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Deutscher Bundestag
Stenographischer Bericht
21. Sitzung
Inhalt:
Erweiterung und Abwicklung der Tages Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
ordnung . . . . . . . . . . . . 1351B, 1447 C NEN 1357B
Dr. Olaf Feldmann F.D.P. . . . . . . 1358C
Absetzung des Punktes 8 von der Tages
ordnung . . . . . . . . . . . . . . . 1352 A Andrea Lederer PDS . . . . . . . . 1359D
Dr. Alfred Dregger CDU/CSU . . . . 1361 C
Tagesordnungspunkt 3: Dr. Winfried Wolf PDS . . . . . . . 1362 B
a) Antrag der Abgeordneten Klaus Uta Zapf SPD 1364 B
Francke (Hamburg), Peter Kurt Würz-
bach und der Fraktion der CDU/CSU Ludger Volmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
sowie der Abgeordneten Karsten NEN 1367A
D. Voigt (Frankfurt), Uta Zapf und der Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU . . . 1367 D
Fraktion der SPD sowie der Abgeordne--
ten Ulrich Irmer, Dr. Olaf Feldmann und Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA 1368D
der Fraktion der F.D.P.: Unbefristete
und unkonditionierte Verlängerung des Zusatztagesordnungspunkt 2:
Nichtverbreitungs-Vertrages (Drucksa- Antrag der Fraktion der SPD: Bestim-
che 13/398) mung des Verfahrens für die Berech-
nung der Stellenanteile (Drucksache
b) Antrag der Abgeordneten Andrea Le-
13/547)
derer, Heinrich Graf von Einsiedel und
der weiteren Abgeordneten der PDS:
Beitrag der Bundesrepublik Deutsch- in Verbindung mit
land zur Nichtverbreitung von Kern-
waffen (Drucksache 13/429) Zusatztagesordnungspunkt 3:
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
in Verbindung mit und F.D.P.: Wahlverfahren von Gre-
mien (Drucksache 13/542)
Zusatztagesordnungspunkt 1: Joachim Hörster CDU/CSU 1371 A
Antrag der Abgeordneten Angelika Dr. Peter Struck SPD 1371 D
Beer, Ludger Volmer und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Reform Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE
und Stärkung des Nichtweiterverbrei- GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . 1372C
tungsvertrages für Atomwaffen und Jörg van Essen F.D.P. 1373 A
das Mandat der Bundesregierung für
Manfred Müller (Berlin) PDS . . . . . . 1373 D
die Verlängerungskonferenz in New
York (Drucksache 13/537)
Namentliche Abstimmung . . . . . . , 1374 D
Klaus Francke (Hamburg) CDU/CSU . 1352C
Gernot Erler SPD 1354 B Ergebnis 1375 A
II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Anlage 4 Anlage 10
Einflußmöglichkeiten des Bundes auf die Forderung rechtsstaatlicher Handlungs-
Bahn- und Post-Unternehmen, z. B. bei weisen als Voraussetzung für die Gewäh-
der Fahrplanumstellung 1995/1996 rung von EU-Hilfen zur Beseitigung der
Kriegsfolgen in Kroatien
MdlAnfr 13 - Drs 13/470 -
Ludwig Stiegler SPD MdlAnfr 37 - Drs 13/470 -
1514* B Dr. Edzard Schmidt-Jortzig F.D.P.
SchrAntw PStSekr Johannes Nitsch BMV
SchrAntw StMin Dr. Werner Hoyer AA 1516*' C
Anlage 5
Entscheidungsgrundlage für die endgül- Anlage 11
tige Autobahn-Trassenführung (A 44) im Genehmigung von Rüstungsexporten
Bereich des Kasseler Kreuzes deutscher Firmen, insbesondere der Firma
MdlAnfr 15, 16 - Drs 13/470 - Telemit Electronic GmbH, in den Irak und
Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P. Iran während oder auch nach dem ira-
kisch-iranischen Krieg
SchrAntw PStSekr Johannes Nitsch BMV 1514* C
MdlAnfr 48, 49 - Drs 13/470 -
Norbert Gansel SPD
Anlage 6
SchrAntw PStSekr Dr. Norbert Lammert
Entscheidungsgrundlage für die Wahl der BMWi 1516* D
endgültigen Autobahntrasse (A 44) im Be-
reich des Kasseler Kreuzes; Berücksichti-
gung der Frage des Verkehrslärms Anlage 12
MdlAnfr 17, 18 - Drs 13/470 - Probleme kleiner und mittelständischer
Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. Unternehmen in den neuen Bundeslän-
SchrAntw PStSekr Johannes Nitsch BMV 1515* A dern durch die mangelhafte Zahlungsmo-
ral privater und öffentlicher Auftraggeber
MdlAnfr 50 - Drs 13/470 -
Anlage 7
Michael Wonneberger CDU/CSU
Veränderung der Sicherheitslage der Re-
SchrAntw PStSekr Dr. Norbert Lammert
publik Zypern durch die Lieferung deut-
BMWi 1517* B
scher Fregatten an die Türkei
MdlAnfr 29, 30 - Drs 13/470 -
Dr. Elke Leonhardt SPD Anlage 13
SchrAntw StMin Dr. Werner Hoyer AA 1515* B Notwendigkeit der Mitgliedschaft der
Apotheker in den Industrie- und Handels-
kammern
Anlage 8
MdlAnfr 51, 52 - Drs 13/470 -
Beurteilung der Vertreibung und entschä-
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P.
digungslosen Enteignung der Sudeten-
deutschen mit dem Hinweis auf den „hi- SchrAntw PStSekr Dr. Norbert Lammert
storischen Kontext" BMWi . . . . . . . . . . . . 1517* D
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 VII
-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1351
21. Sitzung
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich eröffne die Sit- e) Wahl der vom Deutschen Bundestag vorzuschlagenden
zung. Mitglieder des Programmbeirats der Deutschen Bun-
despost gemäß §§ 1 und 2 der Geschäftsordnung des
Beirats zur Bestimmung der Anlässe für die Ausgabe
(Freimut Duve [SPD]: Die Unionsfraktion von Sonderpostwertzeichen ohne Zuschlag der Deut-
hat wohl die Regierung abgesetzt?) schen Bundespost (Programmbeirat) - Drucksache 13/
565 -
- Wir hier oben sind vollzählig.
f) Wahl der vom Deutschen Bundestag vorzuschlagenden
Mitglieder des Kunstbeirats der Deutschen Bundespost
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ gemäß §§ 1 und 2 der Geschäftsordnung des Beirats
DIE GRÜNEN] zu Bundesminister Dr. Klaus für die graphische Gestaltung der Postwertzeichen
Töpfer gewandt: Sie dürfen sich auf den der Deutschen Bundespost (Kunstbeirat) - Drucksache
Stuhl des Bundeskanzlers setzen!) 13/566 -
1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Beer, i) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden
Ludger Volmer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mitglieder des Parlamentarischen Beirats der Stiftung
NEN: Reform und Stärkung des Nichtweiterverbreitungs- für das sorbische Volk - Drucksache 13/569 -
vertrages für Atomwaffen und das Mandat der Bundesre-
j) Wahl der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschus-
gierung für die Verlängerungskonferenz in New York -
ses nach Artikel 53a des Grundgesetzes - Drucksachen
Drucksache 13/537 -
13/558, 13/559, 13/560, 13/561, 13/571 -
2. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Bestimmung
(ZP 2 bis ZP 4 Aufruf nach TOP 3)
des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile -
Drucksache 13/547 - 5. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Hilfen für
3. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und die neuen Bundesländer - Erfolgreicher Aufbau Ost
F.D.P.: Wahlverfahren von Gremien - Drucksache 13/542 - 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten der PDS: Weltgip-
4. Wahlen zu Gremien fel für soziale Entwicklung vom 6. bis 12. März 1995 in Ko-
penhagen - Drucksache 13/535 -
a) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden
Mitglieder des Ausschusses nach Artikel 77 Abs. 2 des 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Angelika Kö-
Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) - Drucksachen ster-Loßack, Dr. Uschi Eid, Wolfgang Schmitt, weiterer Ab-
13/557, 13/570 - geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Weltsozialgipfel - Drucksache 13/539 -
b) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden
Mitglieder des Schuldenausschusses bei der Bundes- 8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Pin-
schuldenverwaltung gemäß § 6 Abs. 1 und 2 des Geset- ger, Wolfgang Vogt (Düren) und der Fraktion der CDU/CSU
zes über die Errichtung einer Schuldenverwaltung des sowie der Abgeordneten Roland Kohn, Dr. Irmgard
Vereinigten Wirtschaftsgebietes und § 2 der Verord- Schwaetzer und der Fraktion der F.D.P.: Weltgipfel für so-
nung über die Bundesschuldenverwaltung - Druck- ziale Entwicklung vom 6. bis 12. März 1995 in Kopenha-
sache 13/562 - gen - Drucksache 13/556
c) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu bestimmenden 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jürgen
Mitglieder des Kontrollausschusses beim Bundesaus- Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
gleichsamt gemäß § 313 Abs. 1 und 2 des Lastenaus- Widerspruchsrecht für die Bundesministerin für Umwelt,
gleichsgesetzes - Drucksachen 13/563, 13/572 - Naturschutz und Reaktorsicherheit - Drucksache 13/352 -
d) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden 10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Beer
Mitglieder gemäß § 11 des Gesetzes über die Regulie- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Politik
rung der Telekommunikation und des Postwesens - der Bundesregierung gegenüber der Türkei - Drucksache
Drucksachen 13/564, 13/573 - 13/538 -
1352 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
- Drucksache 13/398 -
25 Jahre nach dem Inkrafttreten des NVV soll nun
eine Mehrheit der Vertragsstaaten auf einer für Mitte
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
April anberaumten Verlängerungskonferenz über
eine unbegrenzte oder befristete Weitergeltung ent-
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten scheiden. Aus diesem Anlaß liegt Ihnen heute der
Andrea Lederer, Heinrich Graf von Ein- von mir initiierte, dann aber von CDU/CSU, SPD und
siedel, Willibald Jacob und der weiteren F.D.P. gemeinsam eingebrachte Antrag vor, der die
Abgeordneten der PDS Bundesregierung dazu auffordert, sich für eine unbe-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1353
Klaus Francke (Hamburg)
fristete und unkonditionierte Verlängerung des NVV Meine Damen und Herren, ein wichtiger weiterer
einzusetzen. Nur so kann dauerhafte Stabilität er- Punkt im Umfeld des NVV, mit dem den Ängsten der
reicht und der Wesensgehalt des Vertrages gesichert Nichtkernwaffenstaaten und Nicht-NATO-Mitglie-
werden. dern begegnet werden könnte, ist unsere Anregung
zur Errichtung eines Kernwaffenregisters bei den
Bei einer befristeten Verlängerung besteht die Ge- Vereinten Nationen, wie es im übrigen Außenmini-
fahr, daß immer wieder Wünsche nach Vertragsver- ster Kinkel bereits im Dezember 1993 vorgeschlagen
änderungen aufkommen oder Partikularinteressen hat.
