnten erfolgen müssen,
Der zweite Kernfehler im Rahmen der Währungsunion wenn sie auch degressiv gestaltet sein müssen, damit
war aus unserer Sicht, dass das Versprechen von blühen- keine Subventionsmentalität gefördert wird.
10602 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Oswald Metzger

(A) Ich komme auf ein weiteres Fehlkonstrukt bei der anstalt etwas zu sagen hatten. Auf jeden Fall gehört die (C)
Währungsunion und vor allem bei dem, was danach kam, Abwicklung der alten DDR-Wirtschaft durch die Treu-
zu sprechen. Hier wundere ich mich über Sie, Kollege handanstalt nicht zum Ruhmesblatt dieser Republik.
Waigel, dass Sie beklagten, der Bund sei der Hauptlast-
(Beifall des Abg. Werner Schulz [Leipzig]
träger der Wiedervereinigung gewesen. Wer hat denn
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] sowie bei
1992 das Föderale Konsolidierungsprogramm für den
Abgeordneten der PDS)
Bund verhandelt? Das war der damalige Finanzminister
Theodor Waigel. Betrachtet man jetzt auch die emotionale Situation der
Menschen im Osten im Vergleich zu der von denen im
(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Und wo
Westen unseres Landes, dann bedrückt mich als jeman-
brauchten wir die Zustimmung?)
den, der aus dem reichen Süden der Republik kommt, wo
Zum gleichen Zeitpunkt wollte er bayerischer Minister- im Mai die Arbeitslosigkeit bei weniger als 3 Prozent lag,
präsident werden. Dass angesichts dieser Situation die In- dass viele Menschen aus dem Osten, die mobil genug
teressenlage des Bundesfinanzministers länderfreundlich sind, im Westen Arbeit suchen müssen. Wir dürfen nicht
war, können Sie daran ablesen, dass die Steueranteile der vergessen, dass im letzten Jahr 195 000 Menschen aus
Bundesländer als Folge des Föderalen Konsolidierungs- dem Osten zu den Arbeitsplätzen in den Westen gegangen
programms inzwischen um etwa 8 bis 10 Prozent höher sind; das war die vierthöchste Zahl seit 1989. Diese Bin-
sind als die des Bundes. nenwanderung zeigt natürlich, dass die Infrastruktur-
maßnahmen, die aus Steuermitteln mit solidarischer
(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Metzger,
Unterstützung des Bundes und der Westländer ergriffen
das liegt unter Ihrem Niveau!)
wurden, nicht verhindern konnten, dass die Produktivität
Heute beklagt man aus Anlass des 10. Jahrestages, dass im Osten nach wie vor unter Westniveau liegt und die wirt-
der Bund die Lasten zu schultern habe. Ich erinnere mich schaftliche Leistung im Osten nicht einmal die Konsum-
noch daran, dass Ihr damaliger CDU-Kollege Mayer- kosten dort deckt. Die Transferleistungen zeigen ebenso
Vorfelder aus der Verhandlungsrunde nach Stuttgart wie die doppelt so hohe Arbeitslosigkeit wie im Westen,
zurückkam und verkündete, er habe ab 1995 Steueraus- dass diese Landstriche ökonomische Probleme haben.
fälle in Höhe von netto 2,5 Milliarden DM eingerechnet,
Angesichts dessen ist es zweifellos unsere Aufgabe –
nun seien es aber nur 1,5 Milliarden DM. Wir wissen zwar
das sage ich ganz bewusst als Finanzpolitiker –, die Soli-
nicht, was den Gesinnungswechsel im Bundesfinanz-
darität mit den fünf neuen Bundesländern mit neuen, an-
ministerium bewirkt hat; aber das war die Situation. Diese
gepassten Instrumenten in den nächsten Jahren im Rah-
Lastenverschiebung zuungunsten des Bundes mussten Sie
men eines Solidarpaktes 2 weiterzuführen – das ist gar
(B) dann im Laufe der weiteren Entwicklung in den 90er-Jah- keine Frage –, (D)
ren büßen, als das Maastricht-Kriterium, nachdem 1996
die Steuereinnahmen eingebrochen waren, im Jahr 1997 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
fast nicht mehr erreichbar schien. Das dürfen Sie nicht und bei der SPD)
vergessen; man kann es auch mit den Statistiken des BMF
denn 80 Prozent der Menschen im Osten sagen, sie fühl-
belegen.
ten sich in diesem Lande als Bürgerinnen und Bürger
Ein weiteres Problem der Wiedervereinigung war in zweiter Klasse.
ökonomischer Hinsicht, dass die Treuhandanstalt als
(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das stimmt aber
Abwicklungsinstrument der alten DDR konzipiert war
nicht mehr!)
und deshalb auch beim BMF angesiedelt war. Ich habe
durchaus großes Verständnis dafür, dass damals zum Bei- – Ich glaube, dass dies in der Grundtendenz noch immer
spiel die aufrechte Gruppe der Bündnisgrünen, die zwi- stimmt; denn ich habe dort Verwandtschaft und habe auch
schen 1990 und 1994 überhaupt das Fähnlein der Grünen persönliche Gespräche geführt. Ich weiß, dass innerhalb
hier im gesamtdeutschen Parlament hochhielt, weil wir von zehn Jahren eines nicht ausradiert werden kann, näm-
als West-Grüne nach der Wiedervereinigung hinausge- lich das Gefühl der Menschen, zwar in einem totalitären
wählt wurden – womöglich auch als Folge unseres Um- Staat gelebt zu haben, jedoch in einer emotionalen Ge-
gangs mit der Wiedervereinigung; das möchte ich durch- borgenheit, in einem Staat, in dem Nachbarschaftshilfe
aus selbstkritisch sagen –, ähnlich wie Sozialdemokraten manches von dem kompensiert hat, was er an Auskom-
gefordert hatte, die Treuhandanstalt bei den Ostländern men, an materiellem Einkommen und an Freizügigkeit
anzusiedeln und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter viel nicht gewährleisten konnte. Natürlich stellt deshalb die
stärker an der Abwicklung der alten Betriebe zu beteili- Umstellung auf eine Wettbewerbsgesellschaft, von der
gen, um den Ausverkauf aufzuhalten. Statt der erwarteten wir, wenn es um Ökonomie geht, gerne reden – auch ich
600 Milliarden DM, wie sie 1990 Optimisten noch erwar- selber –, ein Problem dar. Das sollten wir beachten, die
teten, betrugen die Erlöse gerade einmal 75 Milliar- wir im Westen doch 45 Jahre lang die Konkurrenz mit der
den DM. Weltwirtschaft auch auf den Arbeitsmärkten hatten.
Möglicherweise hätte Herr Rohwedder – das sage ich Ohne die Menschen, die sich nicht von Ost nach West
auch, weil Sie zu Recht an seinen Tod sowie an die Dienst- bewegen wollen, zu diskreditieren: Dass sich immer die
vertragsverlängerung, die auf Bitten der Bundesregierung Jungen, Ungebundenen, Mobilen und gut Ausgebildeten
zustande kam, erinnert haben – einen besseren Job als an- auf den Weg zu den Arbeitsplätzen begeben, führt schluss-
dere gemacht, die in den Jahren danach in der Treuhand- endlich dazu, dass sich die Transferleistungen im Kon-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10603
Oswald Metzger

(A) sumbereich für Arbeitslosigkeit und Rente strukturell viel bemüht, einen neuen Solidarpakt ab 2005 zu schmieden, (C)
stärker auf die neuen Bundesländer konzentrieren und da- der besonderen Belastungen in den ostdeutschen Bundes-
mit das relative Verhältnis der Transfers den Subventi- ländern nach wie vor Rechnung trägt und trotzdem den
onsanteil der östlichen Bundesländer hoch halten wird. Menschen im Westen die Gewissheit gibt, dass der Osten
Das ist gefährlich und deshalb müssen wir etwas tun. nicht mit alten Methoden zum Subventionsdschungel die-
Auch die Tatsache, dass die junge Generation gegen- ses Landes wird. Die Menschen im Westen sollen wissen:
über allem, was fremd ist, auffällig reagiert, mutet mich Dies ist eine Investition in unsere gemeinsame Zukunft,
grotesk an. In meiner Gegend mit einer Arbeitslosenquote damit Ostdeutschland nicht der Mezzogiorno der Bun-
von 8 oder 10 Prozent ist die Zahl fremdenfeindlicher desrepublik wird.
Übergriffe vergleichsweise niedrig. Die sozialen Zuspit- Vielen Dank.
zungen in bestimmten Regionen des Ostens sind daher ex-
trem auffällig. Natürlich spielt die über 40 Jahre erfolgte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verdrängung der Probleme durch das ehemalige sozialis- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
tische System eine große Rolle. Eine Rolle spielt aber CDU/CSU)
auch, dass wir es an der nötigen Aufklärung und auch an
den nötigen Strategien, sich diesen Leuten zu nähern, ha- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile nun das
ben fehlen lassen. Wir müssen gegen die Ausgrenzung, Wort dem Kollegen Dr. Günter Rexrodt, F.D.P.-Fraktion.
gegen Übergriffe und gegen das Ermorden von Fremden
angehen. Das muss eine gesellschaftliche Aufgabe sein.
Wir können die Radikalisierung von rechts als Antwort Dr. Günter Rexrodt (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine
auf die nach wie vor vorhandene ökonomische Krise in Damen und Herren! Nach zehn Jahren Wirtschafts-,
den neuen Bundesländern nicht stillschweigend zulassen. Währungs- und Sozialunion in Deutschland wird die
öffentliche Diskussion überwiegend davon bestimmt, was
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Deutschland alles noch nicht geschafft ist, welche Feh-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der ler gemacht wurden, was uns trennt, welche Anpassungs-
CDU/CSU) probleme und welche Konflikte es gibt. Die gibt es zu-
Wenn man sich die Perspektive für die Weiterentwick- hauf, und man wird sie in der Tat nur bewältigen können,
lung im Osten anschaut, dann stellt man fest – das können wenn man sich mit ihnen auseinander setzt.
Sie im Ifo-Gutachten von gestern nachlesen –, dass im Be- Nach zehn Jahren Wirtschaftsunion muss es aber auch
reich des verarbeitenden Gewerbes der Arbeitsmarkt im
erlaubt sein, darüber nachzudenken, was erreicht wurde
Osten sektoral anzieht. Ich freue mich natürlich, dass be-
und was die Deutschen miteinander verbindet. Ich halte
(B) stimmte Wachstumsregionen im Osten, vor allem im städ- im Übrigen die gerade in diesen Tagen wieder aufge- (D)
tischen Bereich, in Dresden, Leipzig oder Erfurt, hin-
flammte Diskussion für müßig, in der die Wirtschafts- und
sichtlich der Einkommen zu den am schwächsten ent-
Sozialunion als ein ökonomischer Fehlgriff bezeichnet
wickelten Regionen in Westdeutschland aufschließen.
wird – eine Behauptung, die erhoben wird, obwohl nicht
Daran sehen Sie die relative Entwicklung. Diese Ent-
wicklung aber – das sollten wir uns selber eingestehen – annähernd eine glaubwürdige und überzeugende Alterna-
muss immer in Relation zu den Transformationsländern tive ins Feld geführt werden kann.
gesehen werden, die an Ostdeutschland angrenzen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Schauen Sie sich doch einmal die Niveaus der Staaten mit
ähnlich kaputter Volkswirtschaft an, beispielsweise in Insbesondere tut sich dabei das Deutsche Institut für
Tschechien und in Polen! Im Vergleich dazu liegt das Ni- Wirtschaftsforschung hervor. Da werden die frühe Ein-
veau in Ostdeutschland deutlich höher. Insofern müssten führung der D-Mark und das von den tatsächlichen
wir als Westdeutsche angesichts des 10. Jahrestages der Währungsrelationen abweichende Umtauschverhältnis
Währungsunion darauf hinweisen, dass ein ökonomisches als die Ursachen des Kollapses der DDR-Wirtschaft be-
Wachstum in dieser Republik, das die Nachfrage nach Ar- zeichnet. In rein mechanistischer, ökonometrischer Be-
beitskräften auf dem ersten Arbeitsmarkt mobilisiert, die trachtung ist das vielleicht richtig. Es vernachlässigt aber
entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass die Men- total den Tatbestand, dass eine ökonomisch separierte
schen im Osten eine Chance haben. DDR – oder wie auch immer man das hätte nennen müs-
sen – niemals aus eigener Kraft die Mittel hätte aufbrin-
Als Süddeutscher in Berlin kann ich eines beobachten: gen können, die zur Herstellung der Wettbewerbsfähig-
Seit das Parlament hier ist, haben wir die Probleme der keit ihrer Wirtschaft notwendig waren.
fünf ostdeutschen Länder wesentlich stärker im Blick. Sie
liegen uns buchstäblich vor der Nase. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) Private Investitionen wären angesichts einer unsteten
währungspolitischen und wirtschaftspolitischen Situation
Das ist für die politische Wahrnehmung Gesamtdeutsch- weitgehend ausgeblieben. Westliche Staatshilfe hätte an-
lands ein großer Segen. gesichts andauernder Systemunterschiede noch weniger
In diesem Sinne hoffe ich und wünsche ich mir, dass Akzeptanz bei den Menschen gefunden. Der Mittelbedarf
die Menschen im Osten wahrnehmen, dass sie nicht Men- wäre unermesslich gewesen. Das Geld wäre in ein Fass
schen zweiter Klasse sind und dass sich diese Republik ohne Boden gefallen. Dieses separate Wirtschaftsgebiet
10604 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Dr. Günter Rexrodt

(A) wäre nach kürzester Zeit zusammengebrochen wie ein dort, wo ich vor 40 Jahren Abitur gemacht habe. Dort ist (C)
Kartenhaus. fast alles schön repariert: die mittelalterlichen Stadtvier-
tel, ein großer Teil der Kirchen und Sehenswürdigkeiten,
Das DIW bemüht sich, diese These vom gemeinsamen
die Infrastruktur. Das alles ist eine Pracht. Und doch ist
politischen Dach und von unterschiedlichen wirtschaftli-
diese kleine Stadt in einer erbärmlichen Verfassung: Die
chen Entwicklungen mit dem Hinweis auf das britische
Menschen wandern ab, es ist nichts los. Das hat viele Ur-
Commonwealth oder das Verhältnis zwischen Hongkong
sachen, wie zum Beispiel den Zusammenbruch der Indus-
und China zu untermauern. Ich will niemandem wehtun;
trie.
aber es gibt auch eine wissenschaftliche Eitelkeit, wenn
man einmal etwas in die Welt gesetzt hat. Sie unterschei- Aber es gibt eine Ursache, die wir in keiner Statistik
det sich in nichts von der allgemein menschlichen. finden, die jedoch aus meiner Sicht die entscheidende ist:
Die Ursache liegt im Fehlen einer lebendigen, gewachse-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nen, selbstbewussten Bürgerkultur. Es gibt zu wenig
Mir geht es nicht darum, die aus meiner Sicht prinzipi- Bürger, die willens und in der Lage sind, die Dinge selbst
elle Alternativlosigkeit des eingeschlagenen Weges mit in die Hand zu nehmen, Bürger, die verwurzelt in ihrem
einem durchschlagenden Erfolg dieser Entscheidung Gemeinwesen Kräfte mobilisieren, um etwas auf die
gleichzusetzen. Die Unterschiede zwischen Ost und West Beine zu stellen:
sind auch heute noch für jedermann sichtbar – aber das (Wolfgang Gehrcke [PDS]: Einfach Unsinn!)
Erreichte auch.
kulturell, wirtschaftlich und sozial. Diese Bürger sind
Im Übrigen ist eine Währungs-, Wirtschafts- und So- nicht da. Dass sie nicht da sind, dass dies in den Köpfen
zialunion mehr als nur Ökonomie. Der Name sagt das ausradiert worden ist, haben Sie von der PDS, hat die
schon. Sie war die Voraussetzung für die deutsche Einheit, DDR verursacht.
und diese ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Deut-
schen näher gekommen sind, dass sie eine gemeinsame (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie
Erfahrungswelt haben, dass sie miteinander leben und ar- bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS-
beiten, dass sie miteinander sprechen und miteinander SES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der
Sorgen und Freude haben. Den grauen Alltag haben sie PDS)
gemein und auch den sonnigen. Das Gemeinsame zeigt Dies in den Köpfen der Menschen zu heilen dauert
sich im Übrigen auch in der Übereinstimmung von politi- 25 Jahre. Dies ist viel schlimmer als die verrotteten
schen Prioritäten, von Wünschen, Wertvorstellungen, Zu- Straßen und die grauen Häuser. Das muss mit aller Deut-
neigungen und Abneigungen. lichkeit gesagt werden.
(B) Ich bin überzeugt, dass die Solidarität der Deutschen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie (D)
auch im ökonomischen Bereich viel größer ist, als immer bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS-
behauptet wird. Es ist auf der einen Seite doch ganz nor- SES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der
mal, dass jemand im Westen danach fragt, was mit seinem PDS)
Geld, das er als Steuerzahler zur Verfügung stellt, ge-
macht wird. Es ist auf der anderen Seite ganz normal, dass – Sie heulen zu Recht auf, weil Sie betroffen sind. Sie ken-
Menschen in den neuen Bundesländern, die die Misere nen das Sprichwort von den getroffenen Hunden, meine
nicht persönlich verursacht haben, nicht jeden Tag Danke Damen und Herren.
sagen wollen und Wohlverhalten zeigen möchten. Das ist (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Gehrcke kommt doch
ganz normal. Daraus ableiten zu wollen, die Wirtschafts- aus dem Westen!)
und Sozialunion, die Einheit sei den Deutschen zu teuer,
liegt neben der Sache. Für die große Mehrheit der Deut- Dennoch meine ich, dass dieses Aufbauwerk in den
schen ist die deutsche Einheit Anlass zur Freude. Köpfen gelingt. Es gibt viele Ansätze.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Dabei müssen wir uns damit abfinden, dass es regio-
sowie bei Abgeordneten der SPD) nale Unterschiede geben wird. Ich will damit die beste-
henden Ost-West-Gefälle nicht beschönigen, aber dass es
Wenn wir nach zehn Jahren Bilanz ziehen, können wir Differenzen zwischen Mecklenburg-Vorpommern und
Licht und Schatten feststellen, aber insgesamt positiv in Sachsen sowie zwischen Brandenburg und Nordrhein-
die Zukunft in einem gemeinsamen Europa schauen. Ich Westfalen geben wird, müssen wir akzeptieren.
wüsste nicht, was ernsthaft und nachhaltig einer erfolg-
reichen Entwicklung im Wege steht. Ich sprach von Licht und Schatten. Zum Licht gehört
ohne Zweifel, dass der Privatisierungsprozess in der ge-
Das heute Erreichte muss vor dem Hintergrund der werblichen Wirtschaft abgeschlossen werden konnte. Die
Ausgangssituation bewertet werden. Nun will ich nicht Unternehmen, die heute in den neuen Ländern existieren,
zum wiederholten Male das Bild von den verrotteten sind in aller Regel modern und leistungsfähig. In den
Straßen, den zerfallenen Städten, den unbeweglichen neuen Ländern gibt es eine halbe Million Selbstständige.
Kombinaten und der mangelhaften Technologie be- Diese sind quasi aus dem Nichts heraus entstanden.
mühen. Das ist aber alles wahr. Das alles kann man aller-
(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Bürger!)
dings beheben. Es gibt viel Schlimmeres. Dazu möchte
ich von meinen persönlichen Erfahrungen berichten: Ich Und doch – und das ist das Entscheidende – ist die wirt-
war vor wenigen Tagen in einer Kleinstadt in Thüringen, schaftliche Basis insgesamt zu schmal. Die Selbstständi-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10605
Dr. Günter Rexrodt

(A) gendichte beträgt bei den IHK-Unternehmen nur 20 Pro- Zweitens. Öffentliche Budgets der Gebietskörper- (C)
zent der im Westen. Die gesamtwirtschaftliche Produkti- schaften müssen in angemessenem Umfang aufgefüllt
vität hat sich zwar von 30 auf 60 Prozent der west- werden, solange die Steuerkraft in den neuen Ländern nur
deutschen erhöht, aber sie kommt in letzter Zeit nicht 34 Prozent der westdeutschen ausmacht.
mehr in ausreichendem Maße voran. Drittens muss die Finanzierung der Sozialleistungen,
Das hat mehrere Ursachen, unter anderem die Überbe- wie sie für ganz Deutschland gelten, fortgesetzt werden.
setzung des öffentlichen Dienstes und – oft auch unter In diesem Zusammenhang von Transferleistungen in die
Ökonomen sehr wenig beachtet – die Tatsache, dass viele neuen Länder zu sprechen ist falsch und lässt in den neuen
ostdeutsche Produkte insbesondere auf den Binnenmärk- Ländern Unmut und Unwillen entstehen.
ten noch geringere Preise erzielen als andere. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
Daraus entsteht ein weiteres Problem. Es ist der weit der CDU/CSU)
verbreitete Eindruck der Menschen in den neuen Ländern, Vierter Punkt. Wir müssen uns bei der Wirtschaftsför-
für gleiche Arbeit weniger Lohn zu erhalten. derung in den neuen Ländern auf regionale Investitions-
(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das ist auch wahr!) zuschüsse und auf Unternehmensgründungen konzentrie-
ren.
Aus der Sicht der Betroffenen ist das richtig und nach-
vollziehbar. Aber ich muss hier – leider, sage ich aus- Meine Damen und Herren, ich habe mich bemüht, in
drücklich – als Ökonom antworten. Bei 40 Prozent gerin- meinem Beitrag zum zehnjährigen Bestehen der Wirt-
gerer Produktivität im Ganzen müsste ein gleiches Lohn- schafts-, Währungs- und Sozialunion nicht dem Muster
niveau dazu führen, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit des tagespolitischen Schlagabtauschs zu folgen. Aber ei-
der Unternehmen in den neuen Ländern weiter ver- nes muss ich doch sagen, und zwar an die Adresse des
schlechtert, mit der Folge höherer Arbeitslosigkeit. Diese Bundeskanzlers – ich verstehe, dass er nicht da ist –:
würde dann allgemein zu Recht wieder als Ungerechtig- Wenn man den Aufbau Ost im Wahlkampf zur Chefsache
keit empfunden. Schnelle Lösungen gibt es nicht. Nie- erklärt, dann muss man das auch ausfüllen.
mand – weder die Opposition noch die Regierung – kennt (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU
einen Königsweg; und Sie von der PDS schon lange nicht. sowie bei Abgeordneten der PDS)
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten Dem Bundeskanzler ist der Aufbau Ost keine Herzenssa-
der CDU/CSU) che. Er vollzieht ihn als eine Pflichtübung. Diese Pflicht-
übung ist ihm bei jedem Auftritt im Bundestag und in den
Ich würde mir wünschen, dass wir bei den Flächenta-
(B) rifverträgen, die bei vielen Betrieben in den neuen Län- neuen Ländern ins Gesicht geschrieben, meine Damen (D)
und Herren.
dern ohnehin nur noch auf dem Papier stehen, zu einer
Veränderung kommen. Das würde viel Gutes mit sich (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
bringen, gerade für die Arbeitnehmer in den Betrieben, der CDU/CSU)
die eine hohe Produktivität aufweisen. Da könnte man Es haben sich mit der Wirtschafts- und Währungsunion
ganz andere Lösungen finden. neue Gelegenheiten und Chancen für Deutschland in Eu-
Wir sind bei dem Hauptproblem, der hohen Arbeitslo- ropa eröffnet. Nach zehn Jahren lohnt es sich, einmal in-
sigkeit, meine Damen und Herren. Die Ursachen dafür nezuhalten und die Dinge im Gesamtzusammenhang zu
sind bekannt. Aber keiner kennt auch hier einen Königs- sehen. Dabei sollte man bei aller Unzulänglichkeit auch
weg. Inzwischen haben die Bundesregierung und die Re- ein Stück Freude aufkommen lassen und, ich meine, auch
gierungen der neuen Länder wenigstens erkannt, dass der ein Stück Dankbarkeit.
Staat keine Arbeitsplätze verordnen kann. ABM und ähn- Danke schön.
liche Maßnahmen sind geeignet, akute Probleme zu lösen
oder Brücken zum regulären Arbeitsmarkt zu schlagen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Die Ursachen der Arbeitslosigkeit beseitigen sie nicht.
Meine Damen und Herren, mit der Arbeitslosigkeit in Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile das Wort
den neuen Ländern fertig zu werden heißt die wirtschaft- der Kollegin Dr. Christa Luft, PDS-Fraktion.
liche Basis zu verbreitern, heißt Unternehmensgründun-
gen zu fördern und günstige Bedingungen für mehr wirt- Dr. Christa Luft (PDS): Frau Präsidentin! Verehrte
schaftliche Aktivität zu schaffen. Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute anläss-
Ich warne vor einer anhaltenden Überförderung der lich des 10. Jahrestages der Wirtschafts -, Währungs- und
Wirtschaft in den neuen Ländern. Sozialunion. In diesem Haus wird aber ebenso wie im
ganzen Land immer nur von der Währungsunion gespro-
Ich möchte zum Schluss noch auf vier wichtige Punkte chen. Warum? Das geschieht wohl nicht deshalb, weil wir
und Positionen hinweisen, die es weiter zu berücksichti- gerne mit einem Kürzel arbeiten, sondern weil von der ge-
gen gilt: wollten und versprochenen Dreieinigkeit im Grunde ge-
nommen nur die Währungsunion vorhanden ist.
Erstens. Der Ausbau der Infrastruktur muss ohne Ab-
striche fortgesetzt werden. (Beifall bei der PDS)
10606 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Dr. Christa Luft

(A) Die Wirtschafts- und die Sozialunion lassen auf sich war- recht berechnen würde. Das ist doch eine ganz normale (C)
ten. Reaktion, die verständlich ist.
Herr Kollege Rexrodt, diese Tatsache auf den Umstand Der 1. Juli war aber auch das Datum, an dem das Ge-
zurückzuführen, dass es im Osten zu wenig aktive Bürge- biet zwischen Elbe und Oder urplötzlich zur Europä-
rinnen und Bürger gibt, halte ich schon für ein grandioses ischen Union zugehörig wurde, und zwar ohne irgend-
Stück, das Sie sich hier geleistet haben. welche Beitrittsverhandlungen und damit auch ohne ver-
einbarte Anpassungsfristen oder Schutzinstrumente für
(Beifall bei der PDS – Dr. Günter Rexrodt
die Wirtschaft. Ich stelle fest: So viel Schock auf einmal
[F.D.P.]: Das habe ich nicht gesagt! Ich habe
war nirgends und niemals zuvor. Mit den Folgen haben
von einer Bürgerkultur gesprochen, die Sie ver-
wir noch heute zu kämpfen.
nichtet, neutralisiert und proletarisiert haben!)
Trotz aller Warnungen von Ökonomen aus Ost und West
Sie sollten einmal zum Brandenburger Tor gehen. Dort
verzichteten die damals Verantwortlichen auf Strukturpo-
liegen hungerstreikende Handwerkerinnen und Handwer-
litik; das war ein Fremdwort. Auf regionalpolitische Wei-
ker aus Thüringen. Ich weiß nicht, aus welcher kleinen
chenstellungen wurde verzichtet. Das ist die bittere Wahr-
thüringischen Stadt Sie kommen. Sie könnten dort viel-
heit.
leicht ehemalige Nachbarinnen und Nachbarn treffen, die
nach der Währungsunion durch Gauner um Hab und Gut Gewiss, dank umfangreicher Finanztransfers ist es ge-
gebracht worden sind. lungen, die Infrastruktur zu modernisieren. Viele Woh-
nungen sind saniert worden, die Innenstädte sind schöner
(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Frau Luft,
geworden und manche industriellen Leuchttürme sind
wissen Sie, was eine Bürgerkultur ist?)
entstanden. Das ist alles richtig. Doch wahr ist auch: Nach
Viele, die während der DDR-Zeit als Handwerkerinnen diesem Schock vom 1. Juli 1990 entstanden in den alten
und Handwerker überlebt haben, haben später als Selbst- Bundesländern 2 Millionen Arbeitsplätze neu und 4 Mil-
ständige Existenzen gegründet und stehen jetzt vor der lionen Arbeitsplätze wurden in den neuen Bundesländern
Pleite. Das müssen Sie sich einmal vor Ort anschauen. abgebaut, sie gingen verloren. Da muss man sich doch fra-
gen, woran das gelegen hat.
(Beifall bei der PDS – Dr. Günter Rexrodt
[F.D.P.]: Sie wissen gar nicht, was ich meine!) (Zuruf der Abg. Dr. Sabine Bergmann-Pohl
[CDU/CSU])
Der 1. Juli ist der Tag, an dem alle Bürgerinnen und
Bürger der DDR den legalen Zugang zur Deutschen Geblieben sind im Osten, Frau Kollegin Bergmann-Pohl,
Mark bekommen haben. Sie haben sich seither manch eine ausgedünnte Industrielandschaft – das werden auch
(B) lang gehegten Wunsch erfüllen können. Nach meinem Sie nicht bestreiten –, verödende Regionen und die Ab- (D)
Eindruck möchte niemand dieses Symbol des Wohlstan- wanderung junger, qualifizierter Menschen.
des – die harte Deutsche Mark – mehr missen. Die Sehn-
Notwendig wäre damals gewesen, industrielle Kerne in
sucht nach dem „harten Geld“, wie es damals hieß, haben
Zukunftsbranchen zu erhalten, mit den Altschulden an-
die DDR-Oberen selbst erzeugt, indem sie in Genex-Ka-
ders umzugehen, als das geschehen ist, und vor allem
talogen und Intershop-Läden attraktive Waren angeboten
Märkte zu stabilisieren. Wer will denn in eine Marktwirt-
haben, die für selbst verdientes Geld nicht zu haben wa-
schaft übergehen ohne Märkte? Das ist bisher auch nir-
ren. Das muss man deutlich sagen.
gends auf der Welt gelungen. Das übrigens hätte Herr
Dennoch kam, Herr Kollege Waigel, das Signal für den Rohwedder auch anders gemacht.
Blitzstart in die Währungsunion weder aus Leipzig noch
(Beifall bei der PDS)
aus Merseburg oder aus Rostock. Das Signal für den
Blitzstart in die Währungsunion kam vielmehr aus Bonn. Zu den Hauptfehlern des ersten Staatsvertrages wie
Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hat sehr wohl später auch des Einigungsvertrages gehört übrigens, dass
gewusst, dass möglicherweise bei den freien Wahlen zur die Weichen gestellt wurden für eine nahezu zwanghafte
Volkskammer am 18. März 1990 ein SPD-Sieg ins Haus Übertragung des westdeutschen Systems in all seinen
stehen würde. Um das zu verhindern, hat er sich ganz Facetten auf die neuen Bundesländer. Die nachholende
schnell der in SPD-Kreisen bereits diskutierten Idee einer Modernisierung war damals die Losung. Für Innovation
Währungsunion angenommen und diese verwirklicht. bestand überhaupt keine Chance. Im Osten gewonnene
Sein Machtinstinkt hat ihn dabei nicht getrogen. Das muss Erfahrungen und gewachsene, überlebensfähige Struktu-
man ihm zugestehen. ren hatten keine Chance. Dem Osten wurden das verkrus-
tete Steuersystem und die reformbedürftigen Genehmi-
Der 1. Juli war nicht nur der Tag, an dem die D-Mark
gungsverfahren übergestülpt. Auch die Arbeitsförderung,
in den Osten kam. Der 1. Juli war zugleich der Tag, an
die in den alten Bundesländern gewachsen war und den
dem das Treuhandgesetz der De-Maizière-Regierung mit
dortigen Bedingungen entsprach, wurde auf den Osten
dem Gebot einer flächendeckenden und raschen Privati-
übertragen, ohne eine den dortigen Gegebenheiten ange-
sierung in Kraft trat. Damals ist der Grundstein für ein
passte Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. Die fehlt im
Streben nach schneller Lohnerhöhung gelegt worden.
Übrigen bis heute.
Wenn über einem das Damoklesschwert schwebt, abge-
wickelt und wegrationalisiert zu werden, kämpft man Eine damals gewiss mögliche Einmalabgabe auf große
natürlich um hohe Löhne. Denn man wusste, wonach sich Vermögen war für die verantwortlichen Politikerinnen
das Arbeitslosengeld nach dem neu eingeführten Sozial- und Politiker ebenfalls kein Thema, um einen Beitrag zur
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10607
Dr. Christa Luft

(A) Finanzierung der Einheit zu gewährleisten. Sie haben Wann reden wir endlich darüber, welche Umsatz- und Ge- (C)
vielmehr die Sozialkassen belastet und Kreditfinanzie- winnexplosionen es bei Unternehmen, Handelsketten so-
rung mit Verschuldung vorgenommen. wie bei Banken und Versicherungen gegeben hat? Hätten
sie alle ordentlich ihre Steuern auf die sich explosionsar-
(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Wann bekennen tig entwickelnden Gewinne gezahlt, dann wären die öf-
Sie sich mal zur deutschen Einheit, Frau Luft?) fentlichen Kassen voller, als sie es heute sind.
Heute behaupten damals auf der Westseite verantwort- Zuletzt noch ein Punkt. Ich finde, es ist überfällig, die
liche Politiker, sie hätten über den Osten und seine Wirt- Vergabepraxis von Fördermitteln, also von Steuergeldern,
schaft zu wenig gewusst. Nun ist ja nicht zu bestreiten, insbesondere die Vergabepraxis in den Jahren 1990 bis
dass Details bestimmt nicht zu wissen waren. Die kannten 1993 im Hinblick darauf zu durchleuchten, wo gesetzli-
wir auch nicht. Aber dass man nicht habe voraussehen che Bestimmungen verletzt wurden, ja wo es sogar zu kri-
können, was mit diesem Schock ohne Anpassungsfristen minellen Handlungen gekommen ist. Die PDS-Fraktion
und ohne Schutzinstrumente geschehen würde, das ist wird in diesem Zusammenhang eine parlamentarische
doch arg zu bezweifeln. Initiative ergreifen, um vielen unschuldig in wirtschaftli-
Ich will Ihnen jetzt nur die Aussage eines Einzigen, den che und soziale Not geratenen Existenzgründern, Hand-
Sie immer wieder als Kronzeugen für den Zustand der werkern und Gewerbetreibenden Gehör und Gerechtig-
DDR-Wirtschaft – auch in diesem Hause – zitieren, vor- keit zu verschaffen.
halten. Ein Insider der DDR-Wirtschaft und ein Mitautor (Beifall bei der PDS)
dieser so genannten Geheimanalyse für das SED-Polit-
büro von Ende Oktober 1989 hat ja nachher auch noch et- An der Schwelle zum zweiten Jahrzehnt der deutschen
was geschrieben. Er hat vor kurzem seine „Deutsch-deut- Einheit muss es endlich darum gehen, den erfahrenen,
schen Erinnerungen“ veröffentlicht. Darin heißt es, dass überwiegend hoch qualifizierten Menschen im Osten – sie
er von Mitte Januar bis Mitte März 1990 30 Gespräche mit sind, wie gesagt, die Hauptstärke des Ostens – eine
dem BND geführt und Auskunft über die DDR-Wirtschaft Chance zu geben, damit sie sich in das einbringen können,
gegeben hat. Wörtlich sagt er: was wir im vereinten Land noch gemeinsam gestalten
müssen. Die Massenarbeitslosigkeit darf nicht länger nur
Die Fragen prasselten nur so auf mich ein. Wie steht verbal bekämpft werden, so wie es leider auch unter Rot-
es um die Verschuldung der DDR, wie um ihre Grün geschieht. Wir brauchen substanzielle neue Vor-
Produktivität? Welche Kombinate sind erhaltens- schläge. Die Haushaltsberatungen werden uns dazu Gele-
wert, welche sollte man stilllegen? Augenscheinlich genheit geben.
bereitete sich die Bundesregierung auf die Wirt-
(B) Danke schön. (D)
schafts- und Währungsunion vor.
(Beifall bei der PDS)
Was also passieren würde, wenn man eine Jahrzehnte
vom Weltmarkt abgeschottete Wirtschaft über Nacht mit
300 Prozent Aufwertung auf den offenen Markt entlässt, Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt erteile ich das
war jedem ökonomisch Beschlagenen damals klar. Allein Wort für die Bundesregierung Herrn Staatsminister Rolf
mit Lohnkostensubventionen und Mehrwertsteuerpräfe- Schwanitz.
renzen hätte man manchen Absturz verhindern können.
Hat denn jemals einer von den damals Verantwortli- Rolf Schwanitz, Staatsminister beim Bundeskanzler:
chen in Ost wie in West nach den Stärken der ostdeutschen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
Wirtschaft gefragt? Es war immer nur von den Schwächen ren! Wir debattieren heute über zehn Jahre Währungs-,
die Rede. Daher finde ich es auch etwas seltsam, wenn Wirtschafts- und Sozialunion. Ich möchte ausdrücklich
zehn Jahre nach der deutschen Einheit die CDU in ihrer sagen: Es ist gut, dass wir das tun; denn der Staatsvertrag,
Luckenwalder Erklärung plötzlich sagt, man müsse nun den wir damals den ersten Staatsvertrag nannten, war eine
den Stärken des Ostens nachgehen und diesen Rechnung ganz zentrale Weichenstellung auf dem Weg hin zur staat-
tragen. Ich kann dazu nur sagen: Die Hauptstärke des lichen Einheit. Wir können in der Rückschau die Be-
Ostens waren immer seine qualifizierten Menschen. De- deutung dieses Vorgangs für den ökonomischen und den
nen eine Chance zu geben ist das Gebot der Stunde. vereinigungspolitischen Bereich überhaupt nicht unter-
schätzen. Deswegen ist es richtig, dass wir abermals ver-
(Beifall bei der PDS) suchen, die Dimension und die Vorgänge von damals in
Wir müssen endlich damit aufhören, nur über die res- das gesellschaftliche Bewusstsein zu heben. Dazu sage
pektablen – ich betone: respektablen – Finanztransfers ich ein klares ein klares Ja.
von West nach Ost zu reden. Ich habe große Achtung da- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
vor, weil es vor allem Gelder sind, die von den abhängig
beschäftigen Lohnsteuerzahlerinnen und Lohnsteuerzah- Frau Kollegin Luft, ich sage ausdrücklich: Wir sollten
lern aufgebracht werden. Aber wann reden wir endlich den Dreiklang der Währungs-, Wirtschafts- und Sozial-
union nicht im Nachhinein diskreditieren. Es ist für
auch darüber, welchen Vermögenstransfer es von Ost
mich – neben den wirtschaftlichen und währungspoliti-
nach West gegeben hat, den es übrigens nach wie vor gibt?
schen Leistungen – eine der ganz zentralen solidarischen
(Beifall bei der PDS) Leistungen gewesen, dass es bereits damals gelungen war,
10608 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Staatsminister Rolf Schwanitz

(A) diesen schwierigen Vorgang sozial zu flankieren und so weise im Zusammenhang mit der Steuerreform oder den (C)
die staatliche Einheit zu erzielen. schwierigen Entscheidungen beim Rentenrecht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich sage ausdrücklich: Das ehrliche und wahre Be-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der mühen um einen Kompromiss ist richtig und notwendig.
CDU/CSU) Aber irgendwann kommt die Zeit der Entscheidung.
Jürgen Strube, der Vorstandsvorsitzende eines der welt-
größten Chemieunternehmen, sagte in dieser Woche, wir
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Gestatten Sie eine
in Deutschland seien dabei, den Begriff des Reformstaus
Zwischenfrage des Kollegen Kolbe?
aus dem Sprachgebrauch zu verdrängen. Das ist zwar ein
großes Lob, aber es ist auch ein Auftrag an uns alle in die-
Rolf Schwanitz, Staatsminister beim Bundeskanzler: sem Haus.
Herr Kollege Kolbe, ich bitte um Verständnis. Ich möchte
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
im Zusammenhang fortfahren. Deswegen gestatte ich
DIE GRÜNEN)
keine Zwischenfrage.
Eine Lehre aus der Zeit vor zehn Jahren besteht für
(Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]:
mich in der Aufforderung, dass wir uns Veränderungen
Wo ist denn der Bundeskanzler? – Dr.-Ing. Paul
stellen müssen und dass wir einen Umbruch nicht passiv
Krüger [CDU/CSU]: Wo ist der Wirtschaftsmi-
erleiden dürfen; vielmehr haben wir Prozesse aktiv zu ge-
nister?)
stalten und dabei müssen wir auch Wagnisse eingehen.
Ich möchte im Folgenden weniger über Leistungen und Daran, dass wir uns dabei über Parteigrenzen hinweg ori-
Fehler im damaligen Vorgehen reden. Ich stelle ausdrück- entieren und springen müssen, hat Herr Kollege Waigel
lich fest: Die großen Leistungen, die in der damaligen Si- heute im Zusammenhang mit dem Vorgang vor zehn Jah-
tuation erbracht wurden, überwiegen bei weitem. Das, ren erinnert. Ich sage ausdrücklich: Aus den parteipoliti-
was mich persönlich umtreibt und was ich deswegen an- schen Schützengräben herauszukommen ist für mich ein
sprechen möchte, ist die Frage: Wenn wir heute auf die Er- Fazit der Ereignisse vor zehn Jahren. Das Ganze ist hoch-
eignisse von vor zehn Jahren zurückschauen – wir wissen, aktuell.
wie es im Osten vor der Vereinigung ausgesehen hat und
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
was in den letzten zehn Jahren passiert ist –, gibt es dann
DIE GRÜNEN)
so etwas wie ein Fazit, gibt es so etwas wie eine bleibende
Erkenntnis, aus der man Schlussfolgerungen für das zie- Die zweite Erkenntnis, die ich heute ansprechen will,
hen kann, was heute bei uns in Deutschland geschieht und ist, dass es heute, zehn Jahre danach, die Notwendigkeit
(B) was auch im engeren Sinne die Politik angeht? Ich bin in gibt, über einen Perspektivwechsel im ostdeutschen (D)
der Tat der Auffassung, dass es ein solches Fazit gibt. Selbstverständnis öffentlich zu kommunizieren.
Ich will vier Erkenntnisse, die mich ganz persönlich
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Was heißt das
berühren, in dieser Debatte ansprechen.
denn?)
Die erste Erkenntnis, die ich aus dem Vergleich zwi-
Keine Frage, damals vor zehn Jahren war unser Blick ein-
schen der heutigen Situation und der vor zehn Jahren ge-
deutig auf die Situation in den alten Bundesländern ge-
winne, ist, dass in Zeiten eines Wandels, eines Umbruchs
richtet. Das ist überhaupt kein Vorwurf. Wir haben damals
eines ganz besonders wichtig ist, nämlich der Mut zur
intensiv gefragt, wann es in den neuen Bundesländern so
Veränderung und die Fähigkeit der Politik, bei solchen
wie in den alten Bundesländern sein wird. Die damalige
Umbrüchen voranzugehen. Ich glaube, dass diese Er-
Bundesrepublik Deutschland war der Maßstab, die ei-
kenntnis sehr gut in unsere heutige Zeit passt; denn wir
gentliche Perspektive. Das konnte nicht anders sein; denn
stehen in Deutschland ohne Zweifel vor ganz enormen
es gab kein Vergleichsmodell und kein Alternativmodell.
Veränderungen, die wir meistern müssen. Die Internatio-
Natürlich bleibt die Gleichwertigkeit der Lebensverhält-
nalisierung von Politik, Ökonomie, die technologischen
nisse nicht nur Verfassungsgebot, sondern auch ein wich-
Veränderungen und der demographische Wandel müssen
tiges konsensuales Ziel in einer demokratischen und so-
geschultert werden. Dies sind Themen, die das politische
zial orientierten Gesellschaft.
Tagesgeschäft und alle Debatten des Deutschen Bundes-
tages durchziehen. Meine Damen und Herren, dass Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse in dieser Woche in der „Berliner Zei-
Die Herausforderungen, die daraus für die Politik und
tung“ eine Diskussion über eine neues ostdeutsches Leit-
für die Gesellschaft insgesamt erwachsen, sind alt und zu-
bild angestoßen hat, findet meine ausdrückliche Unter-
gleich neu. Nach meiner Auffassung erwarten die Men-
stützung. Die Diskussion darüber, wie wir wegkommen
schen von der Politik, nicht nur den Kampf um die
von einem Modell der nachholenden Modernisierung, bei
Lufthoheit über den Stammtischen zu führen, sondern
dem wir das Alte, Traditionelle im Blick haben, und hin-
auch Entscheidungen zu treffen und Mut zu Veränderun-
kommen zu einem Modell der, wie er sagt, europäischen
gen zu beweisen. Ein Fazit lautet deswegen, dass nicht das
Verbindungsregion als Leitmotiv für die Perspektive der
Verdrängen oder das Aussitzen, sondern ein aktives Ge-
neuen Länder, halte ich für notwendig und sehr wichtig.
stalten solcher Veränderungen wichtig ist. Mit Blick auf
die Ereignisse vor zehn Jahren ist dies ein Auftrag. Ich In der Tat steht Deutschland vor ganz zentralen Verän-
bitte um Nachsicht dafür, dass ich die eine oder andere Pa- derungen. Das sind die technologischen Veränderungen,
rallele zu unseren aktuellen Debatten ziehe, beispiels- die ich beschrieben habe, das ist die Notwendigkeit, welt-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10609
Staatsminister Rolf Schwanitz

