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Plenarprotokoll 14/115

Deutscher Bundestag
Stenographischer Bericht

115. Sitzung

Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Inhalt:

Absetzung der Geschäftsordnungsdebatte von der Fraktion PDS: Vereinbarkeit von


der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10941 A Beruf und Kinderbetreuung für
Frauen und Männer
Abweichung von den Richtlinien für die Fra-
gestunde, für die Aktuelle Stunde sowie der – zu dem Antrag der Abgeordneten Ina
Vereinbarung über die Befragung der Bundes- Lenke, Dr. Irmgard Schwaetzer, wei-
regierung in der Sitzungswoche ab 11. Sep- terer Abgeordneter und der Fraktion
tember 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10941 A F.D.P.: Erziehungszeit statt Erzie-
hungsurlaub
(Drucksachen 14/2758, 14/2759,
Tagesordnungspunkt 20: 14/3192, 14/3808) . . . . . . . . . . . . . . . . 10941 C
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin
Bundesregierung eingebrachten Ent- BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10942 A
wurfs eines Dritten Gesetzes zur Än-
Dr. Maria Böhmer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10944 B
derung des Bundeserziehungsgeldge-
setzes Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/
(Drucksachen 14/3553, 14/3808, 14/3809) 10941 B DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10944 C

– Zweite und dritte Beratung des von Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/DIE
den Fraktionen SPD und BÜND- GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10947 A
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ina Lenke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10949 A
Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Bundeserziehungs- Christina Schenk PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10951 A
geldgesetzes Hildegard Wester SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10952 B
(Drucksachen 14/3118, 14/3808, 14/3809) 10941 B
Dr. Maria Böhmer CDU/CSU . . . . . . . . . . 10952 C
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ilse Falk CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10954 B
Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend Christel Hanewinckel SPD . . . . . . . . . . . . 10954 D

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10955 B


Christina Schenk, Rosel Neuhäuser, Renate Diemers CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 10956 B
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion PDS:
Ausbau eines bedarfsgerechten und
öffentlich geförderten Betreuungs- Tagesordnungspunkt 22:
und Freizeitangebotes für Kinder bis
zu 14 Jahren a) Bericht des Rechtsausschusses gemäß
§ 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu
– zu dem Antrag der Abgeordneten dem von den Abgeordneten Rainer
Christina Schenk, Dr. Gregor Gysi und Funke, Jörg van Essen, weiteren
II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Abgeordneten und der Fraktion F.D.P. Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 10966 C


eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Christina Schenk PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10968 C
zur Änderung des Bürgerlichen Ge-
setzbuchs (Wohnrecht hinterbliebener Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin
Haushaltsangehöriger) BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10969 C
(Drucksachen 14/326, 14/2347, 14/3779) 10959 A
Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 10971 C
b) Bericht des Rechtsausschusses gemäß Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin
§ 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10971 D
dem von den Abgeordneten Christina
Schenk, Sabine Jünger, weiteren Abge- Ilse Falk CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10972 A
ordneten und der Fraktion PDS einge- Alfred Hartenbach SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 10973 C
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Übernahme der gemeinsamen Woh- Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . 10974 B
nung nach Todesfall der Mieterin/des
Mieters oder der Mitmieterin/des
Mitmieters (Änderung des Bürgerli- Zusatztagesordnungspunkt 14:
chen Gesetzbuchs) Erste Beratung des von den Abgeordneten
(Drucksachen 14/308, 14/3780) . . . . . 10959 A Alfred Hartenbach, Hermann Bachmaier,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion
in Verbindung mit SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck
(Köln), Hans-Christian Ströbele, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
Zusatztagesordnungspunkt 12: NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Reform des Zi-
Erste Beratung des von den Abgeordneten
vilprozesses (Zivilprozessreformgesetz)
Alfred Hartenbach, Hermann Bachmaier,
(Drucksache 14/3750) . . . . . . . . . . . . . . . . 10975 B
weiteren Abgeordneten und der Fraktion
SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10975 C
(Köln), Marieluise Beck (Bremen), weite- Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 10977 B
ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Alfred Hartenbach SPD . . . . . . . . . . . . . . . 10977 C
wurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 10978 C
Diskriminierung gleichgeschlechtlicher
Gemeinschaften: Lebens-partnerschaf- Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE
ten (Lebenspartnerschaftsgesetz) GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10981 A
(Drucksache 14/3751) . . . . . . . . . . . . . . . . 10959 B Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10982 D
in Verbindung mit Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 10983 D
Hermann Bachmaier SPD . . . . . . . . . . . . . . . 10985 B
Zusatztagesordnungspunkt 13: Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10986 A
Antrag der Abgeordneten Alfred Harten-
bach, Margot von Renesse, weiterer Abge- Norbert Röttgen CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 10987 B
ordneter und der Fraktion SPD sowie der Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 10988 D
Abgeordneten Volker Beck (Köln), Hans-
Christian Ströbele, weiterer Abgeordneter Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10990 B
NEN: Einbeziehung von eingetragenen Dr. Ulrich Goll, Minister
Lebenspartnerschaften in die Hinter- (Baden-Württemberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10991 A
bliebenenversorgung
(Drucksache 14/3792) . . . . . . . . . . . . . . . . 10959 C Prof. Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD . . . . . . 10992 A

Margot von Renesse SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 10959 D Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin


BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10993 A
Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 10961 B
Dr. Rupert Scholz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 10996 A
Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . 10963 B
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin
Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/ BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10996 B
DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10964 A
Prof. Dr. Kurt Schelter, Minister
Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 10966 A (Brandenburg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10996 D
Wolfgang Dehnel CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10966 B Alfred Hartenbach SPD . . . . . . . . . . . . . . . 10997 C
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 III

Zusatztagesordnungspunkt 16: derer Vorschriften (Vermögensrechts-


ergänzungsgesetz)
Aktuelle Stunde betr. Regelmäßige Kon-
(Drucksachen 14/1932, 14/3802, 14/3803) 11014 A
takte im Vorfeld von Zeugenverneh-
mungen im 1. Untersuchungsausschuss
des Deutschen Bundestages zwischen
Tagesordnungspunkt 24:
Untersuchungsausschussmitgliedern
und dem Zeugen Dr. Kohl . . . . . . . . . . . 10998 C a) – Zweite und dritte Beratung des von
Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE den Fraktionen SPD und BÜND-
GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10998 C NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämp-
Eckart von Klaeden CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10999 D fung der Arbeitslosigkeit Schwerbe-
Frank Hofmann (Volkach) SPD . . . . . . . . . . . 11001 B hinderter
(Drucksachen 14/3372, 14/3799) . . . . 11014 D
Dr. Max Stadler F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11002 C
– Zweite und dritte Beratung des von der
Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 11003 D
Bundesregierung eingebrachten Ent-
Claudia Roth (Augsburg) BÜNDNIS 90/DIE wurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung
GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11004 C der Arbeitslosigkeit Schwerbehin-
derter
Dr. Jürgen Gehb CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 11006 A
(Drucksachen 14/3645, 14/3799) . . . . 11014 D
Dr. Rainer Wend SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11007 B
b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11008 B Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
Dr. Rupert Scholz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 11009 B nung zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung: Bericht der Bun-
Dr. Peter Danckert SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 11010 D desregierung über die Beschäftigung
Friedhelm Julius Beucher SPD . . . . . . . . . . . 11012 B Schwerbehinderter im öffentlichen
Dienst
(Drucksachen 14/2415, 14/3799) . . . . 11014 D
Tagesordnungspunkt 23: Silvia Schmidt (Eisleben) SPD . . . . . . . . . . . 11015 A
a) Zweite und dritte Beratung des von den Claudia Nolte CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 11016 A
Abgeordneten Alfred Hartenbach,
Hermann Bachmaier, weiteren Abge- Katrin Dagmar Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/
ordneten und der Fraktion SPD sowie DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11018 A
den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P. . . . . . . . . . . . . 11019 A
Hans-Christian Ströbele, weiteren Ab-
geordneten und der Fraktion BÜND- Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11019 C
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Karl Hermann Haack (Extertal) SPD . . . . . . . 11020 C
Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Rechts an Grundstücken in
den neuen Ländern (Grundstücks- Tagesordnungspunkt 25:
rechtsänderungsgesetz)
(Drucksachen 14/3508, 14/3824) . . . . 11013 C Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für die Angelegenheiten der
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Europäischen Union
Rechtsausschusses zu dem Antrag der
Abgeordneten Dr. Michael Luther, – zu dem Antrag der Abgeordneten Prof.
Andrea Voßhoff und der Fraktion Dr. Jürgen Meyer (Ulm), Joachim Poß,
CDU/CSU: Entschädigungspflicht weiterer Abgeordneter und der Fraktion
nach dem Vermögensgesetz bei Ein- SPD sowie der Abgeordneten Christian
ziehung von beweglichen Sachen re- Sterzing, Volker Beck (Köln), weiterer
geln Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
(Drucksachen 14/1003, 14/3824) . . . . 11013 D NIS 90/DIE GRÜNEN: Charta der
Grundrechte der Europäischen Union
– zu dem Antrag der Abgeordneten Peter
Zusatztagesordnungspunkt 15:
Hintze, Peter Altmaier, weiterer Abge-
Zweite und dritte Beratung des von der ordneter und der Fraktion CDU/CSU:
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Die Rechte der Bürger stärken – Für
eines Gesetzes zur Änderung und Er- eine bürgernahe Charta der Grund-
gänzung vermögensrechtlicher und an- rechte der Europäischen Union
IV Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

– zu dem Antrag der Abgeordneten über den Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung
Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordne- und Zukunft“ (Drucksachen 14/3206 und
ter und der Fraktion F.D.P.: Verbind- 14/3459) (114. Sitzung, Tagesordnungspunkt 7 a) 11036 A
lichkeit der Europäischen Grund-
rechtecharta und Beitritt der Euro-
päischen Union zur Europäischen Anlage 4
Menschenrechtskonvention
Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Dr. Ilja Seifert (PDS) zur namentlichen Ab-
Klaus Grehn, Uwe Hiksch, weiterer Ab-
stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur
geordneter und der Fraktion PDS: Für
eine rechtsverbindliche Europäische Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbe-
Grundrechtecharta hinderter (Tagesordnungspunkt 24 a) . . . . . . 11037 C
(Drucksachen 14/3387, 14/3368,
14/3322 14/3513, 14/3800) . . . . . . . . . 11022 B
Anlage 5
Prof. Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD . . . . . . . . 11022 C
Zu Protokoll gegebene Rede zur Aktuellen
Peter Hintze CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11025 A
Stunde: Regelmäßige Kontakte im Vorfeld von
Peter Altmaier CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 11025 B Zeugenvernehmungen im 1. Untersuchungs-
Claudia Roth (Augsburg) BÜNDNIS 90/DIE ausschuss des Deutschen Bundestages
GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11027 C zwischen Untersuchungsausschussmitgliedern
und dem Zeugen Dr. Kohl (Zusatztagesord-
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger F.D.P. 11028 C
nungspunkt 16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11038 C
Christoph Zöpel, Staatsminister AA . . . . . . . . 11030 A
Jürgen Gnauck, Minister (Thüringen) . . . . . . 11030 D
Anlage 6
Christian Sterzing BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11032 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Rechts an Grundstücken in den neuen Ländern
Tagesordnungspunkt 26: (Grundstücksrechtsänderungsgesetz) (Tages-
Erste Beratung des von den Abgeordneten ordnungspunkt 23 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11039 B
Alfred Hartenbach, Erika Simm, weiteren Hans-Joachim Hacker SPD . . . . . . . . . . . . . . 11039 B
Abgeordneten und der Fraktion SPD sowie
den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Andrea Voßhoff CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 11040 B
Hans-Christian Ströbele, weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion BÜND- Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11041 D
wurfs eines Fünften Gesetzes zur Ände- Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11042 C
rung des Strafvollzugsgesetzes
(Drucksache 14/3763) . . . . . . . . . . . . . . . . 11033 C Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 11043 A
Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ 11043 C
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11033 D

Anlage 7
Anlage 1
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 11035 A Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Er-
gänzung vermögensrechtlicher und anderer
Vorschriften (Vermögensrechtsergänzungsge-
Anlage 2
setz) (Zusatztagesordnungspunkt 15) . . . . . . 11044 C
Erklärung der Abgeordneten Ina Lenke (F.D.P.)
zur Abstimmung über die Beschluss- Dr. Mathias Schubert SPD . . . . . . . . . . . . . . . 11044 D
empfehlung zu dem Entwurf eines Dritten Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/CSU 11045 B
Gesetzes zur Änderung des Bundeserzie-
hungsgeldgesetzes (Drucksache 14/3808) Dr. Michael Luther CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 11046 B
(Tagesordnungspunkt 20 a) . . . . . . . . . . . . . . . 11036 A
Sylvia Voß BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . 11047 C
Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11048 B
Anlage 3
Kersten Naumann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11048 D
Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten
Heinz Wiese (CDU/CSU) zur Abstimmung Rolf Schwanitz, Staatsminister BK . . . . . . . . . 11049 C
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 V

Anlage 8 Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Rede zu den Anträgen: Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Entwurfs eines fünften Gesetzes zur Än-
– Charta der Grundrechte der Europäischen derung des Strafvollzugsgesetzes (Tagesord-
Union nungspunkt 26) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11051 C
– Die Rechte der Bürger stärken – Für eine Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11051 C
bürgernahe Charta der Grundrechte der Eu- Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU . . . . . . . . . . . 11053 A
ropäischen Union
Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE
– Verbindlichkeit der Europäischen Grund- GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11054 C
rechtecharta und Beitritt der Europäischen Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11055 A
Union zur Europäischen Menschenrechts-
konvention Ulla Jelpke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11055 C
Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ 11056 A
– Für eine rechtsverbindliche Europäische
Grundrechtecharta
(Tagesordnungspunkt 25) . . . . . . . . . . . . . 11050 C Anlage 10
Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11050 D Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11057 A
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10941

(A) (C)

115. Sitzung

Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: Guten Morgen, liebe bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Die für heute Morgen angekündigte Geschäftsord- – Drucksache 14/3809 –
nungsdebatte entfällt, weil sich inzwischen alle Fraktio- Berichterstattung:
nen darauf verständigt haben, die von den Fraktionen Abgeordnete Siegrun Klemmer
Bündnis 90/Die Grünen und SPD verlangte Aktuelle Dietrich Austermann
Stunde nach der Beratung des Entwurfs eines Zivilpro- Antje Hermenau
zessreformgesetzes durchzuführen. Die Aktuelle Stunde Jürgen Koppelin
wird somit voraussichtlich kurz nach 13 Uhr aufgerufen. Dr. Christa Luft

Der Ältestenrat hat vereinbart, dass in der Haushalts- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
woche vom 11. September 2000 keine Regierungsbefra- Berichts des Ausschusses für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss)
(B) gung, keine Fragestunde und keine Aktuellen Stunden (D)
stattfinden sollen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich – zu dem Antrag der Abgeordneten Christina
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Schenk, Rosel Neuhäuser, Dr. Gregor Gysi und
der Fraktion der PDS
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
Ausbau eines bedarfsgerechten und öffent-
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- lich geförderten Betreuungs- und Freizeit-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines angebotes für Kinder bis zu 14 Jahren
Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundes-
erziehungsgeldgesetzes – zu dem Antrag der Abgeordneten Christina
Schenk, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der
– Drucksache 14/3553 –
PDS
(Erste Beratung 111. Sitzung)
Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreu-
– Zweite und dritte Beratung des von den Frak- ung für Frauen und Männer
tionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke,
eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes
Dr. Irmgard Schwaetzer, Klaus Haupt, weiterer
zur Änderung des Bundeserziehungsgeldes
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
– Drucksache 14/3118 –
Erziehungszeit statt Erziehungsurlaub
(Erste Beratung 99. Sitzung)
– Drucksachen 14/2758, 14/2759, 14/3192,
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- 14/3808 –
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Ju- Berichterstattung:
gend (13. Ausschuss) Abgeordnete Hildegard Wester
– Drucksache 14/3808 – Maria Eichhorn
Berichterstattung: Ina Lenke
Abgeordnete Hildegard Wester Irmingard Schewe-Gerigk
Maria Eichhorn Christina Schenk
Ina Lenke Zum Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeserzie-
Irmingard Schewe-Gerigk hungsgeldgesetzes liegen ein Änderungsantrag und ein
Christina Schenk Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.
10942 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Präsident Wolfgang Thierse

(A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Die Reform des Erziehungsgeldgesetzes ist durch ge- (C)
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen meinsame Anstrengungen der gesamten Bundesregierung
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. und der Regierungsfraktionen zustande gekommen. Ich
möchte an dieser Stelle allen Kolleginnen und Kollegen
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesmi-
für ihr Engagement ganz herzlich danken. Ich denke, auch
nisterin Christine Bergmann das Wort.
die Familien in diesem Lande werden das tun.
Wir tragen mit der hier vorgelegten Reform der geleb-
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
ten Vielfalt von Familien Rechnung. Wir versuchen das
milie, Senioren, Frauen und Jugend (von Abgeordneten
traditionelle Rollendenken, also die traditionelle Aufga-
der SPD sowie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN mit
benverteilung, ein Stück weit zu überwinden.
Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da-
men und Herren! Die Reform von Erziehungsgeld und Er- Wir verabschieden uns jetzt auch von dem wider-
ziehungsurlaub ist ein Kernstück unserer Familienpolitik sprüchlichen Begriff „Erziehungsurlaub“.
in dieser Legislaturperiode. (Ina Lenke [F.D.P.]: Das hat lange genug ge-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des dauert!)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Darüber sind wir uns alle einig. Wir haben ja alle aufge-
Wir haben damit nach jahrelangem familienpolitischen fordert, sich an der Debatte zu beteiligen. Bei aller Freude,
Stillstand im Lande bewiesen: Wir gestalten Familienpo- die mit Kindererziehung verbunden ist, wissen wir doch,
litik. Wir haben im Rahmen der Steuerpolitik finanzielle dass der Begriff „Urlaub“ vielleicht nicht ganz angebracht
Verbesserungen für Familien vorgenommen, wir haben ist. Wir werden den Erziehungsurlaub also künftig „El-
das Kindergeld erhöht und wir schaffen jetzt bessere Rah- ternzeit“ nennen. Einverstanden?
menbedingungen, damit Familien so leben können, wie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
sie es gerne möchten. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des F.D.P.)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Darauf können wir uns alle hier verständigen. In der Sa-
Wir nehmen dabei die vielfältigen Bedürfnisse von Fa- che lagen unsere Meinungen ja gar nicht weit auseinan-
milien sehr ernst. Wir eröffnen Eltern künftig mehr Wahl- der; aber Sie wissen doch so gut wie ich, dass manche Be-
möglichkeiten für ihre individuelle Lebensgestaltung. Mit griffe anders belegt sind und deshalb nicht zur Verfügung
der Reform des Erziehungsurlaubs erleichtern wir die stehen. Auf den Begriff „Elternzeit“ können wir uns aber
(B) Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Väter und Müt- alle verständigen. (D)
ter in diesem Land. (Klaus Holetschek [CDU/CSU]: Familien-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des zeit!)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Damit wird auch klar, worum es hier geht.
Durch die Erhöhung der Einkommensgrenzen wer- Meine Damen und Herren, Familienleben hat sich in
den zukünftig wieder mehr Familien in unserem Land Er- den letzten Jahren sehr gewandelt. Für die durchweg gut
ziehungsgeld erhalten. Dafür stellen wir jährlich etwa ausgebildeten jungen Frauen ist das berufliche Engage-
300 Millionen DM zur Verfügung, und das trotz unseres ment heute selbstverständlich. Beide, sowohl die jungen
strengen Haushaltskonsolidierungskurses, den wir im In- Frauen als auch die jungen Männer, wollen Beruf und Fa-
teresse künftiger Generationen und damit auch im Inte- milie; beides gehört in ihre Lebensplanung hinein. Auch
resse von Familien umsetzen. die jungen Männer wollen, dass Partnerschaft und Fami-
Wenn ich jetzt vonseiten der Opposition Forderungen lie gleichwertig neben dem Beruf stehen. Eine innovative
höre, das sei alles nicht genug, dann muss ich mich schon Familienpolitik muss zum Ziel haben, das zu ermögli-
sehr wundern; denn seit 1986 hat es keine Veränderungen chen. Junge Väter wollen heute mehr Zeit für ihre Kinder
bei den Einkommensgrenzen für das Erziehungsgeld ge- haben. Das ist sehr erfreulich.
geben. Sie hätten reichlich Zeit gehabt, die Entwicklung (Zuruf von der PDS: Ältere auch!)
ein Stück voranzutreiben.
– Da machen wir gar keine Abstriche; wir haben keine Al-
Nach 14 Jahren Stillstand erhöhen wir jetzt die Ein- tersgrenze eingeführt.
kommensgrenzen für den Bezug von Erziehungsgeld ab
Wir wissen aber auch, dass es noch eine frappierende
dem siebten Monat um rund 10 Prozent für Eltern mit ei-
Differenz zwischen dem gibt, was uns als Wunsch vorge-
nem Kind bzw. um rund 12 Prozent für Alleinerziehende
tragen wird und auch in der Freizeit zumindest gelebt
mit einem Kind. Der Kinderzuschlag bei den Einkom-
wird, und dem, wie dieses dann tatsächlich gehandhabt
mensgrenzen wird für jedes weitere Kind im Jahr 2001
wird, wenn Abstriche von der Erwerbsarbeit hingenom-
um 14 Prozent und in den Jahren 2002 und 2003 um je-
men werden sollen. Ich denke aber, dass die jungen Väter
weils weitere 670 DM angehoben. Das kann sich schon
heute erkannt haben, dass ihnen etwas entgeht, wenn sie
sehen lassen.
nur Wochenendpapas oder Abendpapas sind. Sie wollen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen und mehr Verant-
DIE GRÜNEN) wortung für die Erziehung der Kinder übernehmen. Ich
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10943
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann

(A) hoffe, dass die Möglichkeiten, die wir jetzt mit diesem Wenn dies nicht geschieht, führt dies zu Verhältnissen, die (C)
Gesetz neu eröffnen, von ihnen kräftig genutzt werden. nicht nur familienfeindlich, sondern auch inhuman sind.
Wir wollen eine Gesellschaft – darüber sind wir uns
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
einig –, die sich zu Kindern bekennt. Aber die Eltern, die
DIE GRÜNEN)
Kinder und Beruf miteinander verbinden wollen, müssen
Wir sind darauf schon alle ganz gespannt. Denn jetzt sind auch Unterstützung von der Politik und, wie ich meine,
auch einmal die jungen Väter dran; die Mütter haben das von den Unternehmen erfahren.
schon immer getan. Wir wollen die Väter darin unterstüt-
zen. Zum ersten Mal wird es mit dem neuen Erziehungs-
geldgesetz in Deutschland einen Rechtsanspruch auf
Wir schaffen mit diesem Gesetz die Wahlfreiheit bei Teilzeitarbeit geben. Das halte ich für ein zentrales fami-
der Gestaltung der Aufgabenverteilung in der Familie; das lienpolitisches Signal für eine familienfreundliche Ge-
starre System des Erziehungsurlaubs bzw. der Elternzeit sellschaft.
gehört also nun der Vergangenheit an. Künftig können Vä-
ter und Mütter zur gleichen Zeit Elternzeit nehmen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Wir erweitern die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit
während des Erziehungsurlaubes von derzeit 19 auf Betriebe mit mehr als 15 Beschäftigten müssen diesen
30 Wochenstunden für jeden Elternteil, der Elternzeit in Anspruch einlösen, wenn keine dringenden betrieblichen
Anspruch nimmt. Dank dieser Neuregelung müssen Väter Erfordernisse entgegenstehen.
und Mütter, die Elternzeit in Anspruch nehmen, nicht aus Nun ist über diese Regelung viel diskutiert worden.
dem Beruf aussteigen. Von diesen Veränderungen kann Manchen ging sie viel zu weit. Die Unternehmen begrüß-
die ganze Familie profitieren, zuallererst natürlich die ten zwar generell die Erhöhung auf 30 Stunden bei der
Kinder, weil sich aktive Väter und zufriedene Eltern im- Teilzeitarbeit. Über diesen Punkt gab es keinen Streit.
mer positiv auf ihre Entwicklung auswirken. Es können Aber den Rechtsanspruch haben sie weniger positiv zur
die Väter profitieren, weil ihnen Raum für eine aktive Va- Kenntnis genommen. Sie hätten ihn lieber für Betriebe ab
terschaft eingeräumt wird und sie ihr berufliches Engage- einer Beschäftigtenzahl von 50 gesehen. Die Regelung,
ment gleichzeitig mit der Mutter reduzieren können. Ich die für Betriebe mit mehr als 15 Beschäftigten gilt, wird
hoffe, die Väter tun es dann auch – ich sage das noch ein- 75 Prozent der Beschäftigten erfassen.
mal, weil man es gar nicht oft genug sagen kann – aber die
Mütter natürlich auch, weil sie künftig die Erziehungsar- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
beit besser mit dem Partner teilen können. Wenn Mütter DIE GRÜNEN)
(B) oder Väter allein erziehend sind, schafft der Rechtsan- Ich kann aus meiner langjährigen Erfahrung als Ar- (D)
spruch auf bis zu 30 Wochenstunden Teilzeitarbeit exis- beitssenatorin dazu nur sagen: Gerade in Kleinbetrieben,
tenzielle Sicherheit. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. ist von vornherein vieles machbar, weil man die betriebli-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen Belange kennt und weil vieles individuell zu regeln
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der ist. Wir werden uns natürlich anschauen, wie diese Rege-
F.D.P.) lung in den nächsten Jahren wirkt und ob sie die Erwar-
tungen erfüllt.
Darüber hinaus profitieren auch die Betriebe von zu-
friedenen, motivierten und qualifizierten Eltern, die den Darüber hinaus haben wir ein Budgetangebot einge-
Kontakt zum Betrieb aufrechterhalten, ihre Qualifikation führt. Ich halte das für sehr wichtig. Wir wissen, dass viele
und gleichzeitig ihre Erfahrungen und Kompetenzen aus Mütter und Väter zum Beispiel nur ein Jahr von dieser El-
der Erziehungsarbeit in den betrieblichen Prozess einbrin- ternzeit Gebrauch machen wollen. Sie können dann ihren
gen. Wir wissen, dass die berühmten sozialen Kompe- Anspruch auf Erziehungsgeld von maximal 600 DM auf
tenzen einen immer höheren Stellenwert in den Unter- 900 DM erhöhen. Das ist gerade für diese Familien eine
nehmen erhalten. Ich kann immer nur sagen: Das, was an- wichtige Hilfe.
sonsten in teuren Managementkursen antrainiert werden Wir haben mit diesem Gesetz ganz bedeutende Fort-
muss, kann man sehr viel einfacher durch Inan- schritte erreicht. Wir haben weitere Wahlmöglichkeiten
spruchnahme von Elternzeit, die auch noch im Interesse für Eltern geschaffen und versucht, das zu realisieren, was
der Familien liegt, hinbekommen. wir schon im Rahmen von Gesetzesvorhaben in anderen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bereichen angefangen haben. Wir wissen, dass Familien
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) in vielfältigen Formen zusammenleben. Aber in einer Fa-
milie – das ist unser Anliegen – müssen alle Familienmit-
Das sind alles Faktoren, die positiv zu Buche schlagen. glieder zu ihrem Recht kommen. Eltern müssen also
Ich möchte noch ein paar Worte zu den Unternehmen Wahlmöglichkeiten haben.
sagen. Viele Betriebe in diesem Land haben es ja unter
Für mich gehört Art. 6 des Grundgesetzes, nämlich der
Beweis gestellt: Familienfreundlichkeit und betrieblicher
Schutz von Ehe und Familie, immer mit Art. 3, mit dem
Vorteil können Hand in Hand gehen.
Recht auf Chancengleichheit, zusammen. Das heißt: Müt-
Wir müssen auch sagen: Wenn wir familienfreundliche ter und Väter müssen in einer Familie zu ihrem Recht
Arbeits- und Lebensbedingungen in diesem Land schaf- kommen. Dazu gehört auch die Umsetzung von Kinder-
fen wollen, dann müssen viele ihren Beitrag dazu leisten. rechten. Wir haben gestern – zu meiner großen Freude
10944 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Bundesministerin Dr. Christine Bergmann

(A) mehrheitlich – das Recht der Kinder auf gewaltfreie Er- Damit treffen Sie die jungen Familien mehr als alles an- (C)
ziehung verabschiedet. dere. 300 DM minus im Portemonnaie einer jungen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Durchschnittsverdienerfamilie, das ist eine ganze Menge.
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Darüber können auch Debatten nicht hinwegtäuschen.
F.D.P. und der PDS) Wenn Sie zu weiteren Erhöhungen kommen, greifen Sie
weiter tief ins Portemonnaie der jungen Familien.
Ich denke, dass wir mit diesem Gesetz, das wir heute ver-
abschieden, einen weiteren Baustein zu diesem Komplex (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der
hinzufügen, indem wir den Familien in unserem Land SPD)
weitere Wahlmöglichkeiten eröffnen.
Wir wissen, Familie ist „in“ auch bei jungen Men- Präsident Wolfgang Thierse: Frau Kollegin
schen – das ist sehr erfreulich; wir alle erleben es hoffent- Böhmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
lich um uns herum –, was zum Beispiel auch durch die Schewe-Gerigk?
letzte Shell-Jugendstudie dokumentiert wurde. Die Ju-
gendlichen erleben die Familie nicht nur deshalb positiv, Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Aber gerne.
weil sie dort vielleicht materiell abgesichert sind. Nein,
sie wollen in der Familie die traditionellen Werte wie Ge-
borgenheit finden. Sie wissen, dass die Familie ein Ort ist, Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
wo man Zuwendung, Rückhalt und Stärkung erfahren GRÜNEN): Frau Kollegin Böhmer, immer dann, wenn
kann. Genau das ist es, was eine moderne Familienpolitik wir etwas für die Förderung der Kinder und der Familien
fördern muss. tun, kommt dieser Oppositionsreflex, dass die Ökosteuer
Ich denke, wir tun das mit diesem Gesetz. Die Über- die Familien so belaste. Da ich das erwartet hatte, habe ich
nahme von Elternverantwortung muss mit anderen Ge- mich zahlenmäßig darauf vorbereitet. Ich möchte Sie gern
staltungswünschen vereinbar sein. Mehr Optionen in der fragen, ob Sie wissen, dass eine Familie mit zwei Kindern
Lebensgestaltung von Frauen und Männern und bessere und einem Einkommen von 60 000 DM bei einer durch-
Bedingungen, um Familien- und Erwerbsleben vereinba- schnittlichen Leistung ihres PKWs von 15 000 km und ei-
ren zu können, sind Ziele, für die wir uns nachhaltig ein- nem normalen Stromverbrauch durch die Entlastung bei
setzen und auch immer einsetzen werden. der Einkommensteuer, durch die Beitragssenkung in der
Rentenversicherung und das erhöhte Kindergeld am Ende
Danke.
im Jahr 2 000 DM mehr im Portemonnaie hat als vorher
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unter Ihrer Regierung. Ist Ihnen das bekannt?
(B) DIE GRÜNEN) (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile der Kolle-


gin Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Liebe Frau Schewe-
Gerigk, weil ich wusste, dass Sie rechnen würden, habe
auch ich gerechnet. Aber ich muss Ihnen sagen, das Er-
Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Guten Morgen, Herr gebnis, das ich erhalten habe – das ist seriös gegenge-
Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kol- rechnet; dabei habe ich auch die Senkungen bei den Ren-
legen! Frau Ministerin Bergmann, Sie haben heute erneut tenversicherungsbeiträgen berücksichtigt; da wollen wir
das Bundeserziehungsgeldgesetz als das Kernstück Ihrer fair sein –, besagt, dass es nicht zu einem Plus kommt.
Familienpolitik bezeichnet. Wenn das das Kernstück ist,
ist diese Familienpolitik eine komplette Enttäuschung. (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Was Sie auf der einen Seite geben, nehmen Sie auf der an-
Sie haben mit Ihren Ankündigungen zur Familienpoli- deren Seite wieder weg. Ich reiche Ihnen die Berechnun-
tik große Erwartungen in der Bevölkerung geweckt. Im
gen gern nach. 300 DM minus gilt für Familien mit
Koalitionsvertrag ist nachzulesen, dass sich die wirt-
80 000 DM Durchschnittseinkommen.
schaftliche und soziale Lage der Familien in unserem
Land spürbar verbessern soll. Aber was tut sich? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Eine neten der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter]
Menge! – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND- [SPD]: Alles nach dem Motto: Es bleibt schon
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Durch die Steuerre- etwas hängen!)
form, durch das Kindergeld!) Wir stehen nicht allein mit dieser Kritik, muss ich Ih-
Sie haben zwar das Kindergeld erhöht, aber auf der ande- nen sagen. Als am 15. Mai die Anhörung zum Bundes-
ren Seite schlagen Sie mit der Ökosteuer voll zu. erziehungsgeldgesetz stattfand, hat die Vertreterin des
DGB erklärt: Insgesamt bleibt der Gesetzentwurf deutlich
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – La- hinter unseren Erwartungen zurück, auch hinter dem, was
chen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE wir aufgrund der Koalitionsvereinbarung erhofft hatten.
GRÜNEN und der PDS – Wilhelm Schmidt
[Salzgitter] [SPD]: Diese Nörgelei hatten wir Der Verband allein erziehender Mütter und Väter be-
schon vorher erwartet!) zeichnet die Anhebung der Einkommensgrenzen – ich
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10945
Dr. Maria Böhmer

(A) zitiere – als „völlig unzureichend, weil sie weiterhin Al- Schritte, sondern das war eine große Anstrengung seitens (C)
leinerziehende zusätzlich auf die Sozialhilfe verweist“. der CDU/CSU.
(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: „Weiterhin“ ist (Beifall bei der CDU/CSU)
gut! Frau Böhmer, der Grund ist, dass Sie sie Ich will auch nicht vergessen zu erwähnen, dass der
jahrelang dorthin verwiesen haben!) Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Deut-
– Wenn Sie eine Frage stellen wollen, Frau Schmidt, kön- schen Bundestag von der Union durchgesetzt worden ist.
nen Sie das gern tun. (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen der Abg.
(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das war ein Ulla Schmidt [Aachen] [SPD])
Zwischenruf!) Wer bekennt eigentlich Farbe in der Familienpolitik?
– Lassen Sie es! Sie bekommen meine Antwort nachher Wenn Sie darüber lachen, dann sage ich: Schauen Sie in
noch. die SPD-regierten Bundesländer.
Die Vertreter der evangelischen und der katholischen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Familienverbände haben in dieser Anhörung zur Budge- neten der F.D.P.)
tierung gesagt: Die Budgetlösung ist ein Minusgeschäft Welches SPD-regierte Bundesland hat ein drittes Jahr Er-
für die Familien. – Das, was hier als Plus verkauft wird, ziehungsgeld gewährt? Keines! Pure Fehlanzeige an die-
ist ein dickes Minus in den Taschen der Familien. ser Stelle.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Widerspruch bei der SPD)
Nicht umsonst haben die Vertreterinnen der deutschen Die Länder, die Erziehungsgeld auch für ein drittes Jahr
Frauenverbände, von Gewerkschaften, Kirchen und Wis- gewährt haben, sind die unionsregierten Länder Bayern,
senschaft vor wenigen Tagen an den Bundeskanzler einen Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen.
offenen Brief geschrieben. Sie haben ihn darin aufgefor-
dert, das Gesetz zu Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld (Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Zöller
zu korrigieren. Und was geschieht hier? Keine Korrektu- [CDU/CSU]: Das ist der Unterschied zwischen
ren, nichts! Reden und Handeln!)
(Beifall bei der CDU/CSU) Die SPD war sogar so kühn, in Rheinland-Pfalz das Fa-
miliengeld für kinderreiche Familien abzuschaffen. Das
Es ist bedauerlich, aber dieser Entwurf des Bundes- war ein Skandal erster Klasse in Sachen Familienpolitik.
erziehungsgeldgesetzes ist kein großer Wurf; es ist eine
(B) Reform im Westentaschenformat. Es findet hier keine Re- (Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Zöller (D)
volution in Sachen Familienpolitik statt, wie ich es in den [CDU/CSU]: So sind die Sozis halt!)
letzten Debatten immer wieder gehört habe. Eine Revolu- Aber ich stimme mit Ihnen überein: Es ist an der Zeit,
tion in Sachen Familienpolitik hat 1986 durch die Union Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub weiterzuent-
stattgefunden, als wir Erziehungsgeld und Erziehungs- wickeln. So weit sind wir uns einig. Nur, Frau Ministerin,
urlaub eingeführt haben. es kommt darauf an, wie man das macht. Man muss es
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- richtig machen!
neten der F.D.P.) (Christel Hanewinckel [SPD]: Das haben wir
Wir haben in der Familienpolitik Maßstäbe gesetzt. an Ihrer Familienpolitik gemerkt!)

Wenn Sie uns heute erneut vorwerfen, es gebe seit Deshalb können Sie auch nicht die Augen vor unserer
14 Jahren einen Stillstand, dann möchte ich für Sie einige Kritik an Ihrem Entwurf zur Änderung des Bundeserzie-
Fakten in den Blickpunkt rücken, die man wissen sollte, hungsgeldgesetzes verschließen. Ich möchte die Kri-
wenn man Familienpolitik macht. tikpunkte einmal nennen.

(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Die Akten Sie haben 7 000 DM Kinderfreibetrag versprochen und
sind nicht mehr da! Deshalb geht es nicht!) sind jetzt bei 4 800 DM gelandet. Darüber täuscht auch
die anvisierte Erhöhung auf 6 140 DM nicht hinweg; denn
Als das Erziehungsgeld eingeführt wurde, wurde die damit bleiben Sie noch immer unter dem Exis-
Zahlung zunächst auf zehn Monate begrenzt. Dann wurde tenzminimum für Kinder.
die Frist auf 18 Monate und schließlich auf 24 Monate
Sie schaffen ungleiche Freibeträge für verheiratete El-
verlängert. Das ist kein Stillstand, das ist eine deutliche
tern und Alleinerziehende. Verheiratete Eltern sind Ihnen
Weiterentwicklung.
weniger wert; denn bei ihnen bleiben Sie unter dem Exis-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tenzminimum und bei Alleinerziehenden gehen Sie darü-
ber hinaus. Wie wollen Sie diese Ungleichbehandlung be-
Mit der deutschen Einheit standen wir vor einer großen
gründen? Ich kann keine Argumente dafür sehen.
Herausforderung. Wir haben all den jungen Familien in
den neuen Bundesländern auf einen Schlag die Möglich- (Beifall bei der CDU/CSU – Irmingard
keit gegeben, Bundeserziehungsgeld zu erhalten. Es sind Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
heute über 100 000 Familien, die jährlich in den Genuss NEN]: Es gibt ja auch eine stärkere Belastung
dieser Leistung kommen. Das waren keine kleinen von Alleinerziehenden!)
10946 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Dr. Maria Böhmer

(A) Dass die verheirateten Eltern gegenüber den Alleinerzie- scheiden, dann werden sie im Anschluss daran in eine (C)
henden deutlich benachteiligt werden, kann nicht famili- Betreuungsfalle für ihre Kinder tappen. Denn wer für den
enfreundliche Politik sein; dahinter verbirgt sich ein Lenkungsansatz ist, dass Eltern nur ein Jahr lang Erzie-
falsches Familienbild. hungsgeld in Anspruch nehmen, muss auch dafür sorgen,
dass flexible Möglichkeiten der Kinderbetreuung vorhan-
(Beifall bei der CDU/CSU) den sind, damit die betroffenen Eltern nachher nicht vor
Ein weiterer Minuspunkt: Wo bleibt die Dynamisie- dem Nichts stehen. Wenn ich an Bundesländer wie zum
rung der Freibeträge und des Erziehungsgeldes als sol- Beispiel Nordrhein-Westfalen denke, dann muss ich fra-
chem? In Ihrem Gesetzentwurf ist dafür kein Ansatz zu gen: Wo gibt es dort ausreichende Kinderbetreuungsmög-
sehen. Die Beträge bleiben unverändert. Sie haben uns lichkeiten?
immer heftig dafür kritisiert. Aber jetzt, da Sie die Chance (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
haben, das zu ändern, bleiben Sie im Bereich kleiner Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Aber ja!)
Schritte, weil Sie der Mut verlässt. Wenn ich mir den An-
trag anschaue, der im Jahre 1995 von Ihnen als damaliger Die sollten Sie uns einmal nachweisen. Sie hatten immer
Opposition hier vorgelegt worden ist, stelle ich fest, dass allergrößte Schwierigkeiten, im Bereich der Kinderbe-
Sie jetzt meilenweit hinter Ihren damaligen Ansätzen treuung voranzukommen. Deshalb muss ich feststellen:
zurückbleiben. Durch die Budgetlösung wird eine Betreuungsfalle auf-
gemacht. Das ist nicht im Sinne der Vereinbarkeit von Fa-
Und wie ist es mit der Budgetlösung? Auf den ersten milie und Beruf.
Blick kann man positiv feststellen: 900 DM pro Monat,
das heißt 300 DM monatlich mehr, für Mütter und Väter, (Beifall bei der CDU/CSU)
die sich für ein Jahr Erziehungsgeld entscheiden. Aber ich Ihr Gesetzentwurf enthält zwei Aspekte, die der gesell-
habe mittlerweile gelernt, dass es bei Rot-Grün immer gut schaftlichen Veränderung Rechnung tragen sollen. Der
ist nachzurechnen. eine Aspekt ist ein Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit und
(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das ist der andere ist der, dass man den Erziehungsurlaub auf
leider wahr!) acht Jahre verteilt nehmen kann. Beides ist meiner Mei-
nung nach eine Weiterentwicklung, die durchaus Sinn
Wenn man nachrechnet, stellt man fest, dass Ihre Rege- macht.
lung ein dickes Minusgeschäft für die Familien bedeutet,
die sich für ein Jahr Erziehungsgeld entscheiden; denn Aber auch hier muss man die Frage stellen: Wird es da-
dann haben sie am Ende 3 600 DM weniger in der Tasche, mit gelingen, Vätern mehr Anreize zu geben – das ist ja
als wenn sie sich für den vollen Erziehungsgeldzeitraum das Ziel dieser Lösung –, tatsächlich Erziehungsurlaub zu
(B) entscheiden. nehmen? Ich glaube, wir sind uns bei diesem Anliegen (D)
sehr einig. Denn partnerschaftliche Erziehung muss un-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ser gemeinsames Ziel sein. Nur, bei der Art und Weise,
Das ist keine tragfähige Lösung. Das ist Augenwischerei. wie Sie an die Väter appelliert haben, schwingt die Skep-
Damit machen Sie nicht nur eine Milchmädchenrechnung sis durch, die viele von uns haben. Ich glaube deshalb,
auf. Dies ist auch entlarvend für Ihr Konzept. auch an dieser Stelle sind Sie mit Ihrem Entwurf zu kurz
gesprungen.
Ich habe mir die in Ihrem Gesetzentwurf unter dem
Punkt „Kosten der öffentlichen Haushalte“ gemachten Wir sagen: Man muss besondere Anreize schaffen, da-
Ausführungen genauer angeschaut. Die Mehrausgaben, mit beide Elternteile Erziehungsurlaub nehmen können.
so steht hier zu lesen, würden kompensiert, und zwar zum Das heißt, wir wollen einen Bonus von einem halben Jahr
einen – das ist ganz klar zu erkennen – durch die genann- gewähren, wenn sich Vater und Mutter die Familienzeit,
ten Ansätze. Aber Sie haben zum anderen einen vierten so wie wir sie uns vorstellen, teilen. Denn nur durch An-
Minuspunkt für die Familien in der Tasche. Hier steht reize und Optionen wird es gelingen, dass junge Men-
nämlich – ich zitiere –: schen, Väter und Mütter, wirklich Ja zur Erziehung ihrer
Kinder sagen.
Diese Mehrausgaben werden großenteils kompen-
siert ... aufgrund der erhöhten Minderungsquote für (Beifall bei der CDU/CSU)
das Erziehungsgeld bei Einkommen oberhalb der Wir haben unsere Vorstellungen im vergangenen Jahr
Einkommensgrenze ... auf dem Parteitag der CDU zur Familienpolitik klar for-
Das heißt, Sie verteilen um, indem Sie die Minderungs- muliert. Sie werden sich in weiteren Diskussionen daran
messen lassen müssen, was auf der einen Seite negative
quote von 40 auf 50 Prozent erhöhen. So sieht Ihre Fami-
Entwicklungen und auf der anderen Seite innovative Lö-
lienförderung aus. Sie benachteiligen zahlreiche Fami-
sungen im Bereich der Familienpolitik anbetrifft. Dem
lien, die dadurch zukünftig kein Erziehungsgeld mehr er-
hier vorliegenden Gesetzentwurf können wir angesichts
halten werden.
der dicken Minuspunkte nicht zustimmen. Wir haben un-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sere Änderungsvorschläge in einem Änderungsantrag und
in einem Entschließungsantrag deutlich gemacht.
Deshalb sagen wir an dieser Stelle ganz klar: Das darf
nicht sein. Eine solche Lösung werden wir nicht mitma- Ich habe soeben gehört, dass Sie jetzt endlich die Be-
chen. Wenn sich Eltern tatsächlich für eine Inan- zeichnung „Erziehungsurlaub“ ändern wollen. Denn der
spruchnahme des Erziehungsgeldes nur für ein Jahr ent- Erziehungsurlaub ist für Eltern keine Ferienzeit. Das ist
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10947
Dr. Maria Böhmer

(A) harte Arbeit von Mutter und Vater und muss entsprechend Letzteres hatte natürlich Folgen: Erstens. Das Einkom- (C)
gewürdigt werden. men der Familie ging rapide zurück, denn immer noch
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- verdienen Männer mehr als Frauen.
neten der F.D.P.) (Ina Lenke [F.D.P.]: Das stimmt nicht mehr!)
Frau Ministerin Bergmann, ich hatte schon fast den Ein- Zweitens war der Karriereknick vorprogrammiert; denn
druck, Sie seien versucht, in Deutschland ein Preisaus- in unserer so angeblich fortschrittlichen Gesellschaft wer-
schreiben dahin gehend zu machen, wie der neue Begriff den Männer noch immer als Softies angesehen, wenn sie
heißen soll. Jetzt bin ich ein Stückchen beruhigter, dass Windeln wechseln und Babys füttern, statt Aktienkurse zu
Sie sich endlich zu einer neuen Bezeichnung durchgerun- beobachten.
gen haben. Denn neue Bezeichnungen setzen Signale.
(Ina Lenke [F.D.P.]: Nein, das stimmt nicht
Wir werden weiter mit aller Kraft daran arbeiten, mehr!)
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Die theoretische Aufgeschlossenheit der Väter wollen
ja nicht viel!) wir jetzt zu einer praktischen Verhaltensänderung
dass Eltern bzw. Familien keine Benachteiligungen erfah- führen. Wir wollen die Verhaltensstarre der Männer auf-
ren, wie sie für viele Familien in dem vorliegenden Ge- lösen; denn mit dem vorgelegten Gesetzentwurf zur Neu-
setzentwurf angelegt sind. Deshalb gilt es, über Ansätze gestaltung des Erziehungsgeldgesetzes gibt es einen
zur Veränderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes wei- Rechtsanspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit für drei
ter zu streiten. Wir wollen gleiche Chancen und eine bes- Jahre. Väter und Mütter können diese Zeit gleichzeitig in
sere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Anspruch nehmen. Wenn beide nicht mehr als 30 Stunden
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- erwerbstätig sind, erhalten sie zudem das Erziehungsgeld.
neten der F.D.P.) Das heißt, das alte gewerkschaftliche Motto „Samstags
gehört Papi mir“ können wir auf den Freitag und den
Montag erweitern. Väter können also für eine bestimmte
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile der Kolle- Zeit ihr Kind zur „Chefsache“ machen, wie es eine Väter-
gin Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. kampagne des nordrhein-westfälischen Frauenministeri-
ums vorsieht.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Im Gesetzentwurf festgeschrieben ist der Rechtsan-
NEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! spruch zunächst leider nur für Beschäftigte in Unterneh-
„Verpass nicht die Rolle deines Lebens!“ Mit diesem Ap- men ab 15 Personen. Ich hoffe aber, dass auch kleinere (D)
(B) pell trat ein Werbemanager vor kurzem an seine Ge-
Betriebe mit weniger als 15 Personen, die einen hohen
schlechtsgenossen heran, um deutlich zu machen, dass die
Anteil an Teilzeitbeschäftigten haben, diese Vereinbarung
eindimensionale Orientierung der Männer auf die Er-
umsetzen.
werbsarbeit sie um einen wichtigen Teil ihres Lebens be-
raubt, nämlich um das Leben mit Kindern. Nicht umsonst Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch zwei Verbes-
sprechen wir davon, dass Kinder in einer vaterlosen Ge- serungen nennen – wir haben aus der Anhörung und aus
sellschaft aufwachsen, denn nur 1,5 Prozent der Väter ent- den vielen Anregungen gelernt –: Erstens. Die Zahl der
scheiden sich für den „Erziehungsurlaub“, den wir künf- Beschäftigten richtet sich nicht mehr nach dem Kün-
tig „Elternzeit“ nennen. Frau Böhmer, ich muss mich über digungsschutzgesetz, denn das hätte 30 Beschäftigte mit
Ihren Vorwurf schon sehr wundern. Ich frage mich: Wer Teilzeitarbeit bedeutet, sondern es sind tatsächlich 15 Per-
hat denn den Begriff „Erziehungsurlaub“ eigentlich ein- sonen. Die zweite Änderung: Es wird im Jahre 2004 eine
geführt? Überprüfung geben, welche Probleme mit diesem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechtsanspruch für Väter und Mütter sowohl für die Ar-
und bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] beitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch für die Be-
[SPD]: Deswegen war das auch besonders wit- triebe entstanden sind und welche gesetzlichen Ände-
zig! – Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Sie ha- rungen notwendig sind,
ben gar nicht zugestimmt! Wir hätten ihn nicht,
(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist das
wenn es nach Ihnen gegangen wäre!)
Mindeste, was man machen muss!)
Nur jeder 16. Mann arbeitet Teilzeit – und das, obwohl
sich nach einer Umfrage 86 Prozent der jungen Männer denn wir betreten ein neues juristisches Gebiet. Insofern
ein Leben in einer Partnerschaft mit Kind wünschen. Da- werden wir das Ganze kontrollieren. Die Auswertung er-
neben fänden es drei viertel dieser Männer gut, wenn sich warte ich mit Spannung, weil ich glaube, dass weniger die
Männer mehr um Familie und Haushalt kümmern und Mütter Probleme haben, ihren Rechtsanspruch umzuset-
dafür im Beruf kürzer treten würden. Bisher fanden Män- zen, als vielmehr die Väter.
ner eine Reihe von Gründen, weshalb sie ihre Wünsche Aber lassen Sie mich zum Kernstück der Neuregelung
nicht in die Tat umsetzen konnten und Zaungäste in ihrer kommen. Es ist nicht das Kernstück der Familienpolitik,
Familie waren; denn bisher standen sie vor der Entschei- wie Sie, Frau Böhmer, vorhin gesagt haben, aber es ist ein
dung, entweder ganz an ihrem Arbeitsplatz zu bleiben wichtiger Baustein.
oder ganz für die ersten Lebensjahres ihres Kindes aus-
zusteigen. (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Aha!)
10948 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Irmingard Schewe-Gerigk

(A) Der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit während der ers- res des Kindes der Betrag von 600 DM über zwei Jahre in (C)
ten drei Erziehungsjahre stellt nun ein absolutes Novum Anspruch genommen werden. Was wollen Sie eigentlich
dar. Hier ist es uns endlich gelungen, einen Einstieg noch mehr?
während der Erziehungszeit zu wagen. Ich würde mir
(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Fragen Sie
wünschen und ich hoffe, dass wir auch im Bündnis für Ar-
die Familien! Die wollen etwas anderes!)
beit noch längere Zeiten als diese drei Jahre erreichen
können. Das wird natürlich eine freiwillige Vereinbarung Hinzu kommt, dass künftig wieder mehr Familien Er-
mit der Wirtschaft sein müssen. ziehungsgeld bekommen. Wir konnten eine Erhöhung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Einkommensgrenzen um rund 10 Prozent und eine
sowie bei Abgeordneten der SPD) stufenweise Erhöhung des Kinderzuschlags auf bis zu
6 140 DM im Jahre 2003 nach harten Verhandlungen mit
Die zweite wichtige Neuerung ist, dass nicht mehr ent- dem Finanzminister durchsetzen. Immerhin sind das
weder Vater oder Mutter die Erziehungszeit nimmt, son- 100 Millionen DM mehr. Sie sagen nun, das sei viel zu
dern dass sie von beiden gleichzeitig genommen werden wenig. Ich kann mich daran erinnern, dass auch Sie häu-
kann. Dies bedeutet, dass die zur Verfügung stehenden fig Verhandlungen mit Finanzminister Waigel geführt hat-
Jahre inklusiv eines flexiblen dritten Jahres, das bis zum ten. Frau Nolte versprach uns immer, die Einkommens-
achten Lebensjahr des Kindes in Anspruch genommen grenzen zu erhöhen, konnte sich offensichtlich aber bei
werden kann, nicht nur abwechselnd, sondern auch zu Finanzminister Waigel nicht durchsetzen. Das mussten
zweit genommen werden können. Vater und Mutter haben wir erst in die Hand nehmen.
also einen Anspruch auf volle drei Jahre Erziehungszeit.
Damit werden wir auch den Ansprüchen der EU-Richtli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nie gerecht. Ein Jahr dieser drei Jahre ist das so genannte und bei der SPD)
flexible Jahr, das in Absprache mit dem Arbeitgeber um- Dass die Einkommensgrenzen niemals erhöht wurden,
gesetzt werden kann. Allerdings kann der Arbeitgeber hat dazu geführt, dass beinahe jede zweite Familie das
dringende betriebliche Gründe nennen, die dem entge- volle Erziehungsgeld nach dem siebten Lebensmonat des
genstehen. Ich hoffe aber, dass es auch hier eine einver- Kindes nicht mehr erhalten hat. Wir reißen jetzt das Ru-
nehmliche Lösung zwischen Arbeitgebern und Arbeitneh- der herum und sorgen für eine bessere Förderung der Fa-
mern gibt. milien. Daran werden Sie uns auch nicht hindern, wenn
Das Gesetz bringt weitere Vorteile: Begrenzt man die Sie immer wieder die Ökosteuer diskutieren.
Inanspruchnahme des Erziehungsgeldes künftig auf nur (Ina Lenke [F.D.P.]: Aber die Diskussion gibt
ein Jahr, besteht die Möglichkeit, für dieses Jahr im Rah- es doch!)
(B) men des Budgets einen erhöhten Betrag in Höhe von (D)
900 DM zu erhalten. Frau Böhmer, ich möchte an dieser – Ich habe Ihnen ja gerade gesagt, wie die Entlastung der
Stelle mit einem Vorurteil von Ihnen aufräumen. Das ist Familien ist.
doch keine Schlechterstellung. Ein weiterer Punkt, der sich auf die Erwerbstätig-
(Gerald Weiß [Groß-Gerau] [CDU/CSU]: Das keit von Müttern und Vätern positiv auswirken wird, ist
ist kein Vorurteil, sondern Adam Riese! – die Erhöhung der zulässigen Teilzeitarbeit von 19 auf
Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist ein ein- 30 Stunden. Heute schließt eine Erwerbstätigkeit von
faches Rechenexempel!) mehr als 19 Stunden den Bezug von Erziehungsgeld völ-
lig aus. Damit kommen wir auch vielen Alleinerziehenden
– Lassen Sie mich das doch einmal ausführen. – Wenn Sie entgegen, die wir davor bewahren, in die Sozialhilfe ab-
bisher ein Jahr Erziehungszeit in Anspruch genommen gedrängt zu werden.
haben, haben Sie 600 DM im Monat bekommen. Wenn
Sie sich künftig für nur ein Jahr Erziehungszeit entschei- Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Vereinbarkeit
den, werden Sie 900 DM erhalten, also 300 DM pro Mo- von Familie und Beruf gehört auch eine bedarfsgerechte
nat mehr. Kinderbetreuung. Hier gibt es gerade in den alten Bun-
desländern immer noch enorme Lücken. Das betrifft das
(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist eine Betreuungsangebot für Kinder unter drei und über sechs
völlig verkehrte Rechnung! Barer Unsinn!) Jahre. Deutschland ist hier im europäischen Vergleich ein
Schon in der Vergangenheit gab es viele Familien, die nur absolutes Schlusslicht. Nicht nur Kindertagesstätten, son-
ein Jahr Erziehungszeit in Anspruch genommen haben. dern auch Ganztagsschulen in allen Schulformen wurden
Deshalb bitte ich einfach, diese Rechnung nachzuvollzie- aufgrund von ideologischen Vorbehalten der CDU/CSU
hen. und der F.D.P. nicht errichtet.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/
CSU)
Als Ergebnis der Sachverständigenanhörung haben wir
auch eine Härtefallregelung zum Budgetbetrag aufge- Darum teile ich zwar den Inhalt des PDS-Antrags, dass
nommen. Sollte also im ersten Jahr die Familie einer be- wir hier einen Nachholbedarf haben, nicht aber das Vor-
sonderen Härte ausgesetzt sein – wir denken hier etwa an haben der PDS, dass die Länder ausführen müssen, was
eine erhebliche Gefährdung ihrer wirtschaftlichen Exis- der Bund beschließt. Nach diesem Muster ging die alte
tenz –, kann zusätzlich während des zweiten Lebensjah- Bundesregierung beim Rechtsanspruch auf einen Kinder-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10949
Irmingard Schewe-Gerigk

(A) gartenplatz vor: Der Bund beschließt, die Länder und Oppositionsfraktion CDU/CSU doch mehr Substanz ha- (C)
Kommunen zahlen. Dieses üble Spiel werden wir nicht ben müssen.
weiterführen. Vielmehr werden wir dafür sorgen, dass die
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
Länder und Kommunen wieder mehr finanzielle Spiel-
der SPD)
räume haben,
Wir jedenfalls haben ein umfassendes Konzept vorgelegt.
(Ina Lenke [F.D.P.]: Unterhaltskosten-
vorschussgesetz!) Der alte Erziehungsurlaub soll modernisiert werden, er
soll den Bedürfnissen der Eltern und, so meine ich, der
damit sie diese dringend notwendigen Einrichtungen zur
Betriebe gerecht werden; denn die Arbeitswelt hat sich
Verfügung stellen können. Hier können wir tatsächlich
verändert. Deshalb müssen wir alte Konzepte auf den
vom Osten lernen.
Prüfstand stellen und neue entwickeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der heutigen Ge-
setzesänderung werden wir natürlich nicht sofort die Meine Damen und Herren, was ändert sich denn bei
Wirklichkeit ändern; das ist mir auch klar. Aber wir geben SPD und Grünen? Der Gesetzentwurf sieht eine Er-
Anreize und machen Angebote. Ich hoffe, dass die Eltern höhung des Erziehungsgelds im ersten Jahr um 300 DM
und insbesondere die Väter dieses aufgreifen werden. Wir vor, und die Einkommensgrenzen werden um 10 Prozent
werden dazu sicherlich noch eine Öffentlichkeitskampa- erhöht. Wenn wir uns ansehen, wie sich die Löhne und
gne machen. Wir werden herausstellen, welche Bereiche- Gehälter und die Kosten für Kinder entwickelt haben,
rung es auch für ein Leben von Vätern ist, wenn sie Zeit dann wissen wir, dass das viel zu wenig ist. Wir haben
für ihre Kinder haben. Ich glaube, wir sind auf einem noch einmal die Hälfte bei den Einkommensgrenzen
guten Weg. draufgelegt. Wir wissen, dass auch das zu wenig ist, und
wir hätten uns gern mit Ihnen darüber geeinigt, eine deut-
Vielen Dank. liche Anhebung der Einkommensgrenzen bei der Ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN währung von Erziehungsgeld für Mütter und Väter umzu-
und bei der SPD) setzen.
(Beifall bei der F.D.P.)
Präsident Wolfgang Thierse: Nun hat das Wort die Wir meinen allerdings, dass Ihre zeitliche Ausgestal-
Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion. tung nicht ausreicht. Frau Bergmann, ich muss schon sa-
gen: Sie nehmen den Mund – ich meine das jetzt nicht di-
Ina Lenke (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und rekt und persönlich – ziemlich voll, wenn Sie sagen: Wir
(B) Herren! Wir beraten heute Änderungen eines Schutzge- tragen gelebter Vielfalt Rechnung. – Schauen Sie sich (D)
setzes für Eltern. Es geht um den Erhalt des Arbeitsplat- bitte unser Konzept an! Schauen Sie sich Ihr Konzept an!
zes nach der Geburt des Kindes und das Recht auf eine Dann werden Sie sehen, dass die Vielfalt nicht in Ihrem
zeitlich begrenzte Beschäftigung während der Erzie- Konzept liegt, sondern ganz bestimmt in unserem. Ich
hungszeit. werde das noch kurz erläutern.
(Lachen bei der SPD – Hildegard Wester (Beifall bei der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Sie
[SPD]: Ein Schutzgesetz?) nehmen den Mund aber auch sehr voll, Frau
Lenke!)
– Natürlich ist das ein Schutzgesetz! Oder sehen Sie das
nicht so? Sonst hätten wir es doch nicht. – Ja, aber die SPD hätte doch ein bisschen mehr Vielfalt
in ihr Konzept einbringen können. Das hat sie aber nicht,
(Hildegard Wester [SPD]: Artenschutz!) sie ist unserem Vorschlag nicht gefolgt.
Ich denke, der Schutz des Arbeitsplatzes nach der Ge- Wir meinen, dass dieses Gesetz immer noch ein zu en-
burt eines Kindes ist eine ganz wichtige Sache, und des- ges Korsett für Eltern und Betriebe ist. Ein Schutzgesetz
halb sind wir 1986 alle der Meinung gewesen, dass dieses muss nämlich viel Raum geben, um die Erziehungszeit
Gesetz sein muss. zwischen den Beteiligten flexibel zu vereinbaren und
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nach einvernehmlichen Lösungen suchen zu können.
Warum geben Sie nicht, wie es unser Vorschlag vorsieht,
Von daher weiß ich überhaupt nicht, welchen Grund Sie
vorab mehr Raum für individuelle Lösungen?
haben, über diese Dinge zu lachen. Auch Sie wissen, dass
manche Schutzgesetze für Frauen Beschäftigungsfallen (Beifall bei der F.D.P.)
waren, zum Beispiel das Nachtarbeitsverbot. Sie sollten
Bei unserem Vorschlag nimmt sich der Staat erst ein-
sich daher lieber ernsthaft mit der Sache beschäftigen und
mal zurück
nicht, wenn die Opposition etwas sagt, nur darüber la-
chen. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) und lässt die handelnden Personen individuelle Lösungen
für sich selbst finden. Ich meine, das ist ein liberaler An-
Ich will jetzt zum eigentlichen Gesetz kommen. Alle
satz,
Fraktionen haben Konzepte vorgelegt. Das Konzept der
CDU/CSU ist ein bisschen dünn. Da hätte die große (Beifall bei der F.D.P.)
10950 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Ina Lenke

(A) den wir durchgängig – „gender mainstreaming“ – in allen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wo (C)
Gesetzen durchsetzen werden, die Frauen und Familie be- haben Sie das denn her?)
treffen. Nun ganz kurz zu unserem Vorschlag: Wir wollen für
Ein Kritikpunkt am SPD/Grünen-Gesetz ist der neu Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgebe-
eingeführte Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit während rinnen und Arbeitgeber einen großen Spielraum bei der
der ersten Lebensjahre des Kindes. Dies geschieht bei Be- Gestaltung der Erziehungszeit. Arbeitnehmer und Arbeit-
trieben mit 15 und mehr Mitarbeitern. Ich habe mir wirk- geber können sich gemeinsam einigen, wie oft bis zum
lich die Mühe gemacht, Frau Schewe-Gerigk, im Aus- Schuleintritt des Kindes gewechselt und wie gearbeitet
schuss und im Parlament nachzufragen, wie Sie auf diese wird, und zwar 600 Stunden in sechs Monaten.
gesetzte Größe kommen. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ GRÜNEN]: Da werden sich die Arbeitgeber
DIE GRÜNEN]: Wir wollten lieber fünf! Dies aber freuen!)
ist ein Kompromiss!) Hier muss man sagen, dass bei unserem Vorschlag einfach
Frau Schmidt hat gesagt: Diese Größe haben wir fest- vielfältigere Möglichkeiten für individuelle Lösungen be-
gelegt. Sie hat es überhaupt nicht begründet. Sie hat dann stehen.
noch angedroht, dass sie in den nächsten Jahren noch he- (Beifall bei der F.D.P. – Widerspruch bei der
runtergesetzt werde. Die Betriebe werden sich freuen. Sie SPD)
sind sehr „mittelstandsfreundlich“. Wenn dann noch Ihr
Zur Erhöhung des Erziehungsgeldes: Wir haben
Gleichstellungsgesetz für die Wirtschaft kommt, werden
800 DM für zwei Jahre vorgeschlagen. Dies und die Ein-
wir sehen, ob die Betriebe nach wie vor bereit sind, Ihrer kommensgrenzen habe ich vorhin schon genannt.
Regierung Zusagen über die Einstellung von Frauen zu
machen. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Sie sich nicht
bemühen, die Antragstellung für Familien – wie wir es
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten vorgeschlagen haben – zu erleichtern. Dazu habe ich von
der CDU/CSU) Ihnen überhaupt nichts gehört. Es wäre schön, wenn die
Wir meinen, dass es sich Betriebe mit 15 bis 20 Mitar- Rednerin der SPD auf diese Dinge einginge. Wir sind mo-
beitern schwer überlegen werden, ob sie überhaupt noch bil. In jedem Bundesland gibt es andere Voraussetzungen
Frauen einstellen. und Ansprechstellen. Dies sollten Sie einmal mit den Län-
dern besprechen.
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
(B) DIE GRÜNEN]: Und Männer schon gar nicht, Bei SPD und Grünen ist vieles erlaubt, nein: vieles ver- (D)
weil Männer auch Erziehungsurlaub nehmen boten. Bei uns ist vieles erlaubt. – Dies war keine freud-
können! – Christian Simmert [BÜNDNIS 90/ sche Fehlleistung, Frau Schmidt. Also: Bei der SPD und
DIE GRÜNEN]: Die stellen gar keinen mehr den Grünen ist vieles verboten und bei uns ist vieles er-
ein!) laubt.

Denn bei Inanspruchnahme des Rechtsanspruchs auf Er- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Alles, was Spaß macht, ist ver-
ziehungsurlaub geraten sie in Schwierigkeiten. Ich will
boten!)
nur sagen: Man kann dies positiv sehen, aber man muss
auch sehen, dass es zwei Seiten der Medaille gibt. Wir Wir tragen der Lebensvielfalt von Menschen, die in
werden abwarten und sehen, wie sich dies entwickelt. Partnerschaften leben, Rechnung. Wir wollen hier ein
Stück weitergehen. Wir wollen das Gesetz gern mit Ihnen
(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Wir machen zusammen modernisieren, aber mit unseren Alternativen.
einen Bericht!) Gleichberechtigung in der Gesellschaft ist durch dieses
Der Deutsche Frauenrat hat Ihr Gesetz negativ be- Gesetz – da geben Sie mir Recht – sicher nicht erreicht
wertet. Er kommt zu dem Schluss, dass mit der Reform worden. Das Gesetz mildert nur die Nachteile der Eltern-
hinsichtlich der Umverteilung von Erwerbs- und Erzie- schaft.
hungsarbeit zwischen Männern und Frauen nichts erreicht Zum Schluss habe ich noch einen Wunsch: Ich würde
wurde. Meines Erachtens ist der Anreiz für Männer, auch mir wirklich wünschen, dass viele junge Männer die Kraft
einmal Erziehungsurlaub zu nehmen – wie Frau Schewe- finden – den Wunsch, Kinder mit zu erziehen, haben die
Gerigk es gesagt hat –, in diesem Gesetz sehr schwer zu jungen Männer –, ihrem Arbeitgeber zu sagen: Ich möchte
finden. einen Monat, zwei oder drei Monate bei meinem Kind
(Beifall bei der F.D.P.) bleiben.

Die PDS hat einen Antrag vorgelegt, Frau Schenk, der (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE
sich wirklich nicht finanzieren lässt. Das wissen Sie auch. GRÜNEN]: Mit diesem Gesetz haben sie gute
Das Ganze ist reine Parteitaktik. Auf den Antrag der CDU Anreize!)
kann ich eigentlich nicht eingehen, weil er kein rundes Diejenigen, die diese Kraft finden, werden in unserer Ge-
Konzept enthält. Er ändert nur die starken Verwerfungen, sellschaft auch von Frauen diskriminiert. Wenn ein Mann
die SPD und Grüne haben. zu Hause ist, wird gesagt: Hausmann, der hat wohl keine
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10951
Ina Lenke

(A) Lust zu arbeiten. Dies muss sich in unseren Köpfen än- Der entscheidende Mangel ist, dass das Gesetz keine (C)
dern. Dafür sitzen wir hier im Parlament und sprechen mit substanziellen finanziellen Verbesserungen für Familien
unseren Bürgern und Bürgerinnen. bringt. Das Erziehungsgeld bleibt mit 600 DM ein Ta-
schengeld. Berücksichtigt man allein die Preisentwick-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten lung seit 1986, hätten 1999, also im vergangenen Jahr, be-
der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- reits 863 DM gezahlt werden müssen. Der andere Punkt
SES 90/DIE GRÜNEN – Christian Simmert ist, dass die Einkommensgrenzen nur minimal erhöht
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Ar- werden. Nach der Gesetzesänderung werden gerade ein-
beitgeber müssten dann auch noch Ja sagen! mal 55 Prozent der Familien Erziehungsgeld erhalten;
Das wäre schön!) jetzt sind es 50 Prozent. Diese Zahl wird in Kürze sinken –
das ist auch so gewollt; das ist dem Gesetzentwurf zu ent-
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile der Kolle- nehmen –; denn die Einkommensgrenzen sollen nicht dy-
gin Christina Schenk von der PDS-Fraktion das Wort. namisiert werden. Damit werden die jetzigen Mehrausga-
ben eingefroren. Hier wird wieder auf Kosten der Fami-
lien gespart. Das ist für uns nicht akzeptabel.
Christina Schenk (PDS): Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! In wohl kaum einem anderen Industrie- (Beifall bei der PDS)
land wird die Erwerbstätigkeit von Frauen mit Kindern so Auch das budgetierte Erziehungsgeld, im Grunde ge-
gezielt unterlaufen wie in der Bundesrepublik. Das 1986 nommen eine gute Idee, dient letztendlich der Mittel-
eingeführte Bundeserziehungsgeldgesetz ist – das muss ersparnis; das ist hier schon ausgeführt worden. Bei ent-
man so klar sagen – ein äußerst wirksamer Teil dieser Ver- sprechender Ausgestaltung könnte das budgetierte Er-
hinderungsstrategie. Es erwies sich als regelrechte Frau- ziehungsgeld der Einstieg in die Zahlung von Lohn-
enfalle: Für 600 DM Erziehungsgeld werden Frauen aus ersatzleistungen sein, wie das vielerorts anstelle von Er-
dem Arbeitsmarkt herauskomplimentiert. Nur etwa die ziehungsgeld gefordert wird. Es ist vor allen Dingen auch
Hälfte der Frauen – das wissen Sie genauso gut wie ich – ein Signal, sich nicht in die Falle des Drei-Phasen-Mo-
kehrt nach dem Erziehungsurlaub wieder in den Beruf dells zu begeben. Der Pferdefuß aber ist: Wer ein Jahr lang
zurück, und das meist zu verschlechterten Bedingungen. das erhöhte Erziehungsgeld von 900 DM in Anspruch
Der Anteil der Männer, die in den so genannten Erzie- nimmt, bekommt unterm Strich 3 600 DM weniger als
hungsurlaub gehen, hat die 2-Prozent-Marke nie über- diejenigen, die zwei Jahre lang 600 DM in Anspruch ge-
schritten. nommen haben. Da fehlen pro Monat 300 DM im Porte-
monnaie.
Im Klartext: Das Bundeserziehungsgeldgesetz schafft
(B) in Verbindung mit der völlig unzureichenden Bereitstel- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE (D)
lung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten die Rahmenbe- GRÜNEN]: Aber eine Person, die das früher
dingungen für das Drei-Phasen-Modell, nicht aber für nur ein Jahr in Anspruch genommen hat, hat
eine tatsächliche Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und dafür nur 600 DM gekriegt!)
Beruf. – Frau Schewe-Gerigk, Sie können nicht bestreiten, dass
(Beifall bei der PDS) es unterm Strich tatsächlich ein Minus ist.
Löblicherweise will Rot-Grün an dieser Situation et- Ich stelle also fest: Die Familienpolitik darf auch bei
was ändern. Die Reform des Bundeserziehungsgeldgeset- der rot-grünen Bundesregierung nichts kosten. Die Ver-
zes wurde von der Bundesministerin Frau Bergmann gar einbarkeit von Beruf und Familie – das ist nicht bestritten
als Kernstück ihrer Familienpolitik gepriesen. In Anbe- worden, insbesondere auch von uns nicht – ist nicht zum
tracht des hier vorliegenden Entwurfs muss man konsta- Nulltarif zu haben, sondern kostet selbstverständlich
tieren, dass das nichts als große Worte sind. Die Ände- Geld. Das haben wir in unseren Anträgen auch ausgeführt.
rungen im Bundeserziehungsgeldgesetz bringen zum ei- Aber die hier veranschlagten 400 Millionen DM sind
nen nur wenigen Eltern Vorteile und sind zum anderen dafür ein nachgerade lächerlicher Betrag.
teilweise nichts als Mogelpackungen. Noch ein Wort zu den Vätern: Ohne eine entspre-
So wundert es mich auch nicht, dass vor genau einer chende finanzielle Kompensation der Einkommensver-
Woche führende Vertreterinnen der Frauenverbände, der luste werden diese weder motiviert noch in die Lage ver-
Gewerkschaften, der Kirchen und der Wissenschaft in ei- setzt, in den Erziehungsurlaub zu gehen oder auch nur den
nem offenen Brief massive Kritik an dem Gesetzentwurf neuen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit wahrzunehmen.
der Bundesregierung geübt haben. Diese Kritik teilt die Das weiß auch die Bundesministerin; das ist nämlich das
PDS voll und ganz. Ich möchte hier deutlich anmerken: Ergebnis einer repräsentativen Studie, die das Bundesfa-
Die Forderungen, die von diesen Vertreterinnen erhoben milienministerium in Auftrag gegeben hat. Ich frage mich
werden, entsprechen ziemlich genau dem, was in den An- natürlich, wozu, wenn daraus nicht die entsprechenden
trägen der PDS formuliert ist. Insofern, Frau Lenke, ist Schlussfolgerungen gezogen werden.
das nicht bloß reine Parteitaktik. Vielmehr entsprechen Die PDS fordert die Zahlung einer Lohnersatzleistung
unsere Forderungen offensichtlich denen dieser Frauen
statt der Ausstiegsprämie von 600 DM. Vätern würde so
und damit den Notwendigkeiten bei der Kinderbetreuung.
das Argument genommen, schon allein aus finanziellen
(Beifall bei der PDS – Ina Lenke [F.D.P.]: Frau Gründen den Erziehungsurlaub oder den Anspruch auf
Schenk, die Kosten! Lohnersatz!) Teilzeitarbeit nicht wahrnehmen zu können.
10952 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Christina Schenk

(A) Unsere Vorschläge zielen auf eine tatsächliche Wende Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Frau Kollegin (C)
in der Familienpolitik, die die Diskriminierung von Wester, ist Ihnen bekannt, dass, als Erziehungsgeld und
Frauen abbaut und Väter in die Erziehungsarbeit einbe- Erziehungsurlaub eingeführt worden sind, von der dama-
zieht. Deswegen wollen wir auch zu der hälftigen Teilung ligen unionsgeführten Bundesregierung auf einen Schlag
der Freistellung zwischen Frauen und Männern motivie- ein Betrag von 1,6 Milliarden DM für diese Leistungen
ren – nicht zwingen. Ein Teil der Freistellungsansprüche zur Verfügung gestellt worden ist? Der Betrag ist im Ver-
sollte nach unseren Vorstellungen nicht übertragbar sein. lauf der Jahre auf 7,2 Milliarden DM angestiegen. 1996
Wird der Anspruch nicht wahrgenommen, verfällt er. An- haben 95 Prozent der Eltern davon profitiert. Das sind Da-
dere Länder praktizieren ähnliche Regelungen bereits seit ten, die Sie einfach einmal zur Kenntnis nehmen müssen.
einiger Zeit erfolgreich. Ein individueller und nicht über- Sie können nicht immer wieder auf dem Argument des
tragbarer Rechtsanspruch würde Väter nicht nur ihren Stillstandes herumreiten.
Kindern und ihren Partnerinnen gegenüber in die Pflicht
(Christel Hanewinckel [SPD]: 1996 wurde
nehmen, sondern sie auch gegen kinder- und familien-
1 Milliarde DM gespart!)
feindliche Zumutungen von Arbeitgebern und Kollegen
schützen. Frau Wester, das, was die Union im Bereich Familienpo-
litik gemacht hat, waren Meilenschritte, Sie machen Trip-
Ein Wort zum Schluss. Auch das beste Vereinbarkeits-
pelschritte.
gesetz wird nichts nützen ohne ein bedarfsdeckendes An-
gebot an Kinderbetreuungseinrichtungen. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der PDS)
Hildegard Wester (SPD): Frau Böhmer, dazu muss
Solange dieses nicht gegeben ist, werden die hier vorge-
ich Ihnen sagen: Als Sie das Gesetz über die Gewährung
schlagenen geringfügigen Verbesserungen wirkungslos
von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub eingeführt ha-
bleiben. Wer betreut denn den Nachwuchs, wenn Mütter
ben, haben Sie im gleichen Zug das Mutterschaftsur-
und Väter 30 Stunden Teilzeit arbeiten wollen? Wohin mit
laubsgesetz abgeschafft, das es unter der sozial-liberalen
dem Kind, wenn der betreuende Elternteil nach einem
Regierung gegeben hatte. Das war in meinen Augen ein
Jahr Bezug von budgetiertem Erziehungsgeld wieder voll
Gesetz, das in eine richtige Richtung ging. Es hat sich
beruflich einsteigen will?
zunächst einmal an Frauen gerichtet, die berufstätig wa-
Die hier vorgeschlagene Reform des Bundeserzie- ren. Es hat ermöglicht, dass Frauen anschließend in den
hungsgeldgesetzes bringt also weder die Vereinbarkeit Beruf zurückgingen. Die Leistung war am Einkommen
von Beruf und Kindern für Frauen und Männer noch för- orientiert, das durch die Erziehung dann ausfiel.
(B) dert es die Teilhabe von Männern an der Erziehung ihrer Es ist sicherlich nicht der springende Punkt, wie viel (D)
Kinder. Das Arbeitsmarktrisiko Kind bleibt auch künftig
Geld in die Hand genommen wird.
bei den Frauen. Wir werden diesen Entwurf daher ableh-
nen. (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Aha!
(Beifall bei der PDS) Wenn ich die Großtaten, die Sie hier verkünden – 1986
1,6 Milliarden DM auf einen Schlag –, einmal so hin-
nehme, dann frage ich mich doch: Was hat das Ganze
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort
denn gebracht? Sie haben eben selber gesagt, dass ein
der Kollegin Hildegard Wester, SPD-Fraktion.
Großteil der Familien an der Armutsgrenze leben, dass
viel zu viele Kinder sozialhilfeabhängig sind. Man muss
Hildegard Wester (SPD): Herr Präsident! Meine Da- sich dann doch fragen, wo die Förderung hingegangen ist.
men und Herren! Liebe Frau Böhmer, Sie haben mir eine
Sie haben durch Ihr Erziehungsurlaubsgesetz ein Ge-
wunderbare Gelegenheit für einen Einstieg geboten. Sie
setz geschaffen, das die Frauen aus dem Beruf herausge-
haben Argumente gebracht, die zeigen, dass Ihre Politik
holt hat. Es war ein Ziel dieses Gesetzes – ein Ziel, natür-
dringend verlassen werden musste. Zwei oder drei For-
lich nicht das einzige –, den Arbeitsmarkt zu entlasten. Es
mulierungen, die Sie eben verwendet haben, zum Bei-
ist Ihnen zwar nicht gelungen, den Arbeitsmarkt zu entlas-
spiel: „Weiterhin werden die Familien an der Grenze der
ten, aber es ist Ihnen gelungen, die Frauen aus dem Beruf
Armut leben und Sozialhilfe beziehen, endlich muss et-
herauszuholen.
was geschehen“, zeigen eindrucksvoll, dass das, was Sie
in 16 Jahren Familienpolitik in diesem Land geleistet ha- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der
ben, zu dieser Entwicklung geführt hat. Es ist endlich Zeit, Abg. Christina Schenk [PDS])
diesen Weg zu verlassen.
Insofern war Ihr Gesetz, wie Sie eben sagten, ein Meilen-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stein in Richtung Entwicklung von Armut und in Rich-
DIE GRÜNEN) tung Vertreibung von Frauen aus dem Beruf.
Was wir jetzt hier vorlegen, ist genau das Gegenteil:
Präsident Wolfgang Thierse: Kollegin Wester, ge- Wir ermöglichen Frauen, wieder Erziehungsarbeit und
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Böhmer? Erwerbsarbeit miteinander zu verbinden.
(Beifall bei der Abg. Hanna Wolf [München]
Hildegard Wester (SPD): Bitte schön. [SPD])
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10953
Hildegard Wester

(A) Insofern bekräftige ich das, was Frau Ministerin tigen Opposition –, dass wir in der Lage sein werden, das (C)
Dr. Bergmann sagte: Es ist ein Kernstück der Familien- Erziehungsgeld zu erhöhen. Wir haben bei der Höhe der
politik. Es gibt den Familien die Möglichkeit, sich frei zu Einkommensgrenzen natürlich genau rechnen müssen
entscheiden. Es hat eben so geklungen, als ob wir den Fa- und dabei das erreicht, was wir jetzt vorgelegt haben. Die
milien nicht genügend Flexibilität einräumen würden. Zahlen sind genannt worden, aber ich möchte eine Zahl
noch einmal herausgreifen: Aufgrund dieses Gesetzes
(Ina Lenke [F.D.P.]: Ja, sicher!)
werden jährlich 300 Millionen DM mehr an Familien aus-
Es wird niemand gezwungen, das Recht auf eine Redu- gezahlt.
zierung der Arbeitszeit in Anspruch zu nehmen. Es ist ein (Beifall bei der SPD – Ina Lenke [F.D.P.]:
Angebot an die Familien und diejenigen, die es wahr- Durch Umverteilung!)
nehmen, werden eine Vielzahl von flexiblen Gestal-
tungsmöglichkeiten für ihr Familienleben haben. Die Budgetierung, Frau Böhmer, ist weder ein Mi-
nusgeschäft für die Familien noch eine Betreuungsfalle,
(Beifall bei der SPD) da es – wie ich eben bereits sagte – die freie Wahlmög-
lichkeit der Familien gibt, entweder die Budgetierung in
Präsident Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, ge- Anspruch zu nehmen oder nicht. Ich weiß nicht, für wie
statten Sie eine Nachfrage der Kollegin Böhmer? dumm Sie unsere Familien halten, wenn Sie annehmen,
sie wären nicht in der Lage abzuschätzen, ob sie, wenn sie
sich für ein Jahr Erziehungsgeld entschieden haben, an-
Hildegard Wester (SPD): Nein, ich denke, das bringt schließend eine Betreuung für das Kind haben werden.
nichts. Es bestehen große ideologische Schranken, sodass Das kann man den Familien mit Recht zumuten, da wir in
ich glaube, ich sollte mich nicht weiter damit auseinander einem Land mit gebildeten Menschen leben. Darauf sind
setzen. wir sehr stolz.
(Beifall bei der SPD – Dr. Maria Böhmer (Beifall bei der SPD)
[CDU/CSU]: Das ist wirklich barer Unsinn,
was Sie verkünden, wenn es darum geht, dass Im Übrigen brauchen wir uns von niemandem – weder
Frauen weniger erwerbstätig sein können! Wir von der Opposition noch von irgendeinem Verband – vor-
haben eine Zunahme der Frauenerwerbstätig- rechnen zu lassen, wie stark das Erziehungsgeld verfal-
keit! Wir haben die Vereinbarkeit von Familie len sei, wenn man es mit dem Wert vergleicht, den es im
und Beruf verbessert!) Jahre 1986 gehabt hat. Wir können selber rechnen und
wissen das. Wir haben aber nicht 16 Jahre die Verantwor-
Ich bleibe dabei: Das Ziel der jetzigen Regierung, den
(B) Eltern mehr und vor allem flexible Zeit für die Erziehung tung gehabt und auch nicht wie mancher Verband still zu- (D)
und Betreuung ihrer Kinder zu geben, ist nach wie vor gesehen, wie die alte Regierung nichts getan hat. Wir ha-
richtig und wird weiterhin verfolgt. Der Gesetzentwurf, ben jetzt mit diesem Haushaltsloch zu leben und dabei das
den wir heute – nach nicht einmal der halben Legislatur- Beste herauszuholen. Der Gesetzentwurf, den wir heute
periode – vorlegen und verabschieden werden, kann sich vorlegen, ist ein Beweis dafür, dass uns das gelingen wird.
sehen lassen. Ich bin zuversichtlich und überzeugt davon, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
dass die Regelungen, auf die ich im Folgenden noch ein- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
gehen werde, das Ziel erreichen werden, Betreuungs- und
Erwerbsarbeit für Väter und Mütter zu vereinbaren. Wer 16 Jahre lang nicht gehandelt hat oder es hinge-
nommen hat, dass nicht gehandelt wurde, sollte sich fra-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) gen, ob es hilfreich und der Sache dienlich ist, Fortschritte
Im Einzelnen werden die neuen Regelungen von den madig zu machen, die mit diesem Gesetzentwurf auf den
unterschiedlichen Interessenlagen her unterschiedlich be- Weg gebracht werden sollen. Es geht bei diesem Gesetz-
wertet. Das ist völlig klar, das war auch nicht anders zu er- entwurf nicht in erster Linie um die finanzielle Wirkung,
warten, hat sich auch in den Expertenanhörungen gezeigt sondern es geht um Änderungen in der Struktur des Ge-
und ist in vielen Zuschriften sowie Veröffentlichungen setzes. Das kann nicht oft und deutlich genug gesagt wer-
zum Ausdruck gekommen. Ich bin trotzdem fest davon den. So wünschenswert es wäre, diese strukturellen Ver-
überzeugt, dass es uns mit diesem Gesetz gelungen ist, ei- änderungen durch eine entsprechende finanzielle Leis-
nen Kompromiss vorzulegen, den alle Seiten mit ihren un- tung zu flankieren, so falsch wäre es, jetzt darauf zu
terschiedlichen Interessen auch mittragen können und der verzichten, diese strukturellen Veränderungen vorzuneh-
in sich Möglichkeiten zur Weiterentwicklung birgt. men, nur weil die entsprechenden Finanzmittel nicht vor-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten handen sind.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte noch einmal in Bezug auf die 300 Mil-
Die stärkste Kritik an dem Gesetzentwurf bezog sich lionen DM jährlich, die wir zusätzlich für Familien aus-
auf die Höhe des Erziehungsgeldes sowie auf die Rege- geben, darauf hinweisen, dass wir versucht haben, dort
lungen zur Einkommenshöhe, zur Einkommensgrenze eine soziale Komponente hineinzubringen, indem wir
und die Budgetierung. Das war nicht anders zu erwarten. die Kinderzuschläge nicht nur jetzt deutlich erhöhen, son-
Wir haben aber nie versprochen – auch nicht in der Op- dern sie auch in den nächsten zwei Jahren noch einmal er-
position und das unterscheidet uns vielleicht von der heu- höhen. Das ist natürlich keine Dynamisierung, wie es ge-
10954 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Hildegard Wester