den Bestand des Ganzen gefährden. Wir unterstüt-
zen damit die bisherige Position der Bundesregie- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
rung, die bereits von vielen Vertragspartnern geteilt
wird. Durch Transparenz in bezug auf diesen Waffenbe-
stand könnte ein weiterer Baustein für Vertrauen in
Dennoch bleibt das Ziel weit gesteckt. Wir alle wis- die nukleare Abrüstung gelegt werden, da dann der
sen, daß es bislang unter den Vertragspartnern keine Abbau genau nachzuvollziehen wäre. Wir wollen da-
Mehrheit für eine unbefristete Verlängerung gibt. bei gegenüber den Kernwaffenbesitzern nicht als
Noch müssen die Kritiker einer unbefristeten Verlän- Lehrmeister auftreten. Ich denke aber, daß die Nicht-
gerung überzeugt werden. kernwaffenbesitzer zu Recht bei pflichtbewußter Er-
füllung des NVV auch von den Kernwaffenstaaten
Der NVV kann nur eine der Säulen des Nichtver- ein Zeichen der Bereitschaft zur Offenlegung ihrer
breitungsregimes sein. Seine Wirksamkeit ist eng mit Bestände einfordern können.
Fortschritten im Umfeld des NVV und der gesamten
Rüstungskontrollpolitik verbunden. Hiervon hängt Das Nichtverbreitungsregime würde auch dadurch
auch der Erfolg der Verlängerungskonferenz ab. Die gestärkt werden, wenn ein Sanktionsmechanismus
Bundesregierung sollte daher wie bisher aktiv auf im Falle der Verletzung des Vertrages entwickelt
den Abschluß eines verifizierbaren und umfassenden würde. Es muß klar sein, daß eine Vertragsverlet-
Teststoppabkommens hinarbeiten. Obwohl mit ei- zung nicht ohne Folgen bleibt. Dies bedeutet nicht
nem Abschluß nicht vor Ende 1995 zu rechnen ist, nur die Befassung des UN-Sicherheitsrats, der den
haben die USA mit der Verlängerung ihres Test- Vertragsverletzer klar benennt, mit dem Vorgang.
stoppmoratoriums bis zum Abschluß eines umfassen- Der Sicherheitsrat hat ja bereits mit seiner Erklärung
den Teststoppabkommens bereits ein deutliches posi- vom 31. Januar 1992 den ersten Ansatz eines Sankti-
tives Zeichen gesetzt. Besonders China ist aufgefor- onsmechanismus aufgezeigt,
dert, hier dem amerikanischen Beispiel zu folgen und
sich endlich zu einem Testmoratorium durchzurin- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das muß ausge
gen. baut werden!)
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Sehr richtig!) wonach die völkerrechtswidrige Herstellung oder
der Erwerb von Nuklearwaffen mit Sanktionen be-
Fortschritte in der nuklearen Abrüstung
- sind wich- legt werden muß.
tige Meilensteine auf dem Weg zu einer unbefriste-
ten Verlängerung des NVV. Insbesondere die rasche
Umsetzung von START I und die baldige Ratifizie- Ziel, meine Damen und Herren, muß aber letzten
rung von START II würden eine zügige Fortsetzung Endes die Reduzierung der Bedrohung, nicht die
des nuklearen Abrüstungsprozesses sichern. Strafe an sich sein. Dreh- und Angelpunkt des Nicht-
verbreitungsvertrages ist jedoch die Verifikation der
Das Nichtverbreitungsregime steht immer wieder Vertragseinhaltung. Der Deutsche Bundestag hat
vor der grundlegenden Aufgabe, den Befürchtungen schon in seiner Entschließung vom Juni 1993 An-
der Nichtkernwaffenbesitzer zu begegnen, im Aus- strengungen zur Stärkung der Internationalen Atom-
tausch für ihre Selbstbeschränkung im Rahmen des energiebehörde in Wien eingefordert, was ich hier
NVV nicht genügend an Sicherheit dazuzugewin- erneuern möchte. Der Konflikt um das nordkoreani-
nen. Die Bundesrepublik als Nichtkernwaffenstaat sche Atomprogramm hat bereits einen Modellfall für
und NATO-Mitglied ist in der glücklichen Lage, un- das Recht der IAEO auf Ad-hoc-Inspektionen ge-
ter dem Schirm der Allianz Sicherheit zu finden. schaffen, das aber weiter gestärkt und ausgebaut
Wenn aber denjenigen Staaten, die sich vertragstreu werden muß. Auch der Zugang der Behörde zu Infor-
verhalten, verbindliche Sicherheitsgarantien der mationen muß ausgeweitet und institutionalisiert
Kernwaffenstaaten gegeben würden, könnte dies der werden; und sie muß darüber hinaus personell und
Versuchung der Entwicklung eigener Atompro- finanziell in die Lage versetzt werden, die ihr gesetz-
gramme effektiv entgegenwirken. ten Aufgaben zufriedenstellend erfüllen zu können.
Die Zusammenarbeit mit Euratom sollte verstärkt
(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sehr werden. Der Ansatz für kontrollrelevante signifi-
richtig!) kante Mengen an nuklearem Material übersteigt
heute nach den neueren technischen Entwicklungen
Bislang zeichnen sich in dem Genfer Verhandlungs- die zur Herstellung von Atomwaffen nötige Menge
ausschuß für den Nichteinsatz von Atomwaffen und kann deswegen niedriger festgelegt werden.
durch die Kernwaffenstaaten noch keine positiven Eine Neufestsetzung darf allerdings der friedlichen
Ergebnisse ab, so daß die Bundesregierung auch hier Nutzung und der Erforschung der Kernenergie, wie
zu weiterem aktiven Engagement aufgefordert ist. sie bisher betrieben wird, nicht entgegenstehen.
1354 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Gernot Erler
keit des Vertrages, ja sogar von Vertragsbruch sei- Aber - und ich kann nicht ausschließen, daß hier
tens der Atomwaffenstaaten gesprochen. Ein paar die Gemeinsamkeiten der drei antragstellenden
Zeilen später aber fordert man alle Staaten, die noch Fraktionen enden - Deutschland kann auch in eige-
nicht Vertragspartei sind, nachdrücklich auf, dem ner Verantwortung wichtige Initiativen zugunsten
NW beizutreten. Warum sollten weitere Länder ei- der atomaren Nichtverbreitung und Abrüstung er-
nem unglaubwürdigen Nichtverbreitungsregime bei- greifen.
treten, das auf Vertragsbruch aufbaut?
(Zuruf von der F.D.P.: Das hat die Bundesre
(Ulrich Heinri ch [F.D.P.]: Das bleibt den gierung auch getan!)
GRÜNEN vorbehalten!) Warum verzichtet die Bundesregierung z. B. nicht
auf jede Produktion und Nutzung von hochangerei-
Nein, es gibt unseres Erachtens keine Alternative chertem Uran (HEU), u. a. dadurch, daß sie die Kon-
dazu, jetzt für eine unbefristete und unkonditio- zeption des geplanten Garchinger Forschungsreak-
nierte Verlängerung des Vertrages zu kämpfen, tors FRM II ändert?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
ten der CDU/CSU und der F.D.P.) F.D.P.)
aber gleichzeitig und parallel dazu mit weiteren ent- Diese Maßnahme ist durch den jüngsten amerikani-
schlossenen Schritten den Abrüstungskonsens zu er- schen Verzicht auf die Nutzung von ANS (Advanced
weitern, um den NVV sozusagen wie ein Flaggschiff Neutron Source) für den Reaktor am Oak Ridge Na-
mit einem Konvoi weiterer Abrüstungsfahrzeuge zu tional Laboratory in Tennessee nur noch dringlicher
umgeben, die ihn absichern und ihm freie Fahrt si- geworden. Die Behauptung, ein Hochtechnologie
chern. land wie die Bundesrepublik müsse an der zumin-
dest forschenden Nutzung von HEU festhalten, scha-
(Beifall des Abg Karsten D. Voigt [Frank det den Nichtverbreitungszielen.
furt] [SPD]) Warum steigt die Bundesregierung nicht aus der
Plutoniumnutzung aus, beendet die Wiederaufarbei-
Der gemeinsame Antrag der drei Fraktionen nennt tungsverträge mit dem Ausland und verzichtet auf
hierzu die entscheidenden Punkte: allen voran ein die weitere Mischoxidnutzung, um damit ein Signal
umfassendes Teststoppabkommen einschließlich der an die Länder zu senden, für die Plutoniumkreisläufe
freiwilligen Atomtestmoratorien, eine überzeugende noch immer Signets erstrebenswerter, reichtumver-
Realisierung von START I und START II, ein verbind- sprechender High-Tech-Gesellschaften ist?
liches Kernwaffenregister, eine Erweiterung des Sa-
feguard-Systems, den Cut-off-Vertrag. Herr Francke (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
hat diese Punkte des Vertrages hier alle schon aufge- DIE GRÜNEN)
zählt.