(A) weite Märkte zu erobern, und das ist natürlich auch die Zu dem Leitbild, das ich ja beschrieben habe, gehört (C)
geographische Veränderung. Wir sind ja nicht mehr Rand- natürlich auch Ostdeutschland als Innovationsstandort.
region, sondern wir sind im Begriff, in Europa eine ganz Lothar Späth hat in dieser Woche gesagt, nicht Subven-
zentrale geographische Stellung einzunehmen. Die neuen tionen, sondern Innovationen seien das prägende und das
Länder haben hierbei ganz enorme Chancen. Wir müssen zentrale neue Bild in Ostdeutschland. Ich kann das nur
darüber reden, welche Konsequenzen das hat, und wir ausdrücklich unterstreichen. Deswegen muss sich auch
müssen darum werben mit dem Ziel, dass dies auch ins die Förderpolitik – auf diesem Wege sind wir, wie Sie wis-
Bewusstsein dringt und verarbeitet wird. sen – dem Innovationsthema in verstärkter Form zuwen-
den.
Für mich gehören in eine solche Debatte über einen
Perspektivwechsel, in die Diskussion über ein neues ost- Wir finden in Ostdeutschland bemerkenswerte neue
deutsches Leitbild verschiedene Dinge. Drei will ich aus- Bedingungen, die auch in der internationalen Perspektive
drücklich benennen. Das Erste sind für mich die Erfah- von hohem Interesse sind: kurze Verwaltungswege, ein
rungen, die in den letzten Jahren in Ostdeutschland gegenüber der Industrie sehr aufgeschlossenes Klima in
gesammelt worden sind, Ostdeutschland als neue Wis- der Bevölkerung und Gesellschaft. Dieses ist in Kombi-
sensgesellschaft zu begreifen. Das Zweite, worüber nach- nation mit der Innovationsunterstützung der öffentlichen
zudenken und zu diskutieren sich sehr lohnt, sind die In- Hand eine hervorragende Voraussetzung, um gerade auch
novationserfahrungen, die in Ostdeutschland gesammelt ausländisches Investment nach Ostdeutschland zu führen.
werden konnten. Das Dritte, was ich ansprechen will und Das muss auch einmal ausgesprochen werden.
was ich sehr interessant finde, ist der Grundsatz, zu akti-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
vieren und zu motivieren, das heißt, Dinge mit den Men-
DIE GRÜNEN)
schen gemeinsam voranzutreiben.
Ich möchte auch eine Bemerkung zu dem Themen-
Auf allen drei Feldern sind in den letzten zehn Jahren
komplex Aktivieren und Motivation machen. Ich bin der
ganz enorme Entwicklungen vonstatten gegangen, sind in
festen Überzeugung, dass es in Ostdeutschland enorme
den neuen Ländern Erfahrungen besonderer Art gesam-
Potenziale gibt, die sich im Ideenreichtum der Menschen
melt worden und hat die Politik diese Entwicklung aktiv
in den Regionen niederschlagen. Wer wollte es mir ver-
unterstützt und wird das auch in Zukunft tun.
denken, dass ich hier unseren, wie ich finde, in der zwei-
Noch nie, meine Damen und Herren – ich möchte jetzt ten Phase sehr erfolgreichen Wettbewerb im Rahmen des
etwas zu dem Thema Wissensgesellschaft sagen –, war Programms Inno-Regio anspreche.
die Halbwertszeit beim Wissen so kurz. Neues Wissen
Wie Sie wissen, wollen wir in den nächsten Jahren
aufzunehmen, zu vermitteln, ist zu einer Zukunftsfrage
(B) für die Gesellschaft insgesamt geworden. Das gilt natür- 25 Modellregionen fördern. Ich will nicht verhehlen, dass (D)
es mich sehr überrascht hat, mit welcher Energie und In-
lich für alle in unserem Lande, auch europaweit, aber der
tensität dieses erste, besonders auf Ostdeutschland zuge-
Osten hat dabei hervorragende Erfahrungen gemacht.
schnittene Wettbewerbsinstrument in den Regionen auf-
Was war der Transformationsprozess denn anderes als genommen worden ist, übrigens auch über Parteigrenzen
ein gigantischer Wandel von Wissen, der in Ostdeutsch- hinweg. Ich habe das ja beobachtet. Auch viele Kollegin-
land in umfassendster Art geschultert und gemeistert wer- nen und Kollegen der anderen Fraktionen gehen den Weg
den musste! Viele ostdeutsche Hochschulen, viele Fach- mit und bringen sich regional ein. Da geht ein Ruck durch
hochschulen haben diese Chancen genutzt. Im nationalen die Regionen. Wir tun gut daran, wenn wir nicht nur in-
und internationalen Rating finden sich ostdeutsche Ein- nerhalb der Kategorie dieser 25 Projekte denken, sondern
richtungen mittlerweile in Spitzenpositionen wieder. In wenn wir – auch da sind wir auf gutem Weg – diese Inno-
bemerkenswerter Art und Weise entstehen in diesen vationspotenziale nicht versiegen lassen und die Motiva-
Hochschulen und Fachhochschulen gerade mit Blick auf tion der Menschen nicht enttäuschen, sondern gemeinsam
die ostdeutsche Situation kooperative Strukturen. mit den Regierungen der neuen Länder befördern und
auch weiter unterstützen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Deshalb ist es richtig, gerade den Ausbau der ost-
F.D.P.)
deutschen Forschung, den Ausbau der ostdeutschen
Hochschul- und Fachhochschullandschaft zu einem zen- Eine dritte Schlussfolgerung möchte ich aus dem Ver-
tralen Thema zu machen. gleich zu dem ziehen, was vor zehn Jahren war: Wir ha-
ben auf dem Weg, den wir seitdem zurückgelegt haben,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
die Erfahrung gemacht, dass die Stärke der Bundesrepu-
DIE GRÜNEN)
blik Deutschland nicht nur aus ihrer Vielfalt erwächst,
Die Ostdeutschen haben hervorragende Chancen, hier sondern auch in der Gemeinsamkeit liegt. Das gilt für
Kompetenzzentren zu entwickeln. Wenn gegenwärtig – Deutschland insgesamt und ist beispielsweise auch aus
lassen Sie mich wenigstens eine Zahl nennen – 27 Prozent unserer Debatte über die Notwendigkeit einer weiteren
der Projektfördermittel des Bundes, die für Biotech- Unterstützung des Aufbaus Ost durch einen Solidarpakt 2
nologie insgesamt ausgegeben werden, nach Ostdeutsch- nach 2004 abzuleiten. Dies gilt aber auch und gerade
land fließen, dann ist das ein Signal für diesen wichtigen für die Ostdeutschen untereinander. Die Menschen erwar-
Veränderungsprozess, auf den ich hinweisen wollte. ten von uns allen einen ganzheitlichen Politikansatz. Sie
10610 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Staatsminister Rolf Schwanitz

(A) orientieren sich bei dem, was sie wünschen und erwarten, Aber auch ein anderer Punkt muss offen angesprochen (C)
nicht an Fragen politischer Zuständigkeit, sie konzentrie- werden: Wir müssen uns – das ist keine Frage – ändern.
ren sich in erster Linie auf die Problemlösung und erwar- Wir müssen nämlich die Debatte um die EU-Osterweite-
ten dabei, dass die Politik mit ihnen an einem Strang zieht. rung versachlichen; sie ist in den neuen Ländern noch
Deshalb ist diese Erfahrung für mich auch eine Heraus- nicht tiefgreifend genug geführt worden. Das soll kein
forderung der Politik auf allen Ebenen. Ich glaube, nie- Vorwurf sein. Ich will in diesem Zusammenhang nur die
mand darf sich davon ausnehmen. Besonderheit erwähnen, mit der sich der EU-Beitritt der
Wenn dies richtig ist, dann stellen sich eine ganze neuen Länder 1990 vollzogen hat. Er war gewissermaßen
Reihe unbequemer Fragen auch jenseits von Hierarchien von den Vorgängen um die deutsch-deutsche Vereinigung
und jenseits von territorialen Zuständigkeiten, über die überlagert. Im Windschatten der deutschen Einheit sind
anlässlich einer solchen Debatte offen geredet werden die neuen Länder Mitglieder der Europäischen Union ge-
muss. Gemeinsamkeiten zwischen dem Bund und den worden. Dieser Beitrittsprozess vollzog sich also anders
neuen Ländern, aber auch zwischen den neuen Ländern als in den osteuropäischen Ländern, wo es eine mehr-
untereinander zu finden, herauszufiltern und diese aufzu- jährige Diskussion gibt und wo man um eine entspre-
nehmen ist deshalb für mich und ein wichtiges Anliegen. chende Bewusstseinshaltung hinsichtlich dieses Prozes-
Wir haben in diesem Bereich auch Erfolge zu verzeich- ses ringt. Aus objektiven Gründen ist dies in den neuen
nen. Beispielsweise gilt dies für den zwischen dem Bund Bundesländern anders gewesen.
und den neuen Ländern nicht ohne Schwierigkeiten zu-
stande gekommenen Beschluss, ausländische Direktin- Wir als Politiker haben die Verantwortung, die Verän-
vestitionen im Rahmen des so genannten IIC auch über derungen im Bewusstsein zu berücksichtigen und not-
den befristeten Auftrag hinaus anzuwerben. Das sind wendige Konsequenzen aus diesen Veränderungen abzu-
Dinge, die man sinnvoll gemeinschaftlich tun kann. leiten. Wir dürfen dieses Thema nicht unter dem Ge-
sichtspunkt des parteipolitischen Klein-Kleins sehen,
Diese Frage stellt sich aber auch bei anderen Themen- sondern wir müssen in den nächsten Monaten und Jahren
gebieten: im Bereich der Förderpolitik, im Bereich der diesen Wandel im Bewusstsein fair und aktiv begleiten.
Bildungspolitik, beim Baurecht und bei anderen Dingen.
Wir dürfen nicht zulassen, dass dieses Potenzial der neuen
Ich weiß, dass das schwierig ist, aber es muss bei einer
Länder einfach versiegt.
solchen Debatte wie heute auch einmal möglich sein,
quasi gegen den Strich zu denken und diese Themen an- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
zusprechen. DIE GRÜNEN)
Wenn es richtig ist, meine Damen und Herren, dass die Zum Schluss. Wir müssen uns jedem Angriff auf eine
ostdeutschen Länder nicht nur untereinander im Wettbe- offene Gesellschaft, jedem Signal der Intoleranz und
(B) werb stehen, sondern ostdeutsche Regionen schon längst Fremdenfeindlichkeit, die auch zur ostdeutschen Rea- (D)
in einem europaweiten Wettbewerb der Regionen stehen, lität gehört, entgegenstellen.
zum Beispiel mit Irland oder mit Spanien, und sich der
Blickwinkel in Zukunft auch noch auf Osteuropa auswei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
ten wird, dann ist es in der Tat eine wichtige Erfahrung DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
von hoher Aktualität, wenn man Gemeinsamkeiten aus- F.D.P. und der PDS)
macht und gemeinsame Stärken herausstellt.
Niemand sollte die Illusion haben, dass dieses Problem
Ich will ausdrücklich noch eine weitere Erkenntnis an- der Staat alleine mithilfe von Gesetzen lösen kann. Die
sprechen. Angesichts der Entwicklungen, die wir erlebt Pflicht, gegen Fremdenfeindlichkeit einzutreten, stellt
haben, und angesichts der Entwicklungen, die noch vor sich jedem im täglichen Leben. Wir dürfen nicht weg-
uns liegen, können wir nur in dem Maße erfolgreich sein, schauen; unser aller Zivilcourage ist in ganz starkem
wie es uns gelingt, die Menschen bei diesen Entwicklun- Maße gefordert.
gen mitzunehmen. Die Menschen in den neuen Bun-
desländern können sich – ich habe in diesem Punkt Ich wollte nicht unterlassen, diese Erfahrungen anzu-
eine etwas andere Auffassung als Sie, Herr Kollege sprechen. Es ist keine Frage, dass zehn Jahre Wirtschafts-
Rexrodt – auf eine ganze Reihe von Stärken und Fähig- und Währungsunion eine historische Dimension haben.
keiten besinnen, die sie aus 40 Jahren Leben in der DDR Aber es gibt noch viele Punkte, die uns heute und auch
mit all den Schwierigkeiten und Bedrückungen, aber auch morgen gedanklich beschäftigen müssen.
aus zehn Jahren Leben in den neuen Verhältnissen ge-
wonnen haben. Schönen Dank.

Zu diesen Fähigkeiten gehört für mich die Fähigkeit, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
mit Veränderungen fertig werden zu können. Dazu gehört DIE GRÜNEN)
für mich die Stärke, pragmatisch an Probleme herangehen
zu können. Dazu gehört für mich die Fähigkeit, einen un- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile das Wort
dogmatischen Lösungsansatz zu finden. Dazu gehört für dem Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen, Herrn
mich die Befähigung, kooperativ und nicht als Einzel- Professor Biedenkopf.
kämpfer an Lösungen heranzugehen. Wir müssen diese
Stärken und dieses Potenzial, das in den Menschen steckt, Ich darf mir die Bemerkung erlauben, dass ich gern an
betonen und ins Bewusstsein rücken. unsere gemeinsame Zeit vor zehn Jahren zurückdenke.
(Beifall der Abg. Sabine Kaspereit [SPD]) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10611

(A) Dr. Kurt Biedenkopf, Ministerpräsident (Sachsen): „Ostdeutschland“ gesprochen, sondern von „Sachsen, (C)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern,
ren! Auch ich habe diese freundlichen Erinnerungen. Berlin und Brandenburg“. Ich komme darauf gleich noch
Ich finde es gut, dass sich der Bundestag entschieden einmal zurück.
hat, am heutigen Tag der zehnjährigen Wiederkehr des (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
Eintritts in die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie haben aber lange ge-
zu gedenken, die mit dem 1. Juli 1990 vollzogen wurde. sucht, um ein Haar in der Suppe zu finden!)
Der Mauerfall hat den Weg zur Einheit unwiderruflich – Ich suche keine Haare in der Suppe. Das überlasse ich
geöffnet. Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion Ihnen, Herr Kollege.
hat die Einheit Realität werden lassen. Mit dem 3. Okto-
ber 1990, mit dem Einigungsvertrag, mit der Entstehung (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster
der ostdeutschen Länder, mit dem Beitritt der DDR zur [SPD]: Die Suppe haben Sie serviert!)
Bundesrepublik Deutschland, beschlossen am 23. August, Außerdem bin ich kein Suppenesser.
war die Einheit vollendet.
Drittens. Die europäische Integration hat sich be-
Nach zehn Jahren kann man feststellen: Die nationale währt. Wir haben den Aufbau Ost so, wie wir ihn in den
Einheit hat sich in der nationalen Solidarität bewährt. letzten zehn Jahren vollziehen konnten, auch mit beacht-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem licher Unterstützung und Hilfe der Europäischen Union
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) vollzogen. Ich möchte hier ausdrücklich an Jacques
Delors erinnern, der vier- oder fünfmal in der Zeit seiner
Bei allen Problemen, die auch heute in der Debatte Amtstätigkeit mit den Ministerpräsidenten der ostdeut-
wieder angesprochen worden sind, finde ich: Wenn man schen Länder zusammengetroffen ist, um mit ihnen über
nach zehn Jahren einen allgemeinen Rückblick und eine die Notwendigkeiten des Aufbaus dieses Teils Deutsch-
allgemeine Bewertung vornimmt, ist es wichtig, die Pro- lands zu diskutieren, seine Hilfe anzubieten und vor allem
portionen richtig zu setzen. Kein Mensch – jedenfalls ich die Probleme zu verstehen. Da gibt es bis heute Verstän-
nicht – hätte geglaubt, dass die deutsche Solidarität über digungsschwierigkeiten. Das will ich gerne zugeben.
zehn Jahre so selbstverständlich werden würde. Es hat in
Hier ist schon viel über die Entscheidung gesprochen
den letzten zehn Jahren keinen Versuch gegeben, den
worden, die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion
Westen unter Gesichtspunkten der Solidarität gegen den
kurzfristig zu verwirklichen. Ich möchte noch einmal da-
Osten auszuspielen. Es hat keinen politisch wirksamen ran erinnern, dass der Sachverständigenrat zur Begut-
Versuch gegeben – von keiner politischen Partei –, durch achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung am (D)
(B) Neid- oder andere Argumente in Westdeutschland gegen
20. Januar der Bundesregierung empfohlen hatte, die
die Solidarität Stimmen zu gewinnen. Die Solidarität war D-Mark gewissermaßen als Krönung, als Schlusspunkt
trotz eines gewissen Maulens – wer mault nicht, wenn er der Entwicklung einzuführen, zunächst einmal in der
Steuern zahlen muss? – eigentlich eine Selbstverständ- DDR die Marktwirtschaft zu verwirklichen, dann der
lichkeit. Diejenigen, die uns von außen betrachten, wissen DDR Zeit zu lassen, bis sie dahin kommt, dass sie eine
das sehr viel besser als wir selbst. Sie sind beeindruckt Konvertibilität zwischen der Ostmark und der D-Mark
von dieser Solidarität und von ihrer Kontinuität. herstellen kann, und dann, wenn sich diese Konvertibilität
(Vo r s i t z : Vizepräsidentin Petra Bläss) bewährt haben sollte, die D-Mark einzuführen. Selten
habe ich von Sachverständigen so viel Unverstand gele-
Deutschland hat den Aufbau und die Erneuerung des sen wie in diesem Gutachten.
östlichen Teils Deutschlands angepackt. Das Ergebnis
kann sich sehen lassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie
bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS-
Die zweite Feststellung. Die bundesstaatliche Ord- SES 90/DIE GRÜNEN)
nung hat sich bewährt. Unmittelbar nach dem 3. Ok-
tober – Kollege Waigel hat schon auf das Zusammen- Gleichwohl war es dann, wie ich meine, eine mutige Ent-
kommen der Ministerpräsidenten im Jahre 1947 in Mün- scheidung der Bundesregierung unter Führung von
chen hingewiesen, dem einzigen Versuch, nach dem ver- Helmut Kohl, wenige Wochen nach der Vorlage dieses
lorenen Krieg die Einheit der Deutschen noch einmal zu Gutachtens, das – ich empfehle Ihnen die Lektüre in den
demonstrieren; im Übrigen mit zum Teil dramatischen Archiven – von weiten Teilen positiv aufgenommen
Konsequenzen auch für ostdeutsche Ministerpräsidenten, wurde, genau das Gegenteil zu beschließen. Es ist hier ge-
insbesondere für den sächsischen – trat am 9. November sagt worden, das sei vorrangig eine politische Ent-
der Bundesrat in Berlin zum ersten Mal mit allen 16 Län- scheidung gewesen. Das ist zweifellos richtig. Zweifellos
dern zusammen. Ich muss gestehen, das war für mich als haben auch die Wanderbewegungen der Übersiedler von
Neuankömmling in dieser Runde ein persönlich bewe- Ost nach West eine wichtige Rolle gespielt. Aber ich
gender Augenblick. möchte ausdrücklich feststellen: Die Entscheidung war
auch ökonomisch richtig. Denn unterstellen wir einmal,
Die bundesstaatliche Ordnung hat sich aber auch in der es wäre möglich gewesen, die Bürgerinnen und Bürger in
Integration der Länder bewährt. Von Anfang an war es der damaligen DDR dazu zu überreden, dort zu bleiben,
selbstverständlich, dass sie dazugehörten. Im Unterschied wo sie sind, und zunächst einmal zu versuchen, mit einer
zu Herrn Kollegen Schwanitz haben wir nicht immer von gewissen Hilfe aus dem Westen ihre Probleme selbst zu
10612 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf (Sachsen)

(A) lösen – es gibt doch hier in diesem Haus niemand, der Ich möchte in diesem Zusammenhang nur zwei Daten (C)
glaubt, dass das funktioniert hätte nennen: Es geht zunächst um die Schätzung der Kosten.
Die Schätzung der Kosten, so wird gesagt, sei weitgehend
(Zuruf von der CDU/CSU: Doch, Frau Luft!)
verkehrt gewesen. Ich darf diejenigen, die sich schon
– gut; lassen wir das –: Die Folgen für Westdeutschland 1990 im Bundestag befunden haben, daran erinnern, dass
wären ökonomisch viel katastrophaler gewesen. Denn wir am 7. Februar 1990 eine Aktuelle Stunde zur Frage der
wenn der Zeitpunkt gekommen wäre, zu dem die wande- Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion hatten.
rungswilligen Teile der Bevölkerung der damaligen DDR, Das ganze Haus hat meiner Feststellung, die Kosten der
nämlich diejenigen, die sich Berufschancen in West- Einheit seien kalkulierbar und sie würden nicht höher sein
deutschland ausrechnen konnten, also die Facharbeiter, als der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts bei angemes-
die Ingenieure, die Techniker und andere, die ja über eine senem Wachstum, zugestimmt. Der Zuwachs des Brut-
exzellente Ausbildung und außerdem über die in West- toinlandsprodukts bei angemessenem Wachstum lag,
deutschland völlig abhanden gekommene Fähigkeit zur nicht inflationsbereinigt, sondern nominal, bei ungefähr
Improvisation verfügten, 4,5 Prozent. 4,5 Prozent waren damals rund 100 Milliar-
den DM. Der Einzige, der damals mitgerechnet hatte, hat
(Heiterkeit) einen Zuruf gemacht. Das war Graf Lambsdorff. Er hat
gewandert wären und die Summe der zurückbleibenden gesagt, das sei ziemlich viel. Aber keiner hat sich daran
Arbeitskräfte unterhalb einer kritischen Masse gelegen gestört.
hätte, dann wäre der Aufbau in Ostdeutschland unmöglich In den letzten zehn Jahren haben wir pro Jahr eine
gewesen. Dann, aber nur dann wäre es zu einer dauerhaf- durchschnittliche Transferleistung von 4,5 Prozent des
ten Alimentationssituation gekommen. Diese Alimentati- Bruttoinlandsprodukts gehabt. Wir haben diesen Ein-
onssituation wäre nicht nur mit großen politischen, son- bruch in der gesamtdeutschen Leistungsfähigkeit inner-
dern auch mit enormen ökonomischen Kosten verbunden halb von wenigen Jahren überwunden. Das Bruttoin-
gewesen, und zwar weitgehend ohne Aussicht auf Verän- landsprodukt pro Kopf der Bevölkerung – einschließlich
derung. Deshalb war die Entscheidung richtig. Ostdeutschland – hat im Jahre 1997 wieder das Niveau
Es ist schon von Herrn Kollegen Waigel gesagt von 1990 erreicht und liegt heute wesentlich höher. Es
worden, dass die Anregung, die sich jetzt beim DIW wie- entwickelt sich wieder genau parallel und im Übrigen mit
dem gleichen Abstand zum durchschnittlichen Brutto-
derholt, einen anderen Umrechnungskurs zu wählen,
inlandsprodukt pro Einwohner der 14 anderen EU-Staaten
schlicht an der Wirklichkeit vorbeiging.
und liegt an der Spitze.
(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Wohl mehr!)
(B) Aus Sicht zum Beispiel der Botschafter, die diese Zah- (D)
Das Einkommensniveau in der DDR lag zwischen 700 len kennen, heißt das: Deutschland hat, was das Bruttoin-
und – das waren Höchsteinkommen, aber nur in ganz landsprodukt pro Kopf der Bevölkerung angeht, innerhalb
seltenen Fällen – 3 000 Ostmark. Der Industriearbeiter hat von sieben Jahren die Integration von 17 Millionen Men-
zwischen 900 und 1 100 Ostmark verdient. Eine Umstel- schen, eines Drittel seines Territoriums und einer bank-
lung im Verhältnis von nur 1:3 hätte bedeutet, dass er ein rotten Wirtschaft verkraftet. Das ist das eigentlich Ent-
Zehntel dessen verdient hätte, was sein westdeutscher scheidende.
Kollege verdient hat. Es ist eine völlig abwegige Vorstel- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie
lung, dass man bei den Einkommen anders als 1:1 hätte des Abg. Werner Schulz [Leipzig] [BÜND-
umstellen können. NIS 90/DIE GRÜNEN])
(Beifall des Abg. Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]) Im Zusammenhang mit dem Bruttoinlandsprodukt pro
Ich möchte daran erinnern, dass die 1:1-Umstellung Erwerbstätigen, also der gesamtwirtschaftlichen Arbeits-
dazu geführt hat, dass wir im Herbst 1990 beim Aufbau produktivität, ist die Sache noch eindrucksvoller. Hier hat
des öffentlichen Dienstes mit 35 Prozent der Westgehäl- die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von fünf Jah-
ter angefangen haben. Es war gar nicht so einfach, gute ren das Niveau von 1990 erreicht und eilt inzwischen im
Leute für dieses Geld zu halten. Wir mussten Aus- Durchschnitt mit steil ansteigender Kurve wieder in dem
nahmeregelungen schaffen, um den unbedingt erforderli- alten Abstand vor den anderen 14 EU-Staaten nach oben.
chen westdeutschen Sachverstand dazu bewegen zu Das heißt, wir haben keinerlei Anlass, zu sagen, dass
können – notwendige Voraussetzung war ohnehin der Ide- uns die Kosten der deutschen Einheit dauerhaft beschä-
alismus –, nach Osten zu kommen. Wir haben diese Son- digt hätten. Was wir getan haben, ist: Wir haben dreimal
derregelungen geschaffen. Dass der öffentliche Dienst auf den Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts verzichtet.
inzwischen, nach zehn Jahren, 86 Prozent verdient – das Aber wir haben keine Nettobeeinträchtigung, jedenfalls
ist immer noch mehr als das, was durchschnittlich in der nicht beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölke-
Wirtschaft verdient wird –, zeigt den relativ langen Weg rung. Dass die Zuwächse, soweit sie nach Ostdeutschland
des Aufbaus der Einkommen. transportiert werden mussten, von der Bevölkerung getra-
gen werden mussten, davon war hier schon die Rede. Ge-
Die Entscheidung war richtig. Aber mindestens ebenso
nau das macht im Übrigen die solidarische Leistung aus.
wichtig ist mir die Feststellung, dass die Bundesrepublik
Deutschland diese Entscheidung eindrucksvoll verkraftet Lassen Sie mich zum Schluss auf einige Fehler und
hat. Schwierigkeiten, die uns in Zukunft weiter beschäftigen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10613
Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf (Sachsen)

(A) werden, aber auch auf einige wichtige Aussichten hin- und Technikern in allen Bereichen, vor allen Dingen aber (C)
weisen. Ehe ich das tue, habe ich die Bitte, sich mit der an Facharbeitern – die eigentliche Wachstumsbremse bei
Begrifflichkeit zu befassen. Herr Kollege Schwanitz hat einem weiteren Aufbau der Länder im Osten Deutsch-
so oft von „Ostdeutschland“ und von den „Regionen“ ge- lands wird.
sprochen, dass ich ihn im Verdacht habe, eine Länder- Deshalb begrüße ich, dass die Bundesregierung jetzt
neugliederung zu planen. auf experimentelle Weise versucht, neue Wege im Bereich
(Heiterkeit bei der SPD – Dr. Emil Schnell der Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zu finden. Wir be-
[SPD]: Das ist aber auch überfällig!) teiligen uns im Freistaat Sachsen an diesen Versuchen.
Wir haben sie 1998 angeregt. Unser Vorschlag war, Ar-
Es gibt dieses Ostdeutschland vielleicht geographisch, beitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzuführen, weil
aber nicht politisch. Die Präsidentin der Sächsischen Kir- wir glauben, dass die Instrumente, so wie sie jetzt gestal-
chenleitung hat mir auf dem letzten Treffen erzählt, sie tet sind, nicht geeignet sind, die Probleme zu lösen, mit
habe ihren heute 20-jährigen Sohn gefragt, ob er sich als denen wir es gerade in diesem Bereich zu tun haben.
Ostdeutscher oder als Deutscher empfinde. Die Antwort
dieses jungen Mannes sei gewesen: Er fühle sich als Deut- Die zweite wirklich große Herausforderung wird die
demographische Entwicklung sein. Die nächsten zehn
scher und dann, wenn er mit einem Bayern zusammen-
Jahre müssen vor allem der Frage gewidmet werden, wie
komme, als Sachse.
wir mit den Konsequenzen der demographischen Ent-
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der wicklung in Deutschland fertig werden. Dieses Problem
SPD und der F.D.P.) ergibt sich in der Tat aus den Folgen der deutschen Ein-
heit, insbesondere aus dem Geburtenverhalten der Ost-
Ich bin ziemlich sicher, dass die Menschen in Thürin- deutschen. Wir haben im Vergleich zu 1991 heute noch
gen, in Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg und etwa 50 Prozent der Grundschüler an unseren Schulen.
insbesondere natürlich in Berlin Dieser Rückgang der Zahl der jungen Menschen wird sich
(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Richtig!) jetzt durch das ganze Schulsystem ziehen und in zehn, elf
Jahren die Universitäten erreichen. Es ist vorhersehbar,
ein ähnliches Selbstverständnis im Hinblick auf ihre Iden- was es gerade im Blick auf den von Herrn Schwanitz an-
tität haben, weswegen, Herr Kollege Schwanitz, ich nicht gedeuteten und von uns seit Jahren nachhaltig betriebenen
glaube, dass das Suchen nach einem ostdeutschen Selbst- Aufbau von neuen wissenschaftlichen Kompetenzen be-
verständnis und einem ostdeutschen Leitbild zu den wich- deutet, wenn wir hier an der Knappheit von geeigneten
tigsten Aufgaben gehört, die uns gestellt sind. Frauen und Männern, die bereit sind, sich in diese Rich-
tung auszubilden, scheitern sollten. Hier liegt in Zukunft
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
(B) eine der wirklich großen Herausforderungen für die wei- (D)
Sabine Kaspereit [SPD]: Das ist schon nötig,
tere Entwicklung in ganz Deutschland.
Herr Biedenkopf!)
In diesen Zusammenhang gehört eine sachgerechte
Zum Zweiten sollten wir uns irgendwann einmal abge- Anschlussregelung für den Solidarpakt. Alle ostdeut-
wöhnen, von „den neuen Bundesländern“ zu reden. schen Länder haben im letzten Jahr die Sachverhalte zur
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vorbereitung der Verhandlungen zusammengetragen. Wir
der SPD) haben den Eindruck, dass wir in Bezug auf diese Sach-
verhalte inzwischen einen weitgehenden Konsens haben
Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker und dass wir aufbauend auf diesen Konsens in fruchtbare
hat bei seinem ersten Besuch in Sachsen in einer Rede im Verhandlungen treten können.
Rathaus zum Ausdruck gebracht, Sachsen gehöre zu den
ältesten Bundesländern in Deutschland und sei deshalb ei- Ich begrüße es ausdrücklich, dass die letzte Zusam-
gentlich nicht als „neues Bundesland“ zu bezeichnen. Da menkunft der Ministerpräsidenten mit der Bundesregie-
kann ich ihm nur Recht geben. Wir sollten daher anfan- rung zu der gemeinsamen Feststellung geführt hat, dass
gen, so wie wir selbstverständlich in Westdeutschland dif- wir diese Anschlussregelung noch in dieser Legislaturpe-
ferenzieren, auch in Ostdeutschland zu differenzieren. riode verwirklichen wollen.
Die Dinge sind verschieden, aber nicht notwendigerweise (Beifall bei der SPD sowie bei Angeordneten
besser oder schlechter. Diese Verschiedenheit ist für die der CDU/CSU und des Abg. Oswald Metzger
Menschen wichtig. Gerade wenn wir ihnen das Gefühl ei- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
ner eigenen Identität geben wollen, die sie auch in den
letzten zehn Jahren erarbeitet haben, sollten wir diese Es wäre verhängnisvoll – lassen Sie mich Ihnen dies von
nicht immer wieder mit unserer Begrifflichkeit relativie- der Länderseite sagen –, wenn wir es nicht schafften, eine
ren. solche Anschlussregelung vor Herbst 2002 in trockene
Tücher zu bringen. Das würde nämlich bedeuten, dass wir
Die wichtigste Aufgabe liegt – das ist keine Frage – Mitte 2003 erneut mit Verhandlungen beginnen müssten
nach wie vor im Arbeitsmarkt, wobei wir eine zuneh- und dass alle Länder im Osten, die einen Doppelhaushalt
mende Diskrepanz zwischen einer hohen und wachsen- haben, ihre Haushalte nicht beraten und beschließen
den Zahl von Langzeitarbeitslosen und einem ebenfalls könnten, weil sie nicht wüssten, wo sie im Jahr 2005 ste-
wachsenden Mangel an Facharbeitern haben. Wenn es uns hen werden. Wir müssen das also zwei, drei Jahre vorher
nicht gelingt, diese Entwicklung in den Griff zu bekom- wissen; daher brauchen wir einen Beschluss vor der Bun-
men, ist vorhersehbar, dass nicht der Mangel an Geld, destagswahl. Meine Bitte an dieses Hohe Haus ist, uns ge-
sondern der Mangel an Facharbeitern – an Ingenieuren rade in dieser Frage zu unterstützen.
10614 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf (Sachsen)

(A) Da ich heute Morgen aus Breslau, einer Stadt, die heute wirtschaftlich relevantes. Ein Mann, der auf dem Gebiet (C)
auch aus Sicht der Polen eine deutsche Stadt ist, gekom- der Naturwissenschaften gebildet war, wusste nicht, was
men bin – dort hat Kurt Masur gestern Abend aus Anlass Institutionen leisten müssen, damit eine freie markt-
der 1000-Jahr-Feier ein wunderschönes Konzert gege- wirtschaftliche Ordnung gewährleistet ist. Er musste dies
ben – und hier verschiedentlich die „blühenden Land- erst einmal begreifen. Das war ein unglaublicher Lern-
schaften“ zitiert worden sind, möchte ich mir eine Be- prozess.
merkung dazu erlauben. Ich habe Helmut Kohl immer an-
ders verstanden, nämlich so, dass es im Vergleich zu 80 Prozent aller Arbeitsplätze haben sich verändert.
anderen Regionen der Erde, insbesondere Europas, Am Anfang betrug die Arbeitslosigkeit 40 Prozent. Trotz-
blühende Landschaften werden. dem gab es keine blockierten Autobahnen, keinen Auf-
stand und keine sozialen Demonstrationen. Es gab den
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Willen der Menschen, mit der Hilfe, die ihnen die West-
Lachen bei der SPD) deutschen gewährt haben, vor allem aber mit dem Glau-
Verehrte Frau Kollegin Kaspereit, das habe ich im Frei- ben an ihre eigene Leistungsfähigkeit mit dieser Situation
staat Sachsen von Anfang an gesagt und dafür habe ich fertig zu werden. Und in der großen Mehrheit sind sie da-
immer Mehrheiten bekommen. mit fertig geworden. Sie werden auch mit den Problemen
fertig werden, die noch vor uns stehen; davon bin ich
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) überzeugt. Es wird immer einige geben, die verlieren.
Vielleicht hätten Sie dies in anderen ostdeutschen Län- Diese Menschen brauchen unsere Hilfe und unsere Un-
dern, insbesondere in Sachsen, auch so deutlich sagen sol- terstützung. Die große Mehrheit aber hat gewonnen und
len. sie sieht dies auch so. Für diese Leistung möchte ich
heute, nach zehn Jahren, besonders danken.
(Sabine Kaspereit [SPD]: Der Kanzler hat es
anders gesagt!) Vielen Dank.
Wie gesagt, ich bin auf die blühenden Landschaften ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so-
kommen, weil ich gerade aus Breslau komme. Und wenn wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
man aus Tschechien oder aus Polen nach Sachsen zurück- DIE GRÜNEN)
kehrt, dann weiß man, was blühende Landschaften sind.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsidentin Petra Bläss: Letzter Redner in die-
Wenn man dagegen davon ausgeht – dies sage ich, um ser Debatte ist der Kollege Dr. Mathias Schubert, SPD-
Ihren Unmut aufzunehmen –, dass man 40 Jahre Rück- Fraktion.
(B) stand in zwei oder drei Jahren aufholen kann, dann ist dies (D)
eine Illusion. Und dies hat Helmut Kohl den Ostdeutschen Dr. Mathias Schubert (SPD): Frau Präsidentin!
ebenso wenig vorgetragen wie ich. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- letzten zwei Stunden versucht, mit Blick auf einen sym-
neten der F.D.P.) bolträchtigen Tag, den 1. Juli 1990, als Beginn der
Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion eine kritische,
Zum Schluss möchte auch ich einen Dank ausspre- partiell auch selbstkritische Zwischenbilanz der Nach-
chen. Theo Waigel hat einer ganzen Reihe von Persön- wendezeit zu ziehen. Zehn Jahre sind eine historisch
lichkeiten gedankt. Ich schließe mich neben dem Dank an kurze Zeitspanne; im Leben der Menschen im Osten sind
Helmut Kohl, dessen Leistung im Zusammenhang mit der diese zehn Jahre jedoch ein bedeutender Teil.
deutschen Einheit unbestritten ist und unbestritten bleiben
wird, auch dem Dank an Lothar de Maizière an; Weil Herr Ministerpräsident Biedenkopf dies ange-
sprochen hat, will ich doch einmal definieren, was ich un-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ter „Osten“ verstehe. Ich meine also die Länder Branden-
neten der F.D.P. und des Abg. Werner Schulz burg, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-An-
[Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) halt, Sachsen und Thüringen, und zwar in all ihren
denn er hat mir sehr geholfen hat, die Probleme in Ost- historischen und politischen Besonderheiten sowie wirt-
deutschland kennen zu lernen. schaftlichen und regionalen Differenzierungen, die sie
auch innerhalb der letzten zehn Jahre erfahren haben.
Vor allen Dingen aber möchte ich den Menschen dan-
ken, die in den letzten zehn Jahren eine unglaubliche Leis- Die Bewertung „Erfolg gegen Misserfolg“ hing – so
tung erbracht haben, eine Leistung, die man sich im Wes- auch bei dieser Debatte hier – stark von der Perspektive
ten nicht vorstellen kann. Da liegt in der Tat ein des jeweiligen Betrachters ab: auf der einen Seite dieses
signifikanter Unterschied. Diese Menschen nämlich ha- „Toll, was wir in zehn Jahren geschaffen haben!“ und auf
ben praktisch all ihre bisherigen Sozialisierungserfahrun- der anderen Seite dieses „Schade, dass wir nicht mehr er-
gen aufgeben müssen. Nichts von dem, was sie gewohnt reicht haben!“ Die Wertung all dessen, was schief gelau-
waren, ist geblieben. All das, was gekommen ist, war völ- fen ist oder als großer Wurf gefeiert werden kann, ist
lig neu. Wenn ein Chemiker im Alter von 55 Jahren auf- natürlich auch eine Frage des zeitlichen und des qualitati-
steht und fragt: Wofür braucht man Eigentum?, dann spie- ven Maßstabs, sicher auch der eigenen politischen Posi-
gelt sich darin diese ganze Dramatik wider. Er konnte dies tion. Insofern war die Debatte, die bisher hier zu diesem
nicht lernen, denn es gab kein Eigentum, jedenfalls kein Thema geführt worden ist, ausgesprochen konstruktiv.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10615
Dr. Mathias Schubert

(A) Aber eines, Frau Kollegin Luft, möchte ich dann doch wertung verloren die gesamten DDR-Betriebe im produ- (C)
sagen: Sie erwecken – zumindest in dem ersten Teil Ihrer zierenden Gewerbe alle Chancen auf neue Märkte und
Rede klang das zwischen den Zeilen an – den Eindruck, verloren natürlich auch heftigst auf ihren alten traditio-
als sei der Osten das Jammertal und der ehemalige Sozia- nellen Ostmärkten.
lismus der Heilsbringer für Deutschland. Das ist falsch.
Die damalige Bundesregierung war sich der drohenden
(Dr. Christa Luft [PDS]: Eine richtige Brüche und Schmerzen durchaus bewusst. Kollege
Floskel!) Wolfgang Schäuble beschreibt diese Situation auch ganz
offen in seinem Buch „Der Vertrag“, aus dem ich einige
Mir liegt Gelingen mehr als Scheitern. So bin ich froh
wenige Sätze zitiere. Er schreibt:
über jedes überwundene kleine oder große Problem des
deutschen Transformationsprozesses. Aber ich weigere Es war Lothar de Maizière genauso klar wie
mich, an einem Tag wie diesem alte oder neue Probleme Tietmeyer und mir, dass mit der Einführung der
schönzureden wie ein dazu bestellter Sonntagsredner. Westwährung DDR-Betriebe nicht mehr konkur-
Auch wenn im Alltag die Erinnerungen an Geschehnisse renzfähig sein würden. Wir konnten uns auch aus-
und Stimmungen aus der Wendezeit zu verblassen begin- malen, in welch dramatischer Weise dieser Eingriff
nen, manchmal weit entfernt scheinen durch die Fülle der sichtbar würde. Also ging es darum, wie wir verhin-
Ereignisse, die dazwischengetreten sind, gönne ich mir dern konnten, dass dieser Teil Deutschlands zusam-
zunächst eine ganz persönliche Bemerkung. Dieser 1. Juli menbrach.
1990 – vielleicht teilen Sie meinen Eindruck –, das war
Einige Seiten weiter:
ein Tag: ein Volk, eine Währung, der sichere Wechsel auf
die gemeinsame Zukunft! Tietmeyer und ich wussten, dass auf Finanzminister
Theo Waigel schwere Zeiten zukamen: Wie hoch die
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Hilfe ausfallen würde, darüber vermochten wir nur
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des
zu spekulieren.
Abg. Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU])
So weit Wolfgang Schäuble.
Ich gebe gerne zu, dass ich an diesem Sonntag ebenso
fröhlich und mit den gleichen feuchten Händen wie meine (Michael Glos [CDU/CSU]: Wo er Recht hat,
Nachbarn im beschaulichen brandenburgischen Mark- hat er Recht!)
grafpieske den Geldtransporter vor unserem Dorfpostamt Jeder Wirtschaftspraktiker, jede ökonomische Theorie
begrüßte. Ja, diese Stimmung gehörte auch dazu. Dieser musste deshalb 1990 eigentlich anraten, der DDR-Regie-
Augenblick hatte natürlich auch etwas Symbolisches: Er rung viel Zeit für eine zunächst selbstständige Entwick-
brachte ein Stück Freiheit, sich endlich im Westen bewe- lung zu geben. Doch in der Praxis – das wissen wir alle – (D)
(B) gen zu können ohne dieses Unbehagen, sich dauernd ali-
gab es diese Alternative in Wirklichkeit nie. Haupt-
mentiert fühlen zu müssen, und gleichzeitig die Gewiss- grund war aber nicht der ostdeutsche Ruf „Kommt die
heit, sein eigenes Einkommen fortan in D-Mark zu erhal- D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr“, wie es damals auf
ten. den Plakaten häufig zu lesen war. Hauptgrund war ein an-
Auch ich habe – zumindest an diesem Tag – der weit- derer: Kein verantwortlicher Politiker und natürlich auch
verbreiteten Illusion einer schmerzfreien, mindestens keine verantwortliche Politikerin in Ost wie in West
aber einer schmerzarmen Einfügung der DDR in die Bun- konnte die Wiedererrichtung von Zoll- und Währungs-
desrepublik angehangen. Diese Illusion nährte sich aus grenzen in Deutschland vertreten. Ich glaube, auch kein
zweierlei: einer Unterschätzung der Wirtschaftskrise der Bürger, weder in West noch in Ost, hätte dies geduldet.
DDR und – das sage ich ganz offen – einer gewissen Wenn wir heute über den Vereinigungsprozess urteilen,
Überschätzung der Wirtschaftskraft der Bundesrepublik. müssen wir zwei Tatsachen betrachten: Einerseits war die
Das hatte – dies erkennt man im Rückblick der Jahre – DDR ungeeignet, in so kurzer Frist integrierter Teil einer
auch damit zu tun, dass die damalige Koalition mit Illu- der wettbewerbsfähigsten westlichen Marktdemokratien,
sionen erfolgreich Politik machen konnte. Denn unmittel- nämlich der alten Bundesrepublik, zu werden. Und doch
bar wirksam wurden im Sommer 1990 nicht nur der Geld- war andererseits in der Realität diese sofortige Integra-
umtausch und die erforderlichen Abschluss- und Eröff- tion unausweichlich. Die schwerwiegenden Folgen der
nungsbilanzen der Unternehmen, wirksam wurden auch schnellen Vereinigung im Rahmen der Wirtschafts-,
grundlegende Richtungsentscheidungen im Rahmen der Währungs- und Sozialunion waren also ebenso voraus-
Wirtschafts- und Sozialunion. sehbar wie unvermeidlich.
Wirtschaftsunion hieß trotz aller Ungleichheiten der Ich will jetzt nicht weiter auf den 10 Jahre danach er-
Chancen und Bedingungen gemeinsamer Markt. Sozial- neut hochkochenden Streit der Wissenschaftler und der
union hieß ebenso konsequent Übernahme des westdeut- Finanzpolitiker zu diesem Thema eingehen. Wir sollten
schen Sozialgesetzbuches und damit angesichts absehba- uns auch hüten, über das vereinte Deutschland vorwie-
rer flächendeckender Massenarbeitslosigkeit eine ex- gend unter finanziellen Gesichtspunkten zu reden: Was
treme Belastung der öffentlichen Haushalte wie der kostet die Einheit? Wer bezahlt sie? Wer hat sie bezahlt
Sozialhaushalte über die Jahre hinweg. und wer wird sie weiter bezahlen?
Wie konkret dieses Gespenst werden konnte, war spä- Gleichwohl erleben wir, dass 10 Jahre nach dem
testens klar, als der Umrechnungskurs auf 1:1 bzw. In-Kraft-Treten der Wirtschafts-, Währungs- und Sozial-
1:2 festgelegt worden war. Durch diese schlagartige Auf- union die Gestaltung der Vereinigung häufig genug zu
10616 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Dr. Mathias Schubert

(A) einem reinen Belastungsdiskurs gemacht worden ist: zu ner abgemahnt. Das ist die Hypothek, die Sie zu tragen ha- (C)
wenig Hilfe für die einen, zu viel an Belastungen für die ben.
anderen. Die Verantwortung für diese bedrückende Ent-
(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]:
wicklung liegt vorwiegend bei Ihnen, liebe Kolleginnen
Ihr müsst doch einmal klatschen!)
und Kollegen auf der rechten Seite des Hauses. Das muss
ich schon sagen. Sie haben es damals versäumt, den Men- Die Weitsichtigsten auch bei Ihnen – ich habe den Kol-
schen in Ost- und Westdeutschland die Wahrheit zu sagen. legen Schäuble vorhin zitiert – wussten um die Unaus-
Ob Sie die Wahrheit gewusst haben oder ob Sie sich ge- weichlichkeit der Notwendigkeit und der Probleme der
irrt haben, mag offen bleiben. Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Aber sie haben
(Michael Glos [CDU/CSU]: Was ist denn die sie öffentlich nicht benannt. Die offizielle Version, die
Wahrheit?) Portokasse finanziert die Einheit, war aus wahltaktischen,
das heißt aus machttaktischen Gründen selbstverständlich
Darüber will ich auch nicht urteilen. erfolgreich. Für das Zusammenwachsen aber wurden da-
Fest steht, dass Sie den Menschen im Osten ein schnel- durch Ressentiments begründet, die zwischen Ost und
leres Erreichen der viel beschworenen blühenden Land- West bis heute wirken.
schaften versprochen haben, und zwar in einer anderen In- Politische Verantwortung darf sich nicht in Illusionen
terpretation und in einem anderen Verständnis, als Sie, und Machttaktik erschöpfen. Die Folgen dafür haben alle
Herr Biedenkopf, es eben gesagt haben. zu tragen. Wir werden das Thema noch einmal behandeln,
(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: wenn wir über den Solidarpakt 2 reden, zu dem ich nach-
Was Sie erzählen, ist dummes Zeug!) her kurz noch ein paar Bemerkungen machen werde.