(A) fordert wurde, aber es ist ein deutliches Zeichen dafür, das auf alle Kinder umrechnen würde, wären es pro Kind (C)
dass es weitergeht. Im Jahre 2004 wird es mit Sicherheit und Monat 1,66 DM.
weitergehen. Dies ist ein Angebot und ein Versprechen an (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Gut gerech-
die Familien, auf das sie sich verlassen können. net! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ beschäftigen sich gar nicht mit den Fakten!)
DIE GRÜNEN)
Weiter möchte ich darauf hinweisen – auch wenn Sie Hildegard Wester (SPD): Sie haben den letzten Teil
meiner Ausführungen nicht richtig verstanden. Wir wol-
das in Abrede stellen und mit der Ökosteuer verrechnen –,
len den Familien die Möglichkeit geben, ihre Erwerbs-
dass die Bundesregierung in der kurzen Zeit ihrer Regie-
tätigkeit beizubehalten und so ihre Existenz zu sichern.
rungsverantwortung verschiedene Maßnahmen ergriffen Sie wissen genauso gut wie ich: Man kann ein noch so ho-
hat, um Familien finanziell besser zu stellen. Sie wissen hes Kindergeld oder Erziehungsgeld zahlen: Am Ende des
genau, dass es einer unserer ersten Schritte war, das Kin- Bezugs dieser Leistung wird ein Elternteil, in der Regel
dergeld zu erhöhen. Durch steuerliche Erleichterungen die Mutter, entweder beruflich vor dem Nichts stehen
haben wir erreicht, dass Familien mit zwei Kindern unge- oder eine geringe Arbeitszeit akzeptieren müssen, sodass
fähr 2 000 DM mehr zur Verfügung haben. Über die Öko- er nicht mehr dazu beitragen kann, die Existenzsicherung
steuer möchte ich jetzt nicht mehr sprechen. zu gewährleisten. Es ist ein Ammenmärchen zu glauben,
dass einer Familie damit gedient ist, wenn man ihr Geld
(Ilse Falk [CDU/CSU]: Warum nicht?) in die Hand drückt, ohne die Strukturen zu schaffen, die
Wir werden den Weg fortsetzen, die Familien finanzi- es möglich machen, dass sie sich an der Erwerbsarbeit be-
ell zu entlasten. Dies geschieht aber nicht allein mit dem teiligen kann.
Erziehungsgeldgesetz. Die SPD-Fraktion und die Famili- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
enpolitikerinnen und -politiker der SPD-Fraktion werden DIE GRÜNEN)
es nicht hinnehmen, dass Kinder in diesem Land immer
stärker zum Armutsrisiko werden. Diese Entwicklung Präsident Wolfgang Thierse: Kollegin Wester, ge-
werden wir stoppen. Wir haben sie zum Teil schon ge- statten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal der Kol-
stoppt. legin Hanewinckel?
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Hildegard Wester (SPD): Ja, bitte.
(B) (D)
Wir werden die Richtung ändern. Beide Eltern haben
auch die Möglichkeit, ihre Arbeitszeit gleichzeitig zu re- Christel Hanewinckel (SPD): Kollegin Wester, kön-
duzieren. Denn wenn beide Eltern gleichzeitig arbeiten, nen Sie sich mit mir daran erinnern, dass zum Beispiel im
können sie ihre Existenz besser sichern. Es ist unser Ziel, Jahre 1996 bei dem jetzt so gerühmten Haushalt der
den Familien die Möglichkeit zu geben, ihre Existenz aus CDU/CSU für die Familien beim Erziehungsgeld etwas
eigener Kraft zu sichern und so der Armutsfalle zu entge- mehr als 1 Milliarde DM eingespart worden ist, weil in-
hen. zwischen nur noch vier von zehn Familien in den Genuss
des vollen Erziehungsgeldes gekommen sind, da die Ein-
kommensgrenzen in all den Jahren nicht mehr erhöht wor-
Präsident Wolfgang Thierse: Kollegin Wester, den sind? Deshalb stelle ich die Zahl, die hier genannt
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Falk, worden ist, infrage; denn diese Milliarde DM ist nicht nur
CDU/CSU-Fraktion? 1996, sondern auch in den darauf folgenden Jahren ein-
gespart worden, weil die Zahl der Familien immer gerin-
ger wurde.
Hildegard Wester (SPD): Ja, bitte.
(Ina Lenke [F.D.P.]: Warum nur 300 Millionen?
Setzen Sie doch die 1 Milliarde ein! – Gegenruf
Ilse Falk (CDU/CSU): Frau Kollegin, Sie haben am der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Weil es
Schluss auf die materielle Seite stark abgehoben. Sie ha- weniger Kinder gibt!)
ben am Anfang bestritten, dass das der wesentliche Punkt
sei. Daher muss ich Sie fragen, wieso die 7,6 Mil-
Hildegard Wester (SPD): Ich gebe Ihnen Recht. Ich
liarden DM, die die CDU/CSU für die Familien einge-
kann mich sehr gut daran erinnern. Wir werden den Anteil
führt hat, an die Armutsgrenze führen und die Familien in der Erziehungsgeldberechtigten von 50 Prozent auf
den Ruin treiben, und die 300 Millionen DM, die Sie jetzt 55 Prozent anheben. Das mag sich wenig anhören.
zusätzlich bringen, in die Zukunft weisen und die Fami-
lien von dem Armutsrisiko befreien. Frau Lenke wirft gerade ein, warum wir die 1 Mil-
liarde DM nicht auf einen Schlag wieder einsetzen. Ich
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) glaube, naiver kann man eigentlich nicht sein. Wie soll
Die 300 Millionen DM, wenn wir das umrechnen, sind ein man das, was vielleicht vor 15 Jahren notwendig
Sechstel der Kindergelderhöhung um 10 DM. Wenn man (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10955
Hildegard Wester

(A) gewesen wäre, heute in einen kaputtgefahrenen Haushalt 16 Mitarbeitern liegen? Sie sagen: Wir wollen die Grenze (C)
einstellen, bei dem an allen Ecken und Enden Handlungs- ganz abschaffen. Wie kommen Sie genau auf 15? Darauf
bedarf besteht? hätte ich gerne ein Antwort von Ihnen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Hildegard Wester (SPD): Ich habe Ihnen eben ge-
sagt, dass die Zahl 15 einen Kompromiss darstellt. Das ist
Wir werden während unserer Regierungszeit nach und
ausgehandelt worden. Ich halte es für tragbar. Das ist in
nach und in verantwortungsvollen Schritten die Leistun-
Ordnung. Im Leben und gerade auch im politischen Le-
gen hochfahren, immer mit Blick darauf, dass der Haus-
ben ist es so, dass man Kompromisse schließen muss.
halt konsolidiert werden muss und dass wir der jungen
Meine Zielvorstellung ist die Abschaffung der Grenze von
Generation keine so hohe Verschuldung hinterlassen
15 Mitarbeitern. Daran werden wir arbeiten. Wenn Sie uns
können, wie wir sie derzeit haben.
dabei helfen wollen, dann sind Sie herzlich willkommen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
DIE GRÜNEN)
Der wesentliche Punkt der strukturellen Veränderung,
Ich möchte das nicht weiter vertiefen. Ich habe es erklärt.
den ich eben angesprochen habe und der hier schon mehr-
Ich denke, das muss auch für Sie, Frau Lenke, ausreichen.
fach genannt worden ist, ist das Recht auf Reduzierung
der Arbeitszeit. Ich halte das für einen Meilenstein. Wer An dieser Stelle muss ich allerdings noch einige Sätze
hätte denn vor zwei Jahren gedacht, dass es uns möglich zu dem offenen Brief des Deutschen Frauenrates sagen.
wäre, gegen den Widerstand der Wirtschaft und anderer So sehr ich verstehe, dass einige neue Regelungen als
Interessenverbände ein Recht auf Reduzierung der Ar- nicht weitreichend genug empfunden werden, so wenig
beitszeit einzuführen? An dieser Stelle muss man natür- verstehe ich die Fundamentalkritik, die in dem Schluss-
lich darauf hinweisen – das ist schon gemacht worden –, satz gipfelt, das neue Gesetz erreiche seine Ziele nicht,
dass dieses Recht eingeschränkt ist, weil es nur bei Ar- nämlich die der Gleichberechtigung von Männern und
beitgebern gilt, die mehr als 15 Arbeitnehmerinnen und Frauen und der damit einhergehenden Umverteilung von
Arbeitnehmer beschäftigen. Ich habe eingangs von einem Erwerbsarbeit und Erziehungsarbeit. Dies an der Be-
Kompromiss gesprochen. Hier wird er deutlich. triebsgröße, dem nicht übertragbaren individuellen An-
spruch auf Reduzierung der Arbeitszeit – er fehlt bei
Ich hätte mir auch etwas Besseres vorstellen können.
uns –, der fehlenden Einkommenskompensation und der
Ich hätte sehr gerne auf die Grenze von 15 Arbeitnehme-
nicht ausreichenden Zahl von Kinderbetreuungseinrich-
rinnen und Arbeitnehmern verzichtet. Deswegen bin ich
tungen festzumachen, das kann man natürlich tun. Aber
(B) sehr froh darüber – das gestehe ich ein –, dass wir in das man kann auch sagen, dass wir einen Riesenschritt in (D)
Gesetz eine Überprüfungsklausel hineingeschrieben ha-
Richtung Gleichberechtigung getan haben. Das zum
ben. Das heißt, die Bundesregierung soll in einem ange-
Ausdruck zu bringen hätte ich vom Deutschen Frauenrat
messenen Zeitraum Bericht erstatten, wie sich das Recht
erwartet.
auf Reduzierung der Arbeitszeit auf Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber und auch auf Arbeitnehmer und Arbeitneh- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
merinnen auswirkt. Wir werden dann im Licht der durch
Welcher Verband, der dem Deutschen Frauenrat an-
diesen Bericht gewonnenen Erkenntnisse Gelegenheit ha-
gehört – ich habe es schon eben in einem anderen Zu-
ben, festzustellen, ob politischer Handlungsbedarf be-
sammenhang gesagt –, hätte noch vor zwei Jahren ge-
steht. Wenn er besteht, dann werden wir auch für entspre-
glaubt, dass wir einen Rechtsanspruch auf Reduzierung
chende Lösungen sorgen.
von Arbeitszeit im Gesetz festschreiben würden? Auch
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Erhöhung der zulässigen Arbeitszeit auf 30 Stunden
und die Möglichkeit der gleichzeitigen Inanspruchnahme
des Erziehungsurlaubs sind Ergebnisse, die von entschei-
Präsident Wolfgang Thierse: Kollegin Wester, ge-
dender Bedeutung für das Rollenverhalten in den Part-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
nerschaften sein werden.
Es wird für den Mann nämlich nicht mehr so leicht
Hildegard Wester (SPD): Ja, bitte.
sein, die Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs auszu-
schlagen, wenn es ihm möglich ist, die Arbeitszeit zum
Ina Lenke (F.D.P.): Frau Wester, ich habe die Bitte in Beispiel nur um einige wenige Stunden in der Woche zu
meiner Rede geäußert, dass irgendjemand von Ihnen sagt, reduzieren. Die Frau wird in ihrer Forderung, eine mög-
wie die Grenze von 15 Mitarbeitern zustande gekommen lichst hohe Stundenzahl erwerbstätig sein zu können, ge-
ist. stärkt und sie wird sie besser durchsetzen können.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie
Hildegard Wester (SPD): Das habe ich doch getan. der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Ina Lenke (F.D.P.): Nein, Sie sollten es begründen. Er- Dies wird in den Familien ausgehandelt werden, was dann
klären Sie mir doch einmal, wie Sie auf die Zahl 15 ge- die für sie beste Lösung zur Folge haben wird. Dazu be-
kommen sind. Könnte die Grenze auch bei 14 oder darf es keines Zwangs und keines staatlichen Eingriffs.
10956 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Hildegard Wester

(A) Ich kann mich auch nicht der Auffassung anschließen, Es war die Hoffnung, durch ein gutes und auch finanzier- (C)
dass nur ein Erziehungsgeld in der Höhe einer Einkom- bares neues Gesamtkonzept das Erziehungsgeldgesetz
menskompensation Männer dazu bewegen kann, Erzie- wirklich weiterzuentwickeln und unsere Wünsche in der
hungsurlaub zu nehmen. Frauen werden bei dieser Argu- Familienpolitik auch mit Ihrer Hilfe umzusetzen.
mentation im Übrigen immer außen vor gelassen. Es gibt Sie haben mit Ihrem Entwurf leider nicht nur uns ent-
mittlerweile – Gott sei Dank – genügend Frauen, für die täuscht. Das Erziehungsgeld war bei seiner Einführung
600 DM Erziehungsgeld ebenfalls keine Einkommens- 1986 das denkbar modernste Instrument. Wir hätten in der
kompensation darstellen. Über diese Frauen reden wir Folgezeit gerne Anhebungen und Dynamisierungen ge-
nicht. Sie werden genauso wie die Männer viel lieber auf habt. Wir sind letztendlich am Finanzminister gescheitert.
einem höheren Stundenniveau erwerbstätig sein, als mit
einem hohen Erziehungsgeld den vollen Erziehungs- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
urlaub zu nehmen und damit in der Gefahr zu stehen, auf DIE GRÜNEN]: Das ist ein ehrliches
Wort!)
Erwerbsarbeit nach dem Erziehungsurlaub verzichten zu
müssen. Ihre Schadenfreude darüber und der ewige 16-Jahre-Vor-
wurf klingen hohl, da Sie nun die Möglichkeit hatten, ei-
Natürlich gibt es noch viel zu viele Familien, für die die
nen großen Wurf zu landen, aber an Ihrem eigenen Fi-
Höhe des Erziehungsgeldes von extrem hoher Bedeutung nanzminister scheitern mussten.
ist. Für diese Familien werden wir etwas tun müssen. Ich
habe eben gesagt, dass das passieren wird. Hier liegt ein (Christel Hanewinckel [SPD]: An den Finan-
weites Betätigungsfeld für die Politik und für die Ver- zen, die Sie uns nicht hinterlassen haben, Men-
bände, die uns angeschrieben und angesprochen haben; schenskinder, nicht am Finanzminister!)
aber diese Probleme können nicht mit diesem Gesetz An Ihrem guten Willen lag es wahrscheinlich nicht. Das
gelöst werden. gebe ich gerne zu. Sie hatten doch wirklich Großes vor
Mit diesem Gesetz kann ebenfalls nicht das Problem und wir hätten Sie gern unterstützt. Aber der wahre Vater
der nicht ausreichenden Anzahl an Betreuungsplätzen Ihres Gesetzes ist der Finanzminister.
gelöst werden; denn auf diesem Gebiet sind die Länder (Beifall bei der CDU/CSU)
die Ansprechpartner. Sie wissen genauso wie ich, dass der
Noch in der Koalitionsvereinbarung sprechen Sie rich-
Bund das nicht regeln kann. Ich bin zuversichtlich, dass
tigerweise vom Zusammenspiel von Familienpolitik
die Initiativen von Ministerin Bergmann, mit den Ländern
und – unter anderem – Beschäftigungs- und Steuerpoli-
ins Gespräch zu kommen, um die Dramatik dieser Situa- tik. Dazu sage ich Ihnen jetzt noch einmal, auch wenn Sie
tion und den Handlungsbedarf zu verdeutlichen, Erfolg es nicht hören möchten: Die Ökosteuer mit all ihren Aus- (D)
(B)
haben werden. wirkungen auf das Portemonnaie ist familienfeindlich.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei
DIE GRÜNEN) Abgeordneten der F.D.P.)
Abschließend kann ich nur an Sie alle appellieren, mit Bereits 1996 haben Sie, Frau Wester, in einer Antwort
uns die Verbesserung der Situation von Familien, von auf eine schriftliche Anfrage von der damaligen Parla-
Kindern, von Frauen und von Männern, bei allen Geset- mentarischen Staatssekretärin Gertrud Dempwolf erfah-
zesvorhaben und in allen Handlungsbereichen voranzu- ren, dass das Erziehungsgeld 1996, also zehn Jahre nach
treiben. Überfrachten Sie dieses Gesetz nicht mit Hoff- Einführung, bereits 750 DM hätte betragen müssen, wenn
nungen, denen ein einziges Gesetz nicht gerecht werden nur der Anstieg der Lebenshaltungskosten berücksichtigt
kann. Ich lade Sie ein, uns bei dieser großen Aufgabe be- worden wäre.
hilflich zu sein.
(Christel Hanewinckel [SPD]: Warum haben
Herzlichen Dank. Sie das nicht gemacht, wenn Sie es da schon
wussten?)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) – Ich habe vorhin gesagt, warum wir das nicht machen
konnten.
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile der Kolle- Die Forderungen nach mehr familienpolitischen Leis-
gin Renate Diemers, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. tungen waren doch auch im Bundestagswahlkampf von
Ihnen, verbunden mit einer maßlosen Kritik an uns, zu
hören. Ich erinnere mich noch sehr gut an die vielen
Renate Diemers (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Veranstaltungen zu diesem Thema. Sie aber stellen im
Kolleginnen und Kollegen! Frau Wester, Frau Dr. Böhmer Jahr 2000 einen Entwurf vor, nach dem das Erziehungs-
hat es schon gesagt: Die großen Ankündigungen der Re- geld auf der Höhe von 600 DM pro Monat bleibt bzw. bei
gierungskoalition im Wahlkampf und in der Koalitions- der Budgetvariante insgesamt um 3 600 DM verringert
vereinbarung in Bezug auf die Förderung der Familien ha- wird.
ben auch bei vielen von uns eine gewisse Hoffnung her-
Zum Thema Budget hat Frau Dr. Böhmer bereits aus-
vorgerufen.
führlich Stellung genommen. Lassen Sie mich noch hin-
(Lachen bei Abgeordneten der SPD) zufügen, dass neben der Schlechterstellung in finanzieller
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10957
Renate Diemers

(A) Hinsicht bei Inanspruchnahme der Budgetregelung eben- Der Hauptgrund für die meisten Frauen, beruflich tätig (C)
falls eine Schlechterstellung in Bezug auf die Situation zu sein, ist, dass sie sich eine eigenständige wirtschaftli-
des Kindes erfolgen kann. Wir teilen nämlich nicht die che und soziale Sicherheit aufbauen wollen. Der Wunsch
Auffassung, wie sie in der Anhörung vonseiten des DGB der Frauen, sich vom alten Rollenverständnis zu trennen
zum Ausdruck gebracht wurde, dass es für ein Kind in den und ebenso wie die Männer eine lückenlose Erwerbsbio-
ersten Lebensjahren keinen Unterschied macht, ob es grafie aufzubauen, geht einher mit einer allgemeinen Ver-
überwiegend zu Hause oder außerhäuslich betreut wird. änderung im Arbeitsleben.
Auf der Basis Ihrer Budgetregelung wird es bei zwölf Mo- Auch wenn die Flexibilisierungen in Bezug auf die
naten Erziehungsurlaub dazu kommen, dass die Kinder- Arbeitszeit fast schon alltäglich sind, beginnt nun erst der
betreuung durch andere Personen als die Eltern der Nor- Lernprozess, dass Veränderungen auch bezüglich des Ar-
malfall sein wird. Dies ist nicht etwa nur ein Nebeneffekt, beitsortes möglich sind, der dann zu Hause sein kann. Ich
sondern von Ihnen ausdrücklich so gewünscht. Es passt denke in diesem Fall an die alternierenden Arbeitsplätze.
einfach nicht in Ihr Weltbild – das sage ich hier noch ein- Das heißt: Der wachsende Einfluss der neuen Medien auf
mal sehr deutlich –, dass Mütter oder Väter sich ganz der die Arbeitsplatz-, Arbeitsinhalts- und Arbeitsortsgestal-
Familie widmen könnten. tung eröffnet – neben den Risiken – auch große Chancen
(Beifall bei der CDU/CSU – Hildegard Wester für die Erwerbstätigkeit von Vätern und Müttern; denn
[SPD]: Das können sie doch immer noch!) diese neuen Möglichkeiten lassen hoffen, dass die Frage
nach einer familienfreundlichen Arbeitswelt nicht nur im-
Die Zukunft der Familie hängt im Wesentlichen von mer stereotyp mit der klassischen Form von Teilzeitarbeit
der Wertorientierung derer ab, die politische Verant- für Frauen beantwortet wird.
wortung tragen und politisch gestalten. Die Aufgabe der
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei
Politik ist es, angemessen auf gesellschaftliche Verände-
Abgeordneten der F.D.P.)
rungen, auf veränderte Lebensentwürfe und auf ein ver-
ändertes Rollenverständnis zu reagieren. Allerdings Die Devise muss lauten – das ist eine der Forderungen
wird das Spannungsverhältnis zwischen Familie und Be- der CDU/CSU –: Die Arbeitswelt muss sich an den Fa-
ruf nicht aufgehoben, solange nur die Frau bzw. die Mut- milien orientieren und nicht umgekehrt, wie es in der Ver-
ter über die Familie definiert wird und der Vater im ge- gangenheit der Fall war. Allerdings darf daraus nicht au-
sellschaftlichen Bewusstsein nach wie vor überwiegend tomatisch abgeleitet werden, dass Frauen, also auch Müt-
eine Außenseiterrolle in der Familie einnimmt. ter, um jeden Preis erwerbstätig sein sollen. Mütter und
Väter müssen die uneingeschränkte Wahlfreiheit haben,
Das in Ihrem Entwurf zum Ausdruck kommende Be- sich für die außerhäusliche Erwerbstätigkeit oder für die
(B) streben, die Väter stärker dazu zu ermuntern, Erziehungs- Familie – auch ausschließlich für die Familie; es gibt viele (D)
urlaub zu nehmen, und zugleich die dafür notwendigen Frauen, die das möchten – oder aber für beides zu ent-
Rahmenbedingungen zu verbessern, findet unsere Zu- scheiden. Die Wahlmöglichkeiten, die erst diese Wahl-
stimmung. Aber unserer Meinung nach ist es der falsche freiheit gewährleisten, müssen verstärkt – da geben wir
Weg, den Vätern als Ausgleich die Möglichkeit zu geben, Ihnen Recht –, aufgebaut und ausgebaut werden.
fast Vollzeit außerhäuslich zu arbeiten. Unsere Idee, zum
Beispiel ein Bonussystem zu schaffen, mit dem nicht Aber nicht die ausschließliche gleichzeitige Wahrneh-
übertragbarer zusätzlicher Erziehungsurlaub gewährt mung von Beruf und Familie ist unser Ziel, sondern die
Vereinbarkeit beider Lebensinhalte unter besonderer
wird, wenn ihn beide Elternteile nehmen, wurde in der
Berücksichtigung der Interessen des Kindes. Um es zu
Anhörung durchweg als positiv beurteilt.
verdeutlichen: Eine fehlende Vereinbarkeit von Beruf und
(Christel Hanewinckel [SPD]: Diese Möglich- Familie geht zulasten der Kinder. Dass in vielen Fällen
keit geben wir doch den Müttern auch, wenn Sie beide Elternteile arbeiten müssen – nicht um Karriere zu
das richtig gelesen haben!) machen, sondern um finanziell über die Runden zu kom-
men –, ist uns allen sicher klar.
Die problematische Situation auf dem Arbeitsmarkt
gerade für Frauen und Mütter ist uns vollkommen be- Ich bin sehr froh, dass unsere Forderung, die mir ge-
wusst. Es ist sehr schwierig und fast unmöglich, ohne genüber in der ersten Lesung noch mit hämischem Lachen
Nachteile längere Zeit aus dem Beruf zu sein. Die ur- Ihrerseits quittiert wurde, nämlich den Begriff „Urlaub“
sprüngliche Intention des Erziehungsgeldes war die Ver- zu ändern, von Ihnen berücksichtigt wurde. Ob der neue
einbarkeit von Familie und Beruf. Hierdurch sollte die Er- Begriff letztendlich „Familienzeit“, wie wir es vorschla-
ziehungsleistung honoriert und zugleich der Anschluss an gen, oder „Elternzeit“ lauten wird: Ich denke, wir werden
das Arbeitsleben ermöglicht werden. Aus diesen Gründen uns in diesem Punkt sicherlich einigen.
war für Mütter oder Väter während des Erziehungsurlau- Wie schon gesagt: Sie haben mit Ihrer bisherigen Fa-
bes eine Arbeitszeit von 19 Stunden erlaubt. Diese Ober- milienpolitik Chancen nicht genutzt. Sie haben vielmehr
grenze sollte auch unserer Meinung nach ausgeweitet Gelegenheiten vorbeiziehen lassen und Möglichkeiten
werden. Das darf aber nicht zur Folge haben, dass auf- außer Acht gelassen.
grund des dann erhöhten Einkommens trotz Anhebung
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung
der Einkommensgrenzen kein Anspruch auf Er-
machen. Sie beziehen sich in der Diskussion immer wie-
ziehungsgeld mehr besteht.
der auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und
(Beifall bei der CDU/CSU) machen dabei einen großen Fehler. Sie wollen in der
10958 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Renate Diemers

(A) Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, das Verfassungs- ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grü- (C)
gericht habe ausdrücklich festgestellt, dass CDU/CSU nen bei Gegenstimmen der anderen Fraktionen angenom-
und F.D.P. in ihrer Regierungszeit eine schlechte Famili- men.
enpolitik gemacht haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des NIS 90/DIE GRÜNEN)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
Das Gericht hat lediglich – das wissen Sie genau – auf die gend empfiehlt weiterhin unter Buchstabe a seiner Be-
steuerliche Ungleichbehandlung in Bezug auf Kinderbe- schlussempfehlung auf Drucksache 14/3808 die An-
treuungskosten von verheirateten und nicht verheirateten nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be-
Paaren hingewiesen. schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
Ich möchte Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der
am Ende meiner Rede raten, sich einmal Zahlen aus- F.D.P. bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenom-
drucken zu lassen – Sie alle haben in Ihren Büros die men.1)
Möglichkeit dazu –, die belegen, welche familienpoliti-
schen Leistungen seit 1994 von der CDU/CSU und der Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-
F.D.P. auf den Weg gebracht wurden. schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck-
sache 14/3842. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
(Zuruf von der SPD: Zu wenig!) trag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? Der Entschließungs-
Ich rate auch meinen Kolleginnen und Kollegen in der antrag ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die
CDU/CSU-Fraktion, die Sommerpause zu nutzen, darauf Grünen und der F.D.P. bei Enthaltung der PDS und Ja-Stim-
hinzuweisen, dass wir ohne Ihre Zustimmung viele fami- men der CDU/CSU abgelehnt worden.
lienpolitische Leistungen auf den Weg gebracht haben. Abstimmung über den von den Fraktionen SPD und
Ich gebe Ihnen Recht, dass wir uns seit 1990 die eine oder Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur
andere Leistung mehr gewünscht hätten. Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes, Drucksa-
chen 14/3118 und 14/3808. Der Ausschuss für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe b
Präsident Wolfgang Thierse: Frau Kollegin
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3808,
Diemers, Ihre Redezeit ist schon weit überschritten.
den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Renate Diemers (CDU/CSU): Aber man muss Prio- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
(B) ritäten setzen. Im Interesse der gesamtdeutschen Situation Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. (D)
haben wir, so denke ich, die richtigen Entscheidungen ge- Tagesordnungspunkt 20 b: Beratung der Beschluss-
troffen. empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion der PDS
Abg. Ina Lenke [F.D.P.]) zum Ausbau eines bedarfsgerechten und öffentlich geför-
derten Betreuungs- und Freizeitangebotes für Kinder bis
zu 14 Jahren. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c
Präsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aus- seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Druck-
sprache. sache 14/2758 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zur Ab- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
stimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes in der Hauses gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenom-
Ausschussfassung auf den Drucksachen 14/3553 und men.
14/3808. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie,
CDU/CSU auf Drucksache 14/3838 vor, über den wir zu- Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion
erst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? – der PDS unter dem Titel „Vereinbarkeit von Beruf und
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungs- Kinderbetreuung für Frauen und Männer“. Der Ausschuss
antrag ist abgelehnt, und zwar mit den Stimmen von SPD, empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschlussempfeh-
Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS bei Ja-Stimmen lung, den Antrag auf Drucksache 14/2759 abzulehnen.
der CDU/CSU-Fraktion. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
Wer stimmt nun für den Gesetzentwurf in der Aus-
mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen.
schussfassung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie,
Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion
Stimmen der anderen Fraktionen angenommen. der F.D.P. mit dem Titel „Erziehungszeit statt Erziehungs-
urlaub“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe e sei-
Dritte Beratung ner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Druck-
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf 1) siehe Anlage 2
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10959
Präsident Wolfgang Thierse

(A) sache 14/3192 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- – Drucksache 14/3751 – (C)
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Überweisungsvorschlag:
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Rechtsausschuss (f)
Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der Auswärtiger Ausschuss
F.D.P. bei Stimmenthaltung von CDU/CSU angenommen. Innenausschuss
Finanzausschuss
Damit ist dieser Tagesordnungspunkt erledigt. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b sowie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
die Zusatzpunkte 12 und 13 auf, Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
22 a) Beratung des Berichts des Rechtsausschusses Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
(6. Ausschuss) gemäß § 62 Abs. 2 der Ge- folgenschätzung
schäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Rainer Funke, Jörg van Essen, Hildebrecht Entwicklung
Braun (Augsburg), weiteren Abgeordneten und Haushaltsausschuss
der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Alfred
eines Gesetzes zur Änderung des Bürger- Hartenbach, Margot von Renesse, Hans-
lichen Gesetzbuchs (Wohnrecht hinterbliebe- Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und
ner Haushaltsangehöriger)
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
– Drucksache 14/326, 14/2347, 14/3779 – Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele,
(Erste Beratung 27. Sitzung) Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeord-
Berichterstattung: neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
Abgeordnete Margot von Renesse GRÜNEN
Norbert Geis Einbeziehung von eingetragenen Lebens-
Volker Beck (Köln) partnerschaften in die Hinterbliebenenver-
Rainer Funke sorgung
Dr. Evelyn Kenzler
– Drucksache 14/3792 –
b) Beratung des Berichts des Rechtsausschusses Überweisungsvorschlag:
(6. Ausschuss) gemäß § 62 Abs. 2 der Ge- Rechtsausschuss (f)
schäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Innenausschuss
(B) Christina Schenk, Sabine Jünger, Christine Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (D)
Ostrowski, weiteren Abgeordneten und der Verteidigungsausschuss
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs ei- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
nes Gesetzes zur Übernahme der gemeinsa- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
men Wohnung nach Todesfall der Miete- Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
rin/des Mieters oder der Mitmieterin/des
Mitmieters Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
(Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches) Kollegin Margot von Renesse, SPD-Fraktion.
– Drucksache 14/308, 14/3780 –
Margot von Renesse (SPD): Sehr geehrter Herr Prä-
(Erste Beratung 27. Sitzung) sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem ich
Berichterstattung: gestern viele Kommentare aus einem bestimmten Ver-
Abgeordnete Margot von Renesse lagshause zu dem hier anstehenden Gesetzentwurf zu den
Norbert Geis Lebenspartnerschaften gelesen habe, weiß ich nun Be-
Volker Beck (Köln) scheid: Sie reiten, die apokalyptischen Reiter, und zer-
Rainer Funke stampfen auf ihrem Ritt durch das Brandenburger Tor mit
Dr. Evelyn Kenzler ihren rot-grünen Hufen die heiligsten Werte der Nation.
ZP 12 Erste Beratung des von den Abgeordneten (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND-
Alfred Hartenbach, Hermann Bachmeier, NIS 90/DIE GRÜNEN)
Bernhard Brinkmann (Hildesheim), weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der SPD so- Wie schön sind dagegen die Umfrageergebnisse, die
wie den Abgeordneten Volker Beck (Köln), heute Morgen zu lesen waren und die zeigen, mit welcher
Marieluise Beck (Bremen), Claudia Roth Gelassenheit offensichtlich die Mehrheit der Bevölkerung
(Augsburg), weiteren Abgeordneten und der darauf reagiert.
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be- NIS 90/DIE GRÜNEN)
endigung der Diskrimminierung gleichge-
schlechterlicher Gemeinschaften: Lebenspart- Denn die meisten haben offenbar verstanden, dass es kei-
nerschaften (Lebenspartnerschaftsgesetz – neswegs Pflicht ist, nunmehr eine Lebenspartnerschaft
LPartG) einzugehen und homosexuell zu werden,
10960 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Margot von Renesse

(A) (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in dieser Hinsicht kein Unterschied mehr gemacht wird, (C)
DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: in der das eine wie das andere normal ist und Bettge-
Das beruhigt!) schichten kein Thema mehr sind.
und dass niemandem, der eine solche Lebenspartner- (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
schaft, ob hetero, homo oder sonst etwas auf dieser Welt, NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
nicht eingeht, auch nur irgendetwas genommen wird. der PDS)
Es wird auch nicht das, was für die Förderung von Darum brauchen wir die Gleichstellung: damit das Thema
Ehe und Familie zur Verfügung steht, budgetiert. normalisiert wird, damit nicht hinter vorgehaltener Hand
(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- darüber gesprochen wird, damit es keine Rolle mehr
NIS 90/DIE GRÜNEN) spielt, schon gar nicht im Recht. Das ist unser Ziel.

Die Mittel werden nicht aus einem Kuchen genommen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Grundrechte kann man normalerweise nicht budgetieren. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Sonst müsste man auch den Anträgen der CDU/CSU, PDS)
etwa die Ausgaben für die Bundeswehr zu erhöhen, Art. 6 Es wird gesagt, die Regelung verstoße gegen Art. 6 des
entgegenhalten, denn dadurch würde ja das allgemein für Grundgesetzes. Lassen Sie mich etwas zu Art. 6 sagen,
andere Aufgaben zur Verfügung stehende Budget, wie zur einer Vorschrift, die mir sehr wichtig ist und hinsichtlich
Förderung von Ehe und Familie, verringert. So scheint es derer ich alles tun würde, damit sie nicht beschädigt wird;
aber nicht zu sein und die Bevölkerung weiß das. denn Ehe und Familie sind eine lebensdienliche Sache
Dass ältere Jahrgänge mit dem Thema große Schwie- und der Grundgesetzgeber hat gut daran getan, das im
rigkeiten haben, kann ich verstehen; ich kenne das auch Grundgesetz zu regeln und damit für jedermann zur Vor-
aus meiner eigenen engeren Familie. Es ist für alte Men- schrift zu machen.
schen weiß Gott eine große Herausforderung. Welch ei- Drei Funktionen von Art. 6 des Grundgesetzes sind In-
nen Wandel haben diese Menschen in ihrem Leben be- stitutionengarantie, Leitbildfunktion und Grundrecht.
züglich dieses Themas erlebt! Als sie jung waren, war es
eine tödliche Bedrohung; es führte ins KZ. Als sie älter Erstens. Institutionengarantie bedeutet, dass jeder,
wurden, war es – sowohl in der Bundesrepublik Deutsch- der heiraten will, es kann. Haben wir da irgendeine Än-
land als auch in der DDR – über lange Zeit hochgradig derung vorgenommen? Nicht die Spur! Die Vorstellung,
strafbar und mit lebenslanger gesellschaftlicher Ächtung die Ehe verlöre dadurch, dass man auch eine andere Form
(B) verbunden. Noch bis vor kurzem bestanden Unterschiede der Partnerschaft eingehen kann, ist mir nur aus einem tie- (D)
bei der Strafbarkeit hetero- und homosexueller Über- fen Defätismus gegenüber der Ehe heraus erklärlich: als
griffe, die erst in jüngster Zeit eingeebnet wurden. Und sei sie ein vertrocknender, unattraktiver Ladenhüter in ir-
jetzt soll die Lebenspartnerschaft anerkannt werden? gendeiner Ecke.
Dass Menschen mit einem solchen Wandel überfordert (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
sind, kann ich gut verstehen. Ich werde auch nichts dage- NIS 90/DIE GRÜNEN)
gen tun; denn die Überforderung ist zu groß, Herr Geis.
So sehe ich die Ehe nicht. Die Menschen heiraten nicht,
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dem BÜND- weil sie nur so steuerliche Vorteile bekommen können.
NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Sie haben schon geheiratet, als es das Ehegattensplitting
– Ich meine das nicht witzig; ich sage das wirklich ohne noch gar nicht gab.
jeden Zynismus. Ich habe neulich im Bayerischen Rund- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dem BÜND-
funk mit einer 81-jährigen Frau gesprochen, die mir er- NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
zählte, das sei gegen die Schöpfung, wie man es ja oft
hört. Ich kann verstehen, dass manche Menschen, insbe- Zweitens: Leitbildfunktion. Als gesellschaftliches
sondere ältere Männern, vor Aversion geradezu Pickel Leitbild ist mir Art. 6 des Grundgesetzes ebenfalls wich-
kommen. tig. Leitbild eines verantwortlichen Umgangs mit einem
Partner, für den man lebenslang Verantwortung über-
(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- nimmt, selbst dann, wenn man ihn nicht mehr liebt; was
NIS 90/DIE GRÜNEN) ganz entscheidend ist. Dies ist unheimlich wichtig in ei-
Ich sage das voller Mitgefühl, weil ich das verstehe. ner Zeit, in der der Individualismus zunimmt.
Aber darum geht es nicht. Es geht Gott sei Dank be- Das Leitbild Ehe und Familie gilt für diejenigen, die in
sonders darum, für die nächsten Generationen eine Welt Ehe und Familie leben. Herr Geis, es gilt nicht für katho-
zu öffnen, in der – das sage ich, weil meine liebe Mutter lische Priester, nicht für die evangelische Diakonisse und
mir beigebracht hat, dass man über sexuelle Dinge eigent- nicht für Menschen, die nicht heiraten können und die sich
lich nicht spricht – morgens beim Rasieren, beim Waschen oder wo auch im-
mer fragen,
(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Hier geht es
doch nicht um die Ausgrenzung von Homo- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das habe ich jetzt
sexuellen! Hier geht es um die Gleichstellung!) schon zum zehnten Mal gehört!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10961
Margot von Renesse

(A) ob sie lieber einen Mann oder eine Frau heiraten. Dieser Aber flapsige Bemerkungen, verehrte Frau Renesse, sind (C)
Punkt stellt sich für diese Menschen nicht. hier mit Sicherheit fehl am Platz.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Ihnen fällt nichts Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf wird ein familien-
mehr ein!) rechtliches Institut geschaffen, das der Ehe gleichgestellt
ist.
– Ich versuche gar nicht mehr, Sie zu überzeugen.
(Sabine Jünger [PDS]: Leider nicht!)
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jürgen
Koppelin [F.D.P.]) Sie ändern 112 Gesetze, die alle Regelungen in Bezug auf
die Ehe enthalten. Daraus ergibt sich die Gleichstellung
Das Leitbild als Respekt der Unverheirateten vor Ehe
des von Ihnen vorgesehenen Instituts mit Ehe und Fami-
und Familie wird durch das, was wir vorhaben, nicht be-
lie. Das ist ja auch Ihre Absicht. 1996 haben die Grünen
schädigt. Im Gegenteil: Durch die Ausdehnung dieses
einen Gesetzentwurf zur Gleichstellung mit Ehe und Fa-
verantwortlichen, verlässlichen und verbindlichen Rechts-
instituts auf andere, die nicht heiraten können, steigern milie eingebracht. Dies ist die Absicht des Herrn Beck,
wir die Bedeutung des von der Ehe und Familie ausge- auch wenn er sagt, es handele sich nicht um eine Konkur-
henden Magnetismus, der Aura der Begeisterung für renz zur Ehe.
wechselseitige Verantwortung – eine anthropologische (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Konstante, die wir in der Tat aus dem Familienrecht über- NEN]: Glauben Sie, jemand lässt sich durch
nehmen und deswegen systematisch dem Familienrecht dieses Gesetz von der Eheschließung abhal-
zuordnen müssen. ten?)
Drittens: Grundrecht. Natürlich haben Homosexuelle Die Grünen sind in dieser ganzen Auseinandersetzung das
gemäß Art. 2 des Grundgesetzes Grundrechte, wenn sie treibende Moment. Die SPD hat sich wohl dazu hinreißen
eine Partnerschaft eingehen. Nur, eines ist auch klar: Mit lassen, weil die Koalition halten muss.
den vorhandenen zivilrechtlichen Möglichkeiten kann
man nicht die angestrebten Alltagshilfen bekommen – die Die Fachwelt ist sich darüber völlig einig, dass hier ein
wollte man ihnen selbst auf dem kleinen Parteitag der Institut entsteht, das in unserer Rechtsordnung gleichbe-
CDU Ende letzten Jahres zugestehen –, ohne dass man rechtigt neben der Ehe stehen wird. Deshalb lehnt die
Heterosexuelle benachteiligt. Denn die bekommen das al- CDU/CSU-Fraktion diesen Gesetzentwurf entschieden
les nur, wenn sie sich extrem verpflichten, mit Kopf und ab.
Kragen beim Standesamt mit dem förmlich verbindlichs- (Beifall bei der CDU/CSU)
ten Vertrag, den es auf dieser Welt überhaupt gibt – er ist
förmlicher als ein Grundstücksverkehrsvertrag; denn das, Wir stimmen darin mit den beiden großen Kirchen und –
(B) was sie da tun, ist sehr schwerwiegend. Das können wir Umfrage hin, Umfrage her, es kommt auf die Fragestel- (D)
den Homosexuellen nicht billiger geben. lung an – mit der Mehrheit der Bevölkerung überein. Da
bin ich mir ganz sicher.
Ich wiederhole, was ich oft gesagt habe: So nahe sind
sie meinem Herzen nicht, dass ich irgendeinen Grund (Beifall bei der CDU/CSU)
dafür sehe, sie besser als Heterosexuelle zu behandeln. Zum ersten Mal in unserer Rechtsgeschichte – wenn
Eine Gleichbehandlung bzw. Normalisierung ist ange- wir einmal die Zeit des Nationalsozialismus und des
sagt. Kommunismus ausblenden, in der die Ehe nur ein Schat-
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. tendasein führen durfte – wird die ganz herausragende
Stellung von Ehe und Familie in unserer Rechtsordnung
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ in frage gestellt. Dagegen wenden wir uns. Wir halten des-
DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abge- halb diesen Gesetzentwurf für verfassungswidrig.
ordneten der F.D.P. – Zurufe von der SPD:
Bravo!) (Beifall bei der CDU/CSU – Kerstin Müller
[Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn
Ihnen nichts mehr einfällt, nennen Sie es ver-
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort fassungswidrig!)
dem Kollegen Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.
Das will überhaupt nicht heißen, dass wir uns nicht –
genau wie die Kirchen und auch die Mehrheit der Bevöl-
Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine kerung – gegen jegliche Diskriminierung von Homo-
sehr verehrten Damen und Herren! Frau von Renesse, sexualität wenden.
vielleicht eignet sich dieses Thema nicht so sehr für flap-
sige Bemerkungen. (Christina Schenk [PDS]: Das ist ein Wider-
spruch!)
(Widerspruch bei der SPD)
– Das ist überhaupt kein Widerspruch. Sie haben es nur
Hier treffen zwei verschiedene Auffassungen aufeinander. noch nicht begriffen.
Es muss möglich sein, dass man mit Respekt und in Ruhe
diese beiden Auffassungen zur Geltung kommen lässt. Freie Lebensformen müssen in einer freien Gesell-
Dann kann man ja entscheiden, für welche Auffassung schaft und in einem freien Staat frei gewählt werden kön-
man steht. nen. Jeder hat dies zu respektieren.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
10962 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Norbert Geis

(A) Wir achten auch die durchaus aufopfernden Freundschaf- Sie haben doch selbst 1993 in der Verfassungskom- (C)
ten zwischen solchen Partnern, die ein Leben lang beste- mission den Antrag gestellt, neben Ehe und Familie an-
hen können. Davor haben wir Respekt. Allerdings gilt dere Lebensgemeinschaften ebenfalls unter den besonde-
dies nicht nur für gleichgeschlechtliche Lebenspartner, ren Schutz des Staates zu stellen. Das war der Versuch,
sondern für viele Lebensformen. Ehe und Familie in der Verfassung mit anderen Lebens-
Wir haben – dem Himmel sei Dank – viele Lebensfor- gemeinschaften gleichzustellen. Damals waren Sie der
men in unserer Gesellschaft, bei denen die Partner ein Le- Auffassung, man brauche eine Änderung oder Ergänzung
ben lang füreinander eintreten. Es besteht überhaupt gar der Verfassung, um entsprechende gesetzliche Regelun-
kein Grund, eine Lebensform herauszugreifen und ihr gen treffen zu können. Heute versuchen Sie, dies mit Ge-
eine besondere gesetzliche Regelung zukommen zu las- setzen unterhalb der Verfassung, mit einfachgesetzlichen
sen. Das ist ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. Regelungen, zu erreichen und widersprechen damit Ihrer
Auffassung von 1993, als Sie noch der Meinung waren,
(Beifall bei der CDU/CSU) wir brauchten erst eine Verfassungsänderung.
Auch das muss man einmal sehen. Das müssen Sie so se- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
hen. Es gibt in Frankreich den Versuch, eine größere NEN]: Die Frage ist, ob der Verfassungsgesetz-
Regelung zu finden. Allerdings ist sie aufgrund der geber es tun muss oder tun darf! Das ist ein Un-
Schwierigkeiten, die dabei entstehen, bis jetzt nicht ge- terschied!)
lungen. Aber das können Sie nicht einfach übersehen.
Wenn ich es richtig beurteile, machen Sie also sehenden
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Le-
Auges ein verfassungswidriges Gesetz, meine sehr geehr-
bensformen können nicht mit der einzigartigen Stellung
ten Damen und Herren. Das können Sie so nicht stehen
und Bedeutung von Ehe und Familie in unserer Gesell-
lassen.
schaft verglichen werden.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU)

Nirgendwo erfahren die Kinder größere Geborgenheit als Sie alle wissen, welche Bedeutung auch das Verfas-
bei Vater und Mutter. sungsgericht Ehe und Familie beimisst. Es gibt eine ein-
deutige Rechtsprechung des Verfassungsgerichts. Sie
(Beifall bei der CDU/CSU – Sabine Jünger können in vielen Urteilen nachlesen, dass die einzigartige
[PDS]: Quatsch!) Bedeutung von Ehe und Familie gewahrt bleiben muss
Nirgendwo werden die Kinder besser heranwachsen als und dass es nicht erlaubt ist, andere Rechtsinstitute
bei Vater und Mutter. Nirgendwo, das ist unbestritten, gleichrangig danebenzustellen. Der frühere Verfassungs-
(B) werden sie besser – das wissen Sie genauso gut wie ich, richter Kirchhof hat klar und eindeutig erklärt: Wer andere (D)
Frau von Renesse; darin stimmen wir überein – auf ihr Le- Rechtsinstitute wie die gleichgeschlechtlichen Lebens-
ben vorbereitet als in der Familie. Das erkennen wir an. partnerschaften neben Ehe und Familie stellt, pervertiert
den Verfassungsauftrag.
Deswegen haben – auch darin sind wir uns einig – Ehe
und Familie eine überragende Bedeutung für unsere Ge- Die F.D.P. hat in ihrem Entwurf sehr wohl versucht, auf
sellschaft und für unseren Staat. Diese überragende Be- diese Lage Rücksicht zu nehmen. Das erkenne ich an, ob-
deutung respektiert und artikuliert Art. 6 des Grundgeset- wohl ich auch gegen diesen Entwurf bin. Dieser Entwurf
zes. Das ist ein Grundrecht. ist etwas ganz anderes als das, was von der anderen Seite
des Hauses vorgelegt wurde. Dort wird die Ehe kopiert
Normalerweise werden Grundrechte dafür geschaf-
und es gibt fast keinen Unterschied mehr. Jedenfalls sind
fen, um dem Einzelnen einen Freiheitsraum gegenüber
dem Staat zu sichern. Aber bei zwei Grundrechten hat der die verbleibenden Unterschiede nicht wesentlich.
Staat den Auftrag, alles zu tun, damit dieses jeweilige Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich
Grundrecht gewahrt bleibt und seine Bedeutung in der muss man auch die einzelnen Regelungen einmal be-
Gesellschaft behält. Das betrifft zum Ersten die Würde trachten. Was macht eigentlich der Standesbeamte, bei
des Menschen und zum Zweiten Ehe und Familie. Des- dem sich zwei Partner eintragen lassen wollen, wenn er
wegen kann sich der Staat nicht zurücklehnen und sagen: genau weiß, dass es sich nur um eine Scheinpartnerschaft
Die Zeiten und die Menschen haben sich geändert. Wir handelt? Es fehlt eine Missbrauchsregelung. Oder haben
haben nicht mehr die gleichen Verhältnisse wie 1950. Sie nicht genauso wie wir und wie Ihr Innenminister die
(Dr. Barbara Höll [PDS]: Haben wir auch Befürchtung, dass über diese Regelung das Asylrecht um-
nicht mehr!) gangen werden kann?
Nein, wir haben die gleiche Verfassung. Wir haben in (Margot von Renesse [SPD]: Herr Geis, das ist
dieser Verfassung stehen, dass unabhängig davon der nun wirklich das erbärmlichste Argument!)
Staat verpflichtet ist, alles zu unternehmen, damit Ehe und – Dieser Vorwurf stammt nicht von mir, sondern ich wie-
Familie ihre überragende Stellung in unserer Gesellschaft derhole nur die Befürchtungen, die laut Zeitungsberichten
behalten. Wer dies missachtet, missachtet die Verfassung, der Innenminister hegt. Diese Befürchtungen sind doch
meine sehr verehrten Damen und Herren. Das wissen Sie
nicht aus der Luft gegriffen; sie sind real. Belassen wir es
auch.
dabei und versuchen Sie nicht, das mit irgendwelchen
(Beifall bei der CDU/CSU) Zwischenrufen zu überdecken!
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10963
Norbert Geis

(A) Des Weiteren wird immer wieder behauptet, die gleich- beschäftigt hat, sondern auch zu dem Ergebnis gekommen (C)
geschlechtlichen Partnerschaften würden diskriminiert ist, dass man dem Antrag zustimmen will.
werden. Es gibt bei uns keine Diskriminierung von gleich-
geschlechtlichen Partnerschaften. Der Chef der Staatskanzlei in Bayern, Huber, hat vor
ganz kurzer Zeit mitgeteilt, die CSU wolle ihr Verhältnis
(Widerspruch bei der SPD – Lachen beim zu homosexuellen Partnerschaften neu ordnen und auf
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eine neue Basis stellen. Das fand sicherlich in Abstim-
– Sie sehen die Diskriminierung darin, dass wir uns wei- mung mit dem Ministerpräsidenten und seinem Partei-
gern, die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und an- vorsitzenden Stoiber statt.
dere Lebensformen der Ehe gleichzustellen. Ich halte das Muss ich davon ausgehen, dass das, was Sie heute zu
nicht für Diskriminierung. dieser Thematik ausführen, das Ergebnis dieses neuen
(Beifall bei der CDU/CSU) Denkens der CSU darstellt?
Dass es etwas ganz anderes ist, habe ich herauszuarbeiten (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND-
versucht. NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Es wird immer das Argument gebraucht, dass, wenn
der eine Partner, der den Mietvertrag unterschrieben hat, Norbert Geis (CDU/CSU): Lieber Herr Braun, soweit
stirbt, der andere das Mietverhältnis nicht aufrechterhal- Sie Ihre Frage nicht polemisch gemeint haben,
ten könne. Erstens einmal wird das ganz selten vorkom- (Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Ich
men und zweitens können beide den Mietvertrag unter-
habe sie politisch gemeint!)
schreiben. Was hindert sie denn, beide den Mietvertrag zu
unterschreiben? will ich versuchen, eine Antwort zu geben. Sie können
ganz sicher sein, dass es in der CDU/CSU-Bundestags-
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
fraktion in der Frage der Ablehnung dieses Gesetzent-
GRÜNEN]: Der Vermieter zum Beispiel!)
wurfes zur Gleichstellung von homosexuellen Lebens-
Dann wird immer das Beispiel angeführt – völlig aus partnerschaften mit der Ehe überhaupt keine unterschied-
der Luft gegriffen! –, einer der Partner liege im Kranken- lichen Auffassungen geben wird. Die Unionsfraktion wird
haus und der Arzt müsse entscheiden, ob er ihn operieren eine solche Gleichstellung in jedem Fall ganz einmütig
solle oder nicht. ablehnen. Gleiches gilt auch für die CSU.
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU)
GRÜNEN]: Das soll aus der Luft gegriffen
(B) sein?) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt Ein- (D)
zelfälle, die man nicht mit den jetzigen Bestimmungen re-
Durch eine einfache privatrechtliche Vollmacht kann man geln kann. Diese sind aber selten. Sie müssen sich über-
eine entsprechende Regelung heute schon treffen. Dazu haupt fragen: Für wen machen wir dieses Gesetz?
brauche ich doch keine gesetzliche Regelung.
(Sabine Jünger [PDS]: Für die Menschen!)
Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Geis, gestat- In Dänemark gibt es eine ähnliche gesetzliche Regelung.
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun, F.D.P.- Seit 1988 besteht in Dänemark für gleichgeschlechtliche
Fraktion? Partner die Möglichkeit, ihre gleichgeschlechtliche Part-
nerschaft registrieren zu lassen.
Norbert Geis (CDU/CSU): Sofort. Ich möchte nur (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
noch den Gedanken zu Ende führen.
– Hören Sie einmal zu!
Natürlich gibt es auch Rechtsfragen, die man nicht
privatrechtlich oder durch privaten Vertrag regeln kann, 2 000 Menschen haben sich bislang registrieren lassen
beispielsweise das Zeugnisverweigerungsrecht. Aber, und zwei Drittel der Paare sind wieder auseinander ge-
meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist einer von gangen.
10 000 Fällen. Brauchen wir dafür ein Gesetz? Das frage (Margot von Renesse [SPD]: Dann haben Sie
ich Sie wirklich. – Herr Braun, bitte. doch nicht so viel Angst!)
Muss denn wirklich der Bundestag in Bewegung gesetzt
Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Herr Kol- werden, um für so wenige Fälle eine gesetzliche Regelung
lege Geis, es gab in letzter Zeit zwei deutliche Signale zu treffen?
vonseiten der CDU/CSU, die eine Einstellungsänderung
der Fraktion und der hinter ihr stehenden Parteien zu dem Ich sehe hinter der Forderung, nicht eheliche Lebens-
Regelungsgegenstand nahe legten, der heute debattiert gemeinschaften, gleichgeschlechtliche Lebensgemein-
wird. So hat der Kollege Siemann vor drei Monaten hier schaften mit der Ehe gleichzustellen, den ganz klaren
im Bundestag bei der Behandlung unseres Antrags, jegli- Versuch, die eindeutige Vorrangstellung von Ehe und Fa-
che Diskriminierung in der Bundeswehr in Zukunft zu un- milie in unserer Verfassung auszuhöhlen und zu untergra-
terbinden, auch die wegen der sexuellen Orientierung, ben. Das aber widerspricht nicht nur unserem religiösen
deutlich gesagt, dass sich seine Fraktion nicht nur damit Verständnis, sondern das widerspricht auch unserem
10964 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Norbert Geis

(A) Rechtsverständnis, und das widerspricht vor allem unse- für die Homosexuellen nichts im Wege, ihre nähere (C)
rem Kulturverständnis. Deswegen lehnen wir das ab. Umgebung durch das Zusammenleben in eheähnli-
chen Verhältnissen zu belästigen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, Sie haben Recht behalten:
So ist es auch gekommen. Heute, wo der Verfolgungs-
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort
druck weg ist, lebt die Mehrheit der Lesben und Schwu-
dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
len in festen Beziehungen. Erfreulicherweise fühlen sich
aber kaum noch Menschen belästigt, wenn ein homo-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sexuelles Paar in die Nachbarwohnung einzieht. Die
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heutige Mehrheit der Deutschen akzeptiert das. Die Mehrheit ist
Tag hat gezeigt: Die Koalition hat ein optimistisches und dafür, dass Schwule und Lesben gleiches Recht bekom-
positives Familienbild. Das haben wir heute Morgen in men. Am heutigen Tag wurde von forsa eine Meinungs-
der Debatte über das Bundeserziehungsgeld, mit dem wir umfrage veröffentlicht: 56 Prozent der Bevölkerung un-
wirklich etwas für die Familien, also für die Menschen, terstützen das Projekt von Rot-Grün und 37 Prozent ha-
die für Kinder sorgen und nicht bloß darüber reden, ge- ben sich dagegen ausgesprochen. Um deren Zustimmung
zeigt. Wir haben deutlich gemacht, dass wir Familienför- werden wir weiter werben.
derung nicht damit verwechseln, andere zu benachteili- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gen. Hier scheint der wesentliche Unterschied zwischen und bei der SPD)
unserem und Ihrem Verständnis von Ehe und Familie zu
liegen. Der gesellschaftlichen Entwicklung wollen wir als Ge-
setzgeber jetzt Rechnung tragen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) Von Island bis zum Mittelmeer gibt es die rechtliche
Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften.
Es ist nicht das erste Mal, dass der Bundestag über die Bisher gibt es einen großen weißen Fleck auf der Karte
rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partner- der Bürgerrechte von Lesben und Schwulen und das ist
schaften diskutiert und streitet. Es ist aber das erste Mal, Deutschland. Schauen Sie einmal in die Länder, in denen
dass eine Regierungskoalition hier ein Gesetz zur rechtli- es eine rechtliche Anerkennung gibt: Dänemark, Schwe-
chen Anerkennung von homosexuellen Lebensgemein- den, Norwegen, Island, die Niederlande oder auch Frank-
schaften vorlegt. Das ist ein historisches Datum für die reich. Nirgendwo ist die Ehe tangiert worden. Nirgendwo
homosexuellen Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. ist das Abendland untergegangen. Die Apokalypse, die
Das ist ein Meilenstein für mehr Gerechtigkeit in Sie hier beschwören, ist schlichtweg ausgefallen. Dies
(B) Deutschland, für eine moderne und offene Gesellschafts- können wir von diesen Ländern lernen. Deswegen bitte (D)
politik. ich um etwas mehr Piano in dieser Debatte.
Bis 1969 war Homosexualität in der Bundesrepublik Die eingetragene Partnerschaft, die Inhalt des heute
noch voll strafbar. Endgültig beseitigt wurde der unselige von uns vorgelegten Gesetzentwurfes ist, ist ein fairer
§ 175 StGB erst 1994. Noch vor 15 Jahren galt gleichge- Mix von Rechten und Pflichten. Man muss deutlich sa-
schlechtliches Zusammenleben vor deutschen Gerichten gen: Dies ist kein Projekt der Libertinage. Es ist ein repu-
als sittenwidrig. Jetzt, im Jahre 2000, schicken wir uns an, blikanisches Projekt der Beendigung von Diskriminie-
die Standesämter für Schwule und Lesben zu öffnen. Wir rung, ein Projekt einer werteorientierten und wertebestär-
bieten homosexuellen Paaren einen gesetzlich abgesi- kenden Politik. Man muss den Partnerinnen und Partnern,
cherten Rahmen für ihre Partnerschaft. Wir holen unsere die dieses Gesetz – wenn es denn in Kraft tritt – auf sich
schwulen Bürger und lesbischen Bürgerinnen vom Rand anwenden wollen, mit auf den Weg geben: Drum prüfe,
in die Mitte der Gesellschaft. wer sich ewig bindet. Denn das Glück mag womöglich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht ewig dauern, die Unterhaltsverpflichtungen nach
und bei der SPD) dem Familienrecht können dies aber durchaus tun.

Auch wegen der schrecklichen Geschichte der Homo- Dies ist aber das Entscheidende: Wir schaffen hier
sexuellen-Verfolgung in Deutschland ist dieses Haus den keine Sonderrechte, sondern wir verschaffen den Men-
Schwulen und Lesben etwas schuldig. Übrigens – wenn schen die Rechte, die sie brauchen. Hier kann es keine Ro-
wir schon bei Rückblicken in die Historie sind – ist es ge- sinenpickerei geben. Verantwortung und Einstehen wer-
nau genommen nicht das erste Mal, dass sich hier in die- den mit Unterhaltspflichten umfassend geregelt. Daraus
sem Hause eine Regierungsmehrheit Sorgen um homose- ergeben sich zwingend entsprechende Folgeregelungen in
xuelle Lebensgemeinschaften macht. anderen Rechtsbereichen.

(V o r s i t z: Vizepräsident Rudolf Seiters) So haben wir zum Beispiel im Steuerrecht schlicht-


weg an den Grundsatz der steuerlichen Leistungsfähigkeit
Im Jahre 1962 hat hier eine CDU/CSU-F.D.P.-Regie- angeknüpft. Schaffen wir gesetzliche Unterhaltsver-
rung einen Gesetzentwurf zur Strafrechtsreform vorge- pflichtungen, können wir im Steuerrecht nicht so tun, als
legt. In diesem Gesetzentwurf hat man damals ausdrück- ob diese nicht bestünden. Dem müssen wir Rechnung tra-
lich an der bestehenden Strafbarkeit der Homosexualität gen. Wir haben hier nicht das Ehegattensplitting auf die
festgehalten. Zur Begründung hieß es damals im Gesetz- eingetragenen Partnerschaft angewandt, aber ein Real-
entwurf: Wenn die Strafbarkeit wegfiele, dann stünde splitting vorgesehen, um diesem Umstand gerecht zu wer-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10965
Volker Beck (Köln)

(A) den. Bei der Sozial- und Arbeitslosenhilfe müssen wir mosexueller Lebensgemeinschaften bislang erst einmal (C)
dies auch tun. Hier ist es zum Nachteil der Partner. Hier Stellung genommen. Es hat dabei darauf hingewiesen,
spart der Staat bei eingetragenen Partnerschaften entspre- dass homosexuellen Lebensgemeinschaften aus der feh-
chend Sozial- und Arbeitslosenhilfe ein. Auch dies ist lenden rechtlichen Absicherung „vielfältige Behinderun-
sachgerecht und zwingend. gen“ der „privaten Lebensgestaltung“ entstehen können.
Beim Erbrecht und beim Erbschaftsteuerrecht ha- Es hat weiterhin ausgeführt: Diese vielfältigen Behinde-
ben wir dem Grundsatz ebenfalls Rechnung getragen, rungen der privaten Lebensgestaltung werfen Fragen auf
dass man bei einer Partnerschaft, in der es Unterhalts- nach der Vereinbarkeit des derzeitigen Rechtszustandes
pflichten gibt, beim Tod des Partners dem Überlebenden mit Art. 2 des Grundgesetzes, freie Entfaltung der Per-
nicht einfach die gemeinsame Lebensgrundlage entziehen sönlichkeit, mit Art. 1 des Grundgesetzes, Schutz der
kann. Dies sind alles Dinge, die sich aus den Unterhalts- Menschenwürde, und mit Art. 3 des Grundgesetzes,
verpflichtungen ergeben: wohl abgewogen, wohl begrün- Gleichheit vor dem Gesetz. Das sehen wir genauso wie
det und keine Tangierung von Art. 6 Grundgesetz. das Bundesverfassungsgericht. Deshalb wollen wir hier
Abhilfe schaffen.
Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention
zwingt uns – das sagt uns die deutsche Rechtsprechung in- Mit der Eintragung auf dem Standesamt übernehmen
zwischen –, gleichgeschlechtliche Partnerschaften auch Lebenspartner umfassende gegenseitige Fürsorge- und
im Ausländerrecht anzuerkennen und hier für Rechtssi- Unterhaltsverpflichtungen. Daher ist es nur gerecht, ihnen
cherheit zu sorgen. auch den rechtlichen Schutz zu gewähren. Das steht völ-
lig im Einklang mit unserer Verfassung.
Meine Damen und Herren, in einigen Bereichen schaf-
fen wir gleiches Recht. In anderen Bereichen haben wir Herr Geis, Sie sagen hier, Sie seien gegen dieses Ge-
den bestehenden Abstand gelassen – der mag politisch un- setz. Die CDU/CSU hat gesagt, sie wolle die Benachteili-
terschiedlich bewertet werden, ist aber erst einmal die gungen überprüfen. Sagen Sie doch nicht immer, woge-
Substanz des Gesetzes –: Es gibt kein Adoptionsrecht, gen Sie sind, sondern wofür Sie sind! Legen Sie das
keine Stiefkindadoption, kein Ehegattensplitting, es gibt Ergebnis dieser Überprüfungen auf den Tisch! Die
einen Wahlgüterstand statt des gesetzlichen Güterstandes, Schwulen und Lesben in diesem Lande erwarten auch von
wie wir ihn bei der Ehe kennen, und es gibt auch kein Ver- der Volkspartei CDU/CSU nicht warme Worte und Sonn-
löbnis. Also, meine Damen und Herren von der Opposi- tagsreden auf Parteitagen, sondern konkrete Taten und
tion, auch Ihrer verfassungsrechtlichen Philosophie wird Respekt durch das Gesetz.
dieser Gesetzentwurf eigentlich gerecht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) Die Lebenspartnerschaft nimmt niemandem etwas und bei der SPD) (D)
weg; sie schafft Rechtssicherheit. Sie, Herr Geis, ver-
schanzen sich hier hinter einer Fehlinterpretation von Meine Damen und Herren, ein letztes Wort zum Stan-
Art. 6 der Verfassung. Reden Sie in Zukunft doch lieber desamt. Es gibt absurde Diskussionen in diesem Land.
einmal zur Sache! Glauben Sie im Ernst, es entspricht den Das Standesamt war für mich bislang immer eine Be-
Grundwerten unserer Verfassung, dass der Lebenspartner hörde, die man in bestimmten Fällen aufsuchen muss: für
nach dem Tod seines Gefährten aus der gemeinsamen die Anzeige von Geburts- und Todesfällen, bei Ehe-
Mietwohnung geworfen werden kann? Glauben Sie wirk- schließungen, bei Kirchenein- und -austritten. Jetzt wird
lich, es ist im Sinne des Grundgesetzes, wenn zwei Men- aus dem Standesamt auf einmal eine geheiligte Stätte ge-
schen, die vielleicht jahrzehntelang zusammengelebt, für- macht.
einander gesorgt haben, vom Recht wie Fremde behandelt
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
werden? Das kann doch nicht sein.
GRÜNEN]: Ein Ersatzaltar!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) Das Standesamt ist eine Behörde und kein Traualtar.

Glauben Sie im Ernst, es steht im Einklang mit unserem (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei
freiheitlichen Grundgesetz, dass Menschen, die sich lie- Abgeordneten der PDS)
ben und lebenslang zusammenbleiben wollen, dieses Zu- Deshalb ist diese gesamte Aufregung völlig gegenstands-
sammenleben verboten wird, nur weil einer davon Aus- los. Ich bitte Sie, den Schwulen und Lesben die Öffent-
länder ist? lichkeit der Zeremonie zu gestatten. Das ist eine Frage des
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das wird doch Respekts.
nicht verboten!) Eine moderne Gesellschafts- und Familienpolitik muss
– Wenn sie nicht einreisen dürfen, ist es verboten. selbstverständlich auch gleichgeschlechtlichen Paaren
Rechtssicherheit bieten. Es ist einer demokratischen Ge-
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das gilt sellschaft nicht zuträglich, wenn einem Teil der Bürgerin-
allgemein, Herr Beck!) nen und Bürger wichtige Rechte vorenthalten bleiben.
Nach der Rechtsprechung in Deutschland kann das Vielen Dank.
menschenrechtswidrig sein. Was Sie hier als verfassungs-
rechtliche Dogmen verkünden, ist reine Phantasie. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bundesverfassungsgericht hat zur Rechtssituation ho- und bei der SPD)
10966 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

(A) Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich erteile für die Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Mit Verlaub gesagt: (C)
F.D.P.-Fraktion dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle das Nach dieser Frage verstehe ich nicht, warum Sie uns nicht
Wort. unterstützen. Das ist nicht verständlich.
(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND-
Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Herr Präsident! NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen
In Ihrer Frage kommt ja zum Ausdruck, dass Sie mehr
und Kollegen! Wir Freien Demokraten begrüßen, dass wir
wollen, dass Sie die neuen Formen des Zusammenlebens
hier heute eine solche Debatte auf der Tagesordnung ha-
anerkennen wollen.
ben.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
Wir begrüßen ausdrücklich, dass hier mit einem Ge-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
setzentwurf eine Diskussion angestoßen und weiterge-
führt wird, die uns in diesem Hause im letzten Jahr, als wir Wenn Sie das wollen, meine ich, müssten Sie Ihren Wor-
unseren Gesetzentwurf eingebracht haben, schon einmal ten auch Taten folgen lassen.
beschäftigt hat. Wir halten es für notwendig, dass Rechts-
(Beifall bei der F.D.P.)
änderungen durchgesetzt werden. Deswegen möchte ich
zunächst ein Wort an Sie, an die Abgeordneten der CDU/
CSU-Fraktion, richten. Vizepräsident Rudolf Seiters: Kollege Geis hat
noch eine Zwischenfrage.
Ich glaube, es ist in diesem Hause unbestritten, dass
Ehe und Familie die tragenden Säulen in unserer Gesell-
schaft sind. Aber die gesellschaftliche Realität zeigt auch, Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Kollege Westerwelle,
dass längst neue Formen des Zusammenlebens in unse- wir bejahen, dass solche Gemeinschaften – nicht nur
rem Volke entstanden sind. Ich finde, jede Partnerschaft gleichgeschlechtliche, sondern auch andere Gemein-
ist wertvoll, in der Menschen füreinander Verantwortung schaften; ich habe es vorhin ausgeführt – einander ihr Le-
übernehmen. ben lang stützen. Dies muss auch vom Staat respektiert
werden. Aber berechtigt das schon die Forderung nach
(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND- Gleichstellung mit der Ehe? Das ist unser heutiges
NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Thema.
Gerade die Konservativen beklagen, wie ich finde, zu
Recht immer wieder die Tendenzen der Vereinzelung in Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Zunächst einmal bin
der Gesellschaft. Die gibt es und die muss man sich sorg- ich damit einverstanden – darauf werde ich auch gleich (D)
(B)
sam ansehen. Aber dann sollten auch gerade die Konser- noch eingehen –, dass es eine Gleichstellung schon aus
vativen jede Initiative, die sich gegen diese Vereinze- verfassungsrechtlichen Gründen nicht geben kann. So
lungstendenzen richtet, unterstützen. hatte ich übrigens Frau Kollegin von Renesse ausdrück-
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) lich nicht verstanden.
Sie sprechen von einem „Werteverlust“. Wenn je- (Beifall bei der F.D.P – Alfred Hartenbach
mand seinen zu Tode erkrankten Partner bis zum Schluss [SPD]: Das hat sie auch nicht gesagt!)
pflegt, ist das kein Werteverlust, sondern ein Wertegewinn – Eben, das hat sie ausdrücklich nicht erklärt. Ich finde
in dieser Gesellschaft. sehr bemerkenswert, wie Frau von Renesse es hier einge-
(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem führt hat.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis (Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir müssen vom
[CDU/CSU]: Völlig unbestritten!) Gesetzentwurf ausgehen!)
– Wir werden noch über Details des Gesetzentwurfes re-
Vizepräsident Rudolf Seiters: Sie gestatten eine
den. Ich werde gleich noch ein paar Punkte aufzeigen. Das
Zwischenfrage des Kollegen Dehnel?
ist ganz selbstverständlich. Es ist die erste Lesung, bei der
wir natürlich darüber reden müssen. Das ist gar keine
Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Ja, selbstverständ- Frage.
lich.
Ich möchte Ihnen antworten, weil Sie in dieser Frage
wieder die gleiche Geisteshaltung zum Ausdruck bringen.
Wolfgang Dehnel (CDU/CSU): Herr Kollege
(Zuruf von der SPD: Der Geis und seine
Westerwelle, Sie haben gerade im Zusammenhang mit der
Geisteshaltung!)
Pflege von Gemeinschaften gesprochen. Wie halten Sie es
damit, wenn zum Beispiel zwei ältere Damen, zwei Wit- – Lassen Sie das doch bitte! Ich muss darum bitten: Es ist
wen, oder Vater und Sohn in hohem Alter gemeinsam in in meinen Augen richtig, wenn der Kollege Geis seine
einem Haushalt leben und sich gemeinsam unterstützen? Meinung vorträgt. Wir teilen diese Meinung vielleicht
Müssten auch sie entsprechende Gemeinschaften einge- nicht, müssen sie aber ernst nehmen, weil sie in der Be-
hen? Sie werden bei Ihrer Regelung ja regelrecht benach- völkerung vertreten wird. Das finde ich selbstverständ-
teiligt. lich. Es ist eine ganz wichtige Frage. Wie das Niveau die-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10967
Dr. Guido Westerwelle

(A) ser Debatte ist, entscheidet darüber, wie die Akzeptanz Gleichstellung gehen. Es gibt aber Regelungsbereiche, (C)
dieses Vorhabens in der Bevölkerung sein wird. bei denen wir nicht so tun können, als gäbe es kein Pro-
blem. Nehmen Sie zum Beispiel das Zeugnisverweige-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie
rungsrecht, über das schon gesprochen worden ist. Eine
bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNIS-
solche Frage können Sie niemals über einen zivilrechtli-
SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
chen Vertrag regeln, das muss vielmehr der Gesetzgeber
Ich möchte Ihnen noch auf eine Sache antworten, in der regeln. Das mögen für Sie Ausnahmefälle sein, aber jeder
es, glaube ich, bei Ihnen ein Missverständnis gibt. Wenn Fall von Diskriminierung ist ein Fall, dem sich der Bun-
die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Lebensge- destag nicht verschließen darf.
meinschaften abgebaut und abgeschafft wird, ist das keine
Entwertung der Ehe. Wer sich gegen die Diskriminierung Es gibt auch andere Bereiche. Denken Sie zum Bei-
gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften wendet, spiel an das Erbschaftsteuerrecht: Zwei Personen leben
attackiert damit nicht das Institut Ehe, sondern er möchte jahrzehntelang in einer eheähnlichen oder nicht ehelichen
nichts anderes, als dass Menschen, die zusammenleben, Lebensgemeinschaft zusammen und haben ein gewisses
dieses mit Rechten und Pflichten tun können. Er möchte, Vermögen – denken Sie zum Beispiel an eine Eigentums-
dass Menschen zusammenleben können, die – zumindest wohnung – aufgebaut. Stirbt einer von beiden, geht diese
aus meiner Sicht heraus – Verantwortung übernehmen. Wohnung unter den Hammer, weil es nicht die entspre-
Sie fordern bei jeder Laienpredigt und jeder Podiumsdis- chenden erbschaftsteuerrechtlichen Möglichkeiten gibt.
kussion immer wieder: Übernehmt Verantwortung fürei- Das ist die Realität. Diese Frage können Sie nicht durch
nander, tretet füreinander ein und geht nicht den Weg in Verträge zwischen zwei Personen regeln. Das können Sie
die Isolation, in die – Robinson-Crusoe-Gesellschaft! Das nur regeln, indem der Deutsche Bundestag endlich seinen
können Sie hier als Gesetzgeber faktisch mitbewirken. Handlungsbedarf begreift.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/
der SPD und der PDS) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
SPD und der PDS)
Wir haben in den letzten Monaten die Töne aus der
CDU/CSU – ob das Frau Merkel, Herr Kollege Polenz Deswegen ist es aus meiner Sicht notwendig, dass die
oder andere Kollegen gewesen sind – sehr aufmerksam Ausschussberatungen konstruktiv stattfinden. Dem Deut-
verfolgt. Sie haben uns das Gefühl gegeben, dass Bewe- schen Bundestag liegen mittlerweile mehrere Gesetzent-
gung in der Union vorhanden sei. Das von Ihnen, Herr würfe vor. Wir werden darüber reden müssen, wie man zu
Geis, Vorgetragene erinnert mich zum Teil – bei allem einer verfassungsfesten Lösung kommt. Die Bedenken,
die Bundesinnenminister Otto Schily vorgetragen hat,
(B) Respekt – an das Echo der 50er-Jahre. Aber wir sind heute würde ich nicht zu gering achten. Wenn der Verfassungs- (D)
weiter.
minister der deutschen Bundesregierung öffentlich im
(Beifall bei der F.D.P. der SPD, dem BÜND- „Tagesspiegel“ dieser Woche seine verfassungsrechtli-
NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) chen Bedenken gegen den vorgelegten Gesetzentwurf an-
meldet, sollte man das ernst nehmen.
Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Kollege Geis (Beifall bei der F.D.P.)
hat eine zweite Zusatzfrage. Herr Kollege Westerwelle
möchte seine Redezeit verdoppeln. Das ist sein gutes Ich habe eine große Sorge: Wenn Sie mit Ihrer Mehr-
Recht. Die Redezeit wird angehalten. heit einen Gesetzentwurf durchbringen – was Sie kön-
ne –, ohne ihn zu verändern, wird es eine Anrufung des
Bundesverfassungsgerichts geben – raten Sie einmal, von
Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Ich bedanke mich welcher Landesregierung! – und dann wird dieses Vorha-
dafür. Kleinere Fraktionen, das heißt vorübergehend klei- ben vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern. Dann
nere Fraktionen, können das immer gut gebrauchen. ist jede Chance für die nächsten zehn Jahre vertan. Des-
wegen: Gehen Sie in eine konstruktive Debatte! Wir wer-
Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Kollege Westerwelle, den jedenfalls mit Änderungsanträgen dazu beitragen,
ich freue mich mit Ihnen, dass Sie Ihre Redezeit verdop- dass am Schluss eine verfassungsfeste Lösung gefunden
peln können. Sie müssen mir aber schon Antwort auf werden kann. Eine Gleichstellung mit Ehe und Familie
meine Frage geben. kann es nach Art. 6 des Grundgesetzes nicht geben. Das
hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder deutlich
Ich habe gefragt, ob es – bei allem Respekt für diese gemacht. Gehen Sie nicht das Risiko ein, dass dieses
Lebensgemeinschaften – denn notwendig sei, solche wichtige, ja auch historische Vorhaben, das viele in die-
Lebensgemeinschaften der Ehe gleichzustellen, um eine sem Hause verbindet, am Bundesverfassungsgericht
Diskriminierung zu verhindern. Das ist doch die eigentli- scheitern muss, weil es die Verfassungswirklichkeit igno-
che Frage bei diesem Gesetzentwurf. Sie dürfen nicht da- riert!
rauf eingehen, was Frau von Renesse gesagt hat, sondern
Sie müssen den Gesetzentwurf betrachten. (Beifall bei der F.D.P.)
Dann ist dieses Thema erledigt. Dies wäre ein großer
Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Herr Kollege Geis, Schaden für diejenigen, die in dieser Sache einen Fort-
ich habe ausdrücklich gesagt, es könne nicht um eine schritt wünschen.
10968 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Dr. Guido Westerwelle

(A) Jeder weiß, warum die beiden Koalitionsfraktionen mit einem schlechten Gefühl nach einer entsprechenden (C)
den Gesetzentwurf einbringen und warum der Entwurf Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes wieder zu-
nicht von der Bundesregierung, vom Kabinett, einge- sammentreten müssen. Das wäre schade.
bracht worden ist. Dies liegt daran, dass der Verfassungs- (Beifall bei der F.D.P.)
minister intern und öffentlich geäußerte verfassungs-
rechtliche Bedenken hat. Diese Bedenken muss man ernst
nehmen, weil sonst meiner Meinung nach eine gefährli- Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die Fraktion der
che Situation entstehen würde. PDS spricht die Kollegin Christina Schenk.
Die F.D.P. schlägt Ihnen vor – es ist ein legitimes An-
liegen, dass wir das hier tun –, dass Sie sich unseren Ge- Christina Schenk (PDS): Herr Präsident! Meine Da-
setzentwurf noch einmal anschauen, der sich nur in einem men und Herren! Die Aufhebung der rechtlichen Diskri-
wesentlichen Punkt von dem unterscheidet, was die Koa- minierung lesbischer und schwuler Paare gegenüber
litionsfraktionen vorgelegt haben. Sie haben eine Stan- heterosexuell Lebenden ist in Deutschland seit langem
desamtslösung vorgeschlagen. Das kann ich verstehen, überfällig. Insofern ist das Gesetzgebungsvorhaben der
weil das Standesamt für viele nicht nur eine Behörde ist, Bundesregierung ein wichtiger Schritt, den wir begrüßen.
wie es vorgetragen worden ist, sondern auch eine Kul- Es gibt keinen einzigen Grund, homosexuellen Paaren
turinstitution. Damit verbinden viele Menschen Gefühle. das Recht auf Eheschließung vorzuenthalten. Die lesbi-
Man kann es nicht einfach zu einer Behörde deklarieren. sche und schwule Zweiergemeinschaft unterscheidet sich
Das ist ganz selbstverständlich. nicht von der Heterosexueller. Hier wie da wird geliebt,
Wenn Sie aber eine standesamtliche Lösung vorschla- wird gegenseitig Verantwortung übernommen, werden
gen, dann laufen Sie Gefahr, dass ein Verfassungsverstoß Kinder erzogen. Es ist ein Gebot der Rechtsstaatlich-
erkennbar wird und wegen Art. 6 des Grundgesetzes ein- keit, Gleiches auch gleich zu behandeln.
geschritten werden müsste. Sie begeben sich damit in eine (Beifall bei der PDS)
gefährliche Situation. Wenn das einmal vor dem Bun-
desverfassungsgericht gescheitert ist, ist dieses Thema in Wenn Menschen nur aufgrund ihrer sexuellen Orien-
der deutschen Öffentlichkeit und in der deutschen Politik tierung von Rechten ausgeschlossen bleiben, die andere
in den nächsten zehn Jahren unten durch. Das, was wir haben, ist das Diskriminierung und nichts anderes. Die
jetzt machen, muss aber der Verfassung standhalten. Äußerungen von der konservativen Seite hierzu sind für
mich unerträglich. Wenn behauptet wird, die eingetragene
(Beifall bei der F.D.P.) Partnerschaft gefährde Ehe und Familie, dann muss ich
Es darf uns nicht wie beim § 218 StGB gehen. Sie er- dazu feststellen, dass dies schon mit den elementaren Ge-
(B) setzen der Logik unvereinbar ist. Keinem einzigen Hei- (D)
innern sich, dass wir dort maximale und meiner Meinung
nach richtige Positionen gefunden haben, dann aber als ratswilligen oder Verheirateten wird etwas vorenthalten
Gesetzgeber beim Bundesverfassungsgericht regelmäßig oder genommen, worauf er bisher Anspruch hatte. Mit der
gescheitert sind, weil die Minderheit, die unterlegen war, Öffnung der Ehe für Homosexuelle würde lediglich der
dieses Gericht angerufen hat. Deswegen sind Sie meiner Kreis der Begünstigten erweitert.
Meinung nach gut beraten, wenn Sie sich eher der ver- Die Behauptung, die Ehe und nur die Ehe sei auf Kin-
tragsrechtlichen Lösung, die die F.D.P. vorgeschlagen hat, der ausgerichtet und müsse deshalb besonders gefördert
annähern, als dass Sie so starr auf der standesamtlichen werden, offenbart, mit Verlaub, eine blühende Fantasie,
Lösung beharren; das ist mehr ein Symbol. Diejenigen, hat aber mit der Realität nichts mehr zu tun.
die in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften zu-
sammenleben, möchten, dass sich auch die rechtliche (Beifall bei der PDS)
Realität zu ihren Gunsten verändert. Um Symbole geht es Zum einen nimmt die Zahl kinderloser Ehen zu. Zum an-
dabei weniger. Es geht um handfeste Verbesserungen, um deren wachsen immer mehr Kinder bei allein erziehenden
das handfeste Abschaffen von Diskriminierungen gleich- oder bei unverheirateten Eltern auf. Die Ehe ist nicht per
geschlechtlicher Lebensgemeinschaften. Lieber einen se – das möchte ich ganz deutlich auch an die Adresse von
Schritt weniger, dafür aber die Sicherheit, dass es beim Herrn Geis sagen – verlässlicher, verantwortlicher oder
Bundesverfassungsgericht auch Bestand haben kann. für Kinder förderlicher als andere Lebensformen.
(Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der PDS)
Deshalb möchte ich zum Schluss sagen: Das, was bis- Die hohen Scheidungszahlen und die Häufigkeit familiä-
her von den beiden Regierungsfraktionen vorgelegt wor- rer Gewalt in traditionellen Ehen belegen das. Nein, die
den ist, nämlich die Diskriminierung gleichgeschlechtli- Qualität von Beziehungen lässt sich nicht aus der Form
cher Lebensgemeinschaften abzuschaffen, wird von den des Zusammenlebens ableiten.
Liberalen unterstützt. Wir haben einen ähnlichen Gesetz-
entwurf eingebracht. Die Ausgestaltung dessen, was Sie (Beifall bei der PDS)
vorgelegt haben, muss noch geändert werden. Das muss Auch die Behauptung, die eingetragene Partnerschaft
noch im Ausschuss besprochen werden. Ich habe sonst die stehe im Widerspruch zum Grundgesetz, überzeugt in kei-
Befürchtung, dass einige, die das zurzeit als Lieblings- ner Weise. Art. 6 des Grundgesetzes enthält keineswegs
kind seit Jahren verfolgen, mit einem guten Gefühl nach ein Verbot, die der Ehe zugeordneten Rechte auch ande-
der Abstimmung im Bundestag nach Hause gehen, aber ren Lebensgemeinschaften zugänglich zu machen. Das
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10969
Christina Schenk

(A) Verständnis zum einen von Ehe und zum anderen von Fa- Es ist unhaltbar, dass die kinderlose Ehe über das Ehegat- (C)
milie ist unstreitig abhängig von der gesellschaftlichen tensplitting jährlich mit bis zu 23 000 DM subventioniert
Entwicklung. Zwischen Verfassungstext und Verfas- wird, während die maximale Entlastung für ein Kind ge-
sungswirklichkeit hat sich in dieser Hinsicht von 1949 bis rade einmal 5 000 DM beträgt.
heute eine gravierende Lücke aufgetan. Für eine heraus- Die Homoehe – das sage ich zum Schluss – hätte zwei-
gehobene Stellung der Ehe gibt es heutzutage keine ver- fellos einen sehr hohen Symbolwert. Den hätte die recht-
nünftige Begründung mehr. Es ist die Aufgabe des liche Gleichstellung aller Lebensweisen nicht minder. Al-
Gesetzgebers, hier für eine Klarstellung zu sorgen. Das lerdings wäre ihr praktischer Nutzen sehr viel größer.
haben im Übrigen im Rahmen der damaligen Verfas-
sungsdiskussion in der 12. Legislaturperiode außer der Danke schön.
PDS auch SPD und Bündnis 90/Die Grünen gefordert. (Beifall bei der PDS)
Die Kritik der PDS am vorgelegten Gesetzentwurf ist
folgende: Erstens. Die eingetragene Partnerschaft erhält Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe das Wort der
im Vergleich zur Ehe nur eingeschränkte Rechte. Das ist Bundesministerin der Justiz, Frau Dr. Herta Däubler-
nicht die erwartete Gleichstellung mit der Ehe. Besonders Gmelin.
kritikwürdig sind die vorgesehenen Einschränkungen der
Elternrechte. So ist zum Beispiel die Stiefelternadoption Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der Jus-
nicht vorgesehen. Es soll lediglich ein kleines Sorgerecht, tiz: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-
nicht aber eine gleichberechtigte Elternschaft für lesbi- ehrter Herr Kollege Geis, Sie haben heute ein Wort gesagt,
sche und schwule Beziehungen geben. Für mich ist das das mir sehr gut gefallen hat. Sie wandten sich an die linke
nicht hinnehmbar. Seite des Hauses und sagten, die Diskussion über diese
(Beifall bei der PDS) Fragen müsse mit gegenseitigem Respekt geführt wer-
den. Ich finde, das ist in Ordnung. Auch wenn es jetzt in
Rot-Grün bietet damit ausgerechnet die Eltern-Kind-Be- die öffentliche Auseinandersetzung geht, sollten wir uns
ziehung als Projektionsfläche für Homophobie an. Das daran erinnern.
kann nicht angehen. Diese Äußerung haben Sie sicherlich nicht nur getan,
Zweitens. Mit der eingetragenen Partnerschaft schafft um für Ihren persönlichen Standpunkt Respekt einzufor-
Rot-Grün ein Sondergesetz nur für homosexuelle Paare. dern, sondern auch, weil es die Arbeitsgemeinschaft der
Sondergesetze zementieren immer die Diskriminierung, Schwulen und Lesben in der CDU von Ihnen erwartet. Sie
hat eine Presseerklärung herausgegeben, in der sie zwar
(B) anstatt sie zu beseitigen. Lesbische und schwule Paare mitteilt, die Union sei – jedenfalls vor der ersten Lesung (D)
werden zu Paaren zweiter Klasse. Dafür gibt es keine
im Bundestag – noch nicht reif, dem Gesetzentwurf zuzu-
Rechtfertigung.
stimmen, aber CDU-Chefin Angela Merkel und General-
Der dritte Punkt ist der wichtigste. Das Modell der Ehe sekretär Ruprecht Polenz hätten verbindlich zugesagt,
hat keine Zukunftsperspektive. Bereits heute gibt es eine dass es keine Unterschriftenkampagne der Union gegen
große Vielfalt an Lebensformen. Das haben im Übrigen das rot-grüne Gesetz geben werde. Das ist doch schon et-
die Rednerinnen und Redner aller Parteien hier festge- was.
stellt. Diese Vielfalt wird nicht nur von Lesben und (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem
Schwulen, sondern auch von immer mehr heterosexuellen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis
Menschen gelebt. In Großstädten ist die Ehe seit geraumer [CDU/CSU]: Das hat nie einer gesagt!)
Zeit nicht mehr das dominierende Lebensmodell. Es wird
Ich finde, dass die Grundanliegen des Gesetzentwurfs
heute hetero-, homo- oder bisexuell als Paar, zu mehreren
in der Tat herausgearbeitet werden müssen. Das beginnt
oder auch allein gelebt, entweder mit Kindern oder ohne mit dem Abbau von Diskriminierung. Der Abbau von
Kinder. In der Regel hat man nicht nur eine Beziehung im Diskriminierung ist übrigens nichts, was jetzt der eine mit
Leben; vielmehr folgen mehrere nacheinander. Das be- mehr oder der andere mit weniger Argumenten sozusagen
deutet keineswegs die Auflösung der Familie, wie Kon- als Privatsache vorantreiben könnte; vielmehr handelt es
servative behaupten. Familie ist heute einfach nur sehr sich um ein Uranliegen unserer Verfassung und damit je-
viel vielfältiger als früher. der verfassungsgemäßen Justiz- und Rechtspolitik. Ich
betone in diesem Zusammenhang: Es ist auch dann ein
In einer pluralistischen Gesellschaft muss der Staat die
Anliegen, wenn es sich nur um wenige Menschen handelt,
real gelebte Vielfalt des Zusammenlebens anerkennen
für die eine bestimmte Regelung erforderlich ist.
und darf nicht einseitig das Ehemodell privilegieren. Das
muss der Gesetzgeber zur Kenntnis nehmen. Der Staat hat Ich halte den Abbau von Diskriminierung für dringend
alle Lebensformen Erwachsener rechtlich und finanziell notwendig. Auf die unselige Kultur- und Rechtstradition
gleich zu behandeln. Es muss allerdings ganz klar gesagt gerade im Umgang mit Schwulen und Lesben ist schon
werden: Einer besonderen Unterstützung bedürfen nur hingewiesen worden. Sie dauert schon ein paar Jahrhun-
diejenigen, die Kinder erziehen oder Pflegebedürftige be- derte an und hat sich bis in die Neuzeit hinein fortgesetzt.
treuen. Es geht nicht nur um die Nazis, die Homosexuelle in KZs
auf schrecklichste Weise umgebracht haben. Diese Dis-
(Beifall bei der PDS) kriminierung in der Kultur- und der Rechtstradition hat in
10970 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin

(A) der Bundesrepublik Deutschland bis in die 70er-Jahre hi- Warum sind wir denn der Auffassung, man sollte die- (C)
nein angehalten. Von einigen wird sie noch immer betrie- ses familienrechtliche Institut schaffen? Hierfür haben
ben. Wir müssen uns dessen wirklich bewusst sein. wir zwei Gründe: Zum Ersten sind wir der Meinung, dass
Herr Westerwelle, ich habe mich sehr über die Zustim- diese Lebensgemeinschaften im Rahmen des Diskrimi-
mung gefreut, die Sie von allen Seiten bekommen haben, nierungsabbaus die Anerkennung verdienen, und zum
als Sie gesagt haben, das sei heute anders. Auch ich hoffe, Zweiten – da will ich einen Gedanken aufgreifen, den Sie,
dass es heute anders ist. Ich weiß aber, dass es den einen Herr Westerwelle, gerade auch schon angeführt haben –
oder anderen gibt, der Richard von Weizsäcker noch heute wollen wir Bindungen und Partnerschaften stärken. Hier
übel nimmt, dass er 1985 auch die Homosexuellen in die geht es aber um Bindungen und Partnerschaften in einem
Gruppe der KZ-Opfer aufgenommen und sie auf diese spezifischen Sinn, die sich von denen von Mönchen, Wit-
Weise geehrt hat. wen oder Menschen, die andere pflegen – diese haben alle
unsere Hochachtung –, unterscheiden, weil hier die be-
(Margot von Renesse [SPD]: Richtig! Damals sondere sexuelle Identität einbezogen wird. Das ist der
gab es einen Aufschrei der Empörung!) Grund dafür, warum wir sagen: die ja und andere nicht.
Was ist denn eigentlich Diskriminierungsabbau? Herr Es gibt noch einige andere Gründe, liebe Kolleginnen
Beck und auch Sie, Herr Westerwelle, sprechen von An- und Kollegen, warum wir bei eheähnlichen Lebens-
erkennung von Lebensgemeinschaften unter Einbezie- gemeinschaften von Menschen, die heiraten könnten,
hung der sexuellen Identität. Genau darum geht es. Aber
aber ihre Gründe haben, dieses nicht zu wollen, die Un-
diese Anerkennung bedeutet natürlich keine automatische
gerechtigkeiten, zu denen es dort nach langen Jahren
Gleichstellung mit der Ehe. Weder ist dies so im Gesetz-
kommen kann, zwar grundsätzlich, aber nicht mithilfe ei-
entwurf enthalten noch ist es notwendig. Man muss das
nes Trauscheins zweiter Klasse oder irgendeines anderen
Missverständnis offen benennen und auszuräumen versu-
chen, der Abbau der Diskriminierung durch Anerkennung familienrechtlichen Instituts ausgleichen wollen. Dies
dieser Lebensgemeinschaften, die Anerkennung der sexu- sind unterschiedliche Sachverhalte.
ellen Identität, sei eine Gleichsetzung mit der Ehe. Genau Jetzt komme ich auf die mit Art. 6 Grundgesetz zu-
diese Gleichsetzung gibt es nicht. sammenhängenden Fragen zu sprechen. Gestatten Sie
Wenn man die Frage stellt, was Anerkennung einer ho- mir, lieber Herr Westerwelle, folgende Anmerkung: Ich
mosexuellen Lebensgemeinschaft unter Einbeziehung der glaube, dass Sie den Bundesinnenminister, den wir alle
sexuellen Identität eigentlich heißt, dann muss man sich sehr schätzen, ein bisschen sehr eigenwillig zu Ihrem ei-
entscheiden – das ist eine Frage nach dem eigenen kultu- genen Nutzen interpretiert haben. Ich sehe die Bedenken,
die Sie haben. Auch ich bin der Meinung, dass wir eine
(B) rellen Verständnis – , wie man die andere, die gleichge- (D)
schlechtliche Orientierung betrachtet. Betrachtet man Regelung brauchen, die hält. Lassen Sie mich das ganz
sie als andere Orientierung, wie Margot von Renesse oder deutlich unterstreichen. Ich nehme auch an, dass Karls-
auch ich es tun, oder als etwas, was eben doch den Ruch ruhe zu dieser Frage angerufen werden wird. Deshalb
der Minderwertigkeit, also nicht nur den der Verschieden- muss man die verfassungsrechtlichen Grundlagen sehr
heit, hat? sorgfältig prüfen. Das haben wir getan und werden es
auch weiterhin tun. Wenn Sie zusätzliche Anregungen
Um diese Entscheidung kommt man nicht herum; denn
hierzu auch für die Auseinandersetzung im Deutschen
wenn „anders“ im Sinne von „minderwertig“ gemeint ist,
Bundestag haben, dann werden diese, da können Sie si-
zumindest wenn man es so im Hinterkopf hat, dann wird
cher sein, mit großer Sorgfalt geprüft.
man natürlich immer fragen, warum der Staat ein eigenes
familienrechtliches Institut zur Verfügung stellen soll. Was stellt denn Art. 6 Grundgesetz unter den besonde-
Deswegen sagen wir: anders – ja, minderwertig – nein. ren Schutz des Staates? Zum einen die Familie: Sie be-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ steht aus Eltern und Kindern, einem Vater, einer Mutter
DIE GRÜNEN) und einem eigenen oder angenommenen Kind. Dieses be-
deutet aber auch, dass, wenn ein schwuler Vater ein eige-
Meine Bitte an die Kolleginnen und Kollegen, die darü- nes Kind in die Partnerschaft mitbringt, dies eine Familie
ber noch nicht nachgedacht haben, geht dahin, darüber zu ist, die als solche unter dem Schutz von Art. 6 steht.
diskutieren.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Wenn man sagt, andersartig, aber gleichwertig, dann DIE GRÜNEN)
heißt das, dass das den Menschen mitgegeben ist und zur
Würde des Menschen gehört. Damit steht es unter dem Bitte bedenken Sie: In der Öffentlichkeit gibt es her-
Schutz des Art. 1 Grundgesetz. Dann heißt das, dass auch vorragende Beispiele nicht nur für Menschen, die andere
die Handlungsfreiheit gemäß den Grenzen des Art. 2 ge- pflegen, sondern auch für Menschen, die wie Patrick
geben ist und dass für entsprechende Lebensgemein- Lindner in Bayern ein krankes Kind adoptieren, was
schaften das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 zulässig und wünschenswert ist, damit es diesem Kind gut
gilt. Wir sehen das so. Deswegen sind wir der Meinung, geht. Selbstverständlich ist diese Beziehung eine Vater-
dass es sinnvoll ist, ein eigenes familienrechtliches Insti- Kind-Beziehung und steht damit ohne Zweifel unter dem
tut zu schaffen. Ich sage noch einmal: Das beruht auf der Schutz des Art. 6. Das heißt, die Familie steht völlig un-
Basis von Art. 1, Art. 2 und Art. 3 Abs. 3 des Grundge- geachtet der sexuellen Orientierung der Eltern oder eines
setzes. Elternteils unter dem besonderen Schutz des Staates.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10971
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin

(A) Art. 6 schützt auch die Ehe, und zwar aus gutem Ich habe mir Ihren Gesetzentwurf natürlich sehr sorg- (C)
Grund. Ich darf noch einmal wiederholen: Es ist ja inte- fältig angeschaut. Ich glaube aber nicht, dass Ihre Überle-
ressant, dass wir, Herr Geis, Margot von Renesse, viele gung richtig ist, dass wir ohne familienrechtliches Institut –
andere und ich, uns in nichts nachstehen, was die Ernst- zum Beispiel bei der Zeugnisverweigerung – weiterkä-
haftigkeit unserer persönlichen Beziehungen – für uns ist men.
ganz offensichtlich die Ehe das Lebensmodell – und die Ich kehre zu dem Ausgangspunkt zurück – Abbau von
Bejahung, die wir dazu ganz eindeutig äußern, betrifft. Diskriminierung und Anerkennung von Lebensgemein-
Warum schützt denn Art. 6 die Ehe? Natürlich auch we- schaften unter Einbeziehung der sexuellen Identität – und
gen der gemeinsamen Kinder, aber auch wegen der part- sage: Es gibt keine Gleichstellung mit der Ehe. Die
nerschaftlichen Bindungen. Das heißt, hier ist eine beson- Diskussion nicht nur hier im Bundestag, sondern auch
dere heterosexuelle, auf lange Dauer angelegte Bindung draußen sollte mit Respekt geführt werden. Das sind die
unter den besonderen Schutz des Staates gestellt, in der Schlagworte, die dieses Vorhaben begleiten sollten. Wenn
der Wunsch bzw. die Möglichkeit oder sogar die Gewiss- uns dies gelingt, dann kommen wir gemeinsam ein gutes
heit besteht, eigene Kinder zu haben und sie zu erziehen. Stück weiter.
Beides spielt eine große Rolle. Herzlichen Dank.
Deswegen haben alle die Recht, die immer wieder da- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
rauf hinweisen, dass das neue familienrechtliche Institut DIE GRÜNEN)
der eingetragenen Partnerschaften natürlich Rechtsbezie-
hungen zwischen den Ehegatten nur insofern zum Vorbild
Vizepräsident Rudolf Seiters: Zu einer Kurzinter-
nehmen kann, als sie nicht in der Möglichkeit begründet
vention gebe ich dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle
sind, gemeinsame Kinder zu haben. Das muss die Grenze
das Wort.
sein. Nicht passend sind also – das ist hier schon genannt
worden – Adoption, Versorgungsausgleich, Güterstand
und Ehegattensplitting. Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Frau Ministerin, es
ist nur eine kurze Intervention zur Klarstellung. Nicht al-
Aber diese Diskussionen können wir sicher noch mit lein die Tatsache bezüglich des Standesamtes macht mir
Ihrer kritischen Begleitung führen, weil es uns darum ge- verfassungsrechtliche Sorgen, sondern die Kombination
hen muss, eine Regelung zu finden, die Diskriminierung aus Standesamt als eben nicht nur einer bürokratischen,
abbaut, die solche Lebensgemeinschaften unter Einbezie- sondern auch Kulturbehörde und einer weitgehenden
hung der sexuellen Identität anerkennt, die sie nicht rechtlichen Annäherung von Ehe und eingetragener Part-
(B) gleichstellt mit der Ehe und die auf jeden Fall vor dem nerschaft. Das ist der große Unterschied zur Situation in (D)
Verfassungsgericht Bestand hat. Hamburg.
Ich glaube nicht, dass Sie, Herr Westerwelle, mit Ihrem In Hamburg gibt es zwar eine standesamtliche Regis-
Argument vom Standesamt Recht haben. Ich darf tratur, aber ohne jede rechtliche Konsequenz. Was Sie
zunächst einen praktischen Aspekt anführen. Sie wissen vorlegen – das ist einer der Punkte, wo man sehr genau
ganz genau, dass es in Hamburg die Anerkennung vor hinschauen muss; das können Sie bei Herrn Schily
dem Standesamt – allerdings ohne Rechtsfolgen – schon nachlesen –, enthält eine Kombination, über die wir noch
seit langem gibt. Ist das denn verfassungswidrig? Sind Sie unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten reden müs-
wirklich der Meinung, dass das gegen Art. 6 des Grund- sen und die mir große Sorgen bereitet.
gesetzes, also gegen den Schutz der Ehe, verstößt? Ich
(Margot von Renesse [SPD]: Jedenfalls ist das
habe dieses Argument noch nicht gehört. Standesamt nicht heilig!)
Das Standesamt ist Personenstandsbehörde, keines-
wegs ein Amt, das ausschließlich mit Eheangelegenheiten Vizepräsident Rudolf Seiters: Zur Erwiderung die
zu tun hat. Es hat sehr viel mit Familienangelegenheiten Bundesministerin der Justiz.
zu tun. Man kann also auf keinen Fall zu dem Schluss
kommen, dass das Standesamt nur die Funktion der zivil-
rechtlichen Trauung erfüllt. Hierin liegt also nicht das Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der Jus-
Problem. tiz: Vielen Dank, Herr Westerwelle, für die Klarstellung.
Wenn Sie ein bisschen konkreter geworden wären, wäre
(Margot von Renesse [SPD]: Sonst haben wir ich jetzt selbstverständlich in der Lage, Ihre Sorge bezüg-
bald das „Sakrament des Standesamts“!) lich des einen oder anderen Punktes auszuräumen.
Lassen Sie mich noch einen weiteren pragmatischen Lassen Sie mich noch einmal sehr deutlich sagen, wo
Aspekt anführen. Wir alle wollen, dass es Partnerschaften die Grenzlinie verläuft. Das ist für die Beurteilung des
und Ehen nicht gleichzeitig geben kann. Das schließt sich vorliegenden Gesetzentwurf ganz wichtig. Die Grenze
vom Wesen her aus. Praktisch gesehen ist es deshalb sinn- verläuft so – um nochmals die Worte von Margot von
voll, eine Regelung zu haben, aufgrund deren Eintragun- Renesse aufzugreifen –, dass Regelungen für Ehepartner
gen auf dem Standesamt gemacht werden können. All ohne eigene Kinder zum Vorbild genommen werden kön-
diese Punkte muss man bedenken, wenn man die Lösung nen, andere Regelungen aber nicht. Darunter fallen
beurteilen will. Adoption, Ehegattensplitting, Zugewinnausgleich und
10972 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin

(A) Versorgungsausgleich. Dazu gehören auch noch andere Aber nicht nur in der Öffentlichkeit kommt es zu er- (C)
Überlegungen – ich weiß, die Zeit war ein bisschen kurz, heblichen Schwierigkeiten, sondern auch die Not von El-
unseren Entwurf sorgfältig durchzulesen –, die Sie alle in tern kann groß sein, die angesichts der eigenen Befangen-
dem Gesetzentwurf finden werden. heit und der Furcht vor gesellschaftlicher Ausgrenzung
ihre eigenen Kinder nicht mehr annehmen können.
Ich sage Ihnen eindeutig zu: Wenn Sie konkrete Fragen
haben, die hier diskutiert werden sollen, dann tun wir das Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit ich diese Erfah-
sehr gerne. rungen gemacht habe, habe ich nicht nur angefangen,
nach sachgerechten Antworten zu suchen, sondern auch
Danke schön. nach angemessenen. Und wenn mir von zwei Männern
oder zwei Frauen, die sich ebenso lieben wie ein Mann
Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die CDU/CSU- und eine Frau, die heiraten wollen, die gleichen Gründe
Fraktion spricht die Kollegin Ilse Falk. für den Wunsch nach einer auf Dauer angelegten und
rechtlich gesicherten Partnerschaft vorgetragen werden,
kann das nicht das eine Mal richtig und das andere Mal
Ilse Falk (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolle- völlig abwegig sein.
ginnen und Kollegen! Ich will versuchen, heute mit mei-
ner Rede einen eher unüblichen Weg zu gehen. Obwohl (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
ich den vorgelegten Gesetzentwurf entschieden ablehne, GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)
will ich mich heute nicht zu sehr mit den Einzelheiten be- Gerade die Konservativen unter uns sollten sehr genau
fassen, sondern vielmehr versuchen, den Weg für eine hinsehen, ob nicht gerade die von uns mit Recht als wich-
gute und faire Diskussion zu bereiten. Dabei wende ich tig erachteten Werte hier einmal mehr eingefordert wer-
mich an diejenigen gerade auch in meiner eigenen Frak- den. Ich denke da an Verlässlichkeit, an Verantwortung,
tion und Partei, die sich schwer tun mit diesem Thema an an Vertrauen – im Gegensatz zu Unverbindlichkeit und
sich und mit der Festschreibung von Rechten im Beson- wechselnden Beziehungen.
deren. Ich bin mir sicher, dass es gerade auch bei den So-
zialdemokraten Kollegen und Kolleginnen gibt, die große Mit diesen Überlegungen kommt man sehr schnell zu
Schwierigkeiten haben werden, einer fast vollständigen dem Ergebnis, dass beide Formen dieser Beziehungen ab-
Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der solut gleich wertvoll sind, gleichwertig, aber völlig unter-
Ehe zuzustimmen. Sie, Frau von Renesse, haben ja auch schiedlich in den Konsequenzen für die angemessene
Rechtsetzung. Da unterscheiden wir uns denn doch sehr.
angedeutet, dass es nicht überall ganz leicht ist.
Was ist also zu tun? Ich muss zugeben, dass mir der
Viele von uns fangen, wenn überhaupt, erst langsam
(B) an, sich für ein Thema zu öffnen, das einerseits nach wie vorgelegte Gesetzentwurf sehr hilfreich war, Klarheit zu (D)
schaffen, Klarheit darüber, was ich will und was ich nicht
vor ein Tabuthema und andererseits mit vielen Vorurteilen
will. Die völlige oder fast völlige Gleichstellung mit der
behaftet ist, Vorurteilen, die leider auch immer wieder be-
Ehe, wie vorgesehen, will ich jedenfalls nicht. Ich halte
fördert werden, wenn zum Beispiel beim Christopher sie weder für logisch noch für angemessen.
Street Day nur die schrillen und bizarren Typen gezeigt
werden und nicht die große Mehrheit derjenigen, die sich Unser Grundgesetz stellt Ehe und Familie unter den
an diesem Tag einfach nur freuen, dass sie sich als lesbi- besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Der Staat
sches oder schwules Paar ganz selbstverständlich in der gibt damit der Familie besondere Rechte zum Schutz der
Öffentlichkeit zeigen können und, statt neugierig ange- Kinder, um ihnen Fürsorge, Vertrauen und Verlässlichkeit
starrt zu werden, einfach akzeptiert werden. zu gewähren. Der Staat verspricht auch der Ehe seinen
besonderen Schutz, weil er idealtypisch davon ausgeht,
Meine Damen und Herren, ich kann das deshalb sagen, dass – trotz mancher gegenläufiger Tendenzen auch heute
weil ich selber, seit ich mich auf dieses Thema eingelas- noch – die natürliche Erfüllung der Ehe die Familie mit
sen habe, einen schwierigen Lernprozess durchlaufen Kindern ist.
habe: vom Vorurteil zum hoffentlich begründbaren Urteil.
Da war bei mir zunächst auch das „Tuntenbild“ im Kopf (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
und die Vorstellung von etwas, „was man nicht tut“ und Die Privilegierung der Ehe ist also kein Grund für eine
was man schon gar nicht „ist“. Gleichstellung der Lebenspartnerschaften mit ihr. Der
Als ich aber angefangen habe, mich näher mit dieser Gleichberechtigungsgrundsatz gebietet, dasjenige und
Thematik zu befassen, und dabei die Chance wahrgenom- nur dasjenige gleich zu behandeln, was wesentlich gleich
men habe, viele Gespräche zu führen und die Menschen ist. Er gebietet keine schematische Gleichmacherei von
kennen zu lernen, habe ich auch die „Normalität“ von allem und jedem ohne Rücksicht auf wesentliche Unter-
Schwulen und Lesben erfahren und viele besonders lie- schiede. Ungleiches ist gerade nicht gleich, sondern ge-
benswerte Menschen getroffen. rechterweise ungleich zu behandeln. Gleichbehandlung
bedeutet also, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu
Erschreckt hat mich aber auch, von Ausgrenzung, von behandeln. Ich kann da nur auf die sehr eindrucksvollen
verletzender Ablehnung und von massivem Mobbing zu Worte des Kollegen Dreßler in seiner letzten Rede am
hören. Es kann also nicht die Rede davon sein, dass es gestrigen Tag hinweisen.
keine Diskriminierungen gebe.
Die heute schnell gebrauchte Rede von der Diskrimi-
(Beifall im ganzen Hause) nierung, wann immer eine ungleiche Behandlung festzu-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10973
Ilse Falk

(A) stellen ist, bedarf darum jeweils der genauen Überprü- in der Öffentlichkeit wegen seiner Verwechselbarkeit mit (C)
fung. In vielen Fällen ist sie ihrerseits Kampfbegriff zur der Ehe auf heftigen Widerstand stößt.
Erlangung von Positionsgewinnen im Interessenabgleich
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
der pluralistischen Gesellschaft.
GRÜNEN]: Wo denn? Bei Ihnen!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Lassen Sie uns in gegenseitigem Respekt vor der je-
Aus der klassischen Tradition von Ehe und Familie weils anderen Meinung – das ist hier verschiedentlich ein-
wurden rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen, die gefordert worden – in die Beratungen gehen und tragen
dem besonderen Schutzbedürfnis des wegen der Erzie- wir alle dazu bei, dass die notwendige gesellschaftliche
hungsaufgaben ganz oder teilweise auf eigene Erwerbs- Diskussion der Aufklärung und dem besseren Verständnis
tätigkeit verzichtenden Elternteils Rechnung tragen. Dazu füreinander dient. Gestehen wir denen, die anders als wir
gehören zum Beispiel Unterhaltsrechte und -verpflichtun- empfinden, zu, dass sie ihre Liebe zueinander, sofern sie
gen mit ihren steuerlichen Konsequenzen sowie abgelei- das wollen, auch in einer verbindlichen Lebensform leben
tete Sozialversicherungsansprüche. können. Es wird deshalb garantiert keine einzige Ehe we-
niger geschlossen werden.
Aber was ist nun notwendig, um homosexuellen Paa-
ren, die ihre Partnerschaft auf Dauer anlegen möchten, die Und denken wir immer daran: Keiner und keine von
erforderlichen Rahmenbedingungen zu geben? Im Regel- uns weiß, warum er oder sie homosexuell oder es eben
fall – nur dafür sollten wir Vorsorge treffen – werden nicht ist. Eines aber wissen wir ganz genau, nämlich dass
beide Partner oder Partnerinnen selber für ihren Unterhalt Gott uns gerade so, wie wir in unserer Unverwechselbar-
sowie ihre soziale Absicherung sorgen können. Es ist kein keit und Einzigartigkeit sind, gewollt hat.
Grund zu erkennen, warum die Solidargemeinschaft hier (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
eintreten sollte. F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Statt materieller Rechte sind bei gleichgeschlechtli- SES 90/DIE GRÜNEN)
chen Paaren aus meiner Sicht viel notwendiger morali-
sche Rechte abzusichern. Damit meine ich, gesetzliche Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich erteile für die
Sicherheit für den Fall zu geben, dass einer der Partner der SPD-Fraktion dem Kollegen Alfred Hartenbach das Wort.
besonderen Fürsorge bedarf. Hierzu zählen aus meiner
Sicht: das Zeugnisverweigerungsrecht, damit auch ho-
mosexuelle Partner nicht in die Zwangslage gebracht wer- Alfred Hartenbach (SPD): Herr Präsident! Meine
den, zulasten ihres Partners oder ihrer Partnerin aussagen sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Kollegin
(B) zu müssen; Auskunfts- und Besuchsrechte; die Änderung Falk, ich möchte Ihnen sehr ausdrücklich für Ihren Re- (D)
des Mietrechts, um nach dem Tod des Partners in das be- debeitrag danken, mit dem Sie für die künftigen Diskus-
stehende Mietverhältnis eintreten zu können. Die Vor- sionen einen guten Boden bereitet haben. Denn ich
schriften des Bestattungsrechts sollten dahin gehend mo- glaube, wir brauchen dies und sollten eine aufgeheizte
difiziert werden, dass dem homosexuellen Partner des To- Stimmung und parteipolitisches Gezänk vermeiden.
ten ein gegenüber den sonstigen Berechtigten nicht Ich gestehe, dass mir die Ehe natürlich näher liegt als
nachrangiges Recht zur Totensorge eingeräumt wird, das die Partnerschaft. Dabei ist für mich die Ehe ein äußerer
seinen Ausschluss von der Beerdigung durch die An- Rahmen. Entscheidend ist dabei der Inhalt, der in dieser
gehörigen verhindert. Die großzügigeren Bedingungen Ehe gelebt wird. Das sind zum Beispiel Verlässlichkeit,
für den Besuch von Angehörigen im Strafvollzug könnten Verantwortung, Treue – um nur drei Stichworte zu nen-
auf homosexuelle Partner ausgedehnt werden. Fragen des nen.
Erbrechts sollten ebenfalls bedacht werden. Wenn ein Le-
benspartner den anderen im Falle einer schweren Krank- Warum sollen wir den Menschen, die aufgrund ihrer
heit oder Berufsunfähigkeit finanziell unterstützt, sollten sexuellen Neigungen einen anderen, einen homosexuel-
diese Kosten steuerlich geltend gemacht werden können. len Partner lieben, einen solchen Rahmen verweigern, um
das, was sie ausdrücken wollen, zu leben? Warum können
Wenn auch die Mehrheit meiner Fraktion der Auffas- wir in diesem neuen Jahrtausend nach der Verfolgung in
sung ist, dass vieles, was homosexuelle Paare einfordern, der Vergangenheit – die Ministerin hat von jahrhunderte-
durch privatrechtliche Verträge geregelt werden könnte, langer Verfolgung gesprochen; wenn man weiter zurück-
so können doch solche Regelungen im Innenverhältnis schaut, erkennt man, dass Menschen mit gleichge-
keine Rechtsverhältnisse gegenüber Dritten oder dem schlechtlicher Neigung jahrtausendelang verfolgt worden
Staat beeinflussen oder gestalten. Deshalb sind wir gut be- sind – nicht endlich damit Schluss machen?
raten, wenn wir diese Rechte festschreiben und ihnen zu-
gleich eine solide und eindeutige Grundlage geben. Für (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
mich ist die Eintragung der Lebenspartnerschaft die GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordne-
ten der F.D.P.)
logische und eindeutige Grundlage für Rechte und Pflich-
ten. Sie gäbe einen sicheren Beweis und unterstriche die Wir haben den in dem von uns vorgelegten Gesetzent-
Unterscheidbarkeit von allen unverbindlichen Lebensfor- wurf eingeschlagenen Weg sehr bewusst gewählt, um die
men. Welcher hierfür der richtige Ort ist, wird zu klären bestehende Diskriminierung zu beenden und um hier
sein. Allerdings hat es sich schon jetzt gezeigt, dass der eine Regelung zu finden, damit Menschen mit gleichge-
Vorschlag der Koalition, dieses standesamtlich zu regeln, schlechtlicher Neigung endlich – ich gebrauche die Worte
10974 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Alfred Hartenbach

(A) des Kollegen Beck – in der Mitte der Gesellschaft leben in mein Konzept. Darf ich für mich 30 Sekunden länger (C)
können und nicht mehr am Rand leben müssen. reklamieren, damit ich diese Frage beantworten kann?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜND- (Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Ich
NISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) stehe ja! Die Beantwortung geht ja nicht zulas-
ten Ihrer Zeit!)
Lassen Sie mich einen Punkt ansprechen, der hier bis-
her noch gar nicht zum Ausdruck gebracht worden ist, den
zu erwähnen ich aber für durchaus wichtig und notwendig Vizepräsident Rudolf Seiters: Sie haben genügend
halte. Denken wir doch bitte einmal an all die Eltern, die Zeit, die Frage zu beantworten und Ihren Redebeitrag zu
Kinder mit einer gleichgeschlechtlichen Neigung groß- vollenden.
ziehen und erleben müssen, wie ihre Kinder diskriminiert,
wie sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Alfred Hartenbach (SPD): Ich möchte an anderer
Müssen wir nicht auch für diese Eltern etwas tun? Ich Stelle auf Ihre Frage eingehen, Herr Braun. Ich werde es
denke, auch das ist langsam an der Zeit. nicht vergessen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Margot von Renesse [SPD]: Dann geht das
der PDS) aber zulasten deiner Redezeit!)
Nun haben wir einen Weg gewählt, der eine möglichst – Deswegen habe ich ja um eine Verlängerung meiner Re-
weit gehende Annäherung an das Institut der Ehe – ich dezeit um 30 Sekunden gebeten.
wiederhole: Ehe heißt Jawort vor dem Standesamt –
sicherstellt. Herr Kollege Westerwelle, wir haben ganz Ich fahre fort: Wir haben für eingetragene Lebenspart-
bewusst das Standesamt als die Stelle gewählt, bei der die nerschaften ganz bewusst diese verbindliche Form ge-
Erklärung „Ja, wir wollen eine Partnerschaft schließen“ wählt. Wir wollen nicht nur einen Vertrag; vielmehr soll
abgegeben werden soll. Dies hat gute Gründe. nach außen sehr deutlich dokumentiert werden: Wir wol-
len eine Partnerschaft eingehen. Ich habe nicht die Be-
denken, die Sie geäußert haben, dass diese Form mögli-
Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Kollege cherweise verfassungswidrig ist. Wir haben sehr genau
Hartenbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- darüber nachgedacht und sind überzeugt, dass das Stan-
ordneten Hildebrecht Braun? desamt auch in diesem Fall genau die richtige Stelle ist.
Der Standesbeamte muss nämlich prüfen, ob eine andere
Partnerschaft oder möglicherweise eine Ehe besteht. Zu-
Alfred Hartenbach (SPD): Gut. – Bitte, Herr Braun.
dem wird dadurch letztendlich der Wille zur Partnerschaft
(B) bekundet. (D)
Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Herr
Ich möchte nun auf den Kollegen Braun eingehen. Für
Hartenbach, verzeihen Sie, Sie sind gerade bei einer Spe- uns ist selbstverständlich, dass in diesem Fall ähnliche
zialthematik. Aber es ist oft so, dass man sich zu einem Regelungen gelten müssen wie beim Nachzug von Ehe-
bestimmten Zeitpunkt zu Wort meldet und der Redner partnern. Damit habe ich Ihre Frage auch schon beant-
zwischenzeitlich schon beim nächsten Thema ist. wortet.
Wir sprechen hier viel über einzelne Formen der Dis- Die von Ihnen geäußerten Bedenken kann ich ausräu-
kriminierung bei einer bestehenden homosexuellen Part- men; denn es gibt andere zivilisierte Länder – ich nenne
nerschaft. Primär geht es natürlich darum, dass eine sol- nur Dänemark und Frankreich –, in denen bereits solche
che Partnerschaft überhaupt gelebt werden kann. Des- Lebenspartnerschaften bestehen. Auch dort wird über den
wegen ist das Problem der binationalen Verbindungen, Nachzug von ausländischen Lebenspartnern disku-
der ausländerrechtlichen Absicherung, dass also eine Ver- tiert. Im Übrigen geht es nicht um die von der Union – ins-
bindung überhaupt gelebt werden kann, von überragender besondere von Herrn Geis in einem Zeitungsartikel – pro-
Bedeutung. pagierte Masse.
Sie sind der dritte Sprecher der SPD zu diesem Thema. Außerdem wissen wir alle, dass gerade in den Ländern,
Ich habe bisher nichts dazu erfahren, inwieweit der In- von denen Fluchtbewegungen zu uns ausgehen, die Ho-
nenminister und auch der Bundeskanzler, der nach unse- mosexualität verfolgt wird, dass dort also solche Partner-
rer Verfassung die Richtlinien der Politik bestimmt, bereit schaften überhaupt nicht möglich sind. Daher müssen wir
sind bzw. sein werden, dem in Ihrem und auch in unserem über diese Frage gar nicht weiter nachdenken. Dies wird
Gesetzentwurf enthaltenen Konzept zuzustimmen, wo- sich in dem normalen Rahmen regeln lassen.
nach in Deutschland in Zukunft nachgewiesene, lange be-
stehende Partnerschaften auch von Deutschen und Nicht- Ich komme auf Herrn Westerwelle zurück – jetzt kön-
deutschen gelebt werden können. Können Sie dazu etwas nen Sie die Uhr wieder laufen lassen, Herr Präsident –:
sagen? Natürlich brauchen wir hier eine verbindliche Regelung;
denn wir wollen und müssen auch in anderen Gesetzen
verbindliche Regelungen treffen. Ich glaube nicht, dass
Alfred Hartenbach (SPD): Ich möchte mich zunächst man eine vertragliche Regelung treffen kann, ohne in an-
einmal an Sie wenden, Herr Präsident. Der Kollege Braun deren Gesetzen, zum Beispiel hinsichtlich der ganz wich-
hat anscheinend auf die Uhr gesehen und festgestellt, dass tigen Frage des Zeugnisverweigerungsrechts – und ich
ich nur noch etwas mehr als zwei Minuten Redezeit habe. halte das nicht für einen Ausnahmefall –, Anpassungen
Eine Beantwortung seiner Frage passt im Moment nicht vorzunehmen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10975
Alfred Hartenbach

(A) Lassen Sie mich zum Schluss noch einige Worte des Joachim Stünker (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- (C)
Dankes sagen, und zwar an diejenigen, die in den Koali- leginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
tionsfraktionen an diesem Entwurf mitgearbeitet und zu Herren! In den letzten Wochen und Monaten ist in unse-
erkennen gegeben haben, dass wir hiermit ein gesell- rem Land Erstaunliches passiert. Über die so genannte
schaftspolitisches Werk schaffen, das dem Stand unserer Fachöffentlichkeit hinaus hat in einer breiteren Öffent-
Republik, dem Stand unseres Denkens, nämlich eines lichkeit die intensive Diskussion rechtspolitischer The-
aufgeklärten Denkens, gerecht wird und dessen würdig men begonnen. Überregionale und auch regionale Zei-
ist. Ich darf mich bei all jenen bedanken – vor allen Din- tungen haben sich zunehmend mit der für den Laien doch
gen bei Ihnen, Frau Ministerin –, die uns unterstützt eher spröden Materie der Rechtspolitik beschäftigt. Was
haben, ist geschehen? Es wird auf der Grundlage der Ergebnisse
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Rechtsmittel im zivil-
DIE GRÜNEN) gerichtlichen Verfahren“ bereits seit dem Sommer letzten
Jahres und dann letztendlich bis in diese Tage hinein – ich
auch denen, die uns bei den teilweise schwierigen Fragen
zu anderen Rechtsgebieten geholfen haben. hoffe, auch darüber hinaus – und auf der Grundlage eines
Referentenentwurfs des Bundesministeriums der Justiz
Ich denke, dass wir in den Beratungen – Frau Falk, ich vom Jahresende 1999 die Reform unseres Zivilprozess-
schaue Sie ganz offen an – einen guten Gesetzentwurf zu- rechts diskutiert.
stande bringen werden. Sie, Herr Westerwelle, und die ge-
samte F.D.P. wollen dies. Ich stelle fest: Auch der Wi- Ich begrüße diesen breit angelegten Diskussionspro-
derstand in der Union bröckelt. Es ist ein vernünftiger zess ausdrücklich und fordere alle Interessierten auf, die-
Umgang miteinander möglich. Wir, liebe Kolleginnen ses Gespräch nunmehr nach Vorlage des Entwurfs eines
und Kollegen der Koalition, haben einen mutigen und Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses durch die Koali-
guten Schritt getan; wir wollen dieses Werk beenden. tionsfraktionen intensiv weiter zu führen. Ich begrüße
dies insbesondere deshalb mit Nachdruck, weil das Ver-
Vielen Dank.
fahren in der Vergangenheit, nämlich in den 16 Jahren der
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vorgängerregierung, genau andersherum gelaufen ist.
DIE GRÜNEN) Insbesondere in den 90er-Jahren gab es eine Reihe von
Entlastungs-, Beschleunigungs- oder so genannten Ver-
Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich schließe die Aus- einfachungsnovellen in der ordentlichen Gerichtsbarkeit,
sprache. die jeweils von der breiten Öffentlichkeit gänzlich unbe-
merkt und überwiegend auch für die Praxis überraschend
(B) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf daherkamen. Wir haben uns oft gewundert, was da wieder (D)
den Drucksachen 14/3751 und 14/3792 an die in der Ta- im Bundesgesetzblatt stand, meine Damen und Herren.
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 14/3751 soll zusätzlich an den Von daher möchte ich an dieser Stelle Ihnen, Frau Mi-
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- nisterin, den ausdrücklichen Dank der Koalitionsfraktio-
ordnung, die Vorlage auf Drucksache 14/3792 zusätzlich nen dafür sagen, dass Sie diesen breiten Diskussionspro-
an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju- zess im vorigen Sommer mit der Vorlage der Auswertung
gend überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstan- des Berichts der Bund-Länder-Arbeitsgruppe in Gang ge-
den? – Dann sind die Überweisungen so beschlossen. setzt haben. Sie haben sich dabei sehr viel Kritik ausge-
setzt. Aber Sie haben sich der sachlichen und fachlichen
Ich rufe Zusatzpunkt 14 auf: Diskussion gestellt. Das ist der richtige Weg, der uns zum
Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Erfolg führen wird. Noch einmal schönen Dank.
Hartenbach, Hermann Bachmaier, Bernhard (Beifall des Abg. Alfred Hartenbach [SPD])
Brinkmann (Hildesheim), weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die von mir
Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, erwähnten so genannten Entlastungsgesetze der Vergan-
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der genheit sind allerdings alle gescheitert. Um mit den Wor-
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- ten des Kollegen Scholz zu sprechen: gnadenlos geschei-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform tert. Sie haben für die Rechtsuchenden keine Verbesserun-
des Zivilprozesses (Zivilprozessreformgesetz – gen und für die Gerichte keine Entlastungen, sondern – im
ZPO-RG) Gegenteil – weitere Belastungen gebracht. So ist durch
– Drucksache 14/3750 – das ständige Hochschrauben der Wertgrenzen im Zivil-
Überweisungsvorschlag:
prozess letztendlich die Masse des Arbeitsanfalles ledig-
Rechtsausschuss lich nach unten durchgedrückt und im Ergebnis die Amts-
gerichte immer wieder mit Mehrarbeit belastet worden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Man hat die Quantitäten geregelt und die Qualitäten aus
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre dem Auge verloren. Um ein Beispiel zu nennen: Als ich
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. im Jahre 1973 in der ordentlichen Justiz anfing, hatte ein
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für die amtsrichterliches Dezernat 350 bis 400 Eingänge im Jahr;
SPD-Fraktion dem Kollegen Joachim Stünker das Wort. heute sind wir bei 700 und mehr.
10976 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Joachim Stünker

(A) Weil die Entlastungsgesetze der Vergangenheit, wie ich Zweitens. Die Entwicklung kann vor der Position der (C)
meine, gescheitert sind, geht der jetzt vorgelegte Entwurf Mittelinstanz nicht Halt machen. Das Prinzip des Zu-
zur Reform des Zivilprozesses ganz konsequent einen an- gangs zur zweiten Instanz als Verfahrensrecht einer Par-
deren Weg: den Weg einer wirklichen Strukturreform; tei, von dem sie nach Belieben Gebrauch machen kann,
denn über die Istbeschreibung der jetzigen Situation hi- wird sich nicht aufrechterhalten lassen, da hierdurch zu
naus müssen wir uns vergegenwärtigen, dass insbeson- viel richterliche Arbeitskapazitäten für letztlich Überflüs-
dere auf die Ziviljustiz durch die weitere zunehmende siges absorbiert werden. Auch dem folgen wir in unserem
Verrechtlichung des Alltagslebens, den rasanten Fort- Entwurf.
schritt der Informations- und Kommunikationstechnolo-
gien und nicht zuletzt durch die Vereinheitlichung des eu- Drittens. Daraus folgt der Schluss, dass die Erhaltung
ropäischen Rechtsraumes neue, zusätzliche Aufgaben zu- der Funktionstüchtigkeit des Rechtsstaats eine erhebliche
kommen werden. Aufwertung der ersten Instanz voraussetzt.
Der Zivilprozess des Jahres 2010 wird daher in seiner (Beifall bei der SPD)
Komplexität mit dem Zivilprozess des Jahres 2000 nicht Sie ist nicht nur Durchgangsstation auf dem Weg zu den
mehr vergleichbar sein, wie bereits der heutige Zivilpro- heiligen Hallen der Obergerichte, sondern sie sollte in
zess nicht mehr mit dem des Jahres 1973 vergleichbar ist. aller Regel Endstation sein. Genau das setzen wir mit un-
Die Rechtspolitik muss daher vorausschauen, sich auf ge- serem Entwurf konsequent um.
sellschaftliche Veränderungen, den technischen Fort-
schritt und die globalen Veränderungen einlassen. Sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
kann sich nicht damit begnügen, solche Entwicklungen DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Freiherr von
nur nachzuvollziehen. Die Rechtspolitik muss vielmehr Stetten [CDU/CSU]: Was sie für 96 Prozent der
die Initiative ergreifen und jedes Optimierungspotenzial Fälle auch ist!)
nutzen, um das hohe Qualitätsniveau der Justiz langfristig
Wir fordern Sie, die breite Fachöffentlichkeit, die Op-
zu sichern und noch weiter zu steigern.
position in diesem Haus und die Bundesländer, auf, mit
Die Rechtspolitik muss sich aus den Zwängen und der uns gemeinsam auf der Grundlage dieses Entwurfs in die
Umklammerung der Fiskalpolitik befreien. Das heißt aber weitere Diskussion zu gehen.
nicht, dass sich die Justiz bei der Erfüllung der ihr ge-
stellten Aufgaben in der Vergangenheit und in der Gegen- Nach meinen Informationen wird es im Sommer dieses
wart nicht bewährt hätte, Herr Geis. Die Diskussion Jahres, im August, einen Entwurf der Bundesregierung
der letzten Monate hat vielmehr gezeigt, wie effektiv und geben. Wir können dann über das Thema von zwei Seiten
her strukturell diskutieren. Wir werden mit den Diskus-
(B) auf welch hohem Niveau insbesondere die Ziviljustiz ar- sionsvorschlägen den Deutschen Juristentag im Septem- (D)
beitet.
ber erreichen und können dann auch dort in die Diskus-
Das Entscheidende ist vielmehr, jetzt die Weichen sion einsteigen. Im weiteren Verfahren können wir vor
dafür zu stellen, dass die Gerichte auch zukünftig den ho- dem Hintergrund sachlicher Arbeit etwas Gutes tun, um,
hen Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger, der Wirt- wie ich bereits eingangs sagte, die ordentliche Gerichts-
schaft und letztlich der ganzen Gesellschaft gerecht wer- barkeit für die Zukunft fit zu machen.
den können. Um die anerkannt hohe Qualität der Dienst-
leistungen der Justiz und damit ihre Akzeptanz in der Ich denke, auch die Opposition hier im Hause müsste
Bevölkerung langfristig zu sichern, bedarf es einer um- eigentlich mit uns gemeinsam diesen Weg gehen können.
fassenden Reform der Rechtspflege in allen Bereichen. Ich darf aus dem Protokoll vom 13. Juni 1997, als über das
gleiche Thema beraten wurde, zitieren. Der damalige Vor-
Für die Ausgangssituation, von der aus wir diskutieren,
sitzende des Rechtsausschusses, Herr Eylmann von der
gibt es die, wie ich meine, unstrittige Feststellung, dass
wir uns ganz realistisch darüber im Klaren sein müssen, CDU, hat Folgendes gesagt:
dass die Justiz den sich abzeichnenden Aufgabenzuwachs (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
angesichts der Haushaltslage der Länder ohne zusätzli- Der war schon immer ein Eigenbrötler!)
ches Personal bewältigen muss. Die hierfür erforderlichen
Kapazitätsreserven müssen die Organe der Rechtspflege Wir brauchen eine Stärkung der ersten Instanz. Wir
bei sich selbst mobilisieren. brauchen mehr Mündlichkeit in der ersten Instanz;
denn in der ersten Instanz entscheidet sich das Anse-
Wenn das so richtig ist – ich meine, es ist richtig –, er- hen der Justiz; mit den Amtsrichtern kommen die
geben sich daraus Folgerungen, die der ehemalige Leute zusammen. Wir brauchen weiterhin eine Straf-
Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor fung des Rechtsmittelsystems – ich habe das schon
Wolfgang Zeidler, in seinem, wie ich meine, heute schon häufig vorgetragen –: eine Tatsacheninstanz, eine
historisch zu nennenden Festvortrag anlässlich des Deut- Rechtsüberprüfungsinstanz.
schen Richtertags 1983 in München vorgezeichnet hat. Er
hat drei Punkte aufgezeigt: Das war ein Aufruf an Sie, sich diesem vernünftigen
Weg anzuschließen. Ich hoffe, Sie werden diesen Schritt
Erstens. Die Revisionsgerichte sind in ihrer Aufgabe jetzt gehen können, Herr von Stetten.
ganz auf die Wahrung der Rechtseinheit und die Rechts-
fortbildung zu konzentrieren. Genau das steht in unserem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Entwurf. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10977
Joachim Stünker

(A) Lassen Sie mich abschließend noch Folgendes aus- leiten, damit dieser Stellung nehmen kann. Ich glaube, (C)
führen: Wir haben im vorigen Jahr die Möglichkeit der dies wäre der bessere Weg gewesen und hätte der Diskus-
außergerichtlichen Streitschlichtung neu in das Gesetz sion besser gedient.
aufgenommen. Sie waren daran beteiligt. Wir haben die
Präsidialverfassung der Gerichte reformiert. Dies waren
Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Kollege Geis,
die ersten beiden Schritte. Die heute vorgestellte Reform
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Alfred
des Zivilprozesses ist der nächste Schritt auf dem von uns
Hartenbach?
eingeschlagenen Weg, dem Weg, der uns zu dem Ziel
führen soll, der ordentlichen Gerichtsbarkeit das Rüst-
zeug zu geben, um den Anforderungen der Zukunft ge- Norbert Geis (CDU/CSU): Bitte sehr.
wachsen zu sein.
Die Reform der Verfahren der freiwilligen Gerichts- Alfred Hartenbach (SPD): Herr Kollege Geis, waren
barkeit und des Strafprozesses werden die nächsten Sie immer so selbstzweiflerisch, was die Rechte eines
Schritte sein. Parallel dazu müssen wir im Einvernehmen Parlaments anbetrifft, oder sind Sie das erst, seit Sie in der
mit den Bundesländern die notwendige Binnenreform der Opposition sind?
ordentlichen Gerichtsbarkeit vorantreiben, also die Über-
tragung gegenwärtig noch richterlicher Aufgaben auf den Norbert Geis (CDU/CSU): Nein, ich achte die parla-
rechtspflegerischen Dienst und die weitere Übertragung mentarischen Rechte sehr hoch, dass wissen Sie genau.
von Aufgaben, die jetzt noch von Rechtspflegerinnen und
Ich meine nur, es hätte der Sache mehr gedient, wenn die
Rechtspflegern zu erfüllen sind, auf den mittleren Dienst.
Bundesregierung einen Kabinettsentwurf vorgelegt, die-
Diesen Weg der notwendigen Reformen zu gehen wird sen dann dem Bundesrat zugeleitet hätte und der Bundes-
nicht leicht sein. Er wird steinig sein und die Widerstände rat dann dazu hätte sachkundig Stellung nehmen können.
heftig. Denn hiermit greifen wir in Strukturen ein, in de-
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
nen wir seit 120 Jahren in der Justiz arbeiten. Aber ich darf
CSU]: Das wäre sehr viel besser gewesen!)
Ihnen versichern: Wir haben das im Kreuz, wir werden
diesen dornigen Weg bis zum Ende gehen; denn wir sind Dies hätte unserer Diskussion mehr gedient.
davon überzeugt – ich bin davon überzeugt –, dass es zu
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
diesem Weg der Reformen keine Alternative gibt.
Schönen Dank. Vizepräsident Rudolf Seiters: Der Kollege
(B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Hartenbach möchte eine zweite Zwischenfrage stellen. (D)
DIE GRÜNEN)
Alfred Hartenbach (SPD): Herr Kollege Geis, finden
Vizepräsident Rudolf Seiters: Jetzt spricht der Kol- Sie es nicht gut, dass dieser Entwurf so lange als Refe-
lege Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion. rentenentwurf vorlag, dass Ihr eigener Sachverstand aus-
reicht, um ihn zu beurteilen? Sind Sie nicht mit mir der
Meinung, dass es ein sehr kollegialer Akt der Koalitions-
Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
fraktionen ist, Ihnen über die Sommerpause hinweg die
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Stünker, die Pra-
Gelegenheit zu geben, sich mit diesem Referentenentwurf
xis, etwa die Anwälte und Richter, sieht das ganz anders
zu befassen, statt dauernd rätseln zu müssen: Was hat die
als Sie. Das wissen Sie auch. Es wird sehr schwierig wer-
Koalition im Panzerschrank liegen?
den, all dies gegen die Praxis, also gegen Anwälte und
Richterschaft, durchzusetzen. Soweit meine erste Vorbe- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
merkung.
Zweitens möchte ich sagen: Ich meine, dass dies ein Norbert Geis (CDU/CSU): Lieber Kollege
sehr wichtiges Thema ist, nach unserer Einschätzung viel- Hartenbach, es handelt sich hier doch nicht mehr um ei-
leicht das wichtigste in der Rechtspolitik in dieser Legis- nen Referentenentwurf, sondern um einen Gesetzentwurf.
laturperiode. Dieses Thema hätte es verdient, zu einem Diesen Gesetzentwurf diskutieren wir heute. Was spricht
besseren Zeitpunkt behandelt zu werden. Bei der Einbrin- eigentlich dagegen, uns über die Sommerpause den vom
gung von Gesetzen muss man auch ein wenig darauf ach- Kabinett beschlossenen und dem Bundesrat zugeleiteten
ten, dass man Gedanken nicht in einer geschlossenen Ge- Entwurf zu geben, um ihn zu durchdenken und zu disku-
sellschaft austauscht, sondern dass sie einen vernünftigen tieren? Es wäre für diese Beratung besser gewesen, wenn
Widerhall bei den Kollegen finden können. Insofern be- wir vorher die Stellungnahme des Bundesrates gehabt hät-
daure ich es außerordentlich, dass wir dieses Thema ten. Sie mögen zwar anderer Meinung sein – ich kenne
heute, am letzten Tag vor der Sommerpause, auf der Ta- Ihre Zwänge in dieser Frage –, aber ich glaube – lassen Sie
gesordnung haben. mich das in Ruhe sagen –, ein normales Gesetzgebungs-
verfahren in dieser Sache wäre der bessere Weg gewesen.
Ich bedaure auch, dass dieser Gesetzentwurf von den
Da stimme ich mit meinen Kollegen überein.
Koalitionsfraktionen eingebracht worden ist, die Bundes-
regierung also nicht den normalen Weg gegangen ist, (Alfred Hartenbach [SPD]: Mit bayrischen
nämlich diesen Gesetzentwurf erst dem Bundesrat zuzu- Vordenkern?)
10978 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Norbert Geis

(A) Herr Kollege Hartenbach, das ist eine sehr tief grei- Belastung ist aber seit sieben Jahren die gleiche – und die (C)
fende Reform, die Sie da vorhaben; das sagen Sie auch Justiz bricht nicht zusammen. Wir haben seit 1993 in etwa
selbst. Die Rechte des Bürgers werden nicht ausgeweitet, die gleichen Eingangszahlen. Im letzten und vorletzten
jedenfalls nicht hinsichtlich der Berufungsinstanz. Die Jahr gingen diese Eingangszahlen sogar zurück.
Rechte in der Berufungsinstanz – jedenfalls ist es in dem
Entwurf so niedergelegt – werden sogar eingehend be- (Abg. Joachim Stünker [SPD] meldet sich zu
schränkt. einer Zwischenfrage)

Die Dreistufigkeit wird kommen. Das werden viele Im Übrigen bin ich nicht der Auffassung, dass wir,
Amtsgerichte, sollte das Gesetz so in Kraft treten, in der wenn die Belastung wirklich zu hoch wäre, die Zivilpro-
Praxis nicht überleben. zessordnung in einer so radikalen Form ändern sollten,
wie Sie das vorhaben. Warum sollten wir nicht einmal
(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ versuchen, den Ländern klarzumachen, dass die Justiz
DIE GRÜNEN]: Die Gerichtsorganisation ist eine Kernaufgabe ist? Warum sollten wir nicht einmal an
doch wohl Ländersache!) die Finanzminister der Länder appellieren, für die Justiz,
Viele Amtsgerichte werden aufgelöst werden müssen. Es weil sie eine Kernaufgabe ist, mehr Geld zur Verfügung
ist auch nicht wahr, dass die Bürgernähe größer wird; zu stellen? Wie viel verbraucht die Justiz? Sie verbraucht
denn durch die Dreistufigkeit werden wir gerade einen gerade mal zwei Prozent der Länderhaushalte. Das ist für
Verlust an Bürgernähe und damit auch an Rechtskultur eine Kernaufgabe des Staates nicht zu viel. Und wenn die
haben. Belastung wirklich größer wird, dann müssen wir auch
einmal ganz klar und deutlich sagen, dass solche Belas-
Dabei haben wir eine gut funktionierende Justiz. Die
tungen auch durch Mehrung von Richterstellen abgebaut
Frage ist doch, ob man jetzt so umwälzend reformieren
werden können.
muss. Herr Stünker, ich bin ja dafür, dass wir das System
immer wieder verbessern; denn gerade der Zivilprozess (Beifall bei der CDU/CSU)
muss flexibel sein, muss auf neue Entwicklungen Antwort
geben können und muss für neue Sachverhalte vernünf-
Vizepräsident Rudolf Seiters: Jetzt bekommt das
tige Regelungen finden, damit Konflikte gelöst werden
können. Aber dafür ist doch keine so große, umfassende, Wort zu einer Zwischenfrage der schon lange wartende
geradezu revolutionierende Reform notwendig. Kollege Joachim Stünker.

(Joachim Stünker [SPD]: In der Vergangenheit


ist der andere Weg doch gescheitert! Er endete Joachim Stünker (SPD): Danke schön, Herr
doch mit einer Bruchlandung!) Präsident. – Herr Geis, ich habe ja Geduld.
(B) (D)
Gegenwärtig kann der deutsche Bürger in einem fairen,
effektiven und verlässlichen Verfahren vor dem Gericht Norbert Geis (CDU/CSU): Ich auch.
sein Recht suchen.
Die Behauptung, die Justiz sei nicht bürgernah – in Joachim Stünker (SPD): Herr Geis, wenn das alles
Ihrem Entwurf steht, sie sei nicht transparent, nicht bür- so ist, wie Sie es hier beschreiben, wenn das alles Gold ist,
gernah und nicht effizient –, ist nach Ihren eigenen Wor- was den Zustand in der ordentlichen Gerichtsbarkeit,
ten, Herr Stünker, gar nicht richtig. Wir haben eine effizi- in der Ziviljustiz angeht: Wieso haben Sie dann in der letz-
ente Justiz. Die Justiz wird in dem Entwurf – Sie, Herr ten Legislaturperiode einem von den Bundesländern ein-
Stünker, haben das nicht getan – krank geredet. Das ist gebrachten Entwurf – er trägt die Drucksachennum-
völlig falsch. Sie ist nicht krank. Sie funktioniert, und mer 13/11042 – noch 1998 zugestimmt, in dem zum Bei-
zwar recht gut. Wäre es nicht so, dann würden nicht so spiel die Regelung enthalten war, dass künftig von der
viele Bürgerinnen und Bürger ihr Vertrauen auf die Justiz Berufungsinstanz bis zum Streitwert von 60 000 DM eine
setzen und versuchen, dort ihr Recht zu finden und durch- Berufung ohne Begründung als „offensichtlich unbegrün-
zusetzen. Die Justiz ist nicht krank. Das Gegenteil ist rich- det“ verworfen werden kann? Warum haben Sie damals
tig. Ich meine, man sollte jetzt nicht krampfhaft versu- der in diesem Entwurf vorgesehenen Regelung eines ver-
chen, unsere Justiz krank zu reden. mehrten Einsatzes von Einzelrichtern in der ersten Instanz
(Alfred Hartenbach [SPD]: Das habt ihr doch zugestimmt? Ich könnte Ihnen hier noch weitere ähnliche
zehn Jahre gemacht, Herr Dr. Eisenbart!) Beispiele nennen.

Sie behaupten immer, die vielen Entlastungsgesetze – Warum also haben Sie, wie ich meine, immer nur
mir sind insgesamt drei auf den Tisch gelegt worden; Flickwerkoperationen gemacht, mit denen immer nur in
damals, in unserer Koalition, haben wir vieles so durch- Teilbereichen etwas geregelt wurde? Worin liegt der tie-
gesetzt, wie wir es für richtig gehalten haben –, Herr fere Grund dafür, dass die Berufung mit einem Streitwert
Hartenbach, hätten nichts bewirkt. Dass wir eine so gut bis zu 60 000 DM gegenüber der mit einem Streitwert
funktionierende Justiz haben, liegt nach meiner Auffas- über 60 000 DM schlechter gestellt wird? Wenn das, wie
sung auch an den Entlastungsgesetzen. Wir lassen sie Sie sagen, alles in Ordnung war, warum haben Sie dann
auch nicht schlecht reden. diesen Entwurf noch 1998 beschlossen?
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie behaup- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
ten immer, unsere Justiz sei zu stark belastet. Die DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10979

(A) Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Stünker, ich habe ledigt. Beim Landgericht haben wir Erledigungszahlen (C)
ausdrücklich gesagt, dass wir dann, wenn sich heraus- von über 80 Prozent. Dies ist auch ein Beweis dafür, dass
stellt, dass unser Zivilprozess nicht flexibel genug ist, im unsere Justiz gut funktioniert.
Einzelfall reagieren müssen. Das sieht dieser Gesetzent-
Ich glaube, wenn Ihr Reformwerk umgesetzt würde,
wurf vor. Wie Sie wissen, haben Sie diesem Ent-
wurf – Sie persönlich waren noch nicht dabei, aber Ihre wäre diese gute Funktion unserer Justiz nicht mehr im
Kolleginnen und Kollegen – im Rechtsausschuss bis auf gleichen Maße gewährleistet. Sie werden den dreiglied-
eine Passage – sie betrifft die Klausel bezüglich der Kam- rigen Gerichtsaufbau ansteuern und damit eine Zer-
mern für Handelssachen und des Registerwesens – da- schlagung des Amtgerichtes und des Landgerichtes – es
mals zugestimmt. Wir waren alle zusammen der Mei- soll ja zu einer Zusammenführung beider zu einem großen
nung, dass dieser Gesetzentwurf, vom Bundesrat erarbei- Eingangsgericht kommen – in Kauf nehmen. Wir hatten
tet, aus der Praxis kommend, vernünftig ist. Er beinhaltete diese Diskussion schon einmal in den 70er-Jahren, als
aber nicht so umwälzende Neuerungen wie Ihr jetzt vor- ähnliche Pläne verfolgt wurden. Damals war man aber
liegender Entwurf und wollte auch nicht die ganze Justiz klugerweise der Auffassung, sie wieder in die Schublade
umkrempeln. Darin stimmen wir doch hoffentlich über- zurückzulegen. Das war eine richtige Entscheidung. In
ein. Herr Kollege Stünker, ich bin immer für Verbesse- der damaligen sozialliberalen Koalition saßen kluge
rungen, wenn es wirklich notwendig ist. Aber ich bin ge- Leute. Ich hoffe, im Laufe der Zeit stellt sich auch in die-
gen eine totale Umwälzung, wie Sie sie mit Ihrem Ent- sem Verfahren wieder die Klugheit ein, sodass der Ent-
wurf vorhaben. wurf wieder in der Schublade verschwinden wird. Bis
jetzt kann man diesen Eindruck noch nicht haben.
Vizepräsident Rudolf Seiters: Gestatten Sie eine Durch die geplante Zerschlagung von Amtsgerichten
zweite Zwischenfrage des Kollegen Stünker? und Landgerichten kommt es – ich habe es vorhin schon
gesagt – zu einem Verlust an Bürgernähe und zu einer Zer-
störung alter Bindungen. Man muss einmal überlegen,
Norbert Geis (CDU/CSU): Ja. dass in manchen Städten ein Amtsgericht bzw. eine Ge-
richtsstelle schon seit Jahrhunderten vorhanden ist. Das
Joachim Stünker (SPD): Worin bestand damals für soll nun aufgehoben werden und ich weiß nicht, ob das
Sie die Notwendigkeit? Sie sagen: Wenn Notwendigkeit der Bindung der Bevölkerung an die Justiz zugute kommt.
besteht, dann machen wir was. Aber Sie haben nicht die
(Alfred Hartenbach [SPD]: Das ist doch nicht
Frage beantwortet, worin für Sie die Notwendigkeit be-
wahr! – Joachim Stünker [SPD]: Ein Kultur-
stand.
(B) bruch!) (D)
Norbert Geis (CDU/CSU): Die Notwendigkeit wurde
Ich bin da ganz anderer Meinung.
in den einzelnen Fällen aus der Praxis heraus erkannt. Sie wollen die Konzentration der Berufungssachen
(Zurufe von der SPD: Aha!) beim Oberlandesgericht und dabei die Berufungs-
summe auf 1 200 DM heruntersetzen. Haben Sie sich
Die Praxis und die Beratung mit den Kolleginnen und einmal überlegt, wenn jemand mit einem Streitwert von
Kollegen des Bundesrates haben uns nahe gelegt, Rege- 1 300 DM in die Berufung geht, – –
lungen zu treffen. Das haben wir in diesem Gesetzentwurf
getan. Sie werden mit mir darin übereinstimmen – Sie sa- (Joachim Stünker [SPD]: Das macht keiner
gen ja, das sei Flickwerk gewesen; ich bin nicht Ihrer Auf- mehr! Das ist heute schon zu teuer!)
fassung –, dass dieser unser Entwurf nicht der so genannte – Ja, genau, aber heute kann er vom unteren Stock des
große Wurf war. Das war nicht ein so revolutionäres Ge- Amtsgerichts in das nächste Stockwerk des Landgerichts
setzgebungskonvolut, wie Sie es jetzt vorhaben. Aber: Ich gehen; er hat das Landgericht in der Nähe. Wenn er sich
wende mich doch nicht gegen Verbesserungen. Ich bin für aber erst mit seinem Anwalt in das Auto setzen muss, um
Verbesserungen! Kein System ist vollkommen. Wir müs- in einer Tagesreise das Landgericht zu erreichen – das gilt
sen jedes System verbessern, wenn es notwendig ist. zum Beispiel für mich in Aschaffenburg, wo das zustän-
Dafür trete ich ein. Doch ich wende mich ganz massiv ge- dige Oberlandesgericht seinen Sitz in Bamberg hat –, ent-
gen Ihren Gesetzentwurf, weil er mir zu revolutionär ist. stehen gewaltige Kosten, sodass am Ende die Kosten
Lassen Sie mich fortfahren. Ich habe vorhin noch ein- höher liegen als der Streitwert.
mal darauf hingewiesen, dass man bei zu großer Belas- Das heißt doch, dass die Zusammenfassung beim
tung natürlich auch einmal daran denken muss, ob nicht Oberlandesgericht im Grunde genommen ein Berufungs-
Richterstellen gemehrt werden müssen. Aber gegenwärtig verhinderungsinstitut ist. Sie haben ja selber gesagt, es
ist das nicht nötig. Die Belastung ist nicht so groß, wie Sie würde dann keiner mehr machen.
behaupten. Wir haben seit 1993 eine gleich bleibende Be-
lastung. Ich glaube, unsere Richter kommen damit gut zu- (Joachim Stünker [SPD]: Heute!)
recht. Es hat sich jedenfalls kein Mangel gezeigt. Das bedeutet doch einen Verlust der Rechte der Bürger.
Es ist auch nicht so, dass die erste Instanz, wie Sie im- Warum wollen wir denn den Bürgern das Recht nehmen,
mer sagen, eine Durchgangsinstanz ist. Die Prozesse wer- in der Berufungsinstanz ihre Sache noch einmal überprü-
den in erster Instanz zu 94 Prozent beim Amtsgericht er- fen zu lassen?
10980 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Norbert Geis

(A) Ich bedauere diese Entwicklung außerordentlich und chenvortrages in zweiter Instanz stärker vornehmen las- (C)
schon aus diesem Grunde wenden wir uns ganz entschie- sen. Dies geht auf die Intervention Ihrer Fraktion zurück.
den gegen Ihr Vorhaben; denn dies bedeutet in der Tat ei- Das begrüßen wir. Aber reicht das? Denn das Gericht
nen Verlust der Rechte des Bürgers. Das ist keine Politik muss nach wie vor entscheiden: Gibt es hier wirklich eine
für den Bürger, sondern es ist eine Politik gegen den klei- Aussicht auf Erfolg, geht es um eine wichtige Rechts-
nen Mann. frage? All diese Fragen sind entscheidend dafür, ob die
(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei Sache überhaupt von der Berufungsinstanz angenommen
der SPD) wird. Nach dem Referentenentwurf haben Sie zwar die
Annahmeberufung abgeschafft, Sie haben aber im
Nur noch die Besserverdienenden werden sich dann eine Grunde genommen nur eine neue Formulierung dafür ge-
Berufung leisten können. funden. Sie nennen es jetzt Zulassungsbeschluss. Das
(Lachen bei der SPD) kommt aufs Gleiche heraus. Es ist aber ein viel umständ-
licheres Verfahren.
Damit handeln Sie wie in der Steuerpolitik: Sie helfen den
Großen und treten die Kleinen. Genauso ist es hier. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
mich insbesondere gegen die Einschränkung des Tat-
(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der sachenvortrages in zweiter Instanz – ich wiederhole
SPD) mich – wenden. Er ist auch nach dieser Korrektur, die
– Sie lachen darüber, aber es wird so sein. Das haben Sie wir begrüßen, noch eingeschränkt. Ist dies wirklich rich-
nur noch nicht gemerkt. tig? Im Zivilprozess – das wissen Sie genauso gut wie
ich – geht es um Sachverhalte. In 90 Prozent der Fälle
Sie wollen die erste Instanz stärken. Das ist für sich ge- sind Sachverhalte Gegenstand der Entscheidung in ei-
nommen ein ganz vernünftiger Gedanke, den wir gut nem Zivilprozess. Rechtsfragen spielen vom Aufwand
nachvollziehen können. Sie wollen deshalb die Gütever- her nur eine geringe Rolle. Bei der Feststellung des
handlung einführen. Das alles haben wir doch schon. In Sachverhaltes gibt es die Fehler. Deswegen ist es richtig,
Ihren Reihen befinden sich doch viele gelernte Juristen dem Betroffenen, der mit der Feststellung des Sachver-
und mehrere von Ihnen waren ja in der Justiz tätig. In der haltes und der Wertung des Richters in erster Instanz, die
heutigen Praxis wird doch kein Prozess begonnen, ohne vollkommen rechtsfehlerfrei gewesen sein mag, nicht
dass der Richter versuchen würde, vergleichsweise eine einverstanden ist, die Chance zu geben, dies in zweiter
Regelung zu finden. Er muss in jedem Stand des Verfah- Instanz kontrollieren zu lassen.
rens nach unserer Zivilprozessordnung eine Regelung im
Wege des Vergleichs anstreben. All diese Dinge sind also (Hermann Bachmaier [SPD]: Diese Chance
(B) gar nicht notwendig. hat er!) (D)
Ich möchte noch ein Wort zum obligatorischen Einzel- Warum nehmen wir dem Bürger die Möglichkeit? Ich be-
richter sagen, Herr Stünker. Sie haben mit Recht gesagt, daure dies außerordentlich.
wir hätten die dem Einzelrichter zuzuweisenden Fall- Genau das Gleiche gilt für die Revisionsinstanz.
gruppen ausgedehnt. Es steht fest, dass die Einzelrich- Natürlich gibt es die Revisionsinstanz schon immer, da-
terentscheidungen genauso gut angenommen werden wie mit die Einheitlichkeit des Rechtes gewahrt wird. Aber die
die kammergerichtlichen Entscheidungen. Man muss da- Einheitlichkeit und die Fortbildung des Rechtes – abgese-
bei aber eine Einschränkung machen: Bei unserer jetzigen hen von den Nöten im Einzelfall –, zur Bedingung dafür
Organisation haben die kammergerichtlichen Entschei- zu machen, ob die Revision angenommen wird und Erfolg
dungen meistens schwierigere Sachverhalte und schwie- hat, halte ich für sehr bedenklich und für eine Verkürzung
rigere Rechtsfragen zum Gegenstand, weil alle anderen des Rechtes der Bürger. Es kommt dem Bürger nämlich
Fälle dem Einzelrichter übertragen werden. Bei solchen nicht darauf an, ob seine Sache der Fortbildung des Rech-
Prozessen mit schwierigeren Sachverhalten und schwieri- tes dient, sondern es kommt ihm einzig und allein darauf
geren Rechtsfragen kommt es naturgemäß leichter zu an, dass er seine Gerechtigkeit findet. Wir müssen diese
Fehlentscheidungen. Deswegen kann man beides nicht Einzelfallregelung mehr beachten.
vergleichen.
(Hermann Bachmaier [SPD]: Das tun wir
Ich glaube aber, wir sollten dabei einen Gedanken nicht doch!)
vernachlässigen: Das Kammerprinzip hat eine wichtige
Funktion, da sechs Augen auf einen Sachverhalt schauen. Ich hoffe, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Es gibt die Binnenkontrolle des ansonsten in seiner Ent- dass Sie nach einer entsprechenden Anhörung doch zu
scheidung freien Richters. Das ist ein Wert, den man nicht dem Ergebnis kommen, den Gesetzentwurf wieder
unterschätzen sollte. zurückzuziehen. Es wäre das Beste für Sie, für die Justiz,
für die Gerechtigkeit und für unsere Rechtskultur.
Dass Sie den obligatorischen Einzelrichter auch ohne
Bindung an irgendeinen Streitwert einführen, halten wir Danke schön.
für sehr bedenklich. Wir halten es insbesondere auch für
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
bedenklich, weil Sie in der Berufungsinstanz eine einge-
schränkte Sachverhaltsprüfung haben. Nach dem Refe-
rentenentwurf haben Sie dies zwar zurückgenommen und Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die Fraktion
wollen nun die Prüfung des Sachverhaltes und des Tatsa- Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Volker Beck.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10981

(A) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dinge, verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und (C)
Wir haben gerade erfahren: Die Union ist der Meinung, es F.D.P.. So macht man vernünftige Gesetze. Aber mittler-
herrschen paradiesische Zustände bei der Justiz, denn sie weile wird mir auch klar, warum Sie 16 Jahre lang in der
bricht noch nicht zusammen. Das ist ein sehr schöner Be- Rechtspolitik außer Flickschusterei so wenig zustande ge-
fund. Ich wundere mich darüber sehr. Es passt überhaupt bracht haben.
nicht zu Ihrer Analyse in der letzten Wahlperiode. Die da-
(Beifall des Abg. Alfred Hartenbach [SPD])
maligen Gesetze zur Entlastung der Rechtspflege, so auch
das letzte gescheiterte Gesetz, enthielten durchaus ver- Wir vom Bündnis 90/Die Grünen können mit den jetzt
nünftige Elemente, die wir in dieser Reform auch aufge- getroffenen Regelungen sehr zufrieden sein. Seit Beginn
nommen haben. Entweder war es damals richtig, etwas zu der Diskussion um die Justizreform haben wir uns für eine
tun – dann ist es auch heute gut, etwas zu tun und darüber insgesamt ausgewogene Lösung stark gemacht. Wir ha-
zu reden – oder es war damals falsch. Und dann muss man ben uns gegen unverhältnismäßige Eingriffe in die
sich fragen, was Sie in der letzten Wahlperiode, als Sie die Rechtsmittel gewandt. Wir halten es für gefährlich, wenn
Verantwortung hatten, überhaupt gemacht haben. die Berufungsinstanz ausschließlich der Rechtsfehlerkon-
trolle diente und eine Neuverhandlung von Tatsachen
Meine Damen und Herren, diese Justizreform ist eine kategorisch ausgeschlossen wäre. Man hat es Ihrer Kritik,
runde Sache. Sie verbessert den Rechtsschutz für die Bür- Herr Geis, angemerkt, dass Sie eigentlich unzufrieden
gerinnen und Bürger und erhöht zugleich Transparenz und über die Berücksichtigung der Kritikpunkte im Ge-
Effizienz der Justiz. Dennoch konnten die Reaktionen auf setzentwurf waren, weil Ihre Rede nicht mehr richtig zu
diesen Gesetzentwurf nicht unterschiedlicher ausfallen. dem Entwurf passte.
(Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Die waren ein- Die jetzt gefundene Öffnungsklausel hinsichtlich des
hellig!) Prüfungsumfangs des Berufungsgerichtes ist für die
Positiv, wenn auch bei der Anwaltschaft verhalten, ist das Bürgerinnen und Bürger eine Verbesserung; denn mit ihr
Echo bei den Berufsverbänden. Sowohl Richterschaft als wird sowohl ein wichtiges Ziel der Reform – berechtigte
auch Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sind zu- Forderungen schneller und auch kostengünstiger durch-
frieden, zusetzen – als auch das mögliche Risiko berücksichtigt,
dass die in der ersten Instanz festgestellten Tatsachen viel-
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
leicht doch nicht so rechtsfehlerfrei ermittelt wurden.
[CDU/CSU]: Katastrophal!)
Meine Damen und Herren von der Union – ich spreche
weil wesentliche Kritikpunkte aus ihren Stellungnahmen
zu Ihnen, auch wenn Sie nicht zuhören –, Ihr Generalse-
berücksichtigt worden sind. Heribert Prantl von der „Süd-
kretär, Herr Polenz, hat uns vorgeworfen, der Rechts-
(B) deutschen Zeitung“ – im Übrigen einer der größten Be- schutz werde mit der Reform massiv beschnitten. Ich (D)
fürworter dieser Reform – gibt eine zu vorsichtige Reno-
vierung der alten Verwirrordnung ZPO zu bedenken. Die würde ihm empfehlen – da er nicht anwesend ist, möchte
Berliner „tageszeitung“ applaudiert fast überschwäng- ich Sie bitten, ihm das auszurichten –, den zugegebener-
lich. maßen sehr umfangreichen Gesetzentwurf einmal in
Ruhe von vorne bis hinten durchzulesen. So trocken die
Aber Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposi- Materie auch sein mag: Die Mühe sollte sich lohnen. Ich
tion, geht wieder einmal alles zu schnell und nicht in Ihre empfehle ihm das auch auf die Gefahr hin, dass er der Ko-
Richtung. Aber wieso eigentlich? Noch kürzlich haben alition dann das Gegenteil vorhalten wird.
Sie der Koalition in der Rechtspolitik Untätigkeit vorge-
worfen und gemahnt, wir würden Ihnen zu wenige Ge- Die Annahmeberufung in ihrer alten Form ist auch
setze vorlegen. Jetzt sind Sie anscheinend überlastet und aufgrund unserer Bedenken vom Tisch. Hier hat uns übri-
beschweren sich über das Verfahren, obwohl es das glei- gens auch der Vorschlag des Landes Niedersachsen sehr
che Verfahren ist, das auch Sie 16 Jahre hier praktiziert geholfen. Eine Art Schnellverfahren, mit dem sich der Be-
haben: Die Koalition legt Gesetzentwürfe vor, um in der rufungsrichter vielleicht manchmal eine Menge Arbeit er-
parlamentarischen Diskussion voranzukommen, während sparen möchte, wäre den Bürgerinnen und Bürgern nicht
gleichzeitig die Abstimmung mit dem Bundesrat läuft. zuzumuten gewesen. Wir haben an dieser Stelle auch die
Das sieht die Geschäftsordnung vor. Bedenken der Anwaltschaft sehr ernst genommen. Die
nun gefundene Ausgestaltung des Verfahrens ist eine gute
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Lösung. Offensichtlich aussichtslose Berufungen können
Das ist ein ganz normales Verfahren, um voranzukommen abgelehnt werden.
und Ergebnisse für unser Land zu erzielen. Ein Kollegium, also sechs Augen, muss das Rechts-
Seit Weihnachten befindet sich auf der Homepage des mittel einstimmig für unbegründet erachten. Und es kann
Bundesjustizministeriums der Referentenentwurf zur Jus- erst dann die Annahme des Rechtsmittels ablehnen, wenn
tizreform. Jeder konnte also mitdiskutieren, Stellung neh- den Parteien die Gründe erläutert worden sind und ihnen
men und die Punkte sehen, die wir für reformbedürftig noch einmal rechtliches Gehör geschenkt wurde. In die-
halten. Verbände und Länder haben teilweise sehr um- sem Verfahren wird der Grundsatz gelten: Im Zweifel für
fangreiche Stellungnahmen zu dieser Reform abgegeben. das Rechtsmittel. Ist das ein massiver Einschnitt in den
Die Koalition hat zusammen mit der Ministerin die Be- Rechtsschutz? Wollen Sie, meine Damen und Herren von
denken und Anregungen ausgewertet und in dem jetzt der Opposition, auch bei aussichtslosen Rechtsmitteln un-
vorliegenden Gesetzentwurf berücksichtigt. Was bitte ist bedingt eine für die Parteien kostenintensive mündliche
daran überhastet? Das ist der ganz normale Lauf der Verhandlung beibehalten?
10982 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Volker Beck (Köln)

(A) (Alfred Hartenbach [SPD]: So ist das näm- überrascht wird, der kann es vielleicht auch eher akzep- (C)
lich!) tieren.
Der Entwurf verfährt nach dem Motto: Rechtsschutz Als Bündnisgrüne freuen wir uns ganz besonders über
dort, wo er geboten ist. Aus diesem Grunde haben wir die ein weiteres wichtiges Element, das die Eingangsinstanz
Berufungssumme auch nicht, wie wir es aus früheren ebenfalls stärkt: die obligatorische Güteverhandlung.
Zeiten gewohnt sind, erhöht, sondern um 300 DM auf Nach dem Gesetz zur außergerichtlichen Streitschlich-
1 200 DM bzw. 600 Euro gesenkt. tung, das im letzten Jahr in Kraft getreten ist, betont die
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Koalition auch hiermit konsequent den Gedanken der
[CDU/CSU]: Sehr gut!) Streitschlichtung. Natürlich kann man das System der Ar-
beitsgerichtsbarkeit in diesem Zusammenhang nicht
Auch unterhalb dieser Summe haben wir mit einer Zu- blindlings auf den Zivilprozess übertragen. Die zunächst
lassungsberufung und einer neuen Abhilfemöglichkeit im Referentenentwurf vorgeschlagene Regelung ist pra-
den Rechtsschutz erweitert. Herr Geis, das ist das Gegen- xisgerecht zurechtgeschneidert worden. Ist eine gütliche
teil von dem, was Sie gesagt haben. Hiermit wird der Einigung erkennbar überflüssig, muss sie nicht stattfin-
Rechtsschutz gerade für die kleinen Leute und bei gerin- den. Auch in diesem Punkt sind wir übrigens für die zahl-
gen Streitwerten in einer angemessenen Art und Weise – reichen konstruktiven Vorschläge der Verbände dankbar.
mehr Rechtsstaatlichkeit und mehr Fehlerkontrolle – ver-
bessert. Das ist wirklich das glatte Gegenteil Ihrer Aus- Meine Damen und Herren, die Diskussion um eine bes-
sage von vorhin, dass man etwas gegen die kleinen Leute sere, praxisgerechtere und effektive Ziviljustiz ist mit
dem heutigen Tag nicht zu Ende. Im Gegenteil! Schon
mache. Ihre Ausführungen waren an den Haaren herbei-
jetzt bin ich auf die Anhörung gespannt, bei der die ge-
gezogen.
samte Rechtspflege erneut die Gelegenheit erhält, Vor-
Die Tendenz, dass die Zeit willkürlicher Streitwert- schläge zu unterbreiten. Über vernünftige Vorschläge
grenzen allmählich vorbeigeht, weil dies mit effektivem kann man mit dieser Koalition immer reden.
Rechtsschutz wenig zu tun hat, zieht sich wie ein roter
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Faden durch den gesamten Entwurf. Bei der Revision ist
die 60 000-DM-Grenze weggefallen. Eine Überprüfung Das Ziel sollte aber allen klar sein: Die Renovierung
durch den BGH soll bei grundsätzlicher Bedeutung der der Verwirrordnung ZPO steht an. Die „Süddeutsche Zei-
Streitsache möglich sein. Damit sind aber nicht nur über tung“ hat zu Recht festgestellt – mit Erlaubnis des Präsi-
den Einzelfall hinausreichende Streitfälle von allgemei- denten zitiere ich als Letztes diesen Satz –:
ner Bedeutung gemeint. Machen Sie sich bitte die Mühe Jahrzehntelang hat sich der Gesetzgeber an Grund- (D)
(B)
und schauen Sie in die Begründung des Entwurfs – probleme der Justiz kaum herangetraut; und wenn er
Seite 114 –: Auch bei eklatanten Rechtsfehlern kann das es getan hat, kam erbärmliches Flickwerk heraus ...
Ergebnis zur Wahrung von Einzelfallgerechtigkeit korri- Die Prozessordnungen aus dem vorigen Jahrhundert
giert werden. Ist das etwa massive Beschneidung von wurden vom Gesetzgeber nicht verbessert, sondern
Rechtsschutz? Nein, das ist eine Änderung in der Philo- verschlimmbessert.
sophie: weg von quantitativ orientierten Rechtsmitteln
hin zu qualitativ orientierter Rechtsfehlerkontrolle. Mit dieser Politik machen wir jetzt Schluss. Wir verbes-
sern die ZPO.
Und um keine Missverständnisse aufkommen zu las-
sen: Die Philosophie des Entwurfes besteht nicht darin, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ein möglichst optimales Rechtsmittelsystem zu erfinden, und bei der SPD – Dr. Wolfgang Freiherr von
in dem jegliche Fehlentscheidung ausgeschlossen ist. Ge- Stetten [CDU/CSU]: Der Beifall kam sehr zö-
richtsurteile werden immer noch von Menschen gefällt, gernd!)
die sich irren können. Hauptziel des Entwurfes ist, dass
die Menschen möglichst keinen Grund mehr haben sollen, Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich erteile das Wort
sich über die Urteile zu beschweren. Wir wollen, dass sie dem Kollegen Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion.
gegebenenfalls ein Urteil akzeptieren, zum Beispiel weil
das Gericht ihnen seine Entscheidung hinreichend ver-
Rainer Funke (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen
ständlich gemacht hat.
und Herren! Kurz vor der Sommerpause wird das Parla-
Die Bürgernähe dieser Reform drückt sich auch in der ment noch einmal mit justizpolitischen Initiativen über-
personellen und qualitativ gestärkten Eingangsinstanz häuft. Der Freitag ist offensichtlich der Justizpolitik
aus. In diesem Punkt – das wird Ihnen wenig gefallen – gewidmet. Es handelt sich um Vorhaben, die schon vor an-
war es bei der Auswertung der verschiedenen Stellung- derthalb Jahren von der Bundesjustizministerin angekün-
nahmen besonders erfreulich, dass es von allen Seiten der digt worden sind und jetzt im Rahmen einer Fraktions-
Rechtspflege große Zustimmung gegeben hat. Wir haben initiative eingebracht werden. Die Ministerin hat ihren ei-
die Hinweis- und Aufklärungspflichten in einer zentralen genen Entwurf noch nicht fertig stellen können, dem-
Vorschrift gebündelt und verschärft. Wir wollen damit er- gemäß gab es noch keine Kabinettsbefassung, demgemäß
reichen, dass der Weg zur Entscheidungsfindung für die noch keine Beratung im Bundesrat, was aber zweckmäßig
Rechtsuchenden überschaubar ist. Wer nicht vom Urteil gewesen wäre; denn insbesondere die Länder sind von
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10983
Rainer Funke

(A) Fragen der Justiz stark betroffen und müssen sich damit des Rechtsstreits auf Einzelrichter hat sich, wo es sinnvoll (C)
auseinander setzen. ist, ebenfalls bewährt, sodass kein Grund für Änderungs-
bedarf ersichtlich ist.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU –
Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist viel zu praktisch, Die deutsche Justiz arbeitet – das haben die Kollegen
was Sie vortragen!) Geis und auch andere gesagt – durchaus effektiv und effi-
Zu Recht sagen die Verfasser des Gesetzentwurfs zur zient. Die Dauer der Verfahren beträgt durchschnittlich
Reform des Zivilprozesses, dass sich eine Strukturreform 4,6 Monate vor den Amtsgerichten. 94 Prozent aller Ver-
daran messen lassen muss, ob die vorgesehenen Ände- fahren werden vor dem Amtsgericht abgeschlossen. Der
rungen dazu führen, dass die Justiz bürgernäher, effizien- Ruf nach Justizreformen mag gut klingen; er entspricht ei-
ter und transparenter wird. In der Tat ist eine Reform des nem dumpfen Gefühl in der Bevölkerung. Man sollte je-
Zivilprozesses nur dann sinnvoll, wenn sie den Rechts- doch erst einmal Tatsachenaufklärung vornehmen, ehe
schutz des Bürgers nicht beschneidet, sondern effektiver man an wohlklingende Reformvorhaben geht.
macht. (Joachim Stünker [SPD]: Wo ist denn Herr
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten Schmidt-Jortzig, Herr Kollege?)
der CDU/CSU) Fiskalgesichtspunkte – das war immer das Hauptanlie-
Diesen Anforderungen wird dieser Gesetzentwurf nicht gen der Länder – dürfen nicht im Vordergrund stehen,
gerecht. sondern ausschließlich der Rechtsschutz des Bürgers. Die
innere Sicherheit und die Justiz sind nämlich Kernberei-
(Dirk Manzewski [SPD]: Darüber unterhalten
che des Staates. Eine gute Justiz darf dann auch etwas kos-
wir uns in zehn Jahren, Herr Kollege Funke!)
ten.
Der Zivilprozess wird durch die vorgesehene Neuordnung
schlechter und leider auch noch teurer. Der Rechtsschutz (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
des Bürgers wird beschnitten. Den Gesetzentwurf, der jetzt vorgelegt worden ist,
(Joachim Stünker [SPD]: Stimmt doch nicht!) lehnt die Bundestagsfraktion der F.D.P. ab. An Verbesse-
rungen unserer Zivilprozessordnung werden wir mitwir-
Die Bundesjustizministerin hatte nach der Vorlage des ken, nicht jedoch am Abbau des Rechtsschutzes des Bür-
ersten Referentenentwurfs und der sich anschließenden gers. Diese Justizreform ist jedenfalls so überflüssig wie
beißenden Kritik der betroffenen Berufsverbände, also ein Kropf.
der Richter, des Anwaltvereins und der Anwaltskammer,
zugesagt, Nachbesserungen vorzunehmen. Ich will nicht Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(B) verkennen, dass zumindest in einzelnen Punkten vorhan- (D)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
dene Giftzähne abgeschliffen worden sind. Dennoch ver-
bleiben die bürgerunfreundlichen und den Rechtsschutz
einschränkende Maßnahmen. Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die Fraktion der
PDS spricht nun die Kollegin Frau Dr. Evelyn Kenzler.
Der Gesetzentwurf sieht bei Berufungen weiter die al-
leinige Zuständigkeit der Oberlandesgerichte vor, was in
den Flächenstaaten zu erheblichen zeitlichen und finanzi- Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Herr Präsident! Liebe
ellen Belastungen der Parteien, Zeugen und Sachverstän- Kolleginnen und Kollegen! Welche Überraschung! Nun
digen führen wird. Die ausschließliche Zuleitung von Be- kam der dicke Gesetzentwurf zur großen Reform des Zi-
rufungen an die Oberlandesgerichte wird gerade in den vilprozesses doch schneller als gedacht. Von einem
Flächenstaaten zu einer Ausdünnung der Landgerichte Durchbruch bei der Justizreform ist gar die Rede.
führen, die mehr und mehr unter Schließungszwang gera-
Ich erspare mir an dieser Stelle jede weitere Polemik
ten. Ich fürchte, dass Sie das auch so wollen. Sie wollen
hinsichtlich des Zustandekommens dieses Entwurfs.
nämlich die Dreistufigkeit der Instanzen haben. Das hat
die Ministerin ja schon mehrfach angekündigt. Die F.D.P.- Auch möchte ich meiner Verwunderung nicht deutlicher
Fraktion lehnt dies eindeutig ab. Ausdruck verleihen, wie mancher Gegner der Reform-
vorstellungen der Bundesjustizministerin innerhalb kür-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten zester Zeit einen Einschätzungswandel von „stark re-
der CDU/CSU) formbedürftig“ zu „Bestzustand der Justiz im europä-
Nach wie vor beabsichtigt die Bundesjustizministerin ischen Maßstab“ vollzogen hat, ohne dass sich das
in der Berufungsinstanz die Abschaffung der Kollegial- adäquat in tatsächlichen Änderungen niedergeschlagen
gerichte, auch wenn jetzt für einzelne Verfahren – damit hat.
schränke ich meine Aussage ein – die Beibehaltung der Doch eines ist ganz deutlich geworden: Die Justiz hat
Kollegialgerichte vorgesehen wird. etwas mit Interessen zu tun, aber offenbar nur wenig mit
(Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin: den Interessen der Bürgerinnen und Bürger, die in der bis-
Auch falsch!) herigen Diskussion als beinah beliebig einsetzbares Argu-
ment für ein Pro oder Kontra zu den einzelnen Regelun-
– Vielen Dank für Ihre belehrenden Ausführungen, Frau
gen der Justizreform vorkommen.
Ministerin. – Die Kollegialgerichte bei den Berufungsge-
richten haben sich durchaus bewährt und die Übertragung (Beifall bei der PDS)
10984 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Dr. Evelyn Kenzler

(A) Wenn der Berliner Rechtssoziologie Rottleuthner auf plizierten Rechtsgebieten weiterhin die Kammern tätig (C)
einem Forum die Ansicht äußerte, dass es in der Justizge- werden. Wenn künftig das Gericht per Geschäftsvertei-
schichte wirklich noch in keinem Land eine Justizreform lungsplan selbst bestimmt, wo statt eines Einzelrichters
gab, die auf irgendwelche Bedürfnisse und Artikulationen eine Kammer entscheiden soll, dann wäre dies nicht zu-
der Bürger hin unternommen wurde, dann muss man – der letzt eine Stärkung der Selbstverwaltung der Gerichte.
Wissenschaft Anerkennung zollend – auch einen viel-
(Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD])
leicht erstmalig andersartigen Gesetzentwurf einer kriti-
schen Betrachtung unterziehen. – Danke schön, Herr Stünker. – Der Verzicht auf die um-
strittene Annahmeberufung ist sicher ebenfalls nicht zum
Zunächst möchte ich aber ausdrücklich die längst über-
Schaden des Rechtsstaates.
fällige Justizreform unterstützen. Ich darf daran erinnern,
dass die deutsche Justiz in ihrer fast 130-jährigen Ge- Der sensibelste Punkt der Reform ist bekanntlich das
schichte in den Grundstrukturen unverändert geblieben Rechtsmittelsystem. Hier sollten wir uns parteiübergrei-
ist. Wer da pauschal äußert, Bewährtes gelte es zu bewah- fend einig sein, dass der Rechtsschutz der Bürger nicht da-
ren, der meint wohl ehrlicherweise, Besitzstände gelte es durch beschnitten werden darf, dass ihnen Überprü-
zu verteidigen. Wer der Ministerin vorwirft, sie wolle sich fungsmöglichkeiten in der zweiten Instanz genommen
mit dieser Reform ein Denkmal setzen, dem kann ich nur werden.
sagen: Soll man ihr doch ein Denkmal setzen,
(Beifall bei der PDS)
(Beifall bei der PDS und der SPD sowie bei Ab-
Insofern ist es richtig, dass der Entwurf davon abrückt, die
geordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
zweite Instanz auf eine reine Überprüfung von Rechts-
NEN – Alfred Hartenbach [SPD]: Das haben
fehlern zu beschränken. Die jetzt vorgesehene leichte Öff-
Sie aber schön gesagt!)
nung, wonach nur in bestimmten Ausnahmefällen neue
wenn ihr eine wirklich große Reform gelingt und der Zi- Tatsachen vorgetragen werden können, dürfte jedoch
vilprozess tatsächlich bürgernäher, effizienter und durch- nicht ausreichend sein. Diese Regelung könnte sich in der
schaubarer wird wie versprochen. Praxis als eine erhebliche Beschränkung der Rechtsmittel
erweisen, von der die Gerichte extensiv Gebrauch machen
Doch keine Angst: Zu einem Denkmal wird es nicht
könnten. Die Verwerfungsmöglichkeit vermeintlich aus-
kommen.
sichtsloser Klagen in der zweiten Instanz – ohne mündli-
(Dirk Manzewski [SPD]: Schade!) che Verhandlung – hat mit Bürgerfreundlichkeit aller-
dings nach meiner Auffassung eindeutig nichts zu tun.
Dafür sorgt nicht nur die Opposition in diesem Hause,
sondern auch die vielen Juristen und ihre Verbände in un- (V o r s i t z : Vizepräsidentin Petra Bläss)
(B) serem Lande, die schon lange nicht mehr so viel einigen- (D)
Dagegen sehe ich in der Erhöhung der Chancen des Zu-
den Widerstand gegen einen Justizminister – hier eine
gangs zum Berufungsverfahren durch die Senkung des
Justizministerin – gezeigt haben.
Wertes des Beschwerdegegenstandes auf 1 200 DM schon
(Alfred Hartenbach [SPD]: Sie sind einfach zu jetzt eine Verbesserung des Rechtsmittelsystems. Auch
jung, Frau Kenzler, um zu wissen, dass die im- dass die Zulässigkeit von Revisionen nicht mehr vom
mer Widerstand leisten!) Streitwert, sondern von der Bedeutung eines Falles ab-
hängen soll, ist ein Fortschritt.
Unter dem Strich der heftig geführten Auseinanderset-
zung steht jetzt ein Gesetzentwurf, der auf Kritiken ein- Ob diese Reform allerdings zum Nulltarif zu haben ist,
geht und der auch Nachbesserungen enthält. wie es im Gesetzentwurf angenommen wird, ist mehr als
fraglich. Die Justizreform wird weiterer Stellen und vor
Unterstützenswert ist das grundsätzliche Vorhaben, die
allem neu ausgebildeter Juristen bedürfen. Eine Reform
erste Instanz so zu stärken, dass dort die Rechtsstreitig-
der Juristenausbildung, die die Intentionen dieser Justiz-
keiten in der Regel erledigt werden. Für folgerichtig halte
reform berücksichtigt, sollte deshalb nicht lange auf sich
ich in diesem Zusammenhang auch den Vorschlag, die
warten lassen.
erste Instanz mit sozial kompetenten Richtern zu beset-
zen, die ausreichend Zeit haben, um gründlich zu arbei- (Beifall bei der PDS)
ten, das Gespräch mit den Parteien zu führen, Ver-
Anderernfalls steht der Erfolg dieser Reform infrage, die
gleichsvorschläge zu machen und verständliche Urteile zu
nicht ohne und schon gar nicht gegen die Akteure und ins-
fällen.
besondere die künftige Juristengeneration realisiert wer-
Meine Zustimmung haben auch die geplanten Güte- den kann.
verhandlungen und die Möglichkeit der gütlichen Beile-
Die rechtsuchenden Bürger haben einen Anspruch auf
gung des Rechtsstreits in jeder Lage des Verfahrens durch
eine in jeder Beziehung bürgerfreundliche Justiz. Doch
einen gerichtlichen Vergleich; denn eine einvernehmli-
die Bürger sollten sich der Justiz, soweit möglich, wirk-
che Konfliktregulierung bietet erfahrungsgemäß die beste
lich nur als letzter Instanz bedienen. Bekanntlich verhält
Möglichkeit, dauerhaft und kostengünstig Rechtsfrieden
sich die Wirtschaft, weil sie es sich leisten kann und muss,
herzustellen.
schon seit geraumer Zeit so. Was ich sagen will: Im Inte-
Für richtig erachte ich die Nachbesserung, dass Beru- resse der Bürger und auch zur Entlastung der Justiz muss
fungen nicht zwingend an Einzelrichter übertragen wer- mehr zur präventiven Konfliktvermeidung getan wer-
den und auch in der ersten Instanz auf bestimmten kom- den. Qualifizierte und spezialisierte Rechtsaufklärung,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10985
Dr. Evelyn Kenzler

(A) die für die Bürgerinnen und Bürger unkompliziert und Justizreform ist kein Anliegen, das nur in eingeweih- (C)
kostengünstig zu erlangen ist, und außergerichtliche ten Fachkreisen unter weitgehendem Ausschluss der Öf-
Schlichtung müssen unbedingt auch weiterhin gefördert fentlichkeit debattiert werden kann. Nicht nur Richter,
werden. Anwälte und die engere Fachöffentlichkeit haben einen
Anspruch darauf, sich an dieser Diskussion zu beteiligen,
Ich halte es auch nicht für sinnvoll – und da stimme ich Kritik zu üben und Verbesserungsvorschläge zu unter-
ausnahmsweise mit meinem Kollegen Herrn Geis breiten.
(Alfred Hartenbach [SPD]: Oh, das hört er Diese Diskussion, die seit der Vorstellung des Referen-
aber gerne! – Joachim Stünker [SPD]: Oh, Sie tenentwurfs durch das Justizministerium geführt worden
enttäuschen mich!) ist, hat zu vielen bedenkenswerten Verbesserungsvor-
und auch mit Herrn Funke, wobei es da nicht ganz so aus- schlägen geführt. Sie hat ihren Niederschlag in dem jetzt
nahmsweise ist, überein –, dass nach dem jetzt vorliegen- vorliegenden Koalitionsentwurf gefunden. Das ist hier
den Koalitionsentwurf weiterhin an einem Regierungs- schon erwähnt worden.
entwurf zur Justizreform gebastelt wird, der dann mit wei- Nicht diejenigen, die in oft überzogener Fundamental-
teren Verbesserungen nachgeschoben wird. Entweder ist kritik alle Reformvorschläge abgelehnt haben und gera-
man mit einem Gesetzentwurf fertig oder man muss seine dezu paradiesische Zustände einer längst reformbedürfti-
Arbeit erst beenden. Für Testläufe im Parlament fehlt ein- gen Ziviljustiz an die Wand gemalt haben, haben sich
fach die Zeit. Gehör verschafft, sondern diejenigen, die mit fachlich
Apropos Testlauf: Die Simulation des Verfahrens in fundierten und ausgefeilten Vorschlägen zur Fortschrei-
Nordrhein-Westfalen war den offiziellen Mitteilungen zu- bung des Referentenentwurfs beigetragen haben.
folge nicht problemlos. Vielleicht kann die Frau Justiz- (Beifall bei der SPD)
ministerin dazu nachher auch noch etwas sagen.
Wenn man wie ich über mehrere Legislaturperioden
Warum also, liebe Kollegen von der SPD und dem hinweg immer wieder erleben musste, dass durch regel-
Bündnis 90/Die Grünen, haben Sie sich nicht die Zeit ge- mäßig wiederkehrende Rechtspflegevereinfachungs-
nommen, diese Erfahrungen ausreichend zu berücksichti- gesetze – der Kollege Stünker hat schon darauf hingewie-
gen? Nun steht zu befürchten, dass in der Praxis unnöti- sen – ohne viel Federlesen an der Streitwertschraube ge-
gerweise unerwünschte Effekte auftreten, die dann wieder dreht wurde, um die gewünschten Entlastungseffekte zu
nachgebessert werden müssen – vielleicht kommen wir in erzielen, ist man von manchen Tönen in der jetzt geführ-
der Anhörung darauf zu sprechen –, und das kann nicht im ten Diskussion schon etwas überrascht.
(B) Interesse der Bürgerinnen und Bürger liegen. In der letzten Legislaturperiode – darauf ist hingewie- (D)
Danke. sen worden – wären um Haaresbreite der originär zustän-
dige Einzelrichter bis zu einem Streitwert von 30 000 DM,
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der allein entscheidende Einzelrichter in Berufungs- und
der SPD und des Abg. Hans-Christian Ströbele Beschwerdeverfahren beim Landgericht, die Erhöhung
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) der Berufungssumme auf 2 000 DM und die Möglichkeit,
Berufungen bis zu einem Streitwert von 60 000 DM durch
Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner ist einstimmigen Beschluss abzulehnen, fester Bestandteil
der Kollege Hermann Bachmaier für die SPD-Fraktion. der Zivilprozessordnung geworden.
(Alfred Hartenbach [SPD]: Genau so ist es!)
Hermann Bachmaier (SPD): Frau Präsidentin! Wo waren da eigentlich diejenigen, die heute so lautstark
Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich mich bei Kritik an diesen Entwürfen üben?
der Bundesjustizministerin dafür bedanken, dass sie ein
so bedeutendes Gesetzgebungsverfahren wie die Zivil- Durch die Strategie der früheren Rechtspflegevereinfa-
prozessreform entschlossen angepackt und in einem offe- chungsgesetze waren wir auf dem nicht ungefährlichen
nen und transparenten Verfahren auf den Weg gebracht Weg, eine Art Zweiklassenjustiz zu schaffen,
hat. (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten NIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) CSU]: Wir haben eine hervorragende Justiz!)