Warum verschärft die Bundesregierung nicht die
An der Gewichtung der Einzelmaßnahmen muß Exportkontrolle für sensible und Dual-use-Güter
- oder verteidigt nicht wenigstens die erreichten deut-
dabei erkennbar werden, daß es sich nicht um die
Stabilisierung eines in sich nicht legitimierbaren schen Standards,
atomaren Klassensystems handelt, sondern um (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Schritte zu einer Welt, die ohne Atomwaffen mehr
Frieden und Sicherheit organisiert, als das heute an- sondern unternimmt immer neue Anläufe, unter dem
gesichts von noch immer etwa 23 000 auf mindestens Deckmantel der sogenannten europäischen Harmo-
acht Länder verteilten Atomsprengköpfen möglich nisierung und unter Nutzung von äußerst fragwürdi-
ist. gen Arbeitsplatzargumenten das Kontrollregime
Schritt für Schritt aufzuweichen? Wer sich im eige-
Die Bundesrepublik Deutschland kann zu dieser nen Haus von solchem Egoismus leiten läßt, kann bei
umfassenden Absicherung eines dauerhaften Nicht- anderen nur mit gebremster Überzeugungskraft für
verbreitungssystems einiges tun. Unbestritten ist die proliferatorische Zurückhaltung werben.
konstruktive Rolle unseres Landes in der jetzigen
entscheidenden Vorphase der New Yorker Konfe- (Beifall bei der SPD)
renz, bei der es darum geht, möglichst viele Länder, Warum beweist die Bundesregierung nicht durch
auf die wir Einfluß haben, von der Notwendigkeit der einen Ausstieg aus der zivilen Nutzung der Kernen-
Unterstützung des NVV zu überzeugen. Auch der ergie und eine umfassende Anstrengung zur Etablie-
Deutsche Bundestag wird seinen Beitrag zu diesen rung modernster regenerativer Energietechnologien,
Bemühungen leisten. Als Vorsitzender des Unteraus- daß der ganze Streit um den freien Zugang zur zivi-
schusses für Abrüstung und Rüstungskontrolle kann len Kerntechnik als Entréebillet zu Modernität und
ich Ihnen mitteilen, daß wir uns gleich zu Beginn der Prosperität ein Anachronismus ist und daß das Privi-
Konferenz im April mit einer eigenen Delegation und leg der nächsten Generation die Unabhägigkeit und
mit einer deutlichen inhaltlichen Botschaft in die in- nicht die Abhängigkeit von Kernreaktoren und
ternationale Meinungsbildung einschalten wollen. Atomtechnologie sein wird?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
ten der CDU/CSU und der F.D.P.) DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1357
Gernot Erler
Das wäre eine unschätzbare Entlastung für einen wert, daß die Verifikationsproblematik überhaupt ge-
Konflikt, der immer wieder zum Hindernis für die nannt und als wichtig bewertet wird und daß die Fra-
Nichtverbreitung wird. gen nach Sanktionen angesprochen werden.
Schließlich: Warum leistet die Bundesregierung Allerdings geht der Antrag der Koalition und der
nicht einen angemessenen finanziellen Beitrag - ich SPD nicht auf Widersprüche im Vertragswerk ein. Ich
freue mich, daß Herr Kinkel jetzt gerade da ist -, um glaube - das sage ich an die SPD gerichtet -, daß die
die technischen Schwierigkeiten bei der Realisierung Problematik der Atomwaffennutzung und des nach
der atomaren Abrüstung in den Nachfolgestaaten wie vor drohenden Einsatzes von Atomwaffen zu
der Sowjetunion zu überwinden? Es ist einfach lä- wichtig ist, als daß man darauf verzichten könnte,
cherlich, wenn in den Bundeshaushalt für die Abrü- dieses Vertragswerk besser auszugestalten.
stungshilfe nur 13 Millionen DM für das Jahr 1995
eingestellt werden, Koalition und SPD erwähnen in ihrem gemeinsa-
men Antrag weder die Weigerung der Atomwaffen-
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Besser als staaten, ihre Atomwaffen vollständig abzurüsten,
nichts! Wir kämpfen für mehr!) noch wird das Kernproblem, nämlich das der zivilen
wenn man weiß, daß die Russische Föderation allein Nutzung der Atomenergie, angesprochen.
zur Erfüllung der bisher vertraglich zugesagten Ab- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das ist ein Pro
rüstungsverpflichtungen schätzungsweise 400 Mil- blem, aber nicht das Kernproblem! - Zurufe
liarden Dollar wird aufwenden müssen, von denen von der SPD)
bisher niemand weiß, woher sie kommen sollen.
- Das, lieber Gernot Erler, könnte die Antwort der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Hein GRÜNEN auf Ihre Fragen sein, die Sie soeben an die
rich Lummer [CDU/CSU]: Von der Aufrü Bundesregierung gestellt haben.
stung abziehen! - Gegenruf des Abg. Jo
seph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE Die Bundesregierung ist nicht bereit, von der zivi-
GRÜNEN]: Heinrich! Heinrich!) len Nutzung der Atomenergie abzusehen. Sie ist
nicht bereit, diese Nutzung zu beenden. Sie ist offen-
Ich komme zum Schluß: Aus der Sicht der SPD
sichtlich, genauso wie die SPD - dies sage ich, weil
heißt mehr Verantwortung in der Welt wahrnehmen,
dies heute ein gemeinsamer Antrag ist -, nicht bereit
bei dem Ziel Nonproliferation und atomare Abrü-
einzugestehen, daß es keine friedliche Nutzung von
stung mit gutem Beispiel voranzugehen, ein Vorbild
Atomenergie gibt.
zu sein
(Beifall bei der SPD) Aus den genannten Gründen ziehen wir die
Schlußfolgerung, daß der Vertrag reformiert und ver-
Im Augenblick geht es darum, alles zu tun, damit bessert werden muß, um wirksam Proliferation zu
der Nichtverbreitungsvertrag in diesem Frühjahr die verhindern bzw. einen substantiellen Abrüstungspro-
Hürde der unbefristeten Gültigkeit nimmt und zu ei- zeß zu beginnen.
ner sicheren Leitplanke aller künftigen Abrüstungs-
anstrengungen wird. - Ich möchte die Kritik der GRÜNEN am Vertrags-
werk präzisieren:
Wir werden aber noch oft Gelegenheit haben, den
Konsens auszuweiten auf weitere mutige und krea- Erstens. Das Hauptziel des Vertrages ist die Ver-
tive Schritte. Ohne diesen Konsens kann die Nonpro- hinderung der Atomwaffenproliferation. Er läßt
liferation auf Dauer nicht Bestand haben. aber die fortgesetzte Weiterentwicklung von Kern-
waffen in den Atomwaffenstaaten zu.
Ich hoffe, daß sich dann die prinzipielle Einigkeit
wiederholen läßt, die wir heute hier in der Frage des Zweitens. Die Atomwaffenstaaten haben Art. VI
Nichtverbreitungsvertrages haben. mißachtet und sind ihrer wichtigsten Verpflichtung
im Rahmen des Vertrages nicht nachgekommen,
Vielen Dank. nämlich in „redlicher Absicht" - so steht es im Ver-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne tragswerk - zu einem „baldigen Zeitpunkt" wirk-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, same Maßnahmen auszuhandeln, um das nukleare
der F.D.P. und der PDS) Wettrüsten zu stoppen und ihre Atomarsenale abzu-
rüsten. Wenn man den Vertrag wörtlich nimmt, kann
man daraus schließen, daß die unterzeichnenden
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste hat das Atomwaffenstaaten den Vertrag gebrochen haben.
Wort Angelika Beer. Dies läßt sich daran aufzeigen, daß die Zahl der
(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Diese Atomwaffen - Gernot Erler hat es vorhin genannt -
Rede können Sie sofort zu Protokoll geben seit 1970 zugenommen und nicht abgenommen hat.
und dann zustimmen!)
Drittens. Atomwaffenstaaten, die bei der Entwick-
lung von Atomwaffen zusammenarbeiten, werden
Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ver- ebensowenig mit Sanktionen belegt, wie die Ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, den die tragsverletzungen von Art. VI durch die Atomwaf-
Koalition und die SPD einbringen, hat positive fenstaaten selbst mit Sanktionen belegt werden. Dies
Aspekte. Das wollen wir überhaupt nicht bestreiten. ist ein Punkt des Vertragswerkes, der verbesserungs-
Zum Beispiel halten wir es für sehr unterstützens- würdig ist.