Denen im Westen wurde versprochen, dass die Steuern Zur Beschreibung des ostdeutschen Transforma-
nicht erhöht werden müssten, um die Kosten der Einheit tionsprozesses gehört es auch, über die Befindlichkeiten,
zu finanzieren. Es ist erstaunlich, wie schnell Sie verges- über die Erfahrungen und das Selbstverständnis der Ost-
sen wollen und wahrscheinlich auch müssen. Beide Ver- deutschen einige Gedanken zu äußern. Der wirklich ent-
scheidende, der substanzielle Wandel musste sich bei den
sprechen waren falsch, konnten nicht eingehalten, muss-
Menschen vollziehen.
ten gebrochen werden.
Günter de Bruyn formulierte seine Momentaufnahme,
(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]:
die vermutlich uns allen oder zumindest vielen bekannt
Sie hätten dies alles gewusst?)
ist, damals so:
Wenn das DIW bei aller Kritik, die man an diesem Be-
(B) richt üben muss, in seiner 10-Jahres-Bilanz die Wirt- Also hat die Nation schlechte Laune. Sie ist wieder (D)
vereint, aber nicht glücklich.
schafts-, Währungs- und Sozialunion als ein Musterbei-
spiel dafür bezeichnet, dass für den Primat der Politik über Richard Schröder, unser erster SPD-Fraktionsvor-
die Ökonomie oft ein hoher Preis zu zahlen ist, dann ist sitzender in der Volkskammer und früherer Kollege im
dem zwar uneingeschränkt zuzustimmen, aber es gab Bundestag, hat für dieses Gefühl der Zerknirschtheit eine
eben keine Alternative zu dem, was gemacht worden ist. scheinbar plausible Erklärung:
(Michael Glos [CDU/CSU]: Jetzt widerspre- Der Maßstab, an dem wir die innere Einheit messen,
chen Sie sich aber!) ist der Jubel der Nacht der Maueröffnung.
Ich kann den früheren Bundesbankpräsidenten Karl Doch nicht einmal temperamentvollere Menschen als die
Otto Pöhl verstehen, wenn er gestern in der „Süddeut- Deutschen – Brasilianer oder Spanier vielleicht – können
schen Zeitung“ in einem ausführlichen Interview von sei- sich Tag für Tag in den Armen liegen und „Wahnsinn“
ner tiefen Brüskierung spricht und die Einführung der schreien.
Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion als eine „Panik-
Ich glaube, die Bilanz der Einheit kann sich zumindest
reaktion aus der Hüfte geschossen“ beschreibt.
in einem weiteren, nicht ganz unwichtigen Punkt, auf den
(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: auch hingewiesen werden muss, sehen lassen. Während
Quatsch!) zum Beispiel Korsen für ihre Unabhängigkeit kämpfen,
während eine Lega Nord in Italien marschiert, um den ar-
Aber auch da gilt: Es gab keine Alternative. – Urteilen Sie
men Süden abzuschütteln – wir könnten noch viele andere
doch, nachdem Sie mich haben aussprechen lassen und
Beispiele aufführen –, käme niemand bei uns, weder in
nicht vorher!
West- noch in Ostdeutschland, darauf, für die Unabhän-
Ich hätte mir schon gewünscht, dass diese kritischen gigkeit zu kämpfen. Ich hoffe, dass es auch die reichen
Stimmen bereits in der Deutlichkeit 1990 zu hören gewe- Südstaatler in Deutschland nicht so weit treiben werden.
sen wären, und zwar nicht gegen die Wirtschafts-,
Im Vergleich zu anderen Völkern sind wir Deutschen
Währungs- und Sozialunion, sondern gerade weil sie po-
uns doch recht einig. Der Vorrat an Gemeinsamkeiten in
litisch notwendig und unausweichlich war. Da die
Ost und West ist groß genug, um die Unterschiede auszu-
Währungsunion konsequent mit politischer Symbolik
halten, zu benennen und wenn nötig, natürlich auch im
verknüpft wurde, wurden die kritischen Stimmen, die
Streit miteinander auszutragen.
durchaus Richtiges über die belastenden Folgen dieser
Entscheidung ausgesagt hatten, schnell als Einheitsgeg- (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10617
Dr. Mathias Schubert

(A) Wir sollten ganz im Sinne der fünf bzw. sechs Länder Angleichung sind im Übrigen teilweise irreführende (C)
und im Sinne von deren wachsendem Selbstbewusstsein Begriffe. Angleichung ist nur insofern richtig, als dieser
versuchen, von der verbliebenen Vielfalt zu profitieren, Begriff in der Verfassung steht und einen Anspruch der
und nicht Walter Ulbrichts Ideale von der Menschenge- Ostdeutschen legitimiert. Er verlangt zum Beispiel, dass
meinschaft – er meinte natürlich eine sozialistische – un- sich der Staat um annähernd gleiche Lebensverhältnisse
ter dem Etikett der inneren Einheit neu aufleben lassen. zu bemühen hat. Er legitimiert unter anderem, dass So-
zialhilfeansprüche im Osten in gleicher Weise wie im
Wir sollten von der Politik nicht fordern, sie solle ein
Westen gelten.
Gemeinschaftsgefühl herstellen. Politik, die Gefühle pro-
duzieren oder provozieren will, ist mir immer noch un- Doch bedeutet Angleichung wirklich den gleichen Pro-
heimlich. Die Politik kann dafür allenfalls Voraussetzun- Kopf-Verbrauch an Spreewaldgurken in Ost und West?
gen schaffen. Heißt Angleichung wirklich, dass neben Hansa Rostock
und Energie Cottbus auch der VfB Leipzig in der Bun-
Ministerpräsident Biedenkopf hat einmal in realisti-
desliga spielt? Sind wir dann gleich, wenn die Westdeut-
scher Weise formuliert, der Vollzug der deutschen Einheit
schen genauso viel Rotkäppchen-Sekt trinken wie die
stelle ein gesamtdeutsches Reformwerk dar. Dabei ha-
Ostdeutschen? Oder ist das etwa dann der Fall, wenn in
ben die Reformerfahrungen, die die Ostdeutschen für den
Sachsen genau so viele die PDS wählen wie in Baden-
umfassenden Reformbedarf in Westdeutschland und in
Württemberg?
Europa mitbringen, einen Prozess in Richtung auf ein
neues Selbstbewusstsein angestoßen. (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Umgekehrt!)
Die politischen und ökonomischen Prozesse im Ver- – Nein, Herr Gysi, Sie werden mir zugestehen müssen,
lauf der Transformation hatten zunächst – wir wissen das dass ich den Vergleich selbstverständlich so herum ge-
alle – häufig zu biografischen Entwertungserfahrungen bracht habe.
geführt. Alltägliche Verhaltensmuster, berufliche Kennt-
Ich meine schon, dass der Begriff Angleichung völlig
nisse, soziale Erfahrungen und politische Überzeugungen
falsch gewählt wurde, wenn man darunter die Anwendung
hatten ihren Bezug auf ein völlig anderes System mit völ-
gleicher Instrumente der Politik für ungleiche Verhält-
lig anderen Werten und Zusammenhängen. Ich bin mir si-
nisse versteht. Eine andere Lage verlangt andere Instru-
cher, dass sich diese notwendigen und oft schmerzvollen
mente.
Transformationserfahrungen in der Zukunft als ein wich-
tiger Vorteil erweisen werden. Ich befürchte, dass wir das mit den Mitteln und Me-
thoden, die wir bislang zur Verfügung hatten, nie schaffen
Die schwierigen neuen Bedingungen haben ein solches
werden. Denn das künftige Ziel der Transformation wird
Maß an Flexibilität, Mobilität und Anpassungsbereit-
(B) schaft abverlangt, wie es kaum eine Generation zuvor er- nicht mehr die Angleichung, sondern die Entwicklung (D)
neuer Formen der Bündelung wirtschaftlicher Kräfte,
lebt hat. Genau daraus entwickelt sich ein Selbstbewusst-
neuer Inhalte der aktiven Arbeitsmarktpolitik, insbeson-
sein, das sich aus dem Gefühl eigener Leistung und eines
dere auf den Feldern der Aus- und Weiterbildung, zu-
selbst erarbeiteten Erfahrungsvorsprungs ableitet: Wir
kunftsfähiger Formen der sozialen Sicherungssysteme,
sind gut, wir sind zum Teil besser als manche Westdeut-
nicht nur für den Osten, sondern eben auch für West-
sche, mobiler, flexibler und kreativer.
deutschland, sein. Diese gesellschaftlichen und politi-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) schen Innovationspotenziale wachsen – das behaupte
ich hier einmal sehr ungeschützt von dieser Stelle aus –
Auch soziologische Studien belegen diesen Trend. Ge-
zurzeit, wenn ich das richtig sehe, im Osten stärker als im
genwärtig finden deshalb – das ist kein Zufall, sondern
Westen.
hängt mit dieser Entwicklung zusammen – in vielen Be-
reichen, etwa der ostdeutschen Wirtschaft, Selbstorgani- Das ist unsere gemeinsame Chance. Deshalb bin ich
sationsprozesse zur Bündelung der Kräfte, der Innovati- mir sicher, dass wir aus ostdeutscher Erfahrung Anstöße
onsfähigkeit und zur Organisation eines offensiven, glo- für gesamtdeutsche Reformen geben müssen. Ich habe
balen Marktzugangs statt. Dabei setzen wir vor allem auf mit Freude festgestellt, dass sowohl Kollege Metzger als
die zukunftsfähigen Wirtschaftsbranchen, wie etwa die auch Kollege Rexrodt gerade im Blick auf die Entwick-
Werkstoffentwicklung, die Biotechnologie oder die Infor- lung der Wirtschaft sehr klar und sehr konkret darauf hin-
mationstechnologie. Dieser innovative und konsequente gewiesen haben, dass hier neue Möglichkeiten und Me-
organisierte Selbstorganisationsprozess findet unter ande- thoden – hoffentlich im Konsens hier im Hause – ent-
rem unter dem Stichwort der Regionalisierung statt. Man wickelt werden müssen.
könnte daher sagen, dass unter denjenigen, die sich daran
Insofern wird der Solidarpakt 2 eben auch eine ge-
beteiligen ein regelrechter Aufbruch auch des eigenen
samtgesellschaftliche Aufgabe für West wie für Ost sein,
Selbstbewusstseins stattfindet. – Das ist der eine Aspekt.
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ohne Ideologien,
Es gibt aber auch noch einen anderen Aspekt, nämlich ohne Illusionen und natürlich auch ohne Machttaktik. Sie
den der neuen Qualität des Transformationsprozesses. ist zum einen eine Herausforderung an den Westen, näm-
Einer der Kernpunkte dabei wird sein – hierin hat Kollege lich noch einmal die Bereitschaft zu einem großen solida-
Schwanitz Recht –, das Ziel dieses Prozesses neu zu be- rischen Werk zu zeigen, und sie ist zum anderen eine
stimmen. Darüber müssen wir einmal an einer ganz ande- Herausforderung an den Osten, nämlich mit Realitätssinn
ren Stelle reden. Bisher hieß eines der Ziele „Anpassung und mit flexiblen Reaktionen auf die Situation bei uns bei
der Lebensverhältnisse Ost an West“. Anpassung oder den Forderungen und neuen Überlegungen zu diesem
10618 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Dr. Mathias Schubert

(A) Förderprogramm, insbesondere im Bereich Wissenschaft ist bedauerlich, dass die Landesinnenminister erst jetzt (C)
und Forschung, Kooperationen, Innovationen usw., zu gehandelt haben. Es ist bedauerlich, dass der Bundesge-
reagieren. setzgeber überhaupt tätig werden muss. Aber es ist gut,
(Beifall bei der SPD) dass er es jetzt tatsächlich tut.

Der Solidarpakt 2 – das ist vielleicht auch eine Mög- (Beifall bei der F.D.P.)
lichkeit, eine solche Rede abzuschließen – ist die Fort- Wir alle haben in diesen Tagen zahlreiche Zuschriften
führung und vielleicht sogar – das werden wir allerdings und zahlreiche Anrufe von Mitbürgerinnen und Mitbür-
erst in zehn oder noch mehr Jahren wissen – die Voll- gern bekommen, die große Angst haben. Aber es gab auch
endung dessen, was mit der Wirtschafts-, Währungs- und Interventionen von denjenigen, die Kampfhunde halten.
Sozialunion begonnen hat. Ich möchte Folgendes in großer Klarheit sagen: Es gibt in
(Beifall bei der SPD) jedem freiheitlichen Gemeinwesen Abwägungen, die man
vornehmen muss. Es gibt die Freiheitsrechte der einen.
Auch aus diesem politischen Grund scheint er mir so nötig Aber es gibt auch den Opferschutz und den Schutz vor
zu sein, wie die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion Gefährdungen der anderen.
zum 1. Juli 1990 nötig gewesen ist.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der SPD)
DIE GRÜNEN)
Für uns hat die Gefährdung durch Kampfhunde eine sol-
che Dimension erreicht, dass der Schutz vor Gefährdun-
Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus- gen Vorrang haben muss.
sprache und rufe den Zusatztagesordnungspunkt 14 auf:
(Beifall bei der F.D.P.)
Aktuelle Stunde
Auf Verlangen der Fraktion der F.D.P. Das überwiegt alle anderen Gesichtspunkte, auch wenn
sie noch so sehr auf Selbstverwirklichung ausgerichtet
Besserer Schutz der Bevölkerung – insbeson- sind. Für die deutsche Politik – ich denke, ich darf das für
dere von Kindern – vor Angriffen von Kampf- alle sagen; ich glaube, alle werden das hier sagen – ist der
hunden Schutz der Bevölkerung wichtiger als die Freiheit einiger
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die F.D.P.- Kampfhundebesitzer, sich weiterhin so verirrt wie bisher
Fraktion hat der Kollege Dr. Guido Westerwelle. verhalten zu dürfen.

(B) (Beifall bei der F.D.P., der SPD, der (D)


Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Frau Präsidentin! CDU/CSU und der PDS)
Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und
Es hat überhaupt nichts mit den Freiheitsrechten zu tun,
Kollegen! Am vergangenen Montag ist in Hamburg ein
wenn man sagt, man wolle auch künftig in einem freien
kleiner Junge auf eine bestialische Weise ums Leben ge-
Land eine Art Raubtier durch die Straßen führen dürfen.
kommen. Dieser Vorfall war der bislang schlimmste in ei-
ner lange Reihe von Zwischenfällen mit den so genannten Der Begriff Kampfhund hat schon fast eine verharmlo-
Kampfhunden. sende Bedeutung bekommen. Es handelt sich um Kampf-
Die Problematik, die mit dem Halten und mit der maschinen, um Tiere, die genetisch auf ein beson-
Existenz dieser Tiere verbunden ist, ist seit langem be- ders aggressives Verhalten hin gezüchtet werden, die
kannt. Es gab regelmäßig auch Ansätze, sich dieser Pro- schmerzunempfindlich gezüchtet werden und die keiner-
blematik anzunehmen. Mittlerweile wissen wir nach die- lei Hemmschwellen haben. Menschen, die solche Kampf-
sem tragischen Vorfall, dass diese Ansätze bislang nicht hunde einsetzen wollen, haben augenscheinlich selber
ausgereicht haben. Persönlichkeitsprobleme.

Deswegen möchten wir als Freie Demokraten mit die- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
ser Aktuellen Stunde auch einen Beitrag dazu leisten, dass der SPD, der CDU/CSU und der PDS –
in diesem Hause ein überparteilicher Konsens gegen das Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die gehören
Halten von Kampfhunden gefunden werden kann. selber zum Psychiater!)
Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Bundesinnenmi- Wir lassen nicht zu, dass ein solcher Wunsch auf Kosten
nister in dieser Frage tätig geworden ist. der Kinder, der Schwächeren und der gesamten Bevölke-
rung geht. Das kann nicht akzeptiert werden. In Deutsch-
(Beifall bei der F.D.P. und der SPD) land hat auch niemand das Recht, ein Raubtier wie zum
Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Landesinnenminister Beispiel einen Löwen oder einen Tiger an der Leine über
mittlerweile tätig geworden sind. Das rechtliche Instru- die Straße zu führen. Ein Kampfhund ist mit Sicherheit
mentarium des Bundesgesetzgebers ist vergleichsweise ähnlich gefährlich wie solche Raubtiere für ein sechs-
geringer, wenn man es mit dem vergleicht, was auf Lan- jähriges oder siebenjähriges Kind. Um den Schutz der
desebene möglich ist. Kinder geht es.
Weil schon seit vielen Jahren über diese Problematik (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so-
diskutiert wird, möchte ich mir erlauben, hier zu sagen: Es wie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10619
Dr. Guido Westerwelle

(A) Wenn man heute gelesen und in den Nachrichten ver- Aber es gibt auch Zorn, Empörung und Betroffenheit. (C)
folgt hat, dass zahlreiche Kampfhunde ausgesetzt werden, Ich habe das am Montag in Wilhelmsburg selber erlebt. Es
dann kann man nur feststellen: Das ist eine Verirrung, die ist tragisch, dass die neue Hamburger Hundeverordnung,
kaum noch nachvollzogen werden kann. Wir sind der Auf- vom Senat am vorigen Mittwoch beschlossen, für den
fassung, dass die Behörden mit entsprechenden personel- kleinen Volkan zu spät kommt. Es macht ihn auch nicht
len und sachlichen Mitteln ausgestattet werden müssen, lebendig, dass der Hundehalter, der die noch im Mai er-
damit das Verbot der Innenminister auch tatsächlich teilten Auflagen – Maulkorberlass, Leinenzwang – in ver-
durchgesetzt werden kann. antwortungsloser Weise ignoriert hat und jetzt unter dem
Verdacht fahrlässiger Tötung in Haft sitzt.
(Beifall bei der F.D.P.)
Die neue Hamburger Regelung, jetzt wohl die schärfs-
Es ist gut, dass sie ein solches Verbot durchsetzen wol-
te in Deutschland, enthält folgende Eckpunkte: Als So-
len, und zwar bundeseinheitlich. Das werden wir parla-
fortmaßnahmen gelten für alle in der Verordnung aufge-
mentarisch unterstützen. Es ist notwendig, dass die Län-
führten Hunderassen und -kreuzungen ein Maulkorb- und
der, also diejenigen, die das Verbot durchsetzen müssen,
Leinenzwang. Drei Hunderassen und ihre Kreuzungen
die entsprechenden Behörden auch so ausstatten, dass sie
gelten ab sofort und unwiderleglich als gefährliche
die Einhaltung des Verbots überwachen können.
Hunde, deren Haltung verboten ist. Die Möglichkeit zum
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten Nachweis eines so genannten berechtigten Interesses an
der SPD) der Haltung eines Hundes dieser drei Rassen ist wegen
des Eingriffs in das Eigentum vorgesehen. Ein solches In-
Ich möchte nur noch einen Schlussappell an Sie, Herr
teresse wird in der Praxis aber kaum festgestellt werden
Bundesinnenminister, richten, nachdem es im Laufe die-
können.
ser Woche eine erhebliche politische Entwicklung gege-
ben hat: Wir werden das Problem nicht loswerden, weil Bei zehn weiteren Rassen wird die Gefährlichkeit ver-
nach einem entsprechenden Verbot Kampfhunde insbe- mutet. Halter dieser Rassen müssen innerhalb von fünf
sondere aus osteuropäischen Ländern illegal importiert Monaten bei den Ordnungsbehörden folgende Nachweise
werden. Das ist eine traurige Erscheinung. Wir wissen, erbringen: ein berechtigtes Interesse an der Haltung von
dass in anderen europäischen Ländern auch anders mit Kampfhunden, die eigene Sachkunde und die Zuverläs-
Kampfhunden umgegangen wird, als wir es künftig in sigkeit des Hundehalters, die konkrete Ungefährlichkeit
Deutschland tun werden. Deswegen wäre es sinnvoll, des Hundes, die erfolgte Sterilisation bzw. Kastration des
wenn sich der Bundesinnenminister mit seinen europä- Hundes und eine Haftpflichtversicherung für den Hund.
ischen Kollegen abstimmen würde, damit wir der Gefahr, Erst wenn diese Nachweise erbracht sind, wird eine Er-
die von Kampfhunden ausgeht, im gesamten Europa be- laubnis zur Haltung des Hundes erteilt.
(B) gegnen können. Europa kümmert sich um vieles. Hier hat (D)
Der Hund wird durch einen implantierten fälschungs-
es wirklich Grund, sich gegen Kampfhunde und für den
sicheren Chip gekennzeichnet. Ordnungsbehörden und
Schutz der Bevölkerung einzusetzen.
Polizei erhalten entsprechende Lesegeräte für den Chip.
Ich hoffe sehr, dass wir mit der von uns beantragten Zucht, Ausbildung und Handel mit allen in der Verord-
Aktuellen Stunde zu einem Konsens in dieser Frage bei- nung genannten Rassen sind verboten. Bei Verstoß gegen
tragen. Das ist der Sinn dieser Aktuellen Stunde. Wenn diese Regelungen drohen die sofortige Einziehung des
wir einen Konsens erzielen könnten, wären wir in der Hundes und gegebenenfalls seine Tötung. Außerdem dro-
Lage, kurzfristig entsprechende gesetzliche Regelungen – hen empfindliche Ordnungsstrafen für den Halter, die wir
sofern sie notwendig sein sollten – durchzusetzen. künftig bis auf 100 000 DM hinaufsetzen wollen. Wir
werden unsere Steuergesetze erheblich verschärfen. Die
Vielen Dank.
Steuer für den Kampfhund wird spürbar heraufgesetzt und
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten beträgt künftig 1 200 DM im Jahr.
der SPD)
Trotz dieser landesrechtlichen sehr strengen Regelun-
gen sind wir jetzt auf eine bundesrechtliche Flankierung
Vizepräsidentin Petra Bläss: Es spricht jetzt der angewiesen. Hierbei geht es vor allem um ein strafbe-
Innensenator der Freien und Hansestadt Hamburg, wehrtes Zucht- und Importverbot und um Regelungen auf
Hartmuth Wrocklage. der europäischen Ebene. Darin stimme ich Ihnen zu, Herr
Dr. Westerwelle. Ich möchte mich ausdrücklich bei mei-
nem Kollegen, dem Bundesinnenminister Schily, bedan-
Hartmuth Wrocklage, Senator (Hamburg): Frau
ken, der diese Initiative mit uns zusammen vorangetrie-
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
ben und in das Bundeskabinett eingebracht hat.
Hamburg hatte die Arbeit an einer neuen Hundeverord-
nung in Umsetzung des Beschlusses der Innenminister- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/
konferenz von Anfang Mai, Herr Westerwelle, eine Be- DIE GRÜNEN und der F.D.P.)
schlussfassung zum Schutz der Bevölkerung vor gefähr-
– Ich weiß nicht, ob Sie auch gleich noch klatschen.
lichen Hunden, sehr weit vorangetrieben, als am Montag
dieser Woche der sechsjährige Volkan beim Spielen auf An dieser Stelle möchte ich aber auch ein Wort an jene
dem Schulhof vor den Augen seiner Klassenkameraden im Bund richten – ich spreche Herrn Dr. Westerwelle di-
von zwei Kampfhunden angegriffen und getötet wurde. rekt an –, die in den letzten Tagen anklagend auf die Lan-
Hamburg trauert um diesen kleinen Jungen. desgesetzgeber verwiesen haben. Wäre der Schuljunge
10620 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Senator Hartmuth Wrocklage (Hamburg)

(A) am Montag in Hamburg nicht von einem Kampfhund, dem Verkehr gezogen werden, und zwar sofort, flächen- (C)
sondern durch ein Butterflymesser getötet worden, dann deckend und auf Dauer.
könnte die Freie und Hansestadt auf ihren entsprechenden
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.
Gesetzentwurf zum Verbot gefährlicher Messer verwei- sowie bei Abgeordneten der PDS)
sen, der seit langem auf Bundesebene anhängig ist und
dessen Beratung immer wieder verschoben wird. Wir brauchen unter anderem ein Verbot der Züchtung,
der Kreuzung, ein Importverbot, ein Verbot des gewerbli-
(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist chen Handels mit diesen Tieren sowie spürbare Strafen
aber eine eigenartige Begründung! – Dr. Guido für Verstöße gegen diese Verbote. Daneben brauchen wir
Westerwelle [F.D.P.]: Das ist zynisch!) strengere Kontrollen, ob die Vorschriften, die Auflagen
Hier gibt es einen Beruf des Bundesgesetzgebers zur Ge- tatsächlich eingehalten werden. Denn was nützt ein Gebot
setzgebung. Eine Vorschaltregelung ist aus meiner Sicht oder Verbot, wenn wirksame Kontrollen und Sanktionen
dringend erforderlich. fehlen?! Alle anderen begleitenden Überlegungen wie
Anlein- und Maulkorbzwang, höhere Hundesteuern für
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Erfolg bestimmte Rassen mögen sinnvoll sein, sind jedoch für
der neuen Hundeverordnung wird in allen Ländern an sich allein genommen unter keinem Gesichtspunkt eine
ihrem Vollzug gemessen werden. Deshalb müssen die wirksame Maßnahme.
zuständigen Behörden, Ordnungsämter und Polizei, die
neuen Verordnungen jetzt überall konsequent umsetzen Es muss unser gemeinsames Anliegen sein, dass be-
und dabei eng zusammenarbeiten. Eine entsprechende stimmte Rassen zumindest mittelfristig von der Bild-
Verstärkung der Kapazitäten ist erforderlich. fläche verschwinden, wie es in Frankreich und Dänemark
geschehen ist. Diese Kampfhunde sind ungesicherte Waf-
Wir brauchen jetzt auch eine stärkere Kooperation mit fen auf vier Pfoten, unberechenbar und in vielen Fällen
den Tierschutzorganisationen, wir brauchen die Einsicht von ihrem Halter auch nicht zu beherrschen. Sie sind eine
und die Mithilfe der Bevölkerung und wir brauchen die tödliche Gefahr.
Unterstützung der Medien beim Kampf gegen Kampf-
Bitte jetzt kein Mitleid an der falschen Stelle, getreu
hunde.
dem Motto: Nicht das Tier, sondern der Mensch ist das
In diesen Tagen ist die Stimmung in weiten Teilen der Problem! Unser Mitgefühl muss dem toten Jungen und
Öffentlichkeit sehr eindeutig: weg mit den Kampfhunden! seinen Eltern gehören und nicht dem Besitzer des Hundes.
Aber wir müssen uns klar machen, dass nicht wenige Es mag ja durchaus sein, dass sich in vielen Fällen das ei-
Hundehalter den Rechtsweg beschreiten werden. Das be- gentliche Problem am anderen Ende der Leine auf zwei
(B) deutet, dass es in manchen Fällen schnelle Lösungen nicht Beinen befindet, aber dieser Gedanke hilft uns nicht wei- (D)
geben wird. Eine große Zahl von Hunden wird eingezo- ter und löst kein Problem.
gen und eingeschläfert werden müssen. Das wird nicht Eine derartige Argumentation erinnert an die amerika-
einfach sein, auch nicht in der öffentlichen Vermittlung. nische Waffenlobby, die ja auch regelmäßig verkündet,
Wir alle kennen aus der Vergangenheit entsprechende Trä- dass Schusswaffen nicht als solche gefährlich seien, son-
nendrüsenkampagnen der einschlägigen Medien. dern erst dann, wenn sie in die falschen Hände gerieten.
In dieser Woche ist die Stimmung in Gesellschaft und (Beifall des Abg. Rolf Stöckel [SPD])
Politik eindeutig, aber in den kommenden Wochen kann
diese Stimmung durchaus umschlagen. Wir dürfen uns Aus guten Gründen haben wir uns dieser Argumentation
aber auch dann, meine Damen und Herren, nicht beirren nie angeschlossen. Bei uns ist das Tragen von Schusswaf-
lassen. fen grundsätzlich verboten,
Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD)
weil viel zu gefährlich, und nicht etwa deshalb erlaubt,
weil man nicht nur mit diesen Waffen, sondern beispiels-
Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die Fraktion der weise auch mit einem Messer töten könnte.
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach.
Kurzum: Es geht in der heutigen Debatte und im Grund-
sätzlichen nicht um Tierschutz, sondern um Menschen-
Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! schutz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kampfhunde müs-
sen weg, runter von unseren Straßen, Schulhöfen und (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
Spielplätzen, raus aus den Parks und anderen öffentlichen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Anlagen, raus aus den öffentlichen Verkehrsmitteln. Es Es ist nicht länger hinnehmbar, dass Menschen – und hier
geht nicht darum, ob jeder einzelne Hund einer jeden vor allem Kinder – in Angst und Schrecken versetzt, ver-
Rasse, über die wir heute sprechen, ein besonders gefähr- letzt oder gar getötet werden, nur weil einige – ich betone:
liches Tier ist oder nicht, sondern es geht schlicht und er- einige – Hundehalter nicht mehr alle Latten am Zaun ha-
greifend darum, dass es nun einmal ganz bestimmte Hun- ben. Was muss eigentlich noch passieren, damit sich end-
derassen gibt, die noch gefährlicher sind als andere. Die lich überall die Erkenntnis durchsetzt, dass es so nicht
gefährlichsten müssen im wahrsten Sinne des Wortes aus weitergehen kann? Spätestens nach dem tragischen Vor-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10621
Wolfgang Bosbach

(A) fall in Hamburg muss jeder wissen, dass Umdenken drin- Länder, die Parteien und die Politiker früher reagiert, (C)
gend nötig ist. Das Gegenteil ist der Fall. Ich zitiere aus wären dem einen oder anderen Verletzungen erspart ge-
der „Berliner Zeitung“ von gestern: blieben, die ihn ein Leben lang entstellen werden, würde
der kleine Volkan vielleicht heute noch leben und anderen
Einen Maulkorbzwang für Kampfhunde lehnt
Heike I. ab. „Ein Maulkorb erzeugt bei den Tieren wären Angst und Schrecken, die sie in den letzten Jahren
Frustration und Aggression. Das macht sie gefähr- begleiteten, erspart geblieben. Insofern ist es gut, dass wir
lich.“ Ihren eigenen beiden Kampfhunden, einem uns heute mit der Problematik Kampfhunde beschäftigen.
Stafford-Mischling und einem American Stafford, Ich glaube aber, dass wir damit früher hätten anfangen
will die Tierheimmitarbeiterin jedenfalls keinen müssen. Diese Selbstkritik steht uns allen gut zu Gesicht.
Maulkorb anlegen. „Wenn ich kontrolliert werde, be- Ich möchte hier auch noch einmal die Länder anspre-
haupte ich einfach, dass es sich bei ihnen um einen chen. Ich finde es gut, dass die Bayern vorangegangen
Jagdhund und um einen Boxermischling handelt. sind und die Hamburger jetzt mit einem Maßnahmenpa-
Wer will das überprüfen?“ ket, bei dem man nichts mehr ergänzen kann, auf dieses
Das, meine Damen und Herren, ist genau die Denke, Problem aufmerksam machen. Die anderen Länder soll-
die sofortiges und konsequentes Handeln notwendig ten aber wenigstens in der Lage sein, bei diesen beiden
macht. Es geht nicht um eine Diskriminierung von Hun- Ländern abzuschreiben. Das kann man – bei allem Res-
derassen – was immer das sein mag – oder um eine Kri- pekt vor dem Föderalismus – durchaus einfordern. Ab-
minalisierung von Hundehaltern – ein völlig abwegiger schreiben muss möglich sein. Bitte setzen Sie die Rege-
Gedanke –, sondern ausschließlich um einen wirksamen lungen, die die Bayern und Hamburger gefunden haben,
und dauerhaften Schutz unserer Mitbürger vor Gefahren, um! Dabei handelt es sich um Regelungen, denen man im
um den Schutz von Rechtsgütern, die wichtiger sind als Grunde genommen nichts mehr hinzufügen muss. Inso-
der merkwürdige Wunsch eines Hundehalters, sein Leben fern sage ich: Guten Morgen, liebe Länder! Jetzt ist es
mit einem Pitbull, einem Tosa-Inu oder einem Mastiff zu Zeit, dieses umzusetzen.
teilen. Für die Jungs aus dem Rotlichtmilieu mag es ein Meine Fraktion hat bereits vor zehn Jahren einen An-
Albtraum sein, statt mit einem Bullterrier mit einem Pu- trag eingebracht, in dem sie ein Kampfhundeverbot ge-
del über die Reeperbahn zu laufen. Für mich ist das kein fordert hat. Hätte man diesen Antrag damals angenom-
Albtraum und für die Bevölkerung wäre es ein Segen. men, dann hätten viele Kinder keine psychischen Schä-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den, die dadurch entstanden sind, dass sie Angst vor
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE diesen Hunden hatten, wenn sie sie in der Fußgängerzone
GRÜNEN) sahen, davongetragen und hätten Jogger keine Angst ha-
(B) ben müssen, im Tiergarten zu joggen. Das alles wäre uns (D)
Wir brauchen jetzt keine langen Debatten und keine erspart geblieben. Ich finde es absurd, dass wir mittler-
zähen Verhandlungen über die Frage, ob man nicht die weile eine Situation haben, in der sich Eltern darüber Ge-
eine oder andere Rasse als „besonders gefährlich“ oder danken machen müssen, wie sie ihre Kinder auf Kampf-
lieber nur als „normal gefährlich“ einstufen sollte oder
hunde vorbereiten. Umgekehrt würde viel eher ein Schuh
nicht. Wir brauchen jetzt rasche und klare Entscheidun-
daraus: Wir wollen keine Kinder dressieren, sondern wir
gen. Die vielfach geäußerte Kritik, dass die Politik und die
wollen, dass diese Hunde aus dem Stadtbild und aus un-
zuständigen Behörden mit den längst überfälligen Ent-
serem Land verschwinden. Ich sehe keinen Grund – und
scheidungen zu lange gewartet hätten, dürfen wir nicht
einfach mit einem Schulterzucken, mit dem Hinweis auf mir wurde bisher auch noch kein Grund genannt –, wofür
komplizierte Zuständigkeitsregelungen, die es ja in der man Kampfhunde benötigt. Ich bin mir sicher, dass wir
Tat gibt, oder mit dem Hinweis auf die einschlägige uns alle darüber einig sind, dass diese Tiere der Vergan-
Rechtsprechung abtun. Die Kritik ist berechtigt. Die genheit angehören müssen.
„Süddeutsche Zeitung“ hat mit der in einem Kommentar (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
gestellten Frage „Warum erst jetzt?“ völlig Recht. DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU und
Treffen wir wenigstens jetzt so schnell wie möglich die der F.D.P.)
notwendigen Entscheidungen! Die Union wird die Regie- Ich will aber auch nicht so tun, als ob wir die Einzigen
rung in diesem Vorhaben gerne und aus Überzeugung un- sind, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben. Nein,
terstützen. meine Damen und Herren, auch die viertgrößte Fraktion
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem des Hauses, die F.D.P., hat sich nicht erst im Rahmen die-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) ser Aktuellen Stunde mit diesem Thema beschäftigt, Herr
Kollege Westerwelle, sondern auch früher schon einmal.
Ich möchte aus einer sehr bemerkenswerten Erklärung
Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die Fraktion vom 4. Mai 2000 zitieren. Dort wird beispielsweise ge-
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Cem sagt: „Verbot von Kampfhunden wirkungslos – Leinen-
Özdemir. zwang in der Fußgängerzone“. Angesichts der Forderung
der Umweltministerin von Nordrhein-Westfalen, Frau
Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Bärbel Höhn, nach einem Verbot von Kampfhunderas-
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist bedauer- sen – man sieht, dieses Verbot war auch vorher schon im
lich, dass es so lange gebraucht hat, bis Maßnahmen er- Gespräch – erklärte dieselbe Abgeordnete von der F.D.P.:
griffen werden können, die überfällig waren. Hätten die „keine Ausrottung von Hunderassen“.
10622 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Cem Özdemir

(A) Es wäre schon ganz gut gewesen, Herr Westerwelle, Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort für die PDS- (C)
wenn Sie sich auch dazu geäußert hätten. Es wäre gut ge- Fraktion hat der Kollege Dr. Gregor Gysi.
wesen, Sie hätten das eine oder andere Wort dazu gefun-
den, dass es Ihre Fraktion war, die sich vor nicht allzu
Dr. Gregor Gysi (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kol-
langer Zeit genau gegen das ausgesprochen hat, was heute
leginnen und Kollegen! Es gilt zu unterbinden – und zwar
der Innenminister vorschlägt, was einige der Länder strikt –, dass Kampfhunde verletzen und töten. Natürlich
schon gemacht haben und was überfällig ist. Die Kampf- gibt es Millionen Hundehalter, die sich sehr verant-
hunde müssen weg. Wir brauchen kein falsches Verständ- wortungsbewusst verhalten und die das Verhältnis von
nis für Kampfhunde oder für ihre Halter. Die Kinder und Mensch und Hund auf eine, wie ich finde, über Jahrhun-
ihre Eltern müssen sich auf den Spielplätzen sicher derte – und auch in den letzten Jahrzehnten – sehr ver-
fühlen. Sicherheit ist jetzt angesagt. nünftige Weise gestaltet haben. Wenn sie wollen, dass die-
Ich möchte noch auf einen anderen Punkt eingehen. ser Ruf erhalten bleibt, dann sollten sie uns eindeutig un-
Die Forderung nach hohen Steuern ist nicht sinnvoll, da terstützen und sich nicht gegen uns stellen, wenn es darum
sich Zuhälter mit dickem Geldbeutel diese staatlich aner- geht, das Wirken von Kampfhunden zu unterbinden. Sie
kannten Luxusköter leisten können. Der Charakter eines sollten dies tun, gerade um nicht mit denen auf eine Stufe
Halters hängt nicht von seinem Geldbeutel ab. Das Dre- gestellt zu werden, die sich nicht verantwortungsbewusst
hen an der Steuerschraube ist nicht die Lösung des Pro- verhalten.
blems. Wir müssen andere Lösungen finden. Über einen Ich erinnere an einen Vorfall in Berlin, bei dem wir zu
Maßnahmen-Mix wurde ja schon gesprochen. wenig aufgeschrien haben. Als der Berliner Senat und das
Auch die Reaktion der Versicherungswirtschaft hat Abgeordnetenhaus vorhatten, Maßnahmen gegen Kampf-
mich sehr geärgert. Der Verband hat sich gegen eine Haft- hunde einzuleiten, planten Hundehalter eine Demonstra-
pflichtversicherung ausgesprochen. Es handelt sich mei- tion mit Hunden und einem Judenstern daran. Das war
ner Meinung nach um ein unterentwickeltes Verantwor- empörend und skandalös. Dazu hätten wir damals ganz
tungsbewusstsein, das hier deutlich wird. Wenn schon die deutlich Stellung nehmen müssen.
schlimmsten Verletzungen, die Menschen davon getragen (Beifall bei der PDS, der SPD, dem BÜND-
haben, nicht rückgängig zu machen sind, dann müssen NIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)
wenigstens die Angehörigen einen Anspruch darauf ha-
ben, schnell, unkompliziert und unbürokratisch Schmer- Ich sage aber auch: Rasseverbot ist zu wenig. Ich
zensgeld zu erhalten. Daher mein Appell an die Versiche- werde dazu noch etwas sagen. Zunächst einmal zu dem
rungswirtschaft, ihre Haltung zu überdenken. Ruf nach Strafgesetzen.
(B) Der Streit – Herr Kollege Bosbach hat schon zu Recht Im Grunde genommen geht es gar nicht um Strafge- (D)
darauf hingewiesen – angesichts der Frage „Was ist ge- setze. Wir haben schon den Mordparagraphen, den Tot-
fährlicher: die Hunde oder die Hundebesitzer?“ ist ein schlagparagraphen, die Paragraphen gegen schwere, ein-
Streit, den wir uns nicht mehr leisten können. Wir müssen fache und fahrlässige Körperverletzung sowie gegen fahr-
auf beiden Seiten gleichzeitig ansetzen. Neben bestimm- lässige Tötung. All diese Paragraphen können je nach
ten Hunderassen, die wir nicht mehr dulden wollen, müs- Einzelfall Anwendung finden.
sen wir uns auch die Hundebesitzer anschauen. In diesem Worum es allerdings geht, sind das Verbot einer Zucht
Zusammenhang ist es sinnvoll, eine Art Hundeführer- von Kampfhunden, einer Abrichtung von Hunden zu
schein einzuführen. Bestimmte Menschen sind nämlich Kampfhunden und einer entsprechenden Haltung sowie
schlicht und ergreifend charakterlich überfordert, be- entsprechende Importverbote und Handelsverbote. Wenn
stimmte Hunde zu halten. Wir müssen durchsetzen, dass man solche Verbote erlässt, muss die Verletzung eines
solche Menschen, die offensichtlich eine charakterliche solchen Verbotes natürlich auch unter Strafe gestellt wer-
Symbiose mit ihrem Hund eingehen, solche Hunde zu- den, damit es überhaupt eine entsprechende Bedeutung
künftig nicht mehr ihr Eigen nennen dürfen. erlangt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass
und bei der SPD) Kampfhunde zunächst einmal keine „Erfindung“ von Pri-
Zum Schluss: Das Waffenrecht regelt bereits heute die vatbesitzern sind, sondern in der Geschichte durchaus
Berechtigung für den Besitz beispielsweise eines Luftge- auch vom Staat, von der Polizei häufig auf solche „Mit-
wehrs oder eines Maschinengewehrs. Der Gradmesser ist tel“ zurückgegriffen worden ist, sich das Ganze dann ir-
eine mögliche Gefährdung, ein möglicher Schaden oder gendwann privatisiert hat
gar eine Kriegstauglichkeit. Ein „randalierender“ Dackel (Zuruf von der CDU/CSU: Vor dem Mauerfall
kann – auch wenn er will – gar nicht so große Schäden an- zwischen Mauer und Stacheldraht!)
richten wie beispielsweise ein Pitbull im Blutrausch. Wir
– völlig richtig, das habe ich doch gar nicht bestritten –
müssen daher jetzt bei den besonders gefährlichen Tieren
und daraus jetzt ein völlig unkontrollierter Vorgang ge-
ansetzen. Die Maßnahmen liegen auf dem Tisch. Es wird
worden ist, den es zu unterbinden gilt. Nur, im Kern müs-
Zeit, dass wir handeln.
sen wir sehen, dass es schon früher Initiativen gab, auf die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN völlig unzureichend zurückgegriffen wurde. Die Tier-
und bei der SPD sowie des Abg. Wolfgang schutzverbände fordern schon seit zehn Jahren ein Heim-
Bosbach [CDU/CSU]) tierzuchtgesetz. Aber es ist nichts passiert. Mit dem
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10623
Dr. Gregor Gysi

(A) Gesetz sollten die Lücken hinsichtlich Zucht, Haltung, Deutsche Schäferhund kann ein Kampfhund sein. Wir (C)
Import und Handel mit Hunden geschlossen werden. Es sollten nicht aus irgendwelchen nationalen oder histori-
sollte auch ein Kastrationsgebot für Hunde geben, deren schen oder kulturellen Gefühlen diese Rasse ausnehmen,
Halter über keine Zuchtgenehmigung verfügen. Eine sol- sondern sagen: Bei allen Hunderassen, die sich dazu eig-
che Zucht muss ohnehin verboten werden. nen – einschließlich Mischlingen –, muss das Gesetz grei-
fen. Hier muss es Verbote geben, hier muss es bestimmte
Notwendig sind auch eine Registrierungs- und Chip- Zwänge bei der Haltung und bei der Zucht geben. Es muss
pflicht sowie eine Haftpflichtversicherung. Darauf wurde auch Kontrollen geben. Die Stellen, die die Kontrollen
schon mehrfach hingewiesen. durchführen sollen, wie übrigens auch in Hamburg hin-
Über die Gefahr aggressiv gezüchteter Hunde wird sichtlich des Maulkorbzwanges etc., sind so armselig be-
nicht erst seit gestern diskutiert. Immer wieder wurden setzt, dass sich auch hier etwas ändern muss. Es nützt uns
Menschen angegriffen. Es geht darum, zu verhindern, nämlich nichts, Verbote auszusprechen, wenn wir nachher
dass jetzt, in dieser aufgeputschten Situation, die Hunde- überhaupt nicht in der Lage sind, deren Einhaltung auch
halter ihre Kampfhunde einfach auf der Strasse absetzen, nur annähernd zu kontrollieren. Auch das muss neu und
bei Tierheimen abgeben, die völlig überfordert sind, das klar geregelt werden.
Problem also einfach von sich weg in eine unbekannte Zu- (Beifall bei der PDS – Zustimmung bei der
kunft delegieren. Auch das ist nicht hinnehmbar. Das will F.D.P.)
ich ganz deutlich sagen.
Wenn wir in dieser Hinsicht besonnen, aber auch sehr
Die PDS hat im Berliner Abgeordnetenhaus einen An- zügig und sehr konsequent vorgehen, dann könnten wir
trag eingebracht, bei dem es um eine Bundesratsinitiative dieses Problem lösen. Wir sollten dabei aber nie verges-
ging, schnellstmöglich einen Hundeführerschein für das sen: Es geht letztlich um die Aggressivität von Menschen
Halten und Führen von Hunden bestimmter Kategorien und deshalb um die Frage, wie wir die Aggressivität in un-
einzuführen. Wir glauben, dass das wirklich zwingend er- serer Gesellschaft abbauen können.
forderlich ist. Auch andere Dinge sind mit hoher Verant-
wortung verbunden. Ich nenne einmal das Auto – wir las- Danke schön.
sen ja auch nicht jeden einfach so fahren –, das man sehr (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
verantwortungsbewusst benutzen oder aber auch zu einer des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Kampfmaschine machen kann. Das hängt in der Regel F.D.P.)
vom Fahrer ab. Das eigentliche Problem ist also nicht der
Hund, sondern der Halter. Welches Statussymbol will er
haben? Wogegen will er sich angeblich verteidigen oder Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner ist
(B) womit will er versuchen, eigene Schwäche zu korrigieren der Kollege Rolf Stöckel von der SPD-Fraktion. (D)
und Aggressivität nach außen und eine Stärke auszustrah-
len, die er selbst nicht besitzt? Hier geht es um menschli- Rolf Stöckel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen
che Verhaltensweisen in negativer Hinsicht, die deutlich und Herren! Wir haben alle das Bild vom toten Volkan vor
zugenommen haben. Augen. Dieses Bild hat die gesamte Republik erschüttert,
Deshalb genügt es nicht, allein über Hunde zu disku- weil die Medien es vervielfältigt haben. Es hat die Kinder
tieren, sondern wir müssen uns auch über die Halter Ge- in dieser Republik traumatisiert. Wie viele Eltern – da
danken machen, über eine bestimmte Gruppe von Hal- schließe ich mich ausdrücklich ein – haben sich gefragt:
tern, über eine bestimmte Aggressivität, die in unserer Was wäre, wenn meinen Kindern so etwas Schreckliches
Gesellschaft generell zugenommen hat, die sich jetzt auch passiert wäre?
am Umgang mit Hunden zeigt. Wenn wir nicht versu- Viel schlimmer: Wir wissen alle – es ist auch schon ge-
chen, die gesellschaftspolitischen Probleme, die dahinter sagt worden –, dass es in den letzten zehn Jahren zu Tau-
stecken, aufzuklären und wirksam zu bekämpfen, werden senden solcher grausamer Unglücksfälle gekommen ist,
wir in dieser Frage nicht weiter kommen. Heute ist es der mit schwersten Verletzungen, Verstümmelungen und im-
Hund, morgen kann es ein anderes Tier oder ein anderes mer wieder mit Todesfolge. Allein in Berlin wurden jähr-
Instrument sein. Also müssen wir etwas tiefer gehen, als lich circa 1 800 Hundebisse von der Statistik erfasst. Wir
das in den vergangenen Tagen der Fall war. wissen, dass Kinder davon überproportional betroffen
(Beifall bei der PDS) sind; das gilt auch für alte Menschen.