Wann, meine Damen und Herren, wurde jemals über bei der die oft so wichtigen Streitfälle des täglichen Le-
Probleme der Justiz, über Rechtsmittel und gerechte Ver- bens kaum noch die Chance gehabt hätten, durch eine
fahren in der Fachöffentlichkeit und weit darüber hinaus weitere Instanz geprüft zu werden, während den Verfah-
schon zu Beginn eines Gesetzgebungsverfahrens so breit ren mit den höheren Streitwerten nach wie vor sämtliche
und bisweilen auch heftig diskutiert wie bei der anstehen- Instanzen unseres durchgegliederten Justizsystems zur
den Zivilprozessreform, die der erste Schritt einer grund- Verfügung gestanden hätten.
legenden Modernisierung der ordentlichen Gerichtsbar-
keit ist? Dies ist gut so und kann der Qualität eines so be- Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege, gestat-
deutenden Vorhabens nur dienlich sein. ten Sie eine Zwischenfrage?
10986 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

(A) Hermann Bachmaier (SPD): Ja, gerne. Der vorliegende Entwurf macht Schluss mit dem stän- (C)
digen Drehen an der Streitwertschraube. Dieser Gesetz-
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): entwurf fördert durch neu gewichtete Instrumentarien des
Herr Kollege Bachmaier, wir sind ja fast im selben Jus- Zivilprozessrechtes das erstrebenswerte Ziel, möglichst
tizsprengel. Sie haben sich bei diesem verhinderten Ge- in der ersten Instanz zu einem vernünftigen und gerechten
setz besonders dafür eingesetzt, dass die Amtsgerichte die Ergebnis zu kommen.
Handelsregisterhoheit behalten. Sie haben die Amtsge- Diesem Ziel dienen umfassende Aufklärungspflich-
richte offenbar lieb gewonnen. ten und ein sich daraus ergebendes höchst transparentes
Verfahren, das den Prozessbeteiligten in weit größerem
Hermann Bachmaier (SPD): Ja! Umfange als heute die Möglichkeit bietet, Fehleinschät-
zungen schon innerhalb der ersten Instanz zu korrigieren
und damit zu einer umfassenden Prüfung des Streitgegen-
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU):
standes beizutragen. Das Ergebnis werden zahlreichere
Würden Sie mir zustimmen, dass bei dem jetzigen Ge-
gütliche Streitbeilegungen sein, deren Gerechtigkeitsge-
setzentwurf im Grunde genommen die Dreistufigkeit vor-
halt von beiden Seiten akzeptiert werden wird.
geplant ist und dass man dann – auch das ist eine Frage
der Bürgernähe – bei der Berufung statt, wie bisher, zum Ich kann nicht verstehen, dass von richterlicher Seite
Beispiel von Ihrem Amtsgericht Crailsheim 20 Kilometer mit dem Hinweis, dass dies in aller Regel schon heute ge-
bis zum Landgericht Ellwangen in Zukunft 120 oder schehe und deshalb nicht noch gesetzlich festgeschrieben
130 Kilometer bis zum Oberlandesgericht Stuttgart fahren werden müsse, wieder Klage über die erweiterten Aufklä-
muss? Wie wollen Sie das Ihrer Klientel und der Bevöl- rungspflichten gemäß § 139 des Entwurfes geführt wird.
kerung Ihres Kreises klarmachen? Wenn das so ist, dann können auf diejenigen Richterinnen
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das bringt er und Richter, die sich schon heute so vorbildlich verhalten,
fertig!) keine zusätzlichen Belastungen, zukommen.
Mit dem Entwurf in seiner jetzigen Fassung werden
Hermann Bachmaier (SPD): Herr Kollege aber auch im Rahmen der zweiten Instanz, die meines Er-
Dr. von Stetten, ich bin dankbar für diese Frage, zumal der achtens aus gutem Grunde beim Oberlandesgericht kon-
uns beiden wohl bekannte Chef des Amtsgerichtes Crails- zentriert wird, vernünftige Überprüfungs- und Kor-
heim diesem Reformvorhaben heute in der Lokalpresse rekturmöglichkeiten geschaffen.
großes Lob gezollt hat.
Die nach Vorlage des Referentenentwurfes geführte
(B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D)
Diskussion hat mit dazu beigetragen, neben einer umfas-
DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: senden Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils auf
Das sind alte Seilschaften! – Dr. Wolfgang Rechtsfehler umstrittene und zweifelhafte Tatsachenfest-
Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Er hat sicher stellungen der ersten Instanz auf den Prüfstand der Beru-
den Gesetzentwurf nicht gehabt!) fungsinstanz zu nehmen; Herr Geis hat dankenswerter-
Dieser Amtsgerichtsdirektor steht nicht in der Gefahr, als weise darauf hingewiesen. Damit ist eine umfassende
Sozialdemokrat verdächtigt zu werden. Das ist der erste Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils auf jedwede
Punkt. Mängel hin gewährleistet.
Der zweite Punkt. Sie wissen genau wie ich, dass man (Norbert Geis [CDU/CSU]: Nein!)
in Familienstreitsachen, zum Beispiel im Unterhaltsstreit, Mit diesem Entwurf blieb man aber aus gutem Grunde
auch zwischen Parteien, die nicht unbedingt zu den begü- dabei, den Weg in die zweite Instanz, Herr Geis, nur dann
tertsten gehören, seit über 20 Jahren ganz selbstverständ-
zu eröffnen, wenn tatsächlich Korrekturbedarf an der erst-
lich zum Oberlandesgericht Stuttgart fährt.
instanzlichen Entscheidung besteht.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
CSU]: Das ist doch keine Begründung!) (Norbert Geis [CDU/CSU]: Eben!)

Ich meine, das ist der Qualität der Rechtsprechung vor Ort Diesem Ziel dient der vorgeschaltete Filter durch den Be-
nicht schlecht bekommen. rufungssenat. Er erhält die Befugnis, nach vorherigem be-
gründeten Hinweis und der Möglichkeit der Parteien,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – dazu Stellung zu nehmen, das Berufungsrechtsmittel ein-
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: stimmig dann zu verwerfen, wenn es keinerlei Erfolgs-
Ich könnte vieles dazu sagen, aber ich lasse es!) chancen gibt.
Für gute Zwischenfragen ist man immer dankbar. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist aber sehr
Der Streitwert alleine aber ist kein hinreichendes Kri- umständlich!)
terium, um die Bedeutung eines Zivilverfahrens zu be- – Transparenz haben Sie noch nie gemocht; das zeigen
werten und zu ermessen. Beträge, die die einen aus der auch Ihre Zurufe.
Portokasse entrichten können, sind für andere von exis-
tenzieller Bedeutung und müssen auch von den Gerichten (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist gar nicht
entsprechend behandelt werden. wahr!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10987
Hermann Bachmaier

(A) Auch die Abschaffung der Streitwertrevision ist über- wälte, Richterinnen und Richter an, sondern alle Bürger in (C)
fällig. Denn wir wollen Ernst machen mit der Forderung, unserem Lande. Ungefähr 4 Millionen Bürgerinnen und
für alle Verfahren, die über einen Bagatellstreitwert Bürger führen jedes Jahr einen Zivilprozess. So viele
hinausgehen, gleiche prozessuale Instrumentarien zur Menschen sind also von Ihrem Projekt betroffen. Es ist
Verfügung zu stellen. Damit beseitigen wir die bisheri- natürlich ein Vorteil für Sie, dass viele noch gar nicht da-
ge willkürliche Grenze des Revisionsstreitwertes von ran denken, vielleicht in einigen Monaten einen solchen
60 000 DM. Prozess führen zu müssen. Trotzdem ist es eine wichtige
Ich halte es für eine sinnvolle und gute Aufgabenzu- Frage, ob Bürgerrechtlichkeit in unserem Land durch Ihr
weisung, einerseits eine Kammerbefassung beim Land- Projekt gefördert oder behindert wird.
gericht dann vorzusehen, wenn einzelne Kammern mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Schwerpunktaufgaben betraut sind, und andererseits im neten der F.D.P.)
Übrigen den originären Einzelrichter mit dem erst-
Ein faires, effektives Verfahren, das die Akzeptanz der
instanzlichen Verfahren zu betrauen. Der neu zu fassende
Bürger findet und für Rechtsfrieden sorgt, beruht immer
§ 348 der ZPO legt es weitgehend in die Hand der einzel-
auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Deshalb müs-
nen Landgerichte, in welchem Umfange Kammern und in
sen wir darüber reden, ob die Rechtsstaatlichkeit geför-
welchem Umfange originäre Einzelrichter für das erst- dert wird.
instanzliche Verfahren bei den Landgerichten zuständig
sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der F.D.P.)
Ich möchte die hohe Kompetenz der Zivilkammern
nicht infrage stellen. Es sollte aber nicht verkannt werden, Nach Ihren Plänen, den Plänen der rot-grünen Bundes-
dass Einzelrichterinnen und Einzelrichter den Prozess- regierung, wird die rechtsstaatliche Qualität des Zivilpro-
stoff auch bei hohen Streitwerten häufig im Dialog mit zesses ausgehöhlt;
den Prozessbeteiligten einer gerechten und von den Par- (Joachim Stünker [SPD]: Das ist doch absoluter
teien akzeptierten Lösung zuführen. Die uns vorliegenden Unsinn! Das hätte ich von Ihnen nicht er-
Zahlen und vielfältige eigene Erfahrungen als Anwalt bei wartet!)
der Betreuung von Zivilprozessen untermauern diese
Feststellung. denn Sie verringern den gerichtlichen Rechtsschutz des
einzelnen Bürgers in massiver Weise und belasten den Zi-
Meine Damen und Herren, ich bin nach wie vor prak- vilprozess mit praxisferner Formalisierung und Bürokra-
tizierender Anwalt und vertrete nicht selten Parteien, de- tisierung. Das ist das einhellige Urteil der Bundesrechts-
(B) (D)
ren Geldbeutel nicht gerade prall gefüllt ist. Auch deshalb anwaltskammer, des Deutschen Anwaltvereins, des Rich-
bin ich überzeugt davon, dass der jetzt vorliegende Ent- terbundes und der Wirtschaftsverbände:
wurf mit den darin gefundenen Lösungen wieder zu mehr
(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Stünker
Verfahrensgerechtigkeit führt. [SPD]: Stimmt doch gar nicht!)
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Oje! Da stehen Sie Dies ist ein rechtsstaatsfeindliches Projekt.
aber ziemlich allein!)
(Hermann Bachmaier [SPD]: Sie müssen ein-
Denn wir werden damit zügiger zu gerechten Lösungen mal in unseren Entwurf hineinschauen!)
kommen und wir räumen den Rechtsuchenden wieder die
gleichen prozessualen Möglichkeiten ein, die sie unab- Ihr Referentenentwurf wurde seitens der Gesellschaft
hängig von der Höhe des Streitwertes für ihre Verfahren einhellig kritisiert. Wir waren doch dabei. Und es ist nicht
beanspruchen können. Das ist eines der entscheidenden sinnvoll, etwas zu bestreiten, was jeder weiß. Mit dem
Ziele dieses Entwurfes. Damit wird endlich Ernst ge- Versuch, so zu tun, als hätten Sie diese Kritik in Ihren
macht. Wie gesagt, wir wollen keine Zweiklassenjustiz, Gesetzentwurf einfließen lassen, betreiben Sie gezielt ein
einerseits für die Verfahren de luxe und andererseits für Täuschungsmanöver. Sie haben sich getreu Ihrem allge-
die Verfahren des täglichen Lebens. meinen Regierungsmotto verhalten: Sie haben in diesem
Gesetzentwurf einiges anders, aber nichts besser gemacht.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. Denn Sie sind nur scheinbar auf die Kritik eingegangen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜND- Ich will meine gerade vorgetragene Einschätzung an
NIS 90/DIE GRÜNEN) einigen Punkten konkret festmachen.
(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/DIE
Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner in GRÜNEN]: Da bin ich aber sehr gespannt!)
der Debatte ist der Kollege Norbert Röttgen, CDU/CSU-
Die Axt wird insbesondere beim Berufungsverfahren
Fraktion.
angelegt. Darum einige Bemerkungen zur Bedeutung die-
ses Verfahrens: Das Berufungsverfahren ist für die Qua-
Norbert Röttgen (CDU/CSU): Frau Präsidentin! litätssicherung schon in der ersten Instanz wichtig. Das
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die rechtsstaat- Wissen des erstinstanzlichen Richters und des Gerichts,
liche Ausgestaltung des Zivilprozesses geht nicht nur An- dass es eine effektive Berufung gibt, ist wichtig für die
10988 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Norbert Röttgen

(A) Qualität des erstinstanzlichen Urteils. Dies hat eine chen kennen wir uns ja –: Sie legen die Axt an die rechts- (C)
präventive Wirkung; das ist völlig unbestritten. staatliche Qualität des Zivilprozesses.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU)
neten der F.D.P. – Volker Beck [Köln] [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bestreitet auch Ein zweites Beispiel: Sie haben zwar das Annahme-
niemand!) verfahren im Zusammenhang mit Berufungsverfahren be-
seitigt, aber die Möglichkeit geschaffen, dass über die Be-
Das Wichtigste an der Berufung aber ist – ich bin als rufung nicht in der Sache, sondern folgendermaßen ent-
Rechtsanwalt beim Oberlandesgericht zugelassen und schieden wird: Der erstinstanzlich Unterlegene legt
höre, was diejenigen, die eine jahrzehntelange Beru- Berufung ein und das Berufungsgericht kann, ohne dass
fungserfahrung haben, sagen –, dass die unterlegene Par-
eine mündliche Verhandlung vorgeschrieben wäre, auf-
tei noch einmal vortragen kann und gehört werden kann.
grund einer Prognose unanfechtbar dem Bürger kurz
Natürlich will sie Recht bekommen. Das Wichtigste
aber im Sinne des Rechtsfriedens – und nur einer kann schriftlich mitteilen, dass über seine Sache nicht mehr ge-
Recht bekommen – ist, dass sie den Sachverhalt noch ein- redet werde. Das ist Schreibtischjustiz!
mal vortragen kann, weil der erstinstanzliche Richter sie (Hermann Bachmaier [SPD]: Jetzt schlägt‘s
möglicherweise nicht verstanden hat. dreizehn! Das ist ja der Hammer!)
(Hermann Bachmaier [SPD]: Das kann er nach Das ist rot-grüne Transparenz, wenn der Bürger nicht ein-
dem Entwurf!) mal die Möglichkeit hat, sein Anliegen noch einmal vor-
Genau da aber setzen Sie an. Diese Möglichkeit beseiti- zutragen! Vom Schreibtisch wird ihm kurz schriftlich be-
gen Sie, obwohl sie in der Praxis Erfolge aufweist. schieden: Über deine Sache reden wir nicht mehr. So sieht
rot-grüne Bürgerfreundlichkeit aus.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der F.D.P.)
Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Röttgen,
Natürlich leben wir nicht im Paradies, es gibt Verbes-
serungsbedarf. Im europäischen Vergleich aber haben wir gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Spitzenwerte zu verzeichnen. Von 1,6 Millionen Amts- (Alfred Hartenbach [SPD]: Das könnte böse
gerichtsprozessen pro Jahr werden 94 Prozent rechtskräf- für Sie werden, Herr Röttgen!)
tig abgeschlossen, und zwar in einer durchschnittlichen
Bearbeitungszeit von viereinhalb Monaten. Dies werden
(B) Sie beeinträchtigen; Sie werden den Prozess verlangsa- Norbert Röttgen (CDU/CSU): Ja, gerne. (D)
men. Das wird das Ergebnis sein.
Warum wird es dazu kommen? Wir müssen uns fragen, Joachim Stünker (SPD): Herr Kollege Röttgen, so
was die Konzentration aller Berufungen beim Oberlan- temperamentvoll und auch so polemisch wie heute habe
desgericht für die Bürger bedeutet; denn ich glaube, dass ich Sie noch gar nicht erlebt.
wir dieses Projekt aus der Perspektive des Bürgers beur-
teilen müssen. Ich sage Ihnen, was das heißt, was rot- Norbert Röttgen (CDU/CSU): Sehr sachlich!
grüne Bürgernähe bedeutet.
Nehmen Sie den Fall eines Häuslebauers aus Buchen Joachim Stünker (SPD): Das ist ein völlig neuer Ein-
im Odenwald, der Ärger mit seinen Handwerkern hatte. druck.
Er musste nach gegenwärtiger Rechtslage für die Beru-
fung zum nahe gelegenen Landgericht Mosbach; das ist Stimmen Sie mir zu, dass Sie genau das 1998 hier im
nur einige Kilometer entfernt. Wenn es nach Rot-Grün Deutschen Bundestag beschlossen haben?
geht, muss dieser Häuslebauer in Zukunft über 100 Kilo-
meter zum Oberlandesgericht nach Karlsruhe fahren. Ist Norbert Röttgen (CDU/CSU): Nein. Ich komme
das Bürgernähe, meine Damen und Herren?
gleich dazu.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der F.D.P. – Norbert Geis [CDU/CSU]: Über-
Joachim Stünker (SPD): Doch. Im damaligen Ent-
haupt nicht! Bürgerferne ist das!)
wurf stand, dass bei Berufungen bis zum Streitwert bis zu
Sie entfernen die Justiz geradezu von dem Bürger. Das ist 60 000 DM die Berufung im Beschlusswege als offen-
rot-grüne Bürgernähe – Bürgerferne, versteckt unter ei- sichtlich unbegründet verworfen werden kann. 1998
nem anderen Etikett. Sie betreiben ein Täuschungs- wurde dieses Gesetz hier beschlossen. Es erlangte nur
manöver. deshalb keine Rechtskraft, weil die Geschichte mit den
Natürlich ist das Ganze auch – das füge ich in Paren- Handelsregistern hinzugekommen ist. Das war damals
these an – eine parteipolitische Auseinandersetzung, das einzige Hindernis. Jetzt brandmarken Sie das als rot-
meine Damen und Herren. Aber ich sage jetzt einmal in grüne Chaospolitik. Können Sie sich dazu einmal erklä-
ruhigem Ton – ich hoffe, Sie nehmen es mir ab; ein biss- ren?
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10989

(A) Norbert Röttgen (CDU/CSU): „Rot-grüne Chaos- – Sie müssen das einfach zur Kenntnis nehmen. Es ist so. (C)
politik“ ist ein interessanter Begriff. Ich habe ihn noch Die gesamte Fachwelt, die Richter, die Anwälte und die
nicht verwendet. Wissenschaftler sagen Ihnen das.
(Heiterkeit und Beifall des Abg. Dr. Wolfgang (Alfred Hartenbach [SPD]: Es ist wirklich
Freiherr von Stetten [CDU/CSU]) schwer, Sie ernst zu nehmen!)
Aber wenn Sie ihn selber verwenden, spricht aus dieser Alle sagen es Ihnen, nur, Sie nehmen es nicht zur Kennt-
Assoziation einiges, was Ihre wirkliche Einschätzung an- nis. Sie können sich natürlich als Betonfraktion aufführen,
belangt. aber Sie werden damit keinen Erfolg haben.
Ich stelle in den Diskussionen immer wieder fest, dass (Zuruf des Abg. Alfred Hartenbach [SPD])
Sie von Ihrem Gesetzentwurf ablenken. Sie verteidigen
diesen Referentenentwurf nicht, sondern sagen, dass es – Ich war noch vor kurzem mit Ihrem niedersächsischen
noch einen anderen Vorschlag gebe, den Sie auch nicht Justizminister, der das übrigens auch nicht verteidigt, da;
wollten. Wenn Sie hinter diesem Gesetzentwurf, der ja das wollte ich nur nebenbei sagen.
nicht von Ihnen stammt, aber aus taktischen Gründen von Die erste Instanz, die bislang erfolgreich ist, wird durch
Ihnen eingebracht wird, stehen und ihn für richtig halten – Formalisierungen, Hinweispflichten und Dokumentati-
ich verfolge Ihre Logik in der Argumentation weiter – und onspflichten aufgebläht. Das wird dazu führen, dass jetzt
dann sagen, wir hätten in der letzten Legislaturperiode das alles erstinstanzlich vorgetragen werden muss. Das führt
Gleiche vorgeschlagen, was ich bestreite – wir hatten ein zur Verlangsamung der Justiz, die bis jetzt gut funktio-
Gesamtkonzept vorgeschlagen –, niert. Die Richter sagen uns: Erhaltet uns unsere Flexibi-
(Lachen bei der SPD – Hermann Bachmaier lität. Es ist rot-grüne Effizienz, die Verfahren schwieriger,
[SPD]: Das war Stückwerk!) bürokratischer und langsamer werden zu lassen.
dann frage ich Sie: Warum haben Sie denn, wenn es das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Gleiche war, nicht zugestimmt? Dann hätten Sie in der
Von der Einschränkung der Prüfung des Tatsachenvor-
letzten Legislaturperiode doch zustimmen können.
trags in der Berufungsinstanz ist schon gesprochen wor-
(Joachim Stünker [SPD]: Das haben meine den. Sie wird dazu führen, dass in der Berufung nicht
Kollegen ja!) mehr über die Sache, sondern über Formalien gestritten
– Das haben sie nicht getan. Wir haben ein Gesamtkon- wird: Wurde erstinstanzlich richtig belehrt? Ist der Hin-
zept vorgelegt. weis dokumentiert worden? Es wird nur noch über die
Formalien und nicht mehr über die Sache gestritten, und
(B) Ich bestreite übrigens nicht den punktuellen Verbesse- das werden die Bürger nicht verstehen. In zweiter Instanz (D)
rungsbedarf in der Justiz. Sie versuchen, Geld zu sparen. wird der Zeuge nicht mehr gehört, sondern es wird da-
Aber Ihre Rechnung geht nicht auf. Die Justizminister rüber gestritten werden, ob er in der ersten Instanz richtig
werden Ihnen vorrechnen, dass Sie die Justiz teurer ma- angehört worden ist.
chen und auch noch den Rechtsschutz der Bürger verkür-
zen. Das verstehen die Bürger nicht. Sie fragen: Warum darf
ich hier nicht reden? Sie verbieten dem Bürger den Mund
Ich nenne ein drittes konkretes Beispiel dafür, dass Sie vor Gericht. Das ist das Kernanliegen Ihres Vorhabens,
den Rechtsschutz der Bürger beschneiden: Sie schaffen das ist Ihr Kerninstrument.
die Revision beim Bundesgerichtshof als Mittel des In-
dividualrechtsschutzes ab; Kollege Geis hat es schon ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
sagt. In Zukunft wird die Revision nicht mehr dazu da der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)
sein, die individuellen Rechte der Bürger zu schützen. Es
Er soll nichts mehr sagen. Das ist Rechtspolitik à la Rot-
kann sein, dass ein Bürger nach der Berufung – da kann
es um 100 000 DM, 1 Million DM oder 10 Millionen DM Grün.
gehen – Revision einlegt. Der BGH könnte die Auffas- Das ist eine Reform gegen die Anwältinnen und An-
sung vertreten, das Urteil des Oberlandesgerichtes sei wälte in unserem Land. Hundertausend Anwälte in unse-
falsch, der Revisionsführer sei zu Unrecht zu einer Leis- rem Land haben das so artikuliert. Es ist eine Reform ge-
tung von 10 Millionen DM verurteilt worden. Da dieser gen die Richterinnen und Richter. Es ist eine Reform ge-
Fall nach dem neuen Gesetz aber keine grundsätzliche gen die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Es ist
Bedeutung hat, hat der BGH keine Möglichkeit mehr, auf eine bürgerfeindliche Reform. Sie können sie verabschie-
diesen Fall zuzugreifen. Das ist eine wirklich eklatante den, sie wird aber keinen Bestand haben. Ein derartiges
Verletzung des Prinzips der materiellen Gerechtigkeit. Sie Projekt ist nicht bestandsfähig, und das wissen Sie auch.
schaffen die Revision als Mittel des Individualrechts- Sie reden anders, als Sie es wissen; dafür kenne ich Sie gut
schutzes ab. Das ist rot-grüne Bürgerfreundlichkeit, genug.
meine Damen und Herren!
Es ist doch interessant, dass sich jetzt diejenigen, die
(Beifall bei der CDU/CSU – Alfred Hartenbach sich sonst immer als Rechtsstaatsparteien gerieren,
[SPD]: Stimmt doch gar nicht! – Gegenruf des
Abg. Norbert Geis [CDU/CSU]: Natürlich! – (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Joachim Stünker [SPD]: Sie haben nichts gele- GRÜNEN]: Anders als der Herr Kanther zum
sen!) Beispiel!)
10990 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Norbert Röttgen

(A) nämlich die Grünen und die SPD, hier als Betonfraktio- und berechtigte Forderungen in den Wind schreiben zu (C)
nen aufführen. Sie wissen, was für Sie auf dem Spiel steht. müssen.
Das ist der Preis, den Sie für ein Prestigeobjekt der Bun-
desjustizministerin zahlen müssen. Bewerkstelligt wird dies durch die schon mehrfach an-
gesprochene Stärkung der ersten Instanz – die mir als
(Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin: ehemaligem Richter besonders am Herzen liegt – verbun-
Jetzt wissen wir es!) den mit der Möglichkeit, aussichtslose Berufungen
Wenn Sie als Betonfraktion sekundieren und sich Ihren ei- zukünftig wesentlich schneller als nach der bisherigen
genen Verstand und Ihre eigene Meinung verbieten las- Gesetzeslage zu erledigen.
sen, werden Sie dafür als Grüne und SPD einen hohen po- Diese Errungenschaft wird nicht nur – wie schon von
litischen Preis zahlen müssen. meinen Vorrednern mehrfach dargestellt wurde – ohne
(Alfred Hartenbach [SPD]: Blutzoll!) Rechtsbeschränkungen der Prozessparteien festgeschrie-
ben. Gegenteilige Äußerungen sind schlichtweg falsch.
Sie brauchen sich als Parteien des rechtsstaatlichen
Vielmehr wird damit zusätzlich ein transparenteres und
Schutzes der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr blicken
zu lassen. Das wird Ihnen keiner mehr abnehmen. Da- gerechteres Rechtsmittelsystem geschaffen. Es kommt zu
rüber werden wir die öffentliche Debatte führen. einer klaren Gliederung in Eingangsgerichte, nämlich
Amts- und Landgerichte, in die Berufungsinstanz Ober-
Die Vernunft sollte bei Ihnen wieder einkehren. Reden landesgericht und in die Revisionsinstanz BGH, so ähn-
wir über vernünftigen punktuellen Reformbedarf! Dieses lich, wie es heute schon in Familien- und Mietsachen der
Vorhaben aber, das sich gegen die Bürger, gegen den Fall ist.
Rechtsschutz der Bürger vor Gericht wendet, wird unsere
scharfe Ablehnung erfahren. Es findet auch die scharfe Kerngedanke der Reform ist – auch dies wurde schon
Ablehnung innerhalb der gesamten Gesellschaft und der mehrfach gesagt – die Stärkung der Eingangsgerichte
Gruppierungen, die sich mit dem Zivilprozess befassen. mit dem Ziel, in erster Instanz den dem Rechtsstreit zu-
grunde liegenden Sachverhalt möglichst umfassend und
Ändern Sie Ihre Haltung! Kehren Sie zur Vernunft
sorgfältig zu ermitteln und darüber rechtlich zu entschei-
zurück, dann wird es auch eine vernünftige Reform ge-
ben. den, sofern nicht bereits durch die vorgeschaltete Güte-
verhandlung einverständlich Rechtsfrieden geschaffen
Herzlichen Dank. werden konnte.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das heißt aber auch, dass dort die Richterzahl erhöht
(B) werden muss, um das Reformziel erreichen zu können. (D)
Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner für 700 oder 800 Fälle pro Jahr – über so viele Fälle hat ein
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist der Kollege Amtsrichter heute im Durchschnitt zu entscheiden – las-
Helmut Wilhelm. sen keine sorgfältige Arbeit mehr zu. Hier ist eine perso-
nelle Stärkung zwingend geboten. Angesichts dessen
wundere ich mich schon etwas, wenn ich zumindest in
Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Bayern ständig erlebe, dass CSU-Kollegen aus dem Bun-
Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir heute mit der ers- destag inzwischen häufig mit ihren örtlichen Mandatsträ-
ten Lesung des Gesetzentwurfs eine neue, moderne und gerkollegen durch das Land tingeln und dort das Gespenst
ausgewogene Zivilprozessordnung auf den Weg bringen. der angeblich als Folge der rot-grünen Reform notwendi-
gen Auflösung von 50 Prozent aller Amtsgerichte sowie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sämtlicher amtsgerichtlicher Zweigstellen an die Wand
und bei der SPD) malen. Meine Damen und Herren, da haben Sie aber die
Ein Vorhaben, das die Vorgängerregierung nur sehr Intention dieser Reform gründlich missverstanden:
halbherzig in Angriff genommen hat, nimmt unter Rot- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Grün nunmehr konkrete Gestalt an und wird zu einer Viel-
zahl von Verbesserungen führen. Viel mehr Verfahren als Stärkung ist angesagt, nicht Schwächung.
bisher können zukünftig beschleunigt erledigt werden,
Überhaupt ist die Gerichtsorganisation Ländersache
und zwar endgültig bereits in erster Instanz. Dies kommt
vor allem den rechtsuchenden Bürger zugute. und wird durch diese ZPO-Reform in keiner Weise
berührt. Ich vertrete entschieden die Ansicht, dass die Ein-
Wenn durch die Justiz bekanntermaßen leider nicht im- gangsgerichte wohnortnah sein müssen. Es ist richtig,
mer allseits befriedigende Gerechtigkeit geschaffen wer- dass die Zahl der Berufungsgerichte durch die Konzen-
den kann, so ist es doch schnelle Rechtsklarheit, die Klä- tration bei den Oberlandesgerichten reduziert wird. Bei
ger und Beklagte von der Justiz erwarten können, und Miet- und Familiensachen ist dies schon lange so und
zwar schon in erster Instanz. Es gibt kein meist unbe- nichts hindert die für die Gerichtsorganisation zuständi-
gründetes und damit sinnloses Hoffen auf eine zweite In- gen Länder, deren Zahl zu vergrößern oder aber auswär-
stanz, kein unnützes Verschleudern von Zeit, Geld und tige Senate einzurichten, wie dies vielfach schon der Fall
Nerven. Die finanzschwächere Prozesspartei muss keine
ist.
Angst haben, wegen des vom finanzstarken Gegner ange-
drohten Marsches durch die Instanzen die Segel streichen (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10991
Helmut Wilhelm (Amberg)

(A) Nachdem der Kern dieser Reform auf der Basis beruht, denn Sie wollten mit diesem Verfahren erreichen, dass an- (C)
die die noch von der früheren Bundesregierung einge- dere, deren Stimme Sie offensichtlich überhören möch-
setzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe erarbeitet hat, deren ten, nicht mitreden können.
Vorsitz bekanntlich ein Vertreter des CSU-geführten (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Bayerischen Staatsministeriums der Justiz innehatte,
hätte ich eigentlich mit etwas mehr Zustimmung seitens Aber schon jetzt kann ich Ihnen ganz sicher sagen: Ei-
der CDU/CSU-Fraktion gerechnet. Aber Sie haben ja nes kann in diesem Entwurf so nicht stehen bleiben und
noch Zeit. Sie können es sich noch überlegen. das ist die Konzentration der Rechtsmittel beim Ober-
landesgericht, die Verlagerung der Berufungsverfahren
Danke schön. auf das Oberlandesgericht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Haben Sie eigentlich schon einmal ausgerechnet, was
und der SPD – Joachim Stünker [SPD]: Die das kostet? Wir haben das getan. Nehmen Sie zum Bei-
Sachlichkeit ist bei der CDU/CSU ausgeschlos- spiel die Stadt Ravensburg – kein flaches Land –, eine
sen! Die machen Fundamentalopposition! Der schöne, alte Stadt am Bodensee.
Merz hat die Devise ausgegeben: Jetzt gegen
alles!) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das ist wahr! Die kenne ich!)
Vizepräsidentin Petra Bläss: Jetzt spricht der Jus- Sie hat viele Einwohner, ein Amtsgericht, ein Landge-
tizminister des Landes Baden-Württemberg, Dr. Ulrich richt. Gehen wir von einem Fall mit einem Streitwert von
Goll. 5 000 DM aus. Es gibt Parteien, Anwälte, Zeugen. Wenn
Sie die Berufung nach Stuttgart verlagern, dann ergeben
sich allein 2 000 DM Reisekosten. Das ist die heutige
Dr. Ulrich Goll, Minister (Baden-Württemberg): Frau Rechnung.
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Eile, mit der der Entwurf über die Bühne gebracht werden (Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: So
soll, ist verdächtig. Dies muss natürlich insbesondere im teuer ist das? – Zurufe von der SPD: Fahren Sie
Hinblick darauf Verdacht erregen, dass es darum gehen mit Chauffeur? – Sie müssen einmal mit Herrn
könnte, lästige Kritiker abzuschütteln, indem man jetzt Mehdorn reden!)
Festlegungen trifft, und sozusagen die Pflöcke einschlägt. – Sie können unsere Zahlen gerne überprüfen. Ich will Ih-
Ein solches Verfahren ist verhängnisvoll, da die Kritiker nen nur vor Augen führen, wie sich das, was Sie be-
in der Sache Recht haben und da sie aus den Ländern schließen möchten, in den Ländern auswirkt. Sie können
(B) kommen, und zwar ohne Rücksicht auf die Zusammen- natürlich dazwischenrufen und sich die Ohren zuhalten, (D)
setzung der Regierungen dort. Was Sie hier beschließen, aber das sind die Zahlen.
müssen wir in den Ländern umsetzen.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
Ich nehme an, dass Sie genau wie wir eine Synopse der der CDU/CSU)
wesentlichen Punkte der zunächst vorgelegten Reform er- Nehmen Sie einmal die Berufungsverfahren, die bei
stellt haben. Wir haben geprüft: Wer ist dafür – Pluszei- uns ans OLG verlagert werden müssten. Ich ziehe alle
chen –, wer ist dagegen – Minuszeichen –, wer enthält Verfahren ab, die ohnehin in Karlsruhe und Stuttgart lau-
sich? Ich hoffe, Sie haben das genauso geprüft wie wir. fen; weitere Wege gibt es nicht. Ich ziehe die Verfahren
Dann wissen Sie, dass es viele waagerechte Striche gab, ab, in denen es keine mündliche Verhandlung gibt. Dann
also Minuszeichen, einige Enthaltungen und ganz wenige bleiben etwa 4 000 Fälle übrig. Ich setze etwa die Hälfte
Pluszeichen. Sie haben darauf reagiert und einen neuen der Last des Ravensburger Falls an; das ist, glaube ich,
Entwurf vorgelegt, allerdings in einem Hauruckverfah- eine zurückhaltende Rechnung. Heraus kommen an die
ren, wie ich es empfinde. 3 Millionen DM, die die Parteien für Ihr neues Beru-
Obwohl ich für ein Land spreche, das diese Reform fungsverfahren zu tragen haben. Damit ist nun wirklich
umzusetzen hat, bin ich nicht in der Lage, Ihnen schon alles zum Thema Bürgernähe gesagt, das Sie vorhin uns
jetzt zu sagen, wie sie sich in der Praxis auswirkt. Wir ha- näher zu bringen versucht haben.
ben bei dem Simulationstest in Nordrhein-Westfalen ge- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
merkt, dass es auf die Details ankommt und dass man das CDU/CSU – Hermann Bachmaier [SPD]: In
erst einmal ausprobieren muss. Ich kenne diesen Entwurf Ravensburg können Sie einen Außensenat ma-
erst seit einer Woche. chen!)
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Ich nenne Ihnen noch einen weiteren Grund, den Sie
GRÜNEN]: Dann brauchen Sie jetzt nicht zu nicht unterschätzen dürfen. Wenn Sie in der Berufungs-
reden!) instanz weitere Beweisaufnahmen durchführen, was ein
– Ich muss deswegen zu diesem Entwurf reden, weil Sie richtiger Schritt ist, wenn Sie in der Berufungsinstanz Tat-
sachenüberprüfungen zulassen, dann müssen Sie diese In-
ihn in den Bundestag einbringen. Genau das kritisiere ich;
stanz in der Nähe lassen. Sie sollte zum Beispiel die örtli-
(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ chen Verhältnisse kennen. Wenn Sie in zweiter Instanz
DIE GRÜNEN: Wenn Sie es nicht gelesen Beweisaufnahmen vorsehen, dann müssen Sie eigentlich
haben!) schon aus einer inneren Logik heraus das Verfahren bei
10992 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Minister Dr. Ulrich Goll (Baden-Württemberg)

(A) den Landgerichten belassen, weil sich die Oberlandesge- Die übrigen Vorschläge werden wir sorgfältig prüfen. (C)
richte da nicht genug auskennen und bei der Tatsachen- Wir haben gelernt, dass man genau hinschauen muss, wie
überprüfung einen erhöhten Aufwand betreiben müssen. sie sich in der Praxis auswirken. Ich sehe vieles, bei dem
man „Prima-facie“ sagen könnte: Das kann man so oder
Die Dreistufigkeit erscheint am Horizont. Es gibt
anders regeln. Man hat es hier anders geregelt. Wieso soll
keine einzige klare Äußerung, mit der Sie sich von der
es besser sein? Es riecht ein bisschen nach Aktionismus.
Dreistufigkeit distanziert haben. Diese Konzentration der
Papier ist geduldig. Die Praxis wird es schon richten.
Rechtsmittel beim OLG geht in Richtung Dreistufigkeit.
Wenn Sie all Ihre Reformschritte verwirklicht haben, Aber eine Frage lässt mich nicht los: Was will man mit
wäre es konsequent, ein einheitliches Eingangsgericht der Reform eigentlich erreichen? Was ist das Ziel? Vorher
vorzusehen. habe ich von einem Ziel gehört, nämlich dass das Amts-
gericht keine Durchgangsstation, sondern Endstation sein
soll.
Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Minister, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage? (Joachim Stünker [SPD]: Erste Instanz!)
Sie wissen doch, dass es das in 95 Prozent der Fälle ist.
Dr. Ulrich Goll, Minister (Baden-Württemberg): Was wollen Sie erreichen? Wollen Sie, dass 100 Prozent
Natürlich. dort bleiben? Das kommt gleich nach 95 Prozent. Jetzt
schon werden 95 Prozent der Fälle beim Amtsgericht ab-
Prof. Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Herr Minister, schließend erledigt. Darum kann man doch einem Amts-
Sie haben eben die Probleme mit der Verlagerung der Be- richter nicht weismachen, dass er seine Urteile nur für die
rufungsverfahren zu den Oberlandesgerichten geschil- nächste Instanz schreibt. 95 Prozent dieser Fälle werden
dert. Nun kennen Sie sich gerade in Freiburg sehr gut aus, endgültig beim Amtsgericht erledigt.
wo Sie als Landtagskandidat antreten werden. Deshalb (Hermann Bachmeier [SPD]: Warum befürwor-
die Frage gezielt zu Freiburg: Sind Sie mit mir der Auf- ten die Amtsgerichte überall diese Reform?)
fassung, dass die Außensenate des Oberlandesgerichts
Karlsruhe in Freiburg sehr gut funktionieren? Sind Sie Diese Reform wird keinen Prozess beschleunigen. Das
nicht auch der Meinung, dass dieses Modell die von Ihnen kann schon deswegen nicht eintreten, weil die erste In-
geäußerten Befürchtungen gegenstandslos machen kann stanz quasi aufgeladen und dadurch komplizierter wird.
und wird? Den Mehraufwand, den Sie in 95 Prozent der Fälle trei-
ben müssen, werden Sie nirgendwo wieder hereinholen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ können.
(B) DIE GRÜNEN)
Der Prozess wird nicht bürgernäher, sondern für die (D)
Betroffenen schwerer verständlich sein. Sie werden dann
Dr. Ulrich Goll, Minister (Baden-Württemberg): Ich ihren Anwalt fragen, warum sie diese Tatsache nicht mehr
kenne dieses noble Angebot, Außenstellen zu bilden. vorgetragen dürfen, wenn sie in der Berufungsinstanz von
Dieses Angebot haben Sie auch gemacht, als noch über Bedeutung ist.
die Amtsgerichte bzw. das Eingangsgericht diskutiert
wurde. Sie haben gesagt: Wir können die Amtsgerichte zu Es wird dadurch nichts billiger. Auch das ist ein Argu-
Außenstellen machen. Diese Diskussion haben Sie mei- ment. Denn noch immer wird die Hälfte der Prozesskos-
ner Meinung nach nur vorübergehend abgestellt. Das ten von der Gemeinschaft getragen. Wir haben in Baden-
Ganze kommt mir so vor, als wenn irgendjemand ein Ver- Württemberg viel Geld für die Justiz übrig. Wir investie-
bot mit der einzigen Begründung fordert, man könne ja ren in den kommenden Jahren um die 70 Millionen DM,
Ausnahmeregelungen davon schaffen. um 7 500 Arbeitsplätze mit moderner Technik auszustat-
ten. Das ist der richtige Weg, um den Prozessablauf zu
Man muss doch erst einmal die Maßnahme selbst als verbessern und zu beschleunigen.
sinnvoll begründen können, bevor man sagt: Ihr könnt ja
von ihr abweichen und Ausnahmen machen. Glauben Sie, Man kann sicher auch einzelne Vorschläge zum Pro-
dass Außenstellen wirtschaftlicher sind als die bisherigen zess machen. Gestern haben wir den Vorschlag gemacht,
Landgerichte? den Strafprozess zu beschleunigen, mehr Verfahren im be-
schleunigten Verfahren im Strafprozess durchzuführen.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Sie von Rot-Grün haben diesen Vorschlag abgelehnt.
Das funktioniert doch in der Praxis nicht. Es macht die Sa- Wenn es um Effizienz und um Schnelligkeit im Einzelfall
che eher komplizierter. geht, sind Sie nicht dabei. Sie präsentieren uns eine Re-
form, bei der ich nur sagen kann: „Mehr Effizienz, mehr
Noch ein letztes Argument gegen diese Konzentration Transparenz, mehr Bürgernähe“ können Sie noch so groß
beim Oberlandesgericht. Wenn je daran gedacht wird, auf die Packung schreiben, aber genau das wird diese Re-
diese Reformen auch im Strafrecht umzusetzen, dann form nicht bringen.
sage ich jetzt schon: Man wird sich der Lächerlichkeit
preisgeben, wenn Berufungen in Strafsachen, etwa bei je- Unsere Justiz braucht diese so genannte Jahrhundertre-
dem Ladendiebstahl, beim OLG verhandelt werden. Be- form nicht; sie kann sie nicht brauchen. Frau Bundesjus-
vor nicht klar ist, dass die Berufungsverfahren bei den tizministerin, Sie wollen sich mit dieser Reform ein Denk-
Landgerichten bleiben, ist meines Erachtens ein vernünf- mal setzen, und zwar leider zulasten einer funktionieren-
tiger Dialog über diese Reformen gar nicht möglich. den Justiz in den Ländern. Wenn etwas nichts bringt und
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10993
Minister Dr. Ulrich Goll (Baden-Württemberg)

(A) wenn man das im Praxistest erkannt hat, sollte man die Natürlich ist das Sache der Länder. Aber ich hätte es (C)
Größe und Souveränität haben, es beiseite zu legen. Ge- begrüßt, wenn der Justizminister des Landes Baden-
nau darum bitte ich Sie. Württemberg über die Arbeitsorganisation und die
Computerausstattung geredet hätte. Aber auch der Bund
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
muss für die Modernisierung seinen Beitrag leisten. Ge-
rade darum geht es hier, um den Beitrag des Bundes zur
Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort hat die Bun- Modernisierung der Justiz. Sie aber tun so, als lebten wir
desministerin der Justiz, Herta Däubler-Gmelin. in der besten aller Justizwelten und als hätten Sie früher
alles besser und anders gemacht.
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der Jus- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das sagt keiner,
tiz: Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin!)
Es ist schon zweimal von einem Denkmal gesprochen
worden. Wissen Sie, warum ich meine, bald ein Denkmal All dies zeigt, dass wir sehr viel tiefer einsteigen müs-
verdient zu haben? Nicht nur deswegen, weil ich zu denen sen. Dafür haben wir viele Beispiele geliefert bekommen,
gehöre, die die Einwürfe des geschätzten Kollegen Geis gerade auch, wie sich anwesende Kollegen geäußert ha-
mit Heiterkeit entgegennehmen, sondern auch wegen sol- ben – unter anderem auch der Vorsitzende des Rechtsaus-
cher Reden. schusses in der letzten Legislaturperiode. Schauen Sie
heute in die „Süddeutsche Zeitung“. Sie finden dort nicht
Lieber Herr Goll, gerade auch Ihre Ausführungen ma- nur das lesenswerte Interview mit dem Kollegen Geis zu
chen die mit der Modernisierung der Justiz verbunde- den Lebenspartnerschaften, Sie finden auch den Hinweis
nen Probleme deutlich. Sie tun so, als sei hier ein Entwurf des Journalisten Prantl darauf, dass es der frühere Justiz-
eingebracht worden, der Sie völlig überrascht habe und zu minister der F.D.P., Schmidt-Jortzig, war, der auf dem
dem Sie nichts sagen könnten. Gleichzeitig bringen Sie ei- letzten Juristentag gefordert hat, es müsse endlich Schluss
nen Verriss, der mit dem Entwurf nichts zu tun hat, und gemacht werden mit dieser Flickschusterei und jetzt
tun so, als sei alles, was Rot-Grün bringt, irrelevant. müsse endlich eine Linie für eine Reform des Zivil-
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Nicht alles, aber prozesses und der Modernisierung der Justiz gefunden
das meiste!) werden.
Was soll denn das? Sie wissen doch ganz genau, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Sie eigentlich Rot-Grün bekämpfen. Lassen Sie dies doch DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]:
einmal eine Weile und lassen Sie uns – wir sind Fach- Die richtige Linie brauchen wir!)
leute – über das reden, was die Justiz braucht. Die Justiz Herr Kollege Eylmann hat dies im Frühjahr wieder- (D)
(B) braucht nämlich eine Modernisierung.
holt. Dieser Kollege gehört der CDU an. Ich will das nur
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einmal sagen. Ich verweise weiter auf einen Artikel des
DIE GRÜNEN) von mir sehr geschätzten Kollegen Scholz in der „Frank-
furter Allgemeinen Zeitung“ vom 23. November 1998, in
Sehr geehrter Herr Kollege Röttgen, Sie haben vorhin dem er eine umfassende Justizreform verlangt, dabei ei-
eine rhetorisch eindrucksvolle Leistung geliefert, die aber nen dreistufigen Gerichtsaufbau vorschlägt und erklärt,
mit der Sache nur teilweise etwas zu tun hatte. Sie haben die Zeit dafür sei überreif.
darauf hingewiesen, dass die Justiz nicht nur etwas für die
Anwälte und Richter sei. Das ist völlig richtig und ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
stimme Ihnen absolut zu. Nur, wenn Sie so tun, als wolle DIE GRÜNEN – Joachim Stünker [SPD]: Da
Rot-Grün Modernisierung verhindern, Bürgerrechte war er noch vernünftig!)
zurückzunehmen oder Berufungsmöglichkeiten zusam- Herr Scholz, Ihren Presseartikeln der letzten Tage habe
menstreichen, dann ist dies nicht nur ganz falsch, sondern ich das nicht entnehmen können. Ich weiß nicht, ob der
wirklich unfair, weil Sie damit den Menschen einen völ- Kollege Sie falsch zitiert hat. Ich weiß aber, dass Sie Vor-
lig falschen Eindruck vermitteln. sitzender der Sachverständigenkommission „Schlanker
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Staat“ waren. Dieser hat darauf hingewiesen, dass mit der
DIE GRÜNEN) Flickschusterei Schluss sein müsse und jetzt ein klarer
Entwurf und eine klare Bestimmung darüber, was die ein-
Ich möchte mich damit befassen, was die Bürgerinnen zelnen Instanzen – also erste Instanz, zweite Instanz und
und Bürger von der Justiz haben. Ich bin die Letzte, die es Bundesgerichtshof – machen sollen, auf den Tisch müss-
zulassen würde, dass man unsere Justiz krank redet, wie ten.
dies nach Urteilen, die dem einen oder anderen nicht pas-
sen, immer wieder geschieht. Unsere Justiz ist nicht Meine Bitte ist: Sie können ja auf Kreisparteitagen der
krank. Es wird aber jedem, der ihre Arbeitsweise kennt CDU so reden. Lassen Sie uns aber in dieser Auseinan-
und ihre Ausstattung beispielsweise hinsichtlich der Elek- dersetzung, bei der es um die Modernisierung der Justiz
tronik mit dem vergleicht, was heute in Kommunen oder geht, wirklich über die Probleme reden.
bei der Polizei längst üblich ist, deutlich werden, dass eine
Ich zitiere später noch ein paar Herren aus Bayern, weil
Modernisierung überfällig ist. Das ist das eine.
die Bund-Länder-Arbeitsgruppe von einem Vertreter
(Norbert Geis [CDU/CSU]: In Bayern ist das Bayerns geleitet wurde. Diese Arbeitsgruppe wird – das
in Ordnung!) wissen Sie, Herr Minister Goll – das nächste Mal am
10994 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin

(A) 14. Juli zusammentreten. Das bedeutet, dass von einer gen zum Amtsgericht gehen, den gleichen Rechtsschutz (C)
Überforderung keine Rede sein kann. Wenn Sie das den vorfinden wie die Parteien vor dem Oberlandesgericht.
Leuten weismachen wollen, kann ich nur sagen: Das ist
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf
ein Gerücht.
des Abg. Norbert Röttgen [CDU/CSU])
Wie fühlt sich eigentlich jemand, der heute vor Gericht
Sie haben gesagt, 94 Prozent der Fälle würden beim
muss? Die Aufwertung der außergerichtlichen Streit-
Amtsgericht erledigt. Haben Sie immer noch nicht ge-
schlichtung haben wir beschlossen. Dies steht jetzt im
merkt, warum das so ist? Dies ist deswegen so, weil heute
Bundesgesetzblatt. Wenn ein Bürger dennoch zum Amts-
erheblich mehr als die Hälfte der amtsgerichtlichen Ur-
gericht muss, dann findet er dort eine Richterin oder einen
teile überhaupt nicht überprüft werden kann. Das ist eine
Richter vor, die etwa 750 Fälle im Jahr bearbeiten. Jetzt Konsequenz der Streitwertabhängigkeit. Das ist doch ein
sagen Sie: Das ist die beste aller Welten. Ich sage Ihnen: Fehler. Dann müssen Sie doch sagen, dass wir das ändern
Das ist es nicht, und zwar deswegen, weil nicht berück- müssen. Sie werden sehen, dass wir es ändern, und zwar
sichtigt werden kann, dass man für die Entscheidung des deswegen, weil wir mit den Streitwerten heruntergehen
einen Falles mehr Zeit benötigt als für die eines anderen. und weil wir eine Grundsatzzulassungsberufung neu ein-
Sie haben insgesamt zu wenig Richter. führen. Wir führen sogar noch eine Rechtsgehörsrüge ein,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des die das Bundesverfassungsgericht entlastet.
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Sie wissen auch: Wenn ein Fall vor dem Oberlandes- DIE GRÜNEN)
gericht verhandelt wird, dann trifft man dort einen Diese drei Dinge sind vernünftiger für den Bürger. Es
Richter, der 70 Verfahren im Jahr bewältigen muss und bringt mehr Rechtsschutz. Es hilft auch dem Bundesver-
34 Urteile fällt. Natürlich sind seine Fälle in der Regel fassungsgericht, seine eigentliche Aufgabe zu erledigen.
schwieriger, aber dieses Missverhältnis sollte Sie eigent-
lich zum Nachdenken bringen. Ich möchte jetzt die Kritik aufgreifen, den Bürgerinnen
und Bürgern würden weniger Rechtsmittel zur Verfü-
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das kann man gung stehen. Das stimmt nicht. Wir gehen nicht so weit,
nicht über Verfahrensrecht machen!) wie es die Bayern gefordert haben. Wir gehen nicht so
Übrigens, Herr Kollege Röttgen, wenn Sie schon Ober- weit wie das zivilrechtliche Vereinfachungsgesetz der
landesgerichte zitieren, dann schauen Sie das nächste Mal letzten Legislaturperiode. Wir sagen Folgendes – ich bitte
auf die Gerichtsverteilung in Baden-Württemberg. Oder Sie, darüber nachzudenken, denn es ist etwas Vernünfti-
nehmen Sie Niedersachsen. Sie aber sollten wissen, dass ges –: Bei Verfahren, bei denen drei Richter in der Beru-
(B) Mosbach in Baden und nicht in Württemberg liegt. Das fung nach einem Hinweis an den Berufungskläger sagen, (D)
macht aber nichts. es sei aussichtslos, soll die Zurückweisung schnell erfol-
gen. Das ist deswegen vernünftig, weil bei einem Zivil-
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber in Baden- prozess immer einer klagt und ein anderer verklagt wird.
Württemberg!) In der ersten Instanz gewinnt einer. Aber wenn wie bisher
– Ja, das ist gut. Ich wollte damit nur andeuten, dass man die Verfahren – abhängig vom Streitwert – durch alle In-
in einer so schneidigen Rede darauf achten sollte, dass die stanzen geführt werden, obwohl sie erkennbar aussichts-
Fakten richtig sind. Das ist nur ein kleiner Hinweis. los sind, dann schadet das immer dem kleinen Handwer-
ker, der in der ersten Instanz gewonnen hat und der sein
(Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Was war Geld trotzdem nicht bekommt.
falsch?)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
– Das zuständige Oberlandesgericht. Ganz einfach. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich komme zu der von Ihnen mehrfach angezweifelten Deswegen ist es sehr vernünftig, anders zu verfahren: In
Neuregelung der Berufung, gegen die Sie erhebliche Ein- die Berufung darf nur dann gegangen werden, wenn dies
wendungen haben. Ich lese Ihnen einmal vor, was das unbedingt notwendig ist. Aussichtslose Berufungen sind
Land Bayern, vertreten durch den Ministerialdirigenten zwar auch weiterhin möglich, aber sie sollten dann schnell
Werner Weiß, der die Bund-Länder-Arbeitsgruppe gelei- zurückgewiesen werden, wenn drei Richter sagen: Da ist
tet hat, in der Broschüre „Die Justizpolitik – CDU“ mit- nun wirklich nichts dran.
geteilt hat. Er hat gesagt: Es besteht die Meinung, man
müsse nicht nochmals den ganzen Prozess wiederholen. Nun komme ich auf den Bundesgerichtshof zu spre-
Nur wenn das Urteil der ersten Instanz in irgendeiner chen. Nicht nur die rechte Seite des Hauses hat die Kritik
Weise fehlerhaft ist, ist das Verfahren offen für neue Tat- des letzten Präsidenten des Bundesgerichtshofs zur
sachen und Beweise. Darum geht es. Kenntnis genommen – ich bin ganz sicher, dass der neue
Präsident es ähnlich sehen wird –, der sich darüber be-
Wir gehen nicht so weit wie das in der letzten Legisla- schwert hat – Herr Röttgen, das sage ich speziell zu Ih-
turperiode von Ihnen eingebrachte und beschlossene so nen –, dass der Bundesgerichtshof nur noch in etwa 6 Pro-
genannte zivilrechtliche Vereinfachungsgesetz. Deswe- zent der Fälle seine eigentliche Aufgabe erfüllen kann,
gen hören Sie auf, die Gäule scheu zu machen. Hier geht nämlich Grundsatzentscheidungen im Rahmen der
es darum, dass die erste Instanz gestärkt werden kann, Rechtsfortbildung treffen und die Einheitlichkeit der
dass die normalen Menschen, die mit 1,5 Millionen Kla- Rechtsprechung wahren. Er hat des Weiteren darauf
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10995
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin

(A) hingewiesen, dass mehr als 96 Prozent der Fälle reine tionellen Gründen, wie wir beide sehr wohl wissen. Ich (C)
Streitwertrevisionen seien. traue Ihnen zu, dass Sie dort, wo Sie eine Außenstelle
wünschen, auch eine einrichten können, wenn Sie es nur
(Zuruf von der CDU/CSU)
wollen. Aber ob Sie es wollen, weiß ich nicht. Ich wehre
– Entschuldigung, wir sind der Meinung, dass der Streit- mich nur dagegen, dass Sie landauf, landab behaupten,
wert überhaupt kein Kriterium dafür ist, ob Revision ein- Rot-Grün wolle die Amtsgerichte schließen. Vielleicht
gelegt werden kann oder nicht. Die entscheidende Frage wollen Sie das und haben nicht den Mut, den Bürgerinnen
ist vielmehr, ob das Urteil falsch oder richtig ist. Wir tun und Bürgern das mitzuteilen. Wir wollen es jedenfalls
etwas dafür, damit dieses Kriterium herangezogen wird. nicht. Wir sind entschlossen, die Amtsgerichte zu stärken.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das machen Sie Ich möchte noch einmal auf die Vorgeschichte des Ent-
nicht!) wurfs zu sprechen kommen. Das jetzige Verfahren ist nun
– Doch, das tun wir. Sie sollten noch einmal nachdenken; wirklich das merkwürdigste. Vor zwei Jahren hat mein
denn ich meine, aus Ihren Überlegungen inzwischen eher Amtsvorgänger, Herr Schmidt-Jortzig – ich rede immer
Zustimmung herauslesen zu können. davon, dass man in der Kontinuität steht –, auf dem letz-
ten Juristentag einen Anstoß gegeben. Damals hat er das
Ich habe den Eindruck, dass das neue Revisionsrecht, erste Gutachten in Auftrag gegeben. Seitdem diskutiert
das den Formulierungen des § 73 und des § 74 GWB eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe das alles.
nachgebildet ist und künftig auch für den Bundesfinanz-
hof gelten und ohne Zweifel auch in den Regierungsent- Dann gibt es einen Beschluss der Justizministerkonfe-
wurf aufgenommen werden soll, ein sehr vernünftiger renz, die mich auffordert, einen Gesetzentwurf vorzule-
Kompromiss zwischen den eigentlichen Aufgaben des gen, was ich auch tue. Daraufhin gibt es viel Kritik, aber
Bundesgerichtshofs und der Einzelfallgerechtigkeit ist, auch viel Zustimmung. Dann werten wir das aus und ar-
deren Gewährleistung Sie anmahnen. Aber die Einzelfall- beiten das in diesen Gesetzentwurf ein. Wenn von ande-
gerechtigkeit, Herr Röttgen, bestimmt sich nicht nach ren Ländern noch etwas kommt, wird das im Übrigen
dem Streitwert. Diese Grenze ist nun wirklich die will- auch noch in den Regierungsentwurf eingearbeitet. Und
kürlichste von allen. Die Einzelfallgerechtigkeit bemisst trotzdem wird daran wieder Kritik geübt. Ich sage Ihnen:
sich bei der Revision vielmehr danach, ob ein schwerer Wichtige Reformen kann man nur öffentlich diskutieren.
Rechtsfehler in irgendeiner Form aufgetreten ist. Das ist Das haben wir mit der Veröffentlichung des Referenten-
der Punkt. entwurfs im vergangenen Dezember getan.
(Beifall bei der SPD) Wir werden die Diskussion weiterhin suchen, und zwar
keineswegs allein mit den Ländern, wofür die Termine,
(B) Die Modernisierung der Justiz ist schwer, aber not- wie ich gesagt habe, schon feststehen. Wie bereits in den (D)
wendig. An ihr sind die Länder und auch der Bund betei- vergangenen Tagen werden wir mit dem Richterbund, mit
ligt. Die Länder müssen genauso einen Beitrag leisten wie der Bundesrechtsanwaltskammer und mit dem Anwalt-
der Bund. Der Bund hat mit der Änderung der Präsidial- verein sprechen. Sicher ist aber auch, dass wir mit der Op-
verfassung und der außergerichtlichen Streitschlichtung position reden. Es geht darum, dass unsere Justiz moder-
angefangen. Wir machen jetzt weiter. Wir stärken die erste nisiert wird, dass die normalen Bürger auch in Zukunft
Instanz. Wir sind – lassen Sie mich das sagen – so radikal, vor Gericht gute Bedingungen vorfinden, dass die Justiz
dass wir sagen: Wir wollen auch hier die Möglichkeit zur für neue Aufgaben fit gemacht wird – wir wissen ganz ge-
Güteverhandlung und Streitschlichtung stärken. Wir sind nau, dass es nicht mehr Richterstellen geben wird – und
so radikal, dass wir sagen: Die Überprüfung eines Urteils dass unsere Justiz europafreundlicher werden muss. Diese
soll nicht vom Streitwert abhängig sein; vielmehr soll sie vier Ziele sind in den Gesetzentwurf aufgenommen.
davon abhängen, ob tatsächliche oder rechtliche Fehler
gemacht wurden. Dies alles ist bürgerfreundlich. Dies al- Ich hoffe, wir können unter Fachleuten – meinetwegen
les wollen wir durchsetzen. temperamentvoll; das bin auch ich – darüber reden. Das
sollte aber, wenn es irgendwie geht, ohne den ständigen
Dass der Vorschlag, die Berufung bei den Oberlandes- Austausch von Argumenten geschehen, die mehr mit Par-
gerichten zusammenzuführen, sehr unterschiedlich gese- teipolitik als mit irgendwelchen fachlichen Aspekten zu
hen wird, wissen wir. Dass es in Flächenländern anders tun haben.
aussieht als zum Beispiel in Stadtstaaten, Herr Goll,
wissen wir auch. Es wäre nur klug, wenn man jetzt über Herzlichen Dank.
die Fragen von Nutzen und Kosten sowie der Vereinfa- (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
chung nachdenkt. Wir wollen Vereinfachung. Wenn man NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
draußen darüber redet, dann muss man sehr deutlich ma-
der PDS)
chen, dass es die Zusammenführung der Berufung bei Ar-
beitsgerichtsverfahren, Sozialgerichtsverfahren, Verwal-
tungsgerichtsverfahren und bei den familiengerichtlichen Vizepräsidentin Petra Bläss: Letzter Redner in die-
Verfahren gibt, in denen sehr häufig ein persönliches Er- ser Debatte ist der Minister der Justiz und für Euro-
scheinen erforderlich ist. In all diesen Bereichen funktio- paangelegenheiten des Landes Brandenburg, Dr. Kurt
niert das gut. Schelter.
Hermann Bachmaier hat darauf hingewiesen, dass (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Halt! Es war
Karlsruhe sieben Außensenate hat, und zwar aus tradi- eine Kurzintervention angemeldet!)
10996 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) – Entschuldigung, Herr Minister, es gibt eine Anmeldung Ich gehöre zu denjenigen, die den Abschlussbericht der (C)
zu einer Kurzintervention. Ich erteile dem Kollegen Sachverständigenkommisson „Schlanker Staat“ wirklich
Rupert Scholz das Wort. gelesen haben. Abgesehen von dem, was Sie erwähnt ha-
ben, enthält der Bericht zusätzliche Forderungen. In der
Tat – dies will ich Ihnen gerne bestätigen – soll nach Auf-
Dr. Rupert Scholz (CDU/CSU): Frau Ministerin, Sie
fassung der Sachverständigenkommission „Schlanker
haben mich sehr liebenswürdig angesprochen. Sie haben
Staat“ nicht nur die Zahl der Gerichtszweige verringert
versucht, mich zum Kronzeugen der Dreistufigkeit zu ma-
werden, sondern wird auch gefordert, die Fachgerichte
chen. Dazu möchte ich schon einen Satz sagen.
baulich zusammenzulegen. Das ist ein Punkt, den man
Ich bin in der Tat der Meinung, dass das Thema der erst mit den Ländern besprechen muss, weil das wirklich
Dreistufigkeit kein Dogma ist. Es kommt auf die Effizi- erhebliche Kosten verursachen würde.
enz im Rechtsschutz für den Bürger und damit auf die Ef- (Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Das ist wirk-
fizienz der Justiz an. Sie wissen von mir direkt, dass ich liche Reform!)
der Meinung bin, man könnte – vielleicht sollte man so-
gar – die Dreistufigkeit in Stadtstaaten einmal erproben. Die Kosten hierfür wären außerordentlich hoch. Die Län-
Das ist möglich. Sie können in Ihren Gesetzentwurf zum der sind in diesem Punkt viel stärker gefordert als der
Beispiel eine entsprechende Experimentierklausel hinein- Bund.
nehmen, die den Stadtstaaten die Möglichkeit der Erpro- Der Bund ist dagegen bei dem Teil gefordert, über den
bung gibt. Das halte ich für einen sinnvollen Schritt. Im wir jetzt reden, nämlich bei der Frage der Rechtsmittel.
Übrigen ist das die Philosophie des von Ihnen angespro- Lassen Sie es mich nochmals sagen: Wir reduzieren
chenen Berichts des Sachverständigenrats „Schlanker die Berufungsmöglichkeiten nicht, sondern bauen die
Staat“, den ich in der letzten Legislaturperiode zu leiten Rechtsmittel insgesamt aus und geben den Grundsatz der
hatte. Streitwertabhängigkeit aufgrund der sich daraus ergeben-
den Ungerechtigkeiten auf.
Sie hätten die Forderungen dieses Sachverständigen-
rats – gerade was eine Justizreform angeht – vielleicht Ich wollte aber noch aus dem Bericht der Sachverstän-
doch ein bisschen mehr beherzigen sollen, wie das zum digenkommission „Schlanker Staat“ zitieren. Dort steht
Beispiel Ihr Kollege Schily jetzt tut. Bei ihm habe ich zu drin:
meiner Freude manchmal das Gefühl, dass er unsere Emp- Das heute sehr differenzierte Rechtsmittelsystem
fehlungen von damals regelrecht abkupfert. Das ist sinn- sollte in seiner Gesamtheit überdacht werden. Dabei
voll. Denn wenn etwas Vernünftiges gesagt wird, dann ist könnte der Instanzenzug grundsätzlich einheitlich
es egal, wer es umsetzt; Hauptsache es wird umgesetzt. ausgestaltet werden, und zwar mit einer Tatsachen-
(B) und mit einer Rechtsmittelinstanz. Notwendig wäre (D)
Die wirklich entscheidenden Fragen der Justizreform,
die dort angesprochen sind, sind ganz andere. Da geht es zunächst die Absicherung durch eine rechtsstaatliche
um die Vereinheitlichung von Verfahrensordnungen ins- Untersuchung.
gesamt. Außerdem – ich sehe in dieser Frage dringenden (Joachim Stünker [SPD]: Das machen wir
Reformbedarf – ist dort thematisiert, dass wir endlich von jetzt ja!)
der Überspezialisierung unserer Gerichtsbarkeiten weg-
kommen. Diese haben wir vorgenommen. Auch die weiteren
Punkte, die erwähnt werden, haben wir aufgenommen.
Es macht keinen Sinn, wenn die Reform eines Bereichs Wir sind nur nicht ganz so weit gegangen wie die Kom-
wie der Zivilgerichtsbarkeit – sie funktioniert insgesamt mission, der Sie damals vorgesessen haben. Ich denke,
ja gut – Stückwerk bleibt. Wenn man den Einstieg in die dass wir gerade dann, wenn wir Bürgernähe, Transparenz
Dreistufigkeit will, dann muss man es offen sagen. Aber und Effizienz im Blick haben, auf dem richtigen Weg
mit Sicherheit ist es nicht gut, diesen Weg mit der Redu- sind.
zierung der Rechtsmittel im Rechtsschutzbereich einzu-
leiten. Dies hielte ich für sehr problematisch. Gehen wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
lieber einen offenen Weg, fangen wir vielleicht wirklich BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
einmal mit einer Stadtstaatenklausel an, Frau Däubler-
Gmelin, und schauen wir uns die Entwicklung an! Dann Vizepräsidentin Petra Bläss: Nun erteile ich das
wird man weitersehen. Wort dem Minister der Justiz und für Europaangelegen-
Vielen Dank. heiten des Landes Brandenburg, Dr. Kurt Schelter.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Prof. Dr. Kurt Schelter, Minister (Brandenburg):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Justizministerin, ren! Ich würde gerne – mit der Erlaubnis der Präsidentin
zur Erwiderung, bitte. mit einem kurzen Zitat aus einem Brief, den mir die Bun-
desjustizministerin am 5. Juli geschrieben und der mich
heute erreicht hat, beginnen:
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Herr Kollege Scholz, vielen Dank für diese kolle- Vielen Dank für Ihre Stellungnahme zum Referen-
giale Haltung. Ich weiß, Sie haben mich sogar ermutigt, tenentwurf eines ZPO-Reformgesetzes vom 23. De-
den Gesetzentwurf einzubringen. zember 1999. Ihre Überlegungen zu den Entwurfs-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10997
Minister Prof. Dr. Kurt Schelter (Brandenburg)

(A) vorschriften werden im Zuge der zweiten Beratungs- Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Minister, gestat- (C)
runde über den Referentenentwurf, in die wir jetzt ten Sie eine Zwischenfrage?
eingetreten sind, sehr sorgfältig gewürdigt.
Ich muss gestehen, diese Einleitung Ihres Briefes, Frau Prof. Dr. Kurt Schelter, Minister (Brandenburg):
Bundesministerin, hat mich einigermaßen sprachlos ge- Sehr gerne.
macht, denn vom heutigen Entwurf ist keine Rede. Mit
keinem Wort gehen Sie auf den Entwurf ein, über den
Alfred Hartenbach (SPD): Herr Minister Schelter, er-
heute hier beraten wird. Das bedeutet für mich: Seit heute
lauben Sie mir eine Zwischenfrage mit ein paar „Unter-
ist die Justizreform zu einem spannenden Ratespiel ge-
abteilungen“. Sie sind ja zurzeit der Vorsitzende der Jus-
worden. „Was soll gelten?“, lautet die Frage.
tizministerkonferenz. Es würde mich interessieren, ob Sie
Ich habe deshalb keine große Neigung, mich heute de- hier als Justizminister des Landes Brandenburg oder als
tailliert zum Inhalt dieses Gesetzentwurfes zu äußern. Vorsitzender der Justizministerkonferenz sprechen.
Seine Initiatoren werden darüber nicht enttäuscht sein,
denn das jetzt gewählte Verfahren ist ja ganz offensicht- Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass es sich hier
lich geradezu darauf angelegt, dass die Länder und der nicht um einen Regierungsentwurf, sondern um einen
Bundesrat, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, keine Chance Entwurf der Koalitionsfraktionen SPD und Bünd-
bekommen sollen, ihre Meinung zu sagen. Das wäre wohl nis 90/Die Grünen handelt?
auch Zeitverschwendung, denn die neue Dramaturgie Würden Sie bitte noch freundlicherweise eine kleine
sieht ja vor – so steht es jedenfalls in den Zeitungen –, die- Episode zur Kenntnis nehmen, die sich gestern zugetra-
sen Entwurf im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsver- gen hat: Ich war in Perleberg auf einer Veranstaltung des
fahrens noch wesentlich zu verändern. brandenburgischen Rundfunks und habe dort mit Hand-
Als Justizminister meines Landes wird mir jeden Tag werksmeistern diskutiert. Diese Handwerksmeister sind
vermittelt, was die Organe der Rechtspflege davon halten, der Meinung, in der Brandenburger Justiz dauere alles zu
immer wieder neue Vorschläge, neue Erwägungen zu lange. Einer wartet seit sechs Monaten auf einen Termin,
hören und mit diesen konfrontiert zu werden. Ich bin mir ein anderer seit zwei Jahren auf ein Urteil. Was gedenken
nun, Frau Bundesministerin, nicht ganz sicher, ob es Sie Sie diesbezüglich zu tun? Meinen Sie nicht auch, dass un-
überhaupt interessiert, wie dieses Verfahren – jedenfalls ser Entwurf geeignet ist, für mehr Tempo auch in der ers-
von der Mehrheit der Justizminister der Länder – gesehen ten Instanz zu sorgen?
wird. Die Besetzung und Zusammensetzung der Bundes-
ratsbank gibt davon beredtes Zeugnis. Sie wissen aber, Prof. Dr. Kurt Schelter, Minister (Brandenburg): Ich
dass die Art des Umgangs mit den Ländern bis in die letz- fange mit der Beantwortung der letzten „Unterabteilung“ (D)
(B) ten Monate hinein zu starken Irritationen geführt hat. Die
Ihrer Zwischenfrage an. Ich bin seit dem 13. Oktober des
Informationen über wichtige Gesetzgebungsvorhaben des vergangenen Jahres im Amt. Dieses Amt wurde neun
Bundes erreichen uns zu spät oder überhaupt nicht – und Jahre lang von einem anderen Kollegen, den ich sehr
wenn, dann sind sie zu vage. schätze, bekleidet. Er hat eine hervorragende Aufbaulei-
Die besten Informationsquellen für die Justizminister stung in der Brandenburger Justiz erbracht. Die lange
der Länder über die Rechtspolitik des Bundes und ihre Dauer der Verfahren in Brandenburg, die zum großen Teil
Veränderungen sind seit Monaten die Medien. Es kann auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit, aber nicht auf die or-
doch nicht richtig sein, dass die in den Ländern verant- dentliche Gerichtsbarkeit zutrifft, hat im Wesentlichen
wortlichen Ressortchefs den Inhalt dieses Gesetzentwurfs mit dem Haushalt zu tun. Ich habe erst seit dem 13. Okto-
zunächst nur aus einer sehr detaillierten Abhandlung von ber des vergangenen Jahres die Haushaltspolitik in Bran-
dem von mir sehr geschätzten Heribert Prantl in der „Süd- denburg mit zu verantworten.
deutschen Zeitung“ und weiteren Medienberichten zum
Beispiel in der „taz“ erfahren konnten. Dabei lassen Sie (Joachim Stünker [SPD]: Babylonische Ge-
verbreiten, dass dieser Entwurf einen Durchbruch in Sa- fangenschaft!)
chen Justizreform darstelle. Ich sehe das nicht und würde Zu Ihrer zweiten Frage. Sicher, es handelt sich um ei-
Sie fragen, wenn ich könnte: Durchbruch wohin? Es mag nen Gesetzentwurf der Koalition – in einem Bereich, über
ja sein, dass dieser Entwurf der gemeinsame Nenner ist, den sich zu äußern die Justizminister der Länder allen An-
auf den sich die Koalition einigen kann. Aber es kann lass haben; denn sie sind es, die diesen Gesetzentwurf,
doch keine Rede davon sein, dass Sie damit die massive wenn er eines Tages im Bundesgesetzblatt stehen sollte,
Kritik aus allen Richtungen an Ihrem Konzept überwun- umsetzen müssen. Es ist richtig – damit komme ich zur
den hätten. Beantwortung Ihrer ersten Frage –, dass ich hier in der
Frau Bundesministerin, ich bitte Sie sehr herzlich da- Eigenschaft spreche, in der mich die Präsidentin des Ho-
rum, in unserer weiteren Zusammenarbeit wieder an den hen Hauses angekündigt hat, nämlich in der Eigenschaft
Konsens anzuknüpfen, den wir bei der letzten Konferenz als Justizminister des Landes Brandenburg und als Mit-
der Justizminister in Potsdam gefunden hatten. Wir hat- glied des Bundesrates.
ten uns darauf verständigt, dass die Unterrichtung rascher, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
konkreter, stetiger und auch offener erfolgen soll. Sie hat-
ten zugesagt, dass die Länder in Zukunft rechtzeitig zur Ich darf mit meinen Ausführungen fortfahren. – Frau
Abschätzung der Folgen Ihrer Reformvorhaben gehört Bundesministerin, Ihr Parlamentarischer Staatssekretär,
werden. den ich sehr schätze und der heute ebenfalls anwesend ist,
10998 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Minister Prof. Dr. Kurt Schelter (Brandenburg)

(A) hatte in Potsdam versprochen, dass Sie sich mit den Er- dieser gesetzgeberische Überfall wenigstens einen positi- (C)
gebnissen der Fallstudien befassen, die in Nordrhein- ven Aspekt.
Westfalen mit Ihrer Unterstützung durchgeführt worden Vielen Dank.
sind, und zwar ganz rasch und unter Beteiligung der Län-
der. Sie wissen, dass ich in Potsdam sehr viel Aufmerk- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
samkeit darauf verwendet habe, die vielfältigen Verkan-
tungen und Verkrampfungen zwischen der politischen Vizepräsidentin Petra Bläss: Liebe Kolleginnen
Leitung Ihres Hauses und den Ländern aufzulösen. Sie ha- und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
ben das leider in keiner Weise honoriert. Im Gegenteil:
Das Verfahren, das Sie jetzt eingeschlagen haben, ist ein Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/3750 an den in der Tagesord-
großer Rückschritt und macht die Zusammenarbeit mit
nung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Gibt es
Ihrem Haus nicht leichter.
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich
Nun zum Inhalt dieses Gesetzentwurfes. Ich wieder- nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
hole: Eine fachliche Äußerung ist noch nicht möglich; sie
wäre verfrüht. Aber ich räume ein, dass dieser Entwurf in Ich rufe den Zusatzpunkt 16 auf:
einigen Bereichen bessere Lösungsansätze enthält und ei- Aktuelle Stunde
nige wenige gravierende Bedenken der Länder berück- auf Verlangen der Fraktionen des Bündnis-
sichtigt. Das gilt zum Beispiel für das Einzelrichterele- ses 90/Die Grünen und der SPD
ment; andere Kollegen mögen das anders sehen.
Regelmäßige Kontakte im Vorfeld von Zeugen-
Außerdem gibt es in diesem Gesetzentwurf, der heute vernehmungen im 1. Untersuchungsausschuss
beraten wird, die Abteilung „Überraschungen“: Das Ab- des Deutschen Bundestages zwischen Untersu-
hilfeverfahren für Aufklärungsrügen hat seinen Weg aus chungsausschussmitgliedern und dem Zeugen
der Kommission zur Entlastung des Bundesverfassungs- Dr. Kohl
gerichts in den Bundestag gefunden. Ich meine, das ist gut Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion
so, aber nur für das Bundesverfassungsgericht. Es löst die Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Hans-Christian
Probleme der Justiz – der Amtsgerichte, der Landgerichte, Ströbele.
der Oberlandesgerichte – nicht.
Die wichtigste Frage heute lautet: Frau Bundesminis- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
terin, ist das Ihr Entwurf oder ist es auch Ihr Entwurf? Was NEN): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kol-
(B) gilt? Steht das Berufungsannahmeverfahren noch zur legen! Wir haben diese Aktuelle Stunde nicht nur deshalb (D)
Debatte oder nicht? Soll die Berufungsinstanz nicht mehr beantragt, weil wir der Meinung sind, dass sich der Deut-
strikt auf Fehlerkontrolle beschränkt sein oder überlegen sche Bundestag mit den Vorgängen im und um den Un-
Sie sich das noch? Werden die Hinweispflichten des Ge- tersuchungsausschuss und im Zusammenhang mit dessen
richts erheblich oder nur reduziert erweitert? Worüber Arbeit beschäftigen sollte, sondern auch deshalb, weil wir
wollen Sie mit uns reden? Wozu sollen wir Stellung neh- die Auffassung der Fraktionsführung der CDU/CSU und
men? Sind Sie an der Meinung der Länder, am fachlichen der Parteiführung der CDU zu dem Verhalten ihrer Mit-
Rat derer, die diese Reform in die tägliche gerichtliche glieder im Untersuchungsausschuss und zur Vorbereitung
Praxis umsetzen sollen, überhaupt interessiert? von Sitzungen des Untersuchungsausschusses in der Öf-
fentlichkeit diskutieren wollen.
Frau Bundesministerin, eine Justizreform gegen die
Wir wollen mit Ihnen nicht darüber diskutieren, was
Länder und fast alle Verbände kann und wird nicht gelin-
ein Abgeordneter normalerweise tun darf, ob er mit ande-
gen. Das Ergebnis wird jedenfalls keine große Reform, al- ren Abgeordneten reden darf, ob er mit der Bevölkerung
lenfalls ein großes Desaster mit viel Verärgerung, Verun- reden darf.
sicherung und Verlust von Vertrauen unserer Bürger in
den Rechtsstaat sein. Eine Justizreform, die zu mehr Auf- (Lebhafter Widerspruch bei der CDU/CSU)
wand führt, ohne die Aussicht auf raschere, bessere Ent- Das wissen wir alles, das ist selbstverständlich, darüber
scheidungen mit noch mehr Akzeptanz, dient nicht dem braucht man nicht zu reden.
Rechtsfrieden; sie schadet ihm.
Aber, Herr Kollege Schmidt, wir wollen darüber reden,
Unsere Justiz in Deutschland, auch in den neuen Län- ob es richtig ist, ob es zulässig ist und was für ein böser
dern, arbeitet effektiver und besser, als ihre Kritiker zu- Anschein damit verbunden ist, wenn sich die halbe Mann-
geben wollen und die Reformvorhaben der Bundesregie- schaft der CDU/CSU im Untersuchungsausschuss in die-
rung dies vermuten lassen. Wir sollten endlich gemeinsam sem Jahr jeweils einen Tag, einen Abend vor der Verneh-
in den Blick nehmen, wo wirklich Veränderungsbedarf mung wichtiger Zeugen mit dem Mittelpunkt der Arbeit
besteht, und dann zu gemeinsamen Lösungen kommen – dieses Ausschusses, mit dem Zeugen Helmut Kohl, trifft
der Bund, die Länder, die beteiligten Verbände und be- und ein- bis anderthalbstündige Gespräche führt. Sie ha-
rufsständischen Organisationen. ben sich an den Tagen vor der Vernehmung von Herrn
Weyrauch, vor der Vernehmung von Herrn Terlinden, vor
Lassen Sie uns also ab heute bei der Justizreform end- der Vernehmung von Frau Weber jeweils mit ihm getrof-
lich miteinander und nicht übereinander reden. Dann hätte fen. Was haben Sie dort besprochen?
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 10999
Hans-Christian Ströbele

(A) Wenn Sie uns sagen, Sie hätten allgemein darüber ge- den. Da kann man doch schlechterdings nicht behaupten, (C)
redet, wie man terminieren könne oder ob man einer das habe nicht die frühere Bundesregierung zu vertreten,
Übertragung der Vernehmung bei Phoenix zustimmen sondern das habe die Bundesregierung, die erst danach ins
könne, Herr Schmidt, dann mag das stimmen. Aber es Kanzleramt eingezogen ist, veranlasst oder durchgeführt.
kann nicht sein, dass Sie sich allein deswegen dort ge- Das ist völlig abenteuerlich, zeigt aber, dass der Zeuge
troffen haben; denn so viel Arbeitszeit haben auch Sie Dr. Kohl nicht nur Zeuge sein will, sondern das Gesche-
nicht zur Verfügung. hen im und um den Untersuchungsausschuss und auch das
Die zeitliche Nähe Ihrer Treffen mit Helmut Kohl zu Verhalten der CDU/CSU-Fraktion und der CDU in die-
der Vernehmung aller wichtigen Zeugen im Ausschuss sem Lande aus seinem Abgeordnetenzimmer heraus maß-
und das Verhalten dieser Zeugen im Untersuchungsaus- geblich steuert.
schuss, wo sie plötzlich eine Mauer des Schweigens auf- Alle Beteuerungen von Frau Merkel und Herrn Merz,
gebaut und sich ganz anders verhalten haben als in zahl- dass da inzwischen eine gewisse Distanz eingetreten sei,
reichen Interviews mit der Presse, erwecken den bösen dass es sich um eine neue Partei, um eine neu formierte
Anschein, Herr Kollege Schmidt, dass bei diesen Treffen Fraktion handele,
mehr geschehen ist, als dass Sie sich über Termine und
eine Fernsehübertragung durch Phoenix unterhalten ha- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Kommen
ben. Es legt den Verdacht nahe, dass dort Absprachen mit Sie langsam zum Thema!)
Helmut Kohl über ein allgemeines Zeugenverhalten ge- werden Lügen gestraft durch das Verhalten der Untersu-
troffen worden sind und dass Ihre Arbeit im Untersu- chungsausschussmitglieder der eigenen Fraktion.
chungsausschuss und das Verhalten der Zeugen dort letzt-
lich durch den Zeugen Helmut Kohl gesteuert worden
sind. In alter Manier hat er dort die Regie geführt. Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege
Ströbele, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Sie hätten schon im Untersuchungsausschuss Gelegen- NEN): Unterstrichen wird dies durch die letzte Feststel-
heit gehabt, sich dazu zu äußern. Heute sollten Sie sich lung, die wir heute Nacht gegen 23 Uhr im Untersu-
dazu äußern. Sie sollten sagen, ob Sie, Ihre Partei und Ihre chungsausschuss treffen konnten, nämlich dass bereits
Fraktion das als zulässig ansehen und Sie die wichtige seit langem verabredet ist, dass Frau Merkel und Dr. Kohl
Arbeit solcher Institutionen des deutschen Parlaments un- am Vorabend des 3. Oktober zum zehnjährigen Bestehen
terlaufen wollen, indem Sie die richtige und an der Wahr- des vereinten Deutschlands gemeinsam Reden halten
(B) heit orientierte Aufklärungsarbeit des Untersuchungsaus- werden – so der Terminkalender von Frau Weber. (D)
schusses geradezu konterkarieren und kaputtmachen. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
haben wir durch das Verhalten der Zeugen leider erleben und bei der SPD)
müssen.
Die heutige Aktuelle Stunde dient auch dazu, dass wir Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die CDU/CSU-
noch einmal Stellung zu dem abenteuerlichen – gestern Fraktion spricht jetzt der Kollege Eckart von Klaeden.
habe ich gesagt: abwegigen; das entspricht ja dem
Sprachgebrauch des ehemaligen Bundeskanzlers im
Untersuchungsausschuss – Vorwurf an die neue Bundes- Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
regierung nehmen können, dass von ihr Akten vernichtet Meine Damen und Herren Kollegen! Mich wundert es
worden seien, nicht, dass es dem Kollegen Ströbele nicht auf die Rechts-
lage ankommt. Es wundert mich auch nicht, dass er zum
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Ende seines Beitrags auf das gekommen ist, was ihn wirk-
GRÜNEN]: Aberwitzig!) lich interessiert, nämlich nicht die Aufklärungsarbeit im
Untersuchungsausschuss, sondern die Diffamierung der
um dann später die Behauptung aufstellen zu können, die
CDU.
alte Bundesregierung habe das getan. Das kann schon des-
halb nicht richtig sein, weil erstens die Fraktion Bünd- (Beifall bei der CDU/CSU)
nis 90/Die Grünen diesen Untersuchungsausschuss schon Ich will ein paar Worte zur Rechtslage sagen, auch
lange vor dem Oktober 1999 in die Diskussion gebracht wenn, wie sich häufig gezeigt hat, Sie, Herr Ströbele, mit
und gefordert hat und weil zweitens – das ist doch das Ent- diesem Rechtsstaat auf Kriegsfuß stehen und Sie sich
scheidende – die Datenvernichtungen zeitlich zuordbar nicht zuletzt auf dem Anwaltstag dafür eingesetzt haben,
sind, da unbestechliche Maschinen den Zeitpunkt aufge- die verfassungsmäßigen Auskunftsverweigerungsrechte
zeichnet haben. einzuschränken. Ein Ausschluss des Kollegen Schmidt
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Zum aus dem Untersuchungsausschuss wäre ein Verstoß gegen
Thema!) Art. 38 des Grundgesetzes. Untersuchungsausschüsse ar-
beiten nicht wie Gerichte auf der Grundlage richterlicher
Alle Datenvernichtungen haben nach der Bundestagswahl Unabhängigkeit. Sie ermöglichen vielmehr eine par-
1998 und vor dem Auszug der alten Regierung aus dem lamentarische Kontrolle und sind damit ein politisches In-
Kanzleramt stattgefunden. Damals sind in drei Nächten strument, bei dem die Mitglieder als Politiker und nicht
zwei Drittel des gesamten Datenmaterials vernichtet wor- als Richter auftreten.
11000 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Eckart von Klaeden

(A) Das haben Sie in Ihrem Antrag, mit dem Sie den Es geht Ihnen überhaupt nicht um Aufklärung. Es geht (C)
Untersuchungsausschuss eingesetzt haben, selber be- Ihnen auch nicht um ein faires und rechtsstaatliches Ver-
schlossen. Denn Sie haben in Ihrem Antrag die IPA-Re- fahren. Wie ist es denn sonst zu erklären, dass Ihr Aus-
geln als Grundlage der Tätigkeit des Untersuchungsaus- schussvorsitzender im Dezember vergangenen Jahres
schusses akzeptiert. Dort steht in § 5 Abs. 3 ausdrücklich, über die „Bild am Sonntag“ Ordnungsgeld und Beugehaft
dass die Vorschriften der Strafprozessordnung über die für Helmut Kohl androht, ohne sein verfassungsmäßig
Ablehnung und Ausschließung von Richtern auf Aus- verbürgtes Auskunftsverweigerungsrecht anzuerkennen
schussmitglieder keine Anwendung finden. und ohne ihm die Möglichkeit zu geben, in den nächsten
Wochen und Monaten überhaupt vor diesem Ausschuss
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
aufzutreten?
GRÜNEN]: Das wollen wir ja auch gar nicht!
Sie sollen ihn zurückziehen!) (Zurufe von der SPD: Aufhören!)
Ihre Kritik ist nicht nur nicht konform mit der Rechts- Wie wollen Sie überhaupt einen logischen Zusammen-
lage, sondern auch unlogisch und scheinheilig. hang zwischen der illegalen Parteienfinanzierung
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Informieren
GRÜNEN]: Sagen Sie einmal etwas zu den Tat- Sie sich doch erst einmal! Das stimmt doch al-
beständen!) les gar nicht!)
Unlogisch ist sie deshalb, weil, gesetzt den Fall, es gäbe und angeblicher Käuflichkeit von Regierungsentschei-
die Möglichkeit einer Drehbuchaffäre, dungen herstellen, wenn Sie im Ausschuss überhaupt kein
(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Interesse daran zeigen, der Frage der angeblichen Käuf-
NEN) lichkeit nachzugehen?

also einer Absprache zwischen Ausschussmitgliedern und (Beifall bei der CDU/CSU – Rezzo Schlauch
Zeugen, was es unter der SPD-Mehrheit in Schleswig- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch vom
Holstein gegeben hat, wir dann, wie das in Schleswig- Kohl-Virus infiziert! – Weitere Zurufe vom
Holstein der Fall war, die Verfahrensherrschaft bräuchten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Verfahrensherrschaft hat man dann, wenn man im Warum lehnen Sie jeden Antrag der CDU/CSU dahin ge-
Ausschuss die Mehrheit hat. Wie Sie aber wissen, ist die hend, diejenigen, die in der Regierung an verantwortli-
CDU seit 1998 in der Opposition. cher Stelle tätig waren, zu vernehmen, ab? Warum ver-
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Gott sei Dank!) weigern Sie die Vernehmung von Helmut Kohl zu diesen
(B) Fragen und geben ihm erst im Dezember dieses Jahres die (D)
Das heißt, das, was Sie uns vorwerfen, kann es logischer-
Möglichkeit, dazu Stellung zu nehmen? Warum werfen
weise gar nicht geben, weil wir gar nicht die Verfahrens-
Sie ihm die angeblich von ihm und dem ehemaligen
herrschaft haben.
Minister Bohl zu verantwortende Löschung von Dateien
(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vor,
NEN]: Das ist neu für Sie, dass Sie keine Ver-
(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Nicht an-
fahrensherrschaft haben! Daran müssen Sie
sich noch gewöhnen!) geblich! Tatsächlich!