1358 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Angelika Beer
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Probleme Gernot Erler, Sie haben unsere Bedenken bestä-
im Zusammenhang mit dem Vertrag müssen besei- tigt. Sie sollten sich in den Ausschußberatungen über
tigt werden, damit die Unterzeichnung durch mög- beide Anträge überlegen, ob nicht unser Antrag zu-
lichst viele Staaten gesichert ist und ein besserer Ver- treffender ist als der der Koalition.
trag zustandekommt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aber es ist nicht nur die Unvollkommenheit des sowie bei Abgeordneten der PDS)
NVV, die wir kritisieren und die zu Problemen führt.
Im zurückliegenden Verhandlungsprozeß hat die
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Nächster Redner
Bundesregierung versucht, sich verschiedene Optio-
ist der Kollege Olaf Feldmann.
nen für Atomwaffen offenzuhalten. Auf die Frage
nach einem Verzicht auf nationale Optionen hat die
Bundesregierung bis heute keine Antwort gegeben. Dr. Olaf Feldmann (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine
Der Verzicht im Zwei-plus-Vier-Vertrag ist eine Be- sehr verehrten Damen und Herren! Die Frage der
kräftigung des Verzichtes Adenauers. Dieser wie- Nichtverbreitung von Kernwaffen ist eines der drän-
derum ist an die inzwischen ohnehin schon beendete gendsten Probleme der internationalen Politik. Wir
Kontrolle deutscher Militärmacht durch die WEU ge- haben uns schon wiederholt hier im Deutschen Bun-
bunden. Das heißt: Wenn die WEU in die GASP auf- destag damit befaßt.
gelöst werden sollte, hat der Verzicht auf Atomwaf-
fen seine Grundlage verloren. Frau Kollegin Beer, Sie waren in der letzten Zeit
hier nicht dabei. Nehmen Sie daher zur Kenntnis:
Wenn „mensch" sich überlegt, für wie unwahr- Die Bundesregierung hat für Deutschland mehrfach
scheinlich wir alle es noch vor einigen Jahren gehal- klipp und klar auf Herstellung, Besitz und Gebrauch
ten haben, daß Out-of-area-Optionen durchgesetzt von Atomwaffen verzichtet. Das, was Sie ihr immer
werden, die inzwischen verfassungsrechtlich abgesi- wieder vorwerfen, ist unfair und falsch.
chert sind, sollte „mensch" dem jetzigen „Konsens"
zwischen SPD und Regierung hinsichtlich des Ver- (Beifall bei der F.D.P.)
zichts auf nukleare Teilhabe nicht allzusehr ver-
Die F.D.P. begrüßt, daß die Proliferationsthematik
trauen. Nicht nur Greenpeace warnt davor, daß
auch für die Bundesregierung erheblich an Bedeu-
Deutschland eine Atommacht im Wartestand ist. Ein
tung gewonnen hat. Das zeigt die Zehnpunkteinitia-
Mitarbeiter des US-amerikanischen, regierungsna- tive von Außenminister Kinkel, das zeigt auch seine
hen Think tanks bezeichnet Deutschland als „virtu- Teilnahme an der heutigen Debatte. Die Bundesre-
elle Atommacht".
publik nimmt als führende westliche Industrienation
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das ist falsch!) und zugleich Nichtkernwaffenstaat eine wichtige
Mittlerrolle ein. Das wurde bereits von einigen Kolle-
Der Verdacht, daß die Bundesregierung eine Option gen erwähnt.
auf Atomwaffen oder zumindest eine nukleare Teil-
habe erreichen möchte, erscheint uns durchaus be- Trotz der Kritik möchte ich hier feststellen: Der
rechtigt. Atomwaffensperrvertrag hat zu einer wesentlichen
- Verbesserung der qualitativen wie quantitativen Rü-
Wir setzen dem eine grundsätzliche Forderung ent- stungskontrolle im Nuklearbereich geführt. Bereits
gegen, die nicht nur mit dem Vertragswerk des NVV 171 Staaten sind heute Mitglied des NVV. Weitere
zu tun hat. Wir halten es für notwendig, daß Deutsch- haben ihre Aufnahme in die Wege geleitet.
land in der jetzigen verantwortlichen politischen Po-
sition eigene, national umsetzbare Maßnahmen er- Natürlich gibt es Probleme: Die Verlängerung des
greift. Das heißt: Wir fordern den grundgesetzlich NVV ist noch nicht gesichert. Viele Staaten machen
verankerten Verzicht auf Besitz von und Verfü- sie von Fortschritten beim Teststopp abhängig. Hier
gungsgewalt über Atomwaffen. sind die Atommächte gefordert - Herr Kollege
Francke hat bereits darauf hingewiesen -, vor allem
Dieser nationale Schritt ist verbunden mit unserer China. Ich habe mich schon seit langem und immer
Forderung, daß Sie sich innerhalb der NATO dafür wieder für den sofortigen Stopp aller Atomtests aus-
einsetzen, eine international vertrauensvolle Atmo- gesprochen. Gemeinsam haben wir hier 1993 eine
sphäre zu schaffen, in der die NATO, der wir angehö- Allparteienentschließung für dieses Ziel gefaßt.
ren, als Verteidigungsbündnis sofort und definitiv
darauf verzichtet, Atomwaffen als erste einzusetzen. Wie auch die Vorredner begrüßt die F.D.P. die Ver-
Dieser Schritt würde sehr viel mehr Sicherheit schaf- längerung der freiwilligen Atomtestmoratorien der
fen als das Beharren auf einem unveränderten Ver- USA, Frankreichs und Rußlands. Diese müssen aber
trag, der ganz wesentliche Lücken, wie aufgezeigt, auch weiterhin, über 1995 und 1996 hinaus, Geltung
beinhaltet. behalten. Vor allem China, das sich dieser Politik
noch verschließt, muß mil Nachdruck überzeugt wer-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den, sich den Testmoratorien anzuschließen.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ziel bleibt: Die Genfer Verhandlungen müssen zu
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Aspekt der einem umfassenden, verifizierbaren Teststoppab-
zivilen Nutzung der Kernenergie, der in Ihrem ge- kommen führen.
meinsamen Antrag leider mit keinem Wort erwähnt
wird, wird in unserem zweiten Beitrag durch meinen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Kollegen Ludger Volmer erläutert werden. ten der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1359
Dr. Olaf Feldmann
Ein weiteres zentrales Problem ist die Frage der Si- auf 13 Millionen DM erhöht wurde. Wir können uns
cherheitsgarantien für die Nichtkernwaffenstaaten. ja gemeinsam mit der Union für eine Verdoppelung
Ich stimme dem Kollegen Francke zu: Die Atom- einsetzen. Das würde der Sache wirklich guttun.
mächte sollten sich zu solchen Garantien durchrin- Diese Millionen - da stimmen wir, glaube ich, über-
gen. Sie tragen hier eine besondere Verantwortung. ein - können uns helfen, im Verteidigungsbereich
Denn der Verzicht auf Kernwaffen darf nicht mit we- Milliarden zu sparen. Investitionen in die Abrüstung
niger Sicherheit, sondern muß mit mehr Sicherheit sind Investitionen in unsere eigene Sicherheit.
verbunden sein. Dies erhöht die Attraktivität des
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
NVV.
ten der CDU/CSU und des Abg. Gernot Er
Dazu gehört auch die Schaffung eines Kernwaffen ler [SPD])
registers. Eine Dokumentation der weltweiten Kern-
Abrüstungshilfe ist ein wesentlicher Bestandteil un-
waffenbestände durch die Vereinten Nationen würde
serer Abrüstungspolitik. Langfristiges Ziel bleibt eine
das Vertrauen in die nukleare Abrüstung stärken.
atomwaffenfreie Welt.
Auch das Kontrollregime muß effizienter gestaltet
Ich möchte zum Schluß feststellen: Der NVV und
werden. Eine Ausweitung der Inspektionsrechte der
die dazugehörigen Kontrollregime sind noch lange
IAEO ist unabdingbar. Die IAEO muß personell, aber
nicht vollkommen. Insofern haben Sie natürlich
auch finanziell besser ausgestattet werden, auch
recht, Frau Beer. Das Thema ist aber sehr komplex
wenn dies mehr kostet. Dies sind Investitionen in un-
und läßt sich hier nicht mit großen Worten abtun.
sere eigene Sicherheit.
Fortschritte sind eben nur durch eine Politik der be-
(Beifall bei der F.D.P.) hutsamen, kleinen, aber stetigen Schritte zu errei-
chen. Eine weltweit akzeptierte Nuklearordnung
Ich meine, die große Verantwortung der Nuklear- kann nur das Ergebnis einer klugen, vorausschauen-
mächte sollte auch bei der Finanzierung noch deutli-
den Zusammenarbeit der Staaten sein, die nuklear-
cher werden.
politisch besondere Verantwortung tragen. Es gibt
Der Versuch von Nichtkernwaffenstaa ten , sich keine realistische Alternative zur international ver-
Atomwaffen zu verschaffen, wird zunehmend als Be- einbarten, garantierten und kontrollierten Politik der
drohung des Weltfriedens und damit als Verstoß ge- Nichtverbreitung von Atomwaffen.
gen die UN-Charta angesehen. Die entsprechende
Vielen Dank.
Resolution des UN-Sicherheitsrates muß weiterent-
wickelt werden. Das Beispiel Nordkoreas hat die Ri- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so
siken deutlich gezeigt. Nukleare Proliferation muß wie bei Abgeordneten der SPD - Gernot Er
als Bedrohung des Weltfriedens konsequent mit ler [SPD]: Olaf, du kommst uns immer nä
empfindlichen Sanktionen geahndet werden. her!)