Wir sind übrigens auch für einen Sachkundenachweis. Mit Recht fragen wir uns also alle, warum das nicht
Das scheint uns dringend erforderlich zu sein, denn häu- verhindert werden kann, warum die Politik und die Behör-
fig werden solche Hunde auch unter Verletzung des Tier- den nach zehn Jahren zunehmender Zwischenfälle und
schutzrechtes gezüchtet und gehalten. Sie werden ja erst Diskussionen und nach mehrmaligen Verschärfungen der
Bestimmungen es nicht vermocht haben, diese unheil-
scharf gemacht, indem sie partiell gequält werden. Auch
volle Entwicklung zu unterbinden. Ich meine, die Men-
das muss man sehen. Auch dagegen muss verstärkt etwas
schen erwarten seit langer Zeit zu Recht, dass die Politik
unternommen werden.
auf diesem Feld ihre Handlungsfähigkeit und auch ihre
Lassen Sie uns also zügig handeln, konsequent han- kurzfristige Durchschlagskraft unter Beweis stellt.
deln, aber auch mit Besonnenheit handeln. Lassen Sie uns Warum ist es in unserem Land nicht möglich, ein Kampf-
nicht von vornherein bestimmte Rassen von einer Rege- hundeverbot, wie es etwa in Frankreich seit zehn Jahren
lung ausnehmen. Ich sage hier ganz deutlich: Auch der existiert, durchzusetzen?
10624 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Rolf Stöckel

(A) Natürlich müssen sich alle fragen und fragen lassen, ob wenn sie lebhaft sind, fangen spielen, laufen, springen (C)
sie ihrer Verantwortung in diesem Punkt gerechtgeworden und schreien und deshalb wie ein weglaufendes Kanin-
sind oder ob die Verantwortung nur nach ganz unten ver- chen den Jagdinstinkt und die Blutrünstigkeit der Killer-
schoben wurde. Wie lange werden Betroffenheit und Em- hunde auslösen?
pörung diesmal andauern? Wie lange werden der hekti-
Ich meine, wir müssen den immer wieder beschwore-
sche Aktivismus und der Verdacht rein populistischer Re-
nen Auftrag ernst nehmen, Deutschland kinder- und fami-
aktion diesmal anhalten? Oder wird sich wirklich spürbar
lienfreundlicher zu machen. Als Kinderbeauftragter der
etwas ändern?
SPD-Fraktion – ich glaube, dass ich hier weitgehend auch
Was lässt denn das Problem mit aggressiven, bissigen für die Kollegen der Kinderkommission spreche – frage
Hunden spezieller Züchtungen immer unerträglicher wer- ich Sie ernsthaft, warum es diese von Menschen gezüch-
den? Sind es die unterbesetzten, inkonsequenten Ord- teten und immer wieder unverantwortlich gehaltenen
nungsbehörden vor Ort, die mehr oder weniger ausrei- Bestien überhaupt unter uns geben muss. Wir wissen, dass
chende Länderverordnungen zum Leinen- und Maulkorb- alle bisherigen Maßnahmen und Sanktionen, wahrschein-
zwang nicht durchsetzen und deren Nichteinhaltung nicht lich auch die jetzt diskutierten, weder konsequent noch
sanktionieren können? Sind es die Interessen der hiesigen bundesweit durchführbar sind und deshalb auch zukünf-
Züchterlobby, ein unkontrollierbarer Schwarzmarkt? Ich tig die schlimmsten Angriffe, gerade auf Kinder, nicht
nenne hier besonders die ehemaligen Ostblockländer. Ist verhindert werden können.
es ein Bedarf, der vom kriminellen Milieu ausgeht, oder
sind es minderwertigkeitskomplexbeladene, aggressive Daher kann es nach meiner Abwägung nur eine Kon-
oder auch sicherheitsfanatische Zeitgenossen in sozialen sequenz geben – ich begrüße, dass Herr Westerwelle und
Brennpunkten, die über angedrohte Ordnungsstrafen nur andere Kollegen um einen Konsens gebeten haben –: das
müde lächeln? Das alles ist angesprochen worden. strafbewehrte bundesgesetzliche Verbot der Einfuhr,
Züchtung und Haltung der als potenziell gefährlich ein-
Aber vielleicht ist es auch die – nicht nur den Deut- gestuften Hunderassen und aggressiv gezüchteten Hunde
schen anhängende, das muss man hier sagen – Tierliebe, als zivilisationsfeindliche Produkte menschlicher Verir-
die den liebevollen Gefährten Hund, das kinderliebe Fa- rung. Wenn wir uns in diesem Hause dazu durchringen
milienmitglied nicht von pervers gezüchteten und gehal- könnten, dann wäre der grausame Tod des kleinen Volkan
tenen Bestien unterscheiden kann. – Erinnern wir uns: In Kaya am Montag dieser Woche nicht ganz sinnlos ge-
Deutschland gab es immer eine Vorschrift für die Min- wesen.
destgröße von Schäferhundezwingern, aber leider keine
für die Mindestgröße von Kinderzimmern. – Es ist wohl Ich danke Ihnen.
(B) eine Mischung aus allem. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D)
Wie krank ist eine Gesellschaft eigentlich, die die Frei- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
heit der Killerhundehaltung, egal, ob durch angeblich zu F.D.P.)
autorisierende Villenbesitzer oder labile Machos, über
den Schutz und die körperliche Unversehrtheit von Men- Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner für
schen, insbesondere von Kindern, im öffentlichen Raum die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Dr. Hans-Peter
stellt, darüber, sich frei von Angst vor aggressiven Hun- Uhl.
den in seiner Stadt bewegen zu können? Es ist richtig: Der
Staat soll und kann nicht jedes Lebensrisiko, auch nicht
für Kinder, im Keim ersticken. Das wäre kein men- Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
schenwürdiges Leben, in dem Kinder Erfahrungen ma- Meine verehrten Damen und Herren! Jetzt, nachdem et-
chen und sich zu selbstverantwortlichen Persönlichkeiten was passiert ist, haben es alle gewusst und sind sich alle
entwickeln sollten. darin einig, dass etwas geschehen muss. Doch, Herr
Innensenator Wrocklage, noch vor einer Woche wäre es
Aber da sagt in diesen Tagen ein Landespolitiker, Kin- für einen Menschen problemlos möglich gewesen, mit ei-
der sollten sich – und Eltern sollten sie dazu anhalten – bei nem römischen Kampfhund, mit einem Mastino Napole-
Gefahr entsprechend ruhig verhalten, nicht schreien und tano, durch die Hamburger Innenstadt zu gehen. Die Po-
weglaufen, wenn ein aggressiver Hund auf sie zukommt; lizei wäre nicht eingeschritten. Wäre derselbe Mensch mit
es sei ja nicht artgerecht, wenn Hunde grundsätzlich an einem Löwen durch die Hamburger Innenstadt gegangen,
der Leine oder mit Maulkorb laufen müssten. Ich frage wäre die Polizei – mit Recht – natürlich sofort einge-
uns alle: Wo leben wir eigentlich? schritten. Das kann nicht richtig sein; auch Kollege
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Gregor Westerwelle hat das schon festgestellt. Jetzt wollen alle
Gysi [PDS]: Das frage ich mich auch!) ganz schnell handeln.
Ist nicht wenigstens der vertretbare und realisierbare Kin- Im Innenausschuss haben der Kollege Wiefelspütz und
derschutz in einer zivilisierten Gesellschaft durch den Staatssekretär Körper richtiger- und dankenswerterweise
Staat zu organisieren? Oder sehe ich das falsch – und die gesagt, man müsse in diesem Zusammenhang von Bayern
Haltung von Killerhunden ist unverzichtbarer Teil der lernen. Es hat sich in der Tat leider wieder einmal be-
natürlichen Vielfalt, der Lebensqualität, der Freiheit des wahrheitet, dass in Bayern beim Thema Sicherheit und
Einzelnen, die im Bedarfsfall sogar mit „Hundefutter auf Ordnung, also auch in diesem Lebensbereich, die Uhren
Sozialhilfe“ gefördert wird? Sind Kinder selbst schuld, anders gehen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10625
Dr. Hans-Peter Uhl

(A) Ich muss einen weiteren Punkt hinzufügen: Eigentlich Was nützen die besten Gesetze, wenn sie nicht konsequent (C)
müsste es heißen: von München lernen. Denn es war Ihr vollzogen werden?
Parteifreund, Herr Westerwelle, und mein damaliger
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
Stadtratskollege Hildebrecht Braun, der Ende der 80er-
F.D.P.)
Jahre gesagt hat, man müsse etwas gegen Kampfhunde in
der Großstadt München tun. Daraufhin waren sich im Wenn es stimmt, was in der Presse steht, dann ging es
Kreisverwaltungsausschuss alle einig, dass etwas ge- bei dem Fall in Hamburg um einen 23-jährigen Hunde-
schehen müsse. Das erfolgte dann auch 1990 und 1991. halter, der wegen mindestens 18 einschlägiger Delikte po-
Daraus entstand die jetzt von allen gelobte bayerische lizeibekannt war: Raub, Erpressung und Körperverlet-
Kampfhundeverordnung. zung sind Delikte, die man typischerweise mit Waffen be-
geht, sei es mit einer Schusswaffe, sei es mit einem
Was lernen die Kommunalpolitiker aus allen Parteien
Kampfhund. Dieser Hundehalter hat einen Brief von der
daraus? In den großen Kommunen tauchen die Probleme
Ordnungsbehörde bekommen – welch mächtiges Ein-
als Erstes auf. Hier werden die erforderlichen Regelungen
schreiten! –, in dem ein Leinen- und Maulkorbzwang ver-
geboren. In Bayern gibt es seither das Verbot der Zucht
fügt wurde. Man wusste aber, dass er auch dagegen ver-
und Kreuzung solcher Hunderassen und, was noch wich-
stieß.
tiger ist, das Scharfmachen und die Aggressionsdressur
bedürfen einer besonderen Erlaubnis. Diese Erlaubnis Angesichts dessen, meine Damen und Herren, braucht
wird in aller Regel nicht erteilt. Denn es muss ein berech- man gar keine Kampfhundeverordnung – auch in Ham-
tigtes Interesse vorliegen, einen solchen Hund zu besit- burg nicht. Das ist eine Frage des unmittelbaren Vollzugs.
zen. Dazu ist eine Bedürfnisprüfung erforderlich. Das Weil da Gefahr im Verzug ist, fährt die Polizei hin und
heißt, wir gehen mit diesem Problem so um, als sei der nimmt dem Kerl die Hunde heute noch weg. So geht man
Kampfhund eine Waffe. Das ist der einzig richtige Um- damit um; dazu braucht man keine zusätzliche Verord-
gang mit diesem Thema. nung. Das ist allgemeine Gefahrenabwehr, die auch für
Hamburg gilt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Nun liegt ja ein entsprechender Beschluss der Innen-
ministerkonferenz vor und jetzt will man auch in Ham- Mit einem betrunkenen Autofahrer führen Sie auch kei-
burg, Herr Wrocklage, ganz schnell handeln. Ich finde es nen Rechtsstreit, sondern nehmen ihm den Führerschein
schon empörend, dass Sie hier nichts, aber auch gar nichts und den Zündschlüssel weg. Wenn Sie erfahren, dass ein
über das sagen, was Sie im Jahre 1993, nachdem Sie vor Waffenbesitzer geisteskrank geworden ist, dann fahren
(B) (D)
dem Verwaltungsgericht Hamburg mit Ihrer ursprüngli- Sie sofort hin und nehmen ihm die Schusswaffe weg. Da
chen Vorlage gescheitert sind, wird doch nicht lange korrespondiert. Dies weiß jeder
Vollzugsbeamter, dem dieses Thema ernst ist.
(Erwin Marschewski [Recklinghausen]
[CDU/CSU]: Jawohl!) In Hamburg hat man die Dinge schleifen lassen. Den
letzten Beweis dafür lieferte die Sozialsenatorin Roth, als
und was Sie in den Jahren 1994, 1995, 1996, 1997, 1998
sie noch vor zwei Monaten sagte:
und 1999 nicht getan haben, aber hätten tun sollen. Was
haben Sie in den letzten sieben Jahren getan? Dass Sie Wir können nicht hinter jeden Hund einen Polizisten
jetzt, vor allem nach dem Tod des Kindes, ganz schnell et- stellen. Aber wir werden mit den Bezirken reden,
was tun, das ist selbstverständlich. Sie wären ja töricht, dass sie künftig den Bußgeldrahmen besser aus-
wenn Sie jetzt nichts täten. Bisher aber hat es am politi- schöpfen.
schen Durchsetzungswillen gefehlt. Man wollte die Ham-
Mehr fällt der Dame nicht ein! Herr Wrocklage, warum ist
burger Bevölkerung nicht so schützen, wie es sich gehört
eine Sozialsenatorin bei Ihnen überhaupt für Kampfhunde
und wie wir das in Bayern tun.
zuständig? Daran sieht man doch auch schon, dass man
Warum, Herr Özdemir, verschweigen Sie, dass die das Problem in Hamburg in den letzten Jahren nicht rich-
Hamburger Grünen es noch im Mai dieses Jahres, also vor tig behandelt hat.
dem Unglück, abgelehnt haben, die bestehende Hambur-
Ich komme zum Schluss. Wir brauchen zwei Dinge:
ger Verordnung zu verschärfen?
erstens schärfere Gesetze. Hier hat Herr Özdemir Recht.
(Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: Schreiben Sie das bayerische Gesetz ab! Das wird ja noch
Oh! Das ist ja interessant!) möglich sein. Es wird wohl auch gerichtsfest sein. Noch
wichtiger ist zweitens ein konsequenter Vollzug, damit so
Das hätten Sie ehrlichkeitshalber hinzufügen sollen, statt
etwas wie das entsetzliche Unglück von Hamburg kein
die F.D.P. anzugreifen. Nein, wir fordern ein bundes- und
zweites Mal passiert.
europaweites Handels- und Zuchtverbot sowie ein Im-
portverbot von Kampfhunden; das wurde schon ange- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
sprochen.
Was mir als Praktiker, nachdem ich elf Jahre für den Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächste Rednerin ist
Vollzug zuständig war, wichtig ist, ist Folgendes: die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
10626 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

(A) Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr habe, bin ich in der „Bild“-Zeitung noch auf Seite 1 ge- (C)
geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Her- landet, so nach dem Motto: Jetzt sind sie völlig überge-
ren! In den Reden wurde eben der kleine Volkan erwähnt. schnappt. Ich denke aber, dass sich dieser Weg in der
Ich möchte an dieser Stelle seinen Eltern unser Beileid sachbezogenen Diskussion durchgesetzt hat. Dies dient
und unser tiefes Mitgefühl aussprechen. Ich habe eben- nicht nur dem Schutz der Halter, sondern auch dem der
falls drei Kinder und fühle mich sehr betroffen. Hunde, insbesondere aber dem Schutz der Menschen, die
Die Bundesregierung tritt für den Schutz von Kindern mit diesen Tieren konfrontiert werden; denn Menschen,
vor Unfällen, vor Missbrauch und auch vor gefährlichen die mit ihren Tieren nicht umzugehen wissen, können ih-
Hunden ein. Wir begrüßen es ganz außerordentlich, dass rer Verantwortung nicht gerecht werden. Das gilt natür-
sich jetzt bundeseinheitliche Maßnahmen und Vorgehens- lich nicht nur für die Pittbulls und Staffordshires, sondern
weisen durchsetzen, wie es die Grünen auch gefordert ha- für alle Hunde ab einer gewissen „Kampfkapazität“.
ben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lassen Sie mich auf den neuen Maßnahmenkatalog sowie bei Abgeordneten der SPD)
weiter eingehen, zunächst auf das Zuchtverbot für
Kampfhunde, das von einigen Rednern bereits erwähnt Dass jetzt in Berlin für das Halten entsprechender
wurde. Diese Regelung bedarf einer Konkretisierung, ei- Hunde Unbedenklichkeitsnachweise eingefordert wer-
ner Ausweitung auf den Begriff „gefährliche Hunde“, den, halte ich für sinnvoll. In diesem Zusammenhang
weil beispielsweise bei Pitbulls oder Mixhunden natürlich möchte ich auf das von Herrn Gysi erwähnte Heimtier-
die Gefahr des Unterlaufens besteht. Es wurde ja aus der zuchtgesetz zu sprechen kommen. Es ist wichtig, dass die-
„Bild“-Zeitung, glaube ich, vorgelesen, dass ein Hund ses Gesetz endlich kommt; daran soll jetzt gearbeitet wer-
schlichtweg als Boxermischling ausgegeben wird; gene- den. Die Wesensprüfung, anhand derer man eine Ein-
tisch kann man das nicht nachvollziehen. Man braucht schätzung über den Hund gewinnen kann, wird
hier also Kriterien. Den Weg, den Bärbel Höhn in Nord- wesentlicher Bestandteil für die Freigabe zur Zucht sein.
rhein-Westfalen gewählt hat, als sie Kriterien für ein Das ist eine Forderung, die von den Hundezüchterver-
Zuchtverbot von gefährlichen Hunden aufstellte, kann bänden schon lange erhoben wird.
man durchaus gehen.
Ich habe es schon angesprochen: Die Kontrollen müs-
Ich weise im Übrigen nur darauf hin, dass es im Bun- sen weiter verstärkt werden. Städte wie zum Beispiel
destierschutzgesetz ein Verbot für Qual- und Aggressi- Leipzig können noch so tolle Verordnungen erlassen – sie
onszucht gibt. Auch hier spielt die Frage des Vollzuges müssen dann aber auch das entsprechende Personal zur
eine wesentliche Rolle. Verfügung stellen.
(B) (D)
Zweitens geht es um ein Verbot des Imports von ent- Zu dem letzten Punkt, der Haftpflicht. Es gibt eine
sprechenden Hunderassen und gefährlichen Hunden. Da- Haftpflichtversicherung für Hunde. Diese sollte jetzt auch
mals haben wir gemeinsam mit der SPD im Vermittlungs-
in Anspruch genommen werden, ungeachtet dessen, was
ausschuss gefordert, ein solches Verbot im neuen Tier-
die Versicherer gesagt haben. Eine obligatorische Haft-
schutzgesetz zu verankern. Allerdings stellt sich natürlich
auch hier die Frage der Kontrolle und des Vollzuges. Man pflichtversicherung ist eine sinnvolle Angelegenheit. Alle
benötigt dann an den Grenzen qualifizierte Kontrollbe- Maßnahmen müssen so ausgerichtet werden, dass sie mit
amte. Des Weiteren ist eine Absicherung durch die EU- Augenmaß angewandt werden.
Gesetzgebung notwendig, weil hier wettbewerbsrechtli- Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen: Die Tier-
che Anforderungen entgegenstehen. Auch hier besteht schutzvereine und Tierschutzverbände haben zurzeit in
also die Notwendigkeit der weiteren Ausgestaltung. Bezug auf die Halter größerer Hunde eine unglaublich
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- schwierige Aufgabe. Gleichzeitig werden sie bei der Fi-
SES 90/DIE GRÜNEN) nanzierung und der personellen Unterstützung alleine ge-
lassen. Ich möchte daher an die Länder plädieren, in de-
Drittens. Das Halten dieser Tiere soll nur mit Erlaub-
ren Aufgabenbereich dies fällt: Unterstützen Sie die Tier-
nisvorbehalt gestattet werden. Auch das ist eine vernünf-
tige Forderung. Allerdings muss ich auf das Problem der schutzverbände und die Tierheime, damit sie ihren
nicht registrierten Tiere verweisen. Dieses Problem gibt Aufgaben gerecht werden können und einen Beitrag dann
es in allen deutschen Städten. Ich denke, dass in diesem leisten können, einer Situation zu begegnen, die verständ-
Zusammenhang auch einmal über den Vorschlag der Grü- licherweise ein Stück weit emotionalisiert ist! Sie können
nen in Berlin oder anderen Bundesländern in Richtung dafür Sorge tragen, dass auch der Tierschutzaspekt zum
einer Kennzeichnung nachgedacht werden muss. Wir Tragen kommt.
kennzeichnen inzwischen bei der landwirtschaftlichen Vielen Dank.
Nutztierhaltung fast jedes Tier. Das dürfte auch bei Hun-
derassen problemlos möglich sein. So könnte nachgewie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
sen werden – auch bei ausgesetzten Tieren –, wo diese bei der SPD, der F.D.P. und der PDS)
Hunde herkommen.
Vierter Punkt: Sachkundenachweis bzw. Hundeführer- Vizepräsidentin Petra Bläss: Es spricht jetzt der
schein. Als ich diese Forderung vor vier Jahren erhoben Kollege Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10627

(A) Klaus Haupt (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Da- am anderen Ende der Leine, beim Hund, anpacken. Bür- (C)
men und Herren! Herr Özdemir, ich bedauere zutiefst, ger, insbesondere die besorgten Eltern, erwarten von uns
dass Sie angesichts der Problematik auf das Ritual der jetzt schnelles Handeln. Sie erwarten zu Recht null Tole-
Parteipolemik nicht verzichten konnten. ranz gegenüber dem Kampfhundewahn. Es ist schon be-
tont worden: Hier geht es um Opferschutz, um Freiheits-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
rechte der Bürger, der Kinder, und – wie der grausame
der CDU/CSU)
Vorfall in Hamburg leider zeigt – auch um Menschenle-
Ich halte Ihre Zitate für aus dem Zusammenhang gerissen ben. Als Kinderschutzbeauftragter meiner Fraktion sage
und damit schlicht und einfach für unverschämt. ich im Interesse der Kinder und der besorgten Eltern: Wir
(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kommen um radikale Maßnahmen nicht herum.
NEN]: Sagen Sie mal etwas dazu!) (Beifall bei der F.D.P.)
Ich zitiere nur einen Satz: Hier muss der illegalen Ag- Es ist doch schizophren, dass man in Deutschland als Vor-
gressionszucht ein Riegel vorgeschoben werden, wofür bestrafter zwar nicht in einen Schützenverein darf, wohl
die Innenminister das notwendige Personal zur Verfügung aber ohne weiteres blutrünstige Kampfhunde durch die
zu stellen haben. Straßen führen darf.
(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das ist wahr!)
NEN]: Sie wollten es nicht! Hier steht: „Keine
Ausrottung von Hunderassen“!) Es ist völlig klar – ohne Wenn und Aber –: Kampf-
hunde sind in Deutschland überflüssig. Sie müssen alle
Meine Damen und Herren, die F.D.P. muss sich nicht vor- ohne Ausnahme verschwinden. Alle anderen Regelungen
werfen lassen, dass sie dieses Thema erst jetzt auf die Ta- sind nicht zu kontrollieren, nicht zu überwachen und auch
gesordnung gesetzt hat; denn wir befassen uns seit zehn nicht durchzusetzen, wie es zum Beispiel die Praxis des
Jahren damit. So haben wir zum Beispiel 1991 gefordert, allgemeinen Hundeleinenzwangs in Berlin sehr deutlich
die Haltung von Kampfhunden waffenrechtlich zu regeln. zeigt. Eine halbherzige und verwirrende Kampfhunde-
verordnung wird genauso wenig durchzusetzen sein.
Der sinnlose Tod des Schülers in Hamburg hat, wie
Die Ergebnisse der Telefonkonferenz der Innenminister
schon viele betont haben, zu einem Aufschrei in diesem sind daher – das ist schon mehrfach betont wor-
Lande geführt. Was mich persönlich entsetzt hat, war, den – ein richtiger Schritt in die richtige Richtung – der
dass es vor den Augen der Mitschüler, vieler Kinder, zu Kinderschutzbund hat diese Maßnahmen übrigens schon
dieser entsetzlichen Tragödie gekommen ist, auf dem seit Jahren gefordert –, aber sie sind eben nur ein Schritt.
Schulgelände, wo Eltern ihre Kinder eigentlich in Sicher-
(B) heit wähnen. Wir können uns jetzt auch keine Kompetenzstreitig- (D)
keiten leisten. Den besorgten Eltern ist es gleichgültig,
Wer sich die Ängste der Eltern, vor allem aber die der welche Ebene wofür zuständig ist. Klar ist, dass keine
Kinder, und die seelischen Konsequenzen für sie vorstellt, Ebene allein alle Probleme lösen kann. Zusammenarbeit
kann keine Endlosdebatten, keine Verniedlichungen und ist das Gebot der Stunde.
Verharmlosungen und keine theoretischen Seminare über
Hunde mehr ertragen. (Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
(Beifall bei der F.D.P. – Cem Özdemir [BÜND- CDU/CSU und der Abg. Sabine Kaspereit
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Allerdings!) [SPD])
Schon mehr als zehn Jahre ist das Problem virulent. Die Dabei darf der Bund die Verantwortung nicht einfach nach
Politik hat – das müssen wir ehrlich eingestehen – die Lö- unten abschieben. Auch der Bund hat Handlungsspiel-
sung des Problems schlicht verschlafen und ist fahrlässig raum und muss diesen konsequent und energisch nutzen.
unentschlossen geblieben. Dass daraus beim Bürger Die F.D.P. fordert zu Recht, dass Hundehalter
Zweifel an der Politik erwachsen, braucht uns eigentlich grundsätzlich für alle Schäden voll verantwortlich sind,
nicht zu wundern. die ihre Tiere anrichten. Das betrifft – das ist schon mehr-
Es darf jetzt keine Debatte darüber geben, ob Kampf- fach betont worden – die strafrechtliche Verantwortung.
hunde bei richtiger Handhabung in unserer verstädterten Aber auch bei Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang
Industriegesellschaft Platz haben oder nicht. Kampfhunde mit der Hundehaltung besteht dringender Handlungsbe-
sind gezielt auf höchste Aggressivität gezüchtet. Ja, alle darf. Die Bußgelder für diesbezügliche Verstöße sind viel
Hunde können beißen. Aber Kampfhunde sollen sich nach zu niedrig. Hier müsste noch rasch etwas geschehen. Die
dem Willen ihrer Züchter in ihre Opfer regelrecht ver- im Tierschutzgesetz vorhandene Ermächtigungsgrund-
beißen. Kampfhunde sind lebende Waffen und damit eine lage für Zuchtverordnungen muss sofort konsequent ge-
potenzielle Gefahr. nutzt werden. Die F.D.P. begrüßt, dass Sie, Herr Bun-
desinnenminister Schily, hier ein Handeln der Bundesre-
(Beifall bei der F.D.P.) gierung in Aussicht gestellt haben. Ich sage aber noch
Es darf auch nicht mehr darüber diskutiert werden, an einmal: Jetzt müssen die Taten rasch und entschlossen fol-
welchem Ende der Leine das Problem zu suchen ist. Wenn gen.
wir das Problem an dem einen Ende der Leine, beim Men- An Sie gewandt, Herr Özdemir, betone ich: Schon
schen, kurzfristig nicht lösen können, müssen wir es eben 1991 haben wir die Anwendung des Waffengesetzes auch
10628 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Klaus Haupt

(A) auf Hundehaltung, verknüpft mit einer Zuverlässigkeits- setzungen für ein Importverbot und dafür zu schaffen, (C)
prüfung für Hundehalter, als eine Möglichkeit angesehen. dass Verstöße mit strafrechtlichen Sanktionen belegt wer-
Darüber wäre neu nachzudenken, wenn die Länder ihrer den. Aufgrund der Kompetenzverteilung ist eine Bundes-
Schutzverantwortung gegenüber den Bürgern nicht so ge- regelung notwendig.
recht werden, wie wir das erwarten. Ich möchte aber auch das Hohe Haus in Gänze auffor-
Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht zulassen, dern. Es ist gut, dass jetzt gehandelt wird, wenn auch zu
dass Mütter um ihre Kinder zittern müssen, wenn sie im spät. Diese Diskussion hatten wir auch schon vor zehn
Park spazieren gehen oder ihre Kinder auf Spielplätzen Jahren. Ich will aber nicht darüber reden, wer damals was
umhertollen. Man kann übrigens Kindern nicht beibrin- hätte tun können. Die farblichen Konstellationen der Re-
gen, wie sie sich richtig verhalten sollen, wenn sich gierungen in den Bundesländern und der Bundesregie-
Kampfhunde nähern: – rung waren sehr unterschiedlich; insofern hilft eine Dis-
kussion darüber nicht weiter.
Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Haupt, Wir müssen gemeinsam mit den Ländern erreichen,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen. dass die Regelungen, die jetzt in Ruhe und Sachlichkeit
getroffen werden, zu einer Vereinheitlichung führen. Ich
sage das vor folgendem Hintergrund: Wenn ein deutscher
Klaus Haupt (F.D.P.): – ganz ruhig bleiben, keine hek- Urlauber mit seinem Hund von der Nordsee, von der ich
tischen Bewegungen. Kinder sind überfordert. komme, nach Bayern fährt und sich an jeder Grenze zu ei-
Ich unterstütze die Forderung des Kinderschutzbundes nem anderen Bundesland schlau machen muss, was er mit
ausdrücklich: Es kann nicht sein, dass wir Kinder dressie- diesem seinem Hund einer besonderen Rasse in diesem
ren, damit Hunde zu ihrem Recht kommen. Nein, wir Bundesland tun darf und muss, kann das nicht richtig sein.
müssen uns entscheiden; denn gerade die Schwächsten (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des
unserer Gesellschaft, unsere Kinder, brauchen Schutz, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
brauchen das Handeln des Staates, und zwar jetzt und F.D.P.)
nicht halbherzig, sondern konsequent.
Deshalb muss es unser Bestreben sein, im Nachhinein die
Danke. bereits getroffenen Ländervereinbarungen ein Stück weit
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten einander anzugleichen, damit auch für die Bevölkerung
der CDU/CSU) Rechtsklarheit herrscht.
Ich glaube, Sie, Herr Westerwelle, haben eingangs ge-
(B) Vizepräsidentin Petra Bläss: Als Nächster spricht sagt: Dies gilt nicht nur für die Länder der Bundesrepu- (D)
der Kollege Günter Graf, SPD-Fraktion. blik, sondern auch für das zusammenwachsende Europa.
Wir haben die Grenzen abgeschafft. Es ist heute möglich,
die Grenzen der Mitgliedstaaten innerhalb der Europä-
Günter Graf (Friesoythe) (SPD): Frau Präsidentin! ischen Union unkontrolliert zu passieren, wann man will.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin jetzt der zehnte
Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. Ich habe von all Nun sind die Regelungen in den Mitgliedstaaten der
meinen Vorrednern und Vorrednerinnen – zumindest im EU zur Kampfhundehaltung sehr unterschiedlich. Es gibt
Grundsatz – vernommen, dass jetzt Handlungsbedarf be- sehr restriktive Regelungen, aber auch solche, die im
steht und dass keine Zeit mehr bleibt, miteinander über Grunde keine sind. In das eine Land darf ich hinein. Aber
Zuständigkeitsfragen und dergleichen mehr zu diskutie- Norwegen zum Beispiel lässt mich mit meinem Kampf-
ren. Ich unterstreiche dies mit Nachdruck. Herr Uhl, ich hund nicht hinein. Andere Länder lassen die Einreise zu,
habe keine anderen Ausführungen von Ihnen erwartet, wenn ich dem Hund einen Maulkorb anlege.
möchte aber nicht darauf eingehen. Dies hilft uns im Mo- (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/
ment auch nicht weiter. Ich denke, hier ist Gemeinsamkeit CSU]: Günter, hast du einen Kampfhund?)
angesagt. Diese sollten wir pflegen.
Diese Beispiele zeigen, dass es uns jetzt darum gehen
Vor diesem Hintergrund möchte ich dem Bundesin- muss, auch auf europäischer Ebene entsprechende Rege-
nenminister in aller Deutlichkeit ganz herzlich dafür dan- lungen zu treffen, damit die Bevölkerung weiß, worum es
ken, dass er bereits am 5. Mai 2000 bei der IMK in Düs- geht.
seldorf gemeinsam mit den Länderkollegen einen Be-
schluss gefasst hat, der sich mit den zentralen Fragen Dass wir Regelungen brauchen, damit sich solche Vor-
beschäftigt: Zuchtverbot, Verbot der Erziehung zur Ag- fälle, wie es sie übrigens immer schon gab, nicht wieder-
gressivität, Importverbote usw. All dies ist angesprochen holen, ist klar. Vor einem – weil es immer schnell falsch
worden. Auch Sie, liebe Vorrednerinnen und Vorredner, aufgefasst werden kann – will ich allerdings warnen: Bei
allen Regelungen, die wir treffen, bei allen Möglichkei-
haben dies erwähnt. Jetzt geht es darum, dies umzusetzen.
ten, die wir den Behörden, die damit umzugehen haben,
Hier sind in erster Linie die Länder gefordert, die auch da-
einräumen, wird es immer einmal wieder zu solchen Vor-
bei sind.
fällen kommen. Denn nicht jeder Vorfall kann von Geset-
Ich möchte dem Bundesinnenminister noch für etwas zen gedeckt werden. Das ist wie bei der Kriminalität. Wir
anderes danken, nämlich für die Telefonkonferenz von können alles Mögliche überwachen. Wir können den Ab-
vorgestern. Dort hat er zugesagt, die rechtlichen Voraus- stand der Polizei zum Straftäter verringern. Aber die Nase
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10629
Günter Graf (Friesoythe)

(A) vorn hat immer der Straftäter. Auch der Kampfhund bzw. einmal für alle, die sich für Tierschützer halten –, sind (C)
der Hund, welcher Rasse auch immer, hat stets die Nase ganz eindeutig Tierquälerei. Als etwas anders kann man
vorn. Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun, das nicht bezeichnen.
damit Vorfälle wie der in Hamburg mehr oder weniger
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ausgeschlossen werden.
neten der F.D.P. und des Abg. Dr. Gregor Gysi
Vielen Dank. [PDS])
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es zeichnet diese Tiere aus, dass sie am Ende dieser
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE Prozedur gegenüber allen aggressiv sind, außer gegen-
GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS) über ihrem Halter. Es liegt in der Natur des Hundes – das
weiß jeder –, dass er sich an seinem Halter orientiert. Für
andere Menschen werden diese Hunde aber zur Bedro-
Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort hat die Kol-
hung. Die Kampfhunde haben sich – das ist auch schon
legin Beatrix Philipp, CDU/CSU-Fraktion.
mehrfach gesagt worden – zu einer ungesicherten Waffe
entwickelt. Daher ist es nur konsequent, von dem Hunde-
Beatrix Philipp (CDU/CSU): Frau Vizepräsidentin! halter den Nachweis der Eignung und Zuverlässigkeit zu
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Graf, ich verlangen. Wie gesagt, die bayerischen Verordnungen
habe natürlich nichts gegen einen Dank an den Bundes- halten uns das deutlich vor Augen.
innenminister.
Da diese Hunde häufig als Statussymbol und zur Kom-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans- pensation von Minderwertigkeitskomplexen missbraucht
Peter Kemper [SPD]: Er ist ja auch gerechtfer- werden, wird dort verlangt, dass der Besitzer ein berech-
tigt!) tigtes Interesse am Besitz eines solchen Hundes nach-
weist.
Aber es wäre alles schneller gegangen, wenn man einfach
von den Bayern abgeschrieben hätte. Wie groß die Tierliebe im Übrigen gerade bei diesen
Besitzern ist, sieht man an den neuesten Tickermeldungen
(Zuruf von der SPD: Hätten Sie es doch
von heute, die ja darauf hinweisen, dass diese Tiere in
getan!)
großer Zahl ausgesetzt werden. Es scheint also mit der
Ich beziehe mich dabei auf Herrn Wiefelspütz, der vor- Tierliebe bei diesen Besitzern nicht besonders weit her zu
gestern im Innenausschuss gesagt hat: Wir müssen von sein.
den Bayern lernen.
Alle Appelle in der Vergangenheit, alle fürchterlichen
(B) (Hans-Peter Kemper [SPD]: Aber nur in Vorkommnisse, alle Versuche, das Problem mit einfachen (D)
diesem Punkt!) Mitteln – etwa Maulkorb und Leine – in den Griff zu be-
kommen, haben nicht den gewünschten Effekt gebracht.
Dass die Bayern sich das öfter wünschen als Sie und als
Schließlich war auch der Hamburger Hundehalter ver-
ich, das wissen wir ja. Aber an dieser Stelle haben sie nun
pflichtet, seinen Hund mit Maulkorb an der Leine zu
einfach einmal Recht gehabt und es hätte den Vorgang si-
führen. Darauf ist von Herrn Dr. Uhl eben schon hin-
cherlich sehr beschleunigt.
gewiesen worden.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Mit solch faulen Kompromissen kommen wir nicht
Das gilt natürlich auch, Herr Graf, für die europäische weiter. Es geht um den Schutz von Menschen, die sich be-
Ebene. Darüber, denke ich, werden wir noch an anderer droht fühlen oder es tatsächlich sind. Das ist eigentlich
Stelle reden müssen. Ich kann nur Dinge empfehlen, die egal. Wenn sich jemand subjektiv bedroht fühlt, muss man
sich besonders gut bewährt haben. etwas dagegen tun, auch wenn er objektiv nicht bedroht
sein mag. Das trifft für andere Bereiche, die wir ja öfter
Es ist deutlich darauf hinzuweisen: Wir sprechen heute
im Innenausschuss besprechen, ebenfalls zu.
über Kampfhunde, Herr Gysi, nicht über Hunde, die an-
deren Menschen dienen, Herr Graf hat darauf aufmerksam gemacht: Ein Blick
nach Europa hilft auch hier. In diesem Punkt sind andere
(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das habe ich nicht
europäische Länder schon sehr viel weiter als wir. Auch
gesagt!)
Herr Bosbach hat bereits darauf hingewiesen. Ich will
wie Wachhunde, Blindenhunde oder Rettungshunde. Sie nicht so weit wie manche Bürgerinnen und Bürger gehen,
haben eben den Deutschen Schäferhund gerade noch „am die nun fordern, alle Kampfhunde einzuschläfern. Aber je
Schwanz erwischt“. Wir müssen schon über das reden, nachdem, welche Erfahrungen der eine oder andere ge-
was auf der Tagesordnung steht, und das sind Kampf- macht hat, kann ich den Wunsch eigentlich verstehen.
hunde.
Meine Damen und Herren, als im Zusammenhang mit
Kampfhunde sind, wie in der bayerischen Verordnung BSE 2 Millionen Rinder geschlachtet wurden, also Nutz-
zu lesen ist, durch zwei Kriterien deutlich definiert. Ag- tiere, hat es hier keinen Aufschrei gegeben – 2 Millionen
gressivität ist deren einziges Zuchtkriterium. Das trifft auf Tiere, bei denen auch nur zum Teil der Verdacht auf BSE
Schäferhunde nicht zu. Anlagebedingte Aggressivität bestand. Da gab es keinen Aufschrei. Ich habe kein Ver-
wird bei Kampfhunden durch Abrichten noch verstärkt. ständnis dafür, dass bei BSE allein der Verdacht aus-
Die Methoden, die dabei angewandt werden – ich sage das reichte, bei Kampfhunden aber nicht einmal der Nachweis
10630 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Beatrix Philipp

(A) der Gefährlichkeit der Tiere für eine solche Maßnahme Herr Kollege Uhl, Sie haben den Finger auf Hamburg (C)
ausreichen soll. gerichtet. Lesen Sie einmal die Liste der Aktivitäten in
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den Ländern. Dann werden Sie auch einige CDU-regierte
neten der F.D.P.) Länder entdecken, die noch Nachholbedarf haben.