Ihre Kritik ist darüber hinaus scheinheilig, weil das, während Sie ihm gleichzeitig den Bericht des Sonder-
was Sie unserem Obmann vorwerfen, von Ihnen selber ermittlers vorenthalten?
getan wird. Ihr Vorsitzender Neumann hat mehrfach mit (Anhaltende Zurufe von der SPD und dem
dem mit Haftbefehl gesuchten Zeugen Schreiber Kontakt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
aufgenommen und mit ihm nicht nur Verfahrensfragen,
sondern auch inhaltliche Fragen besprochen. Warum nehmen Sie nicht zur Kenntnis, was in diesem Be-
richt auch steht – dies hat Herr Hirsch gegenüber Herrn
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Rupert Scholz Bohl zum Ausdruck gebracht hat –, nämlich dass Herr
[CDU/CSU]: Ungeheurer Vorgang! – Wider- Hirsch nicht erkennen kann, dass sich im Laufe der Un-
spruch bei der SPD) tersuchung eine Verantwortung seitens Herrn Bohl und
Ich will offen sagen: Ich habe nichts dagegen, wenn des Altbundeskanzlers Helmut Kohl für diese Datenlö-
wir uns bei der Einsetzung des nächsten Untersuchungs- schung nachweisen ließ?
ausschusses darauf einigen, dass die Ausschussmitglieder (Friedhelm Julius Beucher [SPD]: Der Herr
richterähnliche Verpflichtungen erhalten. Aber dann gilt Bohl hat das längst revidiert, Herr Kollege!)
gleiches Recht für alle und nicht das, was Sie hier tun,
nämlich dass Sie auf der einen Seite die derzeit bestehen- Ich will Ihnen sagen, warum Sie das alles nicht tun: Ih-
den Rechte selbstverständlich selber in Anspruch nehmen nen ist in Wirklichkeit an Aufklärung nicht gelegen.
und auf der anderen Seite unsere Kollegen diffamieren. (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian
(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sa- sagt die CDU! – Detlev von Larcher [SPD]: Das
gen Sie einmal etwas zum Thema!) glaubt Ihnen noch nicht einmal Ihre Großmutter!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11001
Eckart von Klaeden

(A) Aus parteipolitischer Sicht habe ich für Ihr Verhalten Herr Dr. Kohl, was Sie sich selbst zugestehen wollen, (C)
durchaus Verständnis. Wären Sie aufgrund einer Partei- nämlich das Ehrenwort über das Gesetz zu stellen, müss-
spendenaffäre in einer ähnlich schwierigen Lage, würden ten Sie doch auch jedem Bürger der Bundesrepublik
wir es genauso machen. Darauf können Sie sich verlassen. Deutschland zugestehen, und das wäre für unsere
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Das ist endlich ein- Rechtsordnung untragbar. Dies ist ein Skandal!
mal ehrlich!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Sie müssen aber doch wenigstens die Gesetze der Logik DIE GRÜNEN)
einhalten. Wenn Sie also zwischen illegalen Spenden und Die Zusammenarbeit zwischen den CDU/CSU-Mit-
einer angeblichen Käuflichkeit einen Zusammenhang gliedern im Untersuchungsausschuss und dem Zeugen
herstellen wollen, dann müssen Sie doch zunächst einmal Helmut Kohl ist ein weiterer Skandal. Am Donnerstag
die Käuflichkeit beweisen oder zumindest bei Ihrer Tätig-
vergangener Woche wollte man die Treffen zwischen
keit im Untersuchungsausschuss den Willen an den Tag
Schmidt und Kohl noch vertuschen. Dann wurden sie
legen, diesen Vorwürfen überhaupt nachzugehen.
heruntergespielt. Auf Druck musste man schließlich zu-
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE geben: Die Treffen fanden systematisch statt, nämlich im-
GRÜNEN]: Ich nenne keine Namen, hat Herr mer vor wichtigen Zeugenaussagen, und dabei wur-
Kohl gesagt!) de – im Beisein von Mitarbeitern – über Inhalte des Un-
Nein, für Sie stand das Urteil bereits vor der Untersu- tersuchungsausschusses gesprochen.
chung fest. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört!
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Hört!)
GRÜNEN]: Quatsch! – Dr. Peter Danckert Trägt das zur Aufklärung durch den Untersuchungsaus-
[SPD]: Die Zahlungen stehen fest!)
schuss bei oder ist das nicht vielleicht doch Vertuschung?
Für Sie stehen die Beweisergebnisse fest, ohne zuvor eine
Ob man die Pflichten eines Abgeordneten im Untersu-
Beweisaufnahme durchgeführt zu haben.
chungsausschuss sinngemäß aus der Strafprozessordnung
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Es ist doch Geld ableitet oder aus den gewachsenen Verhaltensregeln für
geflossen!) jene Mitglieder, ist unwichtig. Fest steht: Wenn Herr
Das ist kein rechtsstaatliches Verfahren. Schmidt jederzeit mit Herrn Kohl über Inhalte des Unter-
suchungsausschusses reden möchte, dann darf er nicht
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mitglied des Untersuchungsausschusses bleiben.
DIE GRÜNEN)
(B) Damit schaden Sie nicht nur dem Ansehen des Untersu- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (D)
GRÜNEN und der PDS)
chungsausschusses, sondern dem des ganzen Parlaments.
Dass die CDU/CSU ihre Pflichten im Untersuchungs-
(Beifall bei der CDU/CSU – Detlev von
ausschuss durchaus kennt, zeigt sich daran, dass der stell-
Larcher [SPD]: Das ist auch so ein „brutalst-
vertretende Ausschussvorsitzende, Herr Friedrich, es ab-
möglicher Aufklärer“!)
gelehnt hat, mit dem Zeugen Erich Riedl zu reden.

Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner für (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
die SPD-Fraktion ist der Kollege Frank Hofmann. Umso mehr verwundert es mich, dass er bei Helmut Kohl
antanzt.
Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Frau Präsidentin! (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
Meine Damen und Herren! Herr von Klaeden, es geht GRÜNEN]: Herr Dr. Kohl!)
nicht darum, hier Gesetze der Logik einzuhalten, sondern
darum, dass Sie Gesetze einhalten müssen. Lässt man den gestrigen Beitrag seitens der Union Re-
vue passieren, hat man wieder Steilvorlagen für das his-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE torische Geschwätz des Zeugen Kohl.
GRÜNEN und der PDS)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
Unter dem Eindruck der Ausschusssitzung des gestri-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
gen Abends muss ich hier noch einmal sagen: Herr
Dr. Kohl, nennen Sie die Namen der Spender! Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Steht es Ihnen
zu, von Geschwätz zu reden? Ich denke, das
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sind Aussagen!)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
PDS) Zeigt sich bei Herrn Schmidt eigentlich Unrechtsbe-
wusstsein? Ja, vergangenen Donnerstag mussten Kohl
Können Sie mir darin nicht zustimmen, meine Damen und und Schmidt zugeben, dass es nicht nur Gespräche am
Herren von der CDU/CSU? Rande des Plenums, sondern auch systematische Treffen
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Haben wir in gab.
dem Punkt einmal widersprochen, Herr (Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: Hat
Hofmann?)
er doch eine Woche vorher gesagt! Geben Sie
Ist das Ihre Art der Aufklärung? das doch einmal zu!)
11002 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Frank Hofmann (Volkach)

(A) Auf Nachfrage im Untersuchungsausschuss erklärte Kohl, im Grundgesetz verankerten Untersuchungsausschuss (C)
diese Treffen seien auf seinen Wunsch zustande gekom- Ihren Dienst!
men. Aus dem Kalender von Frau Weber ergibt sich je- Danke.
doch, dass es sich um eine Art Jour fixe handelte, immer
terminiert vor wichtigen Zeugenaussagen. Herr Schmidt (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
musste eingestehen, dass die Treffen mit Helmut Kohl GRÜNEN und der PDS)
auch auf seine Initiative hin zustande gekommen sind.
(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Was heißt Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die F.D.P.-Frak-
„eingestehen“?) tion spricht jetzt der Kollege Dr. Max Stadler.

Hätte Herr Schmidt kein schlechtes Gewissen gehabt,


Dr. Max Stadler (F.D.P.): Frau Präsidentin! Liebe Kol-
hätte er die Karten an diesem Donnerstag vollständig auf leginnen und Kollegen! In der Aufgeregtheit der letzten
den Tisch gelegt und hätte nicht rumgeeiert. Tage hat es einige retardierende Momente gegeben, bei
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ denen man den Eindruck gehabt hat – das war zum Bei-
DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Evelyn spiel am Ende der Ausschusssitzung am letzten Donners-
Kenzler [PDS]) tag oder auch heute Vormittag bei einer Diskussion zwi-
schen Herrn Schmidt, Herrn Wend und mir der Fall –, es
Herr Schmidt denkt und handelt wie ein „Kohlianer“. gebe in diesem Parlament noch ein Bewusstsein dafür,
Treffend wird er in der heutigen Ausgabe der „Süddeut- dass dieser Untersuchungsausschuss auf eine ganz kriti-
schen Zeitung“ als Kleinausgabe von Helmut Kohl be- sche Situation hinsteuert, nämlich eine Situation, die das
zeichnet. Er gehört zu den Marionetten an den Fäden Institut Untersuchungsausschuss schlechthin infrage
Kohls und hält das System Kohl mit am Leben. Er be- stellt.
schädigt das Ansehen des Parlaments und des Untersu- (Beifall der Abg. Cornelia Pieper [F.D.P.]
chungsausschusses und ist deshalb nicht weiter tragbar. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Eine Zusammenarbeit ist unzumutbar. So wie jetzt in dieser Aktuellen Stunde agiert wird, habe
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ich allerdings nicht den Eindruck, dass dies allen klar ist.
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der F.D.P.)
Die parlamentarische Kultur und die politische Hy- Meine Damen und Herren, hören Sie sich draußen ein-
giene erfordern, mal um, wie dieser Untersuchungsausschuss wahrgenom-
men wird. Er ist lange Zeit als inkompetent und erfolglos
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Dafür sind Sie
(B) wahrgenommen worden. Jetzt werden seine Mitglieder (D)
der Garant!) als befangen wahrgenommen. Man merkt, dass die Er-
dass man nicht einfach zur Tagesordnung übergeht, son- kenntnis noch nicht überall vorgedrungen ist, dass jetzt
dern Konsequenzen zieht. Herr Merz und Frau Merkel, eine Diskussion um das Selbstverständnis solcher Unter-
ziehen Sie Konsequenzen! Herr Merz und Frau Merkel, suchungsausschüsse einsetzen muss.
ziehen Sie Herrn Schmidt aus dem Untersuchungsaus- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
schuss zurück! der PDS)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Bevölkerung erwartet von uns – dazu gibt das ge-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der samte Parlament den Mitgliedern der Untersuchungsaus-
PDS – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: schüsse den Auftrag –, dass wir schwierige Sachverhalte,
Und Herrn Kohl aus dem Bundestag!) deren Aufklärung im öffentlichen Interesse liegt, untersu-
chen, und zwar durchaus – das ist ja nicht verbo-
Ich habe allerdings den Eindruck, dass die Fraktions- ten – von einer eigenen Position herkommend, aber mit
spitze dies überhaupt nicht will. Sie wurde nach Aussage der Bereitschaft, am Ende zu akzeptieren, was die Unter-
von Herrn Schmidt über die Treffen informiert; er hat suchung erbracht hat. Dazu gehört, dass man es nicht bei
Herrn Repnik informiert. Ist der Fraktionsvorsitzende Lippenbekenntnissen belässt, wenn man von der Bereit-
Merz auch informiert worden? Ist er vielleicht in diesen schaft zu umfassender Aufklärung spricht.
Fällen nur ein vorgeschobener Posten im weiter funktio- (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem
nierenden System Kohl? BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge-
ordneten der CDU/CSU und der PDS)
(Lachen bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt
[Salzgitter] [SPD]: Alles „Kohlianer“!) – Vorsicht, Herr Schmidt, Sie klatschen zu früh. – Denn in
einer Befragung nur Stichworte für Monologe zu geben,
Herr Merz und Frau Merkel, wenn Sie sich vom Sys- die am zweiten Donnerstag wortgleich wie am ersten
tem Kohl lösen wollen, dann können Sie jetzt die richti- Donnerstag wiederholt werden, und dann immer noch zu
gen Zeichen setzen. Entsenden Sie ein neues Mitglied in sagen, der Zeuge komme hier nicht zu Wort, das ist es
den Untersuchungsausschuss, das keine krummen Touren nicht.
macht, sondern tatsächlich aufklären will! Entsenden Sie
jemanden, der weder der Kumpanei noch der Komplizen- (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND-
schaft verdächtig ist! Entsenden Sie jemanden, der nicht NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Wider-
spruch bei der CDU/CSU)
in die Fußstapfen Schmidts tritt, sondern auf eigenen
Füßen steht! Erweisen Sie dem Parlamentarismus, dem – So war es gestern.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11003
Dr. Max Stadler

(A) Wir brauchen, wie gesagt, nicht Lippenbekenntnisse, äußere Anschein vermieden wird, sie seien nicht mehr (C)
sondern die echte Bereitschaft zu umfassender Auf- unabhängig.
klärung. Aber wir brauchen auch die Bereitschaft und die
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
Souveränität, an einem Ausschusstag nach der Beweis- SPD)
aufnahme vor die Fernsehkameras zu treten und zu erklä-
ren, heute habe sich ein bestimmter Verdacht, der zum Es kommt nicht darauf an, was bei solchen Begegnungen
Beispiel gegen die frühere Bundesregierung erhoben wor- im Einzelnen genau besprochen wird. Die Grenzlinie ist
den sei, nicht oder noch nicht erwiesen. schon vorher überschritten. Wer das von außen beobach-
tet, kann nicht mehr glauben, dass ein solches Aus-
(Beifall bei der F.D.P.) schussmitglied unbefangen ist.
Auch diese Souveränität wird von Ausschussmitgliedern (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND-
verlangt; ich vermisse sie bei anderen. NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Meine Damen und Herren, wir sind nicht blauäugig. Wenn wir aus dieser Krise der Untersuchungsaus-
Wir wissen genau, dass das, was unsere Fraktionen er- schüsse etwas lernen wollen, dann ist es höchste Zeit, an
warten, in einem ziemlichen Gegensatz zur Erwartung der die Gesetzgebung zu gehen und noch in diesem Jahr das
Öffentlichkeit steht. Unsere Fraktionen – reden wir nicht Untersuchungsausschussgesetz zu verabschieden, und
darum herum – wollen, dass das Ausschussergebnis so ist, zwar mit den von uns vorgeschlagenen Ergänzungen, die
dass jeweils die eigene Fraktion möglichst ungeschoren bisher in beiden Entwürfen nicht enthalten sind. Es wäre
davonkommt und bei den anderen möglichst viel hängen etwas gewonnen, wenn wir uns für die Zukunft darauf ei-
bleibt. Dazu sollen wir durch unsere Tätigkeit beitragen, nigen könnten, das Institut Untersuchungsausschuss so zu
das ist die Erwartung, die an uns gestellt wird. gebrauchen, dass es in der Öffentlichkeit dem Parlament
(Detlev von Larcher [SPD]: Nein, wir sollen an Ansehen zuträgt und nicht nimmt.
aufklären!) Das ist nicht blauäugig oder idealtypisch gedacht, das
In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns. ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit.
Ich sage Ihnen dazu eines: Wer hier meint, dass ein (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND-
Untersuchungsausschuss ausschließlich ein politisches NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Kampfinstrument ist, der legt die Hand an die Wurzel die-
ses Instituts. Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die PDS-Fraktion
(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND- spricht die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler.
(B) (D)
NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei
Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Frau Präsidentin! Liebe
Denn dann können Sie die Diskussion überhaupt nicht Kolleginnen und Kollegen! Die letzten beiden Wochen
mehr vermeiden, und diese Diskussion hat durch die ein- waren für unseren Untersuchungsausschuss wirklich
drucksvolle Darlegung von Burkhard Hirsch in der letz- ereignisreich, allerdings im negativen Sinne. Der von
ten Woche noch gewonnen. der Bundesregierung eingesetzte Sonderermittler, Herr
Burkhard Hirsch, wies in seinem Bericht nach, dass Da-
(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND- tenlöschungen und Aktenvernichtungen in unglaubli-
NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) chem Umfang im Bundeskanzleramt im Zusammenhang
Ich konnte dabei nicht verstehen, dass man, bevor man mit dem Regierungswechsel vorgenommen wurden, dass
den Bericht kannte, gesagt hat, Burkhard Hirsch sei nicht es zwischen der Einsetzung von Untersuchungs-
unparteilich. ausschüssen in der 12. und 13. Wahlperiode und der Ver-
nichtung sowie Manipulation von Akten einen unmittel-
Diese Diskussion wird auf Folgendes hinauslaufen: Es baren zeitlichen sowie inhaltlichen Zusammenhang
ist womöglich besser, solche schwierigen Sachverhalte gibt und dass Akten für die entscheidungsrelevanten
durch unabhängige Dritte, externe Untersuchungsführer Zeiträume nicht mehr aufzufinden sind.
überprüfen zu lassen, als sie den Parlamentariern in die
Hand zu geben, wenn Sie sich dieses Instruments weiter- Das bestärkt mich in meiner Auffassung, dass es sich
hin so bedienen, wie das in den letzten Wochen auf allen hierbei nicht um einen losgelösten Vorgang der Aktenver-
Seiten geschehen ist. nichtung zum Ende der Regierungszeit Kohl handelt, son-
dern dass die Klärung der immer noch offenen Fragen,
Deswegen ist es jetzt höchste Zeit, dass hier Beson- wer aus welchem Grund welche Akten vernichtet bzw.
nenheit einkehrt und wir uns an einen Tisch setzen. Es welche Aktenbestände „geflöht“ – so die Ausdrucksweise
gibt dazu Gelegenheit, weil auf Antrag der F.D.P.-Frak- eines früheren Mitarbeiters im Kanzleramt – hat, eine
tion und auf Antrag der Koalitionsfraktionen Gesetzent- Schlüsselaufgabe zur Erfüllung unseres Untersuchungs-
würfe über das Recht des Untersuchungsausschusses vor- auftrags ist.
liegen. Im Zuge der Beratungen muss klargestellt wer-
(Beifall bei der PDS und der SPD)
den, dass die Ausschussmitglieder unabhängig und nicht
weisungsgebunden sind. Die Mitglieder müssen sich aber Eigentlich reicht schon dieser Aktenvernichtungsskan-
auch so verhalten, Herr Kollege Schmidt, dass schon der dal. Aber die CDU sattelt noch eines drauf. Ich frage mich
11004 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Dr. Evelyn Kenzler

(A) wirklich ernsthaft: Was hat Sie geritten, quasi regel- Ich halte die hierzu von der F.D.P.-Fraktion gemachten (C)
mäßige erweiterte Arbeitsgruppensitzungen Ihrer Aus- Vorschläge für eine sinnvolle Diskussionsgrundlage, um
schussmitglieder zusammen mit Helmut Kohl, einem der möglichst zügig zu einer Einigung zu kommen. In jedem
wohl wichtigsten Zeugen, durchzuführen, und das auch Fall ist eine Verständigung noch vor Verabschiedung des
noch mit Zustimmung Ihrer Fraktionsführung? Untersuchungsausschussgesetzes erforderlich.
(Beifall bei der PDS, der SPD und dem Zum Schluss sei mir noch eine Bemerkung erlaubt:
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir jetzt nicht trotz aller Zuspitzung und parteipo-
litischem Geklapper der letzten beiden Wochen schleu-
Zu der weitgehend geschlossenen Front von schwei-
nigst auf die Sach- und Arbeitsebene zurückkehren, lau-
genden und höchst vergesslichen Zeugen und zu dem Di-
fen wir Gefahr, uns immer weiter vom Untersuchungsge-
lemma, dass wir uns mit zum Teil dürren Aktenfragmen-
genstand zu entfernen und den letzten Kredit, den der
ten herumschlagen müssen, kommt nun auch noch der
Ausschuss noch in der Öffentlichkeit besitzt, zu ver-
Verdacht der zielgerichteten Absprache von Zeugenver-
spielen.
halten unter Beihilfe von CDU-Ausschussmitgliedern.
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
Herr Kollege Schmidt hat zwar in seiner gestrigen Ver-
der SPD)
nehmung als Zeuge vor dem Ausschuss erklärt, dass er
seine Rechte und Pflichten kenne und er keinerlei Ab- Wir sollten deshalb trotz aller berechtigten Kritik die
sprachen mit Helmut Kohl im Hinblick auf dessen oder heutige Debatte dazu nutzen, zu einem vernünftigen Ar-
das Verhalten anderer Zeugen getroffen habe. Er lieferte beitsklima zurückzufinden, denn dieser Ausschuss hat ei-
aber keine plausible Erklärung dafür, dass er und weitere nen wichtigen Auftrag zu erfüllen und darf nicht in erster
seiner Ausschusskollegen sich jeweils zeitnah, das heißt Linie dem politischen Selbstzweck dienen.
in der Regel einen Tag vor wichtigen Zeugenvernehmun-
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
gen, mit Helmut Kohl getroffen haben. Wenn es jeweils
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
nur um informatorische bzw. orientierende Gespräche zu
NEN und des Abg. Dr. Guido Westerwelle
den Komplexen Leuna/Minol und Saudi-Arabien ging,
[F.D.P.])
fragt man sich nach wie vor, warum man sich hierzu je-
weils einen Tag vor der Vernehmung von Zeugen zu ganz
anderen Themenkomplexen zusammengesetzt hat, und Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächste Rednerin ist
dies in der für den Ausschuss kostbaren Vorbereitungs- die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.
zeit.

(B) (Beifall bei der PDS) Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
Ich wundere mich, dass niemand auf die Idee gekom- gen! In dieser Debatte geht es um die politische Kultur in
men ist, die jeweiligen Themenkomplexe in Klausurta- diesem Land. Es geht um Lauterkeit und Integrität von
gungen abzuhandeln und hierzu auch noch einen größe- Politik und um Ehrenhaftigkeit von Politikern und Politi-
ren Kreis von Mitgliedern der Fraktion einzuladen. kerinnen.
(Heiterkeit und Beifall bei der PDS)
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Aber vielleicht bekommen wir Obleute aus den anderen SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
Fraktionen für Ihre nächsten informellen Treffen sogar
Es geht um Moral und Politik. Es geht um den Umgang
eine Einladung.
mit der Verfassung und um die Achtung von Gesetzen,
Der politische Anstand, lieber Kollege Schmidt, hätte also um den demokratischen Konsens. Es geht um die Zu-
es aufgrund des dringenden Verdachts zielgerichteter kunft der Demokratie, denn sie basiert auf Glaubwürdig-
Zeugenabsprachen geboten, dass Sie als Obmann Ihrer keit und Transparenz. Es geht aber auch um den Verweis
Fraktion im Ausschuss die entsprechenden Konsequenzen auf Ehrenworte, die höchst unehrenhaft sind, und das Be-
ziehen; so sehr ich bedaure, Ihnen dies sagen zu müssen. stehen darauf.
(Beifall bei der PDS) Wenn Politik in den Geruch kommt, korrupt zu sein,
wenn sie mit bemakeltem Geld beeinflusst wird, kommt
Nach dem Verlauf des gestrigen Tages und insbesondere
bemakelte, dubiose Politik heraus. Dies muss notwendi-
auch dem Eingeständnis, dass diese intensiven Konsulta-
gerweise zu einem dramatischen Ansehensverlust führen,
tionen mit Billigung der Fraktionsspitze stattgefunden
der eine Bedrohung für die Demokratie ist und ihr sehr
haben, ist dies jedoch kaum noch zu erwarten.
großen Schaden zufügt. Dies war die Ausgangsposition
Der ganze Vorgang ist Ausdruck des Dilemmas, in dem des Untersuchungsausschusses. Dies ist der Anfangsver-
sich die CDU-Führung befindet. Einerseits will sie ihren dacht.
großen Altvorsitzenden retten, kann sich andererseits aber
Ich erinnere an die Phase der öffentlichen Beteuerun-
nicht von ihm lösen. Ihr ist das Unbehagen über Helmut
gen der CDU/CSU, „rückhaltlos“ – ich kann das Wort ei-
Kohls uneinsichtige Haltung sehr anzumerken.
gentlich nicht mehr hören – aufklären zu wollen. Man
Es wird deshalb höchste Zeit, Verhaltensregeln bzw. ei- wolle dazu beitragen, dass offene Fragen beantwortet und
nen Ehrenkodex für das Verhalten von Ausschussmitglie- objektive Verdachtsmomente entkräftet werden. Man er-
dern gegenüber Zeugen interfraktionell zu verabreden. innere sich an die großen, hehren Worte und den Gestus
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11005
Claudia Roth (Augsburg)

(A) vom Neuanfang und von nachhaltiger Aufklärungsbereit- Aber es ist mehr als freche Provokation, denn es bringt (C)
schaft. Was ich in den letzten Tagen und Wochen im den ganzen Ausschuss in Misskredit. Es ist eine beispiel-
Untersuchungsausschuss erleben musste, verkehrt diese lose Erosion, ein beispielloser Verfall der politischen Sit-
Ankündigungen in hohle Phrasen und ins pure Gegenteil. ten. Deswegen hat der Ausschuss beschlossen, die
CDU/CSU-Fraktion aufzufordern, Sie zurückzuziehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wo, bitte schön, sind der Neuanfang und die Auf- Es wird sehr deutlich, dass Neuanfang nicht nur heißt,
klärungsbereitschaft, wenn Dr. Kohl in einer Art von Führungskräfte auszuwechseln und ansonsten Gras über
selbstgerechtem Autismus in der Pose des Staatsmannes den Skandal wachsen zu lassen nach dem Motto: Die Zeit
erstarrt, wenn er sich selbst auf das historische Podest er- läuft eh für uns. Wissen Sie was: Die Zeit läuft gegen die
hebt, um sich dann mit all seiner Halsstarrigkeit Demokratie in Deutschland; das ist das Schlimme.
(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
NEN]: Altersstarrsinn!) bei der SPD und der PDS)
selber zu stürzen, wenn er verkündet: Ich denke gar nicht Dazu trägt die CDU/CSU aktiv bei. Sie trägt dazu – das
daran, Namen zu nennen? – Das unehrenhafte Ehrenwort, bedauere ich am allermeisten – mit immer unappetit-
es bleibt die Richtschnur des Handelns und nicht Recht licheren und unanständigeren Mitteln bei. Ich finde es un-
und Gesetz. anständig und unappetitlich und erbärmlich, wie Sie ver-
sucht haben, Burkhard Hirsch zu diskreditieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
PDS) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
PDS)
Es gibt keine Spur von Unrechtsbewusstsein, sondern nur
Attacken auf den politischen Feind. In solchen Kategorien Burkhard Hirsch ist ohne jeden Zweifel – das sage ich
denkt Dr. Kohl: Tiraden gegen die Presse, historische Ver- nicht, weil ich einmal Jungdemokratin war – eine der in-
gleiche, die wirklich jeder Beschreibung spotten. tegersten Persönlichkeiten der Bundesrepublik Deutsch-
land. Was Sie mit dem Mittel der politischen Diskreditie-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
rung versucht haben, soll vom eigenen Skandal ablenken,
und bei der SPD)
der Vorstellungskräfte sprengt. Systematisch wurden Da-
Das System Kohl, es schlägt um sich: Vertuschen, Ver- ten, Akten vernichtet, manipuliert, wurde ein Anschlag
drängen, Verdecken, Vergessen. auf das Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland ver-
(B) übt. Es ist nicht nur Ihr Gedächtnis. (D)
Aber es ist eben nicht nur Helmut Kohl, sondern
auch – ich bedauere das sehr – Andreas Schmidt, der Ob- (Beifall bei Abgeordneten der PDS)
mann der CDU/CSU-Fraktion, der dieses System, diese
Es ist auch das Gedächtnis meiner – Kinder habe ich
Logik stützt und allerspätestens gestern gezeigt hat, was
nicht – Neffen und Nichten und deren Kindern. Es handelt
er vom großen Meister alles gelernt hat.
sich um Akten, die Regierungshandeln nachvollziehbar
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- machen. Diese Vernichtung war keine Panne, sie war kein
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Zufall und sie war kein Umzugsschwund, sondern sie war
System. Jetzt müssen Sie beantworten, warum genau die
Er war es, der Ausschusssitzungen mit Dr. Kohl kontinu-
Akten verschwunden sind, die exakt etwas mit dem Un-
ierlich, systematisch und akribisch vorbereitet hat. Er hat
tersuchungsgegenstand zu tun haben. Was dem Fass – ich
also gelernt, dass Verhaltensnormen in einem Untersu-
sage es jetzt als Schwäbin – de Bode endgültig naushaut,
chungsausschuss für ihn scheinbar nicht gelten, dass die
ist, zu sagen, die neue Regierung sei für diese Vernichtung
Pflicht der Abgeordneten, sich lauter und ehrenhaft zu
verantwortlich, wie er es gestern getan hat. Aber es gibt ja
verhalten, für ihn scheinbar nicht gilt; denn das würde und
noch den gesunden Menschenverstand und da wird klar,
müsste bedeuten, Herr Schmidt, das Verbot der Kollabo-
wie abenteuerlich eine solche Behauptung ist.
ration
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Junge, Junge,
und bei der SPD)
Junge! Unglaublich!)
mit den Personen zu beachten, deren Verhalten Gegen-
Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin Roth,
stand der Untersuchungen ist.
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Herr Schmidt, Sie haben gelernt, sich mit beachtlicher
Chuzpe uneinsichtig und unbelehrbar zu zeigen. Anstatt
Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gestern Einsicht walten zu lassen, haben Sie angekündigt,
NEN): Letzter Satz: Ich fordere im Sinne der Demokratie
dass Sie genauso weitermachen wie bisher. Ich muss Ih-
in diesem Land die neue CDU/CSU-Führung wirklich
nen sagen, Herr Schmidt: Eine solche Frechheit macht
und aufrichtig auf, sich nicht zurückzuhalten, nichts still-
mich wirklich fast sprachlos.
schweigend zu billigen. Ich fordere Herrn Merz auf, von
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem „Ich muss mich schützend vor Kohl stellen“ abzu-
und bei der SPD) kehren. Beweisen Sie endlich, dass Moral und Politik kein
11006 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Claudia Roth (Augsburg)

(A) Widerspruch sind, sondern dass Moral in die Politik Als ehemaliger Richter eines Obergerichts in Hessen (C)
gehört. Wenn sie sich widersprechen, dann kommt unmo- muss ich sagen: Ich kann nur den Kopf darüber schütteln,
ralische Politik heraus. wie einige – je nachdem, wie es ihnen passt – den Unter-
suchungsausschuss in die Nähe eines Gerichtsverfahrens
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
rücken. Weder die objektiven Kriterien – faires Verfahren,
bei der SPD und der PDS)
Beweislast, rechtsstaatliche Grundsätze – noch die sub-
jektiven Voraussetzungen, die an ein Mitglied zu stellen
Vizepräsidentin Petra Bläss: Der nächste Redner in sind – Herr Ströbele, dazu gehört unter anderem auch der
der Debatte ist Kollege Dr. Jürgen Gehb für die Mangel an rechtskräftiger Verurteilung – dienen dazu,
CDU/CSU-Fraktion. dieses Verfahren wie ein Gerichtsverfahren zu führen.
(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Frau Präsidentin! NEN]: Wieso reden Sie denn mit einem Terro-
Meine Damen und Herren! Tonart, Vokabular und Laut- risten? – Hans-Christian Ströbele [BÜND-
stärke meiner Vorrednerin zwingen mich jetzt, Folgendes NIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie schon die
auszuführen: Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit IPA-Regeln gesehen, was da drinsteht?)
einer gesetzlichen Regelung des Untersuchungsausschus-
ses oder eines Ehrenkodexes muss ich sagen, dass ich den Herr Stadler, ich gebe Ihnen Recht: Es handelt
größten Ehrabschneider dieses Hauses, den früheren Ter- sich um eine gewisse Zwitterstellung. Nur, der Herr
roristenanwalt – und nicht nur Terroristenanwalt – Neumann ist mitnichten Vorsitzender einer Schwurge-
richtskammer, die Mitglieder des Ausschusses sind mit-
(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- nichten Geschworene und Herr Kohl ist in diesem Ver-
NIS 90/DIE GRÜNEN fahren auch nicht der Angeklagte.
für den denkbar schlechtesten Fürsprecher für die Forde- (Detlev von Larcher [SPD]: Machen Sie
rung eines irgendwie gearteten Ehrenkodexes halte, weiter so!)
meine Damen und Herren.
Ich will Ihnen sagen: Wenn Sie schon diese hohen Kau-
(Beifall bei der CDU/CSU – Detlev von telen fordern, muss natürlich auch das Maß gleich sein.
Larcher [SPD]: Das ist unglaublich! Schämen Nachdem mich die Vorrednerin provoziert hat, Herrn
Sie sich! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE Ströbele aufs Korn zu nehmen, will ich einmal auf Herrn
GRÜNEN]: Frau Präsidentin, haben Sie eine Neumann zu sprechen kommen:
Valiumspritze?)
(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) Das war die Provokation und die Antwort. Ich kann mich NEN]: Kommen Sie doch einmal auf sich zu (D)
nämlich des Eindrucks nicht erwehren, dass Herr Ströbele sprechen! – Susanne Kastner [SPD]: Ich würde
seinen Kriegspfad noch nicht verlassen hat. mich als CDU/CSU schämen für eine solche
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ Rede!)
DIE GRÜNEN]: Was darf der eigentlich alles Wie ist eigentlich das Telefongespräch zwischen ihm und
sagen?) einem der schillerndsten Figuren in diesem Komplex,
In meinem bisherigen politischen Leben bin ich davon nämlich Herrn Schreiber, zu bewerten?
ausgegangen, dass die politisch Andersdenkenden Kon- (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
kurrenten, allenfalls Gegner, aber jedenfalls keine Feinde DIE GRÜNEN – Frank Hofmann [Volkach]
sind. [SPD]: Darüber gibt es Vermerke!)
(Zurufe von der SPD: Aufhören!) Wenn der Herr Neumann einen entscheidungserheblichen
Diese an einen Vernichtungsfeldzug grenzende Kampa- Unterschied darin sieht, dass nicht er den Herrn Schreiber
gne, Herr Ströbele, angerufen habe, sondern mit der Bitte zurückzurufen Herr
Schreiber ihn, ist das eine groteske Einlassung.
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian
Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der
hat mich eines anderen, aber leider nicht eines Besseren Herr Schäuble hat von der schillernden Figur
belehrt. 100 000 DM genommen!)
(Beifall bei der CDU/CSU – Rezzo Schlauch Wenn die Konsequenz eines Gesprächs wie des Ge-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr davon, sprächs von Herrn Schmidt mit Herrn Kohl ist, dass man
wir wollen mehr hören! – Hans-Christian Herrn Schmidt als Zeuge benennt, dann muss sich der
Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Neumann auch als Zeuge benennen lassen.
Weiter!)
Das geht nicht anders, sonst wird hier mit zweierlei Maß
Damit auf den groben Klotz der Frau Roth ein grober gemessen.
Keil kommt, will ich zu dem Teil der Rede kommen, die
ich gehalten hätte, wenn Frau Roth nicht diese Töne an- (Beifall bei der CDU/CSU)
geschlagen hätte.
Allein die Einlassung, er habe offenkundige Tatsachen
(Detlev von Larcher [SPD]: Zugabe!) genannt, ist eine vorweggenommene Beweiswürdigung,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11007
Dr. Jürgen Gehb

(A) die hier nicht zulässig ist. Herr Ströbele, Sie stigmatisie- Systems Kohl, was ich in dieser Situation für unange- (C)
ren jeden Ihrer politischen Gegner und verdächtigen ihn, bracht halte.
er habe als mittelbarer Zeuge von den Spendernamen
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Kenntnis erhalten. Wer kennt denn eigentlich den Inhalt
GRÜNEN und der PDS)
des Gespräches zwischen Herrn Neumann und Herrn
Schreiber? Herr von Klaeden, ich möchte Ihnen etwas Weiteres
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sagen: Wenn Sie als jüngere Führungskraft in der CDU
GRÜNEN]: Er hat dies im Gegensatz zu Herrn nicht kapieren, dass Sie auf diesem Weg einhalten und
Schmidt mitgeteilt!) umkehren müssen, dann werden Sie Ihre Partei ins Ver-
derben führen, und daran kann niemand in unserem Land
Ich will mir nicht die Diktion von Herrn Ströbele zu Ei- ein Interesse haben.
gen machen und mich nicht mit Ihnen gemein machen, in-
dem ich den Vorwurf erhebe, hier würde eine Drehbuch- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
legende geschrieben. Wenn ich Ihre sophistische Art an DIE GRÜNEN)
den Tag legen würde, müsste ich sagen, Sie hätten genug Ich muss Ihnen deutlich sagen – Herr Repnik ist leider
Anlass gegeben. gerade herausgegangen –: Nach dem, was Herr Gehb hier
Wie ist zum Beispiel das Schreiben von Holzer an den geboten hat, hätte sich die CDU einen Gefallen getan,
früheren Bundeskanzler bereits am 27. September 1999 wenn sie ihn nicht als Redner nominiert hätte.
zum „Spiegel“ gelangt, obwohl erst am 13. Oktober der
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Kollege Beucher in seiner Anfrage vermeintlich den An-
DIE GRÜNEN)
lass zur Suche gegeben hat? Ich werde nicht behaupten,
dass dort Regie geführt wurde und der Regisseur im Er hat nicht nur andere Parlamentarier beleidigt. Wer in
Kanzleramt saß. unserem Lande angesichts der Tatsache, dass die CDU
(Lachen des Abg. Detlev von Larcher [SPD]) Schwarzkonten bei einer Frankfurter Privatbank geführt
hat, Unterlagen in einem Safe in der Schweiz gelagert und
Ich werde mich nicht mit ähnlich verleumderischen Ar- die Stiftung Norfolk in Liechtenstein gegründet hat, uns
gumenten oder in der gleichen Tonlage wie Sie hier prä- einen Vernichtungsfeldzug vorwirft, hat jedes Maß an
sentieren. Realitätssinn verloren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der CDU/CSU) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
(B) PDS) (D)

Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Gehb, Weder Herr von Klaeden noch Herr Gehb haben ver-
Sie haben das Stichwort „Tonlage“ gegeben. Bei allem standen, dass ich Herrn Schmidt nicht vorwerfe, er habe
Verständnis, dass der Gegenstand dieser Aktuellen Stunde mit Kohl kollaborierend den Untersuchungsausschuss in
manchmal das Temperament durchgehen lässt, muss ich die Irre führen wollen.
darauf hinweisen, dass dies dort seine Grenze findet, wo
Kolleginnen und Kollegen beleidigt werden. (Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]:
Das will ich ja auch nicht!)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN und der PDS) Ich werfe ihm Folgendes vor: Wer sich am Vorabend der
Zeugenvernehmung von Herrn Weyrauch, der für die
Ich möchte zumindest den Ausdruck „Ehrabschneider“ CDU Schwarzkonten bei einer Frankfurter Privatbank an-
zurückweisen. Dies ist kein Ordnungsruf, aber ich möchte gelegt hat, mit Herrn Kohl trifft, wer sich am Vorabend
Sie darauf verweisen, dass ein solcher Umgang mit Kol- der Vernehmung von Herrn Terlinden, der das Geld von
leginnen und Kollegen nicht dem Stile des Hauses ange- Herrn Kohl physisch entgegengenommen und an Herrn
messen ist. Weyrauch weitergeleitet hat, aber vor dem Ausschuss
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ schweigt, mit Herrn Kohl trifft und wer dann zwei Tage
DIE GRÜNEN und der PDS) vor der Vernehmung Kohls mit diesem Termine in seinem
Büro vereinbart und sich von der Zeugin Weber den Kaf-
Ich erteile jetzt dem Kollegen Rainer Wend für die
SPD-Fraktion das Wort. fee servieren lässt – wie Sie es uns noch nett geschildert
haben –, der erweckt den Eindruck, er sei als Mitglied des
Untersuchungsausschusses nicht mehr unabhängig.
Dr. Rainer Wend (SPD): Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Herr von Klaeden, ich Sie tun etwas, was ich schlimmer finde: Sie laufen Ge-
muss Ihnen vorab eines ganz deutlich sagen: fahr, im System Kohl wiederum von Ihrem früheren Ma-
tador missbraucht zu werden. Kohl baut doch wieder ein
(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs) Netz von Abhängigkeiten auf. Das ist ein Netz von Kum-
Was Sie hier vorgeführt haben, war nicht die von Ihnen paneien. Das ist ein Versuch, um am Ende Frau Merkel
immer wieder beschworene brutalstmögliche Aufklärung, und Herrn Merz wieder in eine Loyalität mit ihm zu zwin-
sondern vielmehr die brutalstmögliche Verteidigung des gen, um zu verhindern, dass die CDU den endgültigen
11008 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Dr. Rainer Wend

(A) Bruch mit ihm vollzieht, Herr Schmidt. Vollziehen Sie sein System erst einmal etabliert hatte – nur noch we- (C)
den Bruch und machen Sie keine Kumpanei mit Kohl! nig Verständnis für die Notwendigkeit und die
Schönheit der Gewaltenteilung gehabt. In seinen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Kabinettssitzungen saßen kunterbunt unter die
DIE GRÜNEN)
Minister gemischt die Anführer und Einpeitscher der
Ich habe vor einer halben Stunde eine Tickermeldung Parlamentsfraktionen; von seinem Kanzleramt aus
bekommen, in der es heißt: wurde derart ungeniert die Partei regiert, dass sich
Mehr als die Hälfte (51 Prozent) der Deutschen ist die Beamten, nachdem vor der Machtübergabe näch-
der Meinung, dass die Politik der Regierung von Alt- tens noch schnell die Festplatten gesäubert worden
Bundeskanzler Helmut Kohl ... käuflich war. waren, sogar noch darauf berufen haben, es habe sich
vor allem um CDU-Interna gehandelt. Als hätten die
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) etwas in der Regierungszentrale verloren.
Nur 38 Prozent aller Befragten glauben, dass die Meine Damen und Herren, hier ist in vortrefflicher Weise
einstige Regierung bei ihren Entscheidungen nicht beschrieben worden, was wir heute als System Kohl be-
bestechlich war, ... zeichnen und was Gott sei Dank der Vergangenheit an-
Ich sage Ihnen heute eines: So lange Sie nicht auch über gehören wird.
gerichtliche Schritte Helmut Kohl zwingen, die Namen Meine Damen und Herren, von diesem System
der Spender bekannt zu geben, solange Sie die Geheim- Kohl – ich will das ohne Polemik sagen – haben Sie in
nisse um die Safes in der Schweiz, um die Stiftungen in zum Teil sehr schwieriger Weise sich zu lösen versucht.
Liechtenstein und die Schwarzkonten einer Frankfurter Sie haben Ihre gesamte Parteispitze, Ihre gesamte Frakti-
Privatbank nicht aufklären können, so lange werden Sie onsspitze ausgewechselt, nachdem in Bruchteilen deut-
den Ruf nicht los, dass Ihre Regierung bestechlich war, lich geworden ist, was als System Kohl bezeichnet wird.
meine Damen und Herren. Das ist Ihre Aufgabe. Dafür haben Ihnen viele Kollegen aus dem Hause Respekt
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE gezollt, insbesondere der neuen Parteivorsitzenden. Ich
GRÜNEN und der PDS) erinnere an den Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen
Zeitung“ – er war in Ihren Reihen nicht unumstritten –
Deshalb habe ich die dringende Bitte an Ihre Partei- über die Abrechnung mit dem Ehrenvorsitzenden, den Sie
vorsitzende, Frau Merkel, und an Ihren Fraktionsvorsit- mittlerweile verloren haben.
zenden, Herrn Merz, dafür zu sorgen, dass Sie in Zukunft
in diesem Untersuchungsausschuss einen anderen Weg Meine Damen und Herren, die Berichte, die wir jetzt
gehen, Herr Schmidt. Verstehen Sie Ihre Hauptaufgabe im aus dem Untersuchungsausschuss bekommen und was
(B) Untersuchungsausschuss nicht darin, politisch gegen die wir in diesen Tagen hören, ist nichts anderes als die Ex- (D)
Sozialdemokratie zu kämpfen. Kämpfen Sie mit uns ge- humierung des Altkanzlers, die gegenwärtig in Vorberei-
meinsam dafür, dass der dunkle Schleier über dem System tung ist. Der Altkanzler soll als Denkmal und Symbol
Kohl gelüftet wird. Dann hätten wir alle gemeinsam etwas wieder auferstehen. Die neue Unionsführung schafft es
für unser Parlament und für die Arbeit im Untersu- gerade nicht, die Nabelschnur zu kappen. Sie laufen
chungsausschuss geleistet. herum wie geprügelte Kinder, die zwar über ihren Alten
schimpfen und jammern, sich aber trotzdem nicht von ihm
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
lösen können.
GRÜNEN und der PDS)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der PDS)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Der Kollege Bötsch
hat seine Rede, die er jetzt halten wollte, zu Protokoll ge- Frau Merkel und Herr Merz agieren ein bisschen so wie
geben.1) Ob dies in der Aktuellen Stunde möglich ist, lasse Flugschüler, die zwar eifrig am Steuer drehen, sich dann
ich heute dahingestellt sein, weil wir alle in die Sommer- aber bei Turbulenzen darauf verlassen, dass der alte Leh-
pause gehen wollen. rer noch immer den Kurs vorgibt und weiß, was richtig ist.
Deswegen erteile ich jetzt dem Kollegen Cem Özdemir Herr Kollege Schmidt, Sie setzen Ihr eigenes Fehlver-
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort. halten bewusst ein, den Ausschuss zu beschädigen und da-
mit das ganze Parlament und sein Ansehen zu demontie-
Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau ren. Einen Untersuchungsausschuss einzusetzen ist eines
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über den Gegen- der zentralen Rechte des Parlaments. Sie sind ein Teil des
stand der heutigen Diskussion stand in der „Süddeutschen wiedererstarkten Systems Kohl. Herr Schmidt, Sie kön-
Zeitung“ vom gestrigen Tage von Herbert Riehl-Heyse im nen es drehen und wenden, wie Sie wollen: Nach Ihrem
Feuilleton: Treffen mit dem Altkanzler haben Sie Ihre Glaubwürdig-
keit irreparabel beschädigt. Das allein wäre vielleicht
Das Parlament gibt sich in solchen Momenten auf – noch verkraftbar. Aber für die CDU, glaube ich, kommt
und es ist von großer innerer Logik, dass das im das einer Katastrophe gleich. Schaden haben nicht nur die
Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Ära Kohl Union und Herr Schmidt genommen. Schaden nehmen
so deutlich geworden ist. Helmut Kohl hat – als er wir alle: Schaden nimmt das Ansehen des Parlaments;
Schaden nimmt das Ansehen der Politik; Schaden nimmt
1) Anlage 5 das Ansehen jedes Politikers, der sich für Ziele und In-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11009
Cem Özdemir

(A) halte engagiert; denn wir alle setzen uns dem Verdacht gehöre dem Untersuchungsausschuss nicht an – vom Un- (C)
aus, dass das, was das System Kohl war, für uns alle gilt. tersuchungsausschuss ist: Er ist längst und ausschließlich
Deshalb appelliere ich: Gehen Sie weiter auf dem Weg, ein politisches Kampfinstrument geworden.
den Sie schon einmal eingeschlagen hatten! Die Union (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
war schon einmal weiter. Wir sind ja hier nicht im Ausschuss!)
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Er ist längst nicht mehr das Institut – ich nehme das auf,
GRÜNEN]: Da habe ich meine Zweifel!) was Herr Stadler gesagt hat – einer parlamentarisch-
Gegenwärtig laufen Sie mit Siebenmeilenstiefeln dorthin rechtsstaatlichen demokratischen Kontrolle zur Auf-
zurück, wo Sie angefangen haben, die Ära Kohl aufzuar- klärung von bestimmten Missständen oder Zuständen.
beiten. (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Für Ihren
Machen wir uns für den Bruchteil einer Sekunde – län- Teil gilt das!)
ger hält man es nämlich nicht aus – einmal den Spaß, uns Hier werden im Grunde systematisch Kampfstrategien
vorzustellen, was eigentlich passiert wäre, wenn es keinen gefahren. Dies setzt sich heute hier eindeutig fort.
Regierungswechsel gegeben hätte und wenn das, was wir
heute wissen, aufgedeckt worden wäre. Ich glaube, wir (Beifall bei der CDU/CSU – Detlev von
hätten es mit einer Staatskrise zu tun. Ich weiß, wovon ich Larcher [SPD]: Von wem denn?)
rede. Stellen Sie sich vor: Helmut Kohl wäre noch immer Der Großteil der Reden, die heute hier gehalten worden
Kanzler und die Union wäre, so wie sie sich gegenwärtig sind, besteht aus nichts anderem als aus der Wiederholung
präsentiert, die größte Regierungsfraktion und müsste das bestimmter Urteile oder Vorverurteilungen, nur mit dem
alles aufarbeiten. Unterschied – das ist offenkundig der formale Ansatz-
(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Dann wäre es ja nicht punkt für diese Debatte –, dass man jetzt ein neues Opfer
herausgekommen!) braucht. Das ist der Kollege Schmidt,
(Detlev von Larcher [SPD]: Guckt euch mal das
Wir haben inzwischen gesehen, dass die Union es noch
Opfer an! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜND-
nicht einmal schafft, sich vom Altkanzler loszulösen. Um
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist schon abenteu-
wie viel schwerer wäre es Ihnen gefallen, sich von einem
erlich, Täter und Opfer zu vertauschen!)
Kanzler zu lösen, der noch regiert hätte? Deshalb kann
man froh sein, dass es einen Regierungswechsel gegeben den man jetzt auch wegen irgendwelcher aus der Luft ge-
hat, der uns die Chance bietet, alles aufzuarbeiten. griffenen Dinge möglichst schnell verurteilen möchte.
Vernunft wird bei Ihnen zunehmend durch die Defi- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
(B) nition von Gefolgschaft ersetzt. Es wird nur noch gefragt: GRÜNEN]: Finden Sie das in Ordnung, Herr (D)
Bist du für oder bist du gegen Dr. Kohl? Es steht nicht Scholz?)
mehr die Frage im Mittelpunkt: Was ist eigentlich die Herr Hofmann hat Herrn Schmidt – Verzeihung, Frau Prä-
Wahrheit? Aber mit der Beantwortung dieser Frage soll- sidentin, ich wünschte mir, dass Ihre Vorgängerin das auf-
ten wir uns eigentlich beschäftigen. gegriffen hätte – wörtlich als „Komplizen“ bezeichnet.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Komplize wovon?
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Zurufe von der SPD: Von Kohl!)
PDS)
Es gibt bisher keine Erkenntnisse, die in irgendeiner
Die Union ist – ich glaube, ich spreche für die Mehr- Weise eine Verurteilung zulassen. Das Wort „Kollabora-
heit in diesem Hause – bedauerlicherweise nicht bereit teur“ – was ist denn das für ein Begriff? – haben Sie
bzw. noch nicht bereit – ich hoffe, dass sich die Bereit- ebenfalls gegenüber Herrn Schmidt benutzt. Ist das Ihr
schaft noch einstellen wird –, aus der Sackgasse des Stil,
Schweigens auszubrechen, in die sie sich hat führen las-
sen. Sie zahlen dafür einen sehr hohen Preis oder – wie es (Detlev von Larcher [SPD]: Was ist das für ein
von Brauchitsch im Titel seiner Memoiren genannt – den Stil, die Namen zu verschweigen?)
Preis des Schweigens. mit dem Sie das in der Tat schwierige, diffizile Feld eines
Untersuchungsausschusses bearbeiten?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der CDU/CSU – Detlev von
PDS) Larcher [SPD]: Reden Sie über die Namen! –
Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sagen Sie doch einmal was zu den
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile jetzt das
Sachverhalten, Herr Scholz!)
Wort dem Kollegen Professor Dr. Rupert Scholz,
CDU/CSU-Fraktion. Sie setzen hier nichts anderes fort als das, was Sie im
Untersuchungsausschuss bisher getan haben.
Dr. Rupert Scholz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Ich unterstreiche erneut das, was Herr Stadler gesagt
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man den hat: Der Untersuchungsausschuss ist ein wichtiges Insti-
bisherigen Verlauf der Aktuellen Stunde Revue passieren tut. Ein Untersuchungsausschuss hat sich aber an rechts-
lässt, dann wird das evident, was mein Eindruck – ich staatliche Verfahren zu halten. Es ist nicht gut, dass ein
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Dr. Rupert Scholz

(A) Untersuchungsausschuss nach dem sich inzwischen stän- Sie alle, die Sie entsprechende Gespräche geführt haben, (C)
dig wiederholenden Szenario abläuft: Eine Behauptung werden dann im Zeugenstand sein. Ich erinnere an das Ge-
wird in den Raum gestellt, anschließend kommt der große spräch mit dem unsäglichen Herrn Schreiber.
öffentliche Auftritt im Fernsehen – die Verdächtigung – (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
und dann muss sich irgendjemand exkulpieren. Das hat GRÜNEN]: Der Herr Schäuble hat von Schrei-
nichts mehr mit dem Prinzip eines objektiven Verfahrens, ber Spenden bekommen!)
bei dem es um Zeugenvernehmung geht, zu tun.
Ich fordere die Bundesregierung an dieser Stelle auf, end-
(Detlev von Larcher [SPD]: Sie verschleiern lich dafür zu sorgen, dass dieser Herr Schreiber ausgelie-
hier ja nur! Hören Sie doch auf!) fert wird, damit er endlich nach Deutschland kommt.
Die Strategie hinter der Diffamierung besteht darin, be- (Beifall bei der CDU/CSU – Detlev von
stimmte Personen in einen Rechtfertigungs-, einen Ex- Larcher [SPD]: Das ist ja nicht zu glauben! –
kulpationszwang zu versetzen. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
(Detlev von Larcher [SPD]: Darum geht es Ih- GRÜNEN]: Nichts zur Sache, Herr Scholz!)
nen doch gar nicht! – Hans-Christian Ströbele Wenn das geschieht, können Sie ihn im Untersuchungs-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie ein- ausschuss vernehmen und dann müssen Sie nicht telefo-
mal etwas zu den Fakten!) nieren. Das ist viel wichtiger. Aus meiner Sicht ist das das
Genau das gleiche Spiel veranstalten Sie jetzt mit dem Entscheidende.
Kollegen Schmidt und anderen Kollegen meiner Fraktion. Ein Schlusswort. Wenn Sie das Untersuchungsverfah-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ren in dieser Art, wie es heute im Plenum geschieht, fort-
GRÜNEN]: War das alles in Ordnung, was die setzen – weitere Diffamierungen, Verdächtigungen und
gemacht haben?) Ähnliches –, dann droht in der Tat das, was der Kollege
Stadler mit sehr berechtigter Ernsthaftigkeit zum Aus-
Es ist absolut legal und legitim – ich benutze sehr bewusst druck gebracht hat.
beide Worte –, dass in einer Situation wie der von Helmut
Kohl – er wollte vor Weihnachten aussagen; das wollen
Sie nicht; lieber fahren Sie die Szenarien mit immer neuen Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, wir
Verdächtigungen – selbstverständlich auch ein Stück Für- sind in der Aktuellen Stunde. Kommen Sie bitte um
sorge und Gewährleistung von rechtlichem Gehör stattge- Schluss!
funden hat.
(B) Dr. Rupert Scholz (CDU/CSU): Das wichtige parla- (D)
(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist ja nicht zu
glauben!) mentarische – natürlich immer umkämpfte – Institut Un-
tersuchungsausschuss droht in Gefahr zu geraten. Das
Wenn ich etwas aus diesem Untersuchungsausschuss sollten Sie sich immer vor Augen halten.
höre, dann frage ich mich manchmal: Hat man eigentlich
den Begriff des rechtlichen Gehörs noch im Sinn? Hat Danke.
man das verstanden? Zu einem Untersuchungsverfahren (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian
gehört auch rechtliches Gehör! Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: „Gehör“ ja, Nichts zur Sache, Herr Scholz! Ich würde gern
aber es sagt keiner etwas! Das ist das Pro- einmal wissen, ob das gut oder schlecht war,
blem! – Detlev von Larcher [SPD]: Wer soll Ih- was Herr Schmidt gemacht hat!)
nen noch etwas glauben nach dieser Rede?)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile nun dem
Das wird systematisch missachtet. Daher bleibt einer
Kollegen Peter Danckert, SPD-Fraktion, das Wort.
Fraktion wie der Union, die insgesamt vielfältig diskrimi-
niert und diffamiert wird, gar nichts anderes übrig, als
dass sie ihre Chancengleichheit zu wahren sucht. Dr. Peter Danckert (SPD): Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Scholz,
(Detlev von Larcher [SPD]: Klären Sie doch
Sie haben eben davon gesprochen, dass es um Diffamie-
selber auf!)
rungen und Verdächtigungen geht. Ich frage Sie: Was ist
Es gehört sich so, dass sie sich informiert und verständigt. denn mit den Millionen, mit den Schwarzgeldern? Han-
Das ist selbstverständlich. delt es sich dabei um Verdächtigungen oder um Fakten?
Wir wissen ja inzwischen, dass es sich um Tatsachen han-
Wenn Sie Mitglieder des Untersuchungsausschusses in
delt.
den Zeugenstatus erheben und sie damit, genau genom-
men, neutralisieren wollen – nichts anderes ist das –, dann (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
bedenken Sie bitte – das ist hier zu Recht angesprochen DIE GRÜNEN)
worden –, dass das Recht und die Pflicht für alle gelten.
Herr Scholz, was ist mit der Millionenspende, die Herr
(Detlev von Larcher [SPD]: Klären Sie doch Schreiber Herrn Kiep und damit der CDU gegeben hat?
die Wahrheit auf! Dann hört das alles auf!) Sind das Verdächtigungen? Was ist mit den 100 000 DM,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11011
Dr. Peter Danckert

(A) die Herr Schäuble bekommen hat? Handelt es sich um gar: als Marionette von Herrn Kohl. Diesen Ausdruck (C)
Verdächtigungen oder um Tatsachen? möchte ich gar nicht übernehmen, er ist aus der Zeitung.
Aber durch Ihre ständigen Besuche bei Herrn Kohl – man
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
hat fast den Eindruck, dass Sie pflichtbewusst dort hinge-
DIE GRÜNEN – Dr. Rupert Scholz [CDU/
gangen sind – haben Sie einen bösen Schein hervor-
CSU]: Schon wieder wird verdächtigt!)
gerufen.
Wir versuchen im Untersuchungsausschuss, die Tatsa-
Wenn Sie das wenigstens noch eingeräumt hätten, dann
chen, die uns bekannt sind, mit dem Untersuchungsauf-
hätten wir ja einen Weg gefunden, um gemeinsam mitei-
trag in Einklang zu bringen. Wir werden sehen, was am
Schluss herauskommt. Diese Punkte sind knallharte Fak- nander neue Verfahrensregeln zu vereinbaren. Mich hat
ten und keine Verdächtigungen. aber, ehrlich gesagt, betroffen gemacht, dass Sie darin
noch nicht einmal einen Fehler gesehen haben und kein
Nun zu dem, was uns eigentlich veranlasst hat, heute Wort dazu gesagt haben. Das hätte Ihnen dann auch kei-
diese Aktuelle Stunde durchzuführen. Herr Kollege ner übel genommen.
Schmidt, ich sage es ganz freimütig, auch wenn ich damit
teilweise etwas anderes sage als die Kollegen. Wenn es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nur um Ihre fünf bis acht Besuche bei Herrn Kohl gegan- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
gen wäre, dann hätte ich gesagt, das war ein grober Feh- PDS)
ler – das habe ich Ihnen gesagt –, aber das hätte diese Ak- In dem Moment, in dem Sie gesagt hätten: „Ich bekenne,
tuelle Stunde nicht erfordert. das war eine unbedachte Sache; ich glaubte, ich hätte et-
Wir müssen das aber im Zusammenhang mit aktuellen was Richtiges gemacht, aber ich sehe die fatale öffentli-
Ereignissen sehen. Uns liegen, wie Sie wissen, die Unter- che Wirkung“, wären wir wieder gemeinsam im Boot
lagen der Staatsanwaltschaft Bonn vor. Darunter befindet gewesen. Das ist jedenfalls meine Meinung.
sich ein Papier – Sie wissen, Kommissar Zufall hilft uns (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wie die Be-
da weiter – von Herrn Lüthje, nicht von uns. In diesem kanntgabe von Spendern! Boykottaufruf zum
eindrucksvollen Papier berichtet er von einem Drehbuch, Kauf oder Ausschluss aus der Partei! – Ulla
das 1984 und 1986 zur Rettung von Herrn Kohl erstellt Schmidt [Aachen] [SPD]: Euch fehlt das Un-
worden ist. Mit Falschaussagen hat man ihn damals vor
rechtsbewusstsein!)
dem Verlust der Kanzlerschaft gerettet. Das sind die Fak-
ten, die sich aus diesem Papier ergeben. Ich glaube, auch den Kollegen Stadler hat es unange-
nehm berührt, dass Sie bis zum heutigen Tage sagen: Das
Aufgrund der vielen Andeutungen, die Zeugen ge-
(B) macht haben, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es war richtig und – jetzt kommt’s – das mache ich weiter so. (D)
immer wieder Absprachen gegeben hat. Wir sind alle aufgerufen, darüber nachzudenken, ob
(Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: VS-Papier! – wir die Verfahrensregeln nicht so eindeutig gestalten, dass
Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: VS- Sie gar nicht mehr in die Versuchung kommen, so zu han-
Papier! Sie haben mit dem Verteidigungsminis- deln, wie Sie gehandelt haben. Das bedeutet, dass wir un-
terium gekungelt!) sere Regeln verändern müssen und wirklich ein vernünf-
tiges Untersuchungsausschussgesetz zustande bringen
Damit haben Sie allerdings ein Problem bekommen, da müssen, bei dem solche Dinge nicht mehr möglich sind.
auch Sie jetzt den Verdacht hervorgerufen haben, an ei- Ich finde, das ist unabweisbar.
nem weiteren Drehbuch mitzuwirken. Das ist der Punkt.
Auch wenn Sie, Herr Schmidt, an dieser Stelle nicht
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE das Amt eines Richters bekleidet haben, so sind Sie doch
GRÜNEN und der PDS – Andreas Schmidt
auch nicht der Rechtsberater von Herrn Kohl. Es muss Ih-
[Mülheim] [CDU/CSU]: Sie haben zusammen
nen doch einleuchten, dass Sie hier eine neutrale, zurück-
mit dem Verteidigungsministerium ein Dreh-
haltende Position einnehmen müssen und dass Sie die in
buch geschrieben! – Dr. Jürgen Gehb
[CDU/CSU]: Verschlusssachen werden plötz- dem Moment verlassen, sobald Sie den Zeugen perma-
lich zu öffentlichen Sachen!) nent besuchen.

– Regen Sie sich einmal ab, Herr Schmidt! Sie sind doch Es gibt hier für uns ja auch Regeln – Herr Scholz wird
derjenige, der das hier ausgelöst hat. mir das bestätigen –, die sich nicht nur aus der unmittel-
baren Anwendung der StPO ergeben, sondern auch aus
Auch wenn Sie nicht in richterlicher Funktion tätig ge- den IPA-Regeln, die besagen, dass die Zeugen unabhän-
wesen sind, müssten Sie meines Erachtens als An- gig voneinander nacheinander zu hören sind. Was macht
walt – nicht als Abgeordneter – so viel Sachverstand ha- es für einen Sinn, wenn Sie regelmäßig den Hauptzeugen
ben, um zu begreifen, dass Sie den bösen Schein vermei- über das, was abgelaufen ist, informieren? Es geht dabei
den müssen. doch gar nicht um Zeugenbeeinflussung, sondern um
(Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: Informationen.
Sagen Sie etwas zu Ihrem Drehbuch!)
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das geht auch
Den haben Sie doch zumindest durch Ihre Aktivitäten im per Telefon! – Andreas Schmidt [Mülheim]
Umfeld von Herrn Kohl hervorgerufen. Jemand sagte so- [CDU/CSU]: Das ist eine öffentliche Sitzung!)
11012 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Dr. Peter Danckert

(A) – Eine öffentliche Sitzung? Dann können wir es gleich so ben, Freude ausgelöst hat, hat der Freudentaumel bei (C)
machen, Herr Schmidt, dass wir alle Zeugen in den Zu- Herrn Kohl in der anschließenden Vernehmung offen-
schauerraum bitten, damit sie dort Platz nehmen und alles sichtlich einiges durcheinander gebracht.
hören können.
Da setzt er doch mit unglaublicher Unverfrorenheit die
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Sie wollten Behauptung in die Welt, das Kanzleramt unter Gerhard
das doch im Fernsehen übertragen!) Schröder habe mit der Aktensuche im Oktober 1999 ge-
zielt diesen Untersuchungsausschuss vorbereitet. Er be-
Gerade das soll durch die Übernahme der IPA-Regeln und
zieht sich dabei auf ein Papier, das genau das Gegenteil
die unmittelbare Anwendung der Strafprozessordnung
aussagt: Die Aktivitäten des Kanzleramtes im Oktober be-
unterbunden werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
zogen sich nämlich auf eine Anfrage von mir. Ich habe
mich dabei tatsächlich auf einen Untersuchungsausschuss
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, denken bezogen. An Herrn Kohl und seine Helfershelfer gerich-
Sie an die Redezeit. Ihre fünf Minuten sind vorbei. tet, sage ich: Dieser Untersuchungsausschuss hieß „Ver-
untreutes DDR-Vermögen“ und existierte in der vorigen
Legislaturperiode.
Dr. Peter Danckert (SPD): Ich komme zum Schluss.
Ich meine, dass wir aufgrund des von Ihnen zu verant- Herr Gehb, man gebe Ihnen Verstand und vielleicht
wortenden Vorfalls aufgerufen sind – und zwar schnell; auch eine Brille!
ich sage: noch in diesem Jahr, möglicherweise noch für
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem
das laufende Verfahren –, gemeinsam ein straffes, korrek-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
tes und vor allen Dingen auch scharfes Untersuchungs-
ausschussgesetz zu schaffen; denn die bisherigen Re- Meine Fragen an die Bundesregierung nach den ver-
gelungen dienen nur der Verunklarung und der Verhinde- schwundenen Leuna-Akten waren nämlich von Ende
rung der Aufklärung. Ich glaube, wir alle haben ein September 1999. Erst danach erschien der „Spiegel“-Be-
Interesse daran – auch Sie müssten letztlich ein Interesse richt. Erst nachdem ich die Fragen an die Bundesregie-
daran haben –, dass dieser ungeheuerliche Verdacht – rung gestellt hatte, konnte sie mit der Suche beginnen, die
mehr als ein Verdacht ist es im Moment ja noch nicht – ja bekanntermaßen in einem Desaster endete.
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Oh!) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich habe doch
gar nichts unterstellt!)
aufgeklärt wird,
– Das einzige, was wir von Ihrem Schreien verstanden ha-
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wir sind
ben, war die Angabe 13. Oktober. – Im Untersuchungs-
(B) sehr dafür!)
ausschuss haben wir das gestern klarstellen können. (D)
aber so, dass alle mitwirken und dass die Zeugen zur Helmut Kohl hat dann seine noch eine Stunde zuvor zu-
Wahrheitsfindung beitragen. sammenfantasierten Vorwürfe gegen die heutige Bundes-
regierung kleinlaut relativiert.
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wirken Sie
mit!) „Tatort Kanzleramt“, dieser Begriff passt aber tatsäch-
lich wie die Faust aufs Auge. Nur: Die Tatzeit liegt in den
Sie sollten sich nicht wie Herr Kohl verhalten, der jedes
Jahren 1998, 1997 und auch in den Jahren zuvor, also in
Mal gebetsmühlenartig das wiederholt, was wir schon
den Jahren vor dem Regierungswechsel.
lange zuvor von ihm gehört haben.
(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Genau, in
Herr Schmidt, insofern bedaure ich Sie wegen Ihrer
den Jahren davor!)
sechs Besuche bei Herrn Kohl. Sie haben wahrscheinlich
immer dasselbe gehört, nämlich das, was wir gestern und Der Hirsch-Bericht beweist, wie es im Kanzleramt unter
auch vor acht Tagen gehört haben. Kohl zugegangen ist. So schlimm ist es da zugegangen,
dass der Staatsanwalt jetzt tätig werden muss. Mit krimi-
Vielen Dank.
neller Energie wurden unter Kohls und Bohls Verantwor-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE tung Computerdaten gelöscht, Akten manipuliert und me-
GRÜNEN und der PDS) terweise Unterlagen beseitigt.
(Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Das ist eine
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Als letztem Redner neue Behauptung! Haben Sie schon einmal et-
erteile ich dem Kollegen Friedhelm Julius Beucher von was von rechtlichem Gehör gehört?)
der SPD-Fraktion das Wort.
– Herr Scholz, diesen Vorwurf können Sie an dieser Stelle
nicht schönreden. Das ist Fakt.
Friedhelm Julius Beucher (SPD): Frau Präsidentin!
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
ginnen und Kollegen! „Tatort Kanzleramt“, ich greife die-
PDS – Widerspruch bei der CDU/CSU)
ses Wort von Herrn Kohl auf, das er gestern als ziemlich
wirren Vorwurf gegen die Bundesregierung erhoben hat. Herrn Schmidt muss ich an dieser Stelle sagen: Ihre
Während bei mir die Entscheidung der FIFA am gestrigen Treffen mit Herrn Kohl haben zumindest bewirkt, dass
Tag, die Weltmeisterschaft nach Deutschland zu verge- sich das gestörte Verhältnis des Herrn Kohl zur Realität
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11013
Friedhelm Julius Beucher

(A) auf Sie übertragen hat. Da laufen Sie seit Monaten immer Friedhelm Julius Beucher (SPD): Dann, Frau Präsi- (C)
mit der gleichen Behauptung durch das Land, von den dentin, erwähne ich nur die zwei wichtigsten Aussagen.
verschwundenen Akten im Kanzleramt seien im Bundes-
Fast drei Viertel der Deutschen, nämlich 74 Prozent,
tag Kopien vorhanden.
kritisieren das Verhalten von Herrn Kohl vor dem Unter-
(Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: suchungsausschuss.
Ja, sicher!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie
Herr Schmidt, ich befürchte, Sie kriegen es einfach nicht des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜND-
in den Kopf, weil Sie es nicht wahrhaben wollen. Wir re- NIS 90/DIE GRÜNEN])
den hier nicht von der Vernichtung von sechs Ordnern mit
74 Prozent der Deutschen vertreten zudem die Auffas-
Originalen,
sung, Herr Kohl habe durch sein Verhalten als Bundes-
(Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: kanzler den Amtseid verletzt. Ich habe dem nichts mehr
Doch!) hinzuzufügen.
die zum Teil in Kopie vorliegen. Es geht hier um Akten in (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
einer Größenordnung zwischen 50 und 100 Ordnern, die GRÜNEN und der PDS)
allein im Bereich Leuna vollständig beseitigt worden
sind.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Die Aktuelle Stunde
(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: ist beendet.
Hört! Hört!)
Herr Schmidt, dem Deutschlandfunk haben Sie am Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:
30. Juni gesagt, Sie hätten mit Herrn Kohl strategische 23 a) Zweite und dritte Beratung des von den Ab-
Fragen abgestimmt. Übrigens seltsam, dass Sie das ges- geordneten Alfred Hartenbach, Hermann
tern im Untersuchungsausschuss nicht wiederholt haben. Bachmaier, Bernhard Brinkmann (Hildes-
Aber unabhängig davon: Ich glaube Ihnen das insoweit, heim), weiteren Abgeordneten und der Frak-
als Herr Kohl Ihnen die Strategie vorgibt. Die unver- tion der SPD sowie den Abgeordneten Volker
schämte Art und Weise, wie Sie Burkhard Hirsch denun- Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, Kerstin
zieren, Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Frak-
(Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
Was habe ich denn gesagt?) ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Rechts an Grundstücken in den neuen Län-
(B) egal ob Sie selbst oder Herr Repnik oder sonst einer aus dern (Grundstücksrechtsänderungsgesetz – (D)
Kohls Komplizenschaft, ist auf Kohls Mist gewachsen. GrundRÄndG)
Kein anderer als Herr Kohl hat diese ekelhafte Diffamie-
– Drucksache 14/3508 –
rungskampagne bei dem Treffen der CDU-Ausschussmit-
glieder am 26. Juni vorgegeben. Am 27. Juni schicken Sie (Erste Beratung 109. Sitzung)
Herrn Repnik in die Bütt, am 28. Juni steht es in der Zei- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts-
tung und am 29. Juni wiederholt Herr Kohl diesen Mist im ausschusses (6. Ausschuss)
Ausschuss noch einmal. Mir zeigt das deutlich, dass Ihre – Drucksache 14/3824 –
so genannte neue CDU nach wie vor vom Alten regiert
wird. Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Hacker
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Andrea Voßhoff
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Hans-Christian Ströbele
PDS) Rainer Funke
Aber abgesehen von der richtigen Kritik meiner Vor- Dr. Evelyn Kenzler
redner an Ihrer Verhaltensweise als Obmann, abgesehen b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
von Ihren unglaubwürdigen Aussagen gestern im Unter- Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
suchungsausschuss, abgesehen von der dreisten Absicht, zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Michael
diese Stillosigkeit fortzusetzen, frage ich Sie, Herr Luther, Andrea Voßhoff und der Fraktion der
Schmidt, und die Kolleginnen und Kollegen der CDU- CDU/CSU
Fraktion: Wie lange dauert es eigentlich noch, bis die Ära Entschädigungspflicht nach dem Vermö-
Kohl bei Ihnen beendet ist? Ich sage Ihnen: Ganz gensgesetz bei Einziehung von beweglichen
Deutschland wartet darauf. Die Bevölkerung hat sich Sachen regeln
nämlich in Sachen Kohl längst entschieden. Ich lese Ihnen
einmal die Ergebnisse der Umfrage eines Fernsehsenders – Drucksache 14/1003, 14/3824 –
vom heutigen Tage vor. Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Hacker
Andrea Voßhoff
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Aber das muss kurz
Hans-Christian Ströbele
sein, weil Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Rainer Funke
(Heiterkeit) Dr. Evelyn Kenzler
11014 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Vizepräsidentin Anke Fuchs

(A) Ich eröffne die Aussprache. Die Reden sind zu Proto- Ich eröffne die Aussprache. Die Reden sind zu Proto- (C)
koll gegeben.1) Ich schließe die Aussprache. koll gegeben.1) Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen ein- desregierung eingebrachten Entwurf eines Vermögens-
gebrachten Entwurf eines Grundstücksrechtsänderungs- rechtsergänzungsgesetzes in der Ausschussfassug, Druck-
gesetzes. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in sachen 14/1932 und 14/3802. Dazu liegen zwei Ände-
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- rungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Wir
zeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungenen? – Gegen die kommen zunächst zum Änderungsantrag der Fraktion der
Stimmen von PDS, CDU/CSU und F.D.P. ist dieser Ge- F.D.P. auf Drucksache 14/3826. Wer stimmt für diesen
Änderungsantrag? – Gegenprobe! – Gegen die Stimmen
setzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
von F.D.P. und CDU/CSU ist dieser Antrag abgelehnt.
Wir kommen zur
Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion der
dritten Beratung PDS auf Drucksache 14/3827. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Gegenprobe! – Der Antrag ist gegen die Stimmen
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem der PDS abgelehnt.
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genprobe! – Gegen die Stimmen von PDS, CDU/CSU und Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschuss-
F.D.P. ist der Gesetzentwurf angenommen. fassung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist gegen die Stimmen von PDS, CDU/CSU und
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- F.D.P. in zweiter Beratung angenommen.
fehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Frak-
Wir kommen zur
tion der CDU/CSU zur Regelung der Entschädigungs-
pflicht nach dem Vermögensgesetz bei Einziehung von dritten Beratung
beweglichen Sachen, Drucksache 14/3824. Der Aus- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
fehlung, den Antrag auf Drucksache 14/1003 für erle- genprobe! – Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen
digt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussemp- von PDS, CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
fehlung? – Einstimmige Erledigungserklärung. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der CDU/CSU auf Drucksache
14/3836. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf:
Wer stimmt dagegen? – Der Antrag ist abgelehnt.
(B) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- (D)
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 a und 24 b auf:
zur Änderung und Ergänzung vermögensechtli-
cher und anderer Vorschriften (Vermögens- 24 a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
rechtsergänzungsgesetz – VermRErgG) tionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
– Drucksache 14/1932 – Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwer-
(Erste Beratung 69. Sitzung) behinderter
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- – Drucksache 14/3372 –
ausschusses (7. Ausschuss) (Erste Beratung 106. Sitzung)
– Drucksache 14/3802 – – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
Berichterstattung: desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Abgeordete Dr. Michael Luther Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosig-
Reinhard Schultz (Everswinkel) keit Schwerbehinderter (SchwbBAG)
b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- – Drucksache 14/3645 –
schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Erste Beratung 111. Sitzung)
– Drucksache 14/3803 – Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Arbeit und Sozialordnung
Berichterstattung:
(11. Ausschuss)
Abgeordnete Susanne Jaffke
Hans Georg Wagner – Drucksache 14/3799 –
Oswald Metzger Berichterstattung:
Dr. Günter Rexrodt Abgeordnete Claudia Nolte
Dr. Uwe-Jens Rössel
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Es liegen je ein Änderungsantrag der Fraktion der Berichts des Ausschusses für Arbeit und So-
F.D.P. und der Fraktion der PDS sowie ein Ent- zialordnung (11. Ausschuss) zu der Unterrich-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. tung durch die Bundesregierung
1) Anlage 6 1) Anlage 7
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11015
Vizepräsidentin Anke Fuchs