Der NVV hat einen globalen Anspruch: Neben der
Verlängerung und qualitativen Verbesserung ist Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht
auch eine Ausweitung nötig. In Südamerika zeichnet die Abgeordnete Andrea Lederer.
- möchte ex-
sich eine erfreuliche Entwicklung ab; ich
tra darauf hinweisen. Wir begrüßen ausdrücklich den Andrea Lederer (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kol-
kürzlich erfolgten Beitritt von Argentinien. Wie be- leginnen und Kollegen! Der Atomwaffensperrver-
reits erwähnt, geben auf der anderen Seite Indien, trag war und ist ein Vertrag auf Gegenseitigkeit. Die
Pakistan, aber auch Israel Anlaß zur Sorge. Wir müs- Nichtatomwaffenstaaten erklärten in Art. II ihre Be-
sen da noch große Anstrengungen unternehmen, reitschaft, auf Kernwaffen oder die Verfügungsge-
diese, aber auch andere Staaten zum Beitritt zum walt darüber zu verzichten, die Atomwaffenstaaten
NVV zu gewinnen. in Art. VI ihre Bereitschaft, nuklear abzurüsten und
in Verhandlungen über einen Vertrag zur allgemei-
Dazu kann - entgegen Ihren Vorstellungen, Frau
nen und vollständigen Abrüstung unter strenger und
Beer - auch die wissenschaftliche Kooperation bei
der zivilen Nutzung der Kernenergie beitragen. wirksamer internationaler Kontrolle einzutreten.
Mehrfach - da kann ich mich meiner Kollegin Ange-
Frau Beer, die nicht diskriminierende internationale
lika Beer anschließen - ist hier erwähnt worden: Es
Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung der
sind auch die Atomwaffenbesitzer, die gegen ihren
Kernenergie ist ausdrücklich in Art. IV des NVV ga-
Teil der Verpflichtung verstoßen haben. Noch heute
rantiert. Es ist eben die militärische Nutzung und
kann keine Rede davon sein, daß ernsthaft über eine
nicht die zivile Forschung und Nutzung, die ge-
allgemeine und vollständige Abrüstung verhandelt
bremst werden sollen. Zwischen diesen beiden Punk-
und - vor allem - diese umgesetzt wird. Das zeigt,
ten besteht kein Widerspruch, wie Sie meinen, son-
daß die Atomwaffenstaaten nach wie vor nicht bereit
dern sie ergänzen sich. Insofern ist Ihre Kritik unge-
rechtfertigt und überzogen, Frau Beer. sind, auf dieses Teufelszeug ein für allemal und kom-
plett zu verzichten.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
So sehr die Abrüstungsverträge zu begrüßen sind,
Einen wichtigen Beitrag zur Begrenzung der Proli- so zeigen sie auch, welche wahnwitzigen Potentiale
feration leistet auch die vom Kollegen Erler bereits in der Zeit des Kalten Krieges aufgehäuft wurden
erwähnte Abrüstungshilfe. Herr Erler, Sie werden und daß der verbleibende Rest, vor allem künftige
verstehen, daß die F.D.P. es begrüßt, daß der Titel Atomwaffen, modernisiert und „effektiviert" werden
„Abrüstungshilfe" im Etat des Auswärtigen Amtes soll. Die verbleibenden Atomwaffen reichen aus, um
1360 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Andrea Lederer
die Welt mehrmals zu vernichten. Deshalb sind wir Die Frage nach der Rolle der französischen und
der Auffassung, daß es dringend notwendig ist, in re- britischen Atomwaffen im Rahmen einer euro-
gelmäßigen Abständen international zu kontrollie- päischen „Sicherheitsunion" stand im Mittelpunkt
ren, wie es um die Umsetzung des Vertrages steht. - eines Berichts des WEU-Verteidigungsausschusses
Ich komme gleich noch auf die Problematik einer Be- im Mai 1994. Darin wird problematisiert - Zitat -:
fristung oder einer nicht bef risteten Verlängerung
In diesem Zusammenhang
zurück.
- gemeint ist die Glaubwürdigkeit der US-Atomwaf-
Es bedarf der Weiterentwicklung und Verbesse- fengarantie -
rung des Atomwaffensperrvertrages. Es bedarf vor
allem der Aufgabe jeglicher bundesdeutscher Vor- muß für Deutschland eine glaubwürdige atomare
behalte. Ich will noch einmal darauf eingehen: Es ist Abschreckung gewährleistet werden, damit es
festgeschrieben worden, daß Deutschland von „kei- sich nicht gezwungen sieht, seine eigene atomare
ner Entwicklung in der Kernforschung" ausgeschlos- Abschreckung aufzubauen.
sen bleiben soll. Die Entwicklung solcher Technolo-
gien impliziert eben auch eine Entwicklung in militä- Und weiter:
rischer Hinsicht. Es ist 1975 seitens der Bundesregie- Eine auf Frankreich und Großbritannien be-
rung erklärt worden, daß keine Auslegung des Ver- schränkte atomare Zusammenarbeit könnte von
trages die weitere Entwicklung der Europäischen Deutschland als eine Kraft wahrgenommen wer-
Union behindern darf. den, die es auszubalancieren gilt, und es gäbe
starke Widerstände gegen eine solche Zusam-
(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das ist
menarbeit, wenn die Deutschen nicht in der ei-
richtig und notwendig!)
nen oder anderen Weise zur Beteiligung eingela-
- Ich komme gleich noch einmal auf diesen proble- den würden.
matischen Punkt zurück. Diese Schlußfolgerung aus der derzeitigen Situation
Der Vertrag enthält das Paradoxon, daß er einer- wurde 1994 im WEU-Verteidigungsausschuß gezo-
seits - zu Recht - die Proliferation verhindern will, gen.
aber andererseits die Förderung der sogenannten Diese Einschätzung kommt nicht von ungefähr. Ich
friedlichen Nutzung der Kernenergie vorsieht. Nur: will die Öffentlichkeit ergänzend auf folgende Äuße-
Wer die Entwicklung einer Atomwirtschaft zuläßt, rung des Kollegen Lamers vom 10. März 1991 auf-
versetzt solche Staaten über kurz oder lang, je nach merksam machen - Zitat -:
Uta Zapf
duktionsverbot für waffenfähiges Spaltmaterial er- Ich weise hier nochmals auf unsere Forderung
zielt werden, so wird diese Forderung jetzt von Ihnen nach Einrichtung eines Fonds zur Förderung alter-
mitgetragen. Ich nehme an, daß Sie von der Kinkel nativer und erneuerbarer Energien bei der UNO
Initiative inspiriert sind, und diese scheint mir wie- hin, um Entwicklungsländern eine Alternative zur
derum von der Clinton-Administration inspiriert zu Kernenergie zu bieten. Dies wäre ein wesentlicher
sein. Wir begrüßen diese Sinnesänderung ausdrück- Beitrag zur Verhinderung der Weiterverbreitung.
lich.
Ich will noch eine Anmerkung zum Punkt 6 des
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Antrags, zu den Sanktionen, machen. Natürlich
macht ein Nichtweiterverbreitungsregime ohne
Sorge bereitet allerdings in diesem Zusammen-
Sanktionen keinen Sinn. Aber, meine Damen und
hang, daß die USA eine neue Tritium-Fabrik bauen
Herren, ich sage hier noch einmal ganz ausdrücklich:
wollen. Ein Produktionsstopp allein beendet ja noch
Gedankenspielereien über präventive militärische
nicht die Gefahr des Baus neuer Nuklearwaffen,
Schläge oder Counterproliferation, d. h. militärische
denn die vorhandenen Vorräte reichen bis in das
Optionen lehnen wir ab. Wir sind in dieser Hinsicht
Jahr 2012.
auch nicht mit dem einverstanden, was in der Zehn-
Auch die Forderung nach Einrichtung eines Kon- Punkte-Initiative ausgeführt worden ist.
trollregisters für Atomwaffen und von internationa- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Nicht einver
len Überwachungsmaßnahmen bei der Abrüstung ist standen? Das ist schade!)
ein erfreulicher Fortschritt. Dennoch bleibt unsere
Forderung bestehen, solche Waffen weiterhin inter- - Nicht einverstanden mit diesem Punkt der militäri-
nationaler Überwachung zu unterstellen. Dies ist schen Optionen bei Sanktionen.
auch in dem neuen Antrag nicht enthalten, obwohl
Allerdings muß ein Sanktionssystem ausgebaut
Herr Dregger diese Position ganz offensichtlich teilt.
werden; denn wir sehen ja, daß Sanktionen sinnlos
Ein weiterer Dissens, den ich für wichtig halte, sind, wenn sie durchlöchert werden. Wir sehen es bei
bleibt: Die SPD fordert nach wie vor den freiwilligen Jugoslawien, und wir haben es auch anderswo gese-
Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf die hen. Damit sind wir einverstanden, nur müssen es zi-
Nutzung sensitiver Nukleartechnologien wie Wie- vile Mittel sein, bis hin zur völligen wirtschaftlichen
derverarbeitung und Plutoniumnutzung. Wir brau- und anderen Isolation von Staaten.
chen diese Technologien nicht. Sie sind weder wirt- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Aber sonst ist
schaftlich noch vernünftig. die Zehn-Punkte-Initiative gut?)