Ich kann das überhaupt nicht verstehen. Das ist eine falsch (Erwin Marchlewski [Recklinghausen]
verstandene Tierliebe. Schließlich wird ja auch ein harm- [CDU/CSU]: Welche?)
loser Schoßhund, der Tollwut hat, eingeschläfert. Auch Ich will darüber jetzt aber nicht reden, weil die gefun-
hierüber gibt es überhaupt keine Debatte. dene Einmütigkeit nicht infrage gestellt werden soll.
Wie gesagt: Wir müssen uns auf die Menschen kon- Ich zögere auch nicht, dem Freistaat Bayern sowie
zentrieren, und zwar auf der einen Seite auf diejenigen, Herrn Uhl selbst und der Stadtverwaltung von München
für deren Schutz wir verantwortlich sind – das sind insbe- besondere Anerkennung und besonderes Lob zu zollen.
sondere Kinder und alte Menschen – auf der anderen Seite Wir sollten dieses Lob aber auch dem Land Brandenburg
aber auch auf diejenigen, die diese Hunde als Waffe miss- zuteil werden lassen, das – zwar nicht ganz so früh, aber
brauchen, die so genannten Halter. Des Weiteren müssen immerhin im Jahre 1998 – entsprechende Maßnahmen er-
wir uns auf diejenigen konzentrieren, die mit diesen Hun- griffen hat. Ich denke, das ist eine richtige und faire Hal-
den ihre Geschäfte machen, indem sie mit diesen handeln, tung in dieser Frage.
sie importieren oder züchten. Wir brauchen dringend den
Nachweis der eigenen Zuverlässigkeit bei den Haltern so- Am 28. Juni dieses Jahres – also vor wenigen Tagen –
wie ein Import- und Zuchtverbot. Oberstes Ziel dabei ist in der „Süddeutschen Zeitung“ ein sehr lesenswerter
muss sein, dem Schutzbedürfnis unserer Bürger in hohem Artikel zum Thema Kam pfhunde erschienen. Dieser Ar-
Maße Rechnung zu tragen. tikel trug die Überschrift „Probleme an beiden Enden der
Leine“. Genau das ist richtig. Das ist die richtige Beurtei-
Es wird Zeit und sehr viel Geduld brauchen, bis sich lung des Sachverhalts. Aufgrund dieser richtigen Beurtei-
die Menschen wieder geschützt fühlen, bis sich diejenigen lung des Sachverhalts haben die Länderinnenminister und
wieder sicher fühlen, die heute noch die Straßenseite
der Bundesinnenminister in großem Einvernehmen An-
wechseln, und bis sich die Menschen wieder trauen, Kin-
fang Mai ein Maßnahmenpaket beschlossen, das dieser
der auf Spielplätze zu lassen, das heißt, bis sich die Men-
Beurteilung entspricht.
schen nicht mehr in ihrer Freizügigkeit eingeschränkt
fühlen, weil sie manche Plätze aus Angst vor diesen Hun- Ich will nicht alle Maßnahmen hier aufzählen. Ich will
den meiden. Wir müssen dafür sorgen, dass eine konse- nur einige beispielhaft aufführen: Definition der Gefähr-
(B) (D)
quente Umsetzung und Kontrolle der Vorhaben erfolgt. Es lichkeit von Hunden, und zwar individuell sowie anhand
muss klar sein, dass der Schutz der Bevölkerung vor der bestimmter sozial inadäquater Verhaltensweisen oder abs-
vermeintlichen Freiheit des Einzelnen, der glaubt, zur trakt durch Rassezugehörigkeit, Zuchtverbot für indivi-
Entfaltung seiner Persönlichkeit einen Kampfhund besit- duell gefährliche Hunde oder als gefährlich eingestufte
zen zu müssen, Vorrang hat. Zuchtlinien, Kastrations- und Sterilisationsgebote unter
Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen: Wir werden Beachtung tierschutzgesetzlicher Grundsätze, Haltung
mehr Personal brauchen und müssen in den Ordnungsäm- gefährlicher Hunde nur mit Erlaubnisvorbehalt.
tern dafür sorgen, dass dort Prioritäten gesetzt werden, so (V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)
wie das in meiner Heimatstadt Düsseldorf unter dem
neuen Oberbürgermeister Joachim Erwin gestern gesche- In der Schaltkonferenz am 28. Juni – also vor wenigen
hen ist. Ich sage Ihnen: Lieber eine Fahrzeugkontrolle we- Tagen – haben wir diese Maßnahmen noch einmal be-
niger und dafür eine Kampfhundehalterkontrolle mehr. kräftigt und zu unserer Zufriedenheit feststellen können,
Damit würden wir den Wünschen der Bevölkerung sehr dass alle Länder – ausnahmslos – Initiativen in Gang ge-
entgegenkommen. setzt haben. Dafür will ich meinen Länderinnenminister-
kollegen ausdrücklich danken.
Vielen Dank.
Ich will bekräftigen – das ist hier von vielen Kollegin-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nen und Kollegen gesagt worden –: Ich halte die denkbar
schärfsten Maßnahmen für geboten. Das Bundeskabinett
Vizepräsidentin Petra Bläss: Es spricht jetzt der hat zusätzliche Maßnahmen beschlossen: ein Importver-
Bundesminister des Innern, Otto Schily. bot, ein Zuchtverbot im Tierschutzgesetz. Ich darf das
aber mit dem Hinweis verbinden: Es gibt bereits das Ver-
bot der Aggressionszucht im Tierschutzgesetz und bei der
Otto Schily, Bundesminister des Innern: Frau Präsi-
Ausbildung. Sie müssen immer daran denken: Es geht
dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich möchte
hier nicht um Tierschutz, sondern in erster Linie um
vorweg sagen: Ich bedanke mich sehr herzlich für die Ein-
Menschenschutz. Das sollten wir schon bedenken, damit
mütigkeit in der Grundsatzfrage, die hier sichtbar gewor-
die Dinge nicht durcheinander geraten.
den ist. Hinsichtlich der Vergangenheit kann man sicher
das eine oder andere kritische Wort anführen. Da mag je- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
der vor seiner Türe kehren. GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10631
Bundesminister Otto Schily

(A) Für den Menschenschutz, für Sicherheit und Ordnung, rere Menschen von Kampfhunden angefallen. Gerade (C)
sind die Länder im Rahmen der Polizeigesetze zuständig. deswegen bin ich doch entsetzt über das Hickhack, wer
Deshalb muss von diesen Zuständigkeiten Gebrauch ge- denn letzten Endes zuständig war, wer zuständig ist. Ich
macht werden, zumal auch die entsprechenden Maßnah- bin auch entsetzt, Herr Innensenator, über so manches
men im Wege von Verordnungen dann schneller ihren Bundesland. Es wurde vieles geplant, es wurde wenig ver-
Weg nehmen können. wirklicht und es wurde ganz wenig durchgesetzt.
Ich denke, es war auch richtig, dass wir auf meine An- Wir haben gebeten, diesen Punkt im Innenausschuss
regung hin jetzt beschlossen haben, dass wir, wenn auf des Deutschen Bundestages zu behandeln. Sie, Herr Kol-
Länderebene Gebote oder Verbote in Kraft gesetzt wer- lege Wiefelspütz, haben dem zögernd zugestimmt. Aber
den, sie mit einem so genannten Blankettgesetz auch unser Ergebnis war: Es hat keinen Sinn, nur auf die
strafrechtlich bewehren und damit die Sanktionsdrohun- Zuständigkeit der Länder zu verweisen. Wenn die Länder
gen von der Ordnungswidrigkeit auf Vergehenstatbe- nicht handeln, muss der Bund, soweit er zuständig ist,
stände aufstocken. Auch das ist notwendig; denn das sind selbst die Initiative ergreifen. Wir dürfen nicht warten, bis
nicht irgendwelche Lappalien, sondern hier geht es um die Länder entsprechende Verordnungen oder Gesetze er-
eine wirklich schwere Gefährdung von Menschen. Des- lassen haben.
halb muss auch eine solche Sanktionsdrohung vorhanden
sein. (Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das hat er doch gemacht!)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir teilen voll Ihre Meinung, Herr Innenminister: Es sind
die schärfsten Maßnahmen geboten. Dies gilt für die
Wir werden das sehr schnell voranbringen. Das Import-
Hunde wie auch für die Hundehalter.
verbot, für das wir auf Bundesebene zuständig sind, sollte
ergänzt werden durch ein Handelsverbot, für das wie- Man fragt sich, warum das Interesse erst dann so groß
derum die Länder zuständig sind. wird, wenn etwas Scheußliches passiert ist, obwohl jeder
Ich teile die Auffassung aller, die hier gesagt haben, weiß, dass Kampfhunde wandelnde Waffen sind, dass sie
dass natürlich alle diese Gebote und Verbote davon ab- nicht aus Tierliebe und zum eigenen Schutz gehalten wer-
hängig sind, dass in der Praxis der Vollzug gesichert wird. den, dass sie – das ist schon vorher gesagt worden – Sta-
Anders kann es nicht funktionieren. Ich nehme aber gerne tussymbol sind und dass es darum geht, ein Bedrohungs-
die Anregung des Kollegen Westerwelle und des Kollegen potenzial mit diesen Hunden aufzubauen, wie es Zuhälter
Graf auf, dass wir auch auf europäischer Ebene initiativ tun. Das darf nicht akzeptiert werden. Deswegen fordern
werden müssen. die Bürger zu Recht – ich möchte die „Berliner Morgen-
post“ zitieren –: Kampfhunde kastrieren, kontrollieren
(B) Eines, meine Damen und Herren, muss kristallklar sein oder gleich generell verbieten. Recht haben sie, die (D)
und ich bin überzeugt, dass wir darüber wirklich eine Berlinerinnen und Berliner, nach den schrecklichen Ge-
großartige Einmütigkeit erzielt haben: Wir lassen nicht zu, schehnissen von Hamburg!
dass das Leben und die Gesundheit von Menschen, insbe-
sondere von Kindern und älteren Menschen, durch das Im- Das Beispiel Bayern ist genannt worden. Es ist gut,
poniergehabe, die Aggressionslust, den Kompensationsbe- dass die Innenminister im Rahmen einer Telefonkonfe-
darf bei Ich-Schwäche und die Verantwortungslosigkeit renz nun zu Ergebnissen gekommen sind. Aber Minister-
bestimmter Hundehalter – ich schränke das ein, damit Sie beschlüsse allein – das lehrt die unmittelbare Vergangen-
nicht meinen, das sei ein Pauschalurteil – in Gefahr ge- heit – beseitigen keine Gefahren. Es ist schon schlimm, so
bracht werden. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung. schreibt eine Zeitung, „dass ein Pitbull nötig ist“, so das
Zitat, „um Politiker wach zu beißen“. Ein bisschen haben
(Beifall im ganzen Hause)
die Journalisten schon Recht. Deswegen fordere ich: ers-
tens Zuchtverbote und Haltungsverbote für einschlägig
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile das Wort Vorbestrafte; zweitens Verbot der Einfuhr von gefährli-
dem Kollegen Erwin Marschewski, CDU/CSU-Fraktion. chen Hunden; drittens Anlein- und Maulkorbpflicht; vier-
tens eine Wesensprüfung für alle Kampfhunde, die einzu-
Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): schläfern sind, wenn sie diese Prüfung nicht bestehen;
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- fünftens eine harte Bestrafung der Halter, die keine or-
ren! Herr Bundesinnenminister, ich bin Ihnen für die heu- dentlichen Zuchtpapiere vorweisen können. Das sind si-
tigen Ausführungen sehr dankbar. Sie finden die volle cherlich 99 Prozent. Sie sind die eigentlich Schuldigen.
Unterstützung meiner Fraktion, der CDU/CSU. Zum Schluss: Ich gehe davon aus, dass die Länder jetzt
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- handeln und dass sie den Vollzug des Verbots auch si-
neten der SPD) chern. Aber wenn dies in Zusammenarbeit mit den Län-
dern nicht geschieht, dann müssen wir, Herr Bundes-
Lassen Sie mich als letzten Redner meiner Fraktion ge- innenminister, die Aufgabe übernehmen. Wenn wir das
genüber den Angehörigen des Kindes, das in Hamburg auf nicht tun, haben wir uns alle in beträchtlichem Maße mit-
so tragische Weise ums Leben gekommen ist, unser Mit- schuldig gemacht.
gefühl ausdrücken. Es schmerzt, feststellen zu müssen,
dass für dieses Kind jede Hilfe zu spät kam. Herzlichen Dank.
Darüber hinaus aber macht mich betroffen: Selbst nach (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
diesem Ereignis wurden in den letzten Tagen erneut meh- neten der F.D.P.)
10632 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

(A) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun der Das heißt, wir müssen, ohne rechtsstaatliche Grundsätze (C)
Kollege Harald Friese, SPD-Fraktion. zu verletzen, ganz klare Regelungen treffen, die geeignet
sind, die Kampfhunde tatsächlich von der Straße zu ent-
fernen.
Harald Friese (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Kolleginnen und Kollegen! Es hätte eine viel (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: So ist es!)
schönere Debatte werden können; denn im Grunde ge-
Wenn ich die Beschlüsse der Innenministerkonferenz
nommen gibt es ja einen Konsens, nämlich ein Einver-
lese, dann zweifele ich ein bisschen an den unendlichen
nehmen des Hauses, dass etwas gegen Kampfhunde getan
Ermessensüberlegungen, mit denen Haltung von Kampf-
werden muss, und zwar schnell. Trotzdem gab es ein paar
hunden eingeschränkt werden soll. Aber lassen wir dies
Zwischentöne, die ich kurz ansprechen möchte.
dahingestellt.
(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/
Ich möchte namens der SPD-Fraktion sagen, dass wir
CSU]: Ihr hättet den Rücktritt des Innensena-
dem Bundesinnenminister ausdrücklich danken und dass
tors gefordert! Wir waren noch sehr zurückhal-
wir diese Politik – Importverbot, Zuchtverbot – mit Über-
tend! Seid mal ruhig!)
zeugung fortführen wollen. Ich möchte hinzufügen: Wir
Natürlich ist Bayern ein Vorbild. Aber das hätte für alle müssen einen Schritt weiter gehen und Überlegungen an-
Bundesländer gegolten, egal, ob A-Länder oder B-Länder. stellen, ob es nicht so ist, dass letzten Endes nur ein Hal-
Wenn jetzt die Frage gestellt wird: „Was hat der Bund ge- tungsverbot zum Ergebnis führen kann. Mit den differen-
macht?“, dann kann ich mir die Feststellung – nachdem zierten Regelungen und den differenzierten Prüfungen, ob
das Thema schon vor zehn Jahren hier im Bundestag dis- ein Hund tatsächlich gefährlich ist und ob ein Halter
kutiert wurde – nicht verkneifen anzumerken, dass in der tatsächlich geeignet ist, einen solchen Hund zu halten,
Zwischenzeit offensichtlich auch nicht viel geschehen ist. kommen wir nicht weiter. Ich bitte einfach darum, zu prü-
fen, ob man nicht für ein generelles Haltungsverbot sor-
Ich wollte aber eigentlich gar keine parteipolitische
gen kann.
Differenzierung in diese Debatte hineinbringen;
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie aber
gemacht!) Ich möchte einen dringenden Appell an die Länder rich-
ten: Die Funktionsfähigkeit des Föderalismus erweist sich
vielmehr wollte ich darauf hinweisen, dass die Politik
nicht daran, dass wir 16 verschiedene Regelungen bekom-
vielleicht zu Unrecht am Pranger steht. Es gab ja Verord-
men. Die Funktionsfähigkeit des Föderalismus erweist
nungen der Länder, zum Beispiel in Baden-Württemberg
sich vielmehr daran, dass sich die Länder, wenn die
und Hamburg, die aber von den Gerichten kassiert wur-
Notwendigkeit besteht, etwas bundeseinheitlich zu regeln –
(B) den. Daran lässt sich die babylonische Gefangenschaft der Kollege Graf hat darauf ausdrücklich hingewiesen –, (D)
aufzeigen, in der sich im Augenblick die Politik befindet,
im Sinne eines kooperativen Föderalismus zusammenrau-
nämlich zwischen einer sehr detaillierten Rechtsprechung
fen und eine gemeinsame Lösung finden, die dann von
und rechtsstaatlichen Grundsätzen. Wenn man konkret
den jeweiligen Landesparlamenten umgesetzt wird.
handeln will, dann sagen die Gerichte plötzlich Nein. Die
Politik hat Angst, zu handeln und zu entscheiden, weil sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
befürchten muss, dass ihre Entscheidungen gerichtlich BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
kassiert werden.
Was auf der Ebene des Polizeigesetzes möglich sein
Wir dürfen bei der ganzen Diskussion nicht vergessen, soll – dort gibt es ja einen gemeinsamen Entwurf –, muss
dass rechtsstaatliche Grundsätze nicht über die Wupper erst recht in der Frage der Haltung von Kampfhunden
gehen dürfen. Aber wir müssen auch sehen: Wenn es ei- möglich sein. Ein Flickenteppich von landesrechtlichen
nen rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Regelungen in Deutschland kann mit Blick auf die euro-
gibt, dann nützt es überhaupt nichts, einen Anlein- und päische Dimension nicht angemessen sein.
Maulkorbzwang zu beschließen, der nachher nicht kon-
Pflegen wir das Pflänzchen der Gemeinsamkeit, das in
trolliert werden kann. Genau das wird die Praxis sein.
dieser Debatte sichtbar wurde! Überlegen wir, ob es recht-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) lich möglich wäre, einen noch weiter gehenden Schritt zu
tun! Nur durch diesen Schritt werden wir das erreichen,
Weder Länder noch Gemeinden sind in der Lage – wenn
was wir wollen: Sicherheit auf unseren Straßen, Sicher-
Hundehaltung nur mit Führerschein und Prüfung des
heit für unsere Bürger. Mit dem unsinnigen Gefährdungs-
Hundes und des Halters erlaubt wird –, die Einhaltung ei-
potenzial, das in der Haltung von Kampfhunden steckt,
ner solchen Vorschrift konkret zu kontrollieren. muss Schluss sein; denn dafür gibt es keine Rechtferti-
Die Freiheit des Einzelnen – das ist der zweite rechts- gung.
staatliche Grundsatz neben dem der Verhältnismäßigkeit – Vielen Dank.
hat natürlich zwangsläufig dort ihre Grenzen, wo die Frei-
heit des anderen anfängt und wo der Staat die Aufgabe (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
hat – das ist eine seiner vornehmsten Aufgaben, die aller- NIS 90/DIE GRÜNEN)
dings immer mehr aus dem Blickfeld gerät –, für die Si-
cherheit seiner Bürger zu sorgen. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich weise jetzt darauf
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hin, dass Herr Innensenator Wrocklage aus Hamburg
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) noch etwas klarstellen möchte. Er hat noch Redezeit. Das
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10633
Vizepräsidentin Anke Fuchs

(A) heißt, dass wir danach in die Fortsetzung der Aktuellen Otto Schily, Bundesminister des Innern: Frau Präsi- (C)
Stunde eintreten könnten. Aber ich glaube, an diesem dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich will auch
Freitag belassen wir es bei den nächsten beiden Re- keine Rede halten, sondern möchte Ihnen nur eine sach-
debeiträgen. Es ist so, dass nachher je ein Sprecher der liche Information geben; es geht nur um eine sachliche In-
Fraktionen das Wort ergreifen könnte. Ich bitte Sie aber formation.
um Nachsicht, dass wir mit der Rede des Herrn Innen- Ich bin mit den Damen und Herren Kollegen ja völlig
ministers diese Debatte abschließen. einig darin, dass wir eine möglichst bundeseinheitliche
Ich erteile dem Innensenator der Freien und Hansestadt Regelung brauchen. Aber es geht eben um Gefahren für
Hamburg, Herrn Wrocklage, das Wort. die innere Sicherheit und Ordnung. Das ist Polizeirecht,
wofür die Länder zuständig sind.
Hartmuth Wrocklage, Senator (Hamburg): Frau (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Richtig!)
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deshalb muss man darauf achten, die Zuständigkeiten
Ich mache es ganz kurz. Ich nehme aus dieser Debatte den so rasch wie möglich in Anspruch zu nehmen, die beste-
Konsens darüber mit, dass wir Menschenschutz vor Tier- hen.
schutz stellen und dass wir einhellig der Auffassung sind:
weg mit den Kampfhunden! (Beifall bei der SPD und der F.D.P.)
Alles andere würde eine Verfassungsänderung vorausset-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
zen. Das ist das Erste, was ich sagen wollte.
F.D.P.)
Das Zweite geht an den Kollegen aus meiner Fraktion,
Ich nehme mit, dass es die Bereitschaft gibt, auch schwie-
der zuletzt geredet hat. Die Länderinnenminister haben
rige Entscheidungen – ich habe sie in meiner Rede vorhin
sich darauf geeinigt, dass nur noch eine Haltemöglichkeit
angedeutet – mitzutragen. mit Erlaubnisvorbehalt besteht. In Bayern – dieses Bei-
Ich möchte nicht auf die Polemik des Kollegen Uhl ein- spiel führe ich an, weil wir des Öfteren über Bayern gere-
gehen. det haben – ist danach de facto nicht eine einzige Erlaub-
nis mehr erteilt worden. Insofern ist das Halteverbot
(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ durchgesetzt worden.
CSU]: Das ist doch Käse, Mensch! Machen Sie
doch so etwas nicht! So etwas macht man doch Ich meine, es ist sinnvoll, dass das zur sachlichen In-
nicht als Letzter!) formation am Schluss der Debatte hier noch gesagt wor-
(B) Ich möchte nur darauf hinweisen, dass es in den Ländern den ist. Vielen Dank. (D)
unterschiedliche Rechtslagen gegeben hat. In Baden- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/
Württemberg herrscht aufgrund der dortigen Rechtspre- DIE GRÜNEN und der F.D.P.)
chung eine ähnliche Situation vor wie bei uns. Das Land
Hamburg hat deswegen zusammen mit den Innenminis- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Der Kollege Uhl hatte
terkollegen die Innenministerbeschlusslage vom Mai her- noch um zwei Minuten Redezeit gebeten. Diese Redezeit
gestellt, bekommt er jetzt auch und dann ist die Aktuelle Stunde
beendet.
(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Nach sieben
Jahren Untätigkeit!) Herr Kollege Uhl, bitte.
um damit die vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen und
die Hundeverordnung zu erlassen, die ich hier vorhin vor- Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
gestellt habe. Das möchte ich klarstellen, damit jeder von Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In ganz großer Ruhe
den richtigen Voraussetzungen ausgeht, Herr Uhl. und Sachlichkeit, Herr Innensenator Wrocklage, Folgen-
des: Ich habe Sie nicht bezüglich Ihrer Tätigkeit im Jahre
Vielen Dank. 2000 gescholten, sondern ich habe Sie nur daran erinnert,
(Beifall des Abg. Rolf Stöckel [SPD]) dass das Verwaltungsgericht Hamburg im Jahre 1992 Ihre
Hundeverordnung aufgehoben hat, und habe Sie gefragt,
was Sie danach, also zwischen 1993 und 1999, sieben
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Zur Sachlage möchte Jahre lang, in Hamburg gemacht haben. Da fehlte der
ich Folgendes erläutern: Wenn der Herr Bundesinnenmi- wirkliche politische Gestaltungswille.
nister gesprochen hat, dann ist die Aktuelle Stunde ei-
gentlich beendet. Auf Verlangen einer Fraktion kann al- Ergänzend habe ich erwähnt, dass wir – das heißt, ich
lerdings erneut je ein Sprecher der Fraktionen das Wort in meiner Zuständigkeit als Kreisverwaltungsreferent in
erhalten. Ich denke, das wollen wir alle nicht. Wenn Sie München – in diesen sieben Jahren keine einzige Kampf-
einverstanden sind, dann lasse ich jetzt den Herrn Bun- hundehaltung erlaubt haben. In ganz München gibt es nur
noch drei Kampfhunde. Das sind Altbestände. Wir woll-
desinnenminister und anschließend für zwei Minuten
ten diese Tiere nicht töten lassen, sondern haben sie mit
noch einen Vertreter der CDU/CSU sprechen.
Maulkorb- und Leinenzwang unter Kontrolle. – Das ist
Herr Minister, Sie haben das Wort. unsere Tätigkeit seit 1992.
10634 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Dr. Hans-Peter Uhl

(A) Ich werfe Hamburg also vor – das gilt auch für andere klar, dass es da im Laufe der Zeit bestimmte Korrekturen (C)
Bundesländer, die ähnlich untätig waren –, dass in den sie- geben wird.
ben Jahren bis zum Jahre 2000 dort nichts Konkretes pas- Die Bundesregierung half mit dem Sofortprogramm.
siert ist. Wenn man vor dem Verwaltungsgericht nicht Man muss sehen, was konkret vor Ort passiert ist. Dazu
durchkommt, dann unternimmt man eben einen zweiten haben die CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten aus den
Anlauf, das heißt, man geht entweder zum Oberverwal- östlichen Bundesländern am 14. dieses Monats in Dres-
tungsgericht oder man kommt mit einer neuen Rechtsvor- den mit Kammern, Verbänden, Gewerkschaften, Berufs-
lage. Beides ist nicht geschehen. Das ist mein ganzer Vor- schulen, Arbeitsämtern und anderen staatlichen Stellen
wurf. eine Anhörung durchgeführt. Nahezu einstimmig wurde
(Beifall bei der CDU/CSU) formuliert, dass die Einmündung von Teilnehmern am
JUMP-Programm in Lehrstellen und Arbeitsplätze nicht
zufrieden stellend ist, dass keine zusätzlichen betriebli-
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Es geht jetzt nicht chen Ausbildungsplätze entstanden, dass kaum Dauer-
nach dem Motto „Wat dem einen sin Uhl, is dem annern effekte festzustellen sind und dass der Start innerhalb des
sin Nachtigall“, Ausbildungsjahres zu einer erheblichen Störung des lau-
fenden Betriebs führte. Nicht übersehen möchte ich je-
(Heiterkeit)
doch den positiven Effekt. Jugendliche erhielten eine
sondern wir beenden hiermit die Aktuelle Stunde. erste Startchance für ihr berufliches Leben. Hiervon pro-
fitierten diejenigen, die sich in der von uns in den letzten
Ich rufe Punkt 20 der Tagesordnung auf: Jahren besonders beklagten Bugwelle befanden.
Beratung des Antrages der Abgeordneten Dr.-Ing. In den neuen Bundesländern liegen besondere Bedin-
Rainer Jork, Katherina Reiche, Günter Nooke, gungen vor. Besondere Bedingungen erfordern besondere
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Methoden. Alle wissen, dass es dabei vor allem um die
CDU/CSU Fähigkeit und die Möglichkeit der Wirtschaft geht. Spe-
zielle, auch befristete Methoden für die Jugendlichen in
Lehrstellenmangel Ost mit wirksamen Rege- den neuen Bundesländern sind unverzichtbar.
lungen angehen
Ein Hauptpunkt in der Anhörung war natürlich die
– Drucksache 14/3185 –
Frage: Was hemmt die Bereitstellung von Lehrstellen in
Überweisungsvorschlag: den neuen Bundesländern? Ich konzentriere mich jetzt auf
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f) die betriebliche Ebene. Als Antworten kamen: schlechte
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Auftragslage und fehlende Planungssicherheit, ein zum
(B) Teil schlechtes Abgangsniveau der Schüler von allgemein (D)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen bildenden Schulen, die Defizite im sprachlichen, prakti-
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- schen und naturwissenschaftlichen Bereich aufwiesen,
zung fehlende materielle und personelle Voraussetzungen in
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die den Unternehmen, das Fehlen einer grundlegenden Steu-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei- erreform bzw. die starke Belastung der kleineren und mitt-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. leren Unternehmen durch die so genannte Ökosteuer.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Kollegen Dr. Rainer Jork für die CDU/CSU-Fraktion. neten der F.D.P.)
Es wurden auch die Kosten für die Ausbildung und die an
die Auszubildenden zu zahlende Vergütung genannt; das
Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
steht für mich im Zusammenhang mit meinem ersten
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer die innere Ein-
Punkt. Es ist nämlich absurd, wenn die Hälfte der staat-
heit Deutschlands will, wer dazu beitragen will, dass aus
lichen Gelder – es sind meist circa 3 000 DM, die die Be-
„hüben und drüben“ ein „wir“ wird, der muss dafür Sorge
triebe als Lehrstellenförderung bekommen – wieder als
tragen, dass die Chancen der Menschen, vor allem der
Steuern zurückgezahlt werden müssen. Das ist übrigens
Jugendlichen, in Nord und Süd, in Ost und West ver-
ein Problem, um dessen Lösung wir uns schon während
gleichbar sind. Dieser Zustand ist noch nicht erreicht. Im
der Amtszeit der alten Bundesregierung bemüht haben.
Osten Deutschlands ist die Arbeitslosenquote bei Ju-
Das ist uns damals nicht gelungen. Ich sage das ganz of-
gendlichen unter 25 Jahren ziemlich genau doppelt so
fen. Hier bestünde jetzt für Sie die Chance, einmal besser
groß wie die in den westlichen Bundesländern. Im Wort-
zu sein.
schatz der jetzt regierenden früheren Opposition wäre
dies als „Notstand“, als „Katastrophe“ durch den Blätter- Das Bündnis für Arbeit wurde in der Anhörung als
wald gejagt worden. Jetzt wird das von den gleichen Per- eindeutig auf die westlichen Länder gestrickt beschrie-
sonen mit Durchschnittsangaben für die gesamte Bundes- ben. Es funktioniert in den neuen Bundesländern nicht
republik und mit Steigerungsraten verkleistert. oder kaum, weil dort ein Mangel besteht.
Ich sage es noch einmal ganz deutlich: Während das Sehr hilfreich sind bzw. waren Lehrstellenentwickler
Verhältnis der Zahl der Stellen zu der Zahl der Bewerber und Ausbildungsverbünde. Insofern bedaure ich es außer-
in den alten Bundesländern bei 0,86 liegt, lautet die ent- ordentlich, dass im Haushalt 2001 im Einzelplan 30 Strei-
sprechende Zahl in den neuen Bundesländern 0,59. Es ist chungen vorgenommen werden.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10635
Dr.-Ing. Rainer Jork

(A) In unserem Antrag, der Ihnen vorliegt, fordern wir im Erstens. Das Problem des Lehrstellenmangels Ost ist (C)
Interesse der neuen Bundesländer, das Sofortprogramm nur lösbar, wenn die spezifischen Bedingungen beachtet
den im Osten herrschenden spezifischen Verhältnissen an- werden. Mit Gleichverteilung kann man nichts ausrich-
zupassen, falsche finanzielle Anreize zu beseitigen, vor ten.
allem finanzschwache kleinere und mittlere Unternehmen Zweitens. Eine Lösung ist dann möglich, wenn Zu-
zu fördern, an geeigneter Stelle Lohnkostenzuschüsse zu ständigkeits- und Ressortbarrieren überwunden werden.
geben, die Mobilität lehrstellensuchender Jugendlicher zu Ich erinnere mich an unsere Diskussionen im Ausschuss –
fördern, die Lehrlingswohnheime zu unterstützen und und freue mich daher, Herr Minister Schwanitz, dass Sie
eine mittelstandsfreundliche Finanz-, Wirtschafts- und bei dieser Debatte anwesend sind –, die deutlich gemacht
Steuerpolitik zu starten. Wohlbemerkt müssen hierbei re- haben, dass dieser ressortübergreifende Ansatz realisiert
gionale und lokale Spezifika beachtet werden. Das liegt in werden sollte.
der Natur der Sache dieses Problems und kann im Antrag
nachgelesen werden. Drittens. Das duale System muss modernisiert werden.
Es geht um neue Berufe und Ausbildungszeiten, um Mo-
Lassen Sie mich noch einige weitere Ergebnisse der dularisierung und Finanzierungsfragen.
Anhörung anführen: Im Vordergrund stand und steht noch
heute die Frage, welche Maßnahmen die Ausbildungs- Viertens. Ein wichtiger Grund für das Fehlen von be-
fähigkeit und -bereitschaft der kleineren und mittleren trieblichen Ausbildungsplätzen war für alle Angesproche-
Betriebe erhöhen können. Unmittelbar würden steuerli- nen die aktuelle wirtschaftliche Lage in den neuen Bun-
che Vergünstigungen und Anreize wirken, sodann müss- desländern. Staatliche Hilfen sollten daher direkt in die
ten Verbundausbildung und überbetriebliche Lehr- Förderung kleiner und mittlerer Betriebe fließen. Büro-
unterweisung gefördert werden; aber auch die schnelle kratische Hürden sollten abgebaut werden.
Verabschiedung neuer Berufsfelder und die direkte För- Fünftens. Das Sofortprogramm JUMP war zu wenig
derung von kleineren und mittleren Betrieben durch eine effektiv. Dass es auch gute Seiten hatte, haben wir wie-
Anschubfinanzierung wäre sinnvoll. Wir wurden darauf derholt gesagt. In Zukunft muss für eine bessere Koordi-
hingewiesen, dass es in Österreich ein Modell gibt, das nierung von Bundes- und Länderprogrammen und für
eine direkte Steuerentlastung der ausbildenden Betriebe mehr Kontinuität gesorgt werden.
vorsieht.
Sechstens. Durchgehende Einigkeit herrschte in der
Wiederholt wurde die Forderung formuliert, die Ver- Ablehnung der Lehrstellenumlage und von Einstellungs-
antwortung der Berufsschulen zu verdeutlichen und zu verpflichtungen nach Abschluss der Lehre.
erhöhen. Dazu gehört auch, dass die theoretischen Leis-
Siebtens. Deutlich war die Zustimmung zu einer Be-
tungen in der Schule beim Facharbeiterabschluss ausrei-
rufsausbildung mit Abitur.
(B) chend berücksichtigt werden. Ich entsinne mich: Auf mei- (D)
nem Facharbeiterbrief waren die theoretische und die Achtens. Es wurde eine stärkere Ausrichtung der all-
praktische Ausbildung gleichwertig enthalten. Ich halte gemein bildenden Schulen auf soziale, praktische und na-
diese Regelung für richtig und angemessen. Ich empfehle turwissenschaftliche Bildung gefordert, um so die Ju-
sehr, grundsätzliche Änderungen herbeizuführen, die die gendlichen besser auf die Anforderungen einer Berufs-
Akzeptanz und die Wertigkeit der Berufsschulen erhöhen. ausbildung vorzubereiten.
Nicht fortführen sollte man Maßnahmen wie die Qua- Zum Weltingenieurtag am 19. Juni – zeitgleich mit der
lifizierungs-ABM, die auf einen künstlichen zweiten Ar- EXPO – hörte ich folgenden Satz: Verantwortung zu über-
beitsmarkt orientieren. Es wurde immer wieder deutlich nehmen gehört zur Würde des Menschen. – Das gilt be-
das Ideal beschrieben, dass als Erstes Plätze in der dualen sonders für junge Leute, die ihre Chancen sehen und
Ausbildung – also mit einem betrieblichen Teil – ermög- wahrnehmen wollen und die für sich selbst Verantwortung
licht werden. Sodann sollte als Zweites, sozusagen als übernehmen wollen und müssen. Geben wir den Jugend-
Kompromiss, eine betriebsnahe Ausbildung organisiert lichen in den neuen Bundesländern eine seriöse Chance
werden. Drittens sollten notfalls staatliche Maßnahmen für ein würdevolles Dasein! Dies ist für mich ein wesent-
erfolgen. Ich glaube, auch in diesem Punkt sind wir uns liches Kriterium für die Beantwortung der Frage, ob die
einig. Wir haben über diese Frage im Ausschuss wieder- innere Einheit Deutschlands erreicht oder erreichbar ist.
holt diskutiert. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Nachdrücklich wurde gefordert, die Lehrerfortbil- Gehen Sie den Lehrstellenmangel in den neuen Bundes-
dung zu fördern und zu fordern. Ich sage bewusst: for- ländern mit wirksamen, ressortübergreifenden Maßnah-
dern. Wir haben uns die Frage gestellt, ob man notfalls ei- men an!
nen gewissen Zwang ausüben sollte, damit Lehrer aktuell
ausgebildet und entsprechend befähigt sind. Diese Über- Zum Schluss möchte ich noch bemerken, dass ich
legung ist in dem Kreis bestätigt worden. Es geht darum, Herrn Schwanitz und der Frau Ministerin das Versprechen
dass die Lehrer – gleichermaßen wie die Jugendlichen – gegeben habe, ihnen die Auswertung der Anhörung zu
auf die Realität vorbereitet werden. Ein weiterer wichti- überreichen. Ich gehe davon aus, dass wir mit einem ge-
meinsamen Vorgehen die Situation auf diesem Gebiet ver-
ger Forderungspunkt war, die Ausbildungsdauer zu flexi-
bessern können. Ich erlaube mir, Ihnen jetzt diese Aus-
bilisieren.
wertung zu geben.
Mit Bezug auf unseren Antrag und die Anhörung
Danke.
möchte ich eine kurze Zusammenfassung – was ist dabei
herausgekommen? – in acht Punkten formulieren: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
10636 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

(A) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Wir haben gespannt schließlich auch den Mund, obgleich mir das manchmal (C)
beobachtet, wie der Bericht übergeben wurde. schwer fällt.
(Heiterkeit) Das waren gut 24 800 mehr als im Vorjahr. Die Statis-
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Ingrid Holzhüter, tiker betonen, das Ende 1998 verabschiedete Sofortpro-
SPD-Fraktion. gramm der Bundesregierung JUMP hätte zu dieser Stei-
gerung beigetragen. In den neuen Ländern kletterte die
Zahl der Ausbildungsverträge um 5 900 und im früheren
Ingrid Holzhüter (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol- Bundesgebiet, also in den alten Ländern einschließlich
leginnen und Kollegen! Die rot-grüne Koalition fand be- Berlin, um 18 800. Das sind in der Regel 4 Prozent mehr.
kanntlich zu Beginn ihrer Arbeit eine dramatische Situa-
tion auf dem Stellenmarkt vor. Diejenigen, die das mit zu Seit dem Start von JUMP vor eineinhalb Jahren konnte
verantworten haben, mäkeln jetzt an JUMP herum. Ha- über 200 000 jungen Menschen eine berufliche und damit
ben Sie denn eigentlich jemals in einer Bildungseinrich- auch eine Lebensperspektive gegeben werden, hier insbe-
tung mit den betroffenen Jugendlichen gesprochen? Ha- sondere auch durch berufsvorbereitende Maßnahmen. Im
ben Sie ihre persönlichen Hintergründe, die Mut- und Mai 2000 hat die Bundesanstalt für Arbeit zusätzlich
Hoffnungslosigkeit gespürt, ihr Bedürfnis nach Anerken- 116 Millionen DM für JUMP bereitgestellt, die im We-
nung und ihren berechtigten Wunsch, ernst genommen zu sentlichen den neuen Ländern zugute kommen. Wir alle
werden? wissen, dass noch ein Unterschied bei den Ausbildungs-
plätzen besteht. Es ist gut, dass JUMP im Jahre 2001 fort-
Es ist wirklich eine Schande, wenn der kleine Rest gesetzt wird und dass die Bundesregierung das Sofort-
Hoffnung, den diese Menschen noch haben, durch partei- programm Lehrstellen Ost aufgelegt hat, um in den
politische Spielchen beschädigt wird und ihre Unsicher- neuen Ländern rund 17 000 zusätzliche Lehrstellen mit-
heit wächst. zufinanzieren.
(Zuruf von der SPD: Recht hat sie! – Cornelia
Die kräftige konjunkturelle Entwicklung und steigende
Pieper [F.D.P.]: Das hat keiner gemacht!)
Beitragseinnahmen bei zurückgehender gesamtdeutscher
Diese jungen Menschen haben unsere Fürsorge und Sym- Arbeitslosigkeit versetzen die Bundesanstalt für Arbeit in
pathie verdient. Jeder Wunsch für sie lohnt. die Lage, erstmals seit der deutschen Einheit eine aktive
Arbeitsmarktpolitik in dem bisherigen Umfang von
Wer von Ihnen hat denn Kinder? Wer kennt ihre Zu-
42,4 Milliarden DM, davon 2 Milliarden DM allein für
versicht und ihr Suchen auf dem Weg? Sie allesamt sind
JUMP, aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Für das So-
(B) zu schade, um abgeschrieben und vergessen zu sein. fortprogramm Lehrstellen Ost werden 224 Millionen DM (D)
Wer kämpfen will, meine Damen und Herren, kann aus dem Bundeshaushalt noch dazugetan.
verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Wir wer-
den kämpfen! Schade, dass wir es nicht gemeinsam tun. Angesichts der unübersehbar klaren Erfolge dieser Po-
litik ist die Kritik am Sofortprogramm, wie sie hier zum
(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Das hat er Ausdruck gebracht wurde, unverständlich. Wo ist sie
angeboten!) denn, die christdemokratische und christlich-soziale Al-
Sie hatten Ihre Zeit und haben sie nicht gut genug ge- ternative dazu? Wo war sie denn in der vergangenen Ära
nutzt. Wir werden es besser machen, auch wenn Sie in der Blüm/Kohl? Wie viel Bimbes hatten Sie denn seinerzeit
ersten Reihe schreien. für Ihre sieben „wirksamen Regeln“ übrig, darunter die
großzügige Förderung von mannigfaltigen Pendlerbei-
(Beifall der SPD – Birgit Schnieber-Jastram hilfen und Lehrlingswohnheimen, die nun von uns ge-
[CDU/CSU]: Frau Holzhüter, das glauben Sie fordert wird? Auch der Vorwurf, das JUMP-Programm sei
doch selbst nicht!) eine kontraproduktive Konkurrenz zu Programmen der
Wie das Statistische Bundesamt am 3. April mitteilte, Länder und würde die Klassen der Oberstufenzentren
haben im Jahre 1999 636 600 Jugendliche einen Ausbil- halbieren, ist nicht nachvollziehbar und nicht realistisch.
dungsvertrag abgeschlossen. Im Übrigen gibt es für JUMP eine wissenschaftliche
Begleitforschung durch das BIBB. Die Ergebnisse sind
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, gestat- bei der Wiedereinführung von JUMP berücksichtigt wor-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Jork? den und werden auch ständig auf ihre Wirksamkeit über-
prüft.
Ingrid Holzhüter (SPD): Sowie ich Luft habe. Im Mo-
ment aber nicht. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, gestat-
ten Sie nun eine Frage des Kollegen Dr. Jork?
(Heiterkeit – Zuruf der Abg. Cornelia Pieper
[F.D.P.])
Ingrid Holzhüter (SPD): Ja, jetzt soll er!
– Frau Kollegin, Ihre spitze Zunge nehmen Sie doch bitte,
um Brot zu schneiden. Lassen Sie mich hier in Ruhe mei-
nen Vortrag zu Ende halten. Wenn Sie reden, halte ich Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Dr. Jork, bitte.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10637

(A) Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Liebe Kollegin den strukturellen Defiziten; das hatten Sie gesagt. Auch (C)
Holzhüter, Sie haben gesagt, wir hätten die Chance nicht daran ist die Vorgängerregierung nicht ganz unschuldig.
genutzt. Ist Ihnen bekannt, dass wir vor vier Jahren eine Wir wollen, dass die neuen Länder endlich am insgesamt
ähnliche Anhörung hatten und dass wir die damalige zu verzeichnenden Aufwärtstrend teilhaben und die ost-
Bundesregierung in vielen Punkten, übrigens auch den deutschen Jugendlichen endlich Hoffnung schöpfen kön-
vorhin genannten, angegangen sind und manches erreicht nen. Das wollen Sie ebenfalls, wie Sie hier gesagt haben.
haben und dass für uns damit in der Anhörung eine Kon-
tinuität besteht? Zum Schluss möchte ich ein Lied von Bettina Wegner
zitieren:
Eine zweite Frage, da Sie gesagt haben, ein Miteinan-
der sei nicht vorstellbar: Könnten Sie sich nicht vielleicht Grade, starke Menschen wär‘n ein schönes Ziel,
doch vorstellen, dass wir miteinander vorangehen und Leute ohne Rückgrat hab‘n wir schon zu viel.
dass möglicherweise die Geste am Schluss, das Ergebnis Ich will nicht, dass dieses Rückgrat verbogen wird, in-
der Anhörung Ihren Ministern zu übergeben, genau da- dem den jungen Menschen ständig eingeredet wird, dass
durch geprägt ist, dass wir uns dieses Miteinander im sie uns egal, ja überflüssig sind. Wir haben in dieser Rich-
Sinne der jungen Leute wünschen? tung einiges unternommen. Ich werde verdammt sauer,
wenn dies alles hier zerredet wird, weil die Opposition
Ingrid Holzhüter (SPD): Dann haben Sie aber eine sich profilieren will. Wir sind auf einem guten Weg und
komische Art, das auszudrücken. Bei mir ist das jedenfalls diesen werden wir weitergehen.
nicht so angekommen. Bei mir ist die Konfrontation und Vielen Dank.
leider nicht die Gemeinsamkeit angekommen. Ich will
gerne annehmen, dass Sie nicht unisono vorhaben, gegen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
uns zu sein. Aber das Miteinander müsste sich schon deut- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
licher ausdrücken. PDS)

Ich will an dieser Stelle sagen: Natürlich tun auch wir


alles, um unsere Arbeit zu verbessern. So sind zum Bei- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun hat das Wort die
spiel bei der Zinseinsparung im Zusammenhang mit Mo- Kollegin Cornelia Pieper, F.D.P.-Fraktion.
bilfunklizenzen die Schwerpunkte bei der Verwendung
der Gelder auf Bildung, Ausbildung und Forschung gelegt Cornelia Pieper (F.D.P.): Verehrte Frau Präsidentin!
worden. Es wäre ganz schön, wenn Sie auch das bemer- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute Vor-
ken würden und ich Sie nicht in ähnlicher Weise in einer mittag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion
(B) Zwischenfrage darauf hinweisen müsste. aus Anlass ihres zehnten Jubiläums debattiert. Dem kann (D)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) sich die Debatte über die Situation auf dem ostdeutschen
Arbeits- und Lehrstellenmarkt nach zehn Jahren deut-
Die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt wird mit scher Einheit nahtlos anschließen.
Lohnkostenzuschüssen oder Prämien gefördert. Etliche
Kritiker stellen die Behauptung auf, dass zu viele Jugend- Insgesamt ist festzustellen, Frau Kollegin Holzhüter:
liche gefördert würden, die überhaupt keine Förderung Die beste Sozialpolitik für einen jungen Menschen ist,
bräuchten. Richtig ist: 77 Prozent der Teilnehmerinnen ihm einen Ausbildungsplatz bereitzustellen. Das ist über-
und Teilnehmer waren vor Eintritt in das Sofortprogramm haupt nicht strittig.
arbeitslos, davon über 30 Prozent mehr als einmal. Schul- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie
abgänger, die keinen Ausbildungsplatz finden, sind der Abg. Sabine Kaspereit [SPD] – Ilse Janz
bei den Arbeitsämtern in der Regel als ausbildungsplatz- [SPD]: Warum haben Sie in Ihrer Regierungs-
suchend und nicht als arbeitslos registriert. Mit dem Pro- zeit nicht danach gehandelt?)
gramm werden demzufolge vor allem die Jugendlichen
erreicht, deren Integration in den Arbeitsmarkt erschwert Das gilt ganz besonders für den sozial instabilen Osten.
ist und die besonderer Hilfe bedürfen. Seit Programm- Ich verstehe nicht, warum Sie, wenn Ihnen der Kollege
beginn wurden ungefähr 13 000 zusätzliche betriebliche Jork namens der Unionsfraktion in dieser Frage die Zu-
Ausbildungsplätze geschaffen. Auch das ist also ein Aus- sammenarbeit anbietet – auch ich würde das gerne na-
fluss aus diesem arbeitsmarktpolitischen Miteinander. mens der Fraktion der F.D.P. tun; denn uns ist die Zukunft
junger Menschen besonders wichtig –, das nicht einfach
Statt, wie ursprünglich vorgesehen, für 2002, werden annehmen.
die vereinbarten 40 000 neuen Ausbildungsplätze bereits
in diesem Jahr geschaffen. Darüber hinaus verpflichtet (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU –
sich die Wirtschaft im Rahmen der angestrebten Markt- Ingrid Holzhüter [SPD]: Vielleicht ist es Erfah-
öffnung für ausländische IT-Spitzenkräfte, bis zum Jahr rung!)
2003 mindestens 20 000 weitere Ausbildungsplätze im Trotz allem möchte ich noch einmal auf die Fakten
IT-Bereich bereitzustellen. Die Wirtschaftsinstitute be-
zurückkommen. Zu den Tatsachen nach zehn Jahren Wirt-
stätigen die Richtigkeit und Effizienz der Arbeitsmarkt-
schaftsbilanz gehört auch, dass das Wachstum des Ostens
politik des Bundes.
hartnäckig hinter dem der alten Länder hinterherhinkt.
Dass der positive Trend auf dem Arbeitsmarkt in den Frühestens 2002, so optimistische Prognosen, wird die
neuen Ländern erst mit Verspätung einsetzt, liegt auch an Konjunktur Ostdeutschlands zum Westen aufschließen.
10638 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Cornelia Pieper