(A) Bericht der Bundesregierung über die Be- Drittens. Durch eine Ergänzung des § 37 b des (C)
schäftigung Schwerbehinderter im öffentli- Schwerbehindertengesetzes haben wir klargestellt, dass
chen Dienst die Schwerbehinderten, also die Betroffenen, in die Auf-
– Drucksachen 14/2415, 14/3799 – gaben der Integrationsfachdienste explizit mit einbezogen
werden.
Berichterstattung:
Abgeordnete Claudia Nolte Viertens. Wir haben auf die Bedenken des Vertreters
der Integrationsprojekte, Herrn Stadler, bei den Vermitt-
Zu diesem Gesetzentwurf liegen vier Änderungsan- lungsversuchen Schwerbehinderter – laut Gesetz – an
träge der PDS vor. letzter Stelle zu stehen, reagiert, indem wir in § 53 a des
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Schwerbehindertengesetzes eine Ergänzung vorgenom-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Damit sind men haben.
Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Fünftens. Wir haben – da richte ich mich ausdrücklich
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin an die Opposition, um Wiederholungen, Vorwürfe und die
Silvia Schmidt, SPD-Fraktion. damit verbundenen Unsicherheiten zu vermeiden – auch
die letzten Zweifler überzeugt, dass die Förderung der
Werkstätten für Behinderte mit In-Kraft-Treten des Ge-
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Sehr geehrte Frau
setzes ohne jede Einschränkung fortgesetzt wird.
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Schwerbe-
hindertengesetz wird am 1. Oktober dieses Jahres in Kraft (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
treten. Darauf sind wir stolz. Wir sind in dieser wichtigen NIS 90/DIE GRÜNEN)
Frage miteinander zu einem Konsens gekommen, der in
Ein ganz besonders wichtiger Punkt ist: Schwerbehin-
seiner Breite alle gesellschaftlichen Gruppen und Ver-
derte, die an einer AB-Maßnahme teilnehmen, haben An-
bände einschließt, die den Willen bekunden, 50 000 ar-
beitslose schwerbehinderte Mitbürger in Arbeit zu brin- spruch auf Arbeitsassistenz. Ein kleines Beispiel dazu:
gen – ein hoher Anspruch, für den wir Lösungen gefun- Ich habe vorhin mit meiner Freundin Gudrun Hesse tele-
den haben. foniert. Sie ist – leider – schwerbehindert und hat zurzeit
die Möglichkeit, an einer AB-Maßnahme teilzunehmen.
Wir alle wissen: Menschen mit Behinderungen haben Dieser Frau täte es gut, wenn sie jetzt in Form von Ar-
es nicht nur schwerer; sie sind im Alltag auch massiv be- beitsassistenz eine Unterstützung hätte. So könnte sie ihre
nachteiligt und noch immer Diskriminierungen ausge- Arbeit mit Sicherheit noch leichter meistern. Ihr schwer-
setzt. Für Menschen mit Behinderungen ist es kaum mög- behinderter Mann Martin, Rollstuhlfahrer, hochgradig en-
lich, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Von Chan- gagiert und ehrenamtlich tätig, hat jetzt wieder Chancen
(B) cengleichheit kann hier nicht gesprochen werden. auf dem ersten Arbeitsmarkt. Erst das Recht auf Teilzeit- (D)
Behinderte Mitbürger und Mitbürgerinnen sprechen von arbeit und Arbeitsassistenz macht dies möglich. Aber er
sozialer Ungerechtigkeit und sie haben Recht. sagt ganz deutlich: Dies hätte schon viel früher kommen
Behinderte Menschen sind Experten in eigener Sache. müssen.
Sie wollen keine Almosen, sondern Chancengleichheit. (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ NIS 90/DIE GRÜNEN)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Meine Damen und Herren, ein weiteres, mir persönlich
PDS) besonders wichtiges Anliegen konnten wir in der Aus-
Die Tatsache, dass wir, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Ver- schusssitzung am 28. Juni dieses Jahres klären. Laut § 14
bände und Regierungsparteien, uns zusammengesetzt ha- Abs. 4 des Schwerbehindertengesetzes werden auch
ben, zeigt, dass wir alle erkannt haben, dass es unsere Behinderte, die ihren Erziehungspflichten nachkommen
Pflicht ist, zu handeln, und das Ergebnis ist gut. müssen, einen Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung ha-
ben. Das ist ein ganz wesentlicher Schritt hin zur Inte-
Die öffentliche Anhörung zu dem vorliegenden Ge- gration schwerbehinderter Frauen. Ich denke, das sehen
setzentwurf am 7. Juni war von der Zustimmung aller Sei- alle hier im Raum genauso. Der Anspruch auf Teilzeitar-
ten geprägt. Den Kollegen und Kolleginnen von der Op- beit wird zur Schaffung neuer Arbeitsplätze beitragen.
position war die Einmütigkeit aller Beteiligten während
der Anhörung schon richtig unheimlich. Ja, man hat Hoff- Dies gilt auch für die Arbeitsassistenz. Das kam in der
nung und diese Hoffnung darf nicht enttäuscht werden. entsprechenden Anhörung zu diesem Thema besonders
Wir werden das auch nicht tun. zum Ausdruck. Zusammen mit den Integrationsfach-
diensten und speziellen Stellen der Arbeitsämter wird es
Die Änderungswünsche und Hinweise der Beteiligten jetzt möglich sein, auch Langzeitarbeitslose, Schwerbe-
in der Anhörung wurden ernst genommen. Wir haben so- hinderte und Behinderte, die aufgrund besonders schwe-
fort reagiert: rer Benachteiligung von der Teilhabe am gesellschaftli-
Erstens. Auch in Betrieben, die keine Schwerbehinder- chen Leben ausgeschlossen sind, vermehrt in die reale Ar-
tenvertretung haben, sind jetzt Integrationsvereinbarun- beitswelt zu integrieren. Arbeit gibt nicht nur materielle
gen möglich. Sicherheit. Arbeit gibt Lebensgefühl, Miteinander, Aner-
kennung und vor allem Selbstbestimmung.
Zweitens. Wir haben deutlich gemacht, dass sich die
Integrationsfachdienste für die betriebliche Ausbildung (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
einsetzen können. NIS 90/DIE GRÜNEN)
11016 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Silvia Schmidt (Eisleben)

(A) Wir werden nach In-Kraft-Treten des Gesetzes vor al- es also mit einer Verschlechterung der Situation zu tun. (C)
lem die Integrationsprojekte intensiv unterstützen. Das Die Bundesregierung sagt in ihrem Bericht selbst, dass
heißt: Sobald wir erste Erfahrungen im Hinblick auf die sich mit der bestehenden Einstellungspraxis die Schwer-
konkrete Förderung gesammelt haben, werden wir die behindertenquote im öffentlichen Dienst auf Bundes-
entsprechenden Bestimmungen konkretisieren, um direkt ebene auf mittlere Sicht nicht halten lassen wird.
auf die Ansprüche dieser Projekte zu reagieren, damit die
(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das ist ein Skandal!)
Förderung nicht irgendwo versandet. Sie muss vielmehr
greifen. Dabei haben eigentlich alle Fraktionen in den letzten De-
Unser Ziel kann nur erreicht werden, wenn wir ge- batten zu diesem Thema deutlich gemacht, dass der öf-
meinsam offensiv an die Öffentlichkeit treten. Dazu for- fentliche Dienst eine Vorreiterfunktion hat. Wenn wir von
dere ich alle auf: die Verbände, die Arbeitgeber, die Ge- anderen etwas verlangen, müssen wir Vorbild sein. Des-
werkschaften, die Politik – hiermit schließe ich die Op- halb haben wir hier eine gewisse Bringschuld.
position ein – und besonders die Medien. Denn auch Neben der grundsätzlichen Übereinstimmung in dem
behinderte Menschen lesen Zeitung, sehen fern, haben Ziel, die Arbeitslosenquote der Schwerbehinderten zu
Computer und surfen im Internet. Auch sie sind Kunden. senken, sind wir uns auch über den Handlungsbedarf in
Man sollte einmal für diese Kunden eine kostenlose Wer- den Bereichen einig, die Sie in diesem Gesetzentwurf an-
bung schalten. Der Impuls für diese Kampagne könnte gesprochen haben. Unsere Ablehnung dieses Entwurfs ist
schon von dieser Bundestagsdebatte ausgehen. vor allem in der Art und Weise begründet, wie Sie diese
Ich wiederhole: Es ist eine Herausforderung an unsere Regelungsbereiche ausgestaltet haben. Ich möchte dies
Zivilgesellschaft, soziale Gerechtigkeit für behinderte im Einzelnen benennen.
Mitbürger herzustellen. Ich beginne mit der Ausgleichsabgabe: Schon in der
(Beifall bei der SPD und dem BÜND- ersten Lesung habe ich deutlich gemacht, dass ich der
NIS 90/DIE GRÜNEN) Meinung bin, durch eine differenzierte Gestaltung der
Ausgleichsabgabe eine Lenkungswirkung – soweit dies
dadurch überhaupt möglich ist – erreichen zu können. Da-
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun die bei ist aber wichtig, zu beachten, wer wie belastet wird.
Kollegin Claudia Nolte, CDU/CSU-Fraktion.
Nun hat das Bundesarbeitsministerium mir freundli-
cherweise eine Schätzung darüber zur Verfügung gestellt,
Claudia Nolte (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsi- wie sich die Veränderungen auswirken werden. Danach
dentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Schon werden Betriebe mit bis zu 100 Beschäftigten – das sind
(B) nach recht kurzer Beratungszeit können wir heute die also die kleineren Betriebe – ein wenig entlastet; sie wer- (D)
zweite und dritte Lesung des Entwurfes eines Gesetzes den künftig nicht mehr 35,7 Prozent, sondern nur noch
zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter 34,5 Prozent der Ausgleichsabgabe tragen. Aber bei Be-
vornehmen. Da dieses Gesetz schon zum 1. Oktober die- trieben, die zwischen 100 und 300 Beschäftigte haben,
ses Jahres in Kraft treten soll, ist eine zügige Beratung also bei dem klassischen Mittelstand, sieht das ganz an-
verordnet worden. Jedoch müsste sich inzwischen herum- ders aus: Statt 18,2 Prozent werden sie künftig 23,1 Pro-
gesprochen haben, dass die Qualität eines Gesetzes nicht zent der Ausgleichsabgabe erbringen müssen. Demge-
unbedingt von der Geschwindigkeit des Gesetzgebungs- genüber werden die großen Unternehmen großzügig ent-
verfahrens abhängt. Im Gegenteil! Das zeigt sich auch in lastet: Unternehmen mit mehr als 100 000 Beschäftigten
diesem Fall. beispielsweise tragen statt 3,1 Prozent nur noch 1,2 Pro-
Aus der Sicht der CDU/CSU-Fraktion verliefen die zent zur Ausgleichsabgabe bei.
Beratungen sehr enttäuschend. Das halte ich für umso ver- Natürlich kann man argumentieren, die Betriebe mit ei-
wunderlicher, als wir von Anbeginn an deutlich gemacht ner Beschäftigtenzahl zwischen 100 und 300 hätten ihre
haben, dass wir hier ein gemeinsames Anliegen haben und Beschäftigungspflicht nicht erfüllt. Allerdings stellt sich
zu Gemeinsamkeiten gelangen wollen, und Gesprächsbe- meines Erachtens eher die Frage, ob, wenn dies bei den
reitschaft signalisiert hatten. mittelständischen Unternehmen besonders auffällig ist,
In dem Ziel, das wir erreichen wollen – auch in den eine stärkere Belastung ausgerechnet dieser Betriebe zum
konkreten Punkten, die Sie mit Ihrem Gesetzentwurf auf- gewünschten Ziel führt oder ob nicht ganz andere Gründe
gegriffen haben –, besteht eine große Übereinstimmung. vorliegen, warum die Beschäftigungsquote nicht erfüllt
An erster Stelle zu nennen ist, dass für uns alle eine bei wird. Man muss sich fragen, ob man nicht durch gezielte
den Schwerbehinderten bestehende Arbeitslosenquote Maßnahmen eine größere Effizienz der Einstellungen
von 18 Prozent unakzeptabel und viel zu hoch ist und dass hätte erreichen können.
wir deshalb Wege finden müssen, diese hohe Zahl abzu-
Die Bundesregierung erwartet durch diese Neurege-
bauen. Wie dringend das ist, zeigt im Übrigen der Bericht
lung Mehreinnahmen in Höhe von 380 Millionen DM. Da
der Bundesregierung über die Beschäftigung Schwerbe-
aber die kleinen und die großen Unternehmen entlastet
hinderter im öffentlichen Dienst für das Jahr 1998, der
werden, beträgt die Belastung des klassischen Mittelstan-
heute auch zur Beratung ansteht. Denn prozentual gese-
des deutlich mehr als 380 Millionen DM. Das finde ich
hen ist ihre Einstellungsquote durch die Reduzierung der
schon ziemlich happig.
Stellen im öffentlichen Dienst und die erhöhten Abgänge
wieder gesunken; sie beträgt jetzt 2,9 Prozent. Wir haben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11017
Claudia Nolte

(A) Die Bundesregierung hat sich in diesem Punkt lange habilitation schaffen soll – nicht vorausschauend anders (C)
gewunden. Noch bei der ersten öffentlichen Aussprache gestaltet werden. Eine solche Verzahnung wird jetzt
zu diesem Thema, in der Fragestunde, war von der Bun- blockiert. Ohne eine gesetzliche Grundlage wird jetzt
desregierung zu hören, dass eigentlich keine Mehreinnah- mühsam versucht werden müssen, die Zusammenarbeit
men erwartet werden. Das ist auch nicht unser Ziel; denn zwischen Hauptfürsorgestellen und Arbeitsämtern mit
wir wollen eine Veränderung der Einstellungspraxis er- Vereinbarungen zu regeln. Das ist unbefriedigend, weil es
reichen. Es gab aber generell lange Zeit Stillschweigen zu Unklarheit und Unverbindlichkeit führt.
dazu – sicherlich, um die Wirtschaft nicht zu ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
schrecken, um sie im Boot zu haben; das kann ich auch
nachvollziehen. Nur musste man irgendwann erklären, Ebenso führt zu Unklarheit und Unverbindlichkeit,
wie man den größeren Leistungskatalog, den dieser Ge- dass vieles von dem, was in diesem Gesetz hätte geregelt
setzentwurf beinhaltet, finanzieren will. Daher rühren werden müssen, auf Rechtsverordnungen verschoben
auch die berechtigten Ängste der Werkstätten und der Be- wurde. Wir sind sehr für einen Rechtsanspruch auf Ar-
treiber von Wohnheimen für Behinderte, hinten herun- beitsassistenz. Wir sind sehr dafür, dass Integrationsfach-
terzufallen und geringer gefördert zu werden. Frau dienste eingerichtet werden und über eine institutionelle
Schmidt, Sie haben deshalb versucht, diese Ängste auszu- Förderung abgesichert werden. Das gilt auch für Integra-
räumen. tionsbetriebe, -unternehmen und -projekte. Aber entschei-
dend sind doch die Rahmenbedingungen: Welche Förder-
Ich konnte diese Ängste sehr gut nachvollziehen und voraussetzungen müssen geschaffen werden, wie lange
für mich sind sie auch noch nicht vollständig ausgeräumt. erhält man die Förderung, wer wird gefördert? Hier auf
Wir werden sehen, wie sich die Einnahmen gestalten. Ich Rechtsverordnungen zu verweisen entzieht uns jegliche
kann nur hoffen, dass an den Bekräftigungen, es werde parlamentarische Mitberatung. Das widerspricht meinem
sich an der Förderpraxis für Werkstätten und Wohnheime parlamentarischen Selbstverständnis. Dies kann ich nicht
nichts ändern, festgehalten wird. nachvollziehen, zumal es auch Unsicherheit für die Stel-
Es ist generell nicht einzusehen, dass diese erwarteten len schafft, die künftig Bewilligungen aussprechen sollen.
Mehreinnahmen aus der Augleichsabgabe über die Bun- Da die Verordnungen noch nicht vorliegen, verfügen sie
desanstalt für Arbeit fast ausschließlich an den Bund über keinerlei Rahmenregelungen.
fließen sollen. Ich habe das Gefühl, dass noch immer der In diesem Punkt verblüffte mich die Anhörung sehr. Ich
Irrglaube vorhanden ist, die zentrale starke Hand werde es hatte den Eindruck, bei den bei der Anhörung vertretenen
schon richten; denn sie kann es besser. Sie sollten statt- Verbänden herrsche das Prinzip Hoffnung vor.
dessen auf Dezentralisierung setzen, weil vor Ort, wie
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Ja, ge-
(B) sich immer wieder zeigt, besser entschieden werden kann. nau!) (D)
Ich verstehe gar nicht, warum hier die Länder so aus der
Pflicht genommen werden und warum sie nicht mehr Mit- Sie sagten, sie hätten es sich zwar anders gewünscht, aber
tel aus der Ausgleichsabgabe erhalten, um viel gezielter es kämen ja noch Rechtsverordnungen, die es dann schon
entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können. richteten. Hier kann ich nur die Frage stellen, wann
(Beifall bei der CDU/CSU) Rechtsverordnungen jemals mehr Spielräume ermöglicht
hätten. Verordnungen dienen dazu, Grenzen zu setzen und
Nein, sie werden vom Gesetzgebungsverfahren ausge- zu bestimmen, wie es gemacht werden muss.
schlossen und damit werden ihnen auch die finanziellen
Mittel vorenthalten. (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Die wer-
den alle noch ihr blaues Wunder erleben!)
Das kann aber auch damit zu tun haben – damit komme
ich zu einem zweiten großen Bereich, der in unseren Au- Ich weiß nicht, was bei den Vorgesprächen im Einzelnen
gen in diesem Gesetz vollkommen fehlgeleitet ist –, dass passiert ist. Ich befürchte jedenfalls, dass hier eher Res-
mit aller Macht versucht wurde, dieses Gesetz zustim- triktionen eingeführt werden, denen wir dann ausgeliefert
mungsfrei auszugestalten. Meine sehr verehrten Kolle- sein werden. Am Ende werden wir nur die Beschwerde-
ginnen und Kollegen, ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich briefe freundlich beantworten dürfen.
kenne bis heute noch nicht den Grund, warum die Länder Die Tatsache, dass grundsätzlich nur ein Integrations-
letztendlich ausgestiegen sind. Es muss ja einen Grund fachdienst pro Arbeitsamtsbezirk bestehen bleiben soll,
dafür geben, warum es nicht möglich war, sich zu einigen. hatte ich schon in der ersten Lesung kritisiert. Die Stel-
Ganz sicher lag es nicht daran, dass nicht auch die Länder lungnahmen der Fachverbände bestärken mich in dieser
ein Interesse daran hätten, die Zahl der arbeitslosen Kritik. Auch da sehe ich im Moment noch keine befriedi-
Schwerbehinderten zu senken. gende Regelung, wie man schon bestehende Fachdienste
Die fatale Folge ist, dass dieses Gesetz dadurch ein zusammenschließen kann, ohne dass dabei der eine oder
andere unter die Räder kommt.
Torso bleibt. Um sich die Zustimmungsfreiheit zu er-
kaufen, mussten Sie alle Regelungsbereiche, die die Zusammenfassend halte ich fest, dass wir trotz der
Hauptfürsorgestellen betreffen, außen vor lassen, obwohl Übereinstimmungen in der Zielsetzung aus den genann-
diese vor Ort für die berufliche Eingliederung der ten Gründen dem Gesetzentwurf nicht zustimmen kön-
Schwerbehinderten zuständig sind. Das führt nun zu dem nen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regie-
Versäumnis, dass die Strukturen – im Blick darauf, dass rungskoalition, ich hoffe sehr, dass wir bei der Beratung
ein SGB IX eine bessere Verzahnung zur beruflichen Re- des SGB IX eine andere Form wählen. Dort sollte es
11018 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Claudia Nolte

(A) möglich sein, gemeinsam für schwerbehinderte Men- darum, nur ein Instrument zu haben, wie das bisher der (C)
schen etwas Gutes zu erreichen. Fall gewesen ist. Stattdessen spielen jetzt viele Instru-
mente eine Rolle: Integrationsfirmen, Integrationsfach-
Vielen Dank.
dienste, die Werkstätten für Behinderte und andere, vor al-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lem das Recht auf Arbeitsassistenz. Ich glaube, hier haben
wir einen riesigen gesellschaftlichen Fortschritt erreicht.
Hier haben wir eine Vorwegnahme dessen, was im
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat die Kollegin
SGB IX die Grundansage ist. Die Grundansage heißt
Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, das
nämlich: Es geht nicht darum, etwas für jemanden zu re-
Wort.
geln, sondern es geht darum, Menschen zu befähigen, für
sich selbst regeln zu können, was ihr Leben und ihre Ar-
Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE beitswelt betrifft.
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kollegen! Liebe Frau Nolte, nein, das Gesetz ist kein
Torso, sondern es ist etwas, was wir, glaube ich, dringend und bei der SPD)
brauchen. Wir brauchen dieses Gesetz, weil es vor allem Die Arbeitslosenquote bei den Schwerbehinderten be-
um eines geht: um Integration. Dieses Gesetz ist so et- trägt immer noch 17,4 Prozent. Das ist eine Herausforde-
was wie ein Vorschaltgesetz zum SGB IX, in dem wir klar rung für uns. Wir haben gesagt: Wenn das, was wir hier
darüber sprechen wollen, was Integration insgesamt be- machen, nicht funktioniert, dann müssen wieder andere
deutet: Sie bedeutet Beteiligung, sie bedeutet Teilhabe Wege beschritten werden. Wir wollen aber die Gemein-
und vor allem Chancengleichheit. Gleich sein bedeutet samkeit mit den Arbeitgebern und Gewerkschaften in der
nach unserer Auffassung – das ist so etwas wie eine Phi- Tat herstellen und das tun wir hiermit auch.
losophie –, verschieden sein zu dürfen und trotzdem die
gleichen Möglichkeiten zu haben. Ich möchte noch zwei Sätze zu den Änderungsanträgen
der PDS sagen. Bei dem Punkt, der die Arbeitsassistenz
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betrifft, befinden wir uns in Übereinstimmung. Ich
sowie bei Abgeordneten der SPD) glaube, wir haben im Bereich der Ausgestaltung das ge-
Was wir in diesem Gesetz vorab regeln, betrifft den Ar- macht, was möglich war. Ich setze sehr auf dieses Instru-
beitsmarkt. Es geht um die Teilhabe am Arbeitsmarkt ment. Ich rechne damit, dass wir dieses Instrument be-
und natürlich auch um ein Stück Teilhabe am normalen kommen, dass wir es stark machen und dass es vielen
Leben. 8 Prozent der Wohnbevölkerung sind schwer- Menschen mit Handicap tatsächlich zur selbstbestimmten
behindert, das sind 6,6 Millionen Menschen. Davon ste- Arbeit verhelfen wird.
(B) hen 1,1 Millionen Menschen dem Arbeitsmarkt zur Ver- In der Frage der Erhöhung der Ausgleichsabgabe ha- (D)
fügung. ben wir uns etwas anders entschieden. Wir haben uns
Mit dem vorliegenden Gesetz sagen wir: Wir wollen dafür entschieden zu differenzieren. Wir halten das für
zusätzlich 50 000 Menschen in Arbeit bringen. Wir wol- sinnvoll und meinen, dass man Unternehmen, die
len sie nicht in Beschäftigung, sondern in Arbeit bringen, Schwerbehinderte beschäftigen, nicht genauso behandeln
und das ist ein qualitativer Unterschied – auch zur Politik kann wie Unternehmen, die sich dem völlig verweigern.
der alten Regierung. Es ist ein Unterschied, weil es um Deswegen haben wir uns für die Differenzierung ent-
selbstbestimmte Arbeit geht, weil es um das Recht auf Ar- schieden.
beitsassistenz geht, weil es darum geht, das Recht zu ha- Die einfache Erhöhung der Abgabe halten wir nicht für
ben, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, und weil es sinnvoll, weil wir die Arbeitgeber mit im Boot haben wol-
darum geht, eine neue Arbeitsplatzqualität über die Werk- len. Auch das ist für die gesellschaftliche Frage ganz ent-
stätten hinaus, deren Existenzberechtigung ich nicht in scheidend, weil Integration nur dann funktioniert, wenn
Frage stellen möchte – wir brauchen aber etwas Zusätzli- alle mitmachen. Wenn Integration funktionieren soll,
ches, wir brauchen etwas qualitativ anderes –, zu ver- kann man nicht sagen: Wir tun etwas für euch im Sinne ei-
wirklichen. ner Minderheit; denn das bringt uns sehr viel weniger, als
Deswegen haben wir gesagt: Wir brauchen Integrati- wenn klar ist: Alle machen mit. Das haben wir mit diesem
onsfirmen, die eine Brücke zum ersten Arbeitsmarkt dar- Gesetzentwurf versucht. Dies werden wir auch weiterhin
stellen und die tatsächlich Integration in diesem Zusam- versuchen, wenn wir die Reise antreten, um mit dem
menhang herstellen. Aus diesem Grund legen wir den SGB IX ein großes Gesetz zu machen, das Auswirkungen
Gesetzentwurf vor. Wir wollen das Gesetz gemeinsam mit auf alle Lebensbereiche hat.
denjenigen Kräften, die darauf Einfluss haben, nämlich Ich glaube, es ist gut, dass wir hier einen ersten Schritt
mit den Arbeitgebern, den Gewerkschaften und den Inte- gemacht haben. Die Anhörung hat nicht gezeigt, dass es
ressenverbänden, machen. Ich finde es, ehrlich gesagt, um das Prinzip Hoffnung geht, sondern die Anhörung hat
schade, dass sich die Union nicht entscheiden kann, hier gezeigt, dass Menschen mit Handicap zum ersten Mal auf
zuzustimmen, obwohl wir doch in so vielen Zielen an- tatsächliche Integration hoffen können. Das ist der Unter-
geblich übereinstimmen. schied.
Das Problem, wie wir die Arbeitslosigkeit bekämp- Vielen Dank.
fen wollen, sind wir mit differenzierten Möglichkeiten
angegangen. Ich glaube, es ist diese Differenzierung, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
am Ende zum Erfolg führen wird. Denn es geht nicht mehr und bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11019

(A) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat die Kollegin Es ist auf der einen Seite zweifellos sinnvoll, die Inte- (C)
Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion, das Wort. gration von so vielen Schwerbehinderten wie irgend mög-
lich in den ersten Arbeitsmarkt zu versuchen. Auf der an-
deren Seite ist völlig klar, dass in den Werkstätten für Be-
Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Frau Präsidentin!
hinderte viele arbeiten, für die in diesen Werkstätten eine
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Koalition, die
sehr viel bessere Förderung erfolgt, als es auf dem ersten
den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeits-
Arbeitsmarkt je möglich wäre.
losigkeit Schwerbehinderter vorgelegt hat, teilen wir si-
cherlich die Zielsetzung. Wir wollen selbstverständlich (Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Das ist
die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit unter den nicht wahr!)
Schwerbehinderten spürbar abbauen. Der Gesetzentwurf
nennt als Zielvorgabe eine Verringerung um 25 Prozent Deswegen ist Ihr Misstrauen gegenüber den Werkstätten
bis Oktober 2002. Das ist ein ehrgeiziges Ziel. Aber es ist für Behinderte in meinen Augen völlig verfehlt.
immer gut, sich ehrgeizige Ziele zu setzen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist, ob mit die- der CDU/CSU)
sem Gesetzentwurf der richtige Weg eingeschlagen wird. Zusammen mit der offenen Finanzierungsfrage führt
Hier müssen wir leider feststellen, dass Sie bedauerli- uns dies bedauerlicherweise dazu, dass wir dieses Gesetz
cherweise nicht alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen ablehnen werden.
haben, die in diesem Zusammenhang geprüft werden
müssen. So waren Sie zum Beispiel nicht bereit, über Ver- Vielen Dank.
änderungen im Bereich des besonderen Kündigungs- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
schutzes oder des Sonderurlaubs zu sprechen oder über
diese Fragen überhaupt nur nachzudenken, obwohl von-
seiten der BDA und auch des Zentralverbandes des Deut- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat der Kollege
schen Handwerks auf die einstellungshemmende Wir- Dr. Ilja Seifert, PDS, das Wort.
kung dieser Regelungen hingewiesen worden ist.
Den Ansatz, Schwerbehinderten verstärkt die Mög- Dr. Ilja Seifert (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen
lichkeit einer Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäs-
zu eröffnen, teilen wir selbstverständlich. Es ist durchaus te auf der Tribüne! Ich finde es schon ziemlich lustig, was
nicht so, Frau Göring-Eckardt, als seien Sie die Ersten, die hier heute passiert. Da will die Regierungskoalition ein
sich dies zum Ziel gesetzt hätten. Wenn Sie sich die vor- Gesetz verabschieden, über das sie sich eigentlich freuen
handenen Instrumente ansehen, sehen Sie schon, dass es sollte – jedenfalls habe ich Frau Schmidt so verstanden;
(B) seit langer Zeit besondere Integrationshilfen für Schwer- auch Frau Göring-Eckardt sagte, wir bräuchten ein sol- (D)
behinderte auf dem ersten Arbeitsmarkt gibt. ches Gesetz –, Sie reden hier aber alle so getragen, als
wäre es eine Beerdigung.
Richtig ist, dass mit den Arbeitsassistenzen sicherlich
noch ein weiterer zusätzlicher Schritt gemacht wird. Wir (Zustimmung bei der PDS)
halten es für durchaus positiv, einen solchen Schritt zu
machen, allerdings nur dann, wenn eine vernünftige Um- Vielleicht ist es auch eine – und das ist meine Befürch-
setzung per Verordnung folgt. Es ist bedauerlich, dass tung.
über die Ausgestaltung dieser Verordnung bisher so wenig Wir brauchen ein Gesetz, das 50 000 schwerbehinderte
bekannt ist. Es ist alles offen. Ebenso wie die Betroffenen Menschen in Arbeit bringt. Aber, Frau Göring-Eckardt,
warten wir gespannt auf die Vorstellungen der Bundesre- warum genügt es Ihnen dann – so haben Sie es in das Ge-
gierung zu diesem Punkt. In der Hoffnung, den Prozess et- setz geschrieben –, dass nach zwei Jahren 25 Prozent we-
was zu beschleunigen, haben wir dazu eine Kleine An- niger schwerbehinderte Arbeitslose in der Statistik ver-
frage eingebracht; denn ein Gesetz ohne Ausführungsbe- zeichnet sein müssen? Sie wissen so gut wie ich, dass in
stimmungen ist zunächst ein zahnloser Tiger. dieser Zeit etliche Tausende über die Erwerbsunfähig-
Die Klärung dieser Frage ist auch entscheidend, um keitsrente aus der Statistik herausfallen.
den Finanzbedarf beziffern zu können. In dieses Gesetz (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Da hat er
ist eine Reihe von sinnvollen Dingen geschrieben worden, sogar Recht!)
aber alles das kostet Geld. Gleichzeitig – das hat die Bun-
desregierung wiederholt erklärt – gehen Sie davon aus, Sie wissen so gut wie ich, dass in dieser Zeit etliche Tau-
dass das Aufkommen aus der Ausgleichsabgabe konstant sende in Ruhestand gehen und in der Statistik nicht mehr
bleibt. Das heißt, Sie wollen auf der einen Seite zusätzli- auftauchen. Sie erfüllen Ihre Quote, ohne dass ein einzi-
che Dinge finanzieren, geben aber auf der anderen Seite ger Schwerbehinderter Arbeit bekommt. Das kann nicht
in Gesprächen mit den Werkstätten für Behinderte, die sein.
bisher den größten Finanzbedarf aus der Ausgleichsab- (Beifall bei der PDS und der F.D.P. – Claudia
gabe hatten, Finanzierungszusagen, die Sie nicht einhal- Nolte [CDU/CSU]: Das ist wahr!)
ten können, wenn Sie das Geld für andere Dinge ausge-
ben wollen. Dies ist nach Adam Riese so; das können wir Ich bin ja froh, dass eine Koalition regiert, die sich die-
auch nicht durch Beschluss im Bundestag außer Kraft set- sem Thema widmet. Das ist ein Wert an sich. Herr Haack,
zen Deswegen werden Sie uns auch nicht daran hindern in diesem Punkt alle Achtung auch von mir für Ihre
können, weiterhin misstrauisch zu bleiben. Bemühungen. Aber was hier vorliegt, ist wirklich alles
11020 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Dr. Ilja Seifert

(A) andere als ein Grund, sich zu freuen. Ich will das aus- mal ist die Sache so ambivalent, dass sich die PDS ent- (C)
drücklich sagen. halten wird. Ich hoffe, dass wir in Zukunft gemeinsam
voranschreiten können.
Ich bin auch ein bisschen traurig, Frau Nolte, dass Sie
hier zwar sagen, wie wichtig das alles ist, dass von Ihrer Danke schön für die Aufmerksamkeit.
Riesenfraktion insgesamt aber nur vier Mitglieder anwe-
(Beifall bei der PDS)
send sind. Wie Sie sehen können, ist die kleine PDS-Frak-
tion stärker vertreten. Wir könnten Sie glatt überstimmen.
Man muss der Öffentlichkeit zumindest einmal mitteilen, Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun erteile ich dem
dass die Meinung, die Sie, Frau Nolte, hier vorgetragen Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der
haben, offensichtlich nicht die Meinung Ihrer Fraktion ist. Behinderten, Karl-Hermann Haack, das Wort.
Aber vielleicht ändert sich das noch; das kann auch nicht
schaden.
Karl Hermann Haack (Extertal) (SPD): Frau Präsi-
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Es geht dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es
um die Qualität der Argumente, nicht um die wurde von Frau Nolte gesagt, dieses Gesetz sei schnell ge-
Quantität der hier Anwesenden!) macht worden, es hätte langsamer und gründlicher bera-
ten werden müssen. Frau Nolte, wir haben aus 16 Jahren
– Ja, allerdings muss man die Argumente auch ein biss-
Helmut Kohl 180 000 Arbeitslose im Schwerbehinderten-
chen durch Anwesenheit im Plenum untermauern.
bereich geerbt.
Lassen Sie uns zur Sache kommen. Besonders positiv
(Beifall bei der SPD – Peter Hintze [CDU/
wäre es, wenn es endlich einen Rechtsanspruch auf Ar-
CSU]: Das ist ja unglaublich!)
beitsassistenz gäbe; das könnte wirklich etwas Gutes
sein. Aber Sie lehnen es ab – jedenfalls haben Sie das an- Wir haben uns im Rahmen des Bündnisses für Arbeit vor-
gekündigt –, unsere Kriterien für die Arbeitsassistenz in genommen, auch in diesem Bereich einen Beitrag zu leis-
das Gesetz hineinzuschreiben. Frau Nolte hat völlig ten.
Recht: Die Verordnungsermächtigung kann nur dazu Dieses Gesetz, welches aus Ihrer Sicht zu schnell ge-
führen, dass aus der notwendigen Arbeitsassistenz, die Sie macht worden ist, ist ein erster Erfolg des Bündnisses für
apostrophieren, eine Miniarbeitsassistenz wird. Wir schla- Arbeit. Denn es ist zwischen Regierung, Arbeitgebern,
gen vor: Macht aus der notwendigen eine bedarfs- Arbeitnehmern und Behindertenverbänden verhandelt
deckende Arbeitsassistenz laut Gesetz. Dann könnten wir worden. Wir haben uns dort verständigt. Die Eckdaten,
uns nach unseren Kriterien richten. Dann hätten die Men- die diesem Gesetz zugrunde gelegt sind, stellen einen (D)
(B) schen mit Behinderungen vom ersten Tage an eine Hand-
Konsens gesellschaftlicher Gruppen dar. Deswegen mei-
habe, wann sie diesen Rechtsanspruch überhaupt geltend nen wir, dass wir recht gehandelt haben. Wir unternehmen
machen können. Wenn wir den Klageweg beschreiten mit diesem Gesetz einen Versuch, zukünftig 50 000 Men-
wollten, würde das drei oder fünf Jahre dauern. schen – das sind 25 Prozent derer, die arbeitslos sind – in
Frau Schmidt, Sie haben eben Bekannte angeführt, die Arbeit zu bringen.
auf Arbeitsassistenz warten. Das Gesetz nützt ihnen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nichts, wenn es keine Kriterien für den Rechtsanspruch DIE GRÜNEN)
auf Arbeitsassistenz gibt.
Zu mäkeln, dass man aus der Statistik aus diesem oder je-
(Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Deswegen nem Grund schwerbehinderte Arbeitslose herausstreicht,
mache ich dann gar nichts, oder was?) halte ich für müßig.
Deshalb ist es notwendig, das per Gesetz festzulegen. Ich will Ihnen darlegen, warum ich glaube, dass dieses
Noch ein Wort. Sie haben eigentlich nur schwerbehin- Gesetz erfolgreich sein wird. Wir haben in den letzten Jah-
derte Frauen berücksichtigen wollen. Wir haben vorge- ren mit einer gemeinsamen Initiative von Arbeitgebern,
schlagen: Berücksichtigt sie bevorzugt. Danach haben Sie Arbeitnehmern und anderen gesellschaftlichen Gruppen
„besonders berücksichtigen“ daraus gemacht. Ich muss erreicht, dass junge Menschen in Ausbildungsverbünde
gekommen sind bzw. Ausbildungsplätze bekommen ha-
anerkennen – und dafür bin ich dankbar –, dass Sie auch
ben, mit dem Erfolg, dass wir alljährlich sagen können:
unsere Vorschläge zumindest teilweise aufgreifen.
Die Bilanz ist relativ positiv.

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, ich


Wir haben in dem Programm JUMP – Junge Menschen
in Arbeit, Ausbildung und Beruf des Bundesarbeitsminis-
muss Sie leider auf die Redezeit aufmerksam machen.
ters erreicht, dass 200 000 junge Leute heute in Ausbil-
dungsverbünden sind, ihre Schulabschlüsse nachmachen
Dr. Ilja Seifert (PDS): Frau Präsidentin, ich bitte um können bzw. Traineemaßnahmen absolvieren. Diese
Entschuldigung, dass ich nicht auf die Uhr geschaut habe. Maßnahmen sind Ausdruck von Konsenspolitik dieser
Ich will nur sagen: Ich wäre froh, wenn wir gemein- neuen rot-grünen Regierung.
sam – Sie wissen, dass ich da auf Ihrer Seite stehe – einen Nach der Verabschiedung dieses Gesetzes werden wir
Schritt in eine vernünftige Richtung gehen könnten. Dies- zum Frühherbst dieses Jahres eine Kampagne starten. Wir
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11021
Karl Hermann Haack (Extertal)

(A) glauben, wir werden erreichen, dass Menschen mit Be- „zustimmungsfrei“ formuliert haben, ist ganz einfach: (C)
hinderungen in Arbeit kommen. Die Länder Baden-Württemberg und Bayern haben ver-
sucht, diese neue Konzeption zur Reform des Schwerbe-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
hindertenrechtes zu einer Verhandlungsmasse der
DIE GRÜNEN)
Neuaufteilung der Ausgleichsabgabe zwischen Bund und
Einen weiteren wichtigen Punkt der öffentlichen De- Ländern zu machen. Die Länder wollen ihren Anteil deut-
batte möchte ich hier aufgreifen. Frau Schwaetzer, Sie ha- lich erhöhen und damit die Gestaltungsaufgabe des Bun-
ben gesagt, wir hätten gegenüber den Werkstätten ein des entsprechend beschneiden.
Misstrauen. Das ist eine Kampagne, die läuft. Sie hängt
Insofern habe ich volles Verständnis, dass diese Bun-
damit zusammen, dass die Länder Baden-Württemberg
desregierung vor dem Hintergrund der Tatsache, dass
und Bayern im Bundesrat einen Antrag eingebracht haben
182 314 schwerbehinderte Menschen arbeitslos sind, ver-
mit der Zielsetzung, zu einer Neuverteilung der Aus-
suchen will, diesen Missstand möglichst schnell zu än-
gleichsabgabe zugunsten der Werkstätten zu kommen.
dern. Ich trage es auch politisch mit, dass die Bundesre-
Wir ziehen mit der Etablierung der Integrationsfach- gierung dies mit einem neuen Instrumentarium versucht
dienste und Integrationsfirmen die Konsequenzen da- und darauf verzichtet, lange strategische Verhandlungen
raus, dass in 16 Bundesländern erfolgreich Versuche ge- mit den Ländern zu führen.
laufen sind. Wir sagen: Bevor wir die Berichte über diese
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Integrationsfachdienste, über diese Integrationsfachfir-
DIE GRÜNEN)
men endgültig abwarten, werden wir sie jetzt schon in die-
ses Vorschaltgesetz „Neue Arbeit für Menschen mit Be- Ich halte die Notwendigkeit der Hilfe für arbeitslose
hinderungen“ aufnehmen. Schwerbehinderte für wichtiger als das Feilschen mit
Sie wissen genauso gut wie ich – es ist im Ausschuss Frau Stamm oder anderen.
hinreichend gesagt worden –, dass es Spitzengespräche Ich möchte in diesem Zusammenhang auch meinen
gegeben hat. Dafür bin ich dem Minister mit seinen Mit- Dank an die Träger der Werkstätten ausdrücken, die nach
arbeiterinnen und Mitarbeitern dankbar. Es waren Spit- diesen Gesprächen in einer hervorragenden Arbeit mit uns
zengespräche mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der kommuniziert haben. Ich darf Ihnen, meine sehr verehr-
Werkstätten auf der einen Seite und auf der anderen Seite ten Damen und Herren von der Opposition, sagen: Im
mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsfach- Rahmen der Beratungen über das SGB IX werden wir
dienste. Wir haben uns auf meinen Vorschlag hin darüber auch mit Ihnen das Gespräch suchen. Herr Seehofer als
verständigt, dass wir den gesamten Bereich einer kriti- Ihr sozialpolitischer Sprecher hat einen entsprechenden
schen Überprüfung unterziehen unter der Fragestellung: Brief verfasst. Wir werden nach der Verabschiedung die-
(B) Was sind zukünftig die Aufgaben der Werkstätten? Was (D)
ses Gesetzes, nachdem wir uns auch mit den Ländern über
sind zukünftig die Aufgaben der Integrationsfachdienste? die Grundzüge des SGB IX verständigt haben, auf Sie zu-
Welche Brückenfunktionen müssen Integrationsfachdien- kommen und versuchen, mit Ihnen gemeinsam zu einem
ste haben, um Menschen von dem zweiten in den ersten Ergebnis zu kommen. Insofern bitte ich noch um etwas
Arbeitsmarkt überzuleiten? Das Ziel dieser Untersuchung Geduld.
ist, das Kästchendenken zur Seite zu schieben und ein fle-
xibles, durchgängiges System zu organisieren. Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN)

Ein weiterer Punkt, der von Herrn Seifert und auch von
anderen Kollegen angesprochen wurde, ist das Recht auf Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe die Aus-
Arbeitsassistenz. Ich möchte Ihnen unseren qualitativen sprache.
Sprung an diesem Punkt deutlich machen: Wir haben Wir kommen zur Abstimmung. Zur Abstimmung hat
Art. 3 des Grundgesetzes 1994 um die Bestimmung er- der Kollege Dr. Seifert eine Erklärung nach § 31 der Ge-
gänzt, dass Menschen mit Behinderungen nicht benach- schäftsordnung zu Protokoll gegeben1).
teiligt werden dürfen. Wir haben daraus die Konsequenz
gezogen, die Integration zu ermöglichen. Somit darf das Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
Recht auf Arbeitsassistenz nicht mehr in die Beliebigkeit tionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie der
der Entscheidung der Hauptfürsorgestelle gestellt wer- Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Be-
den. Es darf nicht sein, dass sich ein Mensch mit Behin- kämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter in der
derung vor dem Mitarbeiter der Hauptfürsorgestelle in der Ausschussfassung, Drucksachen 14/3372, 14/3645 und
Hoffnung „inszenieren“ muss, je besser er seine Behinde- 14/3799. Dazu liegen vier Änderungsanträge der Fraktion
rung vorführe, desto eher werde er Arbeitsassistenz finan- der PDS vor, über die wir zuerst abstimmen.
ziert bekommen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf
Menschen mit Behinderung nicht zu benachteiligen Drucksache 14/3837? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
bedeutet, sie zu integrieren. Es bedeutet, dass sie auf dem Gegen die Stimmen der PDS ist dieser Antrag abgelehnt.
ersten Arbeitsmarkt eine Chance haben müssen. Deshalb
schaffen wir jetzt einen Rechtsanspruch auf Arbeitsassis-
tenz. Die Begründung dafür, dass wir das Gesetz 1) Anlage 4
11022 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Vizepräsidentin Anke Fuchs

(A) Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf Verbindlichkeit der europäischen Grund- (C)
Drucksache 14/3839? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- rechtecharta und Beitritt der Europäischen
tungen? – Auch dieser Antrag ist abgelehnt. Union zur europäischen Menschenrechts-
Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf konvention
Drucksache 14/3840? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus
tungen? – Auch dieser Antrag ist abgelehnt. Grehn, Uwe Hiksch, Ulla Lötzer, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion PDS
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3841? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Da- Für eine rechtsverbindliche europäische
mit ist auch dieser Antrag abgelehnt. Grundrechtecharta
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der – Drucksachen 14/3387, 14/3368, 14/3322,
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- 14/3513, 14/3800 –
chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Berichterstattung:
Enthaltung der PDS und gegen die Stimmen von Abgeordnete Prof. Dr. Jürgen Meyer (Ulm)
CDU/CSU und F.D.P. ist der Gesetzentwurf in zweiter Peter Altmaier
Beratung angenommen. Claudia Roth (Augsburg)
Sabine Leutheuser-Schnarrenberger
Dritte Beratung
Klaus Grehn
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Stimmenthal- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
tung der PDS und gegen die Stimmen von CDU/CSU und keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
F.D.P. ist der Gesetzentwurf angenommen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dr. Jürgen Meyer, SPD-Fraktion.
DIE GRÜNEN)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- Prof. Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Frau Präsiden-
ses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Bericht der tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich die
Bundesregierung über die Beschäftigung Schwerbehin- Debatte über die europäische Grundrechtecharta mit zwei
derter im öffentlichen Dienst, Drucksache 14/3799. Der Vorbemerkungen beginnen.
Ausschuss empfiehlt etwas Sensationelles, meine Damen In der letzten Sitzung des Konvents in Brüssel hat das
und Herren, nämlich unter Buchstabe b seiner Beschluss- Präsidium mitgeteilt, dass Roman Herzog den Vorsitz des (D)
(B)
fassung, den Bericht der Bundesregierung auf Drucksa- Konvents demnächst wieder übernehmen wird.
che 14/2415 zur Kenntnis zu nehmen. Wer möchte dieser
Beschlussempfehlung folgen? – Damit haben wir den Be- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
richt mit einem einstimmigen Beschluss des Deutschen GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)
Bundestages zur Kenntnis genommen.
Wir alle wissen, dass er wegen der schweren Erkrankung
seiner Frau den Vorsitz im Konvent niedergelegt hatte.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf: Die Rückkehr von Roman Herzog ist vom Konvent und,
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- wie ich sehe, auch von Ihnen sehr positiv aufgenommen
richts des Ausschusses für die Anlgelegenheiten worden. Roman Herzog gelingt es, mit seiner Kompetenz
der Europäischen Union (22. Ausschuss) und seinem Ansehen, auch widerstreitende Gruppen im
– zu dem Antrag der Abgeordneten Prof. Dr. Konvent zusammenzuführen und das Projekt der Grund-
Jürgen Meyer (Ulm); Joachim Poß, Günter rechtecharta zum Erfolg zu führen.
Gloser, weiterer Abgordneter und der Fraktion Meine zweite Vorbemerkung gilt der Rede von Präsi-
der SPD sowie der Abgeordneten Christian dent Chirac, die er im Deutschen Bundestag gehalten hat.
Sterzing, Volker Beck (Köln), Rita Grießhaber,
Ich fand es sehr erfreulich, dass Präsident Chirac deutlich
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
gemacht hat, dass es auch bei der Grundrechtecharta da-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
rum geht, mehr Demokratie in Europa zu wagen. Dies
Charta der Grundrechte der Europäischen spiegelt sich bereits in der Zusammensetzung des Kon-
Union vents wider, denn drei Viertel der Mitglieder dieses Gre-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, miums sind Parlamentarier. Es ist ein Signal für mehr
Peter Altmaier, Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Demokratie, wenn eine Weichenstellung in Richtung ei-
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU ner Konkretisierung der Werteordnung in Europa durch
Die Rechte der Bürger stärken – Für eine ein solches Gremium vorgenommen wird. Deshalb soll-
bürgernahe Charta der Grundrechte der ten wir alle dazu beitragen, das Projekt zum Erfolg zu
Europäischen Union führen.
– zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Weil wir in früheren Debatten und auch in der Debatte
Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer, im Mai in diesem Hause ein hohes Maß an Konsens fest-
Dr. Helmut Haussmann, weiterer Abgeordne- gestellt hatten, habe ich seinerzeit vorgeschlagen, nach-
ter und der Fraktion der F.D.P. dem die Anträge der Koalitionsfraktionen einerseits und
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11023
Prof. Dr. Jürgen Meyer (Ulm)

(A) der Oppositionsfraktionen andererseits vorgelegt worden vent in Brüssel. Ich finde, man sollte die Auseinander- (C)
waren, diese zu einer gemeinsamen Entschließung zu- setzung, die auf nationaler Ebene zu führen ist, vor allem
sammenzufassen. Die fast zweimonatigen Bemühungen dann nicht nach Brüssel verlagern, wenn man sie nicht
nach der letzten Debatte schienen erfolgreich zu sein. Lei- gewinnen kann; denn für eine Grundgesetzänderung gibt
der ist es heute doch nicht möglich, eine gemeinsame Ent- es keine Mehrheit.
schließung zu verabschieden.
Außerdem werden wir in die Grundrechtecharta hi-
Bevor ich dazu eine Bemerkung mache, möchte ich neinschreiben, dass durch sie in keinem Fall das Niveau
aber feststellen, dass alle Fraktionen in diesem Parlament weiter gehender nationaler Grundrechte gesenkt werden
in zahlreichen Punkten inhaltlich übereinstimmen. Wir darf. Darauf haben wir uns verständigt. Das betrifft übri-
sind uns darin einig, dass die Arbeiten des Konvents zur gens nicht nur ein einzelnes Grundrecht. Diese Forderung
Erarbeitung der Grundrechtecharta weiter unterstützt wurde von Delegierten verschiedener Länder erhoben.
werden. Wir sind uns einig darin, dass die Bedeutung der Die Finnen sind zum Beispiel in Sorge, dass das Niveau
Grundrechtecharta auch in der deutschen Öffentlichkeit ihrer hochmodernen Verfassung durch die Grundrechte-
erkannt und gewürdigt und darüber eine breite gesell- charta gesenkt werden könnte. Dies darf nicht geschehen.
schaftliche Debatte geführt werden sollte. Deshalb sind wir der Auffassung – mit den eben skizzier-
Gemeinsam fordern wir die Bundesregierung auf, für ten Folgen für das deutsche Asylrecht –, dass durch die
den Beitritt der Europäischen Union zur europäischen Grundrechtecharta der hohe Grundrechtsstandard der na-
Menschenrechtskonvention einzutreten. Wir sind uns ei- tionalen Verfassungen in keinem Fall gesenkt werden
nig darin, dass der Konvent fortschrittliche und für die darf. Warum also streiten wir im Zusammenhang mit der
europäische Integration zentrale Grundrechte formulieren Charta dann über diesen Punkt?
sollte, wozu insbesondere ein Diskriminierungsverbot, Ein weiteres Thema, mit dem wir uns in den nächsten
ein aktives Gleichstellungsgebot sowie kulturelle Grund- zwei Wochen im Konvent sehr intensiv beschäftigen wer-
rechte gehören. Wir sind uns auch einig darin, dass die den, sind die sozialen Grundrechte. Wir hatten uns ei-
Aufnahme von wirtschaftlichen und sozialen Rechten un- gentlich darauf verständigt, klarzustellen: Es ist an der
ter Berücksichtigung der europäischen Sozialcharta und Zeit, die immer wieder beschworene Unteilbarkeit und
der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Universalität der Menschenrechte auch dadurch zu doku-
Arbeitnehmer in die Charta unterstützt werden sollte. Und mentieren, dass – dem Auftrag von Köln entsprechend –
ich denke, wir sind uns einig darüber, dass sich die Bun- die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte Eingang in
desregierung im Europäischen Rat für die Rechts- die Charta finden. Warum streiten wir also darüber? Im
verbindlichkeit der Grundrechtecharta mit individueller Konvent besteht Einigkeit darüber, dass durch die Grund-
Klagemöglichkeit einsetzen sollte. rechtecharta die Kompetenzen der EU-Organe nicht er-
(B) Nun werden manche mit Recht fragen: Warum legen weitert werden können. (D)
die Fraktionen des Deutschen Bundestages angesichts Ich bin der Auffassung, wir sollten gemeinsam überle-
von so viel Einigkeit nicht eine gemeinsame Entschlie- gen, ob die bevorstehende Debatte im Konvent in Brüssel
ßung vor? Dabei kann es natürlich nicht darum gehen, so nicht auch von uns unterstützt werden sollte. Es ist offen-
etwas wie einen Einheitsbrei herzustellen oder abstrakte sichtlich, dass es Streit über die sozialen Grundrechte
Formulierungen, die letztlich wenig aussagen, zu Papier gibt. Wer wollte das in Abrede stellen? Es ist auch offen-
zu bringen. Aber die Substanz dessen, was uns verbindet, sichtlich, dass einige Länder großen Wert darauf legen,
ist so groß, dass die Frage, warum es nicht zu einer ge- eine riesengroße Zahl an sozialen Grundrechten zu for-
meinsamen Entschließung gekommen ist, tatsächlich mulieren. Wir sind dagegen der Auffassung – ich habe das
schwer zu beantworten ist. eben als gemeinsame Auffassung dargestellt –, dass man
Die Ablehnung kam Anfang dieser Woche – für viele nur Grundrechte formulieren sollte, die auch einklagbar
von uns überraschend – aus der CDU/CSU-Fraktion. Ich sind. Deshalb werbe ich um die Unterstützung für den
habe natürlich versucht, rational nachzuvollziehen, wo- Versuch – den ich gemeinsam mit dem Delegierten der
rauf sich diese Ablehnung gründet, und festzustellen, ob französischen Regierung, Herrn Braibant, unternommen
diese Ablehnung vielleicht nur ein Mittel ist, Profil auf ei- habe – hier einen Mittelweg zu finden. Roman Herzog
nem ungeeigneten Feld der Auseinandersetzung zu zei- hat, als die Debatten im Konvent sehr streitig ausgetragen
gen. Es wurde auf nicht zuzudeckende Meinungsunter- wurden, ausdrücklich aufgefordert, einen solchen Mittel-
schiede – es hat ja keinen Sinn, darum herumzureden – weg zu finden.
bezüglich des Grundrechts auf Asyl hingewiesen. Wir Der Mittelweg besteht darin, dass wir – das ist die erste
hatten uns aber ursprünglich darauf verständigt, dass wir Säule – in die Präambel der Charta und in die Überschrift
uns dem Bekenntnis des Europäischen Rates von Tam- des Kapitels über die sozialen Grundrechte den Grundsatz
pere, dem künftigen europäischen Asylrecht die Genfer der Solidarität hineinschreiben, dass wir – das ist die
Flüchtlingskonvention uneingeschränkt und allumfas-
zweite Säule – in acht Artikeln, gruppiert um die Elemente
send zugrunde zu legen, anschließen wollten.
Arbeit, Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit, die
Nun bin ich der Auffassung, dass die auf nationaler Respektierung und den Schutz sozialer Grundrechte hi-
Ebene sicherlich notwendige Auseinandersetzung um das neinschreiben und dass wir – das ist die dritte Säule –
von der CDU/CSU-Fraktion gewünschte lediglich institu- deutlich machen: Es wird auch künftig Konventionen mit
tionelle Asylrecht und das von uns weiterhin für richtig neuen – auch sozialen – Grundrechten geben. Diese sind,
gehaltene einklagbare individuelle Grundrecht auf Asyl wenn alle Mitgliedstaaten zugestimmt haben, Grundlage
auch geführt werden muss. Aber jetzt geht es um den Kon- der Auslegung und Anwendung der Charta.
11024 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Ulm)

(A) Um deutlich zu machen, dass wir uns eigentlich ver- Mir ist klar, dass Sie in Ihrer Fraktion dafür gekämpft (C)
ständigen könnten, will ich einmal die drei Sätze vorlesen, haben und sich letztlich gegenüber Ihren CSU-Kollegen
die Herr Braibant und ich in Bezug auf das Recht der Ar- nicht durchgesetzt haben. Ich bitte Sie dringend, dieses
beit vorgeschlagen haben. Ich wüsste gerne, ob irgend-je- Problem zu lösen und nicht zuzulassen, dass das, was Frau
mand in diesem Raum ist, der dem nicht zustimmt. Wir Merkel zu diesem Thema gesagt und durchgesetzt hat,
formulieren da: von Herrn Stoiber wieder aus dem Gefecht gezogen wird.
Jeder hat das Recht, zu arbeiten, und das Recht auf (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Eckart von
Schutz seines Arbeitsplatzes. Insbesondere hat jeder Klaeden [CDU/CSU]: Wir stehen ja gar nicht
das Recht, seinen Beruf frei zu wählen und auszu-
im Gefecht! Nicht so martialisch!)
üben, sowie das Recht auf freien Zugang zu unent-
geltlicher Arbeitsvermittlung. Jeder hat Anspruch auf Ich habe sehr genau beobachtet, dass Sie in unserer
Schutz vor ungerechtfertigter oder missbräuchlicher letzten Debatte am 18. Mai irritiert reagierten, als der
Entlassung. CSU-Kollege Dr. Müller zu der Bedingung für die Rati-
Wer kann denn gegen ein so formuliertes soziales Grund- fizierung der Charta sagte:
recht der Arbeit sein? Wir wollen keine Kompetenzausweitung, sondern
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ erwarten Kompetenzbeschränkungen.
DIE GRÜNEN) Wie kann man so etwas von der Grundrechtecharta, die
Ich habe gehört, dass die Debatte in der CDU/CSU- sich mit der Kompetenzfrage bekanntlich nicht zu befas-
Fraktion letztlich deshalb zum Nein zu einer gemeinsa- sen hat, überhaupt erwarten? Kommen Sie zu einer ver-
men Entschließung führte, weil man sich über die Auf- nünftigen Einigung mit den CSU-Kollegen in Ihrer Frak-
nahme eines kleinen Satzes nicht einig geworden sei. Wir tion! Wenn das geschehen ist, dann legen wir – das ist
hatten im Entwurf der gemeinsamen Entschließung fol- meine Überzeugung – wieder gemeinsame Entschließun-
genden Satz vorgesehen: gen vor. Die Grundlage dafür ist breit genug.
Die Charta soll klarstellen, dass gleichgeschlecht- Lassen Sie uns gemeinsam feststellen: Es geht bei der
liche Paare nicht benachteiligt werden dürfen.
Grundrechtecharta um die Identität der Europäer, die ihre
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Werteordnung, an die sie gebunden sind, deutlich machen
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sollten. Genauso wichtig ist: Es geht um die Kontrolle von
Was haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Machtausübung durch die EU-Organe in Brüssel.
(B) der CDU/CSU-Fraktion – mir ist schon klar, dass ich ei- (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.]: (D)
gentlich diejenigen ansprechen müsste, die nicht da Das ist der Kern!)
sind –, gegen diesen Satz?
Dass wir dafür gemeinsam eintreten, das sollte künftig
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Herr
Altmaier wird das gleich in vernichtender wieder deutlicher werden, als es heute durch Mehrheits-
Deutlichkeit klarmachen!) entscheidungen über einen Antrag der Koalition deutlich
werden kann. Überlegen Sie bitte, ob Taktik nicht manch-
Ich will Ihnen einmal in Gegenüberstellung zu diesem mal Übertaktieren – Taktik wird über die Sache gestellt –
ganz bescheidenen kurzen Satz in Erinnerung rufen, was bedeutet.
Sie vor kurzem auf Ihrem Parteitag zu diesem Thema be-
schlossen haben, Frau Merkel hat es sehr unterstützt, – ich Ich werde mich jedenfalls durch die Abstimmungen,
zitiere aus Ihrem Parteitagsbeschluss –: die heute leider nicht im Konsens erfolgen werden, nicht
Wir respektieren die Entscheidung von Menschen, davon abhalten lassen, auch mit den Europapolitikern der
die in anderen Formen der Partnerschaft ihren Le- Oppositionsfraktionen, die für eine gemeinsame Ent-
bensentwurf zu verwirklichen suchen. schließung gekämpft haben und denen es in erster Linie
um die Sache und nicht um parteitaktischen Vorteil geht,
(Peter Hintze [CDU/CSU]: So ist es!) weiter konstruktiv zusammenzuarbeiten.
Wir anerkennen, dass auch in solchen Beziehungen
Ich danke Ihnen.
Werte gelebt werden können, die für unsere Gesell-
schaft grundlegend sind. Dies gilt für nicht eheliche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Partnerschaften zwischen Frauen und Männern; dies DIE GRÜNEN)
gilt auch für gleichgeschlechtliche Partnerschaften.
Wir werben für Toleranz und wenden uns gegen jede
Form von Diskriminierung. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Eine Kurzinterven-
tion? – Bitte, Herr Kollege Hintze, wenn es denn sein
(Beifall im ganzen Hause) muss.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, genau dies hatten (Widerspruch bei der SPD und beim BÜND-
wir für unsere gemeinsame Entschließung vorgesehen.
NIS 90/DIE GRÜNEN – Gegenruf des Abg.
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Schreiben Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: So wichtig ist
Sie das in die Charta und wir stimmen zu!) uns Europa!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11025

(A) Peter Hintze (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Parlament gibt, und es wäre de facto auch gescheitert, (C)
Kolleginnen und Kollegen, die Sie um diese Stunde noch wenn es nicht irgendwann einmal als verbindlich in die
im Deutschen Bundestag sind! Der Beitrag des Kollegen europäischen Verträge übernommen würde. Aus unserer
Professor Meyer erfordert doch eine kurze, friedliche Sicht wäre das schade. Die Charta wäre dann nämlich das
Klarstellung. Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist. Deshalb meine
ich, dass wir bei dieser Debatte, die wir heute und in den
Sie haben unseren Parteitagsbeschluss ausgesprochen
nächsten Wochen führen, bei allen Unterschieden in der
zutreffend zitiert und auch ausgesprochen zutreffend fest-
gestellt, dass für CDU und CSU die Wahl der persönli- Sache deutlich machen müssen, dass uns daran gelegen
chen Lebensform zur Bestimmungsfreiheit jedes einzel- ist, einen Konsens über die grundlegenden Fragen im Zu-
nen Menschen gehört. Sie haben dann fälschlicherweise sammenhang mit der Charta zustande zu bringen.
mit Blick auf die Grundrechtecharta den Eindruck er- (Beifall bei der CDU/CSU)
weckt, dies sei nicht mehr unsere Auffassung. Richtig ist,
dass wir bei der Gesamtwürdigung des Antrages, der hier Lieber Kollege Meyer, ich glaube nicht, dass es uns
gemeinsam eingebracht werden sollte, zu der Auffassung weiterführt, wenn wir uns gegenseitig taktische Motive
kamen, dass die Gewichte insbesondere durch die ge- unterstellen oder unterstellen, dass wir vorsätzlich ge-
wählten Formulierungen zwischen dem von uns allen hof- meinsame Anträge nicht hätten zustande kommen lassen.
fentlich für richtig gehaltenen Schutz von Ehe und Fami- Sie wissen doch ganz genau, dass jeder hier in diesem
lie auf der einen Seite und der Wahlfreiheit der persönli- Haus, dass CDU/CSU, SPD, F.D.P. und Bündnis 90/Die
chen Lebensform auf der anderen Seite ein bisschen Grünen von Anfang an dieses Projekt einer europäischen
ungleich verteilt waren. Deswegen erschien es uns richti- Grundrechtecharta gemeinsam mitgetragen und unter-
ger, die Vorstellungen unserer Fraktion in der Form eines stützt haben. Gerade auch Kollegen aus der CDU/CSU, in
eigenen Antrages einzubringen. erster Linie Professor Roman Herzog, der ehemalige
Bundespräsident, aber auch der Kollege Gnauck, der den
(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Das alles Bundesrat im Konvent vertritt, und meine Wenigkeit als
wegen eines Satzes!) Stellvertreter, haben ihren Beitrag dazu erbracht, dass die
Im Übrigen sollten wir uns auch in Zukunft nicht den Arbeiten so weit gediehen sind. Wir arbeiten doch kon-
Weg zu gemeinsamen Vorhaben dadurch verstellen, dass struktiv und sachlich zusammen. Und deshalb bin ich der
in Plenardebatten eklektisch aus der Entstehungsge- Auffassung, dass wir die heutige Debatte über unter-
schichte eines gemeinsamen Antragsversuches berichtet schiedliche Anträge in der gebotenen Sachlichkeit führen
wird. Sie wissen ja, dass dieser gemeinsame Antrag ver- sollten.
schiedene Ecken und Kanten hatte und noch andere (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(B) Aspekte berührte. Wenn Sie ein Interesse daran haben, (D)
dass wir in Zukunft europapolitische Projekte gemeinsam Ich hätte mir in der Tat gewünscht, dass wir einen ge-
betreiben, dann bitte ich Sie doch, hier nicht einseitig im meinsamen Antrag zustande bringen. Wir waren auch
Plenum Dinge zu zitieren, sehr weit gediehen; es hat uns zum Schluss nicht mehr
sehr viel getrennt. Eine Situation war erreicht, in der man
(Unruhe bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ sich die Frage stellen konnte, ob dieser Antrag gerade
DIE GRÜNEN) noch annehmbar ist oder ob er gerade nicht mehr kon-
die viele Kolleginnen und Kollegen nicht mitverfolgen sensfähig ist. Wir haben uns letzen Endes nach langen
konnten, und nicht unruhig zu werden, wenn man einmal Diskussionen, in denen wir es uns nicht einfach gemacht
versucht, das kurz klarzustellen. haben, dafür entschieden, streitig über die einzelnen An-
träge abzustimmen, weil wir glauben, dass es unter Um-
(Beifall bei der CDU/CSU) ständen sogar besser sein kann – wenn also klar ist, dass
es nicht um eine grundsätzliche Haltung zur Charta geht,
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun sind wir ge- aber um einzelne Rechte, die aufgenommen werden sol-
spannt auf die Rede des Kollegen Peter Altmaier, dem ich len und über die diskutiert werden muss –, wenn die un-
nun das Wort erteile. terschiedlichen Auffassungen, die es in inhaltlichen Fra-
gen gibt, in diesem Hohen Haus auch zum Ausdruck
kommen.
Peter Altmaier (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Konvent zur Erarbeitung der Wir schulden der Öffentlichkeit auch ein gewisses Maß
Grundrechtecharta beschäftigt sich seit ungefähr einem an Ehrlichkeit. Wir dürfen nicht jeden Unterschied mit
halben Jahr mit diesem Thema. Dabei zeigt sich immer Worten von großer Einigkeit zudecken.
mehr, dass dieses Projekt zu Anfang unterschätzt wurde. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie
Es ist ein großes, ein richtiges und möglicherweise auch der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜND-
ein historisches Projekt der europäischen Integration. NIS 90/DIE GRÜNEN])
Wir sind aber noch weit davon entfernt, es als gelungenes
Projekt bezeichnen zu können. Dieses Projekt kann schei- Und deshalb frage ich mich, ob wir mit dem, was wir ge-
tern: Es kann auf den letzten Metern im Konvent selber meinsam formuliert hatten, nicht einfach auch der Versu-
scheitern, es kann scheitern, wenn es in Nizza nicht feier- chung erlegen sind, mit schönen Worten eine Einigkeit
lich proklamiert wird, weil es keinen Konsens zwischen vorzutäuschen, die in der Sache in dieser Form gar nicht
den beteiligten Mitgliedstaaten und dem Europäischen besteht.
11026 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Peter Altmaier

(A) Ich will dazu drei Beispiele nennen. Das erste Beispiel Wir wollen dies aus folgendem Grund, Frau Kollegin (C)
betrifft die so genannten wirtschaftlichen und sozialen Roth: Wenn wir jetzt in diese Charta hineinschreiben wür-
Rechte. Wir unterscheiden uns doch überhaupt nicht den, es gibt einen Individualanspruch auf Asyl, würde das
darin, dass wir das, was wir als europäisches Sozialmodell bedeuten, dass die Debatte über eine künftige europäische
bezeichnen, dass wir die Sozialstaatsverpflichtung, wie Harmonisierung des Asylrechts beendet ist, weil es sich
wir sie aus dem Grundgesetz kennen, auch in dieser nämlich um einen Mindeststandard handelt, der niemals
Grundrechtecharta deutlich zum Ausdruck bringen wol- mehr unterschritten werden kann. Ich sage Ihnen deshalb:
len. Aber ich meine, man muss den Menschen schon klar Es wird im Konvent keinen Konsens über diese Frage ge-
sagen, was man mit den einzelnen Vorschriften konkret ben. Es wird auch keine Chance geben, dass eine solche
erreichen will. Wenn wir in die Charta Vorschriften über Charta jemals rechtsverbindlich wird, wenn Sie darauf
ein faires Verfahren, über eine ordnungsgemäße Verwal- bestehen, die hohen Standards des deutschen Grundgeset-
tung und über einen Zugang zu Informationen aufneh- zes dort festzuschreiben. Bei der Charta geht es um
men, dann handelt es sich um ganz konkrete Rechte, die Mindeststandards. Deshalb kann es nur darum geben,
der Bürger gegenüber den europäischen Institutionen ein- dass wir in dieser Charta eine Institutsgarantie auf Asyl
klagen kann. Das heißt, wir verbessern seine Rechtsposi- festschreiben und unser Bekenntnis zur Genfer Flücht-
tion. Wir geben dem Bürger etwas an die Hand, sodass er lingskonvention deutlich machen. Es muss dann im Rah-
zum Beispiel künftig in Brüssel bei der Europäischen men des Tampere-Prozesses darüber diskutiert werden,
Kommission Akten für bestimmte Bereiche einsehen wie ein harmonisiertes europäisches Asylrecht auszu-
sehen hat.
kann.
Nun frage ich Sie, Herr Kollege Meyer: Was bezweckt
Ähnliche Fragen müssen wir auch in Bezug auf die so-
denn Ihr Antrag? Wollen Sie mit Ihrem Antrag die Insti-
zialen Grundrechte beantworten. Was soll sich nach Ihrer
tutsgarantie, wie das Ihr Innenminister bei jeder Gelegen-
Auffassung für die Bürger in Europa mit der Aufnahme
heit propagiert? Wollen Sie das Individualgrundrecht fest-
dieser sozialen Grundrechte ändern? Sind es nur unver- schreiben mit dem Ergebnis, dass Herr Schily gar nicht
bindliche Zielbestimmungen, die nichts ändern? Wollen mehr nach Brüssel fahren muss, weil die von ihm einge-
Sie, dass diese Rechte einklagbar sind? Was bedeutet das? forderte Harmonisierung gar nicht mehr möglich ist? Das
Sie haben gesagt, es solle keine neuen Kompetenzen wird aus Ihrem Antrag nicht klar. Deshalb meine ich: Sie
geben. schulden Ihren eigenen Wählerinnen und Wählern, der
Sie haben in Ihrem Antrag ein Recht auf Zugang zu Öffentlichkeit sowie den NGOs Auskunft darüber, was
Leistungen der Gesundheitsfürsorge – damit ist die Kran- Sie mit dieser Charta im Einzelnen erreichen wollen. Das
kenversicherung gemeint – gefordert. In jedem Mit- wird in diesem Antrag nicht klar.
(B) (D)
gliedsland gibt es dieses Recht. Bedeutet das aber in Zu- Ein drittes Beispiel, meine Damen und Herren. Wir ha-
kunft auch, dass jemand den Europäischen Gerichtshof ben uns in der Tat bis zum Schluss darüber gestritten, ob
anrufen kann, weil er der Auffassung ist, dass die Warte- in diese Charta ein Verbot der Benachteiligung von
listen in Großbritannien oder die rot-grüne Reform im Ge- gleichgeschlechtlichen Paaren aufgenommen werden
sundheitswesen die Einlösung genau dieses Anspruchs soll. Heute Morgen haben wir im Bundestag über eine ent-
unmöglich machen? Das würde nämlich bedeuten, dass sprechende gesetzliche Regelung in Deutschland debat-
wir im nationalen Bereich zwar weiterhin für die Sozial- tiert. Ich denke, dass meine Fraktion deutlich gemacht hat,
politik zuständig sind, dass aber der Europäische Ge- dass sie in diesem Bereich Diskussionsbedarf sieht und
richtshof in Luxemburg darüber entscheidet, wie diese dass man wirklich darüber nachdenken muss, was man an
Zuständigkeit ausgeübt wird. der gegenwärtigen Rechtslage ändern muss. Die Frage ist
nur, wo wir diese Diskussion führen. Wollen Sie wirklich,
Damit wir uns richtig verstehen: Ich halte weder die dass wir entscheidende Teile des deutschen Familien-
Wartelisten in Großbritannien noch die rot-grüne Budge- rechts auf europäischer Ebene harmonisieren?
tierung im Gesundheitswesen für wegweisende Erfindun-
gen des 21. Jahrhunderts. Aber ich möchte, dass wir die Sie haben in Ihrem Antrag die Freiheit der Wahl des
politische Debatte über diese Themen im Deutschen Bun- Statuts für gleichgeschlechtliche Paare gefordert. Das
destag führen und dass entsprechende Fragen nicht durch heißt, dass es in Zukunft in jedem Mitgliedsland möglich
Richterrecht in Luxemburg entschieden werden. sein muss, dass man eine eingetragene Partnerschaft in
Anspruch nehmen kann. So habe ich Ihren Antrag ver-
Wir müssen uns die entsprechenden Fragen auch beim standen, so verstehen es viele draußen. Wenn das nicht so
Thema Asyl stellen. Was wollen wir zu diesem Thema in gemeint ist, müssen Sie das sagen. Ich finde, es ist nicht
die Charta aufnehmen? Wir haben mit unserem Antrag richtig, Erwartungen zu wecken, die man nachher nicht
deutlich gemacht – das wird die Kollegin Roth wahr- einlösen kann.
scheinlich als nicht akzeptabel empfinden –, dass wir die
Genfer Flüchtlingskonvention uneingeschränkt, aber als Meine Damen und Herren, wenn wir über das Zustan-
Institutsgarantie und eben nicht als Individualanspruch dekommen einer solchen Charta sprechen, gehört auch
wollen. dazu, dass wir uns darüber klar werden, dass in Europa
solche Entscheidungen nur funktionieren, wenn man zum
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Kompromiss bereit ist. Wir haben eine unglaublich viel-
GRÜNEN]: Das ist eine eingeschränkte Inter- fältige politische Landschaft in Europa, unterschiedliche
pretation!) politische Kulturen, unterschiedliche Grundrechtstradi-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11027
Peter Altmaier

(A) tionen. Wenn Sie jede Debatte mit der Erklärung begin- Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
nen, Sie seien für eine Charta, Sie seien dafür, dass dieses NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
und jenes geregelt werde, dies dürfe aber nicht dazu gen! In der Tat ist die Grundrechtecharta im Rahmen der
führen, dass die deutschen Rechtsstandards unterschritten Diskussion über eine europäische Verfassung sicher ein
würden, werden wir, wenn jeder dies für sich in Anspruch ganz wichtiger Aspekt des verfassunggebenden Prozes-
nimmt, niemals zu einem Ergebnis kommen. Diese Charta ses. Ich habe immer Angst, von „Verfassung“ zu sprechen,
wird im September nur dann zum Erfolg kommen, wenn (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.]:
es bei allen Beteiligten ein hohes Maß an Kompromiss- Warum das denn?)
bereitschaft gibt.
weil ich weiß, wie unterschiedlich der Begriff „Verfas-
Wir müssen zum Beispiel auch über neue Rechte dis- sung“ in Europa verstanden wird. Deshalb halte ich es für
kutieren, die wir in diese Charta hineinschreiben. Wir hat- besser, vom „verfassunggebenden Prozess“ zu sprechen,
ten uns in dem gemeinsamen Antrag zu dem Informati- da sich in diesem Begriff unterschiedliche Traditionen
onszugangsanspruch bekannt. Ich halte das für ganz wich- vereinen können.
tig. Das tragen wir mit. Wir haben uns auch dazu bekannt, Über die Notwendigkeit einer Grundrechtecharta be-
dass wir im Bereich des Datenschutzes, im Bereich der steht in diesem Hause sicher ein großer Konsens. Ich
Gen- und Biotechnologie Regelungen aufnehmen. denke, es ist unstrittig, dass die Entwicklung der Wirt-
Aber nun frage ich Sie: Warum war es denn so schwie- schaftsgemeinschaft hin zur politischen Union einer
Flankierung durch einen effektiven Grundrechtsschutz
rig, mit Ihnen über ein Verbot der Vertreibung, über ein
bedarf, dass die Europäische Union endlich ein bürger-
Grundrecht auf Heimat zu reden? Das war mit der Koali-
rechtliches Fundament braucht und dass dieser Grund-
tion nicht zu machen. Ich verstehe ja, dass viele sagen, die rechtsschutz nicht nur im Bereich der Asyl- und Migrati-
Debatte sei historisch belastet, aber angesichts der Ver- onspolitik sowie im Bereich der polizeilichen Zusam-
treibungen, die im ehemaligen Jugoslawien, in Bosnien, menarbeit notwendig ist, in dem es große schwarze
im Kosovo bis in die allerjüngste Zeit stattgefunden ha- Demokratielöcher gibt, sondern auch in der Gemeinsa-
ben und möglicherweise in anderen Teilen Europas noch men Außen- und Sicherheitspolitik. Ebenso gibt es im Be-
stattfinden werden, was niemand von uns hofft, müssen reich der Sozialunion einen Nachholbedarf an Grund-
wir uns doch der Frage stellen, wie wir damit umgehen. rechten.
Dann kann es doch nicht verboten sein, darüber nachzu-
Die Grundrechtecharta stärkt zudem die Idee einer
denken, ob in dieser Charta erstens ein Recht auf Minder-
Unionsbürgerschaft; denn die Handlungsmöglichkeiten
heitenschutz und zweitens ein Vertreibungsverbot deut- der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger werden sich er-
(B) lich sichtbar verankert werden sollen. weitern. Wir haben in diesem Zusammenhang immer da- (D)
Meine Damen und Herren, ich bin optimistisch, dass rauf bestanden, dass es nicht zu unterschiedlichen Grund-
wir es schaffen werden, in der verbleibenden Zeit und mit rechtsstandards kommen darf, dass es nicht innerhalb der
einer lebhafter werdenden innerstaatlichen Debatte – das Europäischen Union Menschen mit unterschiedlichen
ist ganz normal – dazu zu kommen, dass die europäische Rechten geben darf. Deswegen plädiere ich eindringlich
Charta, die wir hoffentlich im September im Konvent ver- dafür, die Unterscheidung zwischen Unionsbürgerinnen
und Unionsbürgern und anderen Bürgern nicht in der
abschieden werden, einen Schritt nach vorn bedeutet,
Charta der Grundrechte, die für alle Menschen gelten soll,
auch wenn sie nicht alle Erwartungen und sicherlich nicht
zu vertiefen.
jede einzelne Wunschvorstellung in Bezug auf konkrete
Rechte erfüllt. Wichtig ist aber, dass wir uns diesen Man kann sagen, dass die bisherigen Arbeiten des Kon-
Bemühungen unterziehen. Die Diskussion, die nun in vents sehr ermutigend waren, wenn es auch noch viele
Gang gekommen ist, die auch von Joschka Fischer und Dinge zu kritisieren gibt und noch ein großer Verbesse-
von dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac rungsbedarf besteht. Ich glaube, das Forum des Konvents
aufgegriffen worden ist, zeigt, dass diese Grundrechte- ist ein gutes neues Mittel zur Förderung der europäischen
chartadiskussion im Umfeld einer generellen Debatte Integration. Ich denke auch, dass durch eine erfolgreiche
Arbeit des Konvents die bisherige alleinige Herrschaft der
über die Zukunft der Europäischen Union bis hin zur
Regierungskonferenzen um etwas sehr Positives ergänzt
Frage einer europäischen Verfassung und der Finalität der
wird.
europäischen Integration stattfindet.
Warum kein gemeinsamer Konsens auf dem Tisch
Ich meine, das lohnt die Mühe, auch in Zukunft an ei- liegt, haben schon meine Vorredner ausführlich geschil-
ner gemeinsamen Position nicht in jeder einzelnen Frage, dert. Auch ich bin der Meinung, dass es, wenn es keinen
aber im Hinblick auf das große Ziel der Charta festzu- Konsens geben konnte, besser ist, dass die unterschiedli-
halten. chen Positionen dargestellt werden. Ich denke, das ist
Vielen Dank. sinnvoller als ein entleerter Kompromiss. So war zumin-
dest unsere Meinung im Menschenrechtsausschuss, der
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) beratend an der Grundrechtecharta mitwirkt.
Ich möchte ein paar Sätze zu meiner Kritik an den An-
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat die Kollegin trägen der anderen Fraktionen sagen. Ich finde viele
Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Punkte im Antrag der F.D.P.-Fraktion sehr gut. Aus
11028 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Claudia Roth (Augsburg)

(A) meiner Sicht ist jedoch der Bereich der wirtschaftlichen Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, den- (C)
und sozialen Grundrechte bei Ihnen zu stark einge- ken Sie bitte an Ihre Redezeit.
schränkt. Mit dieser eingeschränkten Sichtweise fallen
Sie, glaube ich, sogar hinter die großen UNO-Pakte und Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
die Forderungen der Wiener Menschenrechtskonferenz NEN): Entschuldigen Sie, ich bin etwas langsam, weil ich
und des Kopenhagen-5-Prozesses zurück. allmählich wirklich müde werde.
Zu dem Antrag der Union: Ich bin froh, Herr Altmaier
und Herr Hintze, dass Sie sich eindeutig zu der Notwen- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das verstehe ich an-
digkeit einer Grundrechtecharta bekannt haben. In der gesichts dessen, dass wir beide hier wirklich lange geses-
Union gibt es sicher auch andere Positionen; von daher ist sen haben.
das zu begrüßen. In Ihrem Antrag gibt es im Wesentlichen
drei Punkte, mit denen ich große Probleme habe.
Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Zunächst habe ich große Schwierigkeiten damit, dass Sie
NEN): Deswegen möchte ich das Ganze auch nicht wei-
in der Charta die christlich-abendländische Tradition Eu-
ter in die Länge ziehen.– Ich wünsche unseren Männern,
ropas festschreiben wollen.
die im Konvent arbeiten, viel Kraft. Sie werden von uns
(Peter Altmaier [CDU/CSU]: Das europäische noch viele gute Vorschläge bekommen. Herr Altmaier, da
Menschenbild!) hoffe ich auch auf Sie. Bei Herrn Meyer bin ich mir sehr
sicher. Uns wünsche ich ein paar schöne Sommertage. –
Für mich ist das ein Anachronismus. Wie um alles in der Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Welt wollen Sie zum Beispiel dem Beitrittskandidaten
Türkei die Möglichkeit geben, sich in einem solchen ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
meinsamen europäischen Raum wiederzufinden? bei der SPD und der PDS sowie des Abg. Peter
Altmaier [CDU/CSU])
(Peter Hintze [CDU/CSU]: Das ist eine gute
Frage!)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Für die F.D.P.-Frak-
– Ich weiß. – Ich gehe davon aus, dass damit klar ist, dass tion spricht nun Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Sie die Türkei nicht als Teil dieser Europäischen Union
wahrnehmen wollen; denn sonst würden Sie sich nicht auf
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (F.D.P.):
die christlich-abendländische Tradition beschränken.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Projekt europäische Grundrechtecharta wirkt auf mich
(B) und bei der PDS) elektrisierend. Das macht mich munter und überhaupt (D)
nicht müde.
Darüber würde ich gerne eine ausführliche Debatte mit
Ihnen führen. (Beifall im ganzen Hause)
Ferner glaube ich, dass auch bei Ihnen der Grundsatz Deshalb bin ich froh, dass wir heute die Gelegenheit ha-
der Unteilbarkeit der Menschenrechte eingeschränkt ben, nicht zum letzten, sondern erst zum zweiten Mal über
wird. Unteilbarkeit heißt ja, dass politisch-bürgerliche dieses meiner Meinung nach wichtigste Projekt im Rah-
Freiheitsrechte in Verbindung mit den sozialen, wirt- men des derzeitigen europäischen Integrationsprozesses
schaftlichen und kulturellen Rechten zwei Seiten einer zu diskutieren.
Medaille sind. Wenn Sie nun aber in Ihrem Antrag schrei- (Peter Hintze [CDU/CSU]: Hängen wir noch
ben, dass es in erster Linie um die klassischen Freiheits- ein Stündchen dran!)
und Verfahrensrechte geht, dann etablieren Sie eine Hie-
rarchie, wodurch die Unteilbarkeit in ein Ungleichge- Die F.D.P. bekennt sich uneingeschränkt zur europä-
wicht gerät. Das ist mein Kritikpunkt. ischen Grundrechtecharta,
(Beifall bei der F.D.P.)
Herr Altmaier, Sie haben es natürlich angesprochen:
Ich bin tatsächlich ganz anderer Auffassung als Sie, was die im Rahmen der Integration und des Verfassung-
das Asylrecht angeht. Angesichts dessen, dass Sie von gebungsprozesses in der Europäischen Union ein wesent-
der Notwendigkeit der Kompromissfindung sprechen, liches Projekt ist.
muss ich unterstellen, dass die Europäische Union ein (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so-
Stück weit dazu dienen soll, das Asylrecht auf niedrigem wie des Abg. Prof. Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD])
Niveau zu harmonisieren. Seit vielen Jahren wird immer
wieder versucht, Europa dazu zu benutzen, Unliebsames Selbstverständlich muss die Wirtschafts- und Währungs-
aus dem eigenen Land wegzuharmonisieren. Sie haben union ergänzt und zu einer europäischen Wertegemein-
sich ja nicht einmal bereit erklärt, den Beschluss von schaft weiterentwickelt werden. Kann man das besser
Tampere zu übernehmen, in dem von einem uneinge- machen als mit einer klar, verständlich und präzise for-
schränkten und allumfassenden Bezug auf die Genfer mulierten europäischen Grundrechtecharta?
Flüchtlingskonvention gesprochen wird, wobei ich die Deshalb ist für die Bürgerinnen und Bürger in Deutsch-
Genfer Flüchtlingskonvention in der Tat ganz anders in- land ganz eindeutig, Herr Meyer: Der Deutsche Bundes-
terpretiere. tag ist für dieses Projekt. Aber es gibt unterschiedliche
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11029
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

(A) Akzentuierungen und Schwerpunktsetzungen. Ich finde in den europäischen Gremien passiert. Wir wollen auf (C)
es richtig und gut, wenn diese hier herausgearbeitet wer- europäischer Ebene ein Recht auf Asyl und den Schutz
den, wenn aber auch deutlich wird: Wir verfolgen letzt- vor Abschiebung bei Gefahr der politischen Verfolgung
endlich – ich hoffe, darin sind wir uns einig – dieselbe im Heimatland, der Gefahr für Leib und Leben.
Zielrichtung. Diese ist gerade durch die hier im Hohen
Wie aber kann das Endprodukt aussehen, wenn man
Hause von Staatspräsident Chirac gehaltene Rede – Herr
nicht ehrgeizig an ein Projekt herangeht, sondern die Ge-
Meyer, Sie haben es erwähnt – klarer geworden. Er hat das
setze immer nur auf Basis des kleinsten gemeinsamen
enttabuisiert, was ein bisschen wie Mehltau auf vielen,
Nenners formuliert?
auch auf den Mitgliedern im Konvent, lag. Es musste
nämlich einmal deutlich ausgesprochen werden, dass wir (Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg.
dieses Grundrechteprojekt in den langfristig angelegten Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU] und des
Verfassunggebungsprozess der Europäischen Union ein- Abg. Prof. Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD])
ordnen müssen, wobei wir als Liberale am Ende eine Fö-
Ich denke, es ist jetzt an der Zeit, uns ambitioniert den Zie-
deration anstreben und die Grundrechtecharta in diesen
len zu stellen und ehrgeizig zu formulieren, und zwar in
Prozess eine ganz wichtige Dynamik hineinbringen muss.
einer Auseinandersetzung, durch die den Bürgerinnen und
(Beifall bei der F.D.P.) Bürgern in Deutschland deutlich wird, was wir im Rah-
men der Entwicklung der Europäischen Union für sie er-
Denn diese Charta muss ein großes Defizit beseitigen.
Sie muss das Defizit beseitigen, dass wir heute einen nicht reichen wollen.
unwesentlich großen Raum europäischen Handelns ha- Durch das Projekt der europäischen Grundrechtecharta
ben, in dem sich eben nicht an Grundrechten orientiert wollen wir mehr europäisches Bewusstsein und mehr
werden muss. Identität mit Europa schaffen. Das gelingt uns aber nicht,
Wir bekommen immer mehr europäische Organe: wenn wir nur miteinander diskutieren. Es muss vielmehr
Wir haben Europol, die Betrugsbekämpfungseinheit, eine eine öffentliche Diskussion stattfinden. Wir müssen den
handlungsfähige Kommission – dies wurde von uns allen Bürgerinnen und Bürgern deutlich machen, dass sie sich
gefordert –, die wir noch handlungsfähiger machen wol- auf diese Grundrechte berufen und sie letztendlich auch
len. Wir wollen auch das Parlament stärken und entschei- einklagen können.
dungskräftiger machen und dem Rat mehr Mehrheitsent- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg.
scheidungen zugestehen, damit der Prozess vorangeht. Christian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Es kann aber doch nicht sein, dass die Ausübung ge- NEN])
meinschaftlicher Gewalt weiterentwickelt wird, ohne dies
Deshalb ist ganz entscheidend, dass diese Charta, wenn
(B) mit der Ausgestaltung einer Grundrechtecharta zu verbin- sie denn diesen Anforderungen grundsätzlich genügt, ver- (D)
den,
bindlich ist.
(Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg.
Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]) Sollte es aufgrund der verschiedenen Interessen im
Konvent – dort schlagen sich die unterschiedlichen Mei-
auf die sich nicht nur die Bürger der Europäischen Union, nungen der Mitgliedstaaten nieder – nicht zu einer Ver-
sondern auch die Bürger, die sich in der Europäischen bindlichkeitserklärung, sondern, was im Moment wahr-
Union aufhalten, berufen können. scheinlicher ist, nur zu einer Deklaration, also einer un-
Wir sind mit Sicherheit alle der Meinung, dass wir hier verbindlichen Erklärung, kommen, muss – das ist die
differenzieren müssen: Wenn es um die politische Partizi- Meinung der F.D.P.-Bundestagsfraktion – der Meinungs-
pation geht, gilt dies natürlich nur für die Bürger der Eu- bildungsprozess sehr engagiert weitergeführt werden. Wir
ropäischen Union. Geht es aber zum Beispiel um selbst- können den Bürgern nicht sagen: Es ist etwas deklariert
verständliche Menschenrechte, gilt dies für jeden Bürger, worden; das müsst ihr hinnehmen. Wir wissen aber nicht,
der sich in der Europäischen Union aufhält. wann dies einen verbindlichen Charakter bekommt. – Wir
müssen sie vielmehr zur Teilhabe an diesem Prozess auf-
Wir als Liberale wollen eine Grundrechtecharta, die fordern. Und wenn es dann zur Ratifikation der Charta
diesen Namen auch verdient. Grundlage muss die euro- kommt, dann – das kann ich für die Liberalen sagen – un-
päische Menschenrechtskonvention mit den klassischen ter Partizipation der Bürger. Wir wollen, dass dies in
Freiheitsrechten sein; darüber brauchen wir hier kein Deutschland im Rahmen eines Referendums geschieht.
Wort zu verlieren. Aber was will man darüber hinaus in
der Grundrechtecharta verankert wissen? Hier gibt es (Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei
natürlich Unterschiede – im Verständnis, vielleicht auch Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
nur in der Formulierung, was natürlich juristisch eine an- GRÜNEN und der PDS)
dere Bewertung zur Folge haben kann. Dies wurde in der Vergangenheit vielleicht versäumt. Wir
Neben den klassischen Freiheitsrechten auf der Grund- sollten dieses Instrument aber nutzen, auch wenn es damit
lage der europäischen Menschenrechtskonvention ist für zum ersten Mal auf europäischer Ebene Anwendung
uns Liberale das Recht auf informationelle Selbstbestim- findet.
mung hinsichtlich der Verwendung personenbezogener
Vielen Dank.
Daten auf europäischer Ebene unverzichtbar. Es geht da-
rum, wie man besser Kontrolle über das ausüben kann, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
was häufig noch immer in nicht nachvollziehbarer Weise der PDS)
11030 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

(A) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich gebe bekannt, – Ihm habe ich auch schon gedankt. Aber mit dem fran- (C)
dass der Kollege Dr. Klaus Grehn seine Rede für die PDS- zösischen Regierungsvertreter spricht nun wirklich Herr
Fraktion zu Protokoll gegeben hat.1) Meyer. Im Übrigen, Herr Hintze, darf man Dank nicht be-
liebig machen, weil dann niemand mehr glaubt, dass ihm
Nun hat Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister im Aus-
wirklich gedankt wird.
wärtigen Amt, das Wort.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Peter Hintze [CDU/CSU]:
Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister im Auswärtigen
Ich hatte Ihrem Wort doch mehr Gewicht zuge-
Amt: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
sprochen, Herr Zöpel!)
Herren! Schon jetzt lässt sich die Feststellung treffen, dass
der Weg richtig ist, den der Europäische Rat für die Erar- – Das verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht.
beitung einer Grundrechtecharta gewählt hat. Er hat da-
Was erwarten wir im Endergebnis von der Charta? Ers-
mit nämlich überwiegend Vertreter von Parlamenten be-
tens Rechte der Bürger der Europäischen Union im Zu-
auftragt. Hier wird mit einer für mich erstaunlichen Effi-
sammenhang mit Rechtshandeln der Union selbst und mit
zienz gearbeitet.
auf EU-Recht gestütztem Rechtshandeln der Staaten so-
(Heiterkeit – Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wie die Möglichkeit, dass sie ihr Recht auch einklagen
[F.D.P.]: Was heißt „erstaunlich“? – Rolf können, und zweitens tatsächlich eine Wertegemein-
Kutzmutz [PDS]: Das war immer so!) schaft. Die großen Verfassungen in Europa seit der Fran-
zösischen Revolution einschließlich des deutschen Grund-
– Jetzt mache ich noch eine unvorsichtige Bemerkung:
gesetzes haben nach und nach eine Wertegemeinschaft,
Mein Maßstab war eben der Ministerrat. zuerst in den Nationalstaaten – diese immer mehr zusam-
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der menführend –, geschaffen. Wenn wir uns einig sind, dass
PDS sowie des Abg. Peter Altmaier [CDU/ all diesen Verfassungen Ideen der Aufklärung zugrunde
CSU]) liegen, und wenn am Ende der Entwicklung eine Verfas-
sung steht, die für ganz Europa die Prinzipien der Auf-
Mit einer erstaunlichen Effizienz hat dieses Gremium klärung auch rechtlich stärker durchsetzbar machen, so-
die vorgegebenen ebenso wie die selbst gesteckten Ziele weit sie die Rechte des einzelnen Bürgers betreffen, wer-
erreicht. Dies ist sicherlich allen Mitgliedern zu verdan- den wir einen Meilenstein europäischer Geschichte
ken, die von den 15 Mitgliedsländern entsandt sind. erreicht haben. Alle, die daran mitgewirkt haben, dürfen
Aber ich möchte auf deutscher Seite Herrn Bundespräsi- dann darauf stolz sein.
denten Professor Herzog in besonderer Weise danken,
ebenso Ihnen, Herr Kollege Meyer, Herr Kollege Herzlichen Dank.
(B) (D)
Altmaier und Herr Kollege Gnauck. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/ GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)
CSU] und des Abg. Christian Sterzing [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Für den Bundesrat
Für die Bundesregierung gibt es die klare Hoffnung, spricht Minister Gnauck aus dem Lande Thüringen.
dass es einen rechtsverbindlichen Wortlaut geben wird,
der zum geeigneten Zeitpunkt und im geeigneten Verfah- Jürgen Gnauck, Minister (Thüringen) (von der
ren in die Verträge übernommen werden kann. Sollte es CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine
im Gegensatz zur derzeitigen Vorstellung nicht bereits in sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich
Nizza dazu kommen, muss sehr schnell die Frage beant- meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass Sie,
wortet werden, ob auf dem Weg der Vertragsratifizierung Frau Präsidentin, das Thema als spannend bezeichnet ha-
oder eines Referendums das Ziel erreicht wird. ben und dass Frau Leutheusser-Schnarrenberger von
Die französische Regierung unterstützt uns Deutsche „elektrisierend“ gesprochen hat. Daher möchte ich mich
in unserer Hoffnung. Wir haben mit ihr Einigkeit darüber zu dieser späten Stunde bemühen, einige neue Gedanken
erzielt, wie diese deutsche Hoffnung, die an einklagbare beizutragen.
Grundrechte gekoppelt ist, mit der Formulierung von so- Ich bin Ihnen zunächst dankbar, dass der Deutsche
zialen Grundrechten zu verbinden ist, die einen anderen Bundestag noch vor der Sommerpause Gelegenheit
Verbindlichkeitsgrad hätten. nimmt, dieses wichtige Thema zu diskutieren. Auch der
Herr Kollege Meyer, im Namen der Regierung danke Bundesrat wird sich in seiner letzten Sitzung vor der Som-
ich Ihnen für die Beiträge, die Sie in der Konventsarbeit merpause in Bonn nächste Woche Freitag mit einem Ent-
leisten, und vor allem für Ihre Zusammenarbeit mit dem schließungsantrag befassen. Ich denke, dass die Diskus-
Vertreter der französischen Regierung. sion am heutigen Nachmittag anschaulich gemacht hat,
dass man sich im Grundsatz zwar einig ist, dass aber der
(Peter Hintze [CDU/CSU]: Mit Herrn Teufel ganz offensichtlich im Detail steckt. Denn wenn es
Altmaier!) an das Eingemachte geht, liegen die Auffassungen ganz
offensichtlich ein Stück weit auseinander.
Im Konvent – das ist bereits angesprochen worden; ich
1) Anlage 8 danke insbesondere dem Kollegen Meyer und dem Kolle-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11031
Minister Jürgen Gnauck (Thüringen)

(A) gen Altmaier, dass sie durch ihre sachkundigen Beiträge denke an die Bereiche Gentechnologie und Informations- (C)
daran mitarbeiten, das Projekt zum Erfolg zu machen –, technik.
zeichnet sich ein Konsens ab. Ich möchte noch einen Aspekt betonen, der bisher noch
Nachdem wir leider heute auch sehr viel Trennendes nicht von den Rednern vorgetragen worden ist. Das ist die
gehört haben, will ich Ihnen sagen, was die deutschen Frage der Grundrechtseinschränkungen. Da geht man
Länder im Konvent verbindet. Wir sind der festen Über- im Konvent einen anderen Weg, als wir ihn aufgrund un-
zeugung, dass keinerlei neue Kompetenzen auf die Eu- serer Verfassungstradition her kennen. Man versucht,
ropäische Union übertragen werden dürfen. Das ist – ich über allgemeine beschränkende Regelungen quasi etwas
werde gleich noch darauf eingehen – die Conditio sine vor die Klammer zu ziehen, was sonst in unserem Grund-
qua non. Es gibt allerdings noch zwei Probleme, die heute gesetz in einzelnen Grundrechten selbst geregelt worden
schon in einigen Beiträgen anklangen und die ich noch ist. Bis jetzt scheint es – Kollege Meyer und Kollege
einmal kurz anreißen möchte: Altmaier betrachten es auch mit großer Spannung – zu ge-
lingen und wir hoffen, dass über eine so genannte Quer-
Der langjährige deutsche Richter am Europäischen Ge- schnittsbestimmung keine Kompetenzerweiterung droht.
richtshof Hirsch wies darauf hin, dass wir darauf achten
müssen, dass nicht eine so genannte kompetenzansau- Einen weiteren Punkt will ich betonen: Der Europä-
gende Wirkung dann zum Tragen kommt, wenn wir die ische Gerichtshof betreibt bereits seit einigen Jahren
Charta ratifizieren und in die Verträge überführen. Das ist eine durchaus europarechts- und grundrechtsfreundliche
ein juristischer Begriff, ich bitte um Nachsicht, ich habe Rechtsprechung. Wenn man aber in die Entscheidungen
nicht das Copyright auf ihn. Wir müssen aufpassen, dass hineinschaut, muss man feststellen, dass immer dann,
dieses Risiko nicht durch das europäische System eintritt. wenn es um die europäischen Organe gegangen ist, Ein-
griffe als gerechtfertigt bezeichnet worden sind.
Mein zweiter Gedanke wurde auch von einem aner-
kannten Europarechtler, Professor Huber aus Jena, betont. Ich wünsche mir von der Charta, dass sie, wenn sie
Wir müssen darauf achten, dass die verbindliche Charta denn verbindlich wird, dazu beitragen kann, die Schran-
nicht zu dem Problem führt, das wir im Verhältnis von ken transparenter zu machen, und dass sie zulässt, dass
Bundesverfassungsgericht zu Landesverfassungsgerich- nicht alle Eingriffe auch tatsächlich gerechtfertigt sein
ten schon einmal festgestellt haben, dass nämlich die so werden, wie es momentan nach der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofes der Fall ist.
genannte unitarisierende Wirkung dann eintritt, wenn
wir einen verbindlichen Grundrechtekatalog bekommen. Wenn es nicht so spät und meine Redezeit nicht be-
grenzt wäre, würde ich mich noch breit über die sozialen
Ich denke daran, dass die nationalen Gerichte, insbe-
Rechte auslassen. Es ist meine Überzeugung – das gehört
(B) sondere durch verschiedene Entscheidungen des Europä- zu dem Mandat von Köln –, dass die Charta auch insoweit (D)
ischen Gerichtshofs, bereits heute ein Stück ihrer Bedeu-
keine großen Programmsätze enthalten sollte. Wer die
tung verloren haben. Ich habe mir einmal vorgestellt, was Diskussion verfolgt hat, weiß, dass es im Präsidium am
passiert wäre, wenn das Bundesverfassungsgericht das Anfang durchaus andere Vorstellungen gab.
Bundeswehrurteil gefällt hätte. Allein deswegen, weil das
Urteil vom Europäischen Gerichtshof gefällt worden ist, Anhand der Ausführungen des Kollegen Meyer will
ist das ganz offensichtlich – zu meiner Überraschung – in ich aber noch einmal eines betonen: Die deutschen Län-
der Bundesrepublik Deutschland als völlig natürlich hin- der werden die von Ihnen so bezeichnete erste Säule si-
genommen worden. cherlich mittragen. Das ergeben die bisherigen Ab-
stimmungen. Das heißt, wir werden nicht über den
Es ist Aufgabe – auch das klang in verschiedenen Grundsatz der Solidarität streiten. Ob es so weitergeht,
Beiträgen bereits an –, das zusammenzutragen, was ge- werden die Koordinierungen und auch Ihre Vorstellungen
meinschaftsrechtlicher Grundrechtsstandard ist. Das der nächsten Wochen zeigen.
soll kodifiziert, konkretisiert und vielleicht auch – das ist
noch ein Streitpunkt – aktualisiert werden. Dabei muss Die wesentliche Frage darf der Konvent – da wird
man sich auf der Grundlage der europäischen Menschen- Roman Herzog hoffentlich eine wesentliche Rolle spie-
rechtskonvention auseinander setzen und das, was nach len; ich freue mich, wenn er an die Spitze des Konvents
meiner Meinung vom Status quo her gemeinsame Verfas- zurückkehrt – nicht entscheiden, nämlich: Wird die
sungsüberlieferung ist, zusammentragen. Charta eines Tages rechtsverbindlich werden?