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph - Sie wissen, daß ich selbst und auch die SPD für die
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ militärische Überwachung von Embargos plädieren.
NEN]) Das wäre ja ein militärischer Schritt, aber kein militä-
rischer Schlag, wie er in den Gedankenspielen der
Ein freiwilliger Verzicht würde ein positives Signal Zehn-Punkte-Initiative enthalten ist. Das ist ein ganz,
sein. Wir können doch nur wünschen, daß
- diese am- ganz wichtiger Unterschied.
bivalente zivilmilitärische Kerntechnologie insge-
samt eingestellt wird, um Proliferationsängste zu Die SPD hat z. B. auch dazu Vorschläge gemacht,
mindern. Wir wollen keine Kernwaffenoptionen of- daß gegenüber Sanktionsbrechern Sanktionen er-
fenhalten. Ein Verzicht würde unsere Glaubwürdig- griffen werden müssen, daß es einen Fonds geben
keit steigern. muß, um diejenigen, die unter Sanktionen wirtschaft-
lich leiden, mit Kompensationen versehen zu kön-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph nen. Denn ich kann ja wohl nicht erwarten, daß je-
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ mand, der wirtschaftlich über die Wupper geht, nicht
NEN]) den Gelüsten erliegt, solche Sanktionen zu durchbre-
chen.
Wir dürfen doch nicht glauben, daß es keine Proli-
ferationsängste mehr gegenüber der Bundesrepublik Meine Damen und Herren, wir werden sicher noch
Deutschland gibt, nachdem Deutschland den Vertrag weiter über die Verbesserung des Nichtverbreitungs-
nur unter dem Vorbehalt unterzeichnet hat, daß er regimes diskutieren. Die Diskussion muß weiterge-
nur so lange für die Bundesrepublik Gültigkeit habe, hen; sie wird weitergehen, weil der Atomwaffen-
wie es keine europäische Verteidigung gibt, die dann sperrvertrag nur dann Bestand haben wird, wenn bei
zwangsläufig auch nuklear sei. der Abrüstung und Kontrolle weitere Fortschritte ge-
macht werden. Trotz aller Mängel des Vertrages
Noch ist auch die heftige Debatte über atomare stelle ich fest: Er ist ein guter Vertrag, der wesentlich
Teilhabe in der Mitte der achtziger Jahre in Erinne- dazu beigetragen hat, Proliferation zu verhindern.
rung, die im Zusammenhang mit einer europäischen
Option stand, Herr Feldmann - um wieder auf die Ich danke Ihnen.
französischen Sozialisten zu kommen. Damals war es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
der Generalsekretär der französischen Sozialisten, ten der CDU/CSU und der F.D.P.)
der bejammert hat, daß Deutschland nicht in die
atomare Option einbezogen ist. Der im Zwei-plus-
Vier-Vertrag ausgesprochene Verzicht mag die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt
Ängste lindern, aber nicht ganz beseitigen. der Abgeordnete Ludger Volmer.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1367
Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau um dort die MOX-Technologie anzudienen, worauf
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es ein- ein anderer Minister dorthin reisen mußte, um sich
mal ganz klar zu sagen: Wenn wir den vorliegenden über den Plutoniumschmuggel zu beschweren. Der
Vertrag kritisieren, weil er uns nicht hinreichend er- Plutoniumschmuggel ist das Problem der Zukunft.
scheint, so möchte ich dennoch erklären: An uns Wir müssen dafür sorgen, daß die Handelswege un-
wird die Ratifizierung der Verlängerung nicht schei- terbrochen und die Produktion gestoppt wird. Auch
tern. Das ist völlig selbstverständlich. dann, wenn auf internationaler Ebene nichts durch-
zusetzen ist, kann die Bundesregierung mit einseiti-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen Maßnahmen vorangehen.
sowie bei Abgeordneten der PDS)
Wir fordern Sie auf: Machen Sie Ihre Haltung da-
Nur meinen wir: Die Probleme, die es in diesem durch glaubwürdig, daß Sie die Plutonium-Wirt-
Vertrag gibt, müssen auf internationaler Ebene ein- schaft in der Bundesrepublik sofort unterbinden.
mal thematisiert werden können, damit wir der Lö- Stoppen Sie die Planung von Garching; stoppen Sie
sung der Probleme näherkommen. die MOX-Anlagen in Hessen. Liefern Sie die deut-
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das wollen wir schen Plutoniumvorräte an ein internationales Über-
doch auch!) wachungsregime aus. Das sind die Möglichkeiten,
die Sie jetzt schon wahrnehmen können. Nehmen
Ich behaupte, Herr Erler - darin unterscheiden sich Sie die Gelegenheit wahr, in letzter Minute für die
unsere Auffassungen -, daß die sogenannte zivile Berliner Energiekonferenz Vorschläge vorzubereiten,
Nutzung der Atomkraft - das ist natürlich nicht un- wie man ohne Plutonium, ohne die sogenannte zivile
wichtig - kein Randproblem ist, sondern eines der Nutzung der Atomkraft Energie zur Verfügung stel-
Kernprobleme ist und eines der Zukunftsprobleme len kann.
sein wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)
sowie bei Abgeordneten der PDS)
Daß so etwas geht, ist bewiesen worden. Daß so et-
Denn die Hauptgefährdung im atomaren Bereich was einseitig geht, ist ebenfalls bewiesen worden.
wird sich nicht mehr dadurch ergeben, daß die hoch-
gerüsteten Blocksysteme irgendwelchen Drittstaaten Dafür, daß sie gegen die aggressive Wirtschafts-
Atomwaffen übergeben, um ihre eigene Machtposi- politik der Firma Siemens alles darangesetzt haben,
tion auszubauen, sondern die Gefährdung wird darin die Produktion dieses fürchterlichen Teufelszeugs
liegen, daß sehr viele kleinere Staaten und sehr viele und Bombenstoffs in den Atomfabriken von Hanau
kriegslüsterne Despoten sich Atomwaffen auf dem möglichst zu behindern und einzudämmen, sollte
freien Markt verschaffen können. Der freie Markt für nicht nur die hessische Bevölkerung, sondern auch
Plutonium ist das Problem der Zukunft. Das muß die Bevölkerung in der ganzen Bundesrepublik der
man ins Auge fassen, wenn man die Nichtverbrei- hessischen Landesregierung und insbesondere den
tung von Atomwaffen durchsetzen möchte. grünen Umweltministern danken.
-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der PDS) sowie bei Abgeordneten der PDS)
Dr. Klaus Kinkel (F.D.P.): Nein! Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich schließe die
(Lachen bei der SPD) Aussprache.
- Das Plenum nimmt ja auch auf mich - ich verstehe Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen
-
das - vor den Abstimmungen keine Rücksicht. auf den Drucksachen 13/398, 13/537 und 13/429 an
die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse vor-
(Uta Zapf [SPD]: Das ist allerdings richtig!) geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann
verfahren wir so.
Zweitens. Wir halten es für sehr wichtig, daß noch
vor Beginn der NVV-Konferenz in New York hin-
sichtlich der Sicherheitsgarantien für Nichtkernwaf- Ich rufe die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
fenstaaten eine zufriedenstellende Lösung gefunden ZP2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
wird.
Bestimmung des Verfahrens für die Berech-
(Zuruf von der SPD) nung der Stellenanteile
- Ich diskutiere nachher gerne mit Ihnen. - Drucksache 13/547 -
Drittens: Abschluß eines nuklearen Teststoppver- ZP3 Beratung des Antrags der Fraktionen der
trags möglichst noch 1995. CDU/CSU und F.D.P.
Viertens. Auch die Arbeiten an einem Verbot der Wahlverfahren von Gremien
Produktion von Spaltmaterial der Kernwaffen oder
anderer Kernsprengkörper müssen vorangetrieben - Drucksache 13/542 -
werden. Die Verabschiedung des Verhandlungsman-
Bevor wir zur Wahl der Mitglieder der Gremien
dats ist jetzt dringlich. kommen, müssen wir das Verfahren zur Berechnung
Fünftens. Wie ich in meiner Zehn-Punkte-Initiative der Stellenanteile beschließen. Dazu liegen ein An-
gefordert habe, sollen das aus der Abrüstung freiwer- trag der Fraktion der SPD sowie ein Antrag der Frak-
dende Kernmaterial sowie das Kernmaterial, das bis- tionen der CDU/CSU und der F.D.P. vor.
her in Nicht-NVV-Staaten nicht kontrolliert wurde,
Interfraktionell ist für die Aussprache eine Fünf-
den Sicherungsmaßnahmen der IAEO unterstellt
Minuten-Runde vereinbart worden. - Ich sehe und
werden.
höre auch dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) wir so.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1371
(Gernot Erler [SPD]: Weiß der Wähler das?) - Ich habe dies natürlich nicht positiv gemeint.
1372 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Das ist übrigens auch am 24. November 1994 von Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster Wer-
allen Fraktionen des Deutschen Bundestages so be- ner Schulz.
schlossen worden. Es war eine konsequente Ent-
scheidung, dieses Berechnungsverfahren anzuwen- Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
den, das die kleinen Fraktionen bevorzugt, wenn- NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
gleich ich mir als Mitglied einer großen Fraktion vor- Die Vertretung und Mitwirkung der PDS im Vermitt-
stellen kann, ein anderes Verfahren anzuwenden. lungsausschuß - darum geht es ja vor allen Dingen -
Aber ich weiß, daß Sie in der Pflicht gegenüber den ist keine Frage des Zählverfahrens, sondern eine
ganz Kleinen sind. Wir waren auch einmal in solchen Frage des politischen Willens. Meine Fraktion will,
Pflichten, das möchte ich nicht verschweigen. daß die Gruppe der PDS volle parlamentarische
Rechte und volle Arbeitsmöglichkeiten erhält, d. h.