(A) Ökonomisch kann der Osten bereits seit drei Jahren nicht terin, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche. Es ist (C)
mehr mit den alten Ländern Schritt halten. Das gilt insbe- also ebenso Aufgabe des Wirtschaftsministers, sich mit
sondere für die Ausbildungsplatzsituation. diesem Thema auseinander zu setzen.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie an die Fak- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
ten aus dem zuletzt vorgelegten Berufsbildungsbericht
Ihre Ökosteuer – das kann ich nicht oft genug wieder-
erinnern. Denn der Zuwachs von 18 500 Ausbildungsver-
holen – treibt die Handwerksmeister in den Ruin.
trägen, der in diesem Bericht ausgewiesen wurde, kann
nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zahl der von den (Lachen bei der SPD – Stephan Hilsberg [SPD]:
Betrieben abgeschlossenen Ausbildungsverträge in den Ihnen wächst ein Bart! – Jörg Tauss [SPD]:
alten Ländern um 0,5 Prozent und in den neuen Ländern Tibet!)
um 5 bis 10 Prozent zurückgegangen ist. Ich möchte zu-
Ich finde es absurd, dass ausgerechnet die kleinen und
dem in Erinnerung rufen, dass 70 Prozent der betrieblich
mittelständischen Unternehmen nicht in die derzeit de-
abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Osten öffent-
battierte Unternehmensteuerreform mit einbezogen wer-
lich subventioniert sind. Das sind alarmierende Zahlen,
den, dass Sie die großen Konzerne bzw. die Kapitalge-
die wir nicht einfach nur so zur Kenntnis nehmen können.
sellschaften bevorteilen wollen und die kleinen Unter-
Ich glaube, da muss man handeln.
nehmen im Hinblick auf eine Steuerentlastung außen vor
(Jörg Tauss [SPD]: Deswegen tun wir es ja!) lassen. Das ist meiner Meinung nach ein Skandal.
Fakt ist auch, dass nach Informationen der Bundesan- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU –
stalt für Arbeit vom Mai dieses Jahres insgesamt 29 700 Ingrid Holzhüter [SPD]: Dann wird immer be-
junge Menschen im Rahmen des JUMP-Programms klagt, dass die Großen zu wenig ausbilden!)
eine Ausbildungsplatzmaßnahme erhalten haben. Das ist
Als Letztes möchte ich Ihnen noch sagen, dass die
angesichts von Investitionen in Höhe von 2 Milliarden
F.D.P.-Fraktion aufgrund der steigenden Zahlen der Aus-
DM einfach zu wenig.
bildungsabbrecher und des bevorstehenden Fachkräfte-
(Zuruf von der CDU/CSU: Entschieden zu mangels auf eine Reform der beruflichen Bildung
wenig!) drängt. Die Frage ist doch: Stolpert der Osten zukünftig in
eine demographische Falle? Ich möchte an dieser Stelle
Angesichts dessen muss man nach der dauerhaften Effizi-
mit Genehmigung der Präsidentin den Jenaer Soziologen
enz dieses Programms fragen.
Behr zitieren, der sagte, die Konsequenzen aus dem de-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Jörg mographischen Wandel könne sich in Westdeutschland
Tauss [SPD]: Lesen Sie doch einmal das Pro- wahrscheinlich kaum jemand vorstellen. Der Fachkräfte-
(B) gramm, damit Sie wissen, wovon Sie reden! mangel werde in wenigen Jahren aufgrund der Radikalität (D)
Nicht zu fassen!) des Umbruchs eine besonders dramatische und sehr spe-
zifische ostdeutsche Ausprägung gewinnen.
Deshalb können wir die einseitige Betrachtung der rot-
grünen Bundesregierung in Bezug auf die Ausbildungs- Das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle hat bei
platzsituation nicht akzeptieren. Lieber Kollege Tauss, einer Befragung in ostdeutschen Unternehmen festge-
diese einseitige Betrachtung führt nämlich bei Ihnen an- stellt, dass schon jetzt 30 Prozent dieser Unternehmen in
gesichts der Schieflage bei der betrieblichen Ausbildung spezialisierten Bereichen unbesetzte Arbeitsplätze haben.
zu Schönfärberei. Ich glaube, hier müssen wir handeln. Wir wollen, dass
eher praktisch orientierte junge Menschen bereits nach
(Jörg Tauss [SPD]: Das treibt meinen Adrena-
zwei Jahren einen Berufsabschluss haben können, der von
linspiegel hoch! Das ist alles, was dahinter
der Wirtschaft akzeptiert wird, und dass auf diesem Ba-
steckt!)
sisberuf zukünftig mit Qualifizierungsbausteinen aufge-
Deshalb bleiben wir dabei: Die beste Ausbildungs- baut werden kann. Gerade bei innovativen Berufsbildern,
platzpolitik ist eine offensive Mittelstandspolitik. Der etwa den IT-Berufen, kommt es auf eine flexible Ausbil-
Mittelstand schafft zwei Drittel aller Ausbildungsplätze in dung an, die die Menschen auf lebenslanges Lernen ori-
Deutschland. Welche Bedingungen finden die Kleinst- entiert.
und Kleinunternehmen in Ostdeutschland, die zumeist
nur fünf bis zehn Beschäftigte und eine schwindende Ei-
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, Sie
genkapitaldecke haben, denn vor? Seit Rot-Grün regiert,
müssen bitte zum Schluss kommen.
explodieren die Kosten.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Cornelia Pieper (F.D.P.): Ich komme zum Schluss,
Die Auftragslage für mittelständische Unternehmen, ist Frau Präsidentin.
aufgrund der zu geringen Investitionsquote in öffentli-
Es kommt darauf an, dass moderne Berufsbilder wei-
chen Haushalten rückläufig.
terentwickelt werden. Auch hier sehen wir in dem Antrag
(Ingrid Holzhüter [SPD]: Bei Ihnen ist von Jahr der Union einen konstruktiven Ansatz. Wir unterstützen
zu Jahr die Zahl der Insolvenzen gestiegen!) diesen Antrag.
Deswegen ist die Verbesserung der Ausbildungsplatzsi- Namens meiner Fraktion sage ich abschließend, dass
tuation nicht alleinige Aufgabe der Bundesbildungsminis- wir im Osten eine gemeinsame Initiative für mehr be-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10639
Cornelia Pieper

(A) triebliche Ausbildungsplätze brauchen. Das erfordert eine Betriebe fordern, dann bedeutet das eine indirekte Um- (C)
Mittelstandsoffensive. Hier hat die Bundesregierung bis- lage. Das kann man natürlich auch so herum machen; aber
her allerdings mit ihrer mittelstandsfeindlichen und damit es bleibt dasselbe.
ausbildungsplatzfeindlichen Politik auf ganzer Linie ver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
sagt.
Lassen Sie mich nun auf das zu sprechen kommen, was
Vielen Dank. wir machen. Wir haben einen Konsens darüber – an die-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – ser Stelle komme ich auf Ihr Kooperationsangebot
Jörg Tauss [SPD]: Oje, oje!) zurück –, dass die regionalen Aktivitäten eindeutig ver-
stärkt werden müssen. Auch sind wir alle – vielleicht mit
Ausnahme der PDS; das werden wir gleich noch hören –
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat jetzt die der Auffassung, dass es notwendig ist, aus diesen staat-
Kollegin Antje Hermenau. lichen Zwischenprogrammen auszusteigen und wieder
(Ingrid Holzhüter [SPD]: Wo kamen denn die mehr und mehr in die Ausbildung durch Wirtschaftsbe-
Insolvenzen in den letzten Jahren her, wenn triebe einzusteigen.
eure Mittelstandspolitik so gut war? Da lachen (Beifall bei der SPD)
ja die Hühner! – Heinz Wiese [Ehingen]
[CDU/CSU]: Das begann erst unter eurer Re- Ich will hier nicht noch einmal alle Zahlen vortragen.
gierung!) Interessant ist aber, dass in Ländern wie Bremen und dem
Saarland die Ausbildungsquote ebenso wie in Thüringen
und Sachsen explosionsartig hoch gegangen ist – die Stei-
Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gerung betrug zwischen 6 und 7 Prozent –, während an-
Vielleicht könnten Sie Ihre Gespräche nachher draußen dere Länder wie Bayern oder Brandenburg rückläufige
fortsetzen. – Danke schön. Zahlen aufweisen. Bayern war heute ja schon als Vorbild
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigent- in Sachen Kampfhunde erwähnt worden; bei den Lehr-
lich ist der Antrag, der heute von der CDU/CSU-Fraktion stellen hat es diesmal nicht geklappt.
vorgelegt wurde, in fast allen Punkten erledigt. Darauf Wir sind also alle der Meinung, dass es notwendig ist,
komme ich gleich noch zurück. Lassen Sie mich zunächst aus diesen Programmen langsam auszusteigen. Auf der
aber auf den Punkt eingehen, der hier bisher eine so große anderen Seite ist jedoch die spezifische Situation des
Rolle gespielt hat: Offensichtlich ist der Kern der Debatte, Ostens zu berücksichtigen. Wenn über beides hier im
die wir hier führen, die Frage, wer wie lange in welchem Raum Konsens besteht, dann ist es logisch, dass unser
(B) Graben sitzt. Wir können uns gern gegenseitig vorhalten, Vorgehen genau richtig ist. (D)
was uns allen in den letzten sechs Jahren nicht eingefallen
(Beifall bei der SPD)
ist. Aber eines ist sicher: Die Anzahl der Betriebe in Ost-
deutschland entscheidet darüber, wie viele Leute einen Wir haben einen Politikmix erarbeitet, in dem ver-
Arbeitsplatz bzw. eine Lehrstelle finden. Ende der Durch- schiedene Maßnahmen zielgerichtet dafür sorgen sollen,
sage! der spezifischen Situation im Osten, soweit es geht, Herr
zu werden. Sie wissen, wir werden noch ungefähr fünf
(Jörg Tauss [SPD]: So einfach ist das!) Jahre lang diese Verzerrung haben. Wir haben im Bünd-
– Ja, so einfach ist das. nis für Arbeit nicht nur den Ausbildungskonsens, son-
dern auch die Ausbildungskonferenzen beschlossen, die
Wenn man das weiß, dann muss man – dazu fehlt Ih- zum Teil schon sehr aktiv sind. Wir haben Nachvermitt-
nen aber die passende Ideologie – verlangen, dass der lungsaktionen durchgeführt, die von September bis April
Staat einspringt und das ergänzt, was die Wirtschaft allein eine große Entschärfung auf dem Ausbildungsstellen-
noch nicht schafft. Wir können uns diese Forderung leis- markt gebracht haben. Das wissen alle, die sich damit be-
ten, weil wir ideologisch in der linken Ecke verortet sind. schäftigt haben. Es gibt auch wieder ein Sonderprogramm
Wir dürfen dann auch einmal ein staatliches Programm für Lehrstellen im Osten und eine Reihe von regionalen
machen; das geht dann in Ordnung. Initiativen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auf eine Initiative möchte ich noch zu sprechen kom-
und bei der SPD) men. Bitte lachen Sie nicht, diese Initiative von den Be-
Deshalb hatten wir auch immer einen Vorschlag anzubie- rufsbildungsfunktionären des DGB im Osten heißt
ten, was Ihnen verwehrt war, „Trabi plus“. Nun kann man ja sagen, Gewerkschaften
seien unbeweglich. Ich muss auch sagen: Ich habe viele
(Widerspruch des Abg. Dr.-Ing. Rainer Jork so kennen gelernt. Aber dieser Vorschlag ist wirklich fle-
[CDU/CSU]) xibel.
und deshalb kommen Sie jetzt wieder mit der Leier der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
letzten sechs Jahre an und meinen, Sie hätten einen neuen und bei der SPD)
Antrag vorgelegt. Das ist eigentlich schade.
Die Überlegung ist, bis zum Wendeknick im Jahr 2005
Beispielsweise haben Sie, Herr Jork, immer gegen die ungefähr 15 000 Arbeitsplätze im Osten zu stabilisieren.
Umlagefinanzierung gekämpft. Aber wenn Sie eine di- Zudem soll eine Chance geboten werden, von der
rekte Steuerentlastung für ausbildende mittelständische Pro-Kopf-Förderung wegzukommen; denn wenn die
10640 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Antje Hermenau

(A) mittelständischen Betriebe, die gefördert werden sollen, Es ist doch schon ein unglaublicher Skandal, dass in (C)
immer in den Startlöchern sitzen und darauf warten, dass der gesamten Bundesrepublik circa 50 Prozent der aus-
sie vom Staat wieder 3 000 bis 8 000 DM pro Jahr be- bildungsgeeigneten Betriebe – darunter sind vor allem die
kommen, wenn sie einen Lehrling aufnehmen, entspricht großen – keine Lehrlinge mehr ausbilden. 50 Prozent,
dies noch lange keiner vernünftigen Ausbildungsförde- Tendenz fallend – wann wollen Sie denn endlich etwas
rung. Um es einmal klar zu sagen: Hier geht es nur um dagegen tun?
Mitnahmeeffekte.
In Ostdeutschland wurden 1999 5 000 betriebliche
Den Vorschlag „Trabi plus“ finde ich deshalb so inte- Lehrstellen weniger bereitgestellt als im Jahr davor. Da-
ressant, weil er zum einen kostengünstiger ist: Statt mit schrumpfte das Angebot unter das von 1991; es
26 000 DM für eine außerbetriebliche Maßnahme auszu- reichte kaum noch für die Hälfte der Bewerber. Aber al-
geben, verbrauchen wir nur noch 9 000 bis 12 000 DM pro les, was der Bundesregierung dazu einfällt, ist das Sofort-
Lehrstelle und darin sind bereits Sachmittelkostenzu- programm einer Schmalspurausbildung, mit dem die Sta-
schüsse enthalten. Außerdem werden nur zusätzliche Aus- tistiken vorübergehend geschönt werden. Von 133 000 zu
bildungsstellen finanziert. Die Feststellung, ob es sich um Beginn dieses Jahres in das Programm integrierten Ju-
eine zusätzliche Ausbildungsstelle handelt oder nicht, er- gendlichen hatten nicht einmal 25 000 die Chance auf ein
folgt anhand eines Querschnitts der letzten drei Jahre. Das reguläres Beschäftigungsverhältnis. Das heißt, nicht ein-
finde ich auch sehr wichtig; denn so kann sich keiner mal jedem Fünften der Geförderten ist wirklich nachhal-
durchmogeln. Zudem stellt dies auch für kleinere Unter- tig geholfen worden. Mehr als vier von fünf waren nach
nehmen, die in der Ausbildung vielleicht noch nicht so er- der Förderung wieder arbeitslos.
fahren sind oder noch nicht die Ausbildungsfähigkeit er- Aber der Propagandaeffekt ist der Regierung schon
langt haben, eine große Hilfestellung dar. Ich glaube also, einmal 2 Milliarden DM pro Jahr wert.
dass dies eine gezielte Mittelstandsförderung im Bereich
(Jörg Tauss [SPD]: Unverschämtheit,
der beruflichen Ausbildung ist.
Herr Kollege!)
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Warum wohl? Weil sie damit von ihren eigentlichen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wahlversprechen in Sachen Ausbildung ablenken kann.
und bei der SPD) Im SPD-Wahlprogramm heißt es nämlich:
Wirtschaft und öffentlicher Dienst müssen in eigener
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Für die PDS-Fraktion Verantwortung für ein ausreichendes Lehrstellenan-
(B) spricht jetzt der Kollege Gerhard Jüttemann. gebot sorgen. Anderenfalls wird auf gesetzlicher (D)
Grundlage ein fairer, bundesweiter Leistungsaus-
gleich zwischen ausbildenden und nicht ausbilden-
Gerhard Jüttemann (PDS): Frau Präsidentin! Meine den Betrieben notwendig.
Damen und Herren! Die Bundesregierung hat im jüngsten
Berufsbildungsbericht eingestanden, dass die Zahl der Wir befinden uns in der Mitte der Legislaturperiode
angebotenen Lehrstellen im Osten erneut drastisch zu- und dass das zitierte „anderenfalls“ eingetreten ist, steht
rückgegangen ist, und zwar um 5 bis 10 Prozent. schwarz auf weiß im Berufsbildungsbericht:
Ein von der Wirtschaft getragenes ausreichendes
(Stephan Hilsberg [SPD]: Das stimmt
Ausbildungsplatzangebot konnte noch nicht erreicht
überhaupt nicht!)
werden. Dies gilt insbesondere für die neuen Länder.
Die Katastrophe des sich seit Jahren verschärfenden Es besteht also dringender Handlungsbedarf; denn dem
Lehrstellenmangels im Osten hat vor allem zwei Ursa- Vorwurf, Ihre Wahlversprechen nicht einzuhalten, werden
chen. Die erste Ursache sind die Liquidierung fast der Sie sich doch nicht auch noch auf diesem Gebiet ausset-
gesamten wirtschaftlichen und wissenschaftlich-techni- zen wollen.
schen Potenziale in den ersten Jahren nach der Verei-
nigung sowie die Beseitigung eines Großteils der Arbeits- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe nur, dass
plätze. Zudem gibt es auch im zehnten Jahr der Einheit Sie die duale Ausbildung nicht ganz aus den Augen ver-
lieren.
kein tragfähiges Konzept eines nachhaltigen wirtschaftli-
chen Aufschwungs der neuen Bundesländer, der dazu (Beifall bei der PDS)
führen würde, dass der Osten vom Tropf des Westens ge-
nommen werden könnte. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun die
Die zweite Ursache ist der in der gesamten Bundesre- Bundesministerin Edelgard Bulmahn.
publik zu beobachtende Trend, dass sich die Betriebe aus
Wettbewerbs- und daher aus Kostengründen von der Be- Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
rufsausbildung verabschieden. Der Staat fördert diesen und Forschung: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Trend, indem er bei Fachleuteengpässen Green Cards aus- Herren und Damen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
stellt und die überfällige Umlagefinanzierung der Ausbil- Ich habe vorhin gedacht: Das ist ja mal eine Debatte, bei
dung verhindert. der wir in vielen Punkten übereinstimmen. Nach Ihrem
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10641
Bundesministerin Edelgard Bulmahn

(A) Beitrag, Herr Jüttemann, stelle ich fest, dass es doch eine nehmen sind. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu den (C)
Reihe von Punkten gibt, bei denen wir in diesem Parla- großen Unternehmen. Wir nutzen die Mittel aus der Öko-
ment im Dissens sind. steuer,
Wenn wir über die Situation der Ausbildung in den (Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]:
neuen Bundesländern debattieren, reden wir über die Le- Zur Sanierung des Haushaltes!)
bens- und Berufschancen von 140 000 jungen Menschen.
Deshalb muss man zur Kenntnis nehmen – das erwarte ich um durch eine Reduzierung der Sozialversicherungs-
von einem Parlamentarier auch, Herr Jüttemann –, was beiträge den personalintensiven Unternehmen zur Seite
gemacht worden ist, welche Initiativen gestartet worden zu stehen.
sind. Wenn man eine solche solide Sachevaluierung nicht (Beifall bei der SPD)
durchführt, wird man weder den Anforderungen an eine
politische Arbeit noch den Erwartungen der Jugendlichen
gerecht. Ich werde in meinem Redebeitrag noch auf die Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Ministerin, ge-
einzelnen Punkte eingehen. statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegen Pieper?
Es geht, liebe Kolleginnen und Kollegen, um die Zu-
kunft der jungen Generation. Auf der politischen Tages- Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
ordnung gehört diese ganz nach oben. Das ist bei dieser und Forschung: Nach diesem Gedanken.
Bundesregierung der Fall.
Last, not least leisten wir – auch das fordern Sie ein –
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ressortübergreifende Zusammenarbeit, die richtig und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) notwendig ist. Dies gilt sowohl für Programme der For-
Das sehen Sie, wenn Sie einen Blick in den Haushalt die- schungspolitik, die in meinem Haus entwickelt worden
ses Jahres werfen. Die Bundesregierung hat sehr bewusst – sind – zum Beispiel das Programm Inno-Regio –, als auch
weil sie will, dass die Zukunftschancen für unsere Ju- für Programme des Bundeswirtschaftsministeriums. Wir
gendlichen besser werden – die Ausgaben für Bildung wollen in den neuen Bundesländern industrielle Kerne
und Forschung um 5,3 Prozent gegenüber dem letzten ausbauen. Sie alle wissen – das bestreitet von Ihnen auch
Haushaltsjahr erhöht. Obwohl andere Ressorts Kürzun- niemand –, dass das Programm Inno-Regio hervorragend
gen hinnehmen mussten, haben wir einen klaren Schwer- läuft und genau diese Funktion erfüllt.
punkt auf die Ausgaben für Bildung und Forschung ge-
Wir machen also keine einseitige Politik, sondern ha-
setzt.
ben die gesamte Bandbreite dessen, was notwendig ist, im
(B) Wir haben darüber hinaus durch unsere Steuerpolitik (D)
Blick. Denn eines kann ich nur nachhaltig unterstreichen:
dem Rechnung getragen, was Sie einfordern, Frau Pieper. In den neuen Bundesländern sind mehr moderne Betriebe
(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Leider nicht!) notwendig, insbesondere aus dem Bereich der Hochtech-
nologie. Ich würde mich freuen, wenn man in dieser Hin-
Wir haben mit der Steuerreform, die wir jetzt vorlegen – sicht gemeinsam an einem Strang zieht.
ich hoffe, dass Sie diese Steuerreform im Bundesrat un-
terstützen, damit sie umgesetzt werden kann –, (Beifall bei der SPD)
(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Eine
ungerechte Steuerreform!) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt kommt die Zwi-
schenfrage. – Bitte sehr, Frau Kollegin Pieper.
erhebliche Verbesserungen für kleine und mittelständi-
sche Unternehmen vorgesehen,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Birgit Cornelia Pieper (F.D.P.): Frau Ministerin, nach Ihren
Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Nein, das ist Ausführungen zur Unternehmensteuerreform und zur
eine ungerechte Steuerreform!) Ökosteuer möchte ich Sie fragen: Mit welchen Punkten
Ihrer Reformkonzepte haben Sie denn die kleinen und
die ihnen Erleichterungen bringen werden. mittelständischen Unternehmen in den neuen Bundeslän-
Auch bei der Ökosteuer haben wir Erleichterungen für dern entlastet? Denn gerade bei der Ökosteuer wurden ja
die kleinen und mittleren Unternehmen berücksichtigt. Entlastungen für die energieintensiven Großunternehmen
Denn im Gegensatz zu Ihnen, die Sie immer nur über die geschaffen, während die Kleinen davon ausgeschlossen
Belastung der kleinen und mittleren Unternehmen durch wurden.
die Sozialversicherungsbeiträge geredet haben, haben wir
den ersten Schritt zur Begrenzung der Sozialversiche- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. – Sabine
rungsbeiträge gemacht. Kaspereit [SPD]: Das ist doch nicht wahr!)
(Beifall bei der SPD – Birgit Schnieber-Jastram Ist Ihnen bewusst, dass die Mehrheit der Kleinstunterneh-
[CDU/CSU]: Wann waren Sie das letzte Mal an men im Osten Betriebe mit fünf bis zehn Beschäftigten
der Tankstelle?) sind, also keinesfalls mit dem Mittelstand in den alten
Bundesländern verglichen werden können?
Sie wissen, dass gerade kleine und mittelständische Un-
ternehmen zu einem großen Teil personalintensive Unter- (Sabine Kaspereit [SPD]: Per Saldo!)
10642 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

(A) Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung noch nicht beendet haben. Aussagen über den Erfolg kön- (C)
und Forschung: Ich denke, ich habe das vorhin schon aus- nen wir erst nach Beendigung der Ausbildung treffen.
führlich dargestellt.
Zweitens. Ich habe gemeinsam mit der Bundesanstalt
(Jörg Tauss [SPD]: Dann bitte noch einmal für Arbeit, mit den Ländern und den Sozialpartnern Ver-
langsam für Frau Pieper!) besserungsvorschläge für die zweite Phase des Sofortpro-
gramms, die in diesem Jahr läuft, gemacht. Wir haben eine
Wir leiten die Einkünfte aus der Ökosteuer nicht in den
sehr sorgfältige regionale Analyse durchgeführt. Die Mit-
allgemeinen Steuertopf,
tel des Sofortprogramms – das zeigt diese regionale Ana-
(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Das lyse – werden dort eingesetzt, wo betriebliche Ausbil-
stimmt doch nicht! Das ist nicht korrekt!) dungsplätze nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind,
weil wir keine Konkurrenzsituation wollen.
– auch das unterscheidet uns im Übrigen von anderen Re-
gierungen –, sondern wir setzen die Mittel aus der Öko- Drittens. Ich habe mit den neuen Bundesländern das
steuer ganz gezielt ein, um die Sozialversicherungs- Ausbildungsprogramm Ost 2000 beschlossen. Wir ha-
beiträge zu senken. Das haben wir auch bereits gemacht. ben die Zahl der Ausbildungsplätze noch einmal aufge-
Dies ist eine erhebliche Erleichterung gerade für die per- stockt, weil dies notwendig war und ich die Jugendlichen
sonalintensiven Betriebe. nicht im Regen stehen lassen will, sondern sie ein Ausbil-
dungsangebot haben sollen.
(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Das ist
nicht das Geld aus dem Aufkommen der Öko- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
steuer! So viel setzen Sie nicht ein!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich kann nur wiederholen: Sie wissen, dass kleine und Wir haben es mit diesen und den betrieblichen Maß-
mittelständische Unternehmen personalintensiv sind. Das nahmen, auf die ich gleich noch eingehen werde, erreicht,
unterscheidet sie von den großen Betrieben, die in einem dass von den knapp 10 000 Jugendlichen, die am 30. Sep-
wesentlich stärkeren Maße kapital- und geräteintensiv tember des letzten Jahres noch ohne Ausbildungsplatz
sind. waren, nur noch 2 000 übrig sind. Auch diese 2 000 Ju-
gendlichen haben mehrere Ausbildungsplatzangebote er-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin ge- halten. Ich kann aber keinen Jugendlichen zwingen, einen
sagt, es kommt darauf an, dass wir Vorsorge treffen, damit Ausbildungsplatz anzunehmen. Allein schon diese erheb-
die Jugendlichen eine gute Ausbildung erhalten. Wir ha- liche Verringerung, die uns gelungen ist, macht deutlich,
ben dies getan, weil wir gerade in den neuen Bundeslän- dass diese unterschiedlichen Angebote, diese Initiativen,
dern leider eine Situation vorgefunden haben, die dadurch die wir auf den Weg gebracht haben, Wirkung zeigen.
(B) gekennzeichnet war, dass es über Jahre hinweg keinen (D)
Zuwachs bei der Zahl der betrieblichen Ausbildungsstät- Liebe Kolleginnen und Kollegen, entscheidend ist das
ten gab. Über Jahre hinweg haben unter Ihrer Regierung, Engagement der Wirtschaft – das sage ich immer wie-
meine Damen und Herren von der Opposition, viele Ju- der, an jeder Stelle und auch hier in diesem Hause –, eine
gendliche keinen Ausbildungsplatz gefunden. Deshalb ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen anzubieten,
haben wir gesagt: Wir brauchen ein Bündel an Maßnah- um damit den Jugendlichen Lernmöglichkeiten im Be-
men, einen Mix – wie das auch meine Kolleginnen darge- trieb zu bieten. Dies wollen wir, dies ist unsere Zielset-
stellt haben – aus staatlicher Vorsorge und gleichzeitig zu zung.
treffenden Vereinbarungen, um die Zahl der betrieblichen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ausbildungsplätze zu erhöhen. Beides muss geschehen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich halte es für völlig falsch und deplatziert, das eine ge-
gen das andere zu stellen. Im Augenblick brauchen wir Gerade in den neuen Bundesländern müssen dafür
beides. noch mehr Betriebe gewonnen werden. Ich sage den Be-
trieben auch immer sehr klar, dass die Ausbildung in
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ihrem eigenen Interesse liegt, weil sie dann auch über
DIE GRÜNEN) Fachkräfte verfügen, die die entsprechende qualitativ gute
Deshalb sollte man vorwärts schauen: Erstens. Das So- Ausbildung erhalten haben. Denn wir wissen, dass ab dem
fortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslo- Jahre 2005 die Zahl der Jugendlichen erheblich zurück-
sigkeit hat eine wichtige Funktion erfüllt und wird sie gehen wird, sodass praktisch schon jetzt eine Fachkräf-
auch weiterhin erfüllen. Wir haben im Rahmen dieses telücke, ein Fachkräftemangel erkennbar ist. Deswegen
Programms vielen Jugendlichen gerade in den neuen ist das, was die Betriebe leisten müssen, auch Zukunfts-
Bundesländern ein Ausbildungsplatzangebot machen vorsorge.
können. Herr Jüttemann, ich verstehe Ihren Kommentar Ich habe den Eindruck, dass die Betriebe dies auch
überhaupt nicht. Denn die Jugendlichen, die ihre Ausbil- langsam begreifen. Denn in diesem Jahr – ich finde, auch
dung im Rahmen dieses Sofortprogramms begonnen ha- das muss man zur Kenntnis nehmen – gibt es eine äußerst
ben, befinden sich noch in der Ausbildung. Diese haben erfreuliche Entwicklung. Wir haben bei einem überpro-
ihre Ausbildung noch gar nicht abgeschlossen. Das ist portionalen Anstieg der Ausbildungsplätze in den neuen
auch logisch, denn diese dauert drei bis dreieinhalb Jahre. Bundesländern eine Zunahme der betrieblichen Ausbil-
Dazu kann ich nur sagen: Adam Riese. Wenn man rech- dungsplätze um rund 9 Prozent. Das ist zum ersten Mal
net, weiß man, dass diese Jugendlichen ihre Ausbildung ein wirklich spürbarer Zuwachs. Es ist ein Ergebnis der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10643
Bundesministerin Edelgard Bulmahn

(A) Vereinbarung des Bündnisses für Arbeit, die wir im Som- Wir haben die modernen Technologien und die neuen (C)
mer des letzten Jahres beschlossen haben. Sie konnte Medien nicht nur als Mittel genutzt. Vielmehr haben wir
natürlich nicht schon im letzten Jahr zu einer deutlichen der Ausbildung gerade in diesem Bereich eine zentrale
Verbesserung der Ausbildungsplatzsituation beitragen, Bedeutung beigemessen. Deshalb auch die Verabredung
wird jetzt aber spürbar. Deshalb bitte ich darum, das mit den Unternehmen – die ja die Ausbildung leisten müs-
Ganze nicht herunterzureden. Damit demotivieren wir die sen – die Zahl der ausbildenden Betriebe noch einmal von
Leute nämlich wieder. Vielmehr müssen wir den Anstieg 40 000 auf 60 000 zu erhöhen. Die Ergebnisse, die uns
der Zahl der Ausbildungsplätze entsprechend honorieren jetzt vorliegen, zeigen deutlich, dass das kein überhöhtes
und gleichzeitig sagen: Das ist noch nicht genug, wir müs- Ziel ist. Wir werden dieses Ziel erreichen.
sen noch mehr tun.
(Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Ministerin, ich
muss Sie leider an Ihre Redezeit erinnern, weil wir sonst
Wir brauchen noch mehr Betriebe, damit wir allen Ju- eine neue Runde eröffnen.
gendlichen einen betrieblichen Ausbildungsplatz anbieten
können.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was vonseiten der und Forschung: Deshalb, liebe Kolleginnen und Kolle-
CDU/CSU-Fraktion vorgelegt worden ist, entspricht in gen, sage ich kurz: Wir arbeiten dafür und werden weiter
vielen Punkten dem, was wir bereits in Angriff genommen dafür arbeiten, diese positive Trendwende fortzusetzen.
haben. Wir haben das Programm „Ausbildungsplatz- Das sollten alle anderen in diesem Parlament auch tun.
entwickler“. Wir unterstützen damit die Menschen vor
Ort, in die Betriebe zu gehen und sie während der gesam- Vielen Dank.
ten Ausbildung zu informieren, zu beraten, zu begleiten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
und zu unterstützen. Wir haben dieses Programm vonsei- DIE GRÜNEN)
ten der Bundesregierung noch aufgestockt; denn die
Stärke dieses unmittelbaren Kontaktes hat ein ganz großes
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe die Aus-
Gewicht. sprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auf Drucksache 14/3185 an die in der Tagesordnung auf-
DIE GRÜNEN) geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir haben den Ausbau der Verbundausbildung fort-
gesetzt, um auch die kleinen und mittleren Betriebe, die Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 22 sowie Zu- (D)
(B) sagen, ich kann mir Ausbildung in meinem Betrieb alleine
satzpunkte 12 und 13 auf:
nicht leisten, zur Ausbildung zu motivieren. Wir haben
praktisch die Hilfe leistungsstarker Unternehmen als re- 22. Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
gionale „lead companies“ gewonnen, um damit kleine Erleichterte und erweiterte Rehabilitierung
und mittlere Unternehmen noch stärker für die Ausbil- und Entschädigung für Opfer der politischen
dung zugewinnen. Verfolgung in der DDR
– Drucksache 14/2928 –
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Ministerin, ich Überweisungsvorschlag:
muss Sie an Ihre Redezeit erinnern. Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
und Forschung: Herr Jork, Sie haben eine falsche Aussage
gemacht. Die Mittel für diese Programme werden im ZP 12 Erste Beratung des von den Abgeordneten Günter
Haushalt für das Jahr 2001 nicht gekürzt, sondern sie blei- Nooke, Ulrich Adam, Hartmut Büttner (Schöne-
ben auf dem gleichen Niveau. Schauen Sie bitte noch ein- beck), weiteren Abgeordneten und der Fraktion
mal in den Haushaltsentwurf! Dann werden Sie es fest- der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Drit-
stellen. ten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht
(Drittes SED-Unrechtsbereinigungsgesetz –
(Jörg Tauss [SPD]: Die Wahrheit interessiert 3. SED-UnBerG)
da drüben nicht!)
– Drucksache 14/3665 –
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir legen ein großes Überweisungsvorschlag:
Gewicht auf die gezielte Regionalberatung, weil es sich Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)
zur Sicherung und Weiterentwicklung des Ausbildungs- Innenausschuss
platzangebotes als das A und O erwiesen hat. Wir arbeiten Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
mit Hochdruck an der Modernisierung von Berufen.
13 neue sind bereits gesetzlich fixiert, vier neue Berufe ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
haben wir in diesem Jahr beschlossen, 30 Berufe sind noch Nooke, Ulrich Adam, Hartmut Büttner (Schöne-
in der Flotte, wie wir in Nord-deutschland sagen. Das beck), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
heißt, wir arbeiten mit Hochdruck daran. CDU/CSU
10644 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Vizepräsidentin Anke Fuchs

(A) Den jenseits von Oder und Neiße Verschleppten Alle drei Vorschläge haben bereits im Dezember eine (C)
wirksam und dauerhaft helfen Rolle gespielt und wurden auch in der Anhörung des Aus-
– Drucksache 14/3670 – schusses für Angelegenheiten der neuen Länder am
19. November 1999 von Betroffenen und den Sprechern
Überweisungsvorschlag: ihrer Verbände formuliert und begründet. Wir beantragen,
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)
dass diese notwendigen Nachbesserungen so in Gesetzes-
Innenausschuss
Rechtsausschuss form gegossen werden, dass diese per 3. Okto-
Haushaltsausschuss ber 2000 – also zum zehnten Jahrestag der staatlichen Ein-
heit – in Kraft treten können.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS Es liegt uns ein weiterer Antrag der CDU/CSU-Frak-
fünf Minuten erhalten soll. – Dazu höre ich keinen Wi- tion vor, nämlich der Entwurf eines Dritten Gesetzes zur
derspruch. Dann ist es so beschlossen. Bereinigung von SED-Unrecht. Mit diesem werden eben-
falls Forderungen aus den Opferverbänden aufgegriffen,
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der vor allem die nach einer Ehrenpension für die Opfer poli-
Kollegin Petra Pau, PDS-Fraktion. tischer Verfolgung im Beitrittsgebiet. Beide Anträge – der
der PDS und der der CDU/CSU – korrespondieren mitei-
Petra Pau (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nander, gehen aber auch jeweils weiter als der andere.
So hat die CDU/CSU mit ihrem Entwurf die Betroffenen
nen und Kollegen! Dass wir uns binnen eines halben Jah-
im Blick, die bereits Entschädigungen erhalten, das heißt,
res erneut mit der Rehabilitierung und Entschädigung po-
diese Anerkennung besitzen, während die PDS wei-
litisch Verfolgter der DDR befassen müssen, war vorher- tere Betroffene einbeziehen will. Umgekehrt will die
sehbar. Der Grund liegt darin, dass die Verbesserungen, CDU/CSU die Höhe der Entschädigung anheben, und
die im Dezember 1999 beschlossen wurden, zum Teil zwar auf eine nicht anrechnungsfähige Pension von
halbherzig und vor allem bürokratisch waren. Ich wieder- 1 000 DM monatlich.
hole das auch deshalb, weil wir seinerzeit schon weiter ge-
hende Anträge gestellt haben. Ich denke, wir sollten diese beiden Anträge in den Aus-
schüssen gemeinsam prüfen und die zum Teil vorhande-
Vielleicht erinnert sich auch Herr Staatsminister nen Fragezeichen in der konkreten Umsetzung gemein-
Schwanitz noch daran. Ich hoffe, dass ich künftig in Ver- sam auflösen. Auch das vorgeschlagene Finanzierungs-
anstaltungen mit Betroffenen nicht mehr damit konfron- modell, mit dem der Bund zu 60 Prozent und die Län-
tiert werde, dass mit Bezug auf ihn behauptet wird, die der – also wohl vorwiegend die neuen Bundesländer – zu
PDS blockiere die erweiterten Entschädigungszahlungen 40 Prozent zuständig würden, gehört aus meiner Sicht auf
(B) sowie die unbürokratische Lösung dieses Problems. Es ist den Prüfstand. (D)
zum einen zu viel der Ehre, dass Sie meinen, wir könnten
Danke schön.
das blockieren; zum anderen entspricht es aber auch nicht
den Tatsachen. Sie erinnern sich: Wir haben im Dezember (Beifall bei der PDS)
weiter gehende Vorschläge gemacht.
Die PDS-Fraktion hat drei Anträge gestellt. Wir wol- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat der Kollege
len, dass erstens die entschädigungsberechtigten Opfer Günter Nooke von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
ihre Nachzahlungen von Amts wegen erhalten – die Pra-
xis seit In-Kraft-Treten des Gesetzes am 1. Januar 2000 Günter Nooke (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Sehr
zeigt, dass viele Betroffene trotz aller Öffentlichkeitsar- geehrte Damen und Herren! Ich möchte die Zeit nutzen,
beit nicht erreicht wurden und somit nicht in der Lage wa- um unseren Gesetzentwurf noch einmal zu begründen, da
ren, ihre Anträge zu stellen –, zweitens verfolgte Schüle- es – Frau Pau, Sie müssen das einfach akzeptieren – für
rinnen und Schüler, denen Berufs- und Studienmöglich- viele Opfer schwierig ist, wenn Sie sich als ehemalige
keiten verwehrt wurden, in den rentenrechtlichen Pionierleiterin und Privilegierte des Systems dieses The-
Nachteilsausgleich einbezogen werden, drittens Haftfol- mas allzu stark annehmen.
gegesundheitsschäden dort anerkannt werden, wo sie zu (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei
vermuten sind. der PDS)
Sie wissen alle – wir haben noch die Schilderungen der Ich will aber deutlich sagen: Wenn wir in der Sache ge-
Betroffenen im Ohr –, wie schwierig es heute ist, Nach- meinsam vorankommen, ist das mit Ihnen auch zu ma-
weise für diese Schäden zu erbringen. Dazu gehört, Herr chen. Die Hauptsache ist, dass wir am Ende materiell zu-
Schwanitz, auch die Einlösung Ihres Versprechens, dass gunsten der Opfer etwas erreichen.
abgelehnte Anträge auf Anerkennung haftbedingter Ge-
sundheitsschäden nochmals von qualifizierten Gutachtern Vor knapp zwei Wochen, am 17. Juni, nahm ich an ei-
überprüft werden sollen. Kurzum: Wir wollen gleiches ner Gedenkfeier ehemaliger Häftlinge in Berlin-Charlot-
Recht für bislang benachteiligte Opfergruppen und wir tenburg teil. An diesem Jahrestag des Volksaufstandes ge-
wollen im Interesse der Betroffenen bürokratische Hür- gen die SED-Diktatur in der DDR, der lange Zeit auch
bundesdeutscher Feiertag war, nahmen nur wenige Men-
den abbauen.
schen teil. In absehbarer Zeit wird es kaum noch Zeugen
(Beifall bei der PDS) des Aufstandes von 1953 geben.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10645
Günter Nooke

(A) Vor fast genau einem Jahr, am 17. Juni 1999, habe ich solche angemessene Entschädigung durchsetzen, und (C)
in diesem Hohen Hause ebenfalls zu diesem Thema ge- zwar jetzt.
sprochen. Die damalige Rede stand noch ganz unter dem
Ich hatte vor einem Jahr bei der Begründung des da-
Eindruck des Urteils des Bundesverfassungsgerichts be-
mals von der CDU/CSU-Fraktion eingebrachten Gesetz-
züglich der Sonderrenten für diejenigen, deren Versor-
entwurfes zum Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsge-
gung der SED besonders am Herzen lag. Seither leben
setz ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dieses nur ei-
ehemals Privilegierte des SED-Regimes im Rechtsfrie-
nen ersten, viel zu bescheidenen Beitrag zur Verbesserung
den. Angeblich hat dieses Urteil, wie eine Pressemittei-
lung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialord- der Lage der Opfer des SED-Regimes zu leisten vermag.
nung damals mit Bezug auf das Urteil des Bundesver- Ich hatte weiterhin zu Protokoll gegeben, dass sich künf-
fassungsgerichts lautete, die notwendige Klärung her- tige Regelungen in dieser Frage in stärkerem Maße an den
beigeführt und eben zu jenem Rechtsfrieden geführt. von den Opferverbänden geforderten 1 400 DM monatli-
che Rente orientieren müssten.
Nun kann man sich gewiss gut vorstellen, dass allein
aufgrund der Nachzahlungen, die der betroffene Perso- Eine Orientierung an den Renten für Opfer des Natio-
nenkreis erhält, ein friedliches Leben im Rechtsstaat mehr nalsozialismus – das ist ja die Grundlage für die Forde-
als nur gesichert ist. Aber dieser Rechtsfrieden hat eine to- rung der Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft –
tale Schieflage. Ich will an diesem Ort und zu diesem ist aus unserer Sicht durchaus verständlich. Es kann kein
Zeitpunkt nicht wiederholen, was ich damals zu diesem Zweifel daran bestehen, dass es beim Rückblick auf die
Urteil gesagt habe, und mein Unbehagen nicht noch ein- beiden deutschen Diktaturen im vergangenen Jahrhundert
mal zum Ausdruck bringen. Mir geht es vor allem um die- keine Opfer zweiter Klasse geben darf.
jenigen, die ich eingangs genannt hatte. Es geht um eine Eine Behandlung des Themas ausschließlich nach Kas-
schnelle und unbürokratische Lösung für die in der DDR senlage halte ich in diesem Falle auch deshalb für schäd-
politisch Verfolgten. Sie ist dringlicher denn je. lich und unaufrichtig, weil eben diese Nachzahlungen aus
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den Zusatz- und Sonderversorgungssystemen, die vielen
ehemaligen SED-Kadern – Professoren für Marxismus-
Meine Damen und Herren, wir müssen genau hinhören Leninismus und sozialistisches Recht – zuteil werden,
und hinschauen, wie unser Umgang mit 40 Jahren SED- letztlich mehr Geld erfordern als die berechtigten Vorstel-
Diktatur im Deutschen Bundestag bei den Opfern wahr- lungen der SED-Opfer.
genommen wird. Sie können nicht so laut schreien, wie es
mit vielfältiger Unterstützung den Privilegierten des (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
SED-Regimes möglich war. Herr Staatsminister Schwanitz, Sie sagten in der De-
(B) Wir haben heute Vormittag über die Währungs-, Wirt- batte über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (D)
schafts- und Sozialunion gesprochen. Wir haben damit heute Morgen, man müsse sich gegen den Angriff auf die
über die Erfolgsgeschichte dieses Landes debattiert; da- offene Gesellschaft wehren und sich diesem entschlossen
rüber kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Für die entgegenstellen. Was meinen Sie denn damit? Sollen etwa
meisten Menschen in unserem Land war das ein politi- unter Einschluss der alten SED-Kader Bündnisse gegen
scher Erfolg, und für die Menschen in der damaligen DDR Rechtsextremismus geschmiedet werden? Sollen ehema-
war es ein politischer und wirtschaftlicher Erfolg. lige Staatsbürgerkundelehrer der DDR den Schülern mit
antikapitalistischem, ideologischem Unterton die not-
Die Hoffnungen derjenigen, die bis 1989 dem politi- wendige Toleranz gegenüber Ausländern beibringen?
schen System der DDR Opposition und Widerstand ent-
gegengesetzt hatten, haben sich allerdings nur zum Teil (Zurufe von der PDS)
erfüllt. Ich sage hier ganz bewusst als Mitglied der Auf der anderen Seite werden diejenigen, die sich zu Zei-
CDU/CSU-Bundestagsfraktion: In diesem Hohen Hause ten der SED-Diktatur gegen diese SED-Kader, ML-
ist in den vergangenen Jahren, nicht nur im letzten Jahr, Professoren und Staatsbürgerkundelehrer oft mit nicht
zu wenig für die Opfer der SED-Diktatur getan worden. mehr als einem mutigen Wort wehren konnten, weiter mit
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Füßen getreten. Schafft das wirklich Bewusstsein? Trägt
GRÜNEN]: Jetzt kann die CDU/CSU mal klat- das zur politischen Bildung bei?
schen!) Ich glaube, die Bundesregierung will mit dem, was sie
– Ja, da können wir klatschen. an Billigregelungen beim Thema Opfer der SED-Diktatur
anbietet, dies sogar abschließend regeln. Ich sage deutlich
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) für meine Fraktion: Wir werden dies nicht zulassen.
Gerade an der Debatte über die Währungs-, Wirt- (Beifall bei der CDU/CSU)
schafts- und Sozialunion ist doch heute Vormittag eines
klar geworden: dass dringende politische Entscheidungen Die CDU/CSU-Fraktion möchte mit dem vorliegenden
notwendig sind und nicht nur von der Kassenlage abhän- Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung von
gig gemacht werden dürfen. Ich halte die Frage nach ei- SED-Unrecht einen wirklichen Rechtsfrieden im Lande
ner angemessenen und gerechten Entschädigung für die herstellen. Wir halten die derzeitigen Rentenregelungen
Opfer der SED-Diktatur in erster Linie für eine Frage des für politische Opfer des SED-Regimes für nicht ausrei-
politischen Willens. Wir hier im Deutschen Bundestag chend und demzufolge für ungerecht. Von einem Rechts-
sollten diesen politischen Willen demonstrieren und eine frieden kann keine Rede sein. Mit dem vorgelegten
10646 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Günter Nooke