Die meisten Mitglieder im Konvent, vielleicht nicht Zur Klarstellung möchte ich noch eines sagen: Zu ei-
alle, sind dabei durchaus aufgeschlossen gegenüber den ner Proklamation der Charta wird es aller Voraussicht
so genannten modernen Grundrechten. Das klang auch nach dann kommen, wenn man einen für alle Seiten zu-
hier heute Nachmittag bereits an. Dinge, die für uns völ- stimmungsfähigen Entwurf hat. Das heißt, wir werden
lig selbstverständlich sind, weil sie in anderen Gesetzen nicht über eine Proklamation oder über eine Deklaration
geregelt sind, stoßen insbesondere in nordeuropäischen streiten. Wir werden aber sehr wohl darüber streiten – je
Staaten auf helle Begeisterung. So wird vom Recht auf nach Inhalt –, ob es zu einer Überführung in die europä-
ischen Verträge kommt oder nicht. Da haben sich die deut-
eine ordnungsgemäße Verwaltung gesprochen –, was für
schen Länder heute bewusst noch nicht festgelegt. Bevor
uns völlig selbstverständlich ist.
sie sich entscheiden, wollen sie wissen, was in dieser
Auch weitere Punkte, die in der Diskussion streitig Wundertüte – wenn ich den Vergleich wagen darf – ent-
sind, könnten in der Charta durchaus auftauchen. Ich halten sein wird.
11032 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Minister Jürgen Gnauck (Thüringen)

(A) In der „Zeit“ wurde gefragt: Was wird aus der die Grundrechtecharta vor einem veränderten europapoli- (C)
„Wertegemeinschaft Europa im Labor“? Wird tatsächlich tischen Horizont stattfindet.
eine Volksausgabe der Grundrechte daraus, wie man es
Aber die Situation hat sich auch tendenziell ver-
sich im Zuge der Mandate von Köln und Tampere vorge-
schlechtert. Es haben sicherlich alle das Signal von Feira
stellt hat? Ich bin hoffnungsvoll und zuversichtlich, dass
aufgenommen, dass es wohl schwierig sein wird, zu einer
die deutschen Länder ihren Beitrag dazu leisten werden.
Grundrechtecharta zu kommen, die dann auch Teil der
Ich hoffe, ich habe die mir zugedachte Redezeit nicht Verträge wird. Insofern müssen wir uns von einer etwas
überschritten, bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und kurzfristigen Perspektive verabschieden und uns viel-
wünsche Ihnen schöne Sommerferien. leicht auf eine mittelfristigere einrichten. Ich glaube, es ist
wichtig, dass wir auf dieses Signal von Feira auf keinen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Fall mit Resignation reagieren, sondern im Grunde wie-
neten der SPD und der PDS)
der deutlich machen, wie lang der Atem sein muss, der
nötig ist, um diesen Prozess voranzutreiben. Dies bewei-
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Sie haben Ihre Rede- sen wir hier im Bundestag unter anderem natürlich da-
zeit nicht überschritten, Herr Gnauck; das zu Ihrer Be- durch, dass wir am Freitag Nachmittag noch darüber de-
ruhigung. battieren. Aber dies macht auch deutlich, dass ein Rand-
problem des Grundrechtechartaprozesses weiter an
Als letzter Redner in dieser Debatte hat Christian
Bedeutung gewinnt, nämlich der geforderte Beitritt der
Sterzing das Wort.
EU zur EMRK, zur europäischen Menschenrechtskon-
vention. Ich glaube, wir müssen dies als einen zentralen
Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Punkt im Blick behalten.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum
Schluss dieser Debatte möchte ich nur noch einige Rand- Zum Schluss will ich mein Bedauern zum Ausdruck
bemerkungen machen. Ein Ziel dieses Grundrechtechar- bringen, dass es nicht zu einem gemeinsamen Antrag ge-
taprozesses war, von Anfang an Transparenz zu schaffen kommen ist. Ein Signal aus dem Bundestag wäre sicher-
und Partizipation herbeizuführen. Ich ziehe eine kurze lich wünschenswert gewesen. Der Geist war willig, die
Zwischenbilanz und sage im Hinblick auf die Transpa- Fraktion war schwach. Das müssen wir hinnehmen. Aber
renz: Hier ist ein hoher Grad an Durchsichtigkeit, an Of- wir müssen uns auch bewusst sein, dass wir nicht das
fenheit erreicht worden, der wirklich Schule machen letzte Mal über die Grundrechtecharta debattieren.
sollte. (Peter Hintze [CDU/CSU]: Bestimmt nicht!)

(B) Zum Thema Partizipation: Auch hier sind vom Kon- Bei der nächsten Debatte im Herbst werden die Differen- (D)
vent neue Wege beschritten worden; es wurde vorhin zen angesichts einer konkreten Vorlage wahrscheinlich
schon einmal darauf hingewiesen: In vielen gesellschaft- steigen.
lichen Bereichen sind Gruppen, Institutionen, Nicht-
(Peter Hintze [CDU/CSU]: Das hängt von der
regierungsorganisationen aktiv geworden und haben sich
Vorlage ab!)
an diesem Prozess beteiligt. Ich glaube, diese Partizipa-
tion zivilgesellschaftlicher Kräfte hat Vorbildcharakter. – Das hängt von der Vorlage ab.
Ein kleines Beispiel haben wir hier im Bundestag er- Insofern werden sich die Meinungen ausdifferenzie-
lebt – ich weise in diesem Zusammenhang auf den verän- ren. Wir werden darüber weiter angeregt diskutieren.
derten Antrag der Koalitionsfraktionen hin –, nämlich
Ein spezifisches Grundrecht verdient zum Schluss Er-
dass die Enquete-Kommission einen spezifischen Beitrag
wähnung, das Grundrecht auf Erholung. Ich wünsche Ih-
zum Thema „Herausforderungen der Biotechnologie“ ge-
nen bei der Wahrnehmung dieses Grundrechts viel Erfolg.
leistet hat. Hier hat vielleicht so etwas wie Elektrisierung
durch den Grundrechtechartaprozess stattgefunden; denn Vielen Dank für Ihre besondere Geduld zu dieser
die Enquete-Kommission hat sich gleich zu Beginn ihrer Stunde.
Arbeit darauf gestürzt. Sicher, es gibt noch keine breite
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
gesellschaftliche Debatte. Die 350 Millionen EU-Bürger
bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeord-
diskutieren nicht von morgens bis abends über die Grund-
neten der CDU/CSU und der F.D.P.)
rechte. Wir müssen sehen, dass wir hier noch ein gutes
Stück Arbeit zu leisten haben.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Dieses Grundrecht
Die zweite Randbemerkung betrifft den Zusammen-
sollte einvernehmlich in die europäische Grundrechte-
hang mit der Verfassungsdebatte. Ich glaube, wir sind da
charta aufgenommen werden.
ein Stück weitergekommen. Die Grundrechtecharta wird
im Augenblick in einem anderen europapolitischen Da ich das Glück hatte, auch die Debatte im März als
Zusammenhang diskutiert als noch vor einigen Monaten. Präsidentin verfolgen zu dürfen, war ich ein bisschen be-
Das hat mit der Rede des Außenministers zu tun; das hat trübt, dass die sich damals abzeichnende große Einigkeit
auch mit der Rede von Präsident Chirac hier im Bundes- offensichtlich wieder ein wenig aufgelöst hat. Aber ich
tag zu tun. Im Zusammenhang mit der Grundrechtecharta tröste Sie alle, die Europäer und auch den Herrn Minister
wird mittlerweile auch über eine Verfassung geredet. Ich aus Thüringen: Dies ist ein Prozess, in dem man sich nicht
glaube, es ist wichtig, festzuhalten, dass die Debatte über durch Tagesschwierigkeiten vom Wege abbringen lassen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11033
Vizepräsidentin Anke Fuchs

(A) soll. Insofern danke ich Ihnen allen für die Diskussion. Grundrechtecharta“ auf Drucksache 14/3513 abzulehnen. (C)
Hier kommen wir sicherlich weiter. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
Ich schließe die Aussprache.
gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Wir kommen zu den Abstimmungen über die Be-
schlussempfehlungen des Ausschusses für die Angele- Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:
genheiten der Europäischen Union auf Drucksa- Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred
che 14/3800. Hartenbach, Erika Simm, Joachim Stünker, weite-
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss- ren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie
empfehlung, den Antrag der Fraktionen von SPD und den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Hans-
Bündnis 90/Die Grünen zur Charta der Grundrechte der Christian Ströbele, Kerstin Müller (Köln), Rezzo
Europäischen Union auf Drucksache 14/3387 in der Aus- Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
schussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Fünften
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugs-
Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von gesetzes
CDU/CSU und F.D.P. und bei Enthaltung der PDS ange- – Drucksache 14/3763 –
nommen. Überweisungsvorschlag:
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss- Rechtsausschuss
empfehlung, den Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit Alle Reden sind zu Protokoll gegeben.1)
dem Titel „Die Rechte der Bürger stärken – Für eine bür-
gernahe Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
auf Drucksache 14/3368 abzulehnen. Wer folgt dieser Be- wurfs auf Drucksache 14/3763 an den in der Tagesord-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Die Beschlussemp- nung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. – Es gibt
fehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU angenom- keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so
men. beschlossen.
Der Ausschuss empfiehlt weiterhin unter Nr. 2 seiner Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der F.D.P. Schluss der heutigen Tagesordnung. Um die Bemerkung
mit dem Titel „Verbindlichkeit der Europäischen Grund- des Staatsministers Zöpel aufzunehmen: Ich danke Ihnen
rechtecharta und Beitritt der Europäischen Union zur eu- aufrichtig dafür, dass Sie so lange ausgeharrt haben. Ich
ropäischen Menschenrechtskonvention“ auf Druck- wünsche Ihnen erholsame, interessante, ruhige Ferien-
(B) sache 14/3322 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- und Erholungstage – ohne Sondersitzung des Deutschen (D)
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Bundestages.
Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der PDS ge- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
gen die Stimmen der F.D.P. angenommen.
tages auf Dienstag, den 12. September 2000, 11 Uhr, ein.
Der Ausschuss empfiehlt weiterhin unter Nr. 2 seiner
Die Sitzung ist geschlossen.
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der PDS
mit dem Titel „Für eine rechtsverbindliche Europäische (Schluss: 17.26 Uhr)

1) Anlage 9
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11035

(A) Anlagen zum Stenographischen Bericht (C)


Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Adler, Brigitte SPD 07.07.2000* Lippmann, Heidi PDS 07.07.2000


Baumann, Günter CDU/CSU 07.07.2000 Moosbauer, Christoph SPD 07.07.2000*
Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 07.07.2000* Müller (Berlin), PDS 07.07.2000
Manfred
Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 07.07.2000
Niebel, Dirk F.D.P. 07.07.2000
Bohl, Friedrich CDU/CSU 07.07.2000
Oesinghaus, Günter SPD 07.07.2000
Börnsen (Bönstrup), CDU/CSU 07.07.2000
Wolfgang Raidel, Hans CDU/CSU 07.07.2000*
Brunnhuber, Georg CDU/CSU 07.07.2000 Rauen, Peter CDU/CSU 07.07.2000
Büttner (Ingolstadt), SPD 07.07.2000 Romer, Franz CDU/CSU 07.07.2000
Hans
Scharping, Rudolf SPD 07.07.2000
Bulmahn, Edelgard SPD 07.07.2000
Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 07.07.2000
Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 07.07.2000
Peter Harry Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 07.07.2000
Hans Peter
Catenhusen, SPD 07.07.2000
Wolf-Michael von Schmude, Michael CDU/CSU 07.07.2000

Flach, Ulrike F.D.P. 07.07.2000 Schuhmann (Delitzsch), SPD 07.07.2000


Richard
(B) Formanski, Norbert SPD 07.07.2000 (D)
Schumann, Ilse SPD 07.07.2000
Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 07.07.2000
Schur, Gustav-Adolf PDS 07.07.2000
Prof. Frick, Gisela F.D.P. 07.07.2000
Schwalbe, Clemens CDU/CSU 07.07.2000
Friedhoff, Paul K. F.D.P. 07.07.2000
Sehn, Marita F.D.P. 07.07.2000
Friedrich (Altenburg), SPD 07.07.2000
Peter Dr. Solms, Hermann F.D.P. 07.07.2000
Otto
Gebhardt, Fred PDS 07.07.2000
Sothmann, Bärbel CDU/CSU 07.07.2000
Girisch, Georg CDU/CSU 07.07.2000
Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 07.07.2000
Goldmann, F.D.P. 07.07.2000
Hans-Michael Steen, Antje-Marie SPD 07.07.2000

Götz, Peter CDU/CSU 07.07.2000 Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 07.07.2000*

Griese, Kerstin SPD 07.07.2000 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 07.07.2000

Grießhaber, Rita BÜNDNIS 90/ 07.07.2000* Dr. Thomae, Dieter F.D.P. 07.07.2000
DIE GRÜNEN Dr. Vollmer, Antje BÜNDNIS 90/ 07.07.2000
Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 07.07.2000 DIE GRÜNEN
DIE GRÜNEN Prof. Weisskirchen SPD 07.07.2000*
Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 07.07.2000 (Wiesloch), Gert

Koschyk, Hartmut CDU/CSU 07.07.2000 Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 07.07.2000*

Dr. Köster-Loßack, BÜNDNIS 90/ 07.07.2000 Wohlleben, Verena SPD 07.07.2000


Angelika DIE GRÜNEN Zapf, Uta SPD 07.07.2000*
Lambrecht, Christine SPD 07.07.2000
* für die Teilnahme an der 9. Jahrestagung der Parlamentarischen
Lennartz, Klaus SPD 07.07.2000 Versammlung der OSZE
11036 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

(A) Anlage 2 der Bedeutung. Ausgestattet mit einem Vermögen von (C)
700 Millionen DM muss er jetzt mit Leben erfüllt werden.
Erklärung Insbesondere mit Projekten, von denen vor allem junge
Menschen profitieren sollen. Weil der Zukunftsfonds auf
der Abgeordneten Ina Lenke (F.D.P.) zur Ab-
Dauer angelegt ist, kann und wird er in den kommenden
stimmung über die Beschlussempfehlung zu
Jahren für ein friedliches Miteinander der Menschen von
dem Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Ände-
besonderer Bedeutung sein.
rung des Bundeserziehungsgeldgesetzes (Druck-
sache 14/3808) (Tagesordnungspunkt 20 a) 4. Wer Zukunft gestalten will, darf sie nicht mit dem
belasten, was bereits seit langem abgeschlossen ist. Dies
Die Fraktion der F.D.P. stimmt diesem Entschlie-
gilt insbesondere für die Frage der Reparationen.
ßungsantrag zu.
Spätestens seit dem Abschluss des Zwei-plus-Vier-
Vertrages vom 12. September 1990 können derartige For-
Anlage 3 derungen aus völkerrechtlichen Gründen nicht mehr ge-
gen die Bundesrepublik Deutschland geltend gemacht
Erklärung nach § 31 GO werden. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekräftigt,
des Abgeordneten Heinz Wiese (CDU/CSU) zur dass sich auch durch dieses Gesetz die Frage der Repara-
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes tionen nicht neu stellt.
zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Ver- 5. Die Bundesregierung hat zugesagt, die Stiftung noch
antwortung und Zukunft“ (Drucksachen in diesem Jahr mit einem Anteil in Höhe von 5 Milliar-
14/3206 und 14/3459) (114. Sitzung, Tagesord- den DM auszustatten. Die Stiftungsunternehmen haben
nungspunkt 7 a) für die Unternehmen der deutschen Wirtschaft erklärt,
dass sie sich in der Verpflichtung sehen, dass auch der von
1. Mit dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erin-
der Stiftungsinitiative zugesagte Anteil in Höhe von
nerung, Verantwortung und Zukunft“ kommt der Deut-
5 Milliarden DM umgehend gezahlt wird.
sche Bundestag seiner von der deutschen Geschichte auf-
gegebenen Verantwortung nach, eines der furchtbarsten Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt allen Unter-
Kapitel unserer jüngsten Vergangenheit – die Entrech- nehmen, die sich bislang bereit erklärt haben, ihren Anteil
tung, Verschleppung, Misshandlung und Ausbeutung von in das Fondsvermögen einzuzahlen. Dieser Dank gebührt
Sklaven- und Zwangsarbeitern – aufzuarbeiten. insbesondere den Gründungsunternehmen der Stiftungsi-
nitiative der Deutschen Wirtschaft und denjenigen Fir-
Wir bitten die Opfer um Vergebung. Mit diesem Gesetz
(B) übernehmen wir erneut und weltweit sichtbar die Verant- men, die sich am Stiftungsvermögen beteiligen, obwohl (D)
sie erst nach 1945 gegründet wurden und deshalb nie in
wortung für die Geschichte. Damit knüpfen wir an das
das nationalsozialistische Unrechtssystem verstrickt wa-
Entschädigungs- und Versöhnungswerk an, das von
ren.
Konrad Adenauer begonnen wurde. Insbesondere jene,
die – hoch betagt und vielfach gebrechlich – bis heute Wir sehen es als unbedingt erforderlich an, dass insbe-
noch nicht von den umfangreichen Wiedergutmachungs- sondere diejenigen Unternehmen, die oder deren Rechts-
und Entschädigungsleistungen der Bundesrepublik vorgänger Sklaven- oder Zwangsarbeiter eingesetzt ha-
Deutschland erreicht wurden und als Opfer der Zwangs- ben, unverzüglich ihren Beitrag zur Finanzierung leisten.
arbeit unsäglich gelitten haben, erwarten zu Recht ein Zei-
6. Für uns ist von besonderer Bedeutung, dass mög-
chen der Wiedergutmachung und Versöhnung.
lichst rasch mit der Auszahlung der Stiftungsmittel an die
2. Einen Schlussstrich unter das dunkelste Kapitel un- jeweiligen Partnerorganisationen und von dort mit der
serer Geschichte, die Verbrechen der Nazi-Tyrannei, kann Auszahlung der Leistungen an die heute betagten und
und darf es nicht geben. Von der sich daraus ergebenden vielfach kranken oder gebrechlichen Opfer begonnen
besonderen historischen Verantwortung unseres Landes werden kann. Voraussetzung hierfür ist neben der not-
können wir uns weder durch Worte noch durch Geld lö- wendigen Mittelbereitstellung die rechtskräftige Abwei-
sen. Aber dies kann nicht bedeuten, dass wir Jahr für Jahr sung aller vor den US-Gerichten anhängigen Klagen. Wir
in neue Entschädigungsdebatten eintreten und dadurch bitten die Kläger und ihre Rechtsvertreter, dafür Sorge zu
zwangsläufig in vielen Ländern der Welt und bei vielen tragen, dass möglichst rasch mit der Auszahlung der Stif-
Menschen Hoffnungen erwecken, die nicht erfüllt werden tungsmittel an die Opfer begonnen werden kann.
können.
Wir gehen dabei davon aus, dass durch dieses Gesetz
Zu Beginn eines neuen Jahrhunderts wollen die Bun- und die damit verbundenen Abkommen und Erklärungen
desrepublik Deutschland und deutsche Unternehmen ein ausreichendes Maß an Rechtssicherheit für deutsche
mit der Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Unternehmen insbesondere in den USA bewirkt wird.
Zukunft“ die bisherigen umfangreichen Wiedergutma-
7. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die Bun-
chungsregelungen ergänzen und ein Zeichen ihrer mora-
desregierung, das noch zu bildende Kuratorium und den
lischen Verantwortung für diese Geschehnisse setzen. Ab-
Stiftungsvorstand auf, durch geeignete Maßnahmen si-
schließend kann dies nur in finanzieller Hinsicht sein.
cherzustellen, dass die Stiftungsmittel die Leistungsbe-
3. Weil wir den Blick nach vorne richten müssen, ist rechtigten nach Maßgabe des Gesetzes auch tatsächlich in
der noch zu etablierende Zukunftsfonds von überragen- voller Höhe erreichen. Wir fordern die Bundesregierung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11037

(A) auf, den Deutschen Bundestag jährlich über die Arbeit der Kuratorium wird gebeten zu prüfen, inwieweit ein eigener (C)
Stiftung, die Verteilung der Stiftungsmittel sowie über die Beirat für die Konzeption des Zukunftsfonds berufen wer-
Initiativen und Projekte des „Zukunftsfonds“ zu unter- den sollte.
richten.
11. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die
8. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht es als un- Bundesregierung auf, mit denjenigen Staaten, die nach
abdingbar an, dass nach diesem Gesetz Leistungsberech- dem Ende des Zweiten Weltkrieges Deutsche verschleppt
tigte unabhängig von ihrem Wohnsitz sowie unter und unter unmenschlichen Bedingungen zur Arbeit ge-
Berücksichtigung der gesetzlichen Gestaltungsmöglich- zwungen haben, oder mit deren Nachfolgestaaten Kontakt
keiten die Chance auf gleiche Leistungen erhalten. Wir aufzunehmen mit dem Ziel, dass auch die noch lebenden
sind besorgt über eine mögliche Unterfinanzierung des deutschen Opfer von diesen Staaten eine – der deutschen
Plafonds für Personenschäden der in diesem Gesetz be- Regelung entsprechende – Entschädigung in Form einer
zeichneten sechsten Partnerorganisation (IOM), die jene humanitären Geste erhalten.
Opfer zu betreuen hat, die nicht in Ländern wohnen, für
12. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt Bundes-
die eine andere Partnerorganisation zuständig ist. Ob und
minister a. D. Dr. Otto Graf Lambsdorff für seine her-
inwieweit diese Sorge berechtigt ist, kann aber erst nach
vorragende Arbeit als Beauftragter der Bundesregierung
dem Eingang der Anträge von allen Opfern abschließend
auf diesem ebenso wichtigen wie sensiblen Gebiet. Sie
beurteilt werden.
bittet ihn darum, seine Kenntnisse und Erfahrungen auch
9. Wir bitten die Unternehmen der deutschen Wirt- weiterhin der zu gründenden Stiftung zur Verfügung zu
schaft, die unter dem NS-Regime Sklaven- und Zwangs- stellen.
arbeiter beschäftigt haben, bzw. ihre Rechtsnachfolger so-
wie die Länder und Kommunen, zur geeigneten Umset-
zung von § 18 des Gesetzes (Auskunftsersuchen) die Anlage 4
notwendigen Auskünfte und Unterlagen zum Nachweis
der Leistungsberechtigung der Opfer so rasch wie mög- Erklärung nach § 31 GO
lich zu erteilen bzw. herauszugeben. Sofern erforderlich,
des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (PDS) zur na-
sollten sie die Vernetzung der Archive verbessern, um da-
mentlichen Abstimmung über den Entwurf eines
mit den Opfern und Partnerorganisationen den Nachweis
Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
der Leistungsberechtigung zu erleichtern. Kopien der an-
Schwerbehinderter (Tagesordnungspunkt 24 a)
geforderten und benötigten Unterlagen sollten ebenso wie
Angaben über bereits an ehemalige Zwangsarbeiter ge- Erstmals legt eine Bundesregierung ein Gesetz zur
(B) zahlte Leistungen an die nach diesem Gesetz bezeichne- Bekämpfung der unakzeptabel hohen Arbeitslosigkeit (D)
ten Partnerorganisationen weitergegeben werden. von Schwerbehinderten vor – dies ist schon ein Wert an
sich. Es enthält positive Ansätze, ist aber dennoch kein
Wir bitten die Bundesregierung, durch zusätzliche or-
Reformgesetz, das den Erfordernissen entspricht, die sich
ganisatorische, finanzielle oder personelle Maßnahmen
aus der besonders schwierigen Situation für Menschen
die Leistungsfähigkeit des Archivs des Internationalen
mit Behinderungen daraus ergibt, dass sie ihre Existenz
Suchdienstes in Arolsen zu erhöhen, um den einzelnen
aufgrund der Arbeitsmarktsituation nur selten durch ei-
Opfern und den Partnerorganisationen den Nachweis der
gene Erwerbstätigkeit sichern und sich so am Leben der
Leistungsberechtigung zu erleichtern.
Gesellschaft beteiligen können.
10. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht in der Er-
Meine Stimmenthaltung zu dem von der Bundesregie-
richtung des Zukunftsfonds innerhalb der Stiftung eine
rung vorgelegten Gesetz begründe ich daher wie folgt:
besondere Chance, der Verantwortung von Staat, Gesell-
schaft und Privatwirtschaft gerecht zu werden. Hierdurch Erstens. 37,9 Prozent aller beschäftigungspflichtigen
wird auch den kommenden Generationen die Möglichkeit Arbeitgeber beschäftigen gegenwärtig überhaupt keinen
eröffnet, die Erinnerung an das NS-Unrecht weiter wach einzigen Arbeitnehmer und zahlen stattdessen pro nicht
zu halten und der Ausbreitung von extremistischem und besetzten Arbeitsplatz jeden Monat 200 DM als Aus-
rassistischem Gedankengut sowie von totalitären Syste- gleichsabgabe, die als Betriebsausgabe steuerlich geltend
men aller Art entgegenzuwirken. gemacht werden kann. Die nahezu doppelt so hohe Ar-
beitslosenrate von Schwerbehinderten steht im Gegensatz
Wir sehen es deshalb als notwendig an, Schwerpunkte
zu Geist und Buchstaben des Diskriminierungsverbots
auf Projekte zu legen, die dem Jugendaustausch, der Ver-
von Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes.
söhnung und Völkerverständigung, der Achtung von
Menschenrechten und für die Pflege der Beziehungen zu Zweitens. Das Gesetz soll dazu beitragen, dieser Aus-
überlebenden Opfern dienen. Dabei ist auch die Arbeit grenzung von Menschen mit Behinderungen in einem
von und mit Zeitzeugen von Bedeutung. Darüber hinaus Kernbereich der Gesellschaft entgegenzuwirken. Dieser
können in einer Übergangszeit auch Projekte im Interesse Ansatz ist zu begrüßen. Doch in der Umsetzung zeigen
der Opfer und ihrer Hinterbliebenen gefördert werden. sich erhebliche Mängel und Unklarheiten. Bereits die
Zielstellung bleibt hinter dem verkündeten Anspruch
Die Mittel des Zukunftsfonds sind zusätzliche Auf-
zurück.
wendungen des Bundes und der deutschen Wirtschaft. Sie
dürfen keinesfalls Finanzierungsersatz von bisher durch Im Text des Gesetzes – Art. 1 – geht es darum, „die
die öffentliche Hand geförderten Maßnahmen sein. Das Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten“ zum Oktober
11038 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

(A) 2002 um mindestens 25 Prozent zu verringern. In der Be- Wahlrecht der Betroffenen sichern sollen. Auch dieser (C)
gründung zum Gesetzentwurf wird dagegen als Ziel for- Vorschlag fand keine Berücksichtigung.
muliert, „etwa 50 000 arbeitslose Schwerbehinderte kurz- Fünftens. Mit ihrem Gesetz verpassen Koalition und
fristig möglichst dauerhaft auf den allgemeinen Arbeitsmarkt Bundesregierung die Chance zu weitergehenden Reform-
einzugliedern“. Wir brauchen mindestens 50 000 voll- schritten. So wurde es versäumt, von dem inzwischen an-
wertige Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen, tiquierten Behindertenbegriff abzugehen und ein moder-
aber keine potemkinschen Dörfer. Es ist allgemein be- nes Verständnis dieses Begriffs einzuführen. Noch immer
kannt, dass viele Betroffene über Berufsunfähigkeit und werden durch die Grenzziehung „anerkannter Grad der
Frühverrentung aus der Arbeitslosenstatistik herausfallen Behinderung von 50 Prozent“ viele Betroffene unterhalb
werden. der Schwerbehinderung ausgeschlossen. Versäumt wurde
Drittens. Eine Neuordnung des Systems von Beschäf- auch eine konsequentere Ausweitung von Mitbestim-
tigungspflicht und Ausgleichsabgabe ist in der Tag not- mungsrechten, so positiv die vorgesehenen Integrations-
wendig. Aber die Absenkung der Beschäftigungspflicht- vereinbarungen auch sein mögen, sofern sie denn greifen.
quote von 6 auf 5 Prozent ist das falsche Signal an die Integrationsvereinbarungen können ein Fortschritt sein,
Arbeitgeber – selbst wenn sie nur zeitlich befristet und solange sich Arbeitgeber daran halten. Denn wenn sie es
für den Fall der Nichterreichung der von der Regierung nicht tun, hat dieses Verhalten für sie keine Folgen. Hinzu
definierten Ziele angewendet werden soll. Jetzt heißt es, kommt die Anbindung der betrieblichen Integrationspla-
5 Prozent seien eine „realistische“ Quote. Und wenn die nung an die Existenz von Schwerbehindertenvertretungen
Besserung nicht eintritt – denn die Regierung kann ja die oder – falls solche nicht bestehen – von Betriebsräten.
Einstellung von Schwerbehinderten nicht erzwingen – Praktisch bedeutet dies, dass es in Ostdeutschland im Be-
heißt es dann, dass eben die 5 Prozent unrealistisch wa- reich der privaten Wirtschaft nur sehr punktuell zu be-
ren? Wird man dann den Arbeitgebern über 4 Prozent „an- trieblichen Integrationsplanungen kommen wird.
bieten“, weil dies dann eben „leider realistischer“ ist als Das Gesetz stärkt die Chancengleichheit für Frauen
eine Pflichtquote von 6 Prozent? und Männer mit Behinderungen nur unzureichend. Des-
Die Absenkung der Pflichtquote ist auch im öffentli- halb habe ich mich bei der Abstimmung enthalten.
chen Dienst ein völlig falsches Signal, da somit seine in
Teilbereichen vorhandene Vorbildwirkung ohne Not ge-
schwächt wird. Denn nur bei den Arbeitgebern des Bun- Anlage 5
des wird die Pflichtquote von 6 Prozent übertroffen. In
den Behörden der Länder und erst recht in vielen Kom- Zu Protokoll gegeben Rede
munen besteht erheblicher Nachholbedarf. Gerade im Be- zur Aktuellen Stunde: Regelmäßige Kontakte im
(B) reich des öffentlichen Dienstes sollte die Pflichtquote eher Vorfeld von Zeugenvernehmungen im 1. Unter- (D)
noch angehoben werden. suchungsausschuss des Deutschen Bundestages
Eine im Gesetz vorgesehene Staffelung der Aus- zwischen Untersuchungsausschussmitgliedern
gleichsabgabe ist im Ansatz richtig, aber viel zu niedrig in und dem Zeugen Dr. Kohl (Zusatztagesord-
der Ausgestaltung. Sie bleibt eine milde Abgabe und ist nungspunkt 16)
auch mit der jetzigen Staffelung keine wirkliche Sanktion
für die Arbeitgeber, die sich vor ihrer Pflicht drücken. Da- Dr. Wolfgang Bötsch (CDU/CSU): Mit dem gegen-
her hatte die PDS – ausgehend von den in der Anhörung wärtigen Theaterdonner im Untersuchungsausschuss und
zum Gesetz von Gewerkschaften und Behindertenverbän- nun auch im Plenum des Deutschen Bundestags versucht
den unterbreiteten Forderungen – in einem Änderungsan- die SPD, von ihrem eigenen Dilemma abzulenken. Unter
trag vorgeschlagen, sie dort einsetzen, wo die Regierung großem Bohai wird ein Nebenkriegsschauplatz eröffnet,
aufhört, nämlich bei mindestens 500 DM, und sie dann weil man beim eigentlichen Untersuchungsthema nicht
mit 750 und 1 000 DM weiter zu staffeln. Aufgrund der vorankommt, weil der so überaus erfolgreichen Regie-
im Gesetz vorgesehenen Kleinbetrieberegelung würden rung Kohl eine Käuflichkeit von Regierungsentscheidun-
die kleinen und mittleren Unternehmen nicht erheblich gen nicht nachgewiesen werden kann, weil es sie auch gar
mehr belastet als bisher. nicht gab.
Viertens. Ich begrüße, dass die Regierung in ihrem Ge- Die Empörung der Sozialdemokraten ist umso mehr
setzentwurf erstmals eine langjährige Forderung der Be- eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, als der Obmann
hindertenverbände aufgreift und einen Rechtsanspruch unserer Fraktion im Untersuchungsausschuss niemals ei-
auf Arbeitsassistenz festschreibt. Damit könnten neue nen Zweifel daran gelassen hat, dass er mit Herrn
Möglichkeiten geschaffen werden, eine stärkere Beteili- Dr. Kohl in Kontakt steht. Er hat selbstverständlich auch
gung von Behinderten an Erwerbstätigkeit zu sichern. Zu- den Obmann der SPD darüber informiert. Zum anderen
gleich deuten sich im Gesetzentwurf Einschränkungen an, standen die sozialdemokratischen Mitglieder des Aus-
zum Beispiel wird der Anspruch auf Übernahme von Kos- schusses, selbst ständig im Kontakt mit dem Zeugen
ten auf die – wörtlich – „notwendige Arbeitsassistenz“ be- Dr. Peter Struck und ich möchte nicht wissen, welches
zogen. Wer definiert hier für wen, was notwendig ist? Die Drehbuch hierbei abgesprochen wurde.
PDS hatte daher vorgeschlagen, dass die notwendige Ar-
beitsassistenz bedarfsdeckend sein sollte. Damit perso- Überhaupt täuschen die Sozialdemokraten sich und die
nale Arbeitsassistenz auf einem hohen Niveau greifen Öffentlichkeit darüber, was ein Untersuchungsausschuss
kann, wurden in einem Änderungsantrag der PDS konkret überhaupt zu leisten vermag. Gewiss sind Untersu-
fassbare Kriterien vorgeschlagen, die das Wunsch- und chungsausschüsse im Grundgesetz besonders erwähnt
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11039

(A) und mit besonderen Rechten ausgestattet. Gleichwohl gesprochenen Themen von außerordentlicher Bedeutung (C)
bleiben sie Untergliederungen des Deutschen Bundesta- sind.
ges und sind – nach wie vor – Mittel der politischen Aus- Ausgangspunkt für das Gesetzgebungsverfahren war
einandersetzung. die Umsetzung des vom Bundesverfassungsgericht erteil-
Untersuchungsausschüsse haben die Aufgabe, Sach- ten Auftrages, für den Zeitraum vom 22. Juli 1992 bis zum
verhalte im Streit der politischen Parteien aufzuklären. 31. Dezember 1994 dem Grundstückseigentümer bei
Sie üben dadurch parlamentarische Kontrolle aus. Das Fremdnutzung einen Nutzungsentgeltanspruch zu ver-
Verfahren im Untersuchungsausschuss ist aber ein politi- schaffen. Diesen Auftrag erfüllen wir mit diesem Gesetz
sches Verfahren, das in der Auseinandersetzung mit den und haben, einer guten Tradition des Deutschen Bundes-
politischen Argumenten der Gegenseite seinen Sinn fin- tages folgend, nach der Anhörung vom Montag dieser
det. Es wird durch die Interessen der Fraktionen geprägt, Woche noch einige Präzisierungen vorgenommen, die be-
bei denen die Mitglieder des Ausschusses als Politiker, reits in den Ausschusssitzungen ausführlich erörtert wor-
nicht aber als Richter auftreten. Deshalb haben die Mit- den sind. Es geht hierbei zum einen um die Frage, unter
glieder auch keine richterliche Funktion und keine rich- welchen Umständen der Grundstückseigentümer auch für
die Zeit vom 1. Januar 1995 bis zum 31. März 1995 einen
terliche Unabhängigkeit.
Nutzungsentgeltanspruch erwirbt. Zum anderen geht es
Deshalb sind auch die Kontakte meiner Kollegen mit darum, welcher Stichtag bei der Bemessung des zugrunde
unserem Altbundeskanzler Dr. Kohl nicht zu beanstan- zu legenden Grundstückswertes herangezogen wird. Die
den, zumal sie erwiesenermaßen nicht unlauteren Abspra- Bestimmung des Entgeltes nach dem Bodenwert und dem
chen über Zeugenaussagen gedient haben. Restwert eines überlassenen Gebäudes zum 22. Juli 1992
ist sachgerecht und verhindert Streit zwischen den Part-
Würde man die Maßstäbe der Befangenheit eines nern. So sehr ich für vereinfachende Regelungen bin,
Richters an die Mitglieder des Untersuchungsausschusses muss doch auch an dieser Stelle nochmals nachdrücklich
anlegen, hätte der Vorsitzende des Ausschusses, unser der PDS-Vorschlag zurückgewiesen werden, der eine
Kollege Neumann, schon nach den ersten Sitzungen sei- Pauschalierung des Entgeltes für alle betroffenen Rechts-
nen Hut nehmen müssen. Kein Vorsitzender Richter hätte verhältnisse vorsah. Dieser Vorschlag ist lebensfremd und
mit einem so wichtigen Zeugen wie dem Herrn Schreiber vernachlässigt völlig marktwirtschaftliche Überlegungen.
im stillen Kämmerlein über dessen Kenntnisse telefonie- Denn wie kann man allen Ernstes den Nutzungsentgelt-
ren dürfen, ohne sofort von seinem Amt entbunden wor- anspruch für ein Grundstück in Berlin-Mitte mit dem An-
den zu sein. spruch für ein Grundstück in einem strukturschwachen
Nein, wir sind mit dem Untersuchungsausschuss im Landkreis in den neuen Ländern vergleichen?

(B) Verfahren der politischen Auseinandersetzung, was ge- Die Regelung zu Artikel 233 § 2 a EGBGB bezüglich (D)
rade auch die Aktuelle Stunde heute beweist. Es geht um des Nutzungsentgeltanspruches ist verbunden worden mit
die großen Erfolge von 16 Jahren der Regierung Kohl, der Klärung weiterer Fragen. Uns kam es darauf an, klar-
welche die Sozialdemokraten kleinreden, ja tilgen wollen. zustellen, dass die von den Nationalsozialisten verfolgten
Wer selbst keine Erfolge nachweisen kann, kann sie bei und enteigneten Gewerkschaften, so wie das Vermögens-
einem anderen nicht ertragen, schon gar nicht beim poli- gesetz es vorsieht, in ihre früheren Rechte eingesetzt wer-
tischen Gegner. den. Die ausdrückliche Regelung, wonach die gewerk-
schaftlichen Nachfolgeorganisationen ihre Ansprüche
unmittelbar oder mittelbar auf gewerkschaftliche Immo-
Anlage 6 bilienverwaltungsgesellschaften abtreten können, führt
zu einer Gleichbehandlung mit anderen verfolgten Grup-
Zu Protokoll gegebene Reden pen aus der Zeit von 1933 bis 1945. Wer diese Gleichstel-
lung will, der muss auch die Kraft aufbringen, den ge-
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur werkschaftlichen Organisationen im Investitionsvorrang-
Änderung des Rechts an Grundstücken in den verfahren die Rechte eines Beteiligten einzuräumen.
neuen Ländern (Grundstücksrechtsänderungs-
gesetz) (Tagesordnungspunkt 23 a) Diese Verfahrensweise, die in der Praxis schon so ge-
handhabt wird, muss eine konkrete Rechtsgrundlage be-
kommen. Damit es klar ist: Wir schaffen hier keine neuen
Hans-Joachim Hacker (SPD): Mit dem vorliegen- Restitutionsansprüche, diese ergeben sich bereits aus der
den Entwurf eines Grundstücksrechtsänderungsgesetzes geltenden Fassung des § 1 Absatz 6 Vermögensgesetz.
nimmt der Gesetzgeber heute Klarstellungen vor, die für Daher ist es für mich völlig unverständlich, dass die Op-
die Betroffenen von erheblicher Bedeutung sind. Die Re- position an dieser Stelle blockiert. CDU/CSU, F.D.P. und
gelungen stehen in der Kontinuität der Gesetzgebung seit PDS wollen mit ihren Forderungen die gewerkschaft-
der deutschen Einheit. Die Koalitionsfraktionen beweisen lichen Rückerstattungsrechte, die sich im Übrigen aus
mit diesem Gesetzentwurf, dass sie alles Erforderliche dem Zwei-plus-Vier-Vertrag ableiten, beschneiden.
tun, um in den neuen Ländern Rechtsklarheit und Rechts-
frieden auf dem Gebiet der Vermögensfragen zu schaffen. Völlig abwegig ist es, die Rückerstattungsansprüche
Ich kann die Opposition daher nur auffordern, unserem der NS-Verfolgten, zu deren Rechtsgrundlagen ich bereits
Gesetzentwurf zuzustimmen. Ausführungen gemacht habe, mit den Restitutionsan-
sprüchen der DDR-Geschädigten gleichzusetzen. Unver-
Ich kann nur auf einige Aspekte des Gesetzentwurfes ständlich ist für mich, dass sich die PDS dieser Argu-
eingehen. Ich meine jedoch, dass gerade die von mir an- mentation anschließt, tritt sie doch sonst nach ihrem
11040 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

(A) Selbstverständnis als antifaschistische Partei auf, die Soweit sich der Entwurf also mit diesen Vorgaben be- (C)
demzufolge auch die Vermögensinteressen der Naziopfer fasst, haben wir auch schon in der Ausschussberatung un-
vertreten müsste. Hier hat wohl wieder ihre taktische sere Zustimmung signalisiert und deutlich gemacht, dass
Überlegung gesiegt, aktuellen Forderungen von Interes- wir die rechtstechnischen und durch die Rechtsprechung
sengruppen nachzugehen, ohne die rechtlichen Grund- notwendig gewordenen Klarstellungen mittragen. Eine
lagen zu berücksichtigen. Einschränkung müssen wir hierbei in Auswertung der An-
Eine weitere wichtige rechtliche Klarstellung im Ge- hörung am Montag allerdings noch machen und darauf
setzentwurf ist darin zu sehen, dass die Frage der Erlan- habe ich bereits in der Ausschusssitzung hingewiesen. So-
gung von Gebäudeeigentum durch LPG geregelt wird. Im wohl bei der rechtstechnischen Umsetzung als auch bei
bisherigen Gesetzestext gab es hier Unebenheiten. Klar ist der endgültigen Festlegung der Höhe des mit dieser Ini-
nun, dass diese Betriebe selbstständiges Eigentum nur an tiative neu zu schaffenden gesetzlichen Anspruchs des
von ihnen errichteten Gebäuden erlangt haben. Mit dieser Grundstückseigentümers auf Zahlung eines Nutzungsent-
Regelung greifen wir im Übrigen die damalige Rechts- gelts im Rahmen des sachenrechtlichen Moratoriums für
lage in der DDR auf. die Zeit von 1992 bis 1994 bzw. 1995 hat die Anhörung
überdeutlich gezeigt, dass hier noch rechtstechnische
Insbesondere nach einem Gespräch mit Herrn Parla- Mängel bestehen.
mentarischen Staatssekretär Dr. Thalheim möchte ich auf
folgenden Punkt hinweisen: Die Klarstellung zur Begrün- Auch wenn wir den Regelungsansatz über den redu-
dung von Gebäudeeigentum für LPG kann nicht dazu zierten Erbbauzins als rechtssystematisch richtig ansehen
führen, dass werthaltige bauliche Investitionen und von und Sie nach der Anhörung noch Korrekturen vorgenom-
den LPG bei Rechtsträgerwechsel am Grundstück ge- men haben, sind diese für uns nicht ausreichend. Zur ab-
zahlte Ablösebeträge für den Zeitwert der baulichen In- schließenden Klärung der am Montag deutlich geworde-
vestition in der Zukunft bei Veräußerungen der Grund- nen Bedenken zur Frage der Auswirkungen auf bereits ab-
stücke unberücksichtigt bleiben. Der Rechtsanspruch für geschlossene Bereinigungsfälle, zu Fragen der klaren und
die Auskehrung entsprechender Forderungsbeträge ergibt vor Fehlinterpretationen geschützten Formulierungen
sich meines Erachtens zweifelsfrei aus den allgemeinen hätten wir uns ein zeitlich solideres Beratungsverfahren
Vorschriften der §§ 812 ff. BGB sowie den Regelungen gewünscht. Der frühere Bundespräsident Herzog hat ein-
des § 7 Abs. 2 Vermögensgesetz. Dies ist jedenfalls die In- mal von einem Ruck gesprochen, der durch die Gesell-
tention, die für mich maßgeblich ist. schaft gehen soll. Von einem Hauruck hat er nichts gesagt.
Dringend notwendig ist auch die im Gesetzentwurf Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktio-
enthaltene Klarstellung im EGBGB bezüglich des Über- nen, an Ihre Art und Weise Gesetze durchzupauken, sind
wir ja bereits gewöhnt. Bei dieser so komplexen Materie
(B) gangs volkseigener Forderungen Grundpfandrechte und eine von uns beantragte Anhörung so kurzfristig anzube- (D)
Verbindlichkeiten auf Kreditinstitute in der neuen Rechts-
form. raumen und ohne Vorlage der Anhörungsprotokolle be-
reits zwei Tage danach abschließend zu beraten, lässt für
Sie sehen, wir haben einen in sich schlüssigen Gesetz- uns nur den Schluss zu, ein Gesetz durchpauken zu wol-
entwurf vorgelegt. Ich bitte sie um Zustimmung in der len, komme, was da wolle. Im Interesse der Betroffenen
zweiten und dritten Lesung. werden wir daher dazu unsere Hand nicht reichen.
Ihre Argumentation, der Gesetzgebungsauftrag hätte
Andrea Voßhoff (CDU/CSU): Mit der vorliegenden bereits zum 30. Juni dieses Jahres umgesetzt sein müssen,
Initiative stellen die Regierungsfraktionen heute ein Ge- ändert daran auch nichts. Ich kann dem nur entgegnen:
setz zur Abstimmung, das den ebenso unscheinbaren wie Warum haben wir uns dann nicht früher in diesem Hohen
komplizierten Namen „Grundstücksrechtsänderungsge- Hause damit beschäftigt?
setz“ trägt. In erster Linie soll es – so die Regierungsfrak-
tionen – einen Gesetzgebungsauftrag des Bundesverfas- Zu den inhaltlichen Kritikpunkten, weshalb wir dem
sungsgerichtes umsetzen. Er sieht deshalb auch vor, dass Entwurf nicht zustimmen, zählt Ihre beabsichtigte Privi-
Grundstückseigentümer in den neuen Ländern einen ge- legierung der Gewerkschaften. Der sehr geschätzte Kol-
setzlichen Anspruch auf Zahlung von Nutzungsentgelten lege Wolfgang von Stetten hat daher dieser Initiative dann
durch den jeweiligen zum Besitz des Grundstücks Be- auch sehr schnell den wahren Namen gegeben. Er nennt
rechtigten auch für den Zeitraum von Juli 1992 bis es schlicht ein „Gewerkschaftsvermögensvermehrungs-
31. März 1995 erhalten sollen. gesetz“. Ja, meine Damen und Herren, diese Bezeichnung
müssen Sie sich angesichts des Inhaltes schon gefallen
Diesen Handlungsauftrag hat man dann genutzt, im
lassen. Und wenn Sie uns diese verbale Bewertung als op-
Huckepackverfahren gleich noch einige andere Änderun-
positionelle Polemik vorwerfen sollten, dann darf ich
gen und Ergänzungen im Vermögensgesetz, in der Grund-
doch an dieser Stelle an die Anhörung zu diesem Gesetz
buchbereinigung und in den Übergangsvorschriften des
am vergangenen Montag erinnern. Der nahezu einstim-
EGBGB vorzunehmen. In der Begründung heißt es dazu
mige Appell der Sachverständigen in der Anhörung am
unter anderem – ich zitiere auszugsweise – „Bei der Be-
vergangenen Montag müsste Ihnen doch eigentlich noch
wältigung der mit dem Immobilienrecht der neuen Länder
im Ohr klingen.
im Zusammenhang stehenden Schwierigkeiten haben sich
in der rechtlichen Praxis verschiedene Bedürfnisse für Sie begründen Ihre Initiative der politisch gebotenen
größtenteils technische Änderungen ... herausgebildet“. Gleichstellung der gewerkschaftlichen Nachfolgeorgani-
Soweit so gut und nicht zu beanstanden. sationen und deren Immobiliengesellschaft BIO mit der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11041

(A) Jewish Claims Conference against Germany GmbH bei der BIO sind. Aber Sie müssen dann auch die Frage be- (C)
der Geltendmachung von Ansprüchen nach dem Vermö- antworten, wieso Sie mit dieser Initiative die Tür zur Gel-
gensgesetz mit dem historischen Ansatz der nationalsozi- tendmachung der gebündelten Ansprüche mit In-Kraft-
alistischen Verfolgung und den daraus resultierenden Re- Treten dieses Gesetzes auch gleich wieder zumachen
gelungen im Vermögensgesetz. Weil die BIO nach Ihrer wollen, also einen Stichtag einführen wollen? Miss-
Darstellung ähnlich wie die JCC GmbH ausschließlich brauchsverhinderung und die Vermeidung der Gefahr der
zum Zwecke der besseren Durchsetzung von Restituti- Zersplitterung von Unternehmen sind sicher berechtigte
onsansprüchen und nicht zu deren Verwertung gegründet Gründe. Die Konsequenz dieser Regelung – ich darf das
worden sei, wollen Sie der BIO die Erleichterungen zu- einmal salopp ausdrücken: Tür auf, Gewerkschaften rein,
kommen lassen, die der JCC GmbH vom Gesetzgeber bei Tür wieder zu – halte ich im Lichte unserer Verfassung
der Geltendmachung von abgetretenen Ansprüchen zuge- für nicht tragbar.
billigt wurden. Sie sprechen dabei von der Erleichterung
der Abwicklung von Ansprüchen. Wovon Sie nicht spre- Im Übrigen darf ich an dieser Stelle auf die erheblichen
chen, meine Damen und Herren von der Regierungsfrak- verwaltungstechnischen Umsetzungsprobleme hinweisen,
tion, ist, dass die Wirkungen dieser Erleichterungen eine die ja auch in der Anhörung sehr deutlich wurden. Die Sta-
massive Konzentration der Anspruchsdurchsetzung sind, tements in der Anhörung waren ja nahezu schon Appelle,
die im Lichte der schwierigen wirtschaftlichen Situation die Abwicklung der Restitutionsansprüche dadurch nicht
gerade auch der regionalen Wohnungsbaugesellschaften noch zusätzlich und auch noch erheblich zu verkompli-
zu einer erheblichen Beeinträchtigung der regionalen In- zieren. Jede Investitionsbremse, die jetzt noch zusätzlich
vestitionstätigkeit führt. Ich denke, die praktischen Erfah- in das Vermögensgesetz Einzug halten soll, erschwert den
rungen der Vertreter in der Anhörung haben dies über- Fortgang der Abwicklung vermögensrechtlicher An-
deutlich gemacht. sprüche. Dem können wir nicht zustimmen.
Sie müssen sich aber auch die Frage gefallen lassen, Lassen Sie mich abschließend noch auf unseren Antrag
wieso Sie diesen Freifahrtschein für die gewerkschaftli- auf Drucksache 14/1003 eingehen, in dem wir Sie auffor-
che Immobiliengesellschaft nicht auch anderen Restituti- dern, die Entschädigungspflicht nach dem Vermögensge-
onsberechtigten zukommen lassen wollen. Das mit dieser setz bei der Einziehung von beweglichen Sachen zu re-
Regelung in bestimmten – nicht unwahrscheinlichen – geln. An der Drucksachennummer können Sie erkennen,
Sachverhaltskonstellationen der BIO in konzentrierter dass dieser Antrag mehr als ein Jahr alt ist. Hin- und her-
Form finanzielle Ansprüche erwachsen, erwähnen Sie geschoben wurde die Umsetzung unserer Initiative: erst
nicht. Ist nämlich die BIO künftig Beteiligte am Investiti- als Annex im Vermögensrechtsergänzungsgesetz, das
onsvorrangsverfahren und erreicht sie es in dieser Funk- heute gleich im Anschluss beraten wird; dann fand sie sich
tion, dass eine Veräußerung an einen investitionsbereiten kurzfristig in diesem Artikelgesetz und seit Mittwoch fin-
(B) den sich die Entschädigungsregelungen wieder im Ver- (D)
Dritten nicht stattfindet, dann kann sie die Mieterlösaus-
kehr beanspruchen. mögensrechtsergänzungsgesetz. Dies zeigt beispielhaft
Ihren Umgang mit Gesetzesinitiativen.
Aber auch die Suspendierung von der Beurkundungs-
pflicht bei der Übertragung von Ansprüchen auf die BIO Zu dem Inhalt unserer Initiative wird gleich noch der
ist nicht nachvollziehbar. Sie wissen, dass der Beurkun- Kollege von Stetten einige Ausführungen machen.
dung – als der wichtigsten und strengsten Formvor-
schrift – eine außerordentliche Bedeutung zukommt, die Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
im Interesse der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit NEN): Das Artikelgesetz bringt Änderungen und Korrek-
nicht durch Ausnahmeregelungen durchbrochen werden turen für verschiedene andere Gesetze zur Regelung von
sollte. Wenn von diesem Grundsatz einmalig für die JCC Vermögensfragen nach der deutschen Vereinigung in der
eine Ausnahme gemacht wurde, dann ist dies ausschließ- ehemaligen DDR. Wieder mal folgt der Bundestag damit
lich in der Verbindung mit dem internationalen Pri- in einigen Bereichen den Vorgaben des Bundesverfas-
vatrecht zu sehen. Dieser Ausnahmegrund kann jedoch sungsgerichts. Das betrifft insbesondere den Artikel 233
für die BIO nicht gelten. § 2 a EGBGB.
In Ihrer Initiative ist weiter vorgesehen, dass zur Rea- Bis zum 30. Juni 2000 soll eine Regelung geschaffen
lisierung der Ansprüche nach § 3 VermG eine Bündelung werden, die Grundstückseigentümern Nutzungsentgelt
der Anteile zulässig sein soll, die für sich gesehen nicht auch für die Zeit vom 22. Juli 1992 bis 31. März 1995 zu-
das gesetzlich vorgeschriebene Quorum erreichen würden
gesteht. Bisher war das anders geregelt. Aus gutem
und deshalb einzeln auch nicht geltend gemacht werden
Grund, wie der Bundestag bei Erlass des Gesetzes meinte.
könnten. Zu Recht hat Herr Staatssekretär Dr. Pick darauf
Das Bundesverfassungsgericht war anderer Meinung und
hingewiesen, dass diese Bündelung der Anteile, die die
sah darin einen Verstoß gegen das Grundrecht auf Schutz
20-Prozent-Hürde überbrückt, in der Gesetzesformulie-
des Eigentums. Selbstverständlich kommen wir der Ent-
rung nicht allein für die Gewerkschaften gilt, sondern
scheidung des höchsten deutschen Gerichts nach und ge-
auch für alle Rechtsnachfolger. Gleichwohl dürften fak-
ben nunmehr den Grundstückseigentümern auch für diese
tisch die Gewerkschaften Hauptbegünstigte dieser Rege-
Zeitspanne einen Anspruch auf Nutzungsentgelt, auch
lung sein.
wenn es schwerfällt, weil viele Nutzer nun mit erhebli-
Dies lässt sich sicher noch damit begründen, dass die chen Nachzahlungen rechnen müssen. Aber es führt kein
Gewerkschaften eben auch Kleinanteile an den Unter- Weg daran vorbei. Die Entscheidung des Gerichts ist für
nehmen hatten, die zwischenzeitlich heute in der Hand das Parlament bindend.
11042 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

(A) Die Höhe dieses Anspruchs richtet sich nach den Re- Änderungen sind aber unvermeidbar, wenn es gilt, Ent- (C)
gelungen des Sachenrechtsbereinigungsgesetzes zu den scheidungen des Verfassungsgerichts nachzukommen.
Erbbauzinsen. Allerdings muss der Anspruch innerhalb Sie sind auch notwendig, um mehr Gerechtigkeit zu
von zwei Jahren geltend gemacht werden. Sonst verjährt schaffen und die gegensätzlichen Interessen besser auszu-
er. Damit soll möglichst rasch Rechtssicherheit geschaf- gleichen.
fen werden. Die redlichen Nutzer von Grundstücken sol-
Die Regelungen sind für viele Menschen häufig von
len bald wissen, was auf sie zukommt und nicht nach wei-
existenzieller Bedeutung. Es geht zum Beispiel um ge-
teren Jahren plötzlich mit der hohen Nachzahlung kon-
werkschaftliches Wohnungsvermögen. Von der heute zu
frontiert werden. So weit wird die Opposition zustimmen. verabschiedenden Regelung können mehr als 6 000 Woh-
Anders ist es mit der Änderung des Vermögensgeset- nungen betroffen sein.
zes in Art. 1 unseres Grundstücksrechtsänderungsgeset- Auch wenn kaum noch jemand durchblickt: Verab-
zes. Hierzu hat auch eine besondere Anhörung stattge- schieden wir das richtige Gesetz noch heute vor der Som-
funden. merpause. Viele in der ehemaligen DDR warten darauf,
Um die Abwicklung ihrer Ansprüche nach dem Ver- die einen mehr bangend, die anderen mehr hoffend.
mögensgesetz zu erleichtern, soll die Jewish Claims
Conference ihre Rechte auf die gleichnamige GmbH ein- Rainer Funke (F.D.P.): Dieser Gesetzentwurf ist
fach schriftlich übertragen können. Das ist noch unstrit- wahrlich kein Meisterstück und wimmelt von handwerk-
tig. Anders ist es mit der entsprechenden Regelung für lichen Mängeln. Nicht nur, dass die vom Bundesverfas-
die gewerkschaftlichen Nachfolgeorganisationen. Sie sungsgericht vorgeschriebenen Fristen vom 30. Juni die-
sollen ebenso erleichtert ihre Ansprüche auf die BGAG ses Jahres hinsichtlich der Entgeltlösung nicht eingehal-
Immobilien Ost übertragen können. Damit tragen wir ei- ten werden können, sondern auch die gleichzeitige
nem Anliegen der Gewerkschaften Rechnung. Das ist Umgestaltung dieser notwendigen gesetzlichen Änderung
gerechtfertigt. Denn diese gewerkschaftliche GmbH zu einem Artikelgesetz, in dem Wichtiges und Unwichti-
wurde aus-schließlich, wie auch die Jewish Claims Con- ges, formelles und materielles Recht durcheinander gere-
ference GmbH, zur besseren Durchsetzung von Restitu- gelt werden, ist nicht gelungen.
tionsansprüchen gegründet, nicht zu deren Verwertung
durch Verkauf an Dritte und damit nicht zur Gewinn- Ich will im Einzelnen nicht auf die Art. 2 bis 7 einge-
erzielung. hen. Mit diesen Regelungen, insbesondere hinsichtlich
des Nutzungsentgeltes, ist, glaube ich, eine tragfähige Lö-
Vor allem aber hat die rechtliche Situation, die es zu re- sung gefunden worden, auch wenn die betreffenden Ver-
geln gilt, ihren Ursprung in der NS-Zeit. Sie ist insoweit bände in der Anhörung zum Teil massive Kritik geäußert
(B) vergleichbar der der Ansprüche, deren Durchsetzung die haben. Ich will aber auch zum Zustandekommen dieses (D)
Jewish Claims Conference zur Aufgabe hat. Diese Be- Artikelgesetzes sagen, dass vor zwei Sitzungswochen die-
sonderheit eines Verfolgungstatbestandes rechtfertigt es, ser Gesetzentwurf von den Koalitionsfraktionen holter-
die Gewerkschaften in gewissem Maße zu privilegieren diepolter eingebracht worden ist. Offensichtlich weil das
gegenüber anderen Unternehmen. Wichtig ist, dass mit Bundesjustizministerium nicht in der Lage war, ein Ge-
der Regelung kein eigener Rechtsanspruch geschaffen setz rechtzeitig durch Kabinettsbeschluss zu verabschie-
wird, sondern nur eine Beteiligungsmöglichkeit am In- den und den Weg ordnungsgemäß über den Bundesrat zu
vestitutionsvorrangverfahren. Allerdings gibt es hier eine beschreiten. Der Gesetzentwurf sollte schnell durchge-
Einschränkung, dass die Beteiligung am Investitutions- peitscht werden, im Übrigen mit dem inzwischen zurück-
vorrangverfahren nur dann gilt, wenn zurzeit des In- genommenen Ansinnen, noch Änderungen zum Vermö-
Kraft-Tretens des Gesetzes noch keine endgültige Ver- gensrechtsänderungsgesetz vorzunehmen. Auf Interven-
waltungsentscheidung getroffen wurde. Wenn CDU/CSU tion der Oppositionsparteien hat eine Anhörung
und F.D.P. hierin eine unzulässige Bevorzugung der Ge- stattgefunden, die ergeben hat, dass erhebliche Beden-
werkschaften sehen wollen und dahinter gar eine Klien- ken, insbesondere hinsichtlich Art. 1, der gravierenden
telbedienung zu entdecken glauben, dann kann ich solche Bevorzugung der Gewerkschaften, bestehen.
Vorwürfe für die Fraktion der Bündnisgrünen nur ent-
schieden zurückweisen. Wir haben keinen Grund einer Es ist kein sachlicher Grund erkennbar, warum den Ge-
besonderen Klientelbedienung. Und die Argumente, die werkschaften gegenüber anderen gesellschaftlichen Kräf-
Regelung auch auf die gewerkschaftliche GmbH auszu- ten oder auch Bürgern bessere Rechtspositionen hinsicht-
dehnen, überzeugen. Sie sind ein ausreichender Grund, ei- lich des Vermögens, was sie unter der Naziherrschaft ver-
nen Unterschied zur Regelung für andere Unternehmen loren haben, eingeräumt werden sollen. Dies gilt auch für
zu machen. Wenn Unternehmen, für die entsprechende die Frage des § 313 BGB. Mit anderen Worten: Warum
Voraussetzungen gegeben sind, solche Anliegen an uns sollen entsprechende grundbuchliche Vorgänge für Ge-
herantragen, sind wir gern bereit, diese zu prüfen und viel- werkschaften ohne Inanspruchnahme eines Notars beur-
leicht geeignete Veränderungen zu ergänzen, wenn die Si- kundet werden? Zu Recht haben wir den Formzwang des
tuation wirklich voll vergleichbar ist. § 313 BGB für alle grundbuchlichen Vorgänge vorge-
geben.
Die Regelungen zur Aufteilung der Rechte an Vermö-
gen und insbesondere Grundstücken aus der Hinterlas- Die Rechtstellung aller gesellschaftlichen Kräfte muss
senschaft der DDR werden immer komplizierter, unver- gleich sein und deswegen habe ich erhebliche verfas-
ständlicher und auch unübersichtlicher. Das heute zu ver- sungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der Bevorzugung
abschiedende Gesetzeswerk ist ein Beispiel dafür. Die einer gesellschaftlichen Gruppierung. Aber offensichtlich
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11043

(A) hat im politischen Leben alles seinen Preis. Die Römer ha- Dr. Eckhart Pick (Parl. Staatssekretär bei der Bun- (C)
ben dafür das Sprichwort: Manus manum lavat. desministerin der Justiz): Ich freue mich, dass wir das
Grundstücksrechtsänderungsgesetz – nach zum Teil recht
kontroversen Debatten in den Ausschüssen – heute in
Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Die Art und Weise wie zweiter und dritter Lesung beraten und damit hoffentlich
Einzelregelungen offener Vermögensfragen in der letzten zu einem guten Abschluss bringen können. Das Gesetz
Woche vor der Sommerpause durch den Bundestag gejagt enthält eine Reihe von Regelungen, von denen auch die
werden, halte ich, offen gesagt, für unwürdig. So sollten Damen und Herren der Opposition nicht in Abrede stel-
Gesetzgebungsverfahren im Interesse der Solidität unse- len, dass sie sinnvoll, ja notwendig sind und denen Sie
rer Arbeit nicht gehandhabt werden. Ich habe zwei Be- dankenswerter Weise in den Ausschüssen Ihre Zustim-
merkungen zu dem Entwurf zu machen. mung größtenteils nicht verweigert haben; ich denke da
Erstens zu Art. 1. Die Probleme, die mit den vorgese- zunächst an die Regelungen über ein schlankeres, kos-
henen Erleichterungen für die gewerkschaftlichen Nach- tensparenderes, aber zugleich bürgerfreundliches Aufge-
folgeorganisationen verbundenen sind, sind aus meiner botsverfahren für nicht beanspruchte Vermögenswerte
Sicht nicht einfach. Einerseits verstehe ich, dass die Ge- im Entschädigungs- und Grundbuchbereinigungsgesetz.
Gleiches gilt für die Änderungen in der Grundstücksver-
werkschaften ähnlich behandelt werden wollen wie die
kehrsordnung und dem Parteiengesetz der DDR. Hier
Jewish Claims Conference. Die Gewerkschaften wurden
sind Zuständigkeitsverlagerungen vorgesehen bzw. wer-
vom faschistischen Regime verfolgt und ihr Vermögen
den wegen der geplanten Umstrukturierung der Bundes-
wurde enteignet. Andererseits stehen dem berechtigte In- anstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben ermög-
teressen der Wohnungswirtschaft in Ostdeutschland und licht.
letzten Endes der Mieter gegenüber. Die Leerstände von
Wohnungen wegen ungeklärter Vermögensfragen sind Nicht umstritten waren auch Änderungen des EGBGB,
schon jetzt sehr hoch. Durch die neuen Regelungen – so die einerseits den Übergang von Althypotheken und Alt-
der Verband Sächsischer Wohnungsunternehmen – „be- forderungen auf die Nachfolgeinstitute der DDR-Kredit-
steht die Gefahr, dass sinnvolle Schritte im Rahmen der institute und andererseits das Entstehen von selbstständi-
Stabilisierung von Investitionen blockiert werden“. Mit gem Gebäudeeigentum landwirtschaftlicher Produktions-
der Möglichkeit der Bündelung von Ansprüchen wird – so genossenschaften betreffen. Beide Bestimmungen sind in
der Verband – „die Vermögenszuordnung zehn Jahre nach der vom Rechtsausschuss durchgeführten Anhörung aus-
der Wende nochmals erheblich beeinträchtigt“. drücklich als notwendig und richtig begrüßt worden. Ich
will daher hier darauf nicht weiter eingehen.
Zweitens zu Art. 4 Nummer 2. Dort ist die Nachzah-
lung von Nutzungsentgelten für die Zeit vom 22. Juli Von der Opposition heftig kritisiert wurden dagegen ei-
(B) 1992 bis zum 31. März 1995 geregelt. Ich vertrete dazu nige Änderungen, die das Gesetz zur Regelung offener (D)
folgenden Standpunkt: Der Gesetzgeber kann sich natür- Vermögensfragen betreffen. Hier scheint es, dass sich die
lich nicht über die Entscheidung des Bundesverfassungs- Kollegen insbesondere daran stören, dass Regelungen zu-
gerichts hinwegsetzen. Die vorgeschlagene Lösung, näm- gunsten der Gewerkschaften aufgenommen wurden. Es
geht uns aber nicht darum, dass die Gewerkschaften ge-
lich die Begrenzung der Entgelte entsprechend den §§ 51,
genüber anderen NS-Verfolgten bevorzugt werden sollen.
43 und 45 Sachenrechtsbereinigungsgesetz, ist zwar nicht
Es wird vielmehr eine Gleichbehandlung der NS-Verfolg-
die schlechteste. Sie ist juristisch machbar. Aber wirt-
ten untereinander hergestellt und eine unbillige Rechts-
schaftlich belastet sie vor allem die ostdeutschen Woh- lage bereinigt. Nach geltendem Recht führt die Organisa-
nungsunternehmen ganz empfindlich. Auf der Anhörung tionsstruktur der Gewerkschaften dazu, dass diese nie an
des Rechtsausschusses am letzten Montag wurden ent- Verfahren nach dem Investitionsvorranggesetz beteiligt
sprechende Zahlen genannt. werden, obwohl in diesen Verfahren ihre Ansprüche auf
Es wäre auch eine andere Lösung möglich gewesen, Restitution ehemals gewerkschaftseigenen Vermögens
die der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betroffen sind. Die Gewerkschaften haben nämlich Un-
ebenfalls entsprochen und den Wohnungsunternehmen ternehmen gegründet, die abgetretene gewerkschaftliche
weniger finanzielle Lasten aufgebürdet hätte; zum Bei- Ansprüche konzentriert geltend machen. Die Ansprüche
spiel die Festlegung eines angemessenen Pauschalsatzes bleiben zwar im „Lager“ der Gewerkschaften; die ge-
pro Quadratmeter. werkschaftlichen Unternehmen haben aber gleichwohl
formal kein Beteiligungsrecht. Hier besteht ein Unter-
Offen bleibt in dem Entwurf, ob eine Beteiligung des schied zur Conference on Jewish Material Claims against
Nutzers an den öffentlichen Grundstückslasten in dem Germany, die Ansprüche für jüdische Verfolgte geltend
fraglichen Zeitraum auf die Höhe des nachzuzahlenden macht: Ihr ist gesetzlich die Möglichkeit eingeräumt wor-
Nutzungsentgelts angerechnet werden kann und ob früher den, eine GmbH zu gründen, auf die sie ihre Ansprüche
abgeschlossene Verträge zwischen Eigentümer und Nut- abtreten kann, ohne dass dadurch das Recht, am Verfah-
zer Vorrang vor den nun zu treffenden gesetzlichen Rege- ren nach dem Investitionsvorranggesetz beteiligt zu wer-
lungen haben. Die sich aus der Überlappung in der Zeit den, verloren geht. Es ist aus meiner Sicht kein Grund er-
zwischen dem 1. Januar und dem 31. März 1995 ergeben- sichtlich, den ebenfalls in der NS-Zeit verfolgten Ge-
den Probleme scheinen nach dem letzten Stand einiger- werkschaften das gleiche Recht nicht einzuräumen.
maßen zufriedenstellend gelöst zu sein.
Auch eine weitere Gesetzesänderung betrifft An-
Die PDS-Fraktion wird dem Entwurf ihre Zustimmung sprüche der NS-Verfolgten. Wurden ihnen Unternehmens-
aus den angeführten Gründen nicht geben. anteile verfolgungsbedingt entzogen, so haben sie nach
11044 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

(A) geltendem Recht Anspruch auf Einräumung von Bruch- Eigentümer an einer angemessenen Verzinsung des von (C)
teilseigentum an den Gegenständen, die früher zu dem ihnen zur Verfügung gestellten Grund und Bodens muss
Unternehmen gehört hatten. Dies gilt auch dann, wenn ih- die wirtschaftliche Situation der Nutzer berücksichtigt
nen Anteile am Mutterunternehmen entzogen wurden. werden. Genossenschaften, Wohnungsbauunternehmen,
Um zu große Eigentumszersplitterungen zu vermeiden, aber auch der private Nutzer sehen sich unter Umständen
enthielt das geltende Recht eine Grenze. Hatte das Mut- erheblichen Nachzahlungen für einen inzwischen weit
terunternehmen lediglich einen Anteil von bis zu 20 Pro- zurückliegenden Zeitraum ausgesetzt. Insbesondere die
zent an dem Tochterunternehmen, so besteht der An- Wohnungsunternehmen haben dies in der Anhörung ein-
spruch auf Einräumung von Bruchteilseigentum nicht. In- drücklich geschildert. Ich denke, dass mit der Anknüp-
zwischen befinden sich aber häufig mehrere Ansprüche, fung der Entgelthöhe an den in der Eingangsphase der Sa-
die verschiedene Mutterunternehmen betreffen, in einer chenrechtsbereinigung zu zahlenden Erbbauzins eine ins-
Hand. Durch das Grundstücksrechtsänderungsgesetz soll gesamt zumutbare und systemgerechte Lösung gefunden
klargestellt werden, dass in diesen Fällen die Anteile der wurde. Die vorgeschlagenen, niedrigen Entgeltpauscha-
Mutterunternehmen zu addieren sind, da es bei der Kon- len halte ich nicht für vertretbar, da sie – vom Grund-
zentration auf einen Anspruchsinhaber nicht zu einer Ei- stückswert abgekoppelt – in wertvolleren Lagen dem
gentumszersplitterung kommen kann. Dies soll aber nur Grundstückseigentümer kaum eine marginale Verzinsung
dann gelten, wenn nicht die vermögensrechtlichen An- seines Bodens ließen. Die gefundene Regelung trägt zu-
sprüche durch Abtretungen erlangt werden, die erst nach dem auch dem Interesse der Nutzer am Bestand in der
In-Kaft-Treten dieses Gesetzes, das heißt in Ansehung der Vergangenheit abgeschlossener Vereinbarungen Rech-
Neuregelung, erfolgen. So wird einem möglichen Miss- nung.
brauch entgegengewirkt, den es geben könnte, wenn meh-
Die in den Beratungen erzielten Ergebnisse sind insge-
rere Berechtigte sich zunächst zusammenschließen, um
samt ausgewogen und stimmig. Ich bitte deshalb um Ihre
das Bruchteilseigentum zu erlangen, und sich anschlie-
Zustimmung zu dem Entwurf.
ßend wieder auseinander setzen. Denn dann käme es ge-
nau zu der Eigentumszersplitterung, die gerade verhindert
werden soll.
Anlage 7
Einem Gesetzgebungsauftrag des Bundesverfassungs-
gerichts folgend verabschieden wir hier auch eine Rege- Zu Protokoll gegebene Reden
lung, mit der ein gesetzlicher Entgeltanspruch für Grund-
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
stückseigentümer eingeführt wird. Bisher mussten sie in-
Änderung und Ergänzung vermögensrechtlicher
folge des sachenrechtlichen Moratoriums die Nutzung
(B) ihres Grundstücks unentgeltlich hinnehmen, sofern sie und anderer Vorschriften (Vermögensrechtser- (D)
gänzungsgesetz) (Zusatztagesordnungsunkt 15)
mit dem Nutzer nicht zu einer Einigung gelangen konn-
ten. Das Bundesverfassungsgericht hat einen gesetzlichen
Nutzungsentgeltanspruch für den Zeitraum vom 22. Juli Dr. Mathias Schubert (SPD): Das Vermögensrechts-
1992 – das ist das In-Kraft-Treten des 2. Vermögens- ergänzungsgesetz beinhaltet eine Reihe wichtiger Rege-
rechtsänderungsgesetzes – bis zum 31. Dezember 1994 lungen, die mehr Klarheit und Berechenbarkeit innerhalb
für notwendig erachtet. Die vorgeschlagene Regelung des ganzen Problemkreises um Entschädigungen, Natur-
geht über diesen, dem Bundesverfassungsgericht allein schutz und Flächenerwerb bringen werden.
zur Entscheidung unterbreiteten Zeitraum insofern hi-
Ich gehe auf zwei Themen besonders ein. Auf der ei-
naus, als sie den Anspruch des Eigentümers auch auf die
nen Seite die Naturschutzflächen: Der Bund stellt hier-
Zeit bis zum 31. März 1995 erstreckt. Dies ist kritisiert
für 50 000 Hektar kostenlos zur Verfügung. Weitere
worden, erscheint mir aber im Lichte der bundesverfas-
50 000 Hektar können wertgleich bzw. flächengleich mit
sungsgerichtlichen Entscheidung notwendig: Für die Zeit
den Ländern getauscht werden. Dieser Tausch ist deshalb
ab dem 1. Januar 1995 ist der Nutzungsentgeltanspruch
möglich, weil die Länder über mehr als ausreichend ge-
des Eigentümers im Interesse beschleunigter Sachen-
eignetes Land verfügen. Allein bei der Übereignung des
rechtsbereinigung bewusst auch von seiner eigenen Ini-
Preußenwaldes vom Bund auf die Länder handelt es sich
tiative in der Sachenrechtsbereinigung abhängig; formal
um 1 Million Hektar.
sind ihm die entscheidenden Schritte aber nicht vor Ab-
lauf des März 1995 möglich gewesen. Deshalb muss der Wer also behaupten sollte, mit dieser Regelung würde
Eigentümer bis zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich in den der Bund die Länder übervorteilen, liegt falsch. Ganz im
Genuss des neu geschaffenen Entgeltanspruchs kommen Gegenteil wird der Gesetzentwurf sowohl den Interessen
können. Es ist aber auch richtig, die in der Anhörung vor- des Naturschutzes als auch denen der Land- und Forst-
getragenen Bedenken aufzugreifen: Für diesen weiterge- wirtschaft gerecht. Beide Seiten erhalten damit Klarheit.
henden Zeitraum muss ein Nutzungsentgeltanspruch dann Der in manchen Fällen jahrelang währende Streit um die
versagt werden, wenn der Eigentümer sich einer vom Nut- Nutzung einzelner Flächen wird beendet werden.
zer eingeleiteten Sachenrechtsbereinigung verweigert hat.
Das politische Signal an beide Seiten ist dabei eindeu-
Die Frage, in welcher Höhe ein Nutzungsentgeltan- tig. Landwirtschaft und Naturschutz haben neben unter-
spruch einzuräumen war, bewegt sich in einem Span- schiedlichen Zielen eben auch gemeinsame, übrigens
nungsfeld ganz unterschiedlicher Erwartungen und auch mehr und mehr gemeinsame. Dies wird mit dem Gesetz-
wirtschaftlicher Gegebenheiten. Neben dem Interesse der entwurf unterstützt und gefördert. Wer in diesem Zusam-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11045