Ein Verfahren, das uns bevorzugt, würde mir schon auch Mitwirkung in allen Gremien, einschließlich
sehr gefallen. Allerdings haben wir etwas anderes Vermittlungsausschuß.
beschlossen. Dabei sollten wir dann gefälligst auch
bleiben. Eines darf nicht passieren, daß nämlich im- Die PDS ist in allen ostdeutschen Landtagen ver-
mer dann, wenn ein solches Zählverfahren zu einem treten. Das ist Fakt. Die PDS ist fast in Fraktions-
Ihnen politisch unliebsamen Ergebnis führt, Sie sich stärke im Bundestag vertreten. Auch das ist Fakt. Wir
ein anderes Verfahren ausdenken. So geht das nicht. sind der Meinung, daß man unverkrampft mit Fakten
umgehen sollte.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der PDS)
Sie setzen sich über schwere rechtliche Bedenken
hinweg. Denn es ist wichtig, daß die PDS dort dabei ist, wo
die schwierigen Probleme des Zusammenwachsens
Die CDU/CSU verliert einen Sitz im Vermittlungs- diskutiert und entschieden werden. Sie ist längst
ausschuß. Das ist genau der Grund, warum Sie sa- schon selbst ein Vermittlungsfall geworden.
gen: Jetzt müssen wir einmal anders rechnen, und
zwar so, daß wir unseren Sitz behalten. (Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
NEN)
Dabei ist es im Grunde völlig egal, ob Sie acht oder
Denn sie hat das Kunststück vollbracht, problemlos
sieben Bundestagsabgeordnete im Vermittlungsaus-
- aus der führenden Rolle in die Märtyrerrolle zu
schuß haben. Es ist verlorene Liebesmühe, darum zu
schlüpfen.
kämpfen; denn - das sage ich mit Stolz - die Wähler
in Bund und Ländern haben dafür gesorgt, daß die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
SPD - egal, ob die CDU/CSU acht oder sieben Mit- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
glieder in den Vermittlungsausschuß entsendet - dort SPD und der F.D.P.)
immer eine deutliche Mehrheit hat.
Wir sollten sie aus diesem Schmollwinkel herausho-
(Beifall bei der SPD) len, weil ihr sonst die Perspektive auf die Pflicht der
Wiedergutmachung verstellt wird.
Sie schaffen mit Ihrem Verfahren nur ein Kuddel-
muddel und ein Durcheinander. Aber das ist ja ohne- Die PDS schindet Mitleid heraus und findet damit
hin ein Kennzeichen Ihrer Regierungspolitik. Zustimmung. Ich glaube, wir sollten sie - das sage
ich an die Mehrheitsfraktionen der Koalition - in die
(Beifall bei der SPD - Lachen bei der CDU/ Pflicht der Mitarbeit nehmen; denn weder das Zähl-
CSU) verfahren nach St. Lague-Schepers noch nach
d'Hondt kann diesen Konflikt zwischen Widerspiege-
Wir sagen deshalb: Es muß bei einem einheitlichen lung der Mehrheitsverhältnisse und der Repräsen-
Verfahren bleiben. Diese Entscheidung ist nicht will- tanz aller politischen Kräfte im Parlament auflösen.
kürlich, sondern folgt einem Prinzip: Das Verfahren,
das beschlossen worden ist, muß gelten, selbst wenn Hier ist meine Frage an die PDS: Wo ist eigentlich
einem dann die Besetzung von Gremien politisch Ihr Antrag auf ein Grundmandat? Das wäre die Lö-
nicht genehm ist. sung des Konfliktes; diesen Antrag müssen Sie stel-
len.
Ich will Ihnen noch einen letzten Satz sagen, Herr
Kollege Hörster: Mir gefällt auch nicht, daß dann der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vertreter einer Gruppe in den Vermittlungsausschuß Wie man das macht, haben wir Ihnen bei der Wahl
käme. Aber ich bin dann schon der Auffassung: der Vizepräsidenten gezeigt.
Wenn man ein Prinzip hat, muß man sich ungeachtet
dessen, ob einem jemand, der in der Sitzung dabei- (Lachen bei der SPD)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1373
Werner Schulz (Berlin)
Ich glaube, Sie müssen sich noch stärker in die parla- richt stellt also klar fest: Die Mehrheit im Plenum
mentarische Arbeit knien. muß auch die Mehrheit in den Ausschüssen sein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
sowie bei Abgeordneten der SPD) Zu dem gleichen Ergebnis kommt im übrigen ein
Gutachten der Bundestagsverwaltung, das insbeson-
dere auf eine Monographie zum Vermittlungsaus-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster der
schuß hinweist. Ein genaues Zitat möchte ich mir ver-
Kollege Jörg van Essen.
kneifen, da die Formulierung so juristisch ausgefal-
len ist, daß es erst einer Übersetzung ins Deutsche
Jörg van Essen (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine bedürfte. Aber der Gedanke, der dabei geäußert
Damen und Herren! Für die F.D.P. sind in dieser De- worden ist, ist einleuchtend: Zum Demokratieprin-
batte zwei Dinge festzuhalten: Erstens. Wir sind für zip gehört auch das Mehrheitsprinzip. Deshalb
eine politische Auseinandersetzung mit der PDS und kommt diese wissenschaftliche Arbeit zu dem Ergeb-
gegen alle Versuche, sie mit Tricks und dergleichen nis, daß der Bundestag nicht gezwungen werden
aus dem normalen politischen und parlamentari- kann, bei der Besetzung des politisch so bedeutsa-
schen Leben herauszuhalten. men Vermittlungsausschusses auf eine Abbildung
seiner Mehrheitsverhältnisse, hier also der Mehrheit
(Zuruf von von der SPD: Aber!) der Koalition, zu verzichten.
Ich habe mich deshalb in der Runde der parlamen- Daß das eine die Regel und das andere die Aus-
tarischen Geschäftsführer von Anfang an dafür ein- nahme ist, ergibt sich im übrigen auch aus der heuti-
gesetzt, daß auch die PDS im Gemeinsamen Aus- gen Gremienwahl. Lediglich drei Wahlen erfolgen
nach dem Wahlverfahren dort - wir haben im übri-
schuß nach Art. 53a des Grundgesetzes einen Sitz er-
halten wird, obwohl dieser Artikel des Grundgeset- gen schon Gremien nach diesem Wahlverfahren be-
zes ausdrücklich nur von Fraktionen spricht, die Ver- setzt -, aber sieben nach dem Verfahren St. Lague-
treter in das Notparlament entsenden. Schepers. Wir als F.D.P. werden sorgfältig darauf ach-
ten, daß es bei der Regel, also bei St. Lague-Schepers
Ich habe mich auch dafür eingesetzt, daß die PDS bleibt.
im Wahlprüfungsausschuß eine beratende Stimme Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem Vorschlag der
erhält, und zwar schon deshalb, weil der wichtigste Koalition.
Wahlprüfungsfall in besonderer Weise die PDS tan-
giert. Für das immer wieder aufgeführte Rührstück Herzlichen Dank.
„ungerechtfertigte Benachteiligung der PDS" fehlt
damit wirklich jede Grundlage. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Eine Differenzierung der Zählwerte für die einzel- (Beifall bei der PDS)
nen Fraktionen oder Gruppen mag durchaus verfas-
sungsgemäß sein, wenn sie sich nicht vermeiden läßt
und auch sachlich gerechtfertigt ist. Das von der SPD Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich schließe die
beantragte Zählverfahren weist bei dieser Differen- Aussprache.
zierung die geringsten Nachteile und Abweichungen
gegenüber den anderen Zählverfahren, gerade auch Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den
gegenüber d'Hondt auf. Es hat sich jahrelang be- Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/547.
währt. Und jetzt will die Regierungskoalition auf die Es ist namentliche Abstimmung verlangt worden. Ich
Fälle von d'Hondt zurückgreifen, wo sie mit Sche- weise darauf hin, daß Sie nur die neuen Plastikkar-
pers keine Mehrheit in den heute zu wählenden Gre- ten der 13. Wahlperiode verwenden dürfen. Alle an-
mien mehr behält. Mit d'Hondt will sie sich den Sitz deren sind ungültig.
aneignen, den die Abgeordneten der PDS mit Sche-
pers im Vermittlungsausschuß und im Regulierungs- Außerdem möchte ich Sie vor der Eröffnung der
beirat erhalten würden. Dagegen sprechen wir uns Abstimmung dringend bitten, daß Sie nach der na-
aus. mentlichen Abstimmung nicht den Saal verlassen,
(Beifall bei der PDS) weil danach eine Reihe von weiteren Abstimmun-
gen, zu der volle Präsenz erforderlich ist, stattfin-
Die CDU/CSU will damit erreichen, daß die PDS den.