(A) Gesetzentwurf würde man aus unserer Sicht nicht nur der Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun die (C)
Situation der Opfer politischer Verfolgung in der DDR ge- Kollegin Barbara Wittig, SPD-Fraktion.
recht werden und diese weiter verbessern; vielmehr wäre
die von meiner Fraktion vorgeschlagene Ehrenpension Barbara Wittig (SPD): Frau Präsidentin! Meine Da-
von 1 000 DM monatlich auch ein deutliches politisches men und Herren! Zunächst ein Wort zu Herrn Nooke. Herr
Signal. Nooke, ich weiß, dass Sie gerne polarisieren; insofern
Wir haben außerdem klargestellt, dass die Kapital- habe ich mich über manche Passagen Ihrer Rede nicht
entschädigung – 1 000 DM pro Haftmonat – auch ein gewundert. Das möchte ich als Vorbemerkung sagen.
Signal für die Andersartigkeit der Haft in Bautzen im Ver- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Sie dürfen nicht
gleich zur Haft im heutigen Moabit wäre. Ich glaube, auch immer ablesen! Sie müssen auch einmal
die Verschleppten jenseits von Oder und Neiße brauchen zuhören, was ich gesagt habe! – Dr. Heinrich L.
eine unbürokratische Regelung. Kolb [F.D.P.]: Wo denn?)
Aber ich sage ganz deutlich: Der besondere Stellen- – Darauf komme ich nachher gerne zurück.
wert und die Bedeutung von Opposition und Widerstand
werden mit diesem Gesetz hervorgehoben. Die Men- Als wir am 26. November des vergangenen Jahres den
schen, denen mit diesem Gesetz geholfen werden soll, ha- Gesetzentwurf zur Verbesserung rehabilitierungsrechtli-
ben zu Zeiten der Diktatur für eine offene Gesellschaft cher Vorschriften für die Opfer der politischen Verfolgung
gekämpft. Auf diese Menschen, Herr Schwanitz, müssten in der ehemaligen DDR verabschiedet haben, waren wir
Sie zugehen, wenn Sie ein Zeichen setzen wollen. uns einig, dass wesentliche Verbesserungen für die Be-
troffenen erreicht werden konnten. Die Rehabilitierung
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und die Entschädigung der Menschen, die in der DDR und
neten der F.D.P.) zuvor in der Sowjetischen Besatzungszone Opfer der po-
Opposition und Widerstand gegen die SED-Diktatur, litischen Verfolgung geworden sind, sind eine Anerken-
die diese schließlich beseitigt haben, gehören zu den his- nung des Leids der Verfolgten und ihrer Widerstandsleis-
torischen Leistungen, auf die alle Deutschen mit Recht tung. Die Leistungen nach den Rehabilitierungsgesetzen
stolz sein können. Fast 150 Jahre deutscher Geschichte können jedoch nur Nachteile ausgleichen. Mit Geld auf-
zuwiegen ist das erlittene Schicksal, das den Menschen
ohne erfolgreichen Kampf für Freiheit wurden mit dem
zugefügte Leid jedoch nicht.
Zusammenbruch der DDR beendet. Aber dies war mit vie-
len persönlichen Opfern verbunden. Solange sich die Op- Diese Sicht entspricht auch dem Geist der Ehrener-
fer des SED-Regimes wie politische Opfer zweiter Klasse klärung des Deutschen Bundestages vom 17. Juni 1992,
(B) fühlen müssen, solange ist nach meiner Auffassung der in der all jenen tiefer Respekt und Dank bezeugt wird, die (D)
Rechtstaat in der Pflicht. Der materielle Wert der Ehren- durch ihr persönliches Opfer dazu beigetragen haben,
pension wird die verlorenen Jahre der Haft und die Zeit nach über 40 Jahren das geteilte Deutschland in Freiheit
der intensiven Verfolgung durch die Staatssicherheit der wieder zu einen.
DDR auch diesmal nicht wiederbringen können. Aber Die gesetzlichen Regelungen zur Rehabilitierung und
eine Ehrenpension kann in sozialer und ökonomischer Entschädigung haben die Situation der Opfer der politi-
Hinsicht die fortwirkenden Probleme, unter denen gerade schen Verfolgung nachhaltig erleichtert und verbessert.
die Opfer der SED-Diktatur zu leiden haben, lindern hel- Zu nennen sind zum Beispiel die nun einheitliche
fen. Haftentschädigung von 600 DM pro Haftmonat, die bes-
Unser Ziel ist es, mit unserem Gesetzentwurf, den Sie sere Unterstützung der Hinterbliebenen von Todesopfern,
gut und gern auch als einen Neuanfang bei uns verstehen die Verlängerung der Antragsfristen aller drei Rehabilitie-
können, jetzt eine endgültige Regelung für die Opfer rungsgesetze um zwei Jahre. Dies sind wirklich wesentli-
durchzusetzen. Auch dies ist eine grundsätzliche Voraus- che Verbesserungen.
setzung zur Erlangung wirklichen Rechtsfriedens. Wir (Beifall bei der SPD)
sollten nicht wie in anderen Fällen 50 oder 60 Jahre war-
ten. Auch die PDS kommt mit ihrem Antrag auf Drucksa-
che 14/2928 nicht umhin, dies anzuerkennen. In Nr. 1 ih-
(Beifall bei der CDU/CSU) res Antrags fordern Sie, dass die bereits anerkannten Op-
Die Vokabeln „sozialer Frieden“ und „soziale Gerech- fer entsprechende Nachzahlungen von Amts wegen er-
tigkeit“ benutzen gerade die Sozialdemokraten sehr häu- halten. Bisher ist ein formloser Antrag erforderlich. Das
fig. Ich möchte Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der PDS geforderte Verfahren führt zu einem unver-
von der SPD-Fraktion, ganz besonders darum bitten, den tretbaren hohen Verwaltungsaufwand und mindert ihn
vorliegenden Gesetzentwurf auf Brauchbarkeit zu prüfen nicht etwa, wie die PDS behauptet.
und gemeinsam mit uns schnell und erfolgreich über ihn Erinnern Sie sich doch bitte an die Berichterstatterge-
zu verhandeln. Herr Staatsminister Schwanitz, das ist spräche im vergangenen Herbst! Wir haben über diese
auch ein Angebot an die Bundesregierung, ihre bisherige Probleme diskutiert und erkannt, dass beispielsweise die
Politik zu diesem Thema zu überdenken. für die Auszahlung der Kapitalentschädigungen zuständi-
gen Landesbehörden feststellen müssten, ob die Berech-
Danke schön.
tigten noch am Leben sind, ob sie am gleichen Ort woh-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nen, ob sie im Falle des Wegzugs eine Feststellung des
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10647
Barbara Wittig

(A) neuen Wohnortes betreiben müssten, ob sie die Abgabe an dass ein Vermutungstatbestand dem System des sozialen (C)
die neue zuständige Behörde veranlassen müssten und an- Entschädigungsrechts völlig fremd ist und unter dem
deres mehr. Im Erbfall müssten sie die Erben ermitteln, Aspekt der Gleichbehandlung aller dann generell ein-
was teilweise sehr schwierig ist. führbar wäre. So erfolgt die Anerkennung von verfol-
gungsbedingten Gesundheitsschäden gegenwärtig nach
Dagegen ist die gegenwärtige Praxis über einen form- den Kausalitätsgrundsätzen des sozialen Entschädi-
losen Antrag zumutbar und durch die Opfer und ihre An- gungsrechts mit wesentlichen Beweiserleichterungen wie
gehörigen leicht zu erledigen. Die Bearbeitung kann ohne Glaubhaftmachen, Annahme der Wahrscheinlichkeit des
Verzug beginnen und zügig zu Ende geführt werden. Von ursächlichen Zusammenhangs und anderes mehr.
den Verfolgtenverbänden wird dieses Verfahren übrigens
mitgetragen. Die korrekte und konsequente Anwendung des gelten-
den Rechts sichert den Betroffenen ihre Rechte. Eine Ta-
Zur Einbeziehung verfolgter Schüler, wie in Nr. 2 des gung vom 30. November bis zum 2. Dezember 1999 mit
Antrags gefordert, ist Folgendes zu sagen: Der Nach- den Versorgungsverwaltungen der Länder in Magdeburg
teilsausgleich in der Rentenversicherung ist strikt be- unter Federführung des Bundesministeriums für Arbeit
rufsbezogen und deswegen muss der Verfolgte bestimm- und Sozialordnung hat unterstrichen, dass die bestehen-
ten Berufsgruppen und bestimmten Qualifizierungsberei- den Regelungen des sozialen Entschädigungsrechts mit
chen zugeordnet werden. der dort geltenden Kausalitätsnorm der wesentlichen Be-
(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das ist auch ganz dingungen in jedem Fall eine sachgerechte Entscheidung
garantieren, wenn alle gesetzlich vorgesehenen Beweiser-
einfach zu klären!)
leichterungen genutzt werden.
Dies setzt voraus, dass das Berufsbild bereits zum Zeit-
Um mögliche Härtefälle auszugleichen, ist auch eine
punkt des Eingriffes, also zum Zeitpunkt der Verfol- Überprüfung der seit 1991 durch Ablehnung abgeschlos-
gungsmaßnahme, hinreichend konkretisiert ist. Genau senen Fälle vorgesehen. Neue medizinisch-wissenschaft-
diese notwendige Konkretisierung des Berufsbildes fehlt liche Erkenntnisse, vor allem solche zu psychischen Fol-
bei dem Eingriff in die vorberufliche Ausbildung. Es gen politischer Haft, lassen sicherlich auch neue Ent-
müssten hypothetische Lebensläufe über lange Zeiträume scheidungen in abgelehnten Fällen zu. Diese werden dann
nachvollzogen werden. von Amts wegen bei einer zentrale Stelle durch besonders
(Günter Nooke [CDU/CSU]: Deshalb haben geschulte und erfahrene Sachbearbeiter und Gutachter
wir ja eine Änderung vorgeschlagen!) überprüft und gegebenenfalls neu entschieden.
Dies dürfte fast unmöglich sein. Darüber haben wir in den Durch diese Maßnahmen wird aufgrund bestehender
Gesetzeslage durch entsprechende Verwaltungsanwen-
(B) Ausschüssen bereits in der Vergangenheit diskutiert. dung auch garantiert, dass die legitimen Rechte der (D)
(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das haben Ihnen Opfer in Übereinstimmung mit ihren Verbänden gewahrt
die Ministerialen aufgeschrieben! Das klappt werden.
nicht!)
Im Übrigen möchte ich daran erinnern, dass im Ver-
– Herr Nooke, ich zum Beispiel durfte aufgrund meiner laufe der Ausschussberatungen die Bundesregierung ge-
sozialen Herkunft nicht zur Oberschule gehen und es war beten wurde, einen Bericht vorzulegen. Sie hat dies für
nicht damit zu rechnen, dass ich einmal im Bundestag Herbst dieses Jahres zugesagt.
lande. Die CDU/CSU-Fraktion bringt nun einen Entwurf für
Demgegenüber haben die am schwersten Betroffenen, ein Drittes Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht ein.
die sofort in Haft genommenen Schüler, ihren Nachteils- Schon im Herbst des vergangenen Jahres, als wir über die
ausgleich in der Rentenversicherung geltend machen kön- Verbesserung der rehabilitierungsrechtlichen Vorschriften
nen; denn Haftzeiten sind nach allgemeinrechtlichen diskutiert haben, spielte die Einführung einer Ehrenpen-
Regelungen als Ersatzzeiten in der Rentenversicherung sion eine Rolle. Die konkreten Fakten hat Herr Nooke ge-
anzurechnen. nannt. Ich muss Sie an dieser Stelle fragen, meine Damen
und Herren von der CDU/CSU: Warum wecken Sie jetzt
Zur Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschä- mit Ihren Vorstellungen bei den Betroffenen unerfüllbare
den ist zu sagen: Richtig ist, dass es in der Vergangenheit Hoffnungen? Schließlich hatten Sie acht Jahre Zeit, um
bei der Anerkennung haft- bzw. verfolgungsbedingter Ge- Ihre Vorstellungen umzusetzen.
sundheitsschäden Probleme gegeben hat, und zwar auch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nach dem Häftlingshilfegesetz. Dies wurde von den Op- DIE GRÜNEN)
ferverbänden zu Recht beklagt. Zur Beseitigung dieses
Missstandes schlägt die PDS nun die vorhin schon ange- Um auf einen Teil Ihrer Rede einzugehen, Herr Nooke –
führte Vermutungsregelung vor. Nach meiner Auffassung Sie haben eben selbst zu Recht gesagt, es sei immer eine
würde die Einführung eines solchen Vermutungstatbe- Frage des politischen Willens –, sage ich Ihnen, dass es Ih-
standes immer auch dessen Widerlegbarkeit implizieren nen hier am politischen Willen gefehlt hat.
und die Verwaltungsbehörden gegebenenfalls sogar dar- Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang an Folgen-
auf orientieren, die in dem Antrag aufgestellten Behaup- des erinnern: Im Jahre 1992 legte die CDU/CSU-F.D.P.-
tungen zu überprüfen und zu widerlegen, statt die positi- Regierung einen Entwurf eines strafrechtlichen Reha-
ven Tatsachen zu ermitteln und sämtliche Beweiserleich- bilitierungsgesetzes vor. Dieser sah eine Kapitalentschä-
terungen anzuwenden. Im Übrigen dürfte bekannt sein, digung in Höhe von „300 DM“ vor. Am 17. Juni 1992
10648 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Barbara Wittig

(A) haben 42 Abgeordnete Ihrer Fraktion in einer Erklärung dieser Gerichtsurteile aufgefordert. So weit zu diesem (C)
betont, dass es Thema.
Aufgabe der Bundesregierung gewesen wäre, einer Ausführlich werden wir in den Ausschüssen auch Ihre
Ehrenschuld des Staates von solchem Rang durch Drucksache 14/3670 diskutieren. Ich bitte Sie, meine Da-
entsprechende finanzielle Umschichtungen im Haus- men und Herren von beiden Seiten der Opposition, sich
halt zur gerechten Erfüllung zu verhelfen. Dieser wirklich noch einmal über die von mir genannten Fakten
Aufgabe ist sie nicht gerecht geworden. Ein finanz- Gedanken zu machen. Die weitere Diskussion sollte dann
wirksames Gesetz kann jedoch nicht gegen den Bun- natürlich intensiv in den Ausschüssen erfolgen.
desfinanzminister finanziell aufgestockt werden. Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
So weit das Zitat aus der 12. Wahlperiode. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Interessant ist übrigens – das werden Sie feststellen, DIE GRÜNEN)
wenn Sie das einmal nachlesen –, dass zu den Unter-
zeichnern auch Abgeordnete gehören, die nun in der Op- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat das Wort der
position ganz andere Forderungen aufmachen, wie zum Kollege Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion.
Beispiel Frau Merkel. Sie verlangen wider besseres Wis-
sen von uns, was sie selber nicht gemacht haben. Erst im
Vermittlungsausschuss wurde auf Druck der SPD-Seite Jürgen Türk (F.D.P.): Sehr geehrte Frau Präsidentin!
der Betrag für diejenigen, die nach der Haft in der ehe- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon Ende letzten
maligen DDR verbleiben mussten, auf 550 DM angeho- Jahres, als wir das zweite Rehabilitierungsgesetz disku-
ben. Die neue Regierung hat diese Ungerechtigkeit besei- tierten, habe ich deutlich gemacht, dass wir, weil es einen
Fortschritt in der Sache darstellt, ihm zustimmen, habe
tigt und die Kapitalentschädigung einheitlich auf 600 DM
aber auch deutlich gemacht, dass es keineswegs ausreicht,
angehoben. Haben Sie das alles vergessen?
(Günter Nooke [CDU/CSU]: Da waren wir
Vergessen zu haben scheinen Sie auch, dass die Ver-
uns einig!)
besserungen der rehabilitierungsrechtlichen Leistun-
gen Ende des vergangenen Jahres im federführenden Aus- denn eine entsprechende Wiedergutmachung darf tatsäch-
schuss für Angelegenheiten der neuen Länder einstimmig lich nicht an der Finanzlage scheitern. Die F.D.P.-Fraktion
angenommen wurden. Herr Nooke sprach vorhin wider hat deshalb damals bei der Beratung des Gesetzentwurfes
besseres Wissen von „Billiglösungen“. Übrigens waren einen Entschließungsantrag eingebracht. Er sah vor, den
Ihnen die Urteile des Bundesverfassungsgerichts vom Opfern eine Opferpension zu gewähren und Beweiser-
28. April 1999 zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt. Des- leichterungen für die Anerkennung von Gesundheitsschä-
(B) halb muss ich noch einmal auf einen Teil der Begründung den von Verfolgten einzuführen. (D)
Ihres Gesetzentwurfs eingehen. Dort heißt es: Die eine Forderung findet sich im Gesetzentwurf der
Die bisherigen fiskalpolitisch motivierten Überle- CDU/CSU wieder, die andere ist im PDS-Antrag enthal-
gungen, die einer solchen angemessenen Würdigung ten. Die Zuerkennung einer Opferrente für politisch
bislang entgegengestanden haben, lassen sich ange- Verfolgte ist eine der Hauptforderungen auch der Opfer-
sichts der vom Bundesverfassungsgericht getroffe- verbände und wohl auch eine berechtigte. Die Betroffe-
nen Entscheidungen vom 28. April 1999 zu Fragen nen klagen seit Jahren darüber, dass eine solche Rente den
der Überleitung von Ansprüchen und Anwartschaf- Verfolgten des Nazi-Regimes in der ehemaligen DDR von
ten aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der Anfang an – richtigerweise – anstandslos gewährt wurde,
DDR in die gesetzliche Rentenversicherung des wie- sie selber aber aus Finanzierungsgründen, wie immer wie-
der betont wurde, leer ausgingen. Dabei hätte man bei-
dervereinigten Deutschlands und der Umsetzung
spielsweise die aus natürlichen Gründen frei werdenden
dieser Entscheidungen durch die Bundesregierung
Mittel des Nazi-Opfer-Fonds umwidmen können – das
nicht länger aufrechterhalten. haben wir damals vorgeschlagen; ich glaube, das geht
(Günter Nooke [CDU/CSU]: So ist es!) auch heute noch – für die Opfer der SED-Diktatur, ganz
davon abgesehen, dass Finanzminister Eichel jetzt unver-
Anzumerken ist hierzu, dass das Bundesverfassungs- mutet viele zusätzliche Milliarden DM zusätzlich in die
gericht in seinen Urteilen deutlich gemacht hat, dass die Kasse bekommt. Die Situation ist also eine andere.
teilweise drastischen Entgeltbegrenzungen im Rahmen
der Rentenüberleitung kein rentenrechtlich taugliches Die Betroffenen erfüllt mit zusätzlicher Verbitterung,
Element zur Vergangenheitsbewältigung sind. Klarzustel- dass aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungs-
len ist außerdem, dass Sie es waren, die die Entgeltbe- gerichts vom Dezember 1999 zu Fragen der Überleitung
grenzungen der ersten frei gewählten Volkskammer nicht von Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDR
akzeptiert haben. Sie sind mit den von Ihnen vorgenom- ihre einstigen Peiniger und Verfolger materiell jetzt oft
menen weiteren Verschärfungen bewusst ein hohes ver- deutlich besser gestellt sind als sie selbst. Das ist in der Tat
fassungsrechtliches Risiko eingegangen. Das Gericht hat fatal. Über diesen Punkt müssen wir gemeinsam nach-
in diesem besonders kontrovers diskutierten Bereich des denken.
deutschen Einigungsprozesses nun eine notwendige Wenig befriedigend ist auch, dass Opfer, die aufgrund
Klärung herbeigeführt – insofern haben Sie mit dem, was der Verfolgung dauerhafte Gesundheitsschäden erlitten
Sie in Ihrer Begründung gesagt haben, vollkommen Recht – haben – auch das ist in Ihrem Antrag erwähnt –, kaum eine
und logischerweise die Bundesregierung zur Umsetzung Chance haben, dass diese anerkannt werden. 95 Prozent
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10649
Jürgen Türk

(A) dieser Anträge werden abgeschmettert, weil der Nachweis Was aber nicht in Ordnung ist: Damit wecken Sie Hoff- (C)
haftbedingter Krankheit natürlich äußerst schwierig ist. nungen bei Menschen, die möglicherweise Anspruch auf
Welcher DDR-Haftarzt hat schon als Grund für eine eine solche Ehrenrente hätten.
Krankheit „Misshandlung“ angegeben? Deshalb sind wir, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
so meine ich, den Opfern Beweiserleichterungen schul- und bei der SPD)
dig.
Auf diese Weise kann man mit dem Thema nicht umge-
Ich plädiere dafür, den Gesetzentwurf der CDU/CSU hen. Sie wissen ja auch aus Ihrer eigenen Regierungszeit,
um diesen Punkt zu ergänzen. Er würde dann unsere un- dass das entsprechende Geld nicht vorhanden ist. Es geht
eingeschränkte Zustimmung finden. Zustimmen könnten nicht nur um die 1 000 DM, sondern es geht in der Summe –
wir auch dem PDS-Vorschlag, dass die Gewährung der ich habe es zusammengerechnet – um Milliardenbeträge,
Entschädigung von Amts wegen vorzunehmen ist. die angesichts der ungeheuren anderen Lasten und Zah-
Aber vielleicht schaffen wir es – das würde eine große lungen, die schon geleistet werden, nicht zur Verfügung
Ausnahme darstellen –, im Ausschuss einen gemeinsa- stehen.
men Antrag zu formulieren. Darüber würden wir uns sehr Wir waren bestrebt – wir haben das schon damals an-
freuen. gemahnt; seinerzeit gehörten Sie noch den Bündnisgrü-
Vielen Dank. nen an –,

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU (Günter Nooke [CDU/CSU]: Ich war nie bei
den Grünen!)
sowie bei Abgeordneten der PDS)
dass wenigstens Gerechtigkeit geschaffen wird, dass Ge-
rechtigkeit für die Opfer in West und Ost geschaffen
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat der Kollege wird. Das haben wir gemacht. Das haben wir Ende des
Hans-Christian Ströbele vom Bündnis 90/Die Grünen das letzten Jahres auf den Weg gebracht. Wir haben verab-
Wort. schiedet, dass der Tag Untersuchungshaft oder Strafhaft
im Westen genauso viel gilt und mindestens genauso viel
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- an Entschädigung bringt wie im Osten. Nicht einmal das
NEN): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kol- haben Sie damals hinbekommen. Deshalb können Sie
legen! Kollege Nooke, Sie wollen den Opfern der DDR- jetzt unmöglich einen solchen Vorschlag unterbreiten.
Diktatur eine monatliche Rente von 1 000 DM geben, Es gibt auch noch einen inhaltlichen Grund. Sie kön-
längstens zehn Jahre. Sie wollen außerdem Nachzahlun- nen doch nicht jemanden, der berufliche Nachteile hatte,
gen für Kapitalentschädigungen in Höhe von insgesamt mit jemandem gleichsetzen, der vielleicht fünf Jahre im
(B) 800 Millionen DM zahlen. Sie haben in Ihrem Gesetzent- Gefängnis gewesen ist. Das tun Sie aber in Ihrem Gesetz- (D)
wurf ehrlicherweise die Zahlen genannt: 1,5 Milliarden entwurf. Sie können doch nicht demjenigen, der fünf
DM würden die Renten kosten. Auf zehn Jahre gesehen Jahre im Gefängnis gewesen ist, 1 000 DM pro Monat ge-
sind das Kosten in Höhe von 15 Milliarden DM. Vielleicht währen und demjenigen, der zwei Wochen im Gefängnis
liegt der Betrag ein wenig niedriger, weil der eine oder die gewesen ist oder berufliche Nachteile hatte, ebenfalls.
andere Betroffene inzwischen gestorben ist. Das wäre doch für diejenigen, denen gegenüber Sie das
Entsprechende Überlegungen sind schon häufiger im rechtfertigen müssten, eine ungeheuer ungerechte Lö-
Bundestag und in den Ausschüssen angestellt worden. sung. Deshalb ist auch immanent gedacht die Vorstellung,
Diese sind vom Grundansatz her auch richtig. Das ge- die Sie hier entwickelt haben, nicht richtig. Wir wehren
schehene Unrecht kann man zwar nicht wieder gutma- uns dagegen, weil damit nicht erfüllbare Ansprüche ge-
chen, aber man kann den Opfern für die erlittenen Leiden weckt werden. Diese Attitüde sollten Sie als ehemaliger
Geld zahlen. Das ist grundsätzlich richtig. Als die Damen Bündnisgrüner – wir mussten das auch tun – endlich ein-
und Herren von der CDU/CSU diese Überlegungen un- mal ablegen.
terschrieben haben: Was haben Ihre Kollegen Ihnen ge- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Ich war nie
sagt, warum in den acht Jahren, in denen das Geld Grüner!)
vorhanden war und in denen sie die Macht im Parlament
hatten, entsprechende Regelungen zu verabschieden, Ich komme nun zu den Vorstellungen der PDS. Ich
diese Überlegungen nicht umgesetzt wurden? Die Idee verstehe – ich finde es auch grundsätzlich richtig –, dass
war ja nicht neu; sie gab es schon damals. man zum Jahrestag am 3. Oktober, – so haben Sie das
auch gemeint – ein auch materielles Zeichen setzen will.
Warum sind entsprechende Maßnahmen damals nicht Die Zeichen, die Sie setzen wollen, sind dafür aber unge-
eingeleitet worden? Es gibt auf diese Frage nur eine ein- eignet. Wir können uns gern überlegen, ob uns noch etwas
zige Antwort: Sie wollten das damals nicht, weil die Pri- anderes einfällt. Das ist ja noch ein paar Monate hin. Aber
oritätensetzung, die Sie jetzt anmahnen – jetzt sagen Sie, sozusagen aufgedrängte Nachzahlungen zu fordern, zu
man müsse andere Vorhaben im Augenblick sein lassen, fordern, die Leute erst noch zu suchen, um ihnen Nach-
damit man diese 15 Milliarden DM plus 800 Millio- zahlungen zu gewähren, obwohl sie gar keinen Antrag
nen DM zur Verfügung stellen kann –, damals eine andere stellen, halte ich für den falschen Weg. Es ist schon darauf
war. Warum wollen Sie sie jetzt? – Weil Sie genau wissen, hingewiesen worden, dass das einen ganz erheblichen
dass Sie dafür keine Verantwortung tragen. Sie können bürokratischen Aufwand verursacht, der viel Geld kostet.
entsprechende Vorschläge machen, aber nicht be- Dieses Geld sollte man lieber den Opfern direkt zukom-
schließen. Damit können Sie in der Öffentlichkeit für sich men lassen. Das heißt, man könnte sich überlegen, eine
Reklame machen. Kampagne zu machen, öffentliche Hinweise zu geben,
10650 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

Hans-Christian Ströbele

(A) damit diejenigen, die anspruchsberechtigt sind, Anträge Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – (C)
stellen. Man könnte vielleicht auch die Vertreterverbände Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung
finanziell in die Lage versetzen, wirksamer zu verbreiten, so beschlossen.
dass Anträge gestellt werden können. Das fände ich rich-
tig und vernünftig. Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Hinsichtlich der Leute, die aufgrund einer abgebroche- Erste Beratung des von den Abgeordneten
nen schulischen Ausbildung Nachteile haben, halte ich Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer Funke, Jörg
das für problematisch, weil ein hypothetischer Lebenslauf van Essen, weiteren Abgeordneten und der Frak-
berechnet werden müsste. Das ist mit zu vielen Unwäg- tion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
barkeiten verbunden. Gesetzes zur Reform der Juristenausbildung
Für die Opfer, die für gesundheitliche Haftschäden (JurAusbReformG)
eine Entschädigung haben wollen, müssen nachweisen, – Drucksache 14/2666 –
dass aufgrund der Haft eine Gesundheitsschädigung ent- Überweisungsvorschlag:
standen ist. Das ist ungeheuer schwierig, darin gebe ich Rechtsausschuss (f)
Ihnen Recht. Dieses Problem sind wir aber angegangen. Innenausschuss
Es ist zugesagt, dass – das halte ich für wesentlich wirk- Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
samer – alle alten Entscheidungen noch einmal nach den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
neuen Vorschriften überprüft werden. Das wird auch ge- abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
tan. Der Deutsche Bundestag sollte aufpassen, dass das
auch tatsächlich umgesetzt wird. Er sollte seine Kontroll- Die Aussprache gestaltet sich dadurch, dass die Reden
funktion ausüben. Dann ist diesen Opfern mehr geholfen. zu Protokoll gegeben worden sind – ein Jammer; es steht
Für das Setzen von Signalen bin ich immer gern zu so viel Schönes drin.1) Aber ich schließe die Aussprache.
haben. Das wären aber nicht die richtigen, praktikablen Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Zeichen, die man zum 3. Oktober zu setzen hat. Drucksache 14/2666 an die in der Tagesordnung aufge-
Seien wir realistisch! Versuchen wir nicht, ungerecht- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
fertigte Forderungen zu erheben! In den Beratungen soll- verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
ten Sie von diesen Vorschlägen Abstand nehmen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nung.
und bei der SPD) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
(B) tages auf Mittwoch, den 5. Juli 2000, 13 Uhr, ein. (D)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe die Aus-
Ich wünsche Ihnen allen ein schönes Wochenende.
sprache.
Die Sitzung ist geschlossen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/2928, 14/3665 und 14/3670 an die in der (Schluss: 14.49 Uhr)

1) Anlage 3
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10651

(A) Anlagen zum Stenographischen Bericht (C)


Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Altmaier, Peter CDU/CSU 30.06.2000 Hedrich, Klaus-Jürgen CDU/CSU 30.06.2000


Becker-Inglau, Ingrid SPD 30.06.2000 Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 30.06.2000
DIE GRÜNEN
Behrendt, Wolfgang SPD 30.06.2000*
Hintze, Peter CDU/CSU 30.06.2000
Bernhardt, Otto CDU/CSU 30.06.2000
Dr. Höll, Barbara PDS 30.06.2000
Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 30.06.2000
Hörster, Joachim CDU/CSU 30.06.2000*
Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 30.06.2000
Dr. Hornhues, Karl-Heinz CDU/CSU 30.06.2000*
Brudlewsky, Monika CDU/CSU 30.06.2000
Hornung, Siegfried CDU/CSU 30.06.2000*
Brüderle, Rainer F.D.P. 30.06.2000
Jünger, Sabine PDS 30.06.2000
Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 30.06.2000*
Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 30.06.2000
Klaus
Kampeter, Steffen CDU/CSU 30.06.2000
Buwitt, Dankward CDU/CSU 30.06.2000*
Dr. Kolb, Heinrich F.D.P. 30.06.2000
Carstens (Emstek), CDU/CSU 30.06.2000 Leonhard
Manfred
Dr. Krogmann, Martina CDU/CSU 30.06.2000
Deß, Albert CDU/CSU 30.06.2000
Lintner, Eduard CDU/CSU 30.06.2000*
(B) Doss, Hansjürgen CDU/CSU 30.06.2000 (D)
Lippmann, Heidi PDS 30.06.2000
Eichhorn, Maria CDU/CSU 30.06.2000
Lüth, Heidemarie PDS 30.06.2000
Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 30.06.2000
Joseph DIE GRÜNEN Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 30.06.2000*
Erich
Follak, Iris SPD 30.06.2000
Marquardt, Angela PDS 30.06.2000
Friedhoff, Paul K. F.D.P. 30.06.2000
Prof. Dr. Meyer (Ulm), SPD 30.06.2000
Friedrich (Bayreuth), F.D.P. 30.06.2000 Jürgen
Horst
Michels, Meinolf CDU/CSU 30.06.2000
Friedrich (Altenburg), SPD 30.06.2000
Mosdorf, Siegmar SPD 30.06.2000
Peter
Neumann (Gotha), SPD 30.06.2000*
Fromme, Jochen-Konrad CDU/CSU 30.06.2000
Gerhard
Dr. Fuchs, Ruth PDS 30.06.2000 Dr. Pflüger, Friedbert CDU/CSU 30.06.2000
Gebhardt, Fred PDS 30.06.2000 Ronsöhr, CDU/CSU 30.06.2000
Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 30.06.2000 Heinrich-Wilhelm

Haack (Extertal), Karl SPD 30.06.2000* Dr. Schäfer, Hansjörg SPD 30.06.2000
Hermann Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 30.06.2000
Freiherr von Hammerstein, CDU/CSU 30.06.2000 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 30.06.2000
Carl-Detlev Hans Peter
Hauser (Rednitz- CDU/CSU 30.06.2000 von Schmude, Michael CDU/CSU 30.06.2000*
hembach), Hansgeorg
Feiherr von CDU/CSU 30.06.2000
Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 30.06.2000 Schorlemer, Reinhard
10652 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

(A) Schröder, Gerhard SPD 30.06.2000 Dr. Peter Eckardt Sabine Kaspereit (C)
Sebastian Edathy Susanne Kastner
Schüßler, Gerhard F.D.P. 30.06.2000 Ludwig Eich Hans-Peter Kemper
Marga Elser Klaus Kirschner
Dr. Solms, Hermann F.D.P. 30.06.2000 Peter Enders Marianne Klappert
Otto Gernot Erler Siegrun Klemmer
Petra Ernstberger Hans-Ulrich Klose
Sothmann, Bärbel CDU/CSU 30.06.2000 Annette Faße Walter Kolbow
Lothar Fischer (Homburg) Fritz Rudolf Körper
Steen, Antje-Marie SPD 30.06 .2000 Gabriele Fograscher Karin Kortmann
Norbert Formanski Anette Kramme
Steinbach, Erika CDU/CSU 30.06.2000 Nicolette Kressl
Rainer Fornahl
Uldall, Gunnar CDU/CSU 30.06.2000 Hans Forster Volker Kröning
Dagmar Freitag Angelika Krüger-Leißner
Wettig-Danielmeier, SPD 30.06.2000 Lilo Friedrich (Mettmann) Horst Kubatschka
Inge Harald Friese Ernst Küchler
Anke Fuchs (Köln) Helga Kühn-Mengel
Wieczorek-Zeul, SPD 30.06.2000 Arne Fuhrmann Ute Kumpf
Heidemarie Prof. Monika Ganseforth Konrad Kunick
Iris Gleicke Dr. Uwe Küster
Wiese (Hannover), SPD 30.06.2000 Günter Gloser Werner Labsch
Heino Uwe Göllner Christine Lambrecht
Renate Gradistanac Brigitte Lange
Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 30.06.2000 Günter Graf (Friesoythe) Christian Lange (Backnang)
Angelika Graf (Rosenheim) Detlev von Larcher
Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 30.06.2000* Dieter Grasedieck Christine Lehder
Monika Griefahn Waltraud Lehn
Dr. Wolf, Winfried PDS 30.06.2000 Kerstin Griese Robert Leidinger
Achim Großmann Klaus Lennartz
Zierer, Benno CDU/CSU 30.06.2000* Wolfgang Grotthaus Dr. Elke Leonhard
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-
Karl Hermann Haack Eckhart Lewering
lung des Europarates (Extertal) Götz-Peter Lohmann
Hans-Joachim Hacker (Neubrandenburg)
Klaus Hagemann Christa Lörcher
Manfred Hampel Erika Lotz
(B) Anlage 2 Christel Hanewinckel Dr. Christine Lucyga (D)
Alfred Hartenbach Dieter Maaß (Herne)
Namensverzeichnis Anke Hartnagel Winfried Mante
Klaus Hasenfratz Dirk Manzewski
der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die
Nina Hauer Tobias Marhold
an der Wahl eines Mitgliedes des Parlamentari- Hubertus Heil Lothar Mark
schen Kontrollgremiums gemäß §§ 4 und 5 des Reinhold Hemker Ulrike Mascher
Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle Frank Hempel Christoph Matschie
nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes Rolf Hempelmann Heide Mattischeck
(Kontrollgremium – PKGrG) teilgenommen ha- Dr. Barbara Hendricks Markus Meckel
ben (Tagesordnungspunkt 19) Gustav Herzog Ulrike Mehl
Monika Heubaum Ulrike Merten
SPD Willi Brase Reinhold Hiller (Lübeck) Angelika Mertens
Dr. Eberhard Brecht Stephan Hilsberg Prof. Dr. Jürgen Meyer
Brigitte Adler Gerd Höfer (Ulm)
Bernhard Brinkmann
Gerd Andres Jelena Hoffmann (Chemnitz) Ursula Mogg
Ingrid Arndt-Brauer (Hildesheim)
Rainer Brinkmann (Detmold) Walter Hoffmann Christoph Moosbauer
Rainer Arnold (Darmstadt) Siegmar Mosdorf
Hermann Bachmaier Hans-Günter Bruckmann
Iris Hoffmann (Wismar) Michael Müller (Düsseldorf)
Ernst Bahr Edelgard Bulmahn
Frank Hofmann (Volkach) Jutta Müller (Völklingen)
Doris Barnett Ursula Burchardt
Ingrid Holzhüter Christian Müller (Zittau)
Dr. Hans Peter Bartels Dr. Michael Bürsch Franz Müntefering
Eike Hovermann
Eckhardt Barthel (Berlin) Hans Martin Bury Christel Humme Andrea Nahles
Klaus Barthel (Starnberg) Hans Büttner (Ingolstadt) Lothar Ibrügger Volker Neumann (Bramsche)
Ingrid Becker-Inglau Marion Caspers-Merk Barbara Imhof Gerhard Neumann (Gotha)
Wolfgang Behrendt Wolf-Michael Catenhusen Brunhilde Irber Dr. Edith Niehuis
Dr. Axel Berg Dr. Peter Danckert Gabriele Iwersen Dr. Rolf Niese
Friedhelm Julius Beucher Dr. Herta Däubler-Gmelin Renate Jäger Dietmar Nietan
Petra Bierwirth Christel Deichmann Jann-Peter Janssen Günter Oesinghaus
Rudolf Bindig Karl Diller Ilse Janz Eckhard Ohl
Lothar Binding (Heidelberg) Peter Dreßen Prof. Dr. Uwe Jens Leyla Onur
Kurt Bodewig Rudolf Dreßler Volker Jung (Düsseldorf) Manfred Opel
Klaus Brandner Detlef Dzembritzki Johannes Kahrs Holger Ortel
Anni Brandt-Elsweier Dieter Dzewas Ulrich Kasparick Adolf Ostertag
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10653

(A) Kurt Palis Rita Streb-Hesse Friedrich Bohl Norbert Königshofen (C)
Albrecht Papenroth Reinhold Strobl (Amberg) Sylvia Bonitz Eva-Maria Kors
Prof. Dr. Martin Pfaff Dr. Peter Struck Jochen Borchert Hartmut Koschyk
Georg Pfannenstein Joachim Stünker Wolfgang Börnsen Thomas Kossendey
Johannes Pflug Joachim Tappe (Bönstrup) Rudolf Kraus
Prof. Dr. Eckhart Pick Jörg Tauss Wolfgang Bosbach Dr.-Ing. Paul Krüger
Joachim Poß Jella Teuchner Dr. Wolfgang Bötsch Karl Lamers
Karin Rehbock-Zureich Dr. Gerald Thalheim Klaus Brähmig Dr. Karl A. Lamers
Dr. Carola Reimann Wolfgang Thierse Dr. Ralf Brauksiepe (Heidelberg)
Margot von Renesse Franz Thönnes Paul Breuer Dr. Norbert Lammert
Renate Rennebach Uta Titze-Stecher Georg Brunnhuber Helmut Lamp
Bernd Reuter Adelheid Tröscher Hartmut Büttner Dr. Paul Laufs
Reinhold Robbe Hans-Eberhard Urbaniak (Schönebeck) Karl-Josef Laumann
Gudrun Roos Rüdiger Veit Cajus Caesar Vera Lengsfeld
René Röspel Simone Violka Manfred Carstens (Emstek) Peter Letzgus
Dr. Ernst Dieter Rossmann Ute Vogt (Pforzheim) Leo Dautzenberg Ursula Lietz
Michael Roth (Heringen) Hans Georg Wagner Wolfgang Dehnel Walter Link (Diepholz)
Birgit Roth (Speyer) Hedi Wegener Hubert Deittert Eduard Lintner
Gerhard Rübenkönig Dr. Konstanze Wegner Renate Diemers Dr. Klaus W. Lippold
Marlene Rupprecht Wolfgang Weiermann Thomas Dörflinger (Offenbach)
Thomas Sauer Reinhard Weis (Stendal) Marie-Luise Dött Dr. Manfred Lischewski
Dr. Hansjörg Schäfer Matthias Weisheit Rainer Eppelmann Dr. Michael Luther
Gudrun Schaich-Walch Gunter Weißgerber Ilse Falk Erwin Marschewski
Rudolf Scharping Gert Weisskirchen Dr. Hans Georg Faust (Recklinghausen)
Bernd Scheelen (Wiesloch) Albrecht Feibel Dr. Martin Mayer
Dr. Hermann Scheer Dr. Ernst Ulrich von Ingrid Fischbach (Siegertsbrunn)
Siegfried Scheffler Weizsäcker Axel E. Fischer Wolfgang Meckelburg
Horst Schild Jochen Welt (Karlsruhe-Land) Dr. Michael Meister
Otto Schily Dr. Rainer Wend Dr. Gerhard Friedrich Dr. Angela Merkel
Dieter Schloten Hildegard Wester (Erlangen) Friedrich Merz
Horst Schmidbauer Lydia Westrich Dr. Hans-Peter Friedrich Hans Michelbach
(Nürnberg) Inge Wettig-Danielmeier (Hof) Dr. Gerd Müller
Ulla Schmidt (Aachen) Dr. Margrit Wetzel Erich G. Fritz Bernward Müller (Jena)
Dagmar Schmidt (Meschede) Dr. Norbert Wieczorek Hans-Joachim Fuchtel Elmar Müller (Kirchheim)
Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Jürgen Wieczorek (Böhlen) Dr. Jürgen Gehb Bernd Neumann (Bremen)
(B) Regina Schmidt-Zadel Helmut Wieczorek Norbert Geis Günter Nooke (D)
Heinz Schmitt (Berg) (Duisburg) Dr. Heiner Geißler Franz Obermeier
Carsten Schneider Heidemarie Wieczorek-Zeul Georg Girisch Friedhelm Ost
Dr. Emil Schnell Dieter Wiefelspütz Michael Glos Eduard Oswald
Walter Schöler Heino Wiese (Hannover) Peter Götz Norbert Otto (Erfurt)
Olaf Scholz Klaus Wiesehügel Hermann Gröhe Dr. Peter Paziorek
Karsten Schönfeld Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Manfred Grund Anton Pfeifer
Fritz Schösser Engelbert Wistuba Horst Günther (Duisburg) Beatrix Philipp
Ottmar Schreiner Barbara Wittig Gottfried Haschke Ronald Pofalla
Gisela Schröter Dr. Wolfgang Wodarg (Großhennersdorf ) Marlies Pretzlaff
Dr. Mathias Schubert Verena Wohlleben Gerda Hasselfeldt Hans Raidel
Richard Schuhmann Hanna Wolf (München) Norbert Hauser (Bonn) Dr. Peter Ramsauer
(Delitzsch) Waltraud Wolff (Zielitz) Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Rauber
Brigitte Schulte (Hameln) Heidemarie Wright Helmut Heiderich Christa Reichard (Dresden)
Reinhard Schultz Uta Zapf Ursula Heinen Katherina Reiche
(Everswinkel) Dr. Christoph Zöpel Siegfried Helias Erika Reinhardt
Volkmar Schultz (Köln) Peter Zumkley Hans Jochen Henke Hans-Peter Repnik
Ewald Schurer Ernst Hinsken Klaus Riegert
Dr. R. Werner Schuster CDU/CSU Klaus Hofbauer Dr. Heinz Riesenhuber
Dietmar Schütz (Oldenburg) Martin Hohmann Franz Romer
Dr. Angelica Schwall-Düren Ulrich Adam Klaus Holetschek Hannelore Rönsch
Rolf Schwanitz Ilse Aigner Josef Hollerith (Wiesbaden)
Bodo Seidenthal Dietrich Austermann Hubert Hüppe Dr. Klaus Rose
Erika Simm Norbert Barthle Susanne Jaffke Kurt J. Rossmanith
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Wolf Bauer Georg Janovsky Adolf Roth (Gießen)
Dr. Cornelie Günter Baumann Dr.-Ing. Rainer Jork Norbert Röttgen
Sonntag-Wolgast Brigitte Baumeister Bartholomäus Kalb Dr. Christian Ruck
Wieland Sorge Meinrad Belle Dr.-Ing. Dietmar Kansy Volker Rühe
Wolfgang Spanier Dr. Sabine Bergmann-Pohl Irmgard Karwatzki Anita Schäfer
Dr. Margrit Spielmann Hans-Dirk Bierling Volker Kauder Heinz Schemken
Jörg-Otto Spiller Dr. Joseph-Theodor Blank Eckart von Klaeden Karl-Heinz Scherhag
Dr. Ditmar Staffelt Renate Blank Ulrich Klinkert Gerhard Scheu
Ludwig Stiegler Dr. Heribert Blens Dr. Helmut Kohl Norbert Schindler
Rolf Stöckel Dr. Norbert Blüm Manfred Kolbe Bernd Schmidbauer
10654 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

(A) Christian Schmidt (Fürth) Heinz Wiese (Ehingen) Winfried Nachtwei Ina Lenke (C)
Dr.-Ing. Joachim Schmidt Hans-Otto Wilhelm (Mainz) Christa Nickels Sabine Leutheusser-
(Halsbrücke) Klaus-Peter Willsch Cem Özdemir Schnarrenberger
Andreas Schmidt (Mülheim) Bernd Wilz Simone Probst Dirk Niebel
Birgit Schnieber-Jastram Matthias Wissmann Claudia Roth (Augsburg) Günther Friedrich Nolting
Dr. Andreas Schockenhoff Werner Wittlich Christine Scheel Hans-Joachim Otto
Dr. Rupert Scholz Aribert Wolf Irmingard Schewe-Gerigk (Frankfurt)
Dr. Erika Schuchardt Elke Wülfing Rezzo Schlauch Detlef Parr
Wolfgang Schulhoff Wolfgang Zeitlmann Albert Schmidt (Hitzhofen) Cornelia Pieper
Diethard Schütze (Berlin) Wolfgang Zöller Werner Schulz (Leipzig) Dr. Günter Rexrodt
Clemens Schwalbe Christian Simmert Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Dr. Christian Schwarz- BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Christian Sterzing Dr. Irmgard Schwaetzer
Schilling NEN Hans-Christian Ströbele Marita Sehn
Wilhelm-Josef Sebastian Jürgen Trittin Dr. Max Stadler
Horst Seehofer Gila Altmann (Aurich) Dr. Ludger Volmer Carl-Ludwig Thiele
Heinz Seiffert Marieluise Beck (Bremen) Sylvia Voß Dr. Dieter Thomae
Rudolf Seiters Volker Beck (Köln) Helmut Wilhelm (Amberg) Dr. Guido Westerwelle
Bernd Siebert Angelika Beer Margareta Wolf (Frankfurt)
Werner Siemann Matthias Berninger PDS
Johannes Singhammer Grietje Bettin F.D.P. Dr. Dietmar Bartsch
Carl-Dieter Spranger Annelie Buntenbach
Ina Albowitz Maritta Böttcher
Wolfgang Steiger Ekin Deligöz
Hildebrecht Braun Eva-Maria Bulling-Schröter
Dr. Wolfgang Freiherr von Dr. Thea Dückert Roland Claus
(Augsburg)
Stetten Franziska Eichstädt-Bohlig Heidemarie Ehlert
Ernst Burgbacher
Andreas Storm Dr. Uschi Eid Dr. Heinrich Fink
Jörg van Essen
Dorothea Störr-Ritter Hans-Josef Fell Ulrike Flach Dr. Klaus Grehn
Max Straubinger Andrea Fischer (Berlin) Gisela Frick Dr. Gregor Gysi
Matthäus Strebl Katrin Dagmar Göring- Rainer Funke Uwe Hiksch
Thomas Strobl (Heilbronn) Eckardt Dr. Wolfgang Gerhardt Ulla Jelpke
Michael Stübgen Rita Grießhaber Hans-Michael Goldmann Gerhard Jüttemann
Dr. Rita Süssmuth Antje Hermenau Joachim Günther (Plauen) Dr. Evelyn Kenzler
Dr. Susanne Tiemann Ulrike Höfken Dr. Karlheinz Guttmacher Rolf Kutzmutz
Edeltraut Töpfer Michaele Hustedt Klaus Haupt Ursula Lötzer
Dr. Hans-Peter Uhl Monika Knoche Ulrich Heinrich Dr. Christa Luft
Arnold Vaatz Dr. Angelika Köster-Loßack Birgit Homburger Kersten Naumann
(B) Angelika Volquartz Steffi Lemke Dr. Werner Hoyer Rosel Neuhäuser (D)
Dr. Theodor Waigel Dr. Helmut Lippelt Ulrich Irmer Petra Pau
Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Reinhard Loske Dr. Klaus Kinkel Dr. Uwe-Jens Rössel
Gerald Weiß (Groß-Gerau) Oswald Metzger Gudrun Kopp Christina Schenk
Annette Widmann-Mauz Kerstin Müller (Köln) Jürgen Koppelin Dr. Ilja Seifert

Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen
des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU

Abgeordnete

Bühler, Klaus, CDU/CSU Buwitt, Dankward CDU/CSU Hornhues, Dr., Karl-Heinz, CDU/CSU
Hornung, Siegfried CDU/CSU Hörster, Joachim CDU/CSU Maaß (Wilhelmshaven), Erich, CDU/CSU
Michels, Meinolf, CDU/CSU von Schmude, Michael CDU/CSU Zierer, Benno, CDU/CSU

Anlage 3 die nunmehr erneut geführte Debatte dadurch von frühe-


ren unterscheiden soll, dass sie zu Ergebnissen führt, ist
Zu Protokoll gegebene Reden es unerlässlich, drei Fragen klar zu beantworten: Erstens.
Was sind die Reformgründe, also die Missstände in der
Zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Ju- gegenwärtigen Ausbildung? Zweitens. Was sind die Re-
ristenausbildung – JurAusbReformG (Tagesord- formziele? Drittens. Was sind die geeigneten Instru-
nungspunkt 24) mente?
Norbert Röttgen (CDU/CSU): Die Juristenausbil- Ich komme zum ersten Punkt, den Reformgründen.
dung in ihrer heutigen Grundkonzeption ist 200 Jahre alt. Vier Probleme belasten die gegenwärtige Juristenausbil-
Seither wird über ihre Reform diskutiert, ohne dass sich dung in unserem Land. Als Erstes ist zu nennen, dass
bedeutende Änderungen wirklich haben durchsetzen kön- es sich bei dem gegenwärtigen Jurastudium um ein Mas-
nen. Dennoch besteht Verbesserungsbedarf. Wenn sich senstudium mit einem inakzeptablen Missverhältnis
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10655

(A) zwischen Lehrenden und Lernenden handelt. Dieses Ver- werden. Dies bedeutet etwa, dass wir zumindest bereit (C)
hältnis liegt bei 1:120 und muss zu einer abnehmenden sein müssen, darüber zu diskutieren, ob das Strafrecht, das
Qualität der Ausbildung führen. in der Berufspraxis relativ weniger Juristen eine Rolle
spielt, als a priori wichtiger angesehen werden muss als
Das zweite Problem liegt darin, dass die Studenten es
etwa das alle Lebens- und Rechtsbereiche durchdringende
im Studium und in den Examina mit einer Stofffülle zu tun
Europarecht.
haben, die praktisch kaum noch zu bewältigen ist. Tech-
nisierung, Digitalisierung und Internationalisierung ma- Schließlich ein weiterer Reformvorschlag: Die Uni-
chen nicht nur die Wirklichkeit komplex, sondern führen versitätsprüfung sollte als berufsqualifizierender Ab-
auch zu einem enormen Umfang und einer enormen Kom- schluss mit Ausnahme der Rechtspflegeberufe konzipiert
plexität der juristischen Stofffülle. Zusammen mit der feh- sein. In den anderen Fällen fehlt dem Referendariat als
lenden Verzahnung von Studien- und Prüfungsinhalten staatlich finanzierte Ausbildung nämlich nicht nur die
führt diese Stofffülle zu einer den wissenschaftlichen An- Rechtfertigung, sondern in weiten Teilen die Eignung.
spruch des Studiums aushöhlenden Examensfixierung Das Rechtspflegereferendariat kann dabei kürzer sein als
seitens der Studenten. das heutige Referendariat und würde auf diese Weise auch
Das dritte Problem der gegenwärtigen juristischen einen Beitrag zur notwendigen Verkürzung der juristi-
Ausbildung besteht darin, dass sie am Bedarf des Arbeits- schen Ausbildung leisten.
marktes vorbeigeht. Leidtragende der weit über den Be- Insgesamt möchte ich für die CDU/CSU-Bundestags-
darf hinausgehenden Ausbildung ist insbesondere die An- fraktion feststellen: Auch wenn die Diskussion um die ju-
waltschaft. Drei von vier Absolventen werden Rechtsan- ristische Ausbildung alt ist und vielleicht niemals beendet
walt, viele, weil sie diesen Beruf ergreifen wollen, viel zu wird, müssen wir einen neuen, beherzten Reformversuch
viele mangels Alternative. unternehmen. Oberstes Ziel muss eine Verbesserung der
Der vierte gravierende Mangel der gegenwärtigen Aus- Qualität und der Konkurrenzfähigkeit der juristischen
bildung besteht darin, dass sie nach Art und Gesamtdauer Ausbildung sein. Dies wird nur auf der Grundlage eines
dazu führt, dass die internationale Konkurrenzfähigkeit offenen und sachlichen Dialoges innerhalb des Bundesta-
der deutschen Juristen abnimmt, obwohl sie wegen der In- ges und zwischen Bundestag und Bundesrat möglich sein.
ternationalisierung des Rechtsverkehrs immer wichtiger Die CDU/CSU-Fraktion wird hierzu konstruktive, kon-
wird. zeptionell gute und realistische Vorschläge einbringen.