(A) menhang zum Beispiel einwendet, die Antragsfristen für Schon bei der Frage des doppelten Durchgriffs bei ehe- (C)
die Naturschutzverbände seien zu kurz, dem muss be- maligem jüdischen Vermögen gab es erhebliche recht-
scheinigt werden, dass er keine Ahnung hat vom Engage- liche und verfassungsrechtliche Bedenken, die aber im
ment und von der Professionalität, mit der Naturschutz- Hinblick auf das Schicksal dieser Gemeinschaft zurück-
verbände arbeiten. gestellt wurden. Die Gleichstellung von Gewerkschaften
ist durch nichts gerechtfertigt, auch wenn die Gewerk-
Zum anderen gehe ich kurz ein auf die Regelungen schaften Vermögenswerte erheblicher Art verloren haben.
zum Flächenerwerb. Hier heißt die entscheidende politi- Sie aber mit jüdischen Gemeinschaften, persönlichen
sche Botschaft: Der Flächenerwerbsstopp wird beendet. Schicksalen von Juden gleichzustellen ist eine Verhöh-
Bekanntermaßen hat die EU-Kommission vor etwa zwei nung der Toten. So ist dieses Gesetz ein reines „Gewerk-
Jahren faktisch einen Verkaufsstopp verhängt, weil die schaftsvermögensvermehrungsgesetz“ und deswegen ab-
Subventionierungsquoten zu hoch waren. Das hat uns da- zulehnen.
mals – übrigens im ganzen Hause – im Blick auf die ost-
deutsche Landwirtschaft nicht gerade begeistert. Nun Das Vermögensrechtsergänzungsgesetz hat das von der
wird im Gesetzentwurf für die potenziellen Käufer eine EU-Kommission vorgegebene Verbot von vergünstigten
Abschlagsquote auf den Verkehrswert von 35 Prozent Verkäufen an nicht Systemgeschädigte auf den Kopf ge-
festgelegt. Schon schreit die CDU/CSU-Opposition „Ach stellt. Statt die Berechtigten, insbesondere die Alteigentü-
und weh“, wir würden die ostdeutsche Landwirtschaft mer zu begünstigen, sind alle Kaufwilligen gleichgestellt
platt machen wollen. Ich erinnere Sie nur an Ihre wieder- und somit erneut die Eigentumsrechte der Alteigentümer
holten Versuche in der vergangenen Legislaturperiode, mit Füßen getreten. Dabei wurde sogar nicht einmal der
die Bodenreform umzukehren, zum Teil gegen den Willen Rahmen der von der EU vorgegebenen Verbilligungs-
Ihrer eigenen Regierung. Das wäre die ultimative Enteig- möglichkeit ausgeschöpft, sodass die früheren Eigentü-
nung der ostdeutschen Landwirte gewesen. Wenn Sie hier mer ihren Grund und Boden erheblich über dem Preis
also politisch ernst genommen werden wollen, dann han- zurückkaufen müssen, wie es nach den EU-Richtlinien
deln Sie nicht nach der Methode: „Was schert mich mein möglich gewesen wäre.
Geschwätz von gestern“, sondern betrachten Sie ganz Dass dies alles im Vorfeld einer für Herbst zu erwar-
nüchtern die Situation. tenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in
Die Verkehrswerte in Ostdeutschland liegen bei 4 000 bis der letzten Woche vor der Sommerpause durchgepeitscht
6 000 DM pro Hektar, im Vergleich in Bayern und Baden- wird, ist völlig unverständlich, weil das Bundesverfas-
Württemberg bei bis zu 40 000 DM pro Hektar. 6 000 mi- sungsgericht zur Enteignungsproblematik 1945–1949 si-
nus 35 Prozent macht circa 4 000 DM pro Hektar, also cher das eine oder andere zu sagen hat bzw. sogar gege-
benenfalls Regelungen vorschreibt.
(B) 10 Prozent vom Südstaatenniveau. Zudem arbeitet die (D)
Landwirtschaft im Osten produktiver als im Westen. Das Richtigerweise wurde die Wohnsitzregelung geändert,
hat auch etwas damit zu tun, dass die Betriebe im Durch- da die Festlegung eines willkürlichen Datums aufgehoben
schnitt im Osten fünfeinhalb mal größer sind als im Wes- wurde und eine Diskriminierung anderer Kaufwilliger
ten. Wie gut die Landwirtschaft in Ostdeutschland ist, darstellte.
kann jeder aus dem Agrarbericht 1999 herauslesen, zum
Nicht zu verantworten ist die ersatzlose Streichung des
Beispiel wenn man die Gewinnentwicklung vergleicht:
§ 9 des Vermögensgesetzes, der Rechte von Enteigneten,
Mecklenburg-Vorpommern plus 26,4 Prozent, Sachsen
insbesondere nach 1949, erneut in unzuträglicher Weise
plus 16,2 Prozent, Niedersachsen plus 0,1 Prozent,
abschneidet, nur weil die Bundesregierung Sorge hat, dass
Schleswig-Holstein plus 5,2 Prozent usw. Außerdem wer-
enorme finanzielle Risiken aufgrund des Urteils des Bun-
den die LPG-Nachfolger steuerlich wie verarbeitendes
desverwaltungsgerichts vom 17. September 1998 entstän-
Gewerbe behandelt, ein weiterer Vorteil. Und schließlich:
den. Hier handelt es sich insbesondere um die Bereitstel-
Landwirte können rechnen. Deshalb rechnen die auf die
lung von Ersatzgrundstücken wegen Ausschlusses der
Mark genau vor, dass es für sie in der Regel wirtschaftlich Restitution aufgrund redlichen Erwerbs, aber auch andere
günstiger ist, für 18 Jahre zu pachten statt zu kaufen. Unmöglichkeitstatbestände der Rückgabe. Genau das soll-
Ihre oppositionelle Empörung mag vielleicht für Ihre te mit den Bestimmungen des § 9 des Vermögensgesetzes
eigene Ermutigung ganz gut sein, an der Sache selbst geht möglich sein und war vom Gesetzgeber bei der Verab-
sie vorbei. Was bleibt, ist Blockade. Und wenn Herr Merz schiedung so gewollt.
gestern sagte, er werde uns zwingen, dann klingt das nach Auch die betroffenen Kommunen, die Ersatzgrund-
blanker Ideologie, und die steht in gefährlicher Nähe zur stücke zur Verfügung stellen sollen, sind dadurch nicht in
Verantwortungslosigkeit. ihren Rechten oder finanziellen Möglichkeiten geschmä-
lert, da sie Ersatz zum Verkehrswert aus dem allgemeinen
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Wiedervereinigungsfonds erhalten. Hier wird in eigen-
Die von der Koalition in dieser letzten Sitzungswoche vor tumsähnliche Rechte eingegriffen ohne Entschädigungs-
der Sommerpause durchzupeitschenden Gesetze – so das regelung und daher ist Art. 14 des Grundgesetzes verletzt.
Grundstücksrechtsänderungsgesetz und das Vermögens- § 9 des Vermögensgesetzes wurde auch aufgenommen,
rechtsänderungsgesetz – sind ein Skandal. Durch Heraus- um zu verhindern, dass die Schere zwischen denen, die ihr
nahme und Wiedereinfügung in die obigen Gesetze ist ein komplettes Eigentum zurückbekommen und denen, die
Paragraphen- bzw. Gesetzessalat vorgelegt worden, um nur nach dem mageren Entschädigungsgesetz Geldan-
die wahren Hintergründe zu verschleiern. sprüche haben, nicht zu groß wird. Im Hinblick auf Art. 3
11046 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

(A) des Grundgesetzes soll sich der Gesetzgeber bemühen, ei- zweiter und dritter Lesung zur Verabschiedung stehenden (C)
nen möglichst gerechten Ausgleich zu finden bei tatsäch- Vermögensrechtsergänzungsgesetz wider. Erst wird ein
licher Unmöglichkeit der Restitution. Gesetzentwurf der Bundesregierung erstellt, der dem
Bundestag zugeleitet und dann in einer Anhörung beraten
Dies war ein ausgewogener Kompromiss, den das
wird. Dann ist über ein halbes Jahr Schweigen im Walde.
Bundesverwaltungsgericht bestätigt hat. Das vorliegende
Gesetz ist ein schwerer Eingriff in die Rechte von durch Plötzlich einigt man sich am Freitagnachmittag in der
kommunistische Gewaltherrscher Enteignete. Es ist auch Bundesregierung noch auf einen völlig neuen Sachver-
falsch zu behaupten, dass dadurch notwendige Investitio- halt, nämlich auf eine Regelung über die Herausnahme
nen verzögert oder gefährdet werden. Im Gegenteil: Be- von 100 000 Hektar aus dem Bodenfonds, der zur Befrie-
rechtigte werden, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben digung von Entschädigungen nach dem Entschädigungs-
ist, ein Ersatzgrundstück zu erhalten, dieses viel zügiger und Ausgleichsleistungsgesetz dienen soll, für den Natur-
in den Kreislauf von Investitionen zurückbringen als die schutz, worüber das Parlament dann offiziell am Diens-
überforderten Gemeinden. Die Gemeinden werden sehr tagmorgen informiert wurde. De facto bestand zeitlich
schnell für diese Ersatzgrundstücke in Geld entschädigt, keine Möglichkeit, intensiv über diese neu in die Diskus-
das sie dringend brauchen. sion des Parlamentes eingebrachten schwierigen Fragen
zu diskutieren.
Auch so würden finanzielle Mittel in den Kreislauf von
Investitionen hineingepumpt, die dringend notwendig Dann wird das Gesetz durch den Ausschuss gepeitscht,
sind im gesamten Gebiet der neuen Länder. Die Strei- ohne dass die Regierungsfraktionen mit Ausnahme einer
chung des § 9 des Vermögensgesetzes ist daher nicht nur einzigen Wortmeldung zu irgendeinem Paragraphen über-
verfassungswidrig, sie ist auch rechtlich bedenklich im haupt irgendeine Wortäußerung von sich gegeben haben.
Hinblick auf den Vertrauensschutz der Bürger und wirt- Das ist eine Herabwürdigung des Parlaments.
schaftlich absolut unsinnig.
Aber zum Gesetz selbst: Das Gesetz hat drei Teile.
Auf Vorschlag der Union wurde eine Lücke in § 10
Abs. 2 des Vermögensgesetzes geschlossen, indem nun Zu Art. 1: Hier soll Paragraph 9 Vermögensgesetz ge-
auch für bewegliche Sachen, für die kein Erlös bei der strichen werden. Dieser eröffnete die Möglichkeit, den
Verwertung erzielt wurde, eine – wenn auch beschei- Berechtigten, der wegen redlichen Erwerbs des Verfü-
dene – Entschädigung gewährt wird. Als Bemessungs- gungsberechtigten von der Restitution ausgeschlossen ist,
grundlage wurde der Wert der Sache zum Zeitpunkt der auf seinen Antrag hin statt in Geld durch Übereignung ei-
Entziehung im Verhältnis 2:1 auf Deutsche Mark festge- nes Ersatzgrundstückes zu entschädigen.
setzt. Hier hätte die Union lieber keine Verminderung
Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom
(B) durch die Währungsumstellung gehabt und auch gerne die 17. September 1998 entschieden, dass die Gemeinden die (D)
Höchstbeträge erhöht.
Bereitstellung von Ersatzgrundstücken nicht aus Haus-
Entschieden abzulehnen ist die durch Druck der Grü- haltsgründen generell verweigern dürfen, denn sie könn-
nen ins Gesetz gekommene kostenlose Abgabe von ten vom Bund den vollen Ersatz ihrer Aufwendungen,
50 000 bzw. 100 000 Hektar land- und forstwirtschaftli- also den Verkehrswert des Ersatzgrundstückes, verlangen.
cher Fläche aus den zur Verfügung stehenden zu privati-
Die Koalition will diese Vorschrift aufheben. Diese
sierenden Flächen. Dies geht wiederum zulasten von Be-
Vorschrift darf aus unserer Sicht nicht gestrichen werden,
rechtigten, vermutlich insbesondere auch von Alteigen-
weil ihre Aufhebung enteignenden Charakter hätte. Das
tümern. Man hätte durchaus warten können, wie viel
ist in der Anhörung sehr deutlich geworden. Die Koalition
Flächen und was für Flächen nach dem Ende der Repri-
greift wieder einmal willkürlich in die Rechte der Bürger
vatisierung übrig geblieben wären, um diese dann gege-
ein.
benenfalls als Naturschutzgebiete auszuweisen.
Zudem schilt die Bundesregierung das Bundesverwal-
Man kann sicher auch im unbeschränkten Eigentum
tungsgericht, weil sie der Meinung ist, dass die Rechts-
des Bundes bestehende Flächen, wie Truppenübungs-
auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes an der Ratio
plätze oder Ähnliches, verwenden, ohne dass in Rechte
des § 9 Vermögensgesetz vorbei gehe. So etwas habe ich
von berechtigten Alteigentümern, aber auch Neuerwerbs-
noch nicht erlebt.
berechtigten eingegriffen wird.
Für die Auslegung der Gesetze, die der Deutsche Bun-
Das Justizministerium, das selbst noch vor ein paar destag beschlossen hat, sind die obersten Gerichte zu-
Wochen vor übereilter Verabschiedung des gesamten Ge- ständig. Und deshalb ist die Ratio, die das Bundesverwal-
setzes gewarnt und auf die Entscheidung des Bundesver- tungsgericht aus dem Gesetz gelesen hat, nicht zu kriti-
fassungsgerichts hinwiesen hat, wird seine eigenen Be- sieren. Der Hauptgrund ist, dass der Bund in die nun
denken bestätigt sehen und Recht behalten, dass das von gegebene Entschädigungspflicht nicht eintreten will.
ihm selbst eingebrachte, nun von den Koalitionsfraktio-
nen durchgepeitschte Gesetz in vielen Punkten keinen Be-
Zu Art. 2: Begrüßen möchte ich ausdrücklich, dass die
stand haben wird.
Bundesregierung dem Antrag der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion nachgekommen ist und nun eine Entschädi-
Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Die Art und Weise gungspflicht nach dem Vermögensgesetz bei der Einzie-
des Gesetzgebungsverfahrens, welches die rot-grüne Bun- hung von beweglichen Sachen regelt. Aus diesem Grunde
desregierung pflegt, spiegelt sich auch in dem heute in haben wir auch in der Ausschussberatung dem Art. 2 zu-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11047

(A) gestimmt. Das führte jedoch nicht dazu, dass wir dem ge- Sylvia Voß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kernstück (C)
samten Gesetz zustimmen können. des Vermögensrechtsergänzungsgesetzes ist das Aus-
gleichsleistungsgesetz. Mit seiner Änderung werden
Die weiteren Regelungsgegenstände, Art. 1, 3 und 4, wettbewerbsrechtliche Beanstandungen der EU-Kom-
sind schwerwiegender, denn diese verletzen die Interes- mission an der früheren Verkaufspraxis der Treuhand-
sen der Bürger und ganz besonders die der Landwirtschaft nachfolgerin BVVG geheilt.
in den neuen Bundesländern.
Bei der Erarbeitung dieses Änderungsgesetzes blieb
Zu Art. 3 und 4: In der Anhörung vom 19. Januar die- zunächst die Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
sen Jahres wurden sehr kritisch die jetzt vorgeschlagenen nen und der Naturschutzverbände außen vor, die Natur-
Regelungen für das Entschädigungs- und Ausgleichsleis- schutzflächen der neuen Bundesländer von der Privatisie-
tungsgesetz und der Flächenerwerbsverordnung bewertet. rung auszunehmen.
Die EU-Kommission hat mit ihrer Entscheidung vom
Kurz vor der Wiedervereinigung wurden, sozusagen in
20. Januar 1999 Beihilfetatbestände im bisherigen EALG
letzter Sekunde und auf Initiative einer Gruppe um Pro-
kritisiert, aber nur dort, wo keine Wiedergutmachungs- fessor Michael Succow, dem heutigen Träger des alterna-
pflicht besteht. Dies trifft also nicht die so genannten Alt- tiven Nobelpreises, wertvolle Naturräume der DDR
eigentümer und trifft auch nicht die so genannten „Wie- rechtswirksam unter Schutz gestellt: fünf Nationalparke,
dereinrichter ohne Restitutionsanspruch“. Im Zuge einer sechs Biosphärenreservate und 15 Naturparke „neuer Prä-
scheinbaren Gleichbehandlung verlangt nun die Bundes- gung“. Eine – wie sich angesichts des Zustandes von Na-
regierung beim Kauf von landwirtschaftlichen Flächen tur und Landschaft in Deutschland zeigt – wertvolle Gabe
nach dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsge- der Ostdeutschen, die Professor Töpfer völlig zu Recht als
setz den Verkehrswert abzüglich einer 35-prozentigen „Tafelsilber der deutschen Einheit“ bezeichnete.
Verbilligung.
Es war der größte Erfolg des Naturschutzes in
Sie hat dabei vollkommen ignoriert, dass es für Altei- Deutschland in diesem Jahrhundert. Jeder, der diese Ge-
gentümer und für so genannte „Wiedereinrichter ohne Re- biete auch nur ein einziges Mal wirklich erleben konnte,
stitutionsanspruch“ bei der bestehenden Regelung bleiben schwärmte von der Schönheit dieser Natur, vom Arten-
könnte, und hat außerdem ignoriert, dass mit der Agenda reichtum und von im Westen längst verloren gegangenen
2000 auch die Rahmenregeln für die Förderbedingungen Kostbarkeiten.
in der Europäischen Union geändert worden sind. Jetzt Welche Bedeutung die Sicherung dieser ökologisch
gelten die Fördersätze 40 Prozent und in benachteiligten kostbaren Flächen des Ostens hat, mögen Ihnen auch ei-
Gebieten 50 Prozent – bisher 35 Prozent und in benach- nige wenige Zahlen zeigen: In den letzten 25 Jahren
(B) teiligten Gebieten 75 Prozent. Also selbst die Beihilfe wurde im alten Bundesgebiet Natur in der dreifachen (D)
rechtlich kritischer Fälle könnte eine Kaufpreisverbilli- Fläche des Saarlandes zerstört. 40 Prozent der in Deutsch-
gung von 40 bis 50 Prozent erhalten. land heimischen Pflanzen sind ausgestorben, verschollen
Da Familienbetriebe in den neuen Ländern eine Eigen- oder gefährdet. Die Situation ist bei einigen Tiergruppen
noch dramatischer. Die Bilanzierung der Gefährdungssi-
tumsquote von nur circa 15 Prozent haben, wäre es gut,
tuation von Biotopen ergibt, dass in Deutschland über
wenn diese Bundesregierung sich darum kümmern wür- zwei Drittel, 69 Prozent, aller vorkommenden Biotopty-
de, wenn sie Voraussetzungen schaffen würde, dass die pen als gefährdet eingestuft sind.
Landwirtschaft in den neuen Bundesländern mehr Eigen-
tum bekommt. Wer dies alles wirklich verinnerlicht, kann verstehen,
warum unsere Fraktion und die Naturschutzverbände mit
Sie nutzen die Möglichkeiten, die die EU-Kommission so großer Leidenschaft und so großem Engagement da-
zulässt, nicht aus, sondern ich muss unterstellen, dass sie rum gekämpft haben, diese arten- und biotopreichen Ge-
nur deshalb einen Verbilligungssatz von 35 Prozent ak- biete langfristig zu sichern und sie damit für uns und für
zeptieren, weil sie damit einen hohen Preis für landwirt- nachkommende Generationen als Lebensgrundlagen zu
schaftliche Nutzflächen verlangen können. Sie wollen, erhalten. Das war durchaus nicht einfach. Denn in für uns
dass die Landwirtschaft aus den neuen Bundesländern zu- völlig unverständlicher Weise gab die alte Bundesregie-
sätzlich Geld an die Bundeskasse abgibt. Das können wir rung diese Flächen zur Privatisierung frei und konterka-
nicht mit tragen. rierte damit ihre in Sonntagsreden geäußerte Wertschät-
zung des „Tafelsilbers“.
Das Verfahren im Ausschuss selbst und speziell die erst
am Dienstag vorliegende Einigung der Bundesregierung Dabei geht es uns nicht darum, die Privatisierung von
zum Thema „100 000 ha für den Naturschutz“ ließen Naturschutzflächen per se zu verteufeln. Es gibt viele po-
keine qualifizierte Beratung im Ausschuss zu. Das ist ein sitive Beispiele auf der Welt und auch in unserem Land für
unmöglicher Vorgang, passt aber zu dem, was SPD und sehr engagierten privaten Schutz kostbarer Areale – wozu
Grüne von Parlamentarismus halten. ich letztlich natürlich auch den Erwerb durch Natur-
schutzverbände zähle. Leider kommt es jedoch immer
Aus diesem Grunde haben wir uns als CDU/CSU-Bun- wieder dort zu Konflikten, und zwar dort, wo der Erwerb
destagsfraktion im federführenden Ausschuss nicht wei- von Naturschutzflächen mit Nutzungsinteressen zusam-
ter dazu geäußert. Im Parlament wäre zumindest ein Ge- menfällt. Es gibt erschreckende Beispiele dafür, wie Na-
spräch mit Experten aus den Ländern und Sachverständi- turschutzauflagen in zum Teil dreister Weise verletzt wer-
gen nötig gewesen. den. Das Ordnungsrecht kann hier nur wenig helfen –
11048 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

(A) schließlich können wir nicht hinter jeden Baum eine Ord- lingt, ihn wenigstens in zwei wesentlichen Punkten zu än- (C)
nungskraft stellen. Deshalb war und ist es unser Ziel, die dern, auf die sich der Änderungsantrag meiner Fraktion
ökologisch wertvollsten Flächen in Hände zu geben, die bezieht.
sich mit Leidenschaft und hoher Kompetenz der Siche-
Erstens. Die Ersatzgrundstücksregelung des § 9 Ver-
rung der Naturschutzflächen verpflichtet wissen. mögensgesetz darf nicht gestrichen werden. Es muss da-
Da die Privatisierung trotz wohlfeiler Worte selbst des bei bleiben, dass derjenige, dessen Grundstück nicht
damaligen Kanzlers, Helmut Kohl, weitergeführt wurde, zurückgegeben werden kann, weil es inzwischen einem
war es einer der ersten Amtshandlungen der neuen Bun- gutgläubigen Erwerber oder dessen Rechtsnachfolger
desregierung unter Gerhard Schröder, einen Privatisie- gehört, einen Rechtsanspruch gegen die Gemeinde auf ein
rungsstopp zu erlassen, um in Ruhe über vernünftige Lö- Ersatzgrundstück hat.
sungen des Problems verhandeln zu können und zu retten,
Das Recht auf ein Ersatzgrundstück ist bereits in der
was noch zu retten war.
„Gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni 1990 zur Rege-
Wir haben durch hartnäckiges Verhandeln, besonders lung offener Vermögensfragen“ enthalten. Es wurde mit
vonseiten des Umweltministeriums und der Koalitions- Artikel 41 im Einigungsvertrag Gesetz und Vermögens-
fraktionen und mit großer Unterstützung der Natur- gesetz wiederholt und höchstrichterlich als Rechtsan-
schutzverbände erreicht, dass große Teile des „Tafel- spruch bestätigt.
silbers der deutschen Einheit“ gesetzlich abgesichert
Nun will die Koalition dieses Recht entschädigungslos
werden. Die betroffenen Bundesländer waren in diese
streichen und weicht damit für alle sichtbar und zum ers-
Verhandlungen involviert. Von ihnen wurden jene
ten Mal ab vom Einigungsvertrag und der Gemeinsamen
Flächen vorgeschlagen, welche unter naturschutzfachli-
Erklärung. Wenn es so leicht ist, sich über den Einigungs-
chen Kriterien unbedingt in ihrer ökologischen Qualität
vertrag und die Gemeinsame Erklärung hinwegzusetzen,
zu sichern sind.
dann kann ich diejenigen verstehen, die sich auch hin-
Dabei stand die konkrete Festlegung der Flächenku- sichtlich des so genannten Restitutionsverbotes für Bo-
lisse immer unter dem Druck, die EU-rechtliche Auflage denreformflächen nicht an den Einigungsvertrag und die
zu erfüllen, dass für den neuen Erwerberkreis genügend Vereinbarungen von damals gebunden sehen.
Flächen in verschiedenen Losgrößen zur Verfügung ge-
Zweitens. Mit dem zweiten Teil unseres Änderungsan-
stellt werden. Vor diesem Hintergrund wurde in einem für
trages wollen wir dafür sorgen, dass die Entscheidung der
uns – ich verhehle es nicht – durchaus schmerzlichen
Europäischen Kommission vom Dezember 1998 endlich
Kompromiss die jetzige Lösung erzielt: Statt der erfor-
richtig umgesetzt wird. Dort wurde entschieden, dass aus
derlichen 173 000 Hektar können nur 100 000 der Priva-
beihilferechtlichen Gründen die Preise für Bodenreform-
tisierung entzogen werden, wovon die Hälfte kostenlos an
(B) die Länder oder gegebenenfalls an Naturschutzverbände flächen, die der Bund nach dem Entschädigungs- und (D)
Ausgleichsleistungsgesetz an Wiedereinrichter abzuge-
übertragen werden.
ben hat, erhöht werden müssen. Diese Forderung bezieht
Dabei handelt es sich keinesfalls, wie gerne unbedacht sich ausdrücklich nicht auf die so genannten Alteigentü-
der Vorwurf erhoben wird, um ein Geschenk der Bundes- mer, für die der verbilligte Rücklauf Teil des Ausgleichs
regierung oder gar von Minister Trittin. Die Bundesländer für entschädigungslose Enteignungen ist. Sie dürfen nicht
und Verbände übernehmen eine große Verantwortung für in die Preiserhöhungen einbezogen werden. Es ist un-
unser nationales Naturerbe, wofür wir sehr dankbar sein glaublich, dass der Gesetzentwurf hier nicht differenziert.
sollten. Nicht zuletzt kommen auf sie auch finanzielle Be-
Wir können die Fehler des Gesetzes noch heilen. Stim-
lastungen für den Unterhalt der Flächen zu. Diese Seite
men Sie dem Antrag meiner Fraktion zu. Sie ersparen sich
wird gerne ausgeblendet.
ein Vermittlungsverfahren. Denn ich kann mir nicht vor-
Es wird jetzt darauf ankommen, den tatsächlichen Er- stellen, dass der Bundesrat, in dem die neuen Länder ihre
werb der zweiten 50 000 Hektar zu ermöglichen, die lei- Recht aus dem Einigungsvertrag zu wahren haben, einem
der nicht kostenlos abgegeben werden können. Wir ap- Gesetz zustimmt, das in eklatanter Weise das Grundgesetz
pellieren daher an Herrn Minister Eichel, die Durch- und den Einigungsvertrag verletzt und die Entscheidun-
führungsbestimmungen zu diesem Gesetz so gen der Europäischen Kommission fehlerhaft nachvoll-
auszugestalten, dass den Ländern und Verbänden ein rea- zieht.
listischer Zeitraum verbleibt, um die organisatorischen
Schließlich würde es auch guter parlamentarischer
und finanziellen Voraussetzungen für den Erwerb der
Sitte entsprechen, den Gesetzesbeschluss zurückzustel-
Flächen zu schaffen. Dass das kurzfristig nicht möglich
len, bis das Bundesverfassungsgericht über die fünf Ver-
ist, weiß niemand besser als der Bundesfinanzminister.
fassungsbeschwerden gegen das EALG entschieden hat,
Sorgen Sie, sehr geehrter Herr Minister Eichel, deshalb über die es im April dieses Jahres bereits mündlich ver-
bitte dafür, dass das heute zu beschließende Ergebnis, die handelt hat.
Sicherung von 100 000 Hektar wertvollster ökologischer
Flächen, tatsächlich realisiert wird. Das wäre nicht nur
redlich, es wäre auch ein großer Dienst für unsere und Kersten Naumann (PDS): Leif Miller, Leiter der
kommende Generationen. NABU-Bundesvertretung Berlin, schätzt die Konsequenz
des von der Bundesregierung vorgelegten Entwurfs des
Vermögensrechtsergänzungsgesetzes wie folgt ein: „Da-
Rainer Funke (F.D.P.): Der Gesetzentwurf der Bun- mit ist die Hälfte des nationalen Naturerbes in den neuen
desregierung muss abgelehnt werden, wenn es nicht ge- Bundesländern verloren.“
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11049

(A) Mit dem Gesetz sollen 50 000 Hektar ostdeutscher Na- Rolf Schwanitz (Staatsminister im Bundeskanzler- (C)
turschutzflächen kostenlos an die Länder oder an Natur- amt): Wir ergänzen heute einen zentralen Teil der Rege-
schutzverbände abgegeben werden. Die anderen 50 000 Hek- lungen, die sich mit den Folgen der Wiedervereinigung be-
tar werden ihnen mit Halbjahresfrist zum vollen Verkehrs- fassen: Der von Anfang an sehr problematische Bereich
wert angeboten. der offenen Vermögensfragen wirft weiterhin Fragen auf,
mit denen sich der uns heute zur Verabschiedung vorlie-
Doch weder die Bundesländer noch die Umweltver-
gende Gesetzentwurf befasst: mit der so genannten Er-
bände können innerhalb so kurzer Zeit das erforderliche
satzgrundstücksregelung, mit der Entschädigung für be-
Geld aufbringen. Oder hat die Bundesregierung vor, zins-
wegliche Sachen und mit der Privatisierung land- und
lose Kredite zur Verfügung zu stellen? Letztlich werden
forstwirtschaftlicher Flächen in den neuen Ländern.
damit diese 50 000 Hektar höchstwahrscheinlich privati-
siert. Diverse Detailregelungen behindern zusätzlich einen Hinter diesen bürokratisch klingenden Stichworten ver-
Erwerb im Sinne des Naturschutzes. bergen sich Fragen, die für die Betroffenen sehr wichtig,
zum Teil sogar existenziell wichtig sind.
So müssen beispielsweise vom Erwerber die Vermes-
sungs- und andere Verwaltungskosten der Übertragung ge- Nach der bisherigen Rechtslage besteht die Möglich-
tragen werden. Die von der BVVG festgelegten Verkaufs- keit, Alteigentümern, die wegen redlichen Erwerbs von
lose sind unteilbar, womit ein effizienter Flächenschutz er- der Restitution ausgeschlossen sind, statt in Geld durch
schwert und verteuert wird. Übereignung eines von den Kommunen zu stellenden Er-
satzgrundstücks zu entschädigen. Diese Regelung war in
Für die PDS ist klar: Naturschutzflächen dürfen nicht
der Praxis leergelaufen, weil die Gemeinden den Ämtern
privatisiert werden. Deshalb fordern wir mit unserem Ent-
zur Regelung offener Vermögensfragen für diesen Zweck
schließungsantrag, die Zulässigkeit des Verkaufs von
keine Grundstücke zur Verfügung stellten, unter anderem
Flächen in Schutzgebieten aufzuheben und eine kosten-
weil sie vom Entschädigungsfonds für die Bereitstellung
lose Übertragung dieser Flächen an Naturschutzverbände
nur die nach dem Entschädigungsgesetz vorgesehene Ent-
sowie Träger öffentlicher Verwaltungen zu ermöglichen.
schädigung erhielten.
Was in England und Holland hervorragend funktioniert,
sollte wohl auch für Deutschland möglich sein. Überraschend hat das BVerwG zunächst mit dem Urteil
vom 17. September 1998 den Kommunen den vollen Er-
Wenn sich schon wieder Graf Lambsdorff und Prinz zu
satz ihrer Aufwendungen, das heißt den Verkehrswert des
Salm zu Wort melden und unüberhörbar den Widerstand
der Alteigentümer anmelden, sollte das selbst die Bundes- Ersatzgrundstücks zugebilligt. Dies geht allerdings an der
regierung hellhörig machen. Trotz anders lautender Mel- Ratio des § 9 VermG vorbei. Von Anfang an war die Rege-
dungen aus Brüssel behaupten sie, dass durch die Heraus- lung nicht gedacht als Surrogat für die ausgeschlossene
(B) nahme von 100 000 Hektar Bodenreformfläche aus der Restitution, sondern bezog sich wertmäßig auf die Höhe (D)
Privatisierung die EU-Kommission ihre Zustimmung zum der Entschädigung. Die Rechtsauffassung des BVerwG
Gesetzentwurf rückgängig machen könnte. wirft neue Gleichbehandlungsprobleme auf und würde
zudem den Bund mit unüberblickbaren finanziellen Risi-
Wir sind der Auffassung, nicht mehr Alteigentümer ken in Milliardenhöhe belasten. Zudem würden die redli-
oder Neureiche sollen sich – wie mehrfach geschehen – chen Erwerber durch Wiederaufgreifen zahlreicher be-
mit dem Tafelsilber der deutschen Einheit schmücken kön- reits abgeschlossener Verfahren erneut verunsichert. Des-
nen, sondern diejenigen sollen es pflegen, für die nachhal- wegen haben die neuen Länder sich übereinstimmend
tiger Naturschutz Lebensmaxime ist. schon im Frühjahr 1999 für die Streichung ausgespro-
Da die Koalition den Antrag der PDS in den Ausschüs- chen.
sen abgelehnt hat, sollte sie wenigstens nach Lösungen su- Nach bisheriger Rechtslage erhält ein Alteigentümer
chen, um die Fristen für den Erwerb durch Naturschutz- den Veräußerungserlös, wenn die Restitution einer be-
verbände oder Länder deutlich zu verlängern. Wir wissen, weglichen Sache nicht mehr möglich ist. Ist kein Erlös
dass dies einige Umweltpolitiker der Grünen und SPD be- erzielt worden, bestand kein Entschädigungsanspruch.
antragen wollten, aber von den Finanzpolitikern der Ko- Demgegenüber hatte das BVerwG am 19. November 1998
alition daran gehindert wurden. Schon allein daran wird entschieden, dass auch für bewegliche Sachen eine Ent-
das Vorrangige deutlich: Es geht wieder einmal um das schädigung zu gewähren und dafür der Gesetzgeber eine
Füllen von Haushaltslöchern auf Kosten der Umwelt. Bemessungsgrundlage zu schaffen habe. Der im Entwurf
vorgesehene neue § 5 a EntschG trägt dieser Entscheidung
Abschließend möchte ich noch ausdrücklich unterstrei- in differenzierter Weise Rechnung. Ausgangspunkt ist im-
chen, dass wir den Einwand des Deutschen Bauernverban- mer der Wert der Sache zum Schädigungszeitpunkt in der
des nicht teilen, der behauptet, dass „Umweltverbände ... DDR. Durch Pauschalierungen wird der Verwaltungsvoll-
eine kostengünstige und dauerhafte Bewirtschaftung nicht zug vereinfacht. Erhöhte Nachweispflichten sollen einem
sicherstellen können“. Ist dem Bauernverband eventuell Missbrauch entgegenwirken. Die Regelung kommt vor
entgangen, dass auch Landwirte in Umweltverbänden ak- allem den Rehabilitierten zugute. Sie ist insgesamt einge-
tiv sind? bunden in das System der Wiedergutmachungsleistungen
Bei allen Entscheidungen sollte sich auch die Bundes- nach dem EALG. Sie ist bereits im Vorfeld mit den neuen
regierung von dem uralten indianischen Sprichwort leiten Ländern abgestimmt worden.
lassen: „Wir haben die Erde von unseren Eltern nicht ge- Änderungsbedarf bezüglich der Privatisierung land-
erbt, sondern wir haben sie von unseren Kindern nur ge- und forstwirtschaftlicher Flächen ergab sich durch eine
liehen.“ Entscheidung der Europäischen Kommission vom Januar
11050 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

(A) 1999. Die Kommission stellte darin fest: Die verbilligte 20 000 Hektar Forstflächen in bestimmten Schutzkatego- (C)
Abgabe von Grundstücken an bestimmte Bewerbergrup- rien sowie bis zu 10 000 Hektar kleine Forstflächen. Wei-
pen sei als Beihilfe anzusehen und mit dem Gemeinsamen tere bis zu 50 000 Hektar können wert- und annähernd
Markt unvereinbar, weil sie teilweise zu hoch ausgefallen flächengleich mit landeseigenen Wirtschaftsflächen ge-
sei. Außerdem schließe die für die Erwerbergruppe der tauscht werden; bei landwirtschaftlichen Flächen oder
Pächter aufgestellte Erwerbsvoraussetzung der Orts- kleinen Waldflächen ist auch ein Kauf zum Verkehrswert
ansässigkeit zum 3. Oktober 1990 andere EU-Bürger vom möglich.
Flächenerwerb aus. Sie sei deshalb diskriminierend.
Übrigens sprechen auch die kritischen Anmerkungen,
Die Bundesregierung war aufgefordert, die unzulässi- die während des Gesetzgebungsverfahrens von praktisch
gen Beihilfen künftig nicht mehr zu gewähren, die in der allen Interessengruppen gemacht wurden, dafür, dass ein
Vergangenheit zuviel gewährten Beihilfen zurückzufor- ausgewogener Kompromiss gefunden wurde: Wenn keine
dern und die Diskriminierung zu beseitigen. Seite völlig zufrieden mit dem Ergebnis ist, ist zumindest
niemand einseitig bevorzugt worden.
Der Gesetzentwurf sieht daher neben der Rückforde-
rung der zuviel gewährten Beihilfen vor, den vergünstig- Man darf deshalb zu Recht hoffen, dass mit dem Ge-
ten Kaufpreis einheitlich für alle Bewerbergruppen auf setzentwurf ein Schlussstrich unter ein wichtiges Kapitel
ein EU-konformes Niveau anzuheben. Die kritisierte Er- der deutschen Wiedervereinigungsgeschichte gezogen
werbsvoraussetzung der Ortsansässigkeit am 3. Oktober wird.
1990 wird gestrichen.
Besonders schwierig gestaltete sich die Ausräumung
des Vorwurfs der Diskriminierung bei bereits abgeschlos- Anlage 8
senen Kaufverträgen. Es ging darum, die Diskriminierung
zu beseitigen, ohne alle betroffenen Verträge rückgängig Zu Protokoll gegebene Rede
zu machen. Gemeinsam mit der Europäischen Kommis- zu den Anträgen:
sion wurde ein Weg gefunden: Es reicht aus, wenn genü-
gend Flächen nachgewiesen werden können, die bisher – Charta der Grundrechte der Europäischen
nicht berücksichtigten, nicht ortsansässigen Bewerbern Union
angeboten werden können. – Die Rechte der Bürger stärken – für eine
Bei der Verteilung der vorhandenen Flächen auf die bürgernahe Charta der Grundrechte der
verschiedenen Interessenentengruppen waren deren wi- Europäischen Union
derstrebende Interessen zu berücksichtigen und zum Aus- – Verbindlichkeit der Europäischen Grund-
gleich zu bringen. Betroffen sind hier vor allem – die Rei- rechtecharta und Beitritt der Europäischen
(B) henfolge stellt keine Wertung dar – Alteigentümer und (D)
Union zur europäischen Menschenrechts-
Pächter, bei den Pächtern solche, die bereits in der DDR konvention
auf diesen Flächen Landwirtschaft betrieben haben, ohne
Eigentum erwerben zu können, aber auch solche, die neu – Für eine rechtsverbindliche Europäische
landwirtschaftliche Betriebe gegründet haben. Grundrechtecharta

Hinzu kamen noch die Interessen des Umweltschutzes: (Tagesordnungspunkt 25)


Viele Flächen in den neuen Ländern sind unter Umwelt-
schutzgesichtspunkten in besonderem Maße wertvoll und Dr. Klaus Grehn (PDS): Es liegen dem Hohen Hause
schutzwürdig. Sowohl die Koalitionsvereinbarung als vier Anträge vor, mit denen die Fraktionen des Deutschen
auch der Bundesrat in der Stellungnahme im ersten Bundestages Einfluss nehmen wollen auf die Ausarbei-
Durchgang und Sachverständige in der Anhörung vom tung einer Charta der Grundrechte, die in der Europä-
19. Januar 2000 problematisieren die Behandlung von ischen Union gelten sollen. Unser Land hat Verdienste um
Naturschutzflächen im Zuge der Privatisierung. ein solches Vorhaben, denn vom EU-Gipfel in Köln Ende
Bei der zu findenden Regelung galt es also, einerseits vergangenen Jahres erging die Aufforderung zur Ausar-
ausreichend Flächen für den Naturschutz bereitzustellen, beitung eines solchen Regelwerkes an den später berufe-
andererseits aber bestehende Erwerbspositionen nicht un- nen Konvent unter der Leitung von Roman Herzog. Wir
zulässig zu beeinträchtigen und der Kommission zudem möchten von dieser Stelle aus dem Alt-Bundespräsiden-
genügend Flächen nachweisen zu können, die bisher nicht ten danken für seine bisherige Arbeit, für die umsichtige
berücksichtigten Bewerbern zur Verfügung stehen. Ein und kompetente Leitung des Konvents bei den Beratun-
besonderes Anliegen des Finanzministers war es noch, gen, öffentlichen Anhörungen und Fachdiskussionen.
dass die Regelung verkraftbar für die öffentlichen Haus- Wir verkennen nicht die Schwierigkeiten bei dem Ver-
halte sein muss. such, überall in der Europäischen Union und für jeder-
Der nunmehr gefundene Kompromiss erfüllt diese Be- mann gleichermaßen geltende Grundrechte festzuschrei-
dingungen; er wird insbesondere den Vorgaben gerecht, ben. Dennoch lassen die Anträge aller Fraktionen ein ho-
welche die Europäische Kommission an eine Ausräu- hes Maß an Übereinstimmung in den Standpunkten
mung der Diskriminierung gestellt hat: Für den Natur- erkennen, sieht man einmal davon ab, dass der Antrag der
schutz werden bis zu 100 000 Hektar zur Verfügung ge- CDU/CSU allzu bescheiden ist und sich gerade der Aner-
stellt. Bis zu 50 000 Hektar erhalten Länder bzw. Natur- kennung gleicher sozialer Grundrechte in der Union ver-
schutzverbände oder -stiftungen unentgeltlich; im weigert. Unter anderem wegen dieses entscheidenden Un-
Einzelnen sind das 20 000 Hektar Totalreservate, bis zu terschiedes werden wir diesem Antrag nicht zustimmen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11051

(A) Wir verweisen darauf, dass es jenseits aller juristischen setzung des Sozialstaatsprinzips soziale Grundrechte in (C)
Spitzfindigkeiten auf den politischen Gestaltungswillen der Charta verankert werden und ein politischer Wille der
der Bundesrepublik Deutschland und all der anderen Mit- europäischen Regierungen sichtbar wird, der die Grund-
gliedsländer und ihrer Regierungen ankommt. Es ist lagen schafft, diese Rechte auch durchzusetzen. Wir hof-
falsch, dass Gesetze und bisherige Praxis den Rahmen fen, dass auch mit der zu vermutenden Annahme des An-
vorgeben, in dem etwas Neues sich vollziehen darf. Ge- trages der regierenden Koalition der gegenwärtig zu
setze können verändert, neue können beschlossen wer- verzeichnende Trend zur Ausblendung aller wirklichen
den, wenn sie das als richtig und notwendig Erkannte ver- Fortschritte für die Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich
hindern. Das ist die alltägliche Praxis in der parlamenta- ihrer politischen und sozialen Rechte gestoppt wird. Die
rischen Demokratie und unser täglich Brot. Und es besteht Bundesregierung muss ihr durch den Deutschen Bundes-
dringender Handlungsbedarf, die durch die Wirtschafts- tag verliehenes Mandat tatsächlich anwenden, um ihren
und Währungsunion geschaffene Einheit durch einklag- Einfluss und ihr Gewicht einzusetzen, die groß und hoff-
bare Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu ergänzen. nungsvoll angekündigte Charta der Grundrechte in ihrer
Denn die Europäische Union muss für ihre Bürgerinnen Substanz auch gegen den Widerstand anderer Staaten der
und Bürger erkennbar werden – damit kann Misstrauen EU zu retten. Diese Charta darf nicht zu einem bedeu-
und Desinteresse abgebaut werden, das nicht zuletzt tungslosen Anhang, zu einer weiteren bloßen Willenser-
durch die Art und Weise sowie den Inhalt von Entschei- klärung verkommen. Sie muss Bestandteil des Vertrages
dungen zur Wirtschafts- und Währungsunion gewachsen von Amsterdam werden und einklagbare politische und
ist, die über die Köpfe der Menschen hinweg getroffen soziale Grundrechte auf der europäischen Ebene schaffen.
wurden. Sie müssen nun ihre Rechte verständlich, schrift-
lich fixiert und konkret einklagbar gegenüber EU-Institu-
tionen in einem Grundrechtekatalog wiederfinden. Denn Anlage 9
schon jetzt greifen Entscheidungen der EU stärker in das
Alltagsleben ein, als mancher wahrhaben will. Die Bürger Zu Protokoll gegebene Reden
Europas wollen keine EU mit einem „Krieg der Stand-
zur Beratung des Entwurfs eines Fünften Geset-
orte“, gnadenloser Konkurrenz zwischen Arbeitnehme-
zes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes (Ta-
rinnen und Arbeitnehmern und europaweitem Sozialab-
gesordnungspunkt 26)
bau. Soziale Grundrechte und ihre Fixierung entlang der
am deutlichsten im PDS-Antrag vorgegebenen Linien
sind unverzichtbar. Das Recht auf eine menschenwürdige Joachim Stünker (SPD): Mit dem vorliegenden Ge-
und einkommenssichernde Erwerbsarbeit, eine soziale setzentwurf unterbreiten die Koalitionsfraktionen einen
Grundsicherung – solange für die Menschen massenhaft Vorschlag zur Neugestaltung der Gefangenenentlohnung
(B) keine Arbeitsplätze zur Verfügung stehen – ohne Er- im Strafvollzugsgesetz. Diese Neuregelung ist dringend (D)
werbsarbeitszwang im Niedriglohnbereich, das Recht auf erforderlich. In seinem Urteil vom 1. Juli 1998 hat das
umfassende Gesundheitsvorsorge und der kostenlose Zu- Bundesverfassungsgericht die bisherige Entlohnungspra-
gang zu Bildung sind notwendig, um aus dem Europa des xis für verfassungswidrig erklärt, da sie keine angemes-
freien Waren- und Kapitalverkehrs ein soziales Europa zu sene Anerkennung für zugewiesene Arbeit im Strafvoll-
schaffen. Dazu haben sich im Übrigen alle Fraktionen die- zug gewährleistet. Die weitere Anwendung der geltenden
ses Hauses bekannt. Warum wehrt man sich bei der Regelung ist daher in dem Urteil bis längstens 31. De-
CDU/CSU und F.D.P. gegen die Aufnahme des Rechtes zember 2000 beschränkt worden. Sollte bis dahin keine
auf Arbeit in die Charta, obwohl es doch selbst in der Neuregelung in Kraft getreten sein, entscheiden künftig
bayerischen Landesverfassung verankert ist? Nebenbei die zuständigen Gerichte über die Bemessung des Ar-
bemerkt: Bereits 1905 stellte der politisch unverdächtige beitsentgelts.
Schweizer Moralist Hilthy fest, dass das Recht auf Arbeit
Das Verfassungsgericht hat in seiner Entscheidung be-
das ursprünglichste aller Menschenrechte ist.
tont, dass unser Grundgesetz den Gesetzgeber zur Ent-
Ein Europa ohne Sozialunion geht an den Bürgern vor- wicklung und Umsetzung eines wirksamen Konzeptes der
bei. Sie alle kennen den in Umfragen überdeutlich sicht- Resozialisierung im Strafvollzug verpflichtet. Für die
baren Trend zunehmender Skepsis gegenüber der EU an- Ausgestaltung der Gefangenentlohnung bedeutet dies –
gesichts der Gefahren von Sozialdumping, zunehmender ich zitiere –: „Arbeit im Strafvollzug, die dem Gefange-
Armut und hoher Arbeitslosigkeit. Obwohl soziale Grund- nen als Pflichtarbeit zugewiesen ist, ist nur dann ein wirk-
rechte zweifelsfrei ein Standortvorteil für Europa sind, sames Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit
wenden manche sich gegen soziale Grundrechte, weil sie angemessene Anerkennung findet. Diese ... Anerkennung
nicht bezahlbar wären und als rein ideelle Zielbestim- muss geeignet sein, dem Gefangenen den Wert regel-
mung von Staaten im Grunde ausreichend berücksichtigt mäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortliches
wären. Gleichzeitig aber erleben wir, dass die Schere zwi- und straffreies Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren
schen Arm und Reich immer weiter aufgeht und sich re- Vorteils vor Augen zu führen.“
gionale Ungleichgewichte trotz aller Förderprogramme
Dieses Resozialisierungsgebot, das ja in unserer heuti-
ausweiten. Dieser Entwicklung müssen wir entgegensteu-
gen Gesellschaft leider immer weniger auf Zustimmung
ern. Für allzu viele nämlich bedeutet das, dass sie durch
zu stoßen scheint, ist eben nicht sozialromantische Spin-
ihr Leben am oder unter dem Existenzminimum ihre
nerei, sondern folgt unmittelbar aus Art. 2 Abs. 1 in Ver-
Grund- und Freiheitsrechte praktisch verlieren.
bindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG und hat
Der Antrag der PDS sieht deshalb vor, dass in Durch- damit Verfassungsrang.
11052 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

(A) Sie alle wissen, die Ausgestaltung des Strafvollzugs Im Einzelnen: Der Gesetzentwurf sieht vor, die Höhe (C)
und die Situation von Gefangenen ist in unserer Medien- der Eckvergütung von 5 Prozent auf 15 Prozent der Be-
gesellschaft ein schwieriges Thema. Oft wird verkürzt zugsgröße zu erhöhen. In der Praxis bedeutet dies für voll-
und unsachlich berichtet oder Stimmungsmache betrie- beschäftigte Gefangene eine deutliche Erhöhung von der-
ben. Ich möchte daher an dieser Stelle betonen, wie froh zeit circa 215 DM monatlich auf circa 660 DM monatlich.
ich darüber bin, dass das Bundesverfassungsgericht im- Damit wird dem Petitum nach einer angemessenen Ent-
mer wieder – auch gegen den Zeittrend – die Wertent- lohnung Genüge getan.
scheidungen unserer Verfassung unterstreicht und für ihre Der Vorschlag einiger Länder, die Eckvergütung nur
Gewährleistung gerade auch im Interesse der Schwachen auf 7 Prozent der Bezugsgröße zu erhöhen, ist zwar aus
Sorge trägt. Sicht der Finanzsituation der Länder verständlich, verfas-
Ich bin der festen Überzeugung, ohne besagte Ent- sungsrechtlich aber problematisch. Er wird im Übrigen
scheidung des Bundesverfassungsgerichts würden wir auch von Justizvollzugspraktikern, wie der Beitrag von
Thomas Ullenbruch in der ZRP vom Mai dieses Jahres
hier heute in diesem Hohen Hause nicht über das Reso-
zeigt, nicht unterstützt.
zialisierungsgebot und einen Gesetzentwurf zur Erhö-
hung der Gefangenenentlohnung diskutieren. Wichtig ist aber nicht nur die absolute Höhe der künf-
tigen Gefangenenentlohnung. Viel entscheidender ist aus
Die Befürchtung, dass dieses Thema von interessierter meiner Sicht die Möglichkeit der Verwendung, die wir
Seite für Desinformationszwecke missbraucht wird, ist den Gefangenen einräumen. Hier setzt der Gesetzentwurf
leider traurige Realität. So bin ich nach einem Bericht der besondere Maßstäbe. Die Erhöhung der Entlohnung soll
„Bild“-Zeitung aus meinem Wahlkreis mit der Frage kon- insbesondere drei Zwecken dienen: erstens der Wieder-
frontiert worden, ob es richtig sei, dass die Bundesregie- gutmachung gegenüber den Opfern der Straftaten; zwei-
rung eine Erhöhung der Bezüge von Strafgefangenen um tens dem Abbau der oft erheblichen Schuldenlast der
40 Prozent plane, wohingegen Tariferhöhungen in ande- Gefangenen während ihrer Inhaftierung; drittens der
ren Bereichen doch nur zwischen 1,5 und 5 Prozent lägen. Möglichkeit zur Ansparung eines deutlich höheren Über-
Einem solchen Umgang mit dem sensiblen Thema sollten brückungsgeldes.
wir im Interesse unserer Verfassungsgüter alle gemeinsam
Dieses wird dadurch sichergestellt, dass den Gefange-
entgegentreten.
nen künftig statt eines Anteils von bisher zwei Dritteln nur
Fakt ist doch, dass die bei In-Kraft-Treten des Straf- noch ein Viertel ihrer monatlichen Bezüge im Strafvoll-
vollzugsgesetzes kontinuierlich vorgesehene Steigerung zug als Hausgeld für Einkaufszwecke zur Verfügung
der Gefangenenentlohnung vonseiten des Gesetzgebers steht. Nominal bedeutet dies aufgrund der Erhöhung der
eben nicht in die Wege geleitet worden ist. Die in § 200 Eckvergütung bei vollbeschäftigten Gefangenen immer
(B) StVollzG festgeschriebene Höhe der Eckvergütung be- noch eine Anhebung um circa 22 DM. Der überwiegende (D)
trägt seit 1976 kontinuierlich 5 Prozent der Bezugsgröße Teil der Erhöhung von über 420 DM steht aber durch
des Durchschnittseinkommens aller in der gesetzlichen diese Ausgestaltung nicht für den Einkauf zur Verfügung,
Rentenversicherung Versicherten. De facto bedeutet das sondern kann für die oben genannten Zwecke eingesetzt
eine Entlohnung von 10 DM für einen sechsstündigen Ar- werden.
beitseinsatz. Der Feststellung des Bundesverfassungsge- Der Entwurf setzt dadurch auch inhaltliche Maßstäbe,
richts, dass Pflichtarbeit mit solcher Entlohnung kein ge- indem wir im Einklang mit unseren rechtspolitischen Be-
eignetes Resozialisierungsmittel darstelle, da es an einer strebungen im Bereich des materiellen Strafrechts und des
angemessenen Anerkennung fehle, die den Gefangenen Strafprozessrechts eine Verbesserung der Stellung von
den Wert regelmäßiger Arbeit in Gestalt eines für ihn Verbrechensopfern ermöglichen, wie sie von Kriminolo-
greifbaren Vorteils vor Augen führe, kann man sich kaum gen und Strafrechtswissenschaftlern seit mehr als 20 Jah-
entziehen. ren mit Nachdruck gefordert wird. So kann künftig aus
den erhöhten Gefangenenbezügen vom Täter verstärkt
Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Wiedergutmachung für die Opfer seiner Straftaten geleis-
im Jahr 1998 hat es zwischen Bund und Ländern diverse tet werden. Dadurch kann der Gefangene stärker als bis-
Versuche gegeben, sich gemeinsam auf eine Neuregelung her angehalten werden, sich im Strafvollzug mit den Fol-
zu verständigen. Dieses ist jedoch letztendlich im Span- gen seiner Tat sowie dem Opfer und dem diesen entstan-
nungsfeld zwischen einer den verfassungsrechtlichen An- denen Schaden auseinander zusetzen.
forderungen genügenden Ausgestaltung des Strafvollzugs
Weiterhin verstärken wir das Resozialisierungselement
und den sich daraus ergebenden erheblichen finanziellen
im Strafvollzug: Heute sind nach Angaben der Bundesar-
Folgen für die Bundesländer gescheitert. beitsgemeinschaft Straffälligenhilfe etwa drei Viertel aller
Ich denke, in diesem Hohen Hause stimmen wir alle Gefangenen erheblich verschuldet. Es ist unbestritten,
darin überein: Es ist unsere Aufgabe als Gesetzgeber, dass die Bewältigung dieser Schuldenlast während und
dafür Sorge zu tragen, dass vor Ablauf der Übergangsfrist nach der Haft eine wesentliche Rolle bei der Wiederein-
Ende des Jahres eine Neuregelung zustande kommt. Wir gliederung von Gefangenen spielt. Durch die Neurege-
dürfen nicht sehenden Auges eine Rechtszersplitterung lung verbessern wir die Möglichkeit zum Schuldenabbau
hinnehmen, wie sie bei Vergütungsentscheidungen im Er- und steigern damit auch die Resozialisierungschancen der
messen der einzelnen Gerichte droht. Mit unserem heuti- Betroffenen.
gen Gesetzentwurf legen wir deshalb einen Vorschlag zur Entsprechende Bedeutung kommt auch der verbesser-
Ausgestaltung der Gefangenenentlohnung vor. ten Möglichkeit zur Ansparung des Überbrückungsgel-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11053

(A) des zu. Viele Gefangene benötigen unmittelbar nach der tatsächlichen Wert der von den Gefangenen geleisteten (C)
Entlassung, noch bevor staatliche Mittel verfügbar sind, Arbeit entsprechen muss, sondern in verfassungsrechtlich
größere Geldbeträge, insbesondere zur Wohnungs- und unbedenklicher Weise auch unterhalb dieses Wertes lie-
Arbeitssuche. Die Verfügbarkeit entsprechend hoher gen kann.
Überbrückungsgeldbeträge stärkt die Wiedereingliede-
Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht ausgespro-
rung und trägt auch dem Gedanken, finanzielle Vorsorge
chen, dass die Anerkennung der geleisteten Arbeit nicht
für sich und unterhaltsberechtigte Angehörige zu treffen,
notwendig finanzieller Art sein muss. Anerkennung sei
Rechnung.
nicht nur ein monetäres Konzept; vielmehr sei die mo-
Der Gesetzentwurf stellt auch sicher, dass die Vergü- derne Gesellschaft geradezu darauf angewiesen, dass frei-
tungserhöhung Gefangenen, die an Maßnahmen der willig geleistete oder auch zugewiesene Arbeit andere als
Schul- und Berufsbildung teilnehmen, zugute kommt. finanzielle Formen der Anerkennung erfahre.
Damit stärken wir den Anreiz zur Teilnahme an Bildungs-
Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes
und Qualifizierungsmaßnahmen – auch das ein Beitrag
besteht grundsätzlich eine Vielzahl verschiedener Mög-
zur Stärkung des Resozialisierungsgedankens im Straf-
lichkeiten, um Gefangenen, denen eine Arbeit oder eine
vollzug.
sonstige Beschäftigung zugewiesen oder zugeteilt worden
Fazit: Mit unserem Gesetzentwurf legen wir dem Bun- ist oder die zu einer Hilfstätigkeit verpflichtet worden
destag ein gelungenes Konzept zur verfassungsgerichtlich sind, eine angemessene Anerkennung ihrer regelmäßigen
geforderten Umgestaltung der Gefangenenentlohnung Arbeit zu gewähren, nämlich monetäre Konzepte, nicht
vor, das die Resozialisierung im Strafvollzug nachhaltig monetäre Konzepte oder Kombinationsmöglichkeiten aus
unterstützen wird. Ich hoffe, der Entwurf findet breite Zu- beiden.
stimmung in diesem Hohen Haus.
Soweit die Ausgangslage aufgrund der Karlsruher Vor-
gabe.
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Wir beschäftigen
uns heute mit dem Gesetzentwurf der Regierungskoali- Der heute zu beratende Gesetzentwurf der Regierungs-
tion zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes, bei dem es koalition geht über diese Vorgaben des Bundesverfas-
um die Neuregelung der Gefangenenentlohnung geht. sungsgerichts weit hinaus – und ist dennoch kein großer
Wurf. Das Bundesjustizministerium hätte sich besser ori-
Es besteht zwingender Handlungsbedarf, weil die der- entieren sollen an dem ohne Gegenstimmen beschlosse-
zeitige Regelung der Gefangenenentlohnung nach dem nen Vorschlag der Herbstkonferenz der Justizministerin-
Urteil des Bundesverfassungsgerichtes mit dem Resozia- nen und Justizminister der Länder. Stattdessen will Frau
lisierungsgebot unvereinbar ist. Die Regierungskoalition Däubler-Gmelin die Gefangenenentlohnung um ganze
(B) hat sich Zeit gelassen mit der Erarbeitung und Einbrin- 200 Prozent erhöhen. So sieht der Entwurf unter anderem (D)
gung des Gesetzentwurfes und es gerade noch geschafft, vor, das Arbeitsentgelt von 5 Prozent der Eckvergütung
die erste Lesung zum letztmöglichen Zeitpunkt vor der auf 15 Prozent zu verdreifachen.
parlamentarischen Sommerpause auf die Tagesordnung
zu setzen. Die vom Bundesverfassungsgericht gesetzte Eine solche Regelung würde nicht nur die Länder-
Frist für eine verfassungskonforme Neuregelung läuft be- haushalte in kaum zu vertretender Weise belasten, son-
kanntlich am 31. Dezember dieses Jahres aus. dern auch in erheblichem Maße zum Abbau von Arbeits-
plätzen führen. Allein den bayerischen Staatshaushalt
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil die beispielsweise würde die Verdreifachung der Gefangene-
Höhe des Arbeitsentgelts als einen Faktor angesehen, von nentlohnung mit Mehrkosten in Höhe von etwa 33,4 Mil-
dem abhängt, ob die nach Art. 12 Abs. 3 GG zulässige lionen DM belasten.
Pflichtarbeit und die Arbeitszuweisung im Strafvollzug
als Mittel der verfassungsrechtlich gebotenen Resoziali- Die Bundesjustizministerin will also die Länder zwin-
sierung geeignet sind. Arbeit im Strafvollzug, die den Ge- gen, den Gefangenen weit mehr als das von Verfassungs
fangenen als Pflichtarbeit zugewiesen wird, sei nur dann wegen Gebotene zu bezahlen. Dies ist nicht nur eine ab-
ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn die geleis- solut unnötige Mehrbelastung der Länderhaushalte, son-
tete Arbeit eine angemessene Anerkennung finde. Den dern gleichzeitig eine Maßnahme, die sich de facto mit-
Gefangenen müsste in einem Mindestmaß bewusst ge- telfristig nachteilig auf die Arbeitsplatzsituation in den
macht werden können, dass Erwerbsarbeit zur Herstel- Justizvollzugsanstalten und damit auf die Resozialisie-
lung einer Lebensgrundlage sinnvoll ist. Voraussetzung rungsmöglichkeiten im Vollzug auswirken würde.
dafür, dass einem Gefangenen die Angemessenheit der Eine Erhöhung des Arbeitsentgeltes in dieser Dimen-
Vergütung der Arbeit vor Augen geführt werde, sei jedoch sion würde insgesamt zu einer so erheblichen Verteuerung
ein transparentes und nachvollziehbares Berechnungs- der Arbeitsleistung der Gefangenen führen, dass damit
system. die – schon jetzt angesichts der Öffnung der Grenzen
Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht dem Ge- schwierige – Konkurrenzsituation der Justizvollzugsan-
setzgeber bei der Regelung dessen, was angemessen ist, stalten gegenüber Billiglohnländern weiter verschärft
einen weiten Ermessensspielraum eingeräumt, innerhalb würde. Die Justizvollzugsanstalten wären gezwungen,
dessen die typischen Bedingungen des Strafvollzugs in das erhöhte Arbeitsentgelt wenigstens zu erheblichen Tei-
Rechnung gestellt werden können. Hiermit hat das Bun- len selbst zu erwirtschaften. Die Folge: Die Gefangenen-
desverfassungsgericht ausdrücklich klargestellt, dass die arbeit würde sich deutlich verteuern. Für private Unter-
zu gewährende Anerkennung der Pflichtarbeit nicht dem nehmen wäre es aber dann kaum mehr interessant, in den
11054 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

(A) JVAs eigene Arbeitsbetriebe zu unterhalten; viele dieser ten Haftanstalten sind durchweg gut. In Hessen gibt es ja (C)
Unternehmerbetriebe würden abwandern. Die Justizvoll- unter der von CDU und F.D.P. geführten Regierung hierzu
zugsanstalten müssten die erhöhten Arbeitskosten auf die erste Ansätze. Ich glaube, dass man damit den Staat ent-
Preise umlegen und könnten deshalb weniger Aufträge lasten, Geld sparen und die Resozialisierung verbessern
einholen. Das Ergebnis wäre eine drastische Zunahme der kann.
Arbeitslosigkeit in den Justizvollzugsanstalten.
Dies liefe nicht nur dem Anliegen des Bundesverfas- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sungsgerichts diametral entgegen, die Bedingungen für Mehr als zwanzig Jahre hat es gedauert, bis dem Bundes-
eine Resozialisierung der Gefangenen zu verbessern, son- verfassungsgericht im Juli 1998 bei der Strafgefangenen-
dern würde infolge der Zusammenballung beschäfti- entlohnung der Geduldsfaden gerissen ist. Über zwei
gungsloser Strafgefangener auch zu einer erheblichen Ge- Jahrzehnte lang ist eine mit dem Grundgesetz kompatible
fährdung der Sicherheit und Ordnung in den Justizvoll- Entlohnung vor allem am Widerstand der Länder ge-
zugsanstalten führen. scheitert.
Auch in einem weiteren Punkt geht der Gesetzentwurf Der heutige Gesetzentwurf macht endlich Schluss mit
über das hinaus, was das Bundesverfassungsgericht ver- einem verfassungswidrigen und auch menschenunwürdi-
langt: Während Karlsruhe seine Vorgaben allein auf das gen Zustand in unseren Gefängnissen: Ein Stundenlohn
Arbeitsentgelt für die zur Arbeit verpflichteten Strafge- von DM 1,72 stellt keine angemessene Anerkennung der
fangenen bezieht, will die Bundesjustizministerin auch Arbeitsleistung klar. Diese Unterbezahlung – man kann
die Löhne für die auf freiwilliger Basis Beschäftigten, die sie auch als Ausbeutung bezeichnen – läuft dem Zweck
Untersuchungsgefangenen und die jugendlichen Gefan- des Strafvollzuges, die Täter zu resozialisieren, zuwider:
genen, einbeziehen. Außerdem hat das Bundesverfas- Wer die Gefangenen auf ein straffreies Leben in Freiheit
sungsgericht, wie bereits erwähnt, in seiner Entscheidung vorbereiten will, muss ihnen auch den Sinn einer bezahl-
ausdrücklich klargestellt, dass die zu gewährende Aner- ten Tätigkeit bewusst machen. Wer sie jedoch hinter Git-
kennung der Pflichtarbeit nicht notwendig finanzieller Art tern noch zusätzlich desillusioniert, darf sich später über
sein muss. Der vorgelegte Gesetzentwurf sieht jedoch die Folgen nicht wundern: Denn wer im Knast gelernt hat,
keine Regelung zur immateriellen Vergütung der Gefan- dass sich Arbeit nicht lohnt, geht später auch in Freiheit
genenarbeit vor. lieber klauen.
Die CDU/CSU-Fraktion lehnt deshalb den von der Sinn dieser Lohnerhöhung ist ja nicht, dass dem Ge-
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf ab und fangenen künftig mehr (Haus)-Geld für den Einkauf beim
wird in Kürze einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen, Anstaltskaufmann zur Verfügung steht. Nein, viel wichti-
(B) der sich an dem einmütigen Beschluss der Justizministe- ger ist, dass wir den Gefangenen helfen, ihren Schulden- (D)
rinnen und Justizminister der Länder vom Herbst 1999 berg zu tilgen oder ihre Unterhaltsverpflichtungen zu er-
orientiert. füllen. Nach Berechnungen der Bundesarbeitsgemein-
Wir wollen die Erhöhung des Arbeitsentgelts für die schaft für Straffälligenhilfe sind rund drei Viertel aller
zur Arbeit verpflichteten Strafgefangenen auf das von Gefangenen erheblich verschuldet. Auch viele Opfer von
Verfassungs wegen erforderliche Maß beschränken. Das Straftaten gehen deshalb leer aus. Diese Mittel aber dür-
heißt konkret: Wir befürworten eine Steigerung der Löhne fen den Gefangenen nicht vorenthalten werden. Auch das
der Gefangenen in Höhe von 40 Prozent statt 200 Prozent. folgt aus dem Resozialisierungsgebot des Grundgesetzes.
Für die Länderhaushalte und damit die Steuerzahler be- Wie in den Jahren zuvor protestieren auch jetzt wieder
deutet das, dass sie jährlich um circa 189 Millionen DM die Länder. Wer jetzt aber die „maßvollen“, weil kosten-
weniger belastet werden als nach den Vorstellungen der sparenden Vorschläge von der Justizministerkonferenz im
Bundesjustizministerin. Die weder zweckmäßige noch letzten Herbst begrüßt, sollte sich bitte einmal zurück-
verfassungsrechtlich gebotene Einbeziehung von Unter- erinnern: Der verfassungswidrige Bezugsgrößen-Eckwert
suchungsgefangenen, Gefangenen in freien Beschäfti- von 5 Prozent war bei In-Kraft-Treten des Strafvollzugs-
gungsverhältnissen und jugendlichen Strafgefangenen gesetzes 1977 nur als Basiswert für die Anfangszeit des
lehnen wir ab. Dafür wollen wir den Vorgaben des Bun- Gesetzes vorgesehen. Nach dem Willen des Gesetzgebers
desverfassungsgerichtes entsprechend die Möglichkeit sollte er eigentlich stufenweise bis 1986 auf 40 Prozent
von bis zu sechs zusätzlichen Freistellungstagen vorse- angehoben werden. 7 Prozent sind zu wenig. („tageszei-
hen, die durch Ableistung von Pflichtarbeit angespart
tung“, 7. Juli 2000)
werden können. Der Strafgefangene kann diese dann zur
Vorverlegung des Entlassungszeitpunktes oder zur Ge- Im Vergleich zum Willen des Gesetzgebers ist also un-
währung von Urlaub aus der Haft nutzen. Dies dürfte ser heutiger Vorschlag durchaus ein maßvoller: Eine Er-
nicht nur im Interesse des Gefangenen sein, sondern ent- höhung des Wertes auf 15 Prozent – also ein Monatslohn
lastet auch den Steuerzahler. von knapp 660 DM – stellt nach Einschätzung von Ex-
perten sogar nur die Untergrenze des verfassungsrechtlich
Außerdem bin ich der Meinung, dass wir uns anlässlich
Vertretbaren dar. Der frühere Verfassungsrichter Kruis,
dieser Diskussion um die Änderung des Strafvollzugs
der selbst an dem Urteil von 1998 mitgewirkt hat, sagt:
auch einmal intensiv mit dem Gedanken beschäftigen
„Ein zweistelliger Betrag sollte es schon sein.“
sollten, in welchem Umfang eine teilweise Privatisierung
des Strafvollzugs bei uns möglich und sinnvoll ist. Die Er- Die Eckwerte der Justizminister vom November 1999
fahrungen in Frankreich und England mit teilprivatisier- halten einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht
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(A) stand. Auch jetzt hat sich der rheinland-pfälzische Justiz- Strafgefangene durch angemessene Entlohnung in der (C)
minister Mertin wieder für eine Erhöhung des Bezugs- Strafhaft bei Arbeitsaufnahme auch Rentenansprüche er-
größenanteils um gerade mal zwei Prozentpunkte ausge- wirbt.
sprochen. So nachvollziehbar angesichts der knappen
Die bisher bekannt gewordenen Einlassungen der Lan-
Länderkassen dieser Vorschlag auch ist: Mit welchen Mit-
desjustizminister zeigen auch zu Recht, dass eine Insel-
teln bitte sollen die Gefangenen dann Wiedergutmachung
lösung, die lediglich die Vergütungsregelung betrifft, we-
an die Opfer und Unterhalt an ihre ohnehin schon gebeu-
nig hilfreich ist. Auch die Frage, ob mit dem Arbeitsent-
telten Familien leisten? Herr Kollege Funke, Sie haben
gelt eine Auflage verbunden werden kann und muss, ob
kürzlich den Vorschlag der Koalition als „zu niedrig“ be-
der Strafgefangene angerichtete Schäden von dem erwor-
zeichnet. In Ordnung. Ich wäre Ihnen aber sehr dankbar,
benen Arbeitsentgelt zu begleichen hat, sollte berücksich-
wenn Sie ihre Parteifreunde in den Ländern von dieser
tigt werden. Mit anderen Worten: Wir Freien Demokraten
Meinung überzeugen könnten.
regen eine umfassendere Regelung an. Es wäre daher bes-
Richtig ist: Karlsruhe hat sich nicht auf eine rein mo- ser gewesen, dies nicht unter Zeitdruck machen zu müs-
netäre Lösung festgelegt. Und eine solche präsentieren sen, wie es jetzt die Bundesregierung offensichtlich tat.
wir Ihnen heute auch nicht. Ich nenne nur die Ausdehnung Vielmehr sollten wir jetzt die Zeit nutzen, intensiv die
des Freistellungszeitraumes von 18 auf 24 Tage. Auch Frage der Entlohnung von Strafgefangenen grundsätzlich
Haftzeitverkürzungen („good-time-Konzepte“), wie es im Rechtsausschuss zu beraten.
die Länder vorschlagen, haben wir geprüft. Aber soll der
Entlassungszeitpunkt etwa davon abhängen, ob in der An- Ulla Jelpke (PDS): SPD und Grüne behaupten im vor-
stalt zufällig ein Arbeitsplatz zur Verfügung steht oder liegenden Gesetzentwurf, sie wollten, ich zitiere, „eine
aber ob ein Gefangener entschuldigt oder unentschuldigt Neuregelung der Gefangenenentlohnung schaffen, die
der Pflichtarbeit ferngeblieben ist? Die verfassungsrecht- verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist und die den
lichen Bedenken liegen auf der Hand. Und eine weitere Strafvollzug den Zielen der Schadenswiedergutmachung
Rüge aus Karlsruhe sollten wir uns alle ersparen. und der Opferentschädigung näher bringt.“
Ich bestreite das. Außerdem geht es nicht nur um Scha-
Rainer Funke (F.D.P.): Auch das Änderungsgesetz
denswiedergutmachung und Opferentschädigung. Es geht
zum Strafvollzugsgesetz zeigt in eklatanter Weise, wie auch um Resozialisierung der Gefangenen. Schon 1977,
wenig sorgfältig zurzeit Vorgaben des Bundesverfas- also vor 23 Jahren, war im damaligen Strafvollzugsgesetz
sungsgerichts umgesetzt werden. Das Verfassungsgericht eine Erhöhung der Gefangenenentlohnung bis 1986 auf
hat angeordnet, dass längstens bis zum 31. Dezember 40 Prozent vorgesehen. Bei den Beratungen war damals
(B) 2000 § 200 Strafvollzugsgesetz zu ändern ist. Offensicht- sogar ein Tariflohn oder ein Lohn von 75 Prozent des Ta- (D)
lich weil das Justizministerium noch keine beschlussreife rifs überlegt worden.
Vorlage für das Bundeskabinett hat fertigen können, ist
wie bei anderen Gesetzesvorschlägen, die wir heute bera- Es ist schlimm, dass 20 Jahre später das Bundesverfas-
ten haben, der Weg über die Fraktionsanträge gewählt sungsgericht kommen musste, um mit seinem Urteil vom
worden. Bei einer solch wichtigen Frage, die die Länder 1. Juli 1998 wieder etwas Bewegung zu erzwingen. Das
massiv, auch finanziell, betrifft, wäre der ordnungs- Gericht hat ganz richtig die derzeitige Entlohnung der Ge-
gemäße Weg über Kabinett und Zuweisung an Bundesrat fangenen als Verstoß gegen das Resozialisierungsgebot
der einzig richtige gewesen, damit der Bundestag auch und gegen das Grundgesetz kritisiert. Ich finde, das zeigt,
unter Berücksichtigung der Bundesratsinteressen hätte wie weit sich die Debatte in letzter Zeit vom Resoziali-
beraten können. Durch den jetzt gewählten Weg wird dem sierungsgebot und der Humanisierung des Strafvollzugs
Bundestag nur nachträglich die Möglichkeit gegeben, weg bewegt hat.
seine Meinung zu äußern; das ist wenig länderfreundlich. Jetzt sollen sich die Gefangenen mit einer Anhebung
Aber auch in der Sache ist der Gesetzesentwurf nicht von 5 Prozent auf 15 Prozent zufrieden geben. Statt durch-
ausgereift. Tatsächlich wird nur an der Schraube der Ver- schnittlich 200 DM bekommen sie dann vielleicht künftig
gütung gedreht, statt auch sonstige Strafvollzugsfragen 600 DM im Monat.
mit zu berücksichtigen. Eine solche Anhebung reicht einfach nicht aus. Viele
Die Arbeit von Strafgefangenen muss nach dem Urteil Gefangene sind mittellos, haben aber zugleich beträcht-
des Bundesverfassungsgerichts angemessen vergütet liche finanzielle Verpflichtungen. Sie sind verpflichtet:
werden. Ich halte das auch für richtig, weil Anreize zur zum Schadenausgleich für ihre Taten, zur Leistung von
Arbeit der Resozialisierung des Strafgefangenen dienen. Unterhalt an Familienangehörige und zur Tilgung sonsti-
Er wird ausgebildet, hat auch während der Strafhaft eine ger Schulden. Etwa drei Viertel aller Gefangenen sind er-
sinnvolle Beschäftigung und soll mit seinem Entgelt auch heblich verschuldet. Schon 1994 wurde in einer Untersu-
dazu beitragen, später nicht der Sozialhilfe zur Last zu fal- chung festgestellt, dass Schulden zwischen 12 000 und
len. Ich teile daher nicht die Auffassung der Länder, dass 45 000 DM nicht selten sind.
eine Erhöhung des Arbeitsentgeltes einseitig zur Belas- Wie soll da mit 600 DM im Monat eine Schadenswie-
tung der Justizhaushalte wird; vielmehr kann dadurch dergutmachung, ein Opferausgleich und außerdem noch
auch eine Entlastung des Sozialetats eintreten. Dieses gilt eine Resozialisierung dieser Gefangenen möglich sein?
nicht nur für die unmittelbare Zeit nach der Haftentlas- Das geht einfach nicht. Das wissen auch alle. Die CDU/
sung, sondern auch für die Zeit im Rentenalter, da der CSU scheint deshalb das Gebot der Resozialisierung ganz
11056 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

(A) aufgeben zu wollen. Sie will einfach nur noch mehr Ge- sungsgericht die geltend gemachten finanziellen Schwie- (C)
fängnisse bauen. rigkeiten der Länder durchaus gesehen und in seine Über-
Eine solche Abkehr vom Resozialisierungsgebot ma- legungen einbezogen.
chen wir nicht mit. Wer Inhumanität im Strafvollzug will, Es hat ausgeführt, dass Arbeit im Strafvollzug, die den
hat uns zum Gegner. Gefangenen als Pflichtarbeit zugewiesen wird, nur dann
Bei meinen Besuchen in den JVAs im Mai in Nord- ein wirksames Resozialisierungsmittel sei, wenn die ge-
rhein-Westfalen haben alle Anstaltsleiter die tarifliche leistete Arbeit „angemessene“ Anerkennung finde. Die
Entlohnung verlangt. Der stellvertretende Leiter der Jus- Arbeit müsse geeignet sein, den Gefangenen den Wert re-
tizvollzugsanstalt in Freiburg hält eine Entlohnung von gelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortliches
unter 20 Prozent sogar für verfassungswidrig. und straffreies Leben in Gestalt eines für sie greifbaren
Vorteils vor Augen zu führen.
Auch im europäischen Vergleich liegt die Bundesrepu-
blik bei der Gefangenenentlohnung nur auf Platz neun, Der Gesetzgeber wurde aufgefordert, die Gefangenen-
also weit hinten. entlohnung bis zum Ende diesen Jahres neu zu regeln. Wir
Die PDS hatte deshalb schon 1995 einen Antrag einge- müssen nun tätig werden. Das Berufen auf leere Kassen
bracht, der die Bezahlung der Gefangenen nach Tariflohn hilft nicht weiter. Denn: Gelingt es nicht, die Gefangenen-
sowie die gesetzliche Einbeziehung der Strafgefangenen entlohnung bis zum 1. Januar 2001 verfassungsgemäß
in die gesetzliche Renten- und Krankenversicherung for- auszugestalten, werden die Gerichte darüber entscheiden,
derte. Ich finde, diese Forderung ist weiter richtig. Die wie das Arbeitsentgelt zu bemessen ist. Es ist davon aus-
Absicht der Justizminister der Länder, den Eckwert nur zugehen, dass die gerichtliche Festsetzung des Arbeits-
auf 7 Prozent anzuheben, ist demgegenüber schlicht und entgeltes die Länder stärker belasten wird als die im Ent-
einfach ein Skandal. wurf vorgeschlagene Neuregelung.
Ich finde, es ist höchste Zeit, in der Diskussion über Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf werden die For-
den Strafvollzug wieder den Gedanken der Resozialisie- derungen des Bundesverfassungsgerichts durch die Er-
rung und der Humanität – auch gegenüber den Gefange- höhung des Bezugsgrößenanteils von 5 auf 15 Prozent
nen – zu stärken. Der Gesetzentwurf der Regierungspar- umgesetzt. Wer meint, dies sei zu großzügig bemessen,
teien genügt diesem Anspruch in meinen Augen nicht. dem halte ich entgegen, dass wir eine Regelung brauchen,
mit der wir verfassungsrechtlich auf der sicheren Seite
Dr. Eckhart Pick (Parl. Staatssekretär bei der Bun- sind, eine Regelung also, die die Forderung des Bundes-
desministerin der Justiz): Der Gesetzentwurf, der heute verfassungsgerichts sicher erfüllt und die konsequent auf
(B) beraten wird, hat eine lange Vorgeschichte: Mit dem das Vollzugsziel der Resozialisierung gerichtet ist. (D)
Strafvollzugsgesetz aus dem Jahr 1977 wurde die „Ar- Halbherzige Entscheidungen, die Gefahr laufen, einer
beitsbelohnung“ für Gefangene durch einen Anspruch sicher zu erwartenden erneuten verfassungsgerichtlichen
auf Arbeitsentgelt ersetzt. Gefangene sollten grundsätz- Überprüfung nicht standzuhalten, werden insbesondere
lich freien Arbeitnehmern gleichstehen. Das Arbeitsent-
den Ländern schaden. Auch sollten wir die Gefahr ver-
gelt sollte ein Mittel zur Resozialisierung der Gefangenen
sein. Es sollte ihnen die Früchte ihrer Arbeit unmittelbar meiden, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetz-
vor Augen führen. geber ein weiteres Mal vorschreibt, was er zu tun hat.

Strafgefangene bekommen seither für ihre Pflichtarbeit Die Erhöhung der Gefangenenentlohnung eröffnet
ein Arbeitsentgelt in Höhe von 5 Prozent des Durch- mehr Spielraum für die Opferentschädigung, für Unter-
schnittsentgeltes der Arbeitnehmer, die in die gesetzliche haltszahlungen und für die Schuldenregulierung. Dem
Rentenversicherung einzahlen. Dies sind zur Zeit etwa Gefangenen selbst steht dagegen für den persönlichen Be-
220 DM im Monat „bei freier Kost und Logis“. Alle Ver- darf monatlich nur ein geringfügig größerer Betrag als
suche, das Arbeitsentgelt zu erhöhen, sind bisher unter bislang zur Verfügung. Damit werden die Gefangenen
Hinweis auf die zusätzlichen finanziellen Belastungen für endlich – wenn auch nur ein kleines Stück weit – lernen
die Länder gescheitert. können, Verantwortung zu übernehmen. Die Bundesre-
gierung unterstützt deshalb diesen Koalitionsentwurf
Nimmt man die Zielsetzung des Strafvollzugsgesetzes nachdrücklich.
ernst, muss die Arbeit von Gefangenen eine angemessene
Anerkennung finden. Nur so kann auch der gesetzliche Durch die Erhöhung der Gefangenenentlohnung wer-
Auftrag erfüllt werden, Gefangene dabei zu unterstützen, den die Länder ohne Zweifel belastet. Ich möchte aber
für Unterhaltsberechtigte zu sorgen und den durch die eindringlich davor warnen, zu glauben, es gäbe billigere
Straftat verursachten Schaden wiedergutzumachen. Von Möglichkeiten. Der Gesetzentwurf berücksichtigt die Fi-
einem Monatslohn von 220 DM kann ein Gefangener kei- nanzsituation in den Ländern. Obwohl es wünschenswert
nen Unterhalt leisten, geschweige denn Entschädigung an wäre, die Gefangenen endlich auch in die Kranken- und
die Opfer seiner Straftaten leisten. Rentenversicherung einzubeziehen, wird dies gerade mit
So war es deshalb nicht überraschend, dass das Bun- Rücksicht auf die schlechte Haushaltslage der Länder
desverfassungsgericht die derzeitige Regelung über die nicht vorgeschlagen. Bei allem Verständnis für die Fi-
Gefangenenentlohnung für verfassungswidrig erklärt hat. nanznöte der Länder: Eine Erhöhung der Gefangenenent-
Sie ist mit dem im Grundgesetz verankerten Resozialisie- lohnung in dem Umfang, wie sie der Koalitionsentwurf
rungsgebot nicht vereinbar. Dabei hat das Bundesverfas- vorsieht, muss möglich sein.
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(A) Anlage 10 Bericht der Bundesregierung über den Stand der Abwick- (C)
lung des Fonds für Wiedergutmachungsleistungen an jüdi-
sche Verfolgte
Amtliche Mitteilung
– Drucksachen 14/2436, 14/2736 Nr. 1 –
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit-
geteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-Vorla- Haushaltsausschuss
gen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parla- – Unterrichtung durch die Bundesregierung
ment zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 04 Titel 682 04 –
abgesehen hat. Von der EU nicht übernommene Marktordnungsausgaben –
bis zur Höhe von 42 780 TDM
Finanzausschuss
– Drucksachen 14/3291, 14/3419 Nr. 3 –
Drucksache 14/3341 Nr. 2.34
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten Außerplanmäßige Verpflichtungsermächtigung bei Kapitel
09 01 Titel 517 01 – Bewirtschaftung der Grundstücke, Ge-
Drucksache 14/3341 Nr. 2.45 bäude und Räume –
– Drucksachen 14/3289, 14/3419 Nr. 2 –
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Drucksache 14/2952 Nr. 1.2
Einwilligung in eine überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel
Ausschuss für Gesundheit 15 10 Titel 712 11 – Baumaßnahmen von mehr als 2 Milli-
onen DM im Einzelfall; Neubau eines Labor- und Verwal-
Drucksache 14/3050 Nr. 2.24 tungsgebäudes für das Bundesinstitut für Arzneimittel und
Drucksache 14/3428 Nr. 2.3 Medizinprodukte
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und – Drucksachen 14/3347, 14/3419 Nr. 4 –
Reaktorsicherheit
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Drucksache 14/3428 Nr. 2.21 Über- und außerplanmäßige Ausgabe im ersten Vierteljahr
Drucksache 14/3428 Nr. 2.22 des Haushaltsjahres 1998
– Drucksachen 13/10856, 14/272 Nr. 78 –
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union – Unterrichtung durch die Bundesregierung
Drucksache 14/2747 Nr. 2.3 Über- und außerplanmäßige Ausgaben im zweiten Viertel-
Drucksache 14/2747 Nr. 2.4 jahr des Haushaltsjahres 1998
Drucksache 14/2747 Nr. 2.5
– Drucksachen 13/11328, 14/69 Nr. 1.26 –
(B) Drucksache 14/2747 Nr. 2.6 (D)
Drucksache 14/2747 Nr. 2.7 – Unterrichtung durch die Bundesregierung
Drucksache 14/2747 Nr. 2.8
Drucksache 14/2747 Nr. 2.9 Über- und außerplanmäßige Ausgaben im dritten Viertel-
Drucksache 14/2747 Nr. 2.10 jahr des Haushaltsjahres 1998
Drucksache 14/2747 Nr. 2.11 – Drucksachen 14/55, 14/69 Nr. 1.32 –
Drucksache 14/2747 Nr. 2.12
Drucksache 14/2747 Nr. 2.13 – Unterrichtung durch die Bundesregierung
Drucksache 14/2747 Nr. 2.14
Über- und außerplanmäßige Ausgaben im vierten Viertel-
Drucksache 14/2747 Nr. 2.29
jahr des Haushaltsjahres 1998
Drucksache 14/2952 Nr. 2.11
– Drucksachen 14/455, 14/592 Nr. 1 –
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit-
geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der
– Unterrichtung durch die Regulierungsbehörde für Tele-
nachstehenden Vorlage absieht: kommunikation und Post
Auswärtiger Ausschuss Tätigkeitsbericht 1998/1999 der Regulierungsbehörde für
Telekommunikation und Post – Bericht nach § 81 Abs. 1 Te-
– Unterrichtung durch die Bundesregierung lekommunikationsgesetz und nach § 47 Abs. 1 Postgesetz
Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit der West- und
europäischen Union für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezem- Sondergutachten der Monopolkommission gemäß
ber 1999 § 81 Abs. 3 Telekommunikationsgesetz und § 44 Postgesetz
– Drucksachen 14/2657, 14/2947 Nr. 1.2 –
– Drucksachen 14/2321, 14/2555 Nr. 1.2 –
– Unterrichtung durch die Delegation der Interparlamentarischen
Gruppe der Bundesrepublik Deutschland Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
über die 102. Interparlamentarische Konferenz vom 10. bis – Unterrichtung durch die Bundesregierung
16. Oktober 1999 in Berlin
Zweiter Bericht nach § 70 des Dritten Buches Sozialgesetz-
– Drucksachen 14/2856, 14/3048 Nr. 2 –
buch i. V. m. § 35 des Bundesausbildungsförderungsgeset-
zes zur Überprüfung der Bedarfssätze der Berufsausbil-
Innenausschuss
dungsbeihilfe
– Unterrichtung durch die Bundesregierung – Drucksache 14/2424 –
Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20, 53003 Bonn, Telefon: 02 28 / 3 82 08 40, Telefax: 02 28 / 3 82 08 44
ISSN 0722-7980

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