Was sind angesichts dieser Missstände die Reformziele


und die zu ihrer Verwirklichung nötigen Reformschritte? Joachim Stünker (SPD): Bei allem sonstigen Streit
Die Ausbildung verbessern und nicht verbilligen ist mei- in der Rechtspolitik, in einem sind sich im Grunde alle
(B) nes Erachtens die oberste Maxime. Wer sich diesem Ziel Akteure einig: Ob Sie sich in der juristischen Berufspra- (D)
anschließt, muss im Hinblick auf das von der Justizminis- xis, im rechtswissenschaftlichen Bereich, bei den Studie-
terkonferenz mehrheitlich befürwortete Einphasen-Mo- renden oder unter Justizpolitikerinnen und Justizpoliti-
dell feststellen, dass es auf dem bisherigen Kostenniveau kern erkundigen, eine grundlegende Reform der Juristen-
ohne Qualitätseinbußen nicht realisierbar ist. Wer also das ausbildung wird von allen für dringend notwendig
Einphasen-Modell befürwortet und gleichzeitig sparen erachtet. Insofern rennen die Kolleginnen und Kollegen
möchte, greift die Qualität der juristischen Ausbildung an. von der F.D.P. mit ihrem Gesetzentwurf offene Türen ein:
Ein positives Reformziel besteht darin, das Studium an In diversen Arbeitsgruppen, Landesjustizministerien und
die Universität zurückzuholen. Im Zentrum steht dabei Universitätszirkeln wird intensiv an realisierbaren Kon-
die Einführung einer Universitätsprüfung als Studienab- zepten gearbeitet. Und auch die Regierungsfraktionen
schluss. Damit würde endlich die Verbindung geschaffen haben in der Koalitionsvereinbarung im Kapitel „Justiz-
zwischen universitärer Ausbildung und Prüfung. Univer- reform“ vereinbart – Zitat –: „Die Aus- und Fortbildung
sitätsprüfung heißt, dass diejenigen, die lehren, auch prü- der Juristinnen und Juristen werden wir unter Berück-
fen, und dass das, was gelehrt wurde, auch geprüft wird. sichtigung der Anforderungen einer modernisierten
Das Studium würde dadurch eine angemessene Aufwer- Rechtsordnung reformieren.“ Die Bundesjustizministerin
tung erfahren. Weiterhin ist eine Universitätsprüfung die hat ebenfalls öffentlich bekräftigt, dass die Reform der
unerlässliche Voraussetzung für effektive Zwischenprü- Juristenausbildung auf der rechtspolitischen Agenda der
fungen während des Studiums. Diese sind zwingend Bundesregierung stehe.
nötig, wenn das Problem der Massen nicht erst am Ende, Eine solche Reform ist auch bitter nötig: Juristische Fa-
sondern sinnvollerweise am Anfang der Ausbildung an- kultäten leiden seit Jahren an Überfüllung, darunter leidet
gegangen werden soll. Hierfür muss aber das Eigeninte- die Qualität der Ausbildung. Zurzeit studieren genauso
resse der Professoren begründet werden. viele junge Menschen Jura wie Juristen in den traditio-
Das juristische Studium bedarf weiterhin einer Er- nellen Berufen arbeiten. Starke Inanspruchnahme der Re-
neuerung auch im Hinblick auf die Studieninhalte. Nötig petitorien zeigt problematisches Auseinanderfallen von
ist eine neue Definition einerseits von Kernkompetenzen, Ausbildungsinhalten und Prüfungsanforderungen. Exa-
die jeder Jurist beherrschen muss und die die Grundlagen, menfixiertes Lernen, eingepauktes Einzelwissen statt
Strukturen und die Methodik des Rechts und der Rechts- übergreifendes Verständnis; Anforderungen durch Eu-
anwendung betreffen, sowie von Spezialkompetenzen, ropäisierung des Rechts; Referendariat bisher zu staats-
die für einzelne Rechtsgebiete Detailwissen beinhalten. und justizorientiert, obwohl überwiegend spätere Berufs-
Im Zusammenhang mit dieser Diskussion muss sicherlich tätigkeit in anderen Feldern, zum Beispiel Rechtsgestal-
auch über eine Modernisierung der Studieninhalte geredet tung fehlt; unzureichende Vorbereitung auf die juristische
10656 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

(A) Praxis. Die Berufssituation erfordert erweitere Fähigkei- Insbesondere für den wichtigen Bereich des Universitäts- (C)
ten: betriebswirtschaftliche Kenntnisse, soziale Kompe- studiums sind bundesgesetzlich allenfalls Rahmensetzun-
tenzen, Teamfähigkeit. Die hohe Misserfolgsquote im gen unter anderem über das deutsche Richtergesetz mög-
Examen nach Jahren der Ausbildung ist Auszubildenden lich. Wir unterstützen deshalb die Bemühungen der Jus-
gegenüber nicht verantwortbar. Wartezeiten im Referen- tizministerkonferenz und sind zuversichtlich, dass es dort
dariat von bis zu weit über 12 Monaten sind jungen Men- in nächster Zeit – eventuell schon im Rahmen der Herbst-
schen nicht zumutbar und volkswirtschaftlich unverant- Konferenz – zu einer endgültigen Einigung kommen
wortlich. Wie gesagt, offene Türen also! wird. Auf der Grundlage einer solchen Einigung sollte
dann ein zwischen Bund und Ländern abgestimmter Ge-
Der von der F.D.P.-Fraktion mit dem vorliegenden Ge- setzgebungsprozess erfolgen.
setzentwurf eingeschlagene Weg ist allerdings kein taug-
liches Mittel zur Unterstützung dieses Reformprozesses. Um keine Missverständnisse entstehen zu lassen: Im
Die Initiierung eines Bundesgesetzes zum jetzigen Zeit- Rahmen der von uns angestrebtem großen Justizreform
punkt wirkt den Einigungsbestrebungen im Rahmen der kommt insbesondere auch der Juristenausbildung eine
Justizministerkonferenz des Bundes und der Länder ent- große Bedeutung zu. Die grundlegende Reform sollte des-
gegen und ist insofern kontraproduktiv. halb meines Erachtens noch in dieser Legislaturperiode
legislativ zum Abschluss gebracht werden. Sollte sich
Wie Sie wissen, hat es hier in den letzten Jahren eine herausstellen, dass es im Rahmen der Justizministerkon-
erstaunliche Entwicklung gegeben. Nach dem Appell des ferenz nicht zur Einigung kommen kann, wird eine Ge-
so genannten Ladenburger Kreises, einer Gruppe von setzesinitiative in diesem Hohen Hause unerlässlich sein.
Hochschullehrern um den ehemaligen Bundesverfas- Zum jetzigen Zeitpunkt aber sehen wir noch gute Chan-
sungsrichter Professor Dr. Bockenförde, zu einer grund- cen für eine Einigung und lehnen daher ein bundesge-
legenden Reform der juristischen Ausbildung im Jahr setzliches Vorpreschen ab.
1997 ist das Thema Juristenausbildung endlich wieder auf
die rechtspolitische Agenda gesetzt worden. Am 5. No- Hinzu kommt, dass der hier vorgelegte Gesetzentwurf
vember 1998 haben sich die Justizministerinnen und Jus- auch inhaltlich nicht auf der Höhe der Zeit ist und mir ehr-
tizminister auf ihrer Herbstkonferenz nach intensiver Dis- lich gesagt auch nicht besonders durchdacht erscheint. Ich
kussion mit breiter Mehrheit im Grundsatz für eine ein- will die wesentlichen Kritikpunkte kurz umreißen:
phasige Ausbildungskonzeption nach dem Modell der Erstens. In der Fachdiskussion ist unstrittig, dass eine
praxisintegrierten universitären Juristenausbildung aus- grundlegende Reform der Juristenausbildung gut abge-
gesprochen. stimmt die Bereiche Universitätsstudium und Praxisaus-
Nach diesem Modell sollen die praktischen Ausbil- bildung umfassen muss. Nur so können die nötige Ver-
dungselemente in das Studium integriert und das Refe- besserung der Gesamtausbildung und die Verzahnung von
(B) Theorie und Praxis erreicht werden. Eine Reform, die sich (D)
rendariat sowie das zweite Staatsexamen abgeschafft wer-
den. Das Studium soll in Grund- und Vertiefungsstudium nicht beiden Ausbildungsteilen widmet, wird notwendig
mit Zwischenprüfung sowie einem einjährigen Praxis- Stückwerk bleiben. In dem Gesetzentwurf fehlt jedoch
block getrennt werden und direkt berufsqualifizierend der Bereich der zukünftigen Gestaltung des Universitäts-
sein. Gleichzeitig soll das Verhältnis zwischen Studieren- studiums völlig. Sie widmen sich ausschließlich der Ab-
den und Lehrenden deutlich verbessert werden, um ver- schaffung bzw. Umgestaltung des Referendariats und
mehrt in Seminaren und Kleingruppen ausbilden zu kön- greifen damit einfach zu kurz.
nen – eine echte Qualitätssteigerung also, zu der die Kul- Zweitens. Mit dem Entwurf verfolgt die F.D.P. die Ab-
tusministerkonferenz schon ihre Zustimmung erteilt hat. kehr von der Ausbildung zum Einheitsjuristen. Darin sehe
In den konkreten Berufen sollen die Absolventen dann ich einen schwerwiegenden Fehler. Das Modell des Ein-
in einer berufsspezifischen Einarbeitungsphase nach dem heitsjuristen bietet unbestreitbare Vorteile, um die uns
Prinzip von Traineeprogrammen in Verantwortung der je- viele Länder beneiden: So treten bei uns in weit geringe-
weiligen Arbeitgeber vorbereitet werden, allerdings ohne rem Maße zum Beispiel Entfremdung und Gegensätze
erneute Prüfung am Ende. Leitbild dieser Konzeption ist zwischen den juristischen Fachprofessionen auf als in an-
mit einer treffenden Formulierung des Ladenburger Ma- deren Ländern. Niemand wird gezwungen, sich für oder
nifestes „der rechtsgelehrte, allseits einarbeitungsfähige gegen eine bestimmte Berufssparte zu entscheiden, bevor
Jurist, der über juristische Urteilskraft verfügt“. er sie kennengelernt hat. Die große Bandbreite der Aus-
bildung bietet eine bessere berufliche Perspektive für
Diese Konzeption einer einphasigen praxisintegrierten Absolventinnen und Absolventen. Gerade im Zuge der
universitären Juristenausbildung ist am 10. November Europäisierung des Rechts wird eine gute juristische All-
1999 auf der Herbst-Justizministerkonferenz erneut be- gemeinausbildung immer wichtiger, da für jede Speziali-
stätigt worden. Gleichzeitig ist eine Arbeitsgruppe unter sierung ein Überblick über die gesamte Rechtsordnung
der Federführung Baden-Württembergs beauftragt wor- erforderlich ist. Außerdem garantiert das Modell des Ein-
den, das Modell weiterzuentwickeln und konkrete Ver- heitsjuristen jedermann ohne Rücksicht auf Einkommen,
handlungen mit der Innenministerkonferenz sowie den Stand oder persönliche Beziehungen den Erwerb einer
Wissenschafts- und Finanzressorts über die Umsetzung einheitlichen Zugangsberechtigung für jeden juristischen
zu führen. Beruf.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen Drittens. Sie halten zumindest für den Bereich von An-
begrüßen diesen Einigungsprozess ausdrücklich. Die Ju- waltschaft, Justiz und öffentlicher Verwaltung an einem
ristenausbildung ist zu wesentlichen Teilen Ländersache. zweistufigen Ausbildungsmodell fest. Damit stehen Sie in
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10657

(A) Widerspruch zu den Beschlüssen der Justizministerkonfe- dargelegt. Allerdings stellt der F.D.P.-Entwurf aus vielen (C)
renz und der überwiegenden Auffassung in der bundes- Gründen nicht die Lösung des Problems dar:
weiten Reformdiskussion. Es besteht inzwischen weitge-
hend Zustimmung zum Modell einer praxisintegrierten Erstens. Die Abschaffung des obligatorischen ersten
universitären einphasigen Juristenausbildung. Staatsexamens wird in der Realität dazu führen, dass die-
jenigen Absolventinnen und Absolventen ohne Staatsexa-
Viertens. Weiterhin sehe ich bei der vorgesehenen feh- men als Juristinnen und Juristen zweiter Klasse eingestuft
lenden gesetzlichen Konkretisierung des Umfangs der werden. Nach bisherigem Stand werden mindestens sie-
Ausbildungszeit bei einem Rechtsanwalt und deren Ver- ben Bundesländer die ausschließlich universitäre Prüfung
gütung die Gefahr des Fehlens einer ausreichenden Zahl nicht mitmachen.
von Ausbildungsplätzen bzw. der Vergabe von knappen
Plätzen nach sachfremden Kriterien. Wenn wir sehen, wie Die „Universitätsabschlussjuristinnen und -juristen“
sich die Situation im Bereich der Medizin bei Assistenz- werden sowohl bei der Vergabe der Ausbildungsplätze für
ärzten darstellt, halte ich dies nicht für einen erstrebens- den Vorbereitungsdienst als auch als Bewerberinnen und
werten Zustand. Bewerber auf dem Arbeitsmarkt erheblich schlechtere
Fünftens. Gerade bezüglich der Ausgestaltung des von Chancen haben als die „Staatsexamensjuristinnen und -ju-
Ihnen vorgeschlagenen Anwaltsvorbereitungsdienstes risten“. Einheitlichkeit, Vergleichbarkeit und Chancen-
wäre der unumgängliche Einfluss des Staates nicht mehr gleichheit sind mit diesem Modell nicht gewahrt.
gegeben. Dieser ist meines Erachtens aber für die Ausbil- Die Beibehaltung des obligatorischen ersten Staatsexa-
dung des Rechtsanwalts als unabhängiges Organ der
mens ist deshalb dringend geboten; allerdings sollte der
Rechtspflege unabweisbar geboten.
Bundesgesetzgeber den Prüfern der jeweiligen Univer-
Sechstens. Zu guter Letzt halte ich den Entwurf für in sitäten mehr Einfluss auf die Prüfungen ermöglichen, zum
sich nicht stimmig. Sie wollen den Einheitsjuristen aus Beispiel die Federführung bei der Auswahl der Aufgaben
grundsätzlichen Erwägungen abschaffen. Für den Bereich den Hochschullehrern zu überlassen.
von Anwaltschaft, Justiz und öffentlicher Verwaltung
bleibt er aber im Ergebnis völlig aufrechterhalten. Sie Zweitens. Entschieden abzulehnen ist die Eingangs-
führen zwar separate Spartenausbildungen mit Abschluss- prüfung für den Vorbereitungsdienst. Abgesehen von
prüfungen ein, im Ergebnis berechtigt jedoch jeder Spar- verfassungsrechtlichen Bedenken – Art. 12: entweder ist
tenabschluss auch zum Berufszugang für alle anderen die universitäre Abschlussprüfung die Qualifikation für
Sparten. Wie dies mit der Kritik an fehlender Spezialisie- den Vorbereitungsdienst oder nicht –, ist dies der un-
rung und Verbesserung der Praxisausbildung zu vereinba- taugliche Versuch, die nicht gegebene Einheitlichkeit der
(B) ren sein soll, ist mir unverständlich. Abschlussprüfungen nachträglich auf Kosten der Uni-Ab- (D)
solventinnen und -Absolventen herzustellen.
Im Ergebnis hinterlässt Ihr Entwurf daher den Ein-
druck: Der Anwaltschaft soll die Möglichkeit eingeräumt Was sollen diejenigen tun, die diese Prüfung nicht be-
werden, den Zugang zum Anwaltsberuf durch das „Na- stehen? Wer bereitet auf diese Prüfung – wahrscheinlich
delöhr“ eines besonderen Vorbereitungsdienstes zu steu- mit bis zu diesem Zeitpunkt nur unzulänglich vermittel-
ern und zu begrenzen. Das kann aber nicht Maßstab einer tem Praxiswissen gespickt – vor? Bei der Eingangsprü-
verantwortbaren Reform der Juristenausbildung sein. fung für den Anwaltsvorbereitungsdienst droht die Gefahr
Die Einführung eines berufsqualifizierenden juristi- einer Bedarfsprüfung.
schen Abschlusses bereits am Studienende halte ich zwar Drittens. Zwar ist die Dreiteilung des Vorbereitungs-
grundsätzlich für begrüßenswert. In ihrem Vorschlag er- dienstes zu begrüßen. Allerdings sollen die heikelsten
folgt sie aber ohne Absicherung der notwendigen Stär- Punkte – Gestaltung der Ausbildungssituation, Finanzie-
kung der Praxisorientierung und weiterer qualitativer Ver- rung des Anwaltsvorbereitungsdienstes und Besetzung
besserungen des Studiums und dient nur dazu, eine Zu- der Prüfungsorgane per Rechtsverordnung des BMJ im
gangsbegrenzung für die Spartenausbildungen als Benehmen mit der Bundesrechtsanwaltskammer unter
Richter, Staatsanwalt, Rechtsanwalt oder Verwaltungsbe- Zustimmung des Bundesrates geregelt werden.
amter zu ermöglichen.
Als zentrale Ausbildungsstelle wird als Ort eine An-
Abschließend kann ich nur feststellen, dass Ihr Ent- waltsakademie vorgeschlagen, die es noch zu gründen
wurf entgegen der Überschrift keine echte „Reform der gelte. Dabei wird verschwiegen, dass es bundesweit be-
Juristenausbildung“ darstellt, sondern ein Herumdoktern reits Fortbildungsakademien für Anwälte gibt, für deren
an Symptomen und damit nur Stückwerk. Halten Sie sich
Seminare hohe Gebühren gezahlt werden müssen.
lieber an die Justizministerkonferenz und Ihren Partei-
freund Goll aus Baden-Württemberg. Dessen Ideen und Nicht gesagt wird, wer in welcher Höhe den Anwalts-
Vorschläge passen besser zum Titel „Reform“ und hätten vorbereitungsdienst finanzieren soll.
uns heute eine bessere Debatte beschert. Viertens. Die im Rahmen der Kosten aufgeführten Ein-
schätzungen, dass die Landesjustizhaushalte entlastet und
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Zuwachs bei den Wissenschaftshaushalten zur Ver-
NEN): Einigkeit besteht darüber, dass die Ausbildung der besserung der universitären Ausbildung kaum ins Ge-
Juristinnen und Juristen reformbedürftig ist; diese Not- wicht fallen würden, gehen in mehrfacher Hinsicht an der
wendigkeit ist im Entwurf der F.D.P. auch eindrucksvoll Realität vorbei.
10658 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

(A) a) Die Entlastungen bei den Landesjustizhaushalten Eines ist jedenfalls klar, das Modell der F.D.P. kann so (C)
werden wahrscheinlich nicht in dem erhofften nicht unsere Zustimmung finden. Die Koalition wird nach
Maße eintreten, weil sowohl für den Justizvorbe- Diskussion und Abstimmung mit den Justizministerien
reitungs- als auch den Verwaltungsvorbereitungs- der Länder einen eigenen Vorschlag vorlegen. Die Juris-
dienst Vorhaltekosten entstehen. Mit der Abschaf- tenausbildung muss der Änderung der Gesellschaft und
fung der bisher obligatorischen Staatsanwalt- des Berufsbildes der Juristen angepasst werden. Sie darf
schaftsstation wird der staatsanwaltschaftliche nicht zur Heranbildung von „Fachidioten“ des Rechts
Sitzungsdienst auf Amtsgerichtsebene, der bisher führen, sondern muss interdisziplinärer werden und Juris-
überwiegend von Rechtsreferendarinnen und -re- tinnen und Juristen bilden, die gewohnt sind, über den
ferendaren wahrgenommen wird, bundesweit zu- Tellerrand des Juristischen zu blicken und gesellschaftli-
sammenbrechen. Der Sitzungsdienst muss dann che Zusammenhänge zu begreifen und in ihre Arbeit ein-
von neu eingestellten Staatsanwältinnen und zubeziehen.
Staatsanwälten wahrgenommen werden. Da eine
Praxisphase – wo auch immer verortet – unerläss- Die Juristenausbildung muss aber auch für alle, die
lich ist, muss diese auch finanziert werden. Die diese wollen, offen bleiben, unabhängig von eigenem Ein-
Finanzierung sollte nicht mehr, wie bisher, im kommen und Vermögen und den finanziellen Verhältnis-
Rahmen eines starren Beamtenverhältnisses auf sen der Eltern.
Widerruf erfolgen, sondern flexibler als Angestell-
tenverhältnis ausgestaltet werden. Auch die Höhe Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (F.D.P.): Mit der heuti-
der Bezüge bzw. des Gehalts muss bei einem gen ersten Lesung des von uns eingebrachten Entwurfs ei-
allein stehenden Referendar nicht unbedingt circa nes Gesetzes zur Reform der Juristenausbildung kommt
2 000 DM brutto betragen; allerdings erfordert endlich das parlamentarische Verfahren zu einem wirklich
eine sozialverträgliche Ausgestaltung des Vorbe- überfälligen Modernisierungsprojekt in Gang. Schon seit
reitungsdienstes ein Mindestgehalt von 1 700 DM vielen Jahren wird die Malaise der überkommenen Juris-
brutto; von einer Entlastung der Justizhaushalte tenausbildung beklagt. Das Studium ist längst aus ver-
kann also keinesfalls die Rede sein. nünftigen Kanalisierungen ausgebrochen. Die Stofffülle
b) Die Einschätzung, dass der Zuwachs der Mittel für ist zu groß, die wissenschaftlichen Lehrmethoden halten
die universitäre Ausbildung kaum ins Gewicht fal- mit einer Effektivitätsausrichtung längst nicht mehr
len werde, ist entschieden zu verneinen. Schritt, die betreffenden Fakultäten und Fachbereiche
sind unzureichend ausgestattet und die faktische Studien-
Abgesehen davon, dass aus den oben genannten Grün- zeit ist nach wie vor zu lang. Natürlich sind hierfür letzt-
den kaum Mittel aus den Justizhaushalten an die Univer- lich die Länder zuständig. Aber der Bund gibt über seine (D)
(B) sitäten zu verteilen sein werden, sind für eine studentin-
Zulassungsregeln zum Richter- und Anwaltsberuf sowie
nen- und studentengerechte universitäre Ausbildung zum höheren Verwaltungsdienst die maßgeblichen Richt-
strukturelle – insbesondere personelle – Veränderungen werte vor.
der bisherigen Lehrkörper an den Universitäten ebenso
erforderlich, wie eine erheblich bessere Finanzausstat- Erst recht der zum vollen Qualifikationsausweis uner-
tung der ausbildenden Institute: lässliche Referendardienst – samt Zweitem Staats-
examen – ist in seinem heutigen Zuschnitt total veraltet
Ohne den kostenintensiven Ausbau bzw. die Neuschaf- und ineffektiv. Wirtschaft und Anwaltschaft kritisieren
fung eines im Verhältnis zu den bisherigen Lehrstuhlin- schon seit langem, dass er schwerpunktmäßig auf den
haberinnen und -inhabern und im Rahmen der Institute Richterberuf ausgerichtet ist, obwohl nur noch knapp
unabhängigen sowie eigenständigen akademischen Mit- 3 Prozent der jungen Juristen in diese Berufssparte und
tel- und Oberbaus, der unabhängig von Forschungsinte- die Staatsanwaltschaft gelangen. Auch soll der „normale“
ressen und -verpflichtungen die Studentinnen und Stu- Nachwuchsjurist natürlich stärkere Fremdsprachenkom-
denten mit didaktisch modernen Lehrmethoden kontinu- petenz erwerben, sich in Ökonomie, Politik und Sozialem
ierlich und systematisch Theorie und Praxis miteinander auskennen und am Ende schließlich nicht wesentlich älter
verzahnend ausbildet, ist jede Ausbildungsreform zum sein als seine Konkurrenten aus den anderen EU-Staaten
Scheitern verurteilt. auf dem zunehmend europäischen Berufsmarkt. Das alles
Im Unterschied zu heute müssen die Lehrstuhlinha- erbringt die überkommene Referendarausbildung in kei-
ber/Dozentinnen und Dozenten keine akademische Lauf- ner Weise. Dass die Länder zudem über die hohen Refe-
bahn an der Universität einschlagen. rendariatskosten klagen, die insgesamt bei rund 1 Milli-
arde DM liegen dürften und die ohnehin strapazierten
Die Qualitätskontrolle der Lehre erfolgt durch eine Justizhaushalte belasten, kann immerhin die Reformbe-
echte Evaluierung, wie sie bei Privatakademien schon bis- reitschaft voranbringen.
her üblich ist.
Eine Antwort auf die drängenden Forderungen des Er-
Diese strukturelle und personelle Neuerung wird die neuerungsbedarfs sollte allemal beherzt statt halbherzig
Landeswissenschaftshaushalte für die 38 deutschen Uni- ausfallen. Sie muss den Realitäten gewandelter juristi-
versitätsstandorte mit rechtswissenschaftlichen Fakultä-
scher Berufsziele, begrenzter berufsplanerischer Lernzeit
ten Milliarden kosten.
und staatlicher Finanzausstattung ebenso Rechnung tra-
Es gäbe noch weitere Kritikpunkte, die ich aus Zeit- gen wie den gewandelten Anforderungsbedingungen, der
gründen leider nicht mehr ansprechen kann. fortgeschrittenen Spezialisierung und dem europäischen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10659

(A) Angleichungsdruck. Und sie muss tunlichst nicht nur die den inhaltlichen Erfordernissen einer modernen Juristen- (C)
herkömmliche zweite Phase der Juristenausbildung, also ausbildung in Gänze auszugehen. Die für den juristischen
das Referendariat, reformieren, sondern auch die erste, Vorbereitungsdienst als zu hoch empfundenen Kosten
die Studienphase mit einbeziehen. Insgesamt jedenfalls dürfen nicht die zentrale Überlegung bei der Ausbildung
sind nicht Nivellierung und Qualitätsabstriche die Devise, der Fachleute sein. Ich bin für Kosteneinsparungen dort,
sondern Konzentration, inhaltliches Durchparieren und wo sie Sinn machen und nicht zulasten der zukünftigen
Qualitätssteigerung. Juristengeneration gehen. Doch man sollte hier nicht das
Der von der F.D.P.-Fraktion vorgelegte Gesetzentwurf Pferd von hinten aufzäumen. Es geht in erster Linie um
sieht demzufolge vor, dass das gestraffte, reorganisierte Qualität und Dauer und dann um die Kosten.
und verbesserte Studium mit seiner betreffenden Ab- Im Mittelpunkt des vorliegenden Entwurfs steht die
schlussprüfung die allgemeine Berufsqualifikation als Ju- Trennung der Vorbereitungsdienste speziell für die Justiz,
rist erbringt. Lediglich die spezifischen Juristenberufe, die Anwaltschaft und die Verwaltung. Dies würde ohne
für die der Staat Verantwortung trägt, brauchen dann noch Zweifel eine verbesserte Vorbereitung auf das Berufsle-
eine zusätzliche, praktische Ausbildung, zu welcher die ben bedeuten. Doch kann man sich damit begnügen? Ein
Bewerber nunmehr nach entsprechend qualitativer Aus- Juristenausbildungsreformgesetz, das sich im Wesentli-
wahl zugelassen werden. Ein allgemeines Referendariat, chen in einer Spezifizierung der Vorbereitungsdienste er-
das zum Regelwerdegang gehört und auf dessen Absol- schöpft, reicht angesichts des von manchen als miserabel
vierung jeder Bewerber nach dem Ersten Staatsexamen bezeichneten Zustands der juristischen Ausbildung insge-
einen Anspruch hat, wird es also nicht mehr geben. Die samt nicht aus. Theorie und Praxis müssen so frühzeitig
spezifische Zusatzausbildung findet in drei Sparten statt – wie möglich verzahnt werden, weshalb eine praxisinte-
daher die Bezeichnung „Neptunmodell“ – nämlich einem grierte universitäre Juristenausbildung von vornherein
Justiz-, einem Verwaltungs- und einem Anwaltsvorberei- sinnvoll ist. Das bedeutet für mich keinen Abschied vom
tungsdienst, zwischen denen volle Durchlässigkeit si- rechtswissenschaftlichen Studium, zu dem ich nicht zu-
chergestellt wird. Die selektierte Zusatzausbildung endet letzt auch die Beibehaltung einer rechtsphilosophischen,
jeweils mit einer bereichsspezifischen Staatsprüfung, die soziologischen und historischen Ausbildung zähle.
den beiden Nachbarexamen qualitativ gleichwertig ist.
Über die Einzelheiten wird in den Ausschussberatungen Sowohl an der Struktur und als auch den Inhalten des
hoffentlich noch ausführlich diskutiert. Studiums müssen Veränderungen vorgenommen werden.
Darauf näher einzugehen reicht die Zeit nicht. Deshalb
Das vorgeschlagene Modell hat gegenüber dem von nur so viel: Solange das juristische Repetitorium – außer-
den meisten Ländern wohl favorisierten Konzept einer halb der Universitäten mit den damit verbundenen Kos-
Einstufigkeit den Vorteil, dass es den notwendigen Re- ten – für die Mehrzahl der Studenten unverzichtbar zum (D)
(B) form- und Straffungsbedarf nicht mit Qualitätsabstrichen
Bestehen des Examens ist, ist für mich das Jura-Studium
erkauft, sondern inhaltlich durchstarten will. Deshalb nicht in Ordnung. Der Vorschlag, das Studienabschlus-
sollte es im Weiteren die definitive Richtung angeben. sexamen in die Verantwortung der Universitäten zurück-
Denn nur gut ausgebildeter und vorbereiteter Nachwuchs
zugeben, ist nicht nur deshalb zu begrüßen. Aber alles in
kann in Zukunft den hohen Qualitätsanforderungen des
allem möchte ich, dass der F.D.P.-Entwurf in einen größe-
rechtswissenschaftlich geschulten, europäisch orientier-
ren Wurf zur Neugestaltung der juristischen Ausbildung
ten Juristenbedarfs genügen. Die F.D.P.-Fraktion hofft
einfließt.
dringend, dass damit die notwendige politische Erörte-
rung des Komplexes nun endlich vorankommt.
Dr. Eckart Pick, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-
Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Gleich welche Stellung-
nister der Justiz: Die Juristenausbildung gilt allgemein als
nahme man zur gegenwärtigen Juristenausbildung in reformbedürftig. Als erstes Argument für eine Reform
Deutschland einholt, sie sind sich alle in ihrem Urteil ei- wird meist darauf hingewiesen, dass die gegenwärtige Ju-
nig: reformbedürftig! Untersuchungen zeigen, dass die ristenausbildung in ihrer Grundkonzeption seit 200 Jah-
bislang immer wieder versuchten Reformen weniger aus ren besteht. Dies gilt auch für die Begründung des Ent-
inhaltlichen Gründen gescheitert sind. Sie scheiterten wurfs der F.D.P.-Fraktion. Wenn wir über eine Ausbil-
meist an der unzureichenden Gesetzesvorbereitung. Wenn dungsreform diskutieren, dürfen wir aber gerade nicht
es also eine zentrale Erfahrung gibt, dann ist es diese: Es außer Acht lassen, dass wir im Kern über Strukturen spre-
muss von der Rechtspolitik ein Forum für die Konsens- chen, die über diesen langen Zeitraum gewachsen sind
findung aller Akteure bereitgestellt werden, auf dem die und sich auch zu einem großen Teil bewährt haben. Ich
Leitbilder und Profile moderner Juristenberufe erarbeitet möchte damit nicht die Reformbedürftigkeit außer Rede
werden können, bevor dann das Gesetzgebungsverfahren stellen. Jedoch kann die lange Tradition allein kein Argu-
eingeleitet wird. Und genau das ist das Problem des vor- ment für eine Reform sein.
liegenden Entwurfs. Auch ich bin der Ansicht, dass es an der Zeit ist, die Ju-
Der Gesetzentwurf enthält Richtiges und Wichtiges, ristenausbildung zu reformieren. Die Anforderungen an
genügt aber letztlich nicht dem, was die F.D.P. zumindest den Juristen von heute müssen angepasst werden. Ich bin
ansatzweise als Herausforderungen an eine moderne Juris- jedoch für eine durchdachte und ausgereifte Lösung.
tenausbildung selbst benennt. Bedauerlicherweise ist der Schnellschüsse helfen niemandem, am wenigsten den
Entwurf maßgeblich von dem Gedanken der Entlastung jungen Menschen, die ein Recht auf eine arbeitsmarktge-
der Landesjustizhaushalte getragen, statt konsequent von rechte, aber auch gründliche Ausbildung haben.
10660 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000

(A) Der vorliegende Entwurf kann nicht überzeugen. An- finden müssen. Gerade aber auch die Belange des Recht (C)
statt Lösungen für die drängende Frage, wie die Juristen- suchenden Publikums dürfen hierüber nicht vergessen
ausbildung in Zukunft ausgestaltet werden kann, anzubie- werden.
ten, wirft der Entwurf mehr Probleme auf, als es bisher zu
bewältigen gilt.
Anlage 4
Wird einerseits eine Spezialisierung der Juristen ange-
strebt, bleibt völlig unklar, wie diese aussehen soll. Eben-
Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung
falls offen bleibt die genauere Ausgestaltung des vorge-
schlagenen Anwaltsvorbereitungsdienstes. Aber genau Der Bundesrat hat in seiner 752. Sitzung am 9. Juni
um diese Frage müsste es doch gehen! Die Durchlässig- 2000 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu-
keit zwischen den einzelnen Berufssparten gilt es in Zu- stimmen, bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2
kunft zu erhalten. Da stimme ich dem Anliegen des Ent- Grundgesetz nicht zu stellen:
wurfs zu. Aber einerseits werden die Ausbildungsgänge
getrennt und sollen zu einer Spezialisierung führen, um – Gesetz zur Sicherstellung der Rentenauszahlung im
dann andererseits doch einen faktisch voraussetzungslo- Vormonat (Rentenauszahlungsgesetz)
sen Übergang in einen anderen juristischen Beruf zuzu- – Zweites Gesetz zur Fortentwicklung der Alters-
lassen. So lässt sich die Schaffung von drei verschiede- teilzeit
nen, organisatorisch getrennten Vorbereitungsdiensten
nicht rechtfertigen. – Gesetz zur Änderung von Vorschriften über die
Tätigkeit der Steuerberater (7. StBÄndG)
Schließlich bleibt eine zentrale Frage völlig ungeklärt,
nämlich wie der Zugang zu den einzelnen Vorbereitungs- – Zehntes Gesetz zur Änderung des Arzneimittel-
diensten geregelt wird. Hieran schließt sich die für die gesetzes
Kandidaten wichtige Frage an, ob ihnen trotz eines Uni-
– Gesetz zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vor-
versitätsabschlusses ein Zugang verwehrt werden kann,
schriften (Seuchenrechtsneuordnungsgesetz–
und für die Länder bleibt unklar, welcher Finanzierungs-
bedarf sich tatsächlich ergibt. SeuchRNeuG)

Es dürfen nicht allein fiskalische Gründe ausschlagge- – Gesetz zu der Vierten Änderung des Überein-
bend sein, wenn über eine Reform der Juristenausbildung kommens über den Internationalen Währungs-
gesprochen wird. Dieser Entwurf lädt jedoch geradezu fonds (IWF)
dazu ein. Es soll vielleicht auch über die finanziellen Mit- – Gesetz zu den Übereinkommen vom 19. Dezember
(B) tel die Zahl der Absolventen der Vorbereitungsdienste 1996 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, (D)
und so mittelbar die der Juristen insgesamt beschränkt der Republik Finnland und des Königreichs
werden. Schweden zum Schengener Durchführungsüber-
Die Juristenausbildung ist die ureigene Domäne der einkommen und zu dem Übereinkommen vom
Länder. Sie sind es daher auch, die für ihre Reform zu sor- 18. Mai 1999 über die Assoziierung der Republik
gen haben. Die Länder haben sich des Themas zwar an- Island und des Königreichs Norwegen
genommen, bisher allerdings ohne greifbaren Erfolg. – Gesetz zu dem Protokoll vom 9. September 1998
Bereits 1996 hat die Konferenz der Justizministerinnen
zur Änderung des Europäischen Übereinkom-
und Justizminister über verschiedene Grundmodelle dis-
mens vom 5. Mai 1989 über das grenzüberschrei-
kutiert. Ein konkretes Reformmodell wurde intensiv wei-
terentwickelt. Dann sind die Reformbestrebungen der tende Fernsehen
Länder allerdings ins Stocken geraten. Auch auf der Ju- – Gesetz zu dem Vertrag vom 5. November 1998
stiz-ministerkonferenz im vergangenen Mai konnten die zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
Reformüberlegungen trotz langer Diskussionen nicht fi- Antigua und Barbuda über die Förderung und
nalisiert werden. Ich bedaure das sehr, war dieses Thema den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
aufgrund von Analysen doch sehr gründlich vorbereitet
worden. Die Verunsicherung, die diese lang andauernden, – Gesetz zu dem Vertrag vom 25. August 1998 zwi-
zum Teil inhaltlich kontroversen Überlegungen für die an- schen der Bundesrepublik Deutschland und den
gehenden Juristen bewirken, ist erheblich. Ich spüre dies Vereinigten Mexikanischen Staaten über die För-
regelmäßig an der Zahl der Anfragen verunsicherter Exa- derung und den gegenseitigen Schutz von Kapi-
menskandidaten. Dies muss nun bald ein Ende haben. talanlagen
Ich unterstütze deshalb nachdrücklich die Initiative der – Gesetz zur Änderung; und Ergänzung des Straf-
Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitiker der Koalitions- verfahrensrechts – Strafverfahrensänderungsge-
fraktionen, im Herbst hier einen Schwerpunkt der Bera- setz 1999 (StVÄG 1999)
tungen zu bilden. Dabei wird das wichtigste Anliegen – Einundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des
sein, eine Reform der Juristenausbildung zu begleiten,
Abgeordnetengesetzes und Achtzehntes Gesetz
die durchdacht und ausgereift ist. Die Bedürfnisse der jun-
zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes
gen, in der Ausbildung befindlichen Juristen sind wesent-
lich zu beachten. Die Interessen von Justiz, Verwaltung, – Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung von
Anwaltschaft und Wirtschaft werden Berücksichtigung Stiftungen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000 10661

(A) – Gesetz über Fernabsatzverträge und andere Auswärtiger Ausschuss (C)


Fragen des Verbraucherrechts sowie zur Umstel- Drucksache 14/2817 Nr. 1.3
lung von Vorschriften auf Euro Drucksache 14/2817 Nr. 1.9

– Viertes Gesetz zur Änderung des Futtermittelge- Innenausschuss


setzes Drucksache 14/2952 Nr. 2.6
Drucksache 14/2952 Nr. 2.22
Die Fraktion der SPD hat mit Schreiben vom 28. Juni Drucksache 14/3050 Nr. 2.18
2000 den Koalitionsantrag „25 Jahre KSZE/OSZE“ – Drucksache 14/3050 Nr. 2.20;
Drucksache 14/3399 – zurückgezogen. Finanzausschuss
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- Drucksache 14/3341 Nr. 2.5
geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Drucksache 14/3341 Nr. 2.15
Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der Drucksache 14/3341 Nr. 2.40
nachstehenden Vorlage absieht: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Innenausschuss Drucksache 14/3146 Nr. 2.3 8
Drucksache 14/3207 Nr. 1.1
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Wahlkreiskommission für die 14. Wahlperi- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
ode des Deutschen Bundestages gemäß § 3 Bundeswahl- Drucksache 14/3428 Nr. 2.5
gesetz (BWG)
– Drucksachen 14/2597, 14/3084 Nr. 1 – Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Drucksache 14/2952 Nr. 1.3
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Drucksache 14/2952 Nr. 2.1
Drucksache 14/2952 Nr. 2.2 .
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Erfahrungsbericht der Bundesregierung zu den Auswir- Ausschuss für Verkehr, Bau und Wohnhngswesen
kungen des im Jahre 1996 in Kraft getretenen Ände- Drucksache 14/2104 Nr. 2.23
rungsgesetzes zum Ladenschlussgesetz
– Drucksachen 14/2489, 14/2736 Nr. 2 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 14/3146 Nr. 2.34
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 14/3146 Nr. 2.35.
Drucksache 14/3146 Nr. 2:36
Bericht der Bundesregierung über ihre Bemühungen zur
Stärkung der gesetzgeberischen Befugnisse des Europä- Drucksache 14/3146 Nr. 2.37
ischen Parlaments 1999 Drucksache 14/3341 Nr. 2.8
Drucksache 14/3341 Nr. 2.14
(B) – Drucksachen 14/2835, 14/2947 Nr. 1.3 – (D)
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Union
mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Drucksache 14/2952 Nr. 2.15
Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Drucksache 14/2952 Nr. 2.26
Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- Drucksache 14/3146 Nr. 1.2
tung abgesehen hat. Drucksache 14/3146 Nr. 2.5
Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20, 53003 Bonn, Telefon: 02 28 / 3 82 08 40, Telefax: 02 28 / 3 82 08 44
ISSN 0722-7980

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