aus wichtigen Bundestagsgremien herausgehalten
wird, und würde damit gleichzeitig erreichen, daß sie Ich eröffne die Abstimmung. -
sich in den genannten Gremien eine überproportio-
nale Mehrheit aneignet, die ihr gar nicht zusteht. Im Ist noch jemand im Hause, der seine Stimme nicht
Vermittlungsausschuß würde sie eine Mehrheit von abgegeben hat? - Haben jetzt alle ihre Stimme abge-
neun zu sieben erhalten, eine weitaus deutlichere geben? Kann ich die Abstimmung schließen? - Damit
Mehrheit als sie sie im Bundestag hat. schließe ich den Abstimmungsvorgang und bitte die
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis
(Beifall bei Abgeordneten der PDS) zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen
Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Berücksichtigt man noch die höchst zweifelhaften
Überhangmandate der CDU/CSU, dann ist schon (Unterbrechung von 11.15 Uhr bis 11.24
gar nicht mehr einsichtig, wieso gerade diese Partei Uhr)
verlangt, in allen Ausschüssen eine deutliche Mehr-
heit zu haben, also zusätzlich zu ihren Mandaten im
Plenum überproportional beteiligt zu werden. Dabei Vizepräsident Hans Klein: Meine Kolleginnen und
ist es ihr völlig gleichgültig, ob und welche verfas- Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröff-
sungsmäßigen Rechte von Abgeordneten sie verletzt, net.
von Abgeordneten, die durch Millionen von Wähle-
rinnen und Wählern demokratisch legitimiert wur- Ich gebe das von den Schriftführerinnen und
den, ob dies nun einigen hier im Hause paßt oder Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
nicht. Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD
zur Berechnung der Stellenanteile auf Drucksache
Das Manöver der CDU/CSU-Fraktion ist ganz klar 13/547 bekannt. Abgegebene Stimmen: 651. Mit Ja
die Ausschaltung der PDS aus wichtigen Gremien haben gestimmt: 314. Mit Nein haben gestimmt:
und die Erringung zusätzlicher politischer Vorteile 336.
in diesen Gremien, die ihr sonst nicht zustehen wür-
den. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Für mich ist damit auch offenbar: Die Änderung Es gab 1 Enthaltung und keine ungültigen Stim-
des bisherigen Zählverfahrens ist ein verfassungs- men.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1375
Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Das sind die Recherchen, auf die man sich stützt, um
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und solche Artikel in die Welt zu setzen, meine Damen
und Herren.
Herren! In der Debatte über die Verwendung von
Fördergeldern in Ostdeutschland soll es keinen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Zweifel geben: Der Steuerzahler in Ost und West hat
Anspruch darauf, daß allen Vorwürfen über Miß- Lassen Sie mich noch eines fragen: Was ist denn
brauch und Fehlverwendungen konsequent nachge- Fehlleitung von Mitteln? Was ist denn Mißbrauch?
gangen wird. Wo es darum geht, daß öffentliche Geldquellen ange-
zapft werden sollen, daß der Staat geschröpft werden
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) soll, wo sich Menschen persönlich bereichern wollen,
dort muß mit ganzer Härte und ohne Wenn und Aber
Dies gilt für die Bundesregierung und ihre Förder-
durchgegriffen werden.
programme; dies gilt auch für die Länder und die
Kommunen, die im Zuge unseres föderalen Systems Aber - um nur einige Beispiele zu nennen - kann
einen sehr gewichtigen Teil der Förderentscheidun- denn von einer Fehlleitung öffentlicher Mittel ge-
gen selbst treffen. sprochen werden, wenn ein neues Gewerbegebiet,
1380 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU sowie Zur Illustration lassen Sie mich aus einem einver-
bei Abgeordneten der SPD) nehmlichen Beschluß des Haushaltsausschusses des
Deutschen Bundestages vom November 1992 zitie-
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die frühen ren:
Phasen der Berlin-Förderung. Ich erinnere an die Un-
kalkulierbarkeit von Großprojekten in der alten Bun- Vor diesem Hintergrund sind alle Entscheidungs-
desrepublik, an das Klinikum Aachen, in das man träger in Bund, Ländern und Gemeinden aufge-
mit 600 Millionen DM Bausumme hineinging und fordert, auf der Grundlage des geltenden Rechts
das dann für 2,5 Milliarden DM abgerechnet wurde. schnell und kreativ zu entscheiden und vor allem
Ich erinnere an das Berliner ICC. Ich erinnere an Ver- Ermessensspielräume bestmöglich zugunsten
kehrs- und Kulturbauten überall in der alten Bundes- der Bürger auszuschöpfen. Die unbestreitbaren
republik. Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern
sollten von den vorgesetzten Behörden und Prü-
(Michael Glos [CDU/CSU]: Der Bundestag!) fungsgremien unter Wahrung ihrer jeweiligen
- Das auch, das ist richtig! Aufträge, ihrer Eigenverantwortung und ihrer
Unabhängigkeit bei der Beurteilung von Einzel-
Natürlich, meine Damen und Herren, gibt es Mit- fällen berücksichtigt werden.
telverwendungen, bei denen sich der Bürger fragt,
ob die Verengung einer Fahrbahn oder die aufwen- Das war ein einvernehmlicher Beschluß des Haus-
dige Pflasterung von Plätzen und Wegen auch wirk- haltsausschusses des Deutschen Bundestages vom
lich notwendig waren. Dies gibt es im Osten und im November 1992.
Westen, meine Damen und Herren.
(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Guter Aus-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schuß!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Borm, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1381
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
Meine Damen und Herren: „Die unbestreitbaren knapp die Hälfte der westdeutschen. Ein großer Teil
Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern sollten des Sozialprodukts, das in den neuen Ländern ver-
von den vorgesetzten Behörden und Gremien ge- braucht wird, wird nicht dort erarbeitet, sondern be-
prüft werden." So muß das bleiben. steht aus Transfers aus dem Westen.
Wie dieses Thema „Umgang mit Fördermitteln" Diese Tatsachen sprechen eine eindeutige Sprache
jetzt hochgespielt wird, hat mit der Realität nichts zu und besonderes Sorgenkind in diesem Zusammen-
tun. Das wirft Gräben zwischen Ost und West auf. hang ist nach wie vor die Industrie. Das Ifo-Institut
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sagt zwar, daß wir inzwischen die Wende von der De-
industrialisierung zur Reindustrialisierung über-
Das wollen wir nicht. Die Präsidenten der Landes- schritten haben, der Industrieabsatz ist aber noch
rechnungshöfe in Ostdeutschland haben Gott sei viel zu gering. Der Industrieanteil an der Wertschöp-
Dank diesen Spuk inzwischen endgültig beendet. fung macht in den neuen Ländern 19 aus, in West-
Sie distanzieren sich eindeutig von den genannten deutschland sind es 27 %.
Zahlen und stellen fest, daß ihre Prüfungen ergeben
haben, daß die öffentlichen Mittel auch in den An- Das eindeutige Ziel muß sein, daß die neuen Län-
fangsjahren weit überwiegend sinnvoll und zu- der aus eigener Kraft ihr Einkommen und ihre Inve-
kunftsorientiert eingesetzt worden sind. stitionen verdienen.
Meine Damen und Herren, ich werde Anfang März (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
dem Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages CDU/CSU)
einen vollständigen Bericht über diesen Fragenkreis
vorlegen. Ich habe die Bundesressorts sowie die Wirt- Bisher beträgt die Lücke 200 Milliarden DM. Diese
schafts- und Finanzminister der neuen Länder aufge- Lücke muß geschlossen werden.
fordert, mir für ihre Zuständigkeitsbereiche Erkennt-
nisse über Fehlverhalten und über Vorkehrungen Die Bundesregierung hat daher im Rahmen des
gegen Mißbräuche mitzuteilen. Ich werde mich mit .Jahreswirtschaftsberichts 1995 ein mittelfristiges
den Bundesressorts, den Ländern, Gemeinden und Förderkonzept bis 1998 beschlossen, um den Inve-
allen Vergabestellen zusammensetzen, um zu prü- storen sichere Rahmenbedingungen zu geben. Diese
fen, ob es bessere Kontrollmöglichkeiten gibt. In be- Rahmenbedingungen müssen heute bekannt sein,
zug auf jedes einzelne Förderinstrument werden wir wir müssen sie heute festlegen, weil Investitionen
uns überlegen, ob wir bessere Kontrollmöglichkeiten mittelfristig in die Zukunft hinein getätigt werden.
einführen können.
Dabei sind wir nach der Maxime vorgegangen,
(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr gut!) dort zu konzentrieren und Fördertatbestände zu kür-
zen, wo dies möglich erscheint, und dort weiter zu
Aber, meine Damen und Herren, eine Frage fördern, wo dies notwendig ist. Die fünfprozentige
möchte ich hier denn doch noch aufwerfen: Wird Investitionszulage wird bis 1998 verlängert, aber auf
denn in der deutschen Öffentlichkeit nicht erkannt, die Industrie beschränkt. Die zehnprozentige Mittel-
wie zwiespältig diese Diskussion geführt und wie sie standszulage wird weitergeführt. Die Sonderab-
emotional geschürt wurde? Vor wenigen Wochen war schreibungsmöglichkeiten für betriebliche Anlage-
es noch an der Tagesordnung, die Bürokratie und die güter, wie Maschinen, und für selbstgenutzte Be-
Banken zu geißeln, weil sie umständlich, bürokra- triebsgebäude, wie Fabrikhallen, werden bis 1998
tisch, kleinkariert, risikoscheu und an den Bedürfnis- weitergeführt. Dagegen werden Sonderabschreibun-
sen der Investoren vorbei Verhinderungspolitik be- gen für den Neubau von Wohnungen und für nicht
trieben hätten. Das war vor wenigen Wochen das selbstgenutzte Betriebsgebäude ab 1997 drastisch
Thema. gesenkt. Damit wird Verlustzuweisungsmodellen ein
Heute ist das Gegenteil angesagt. Zuwenig würde Riegel vorgeschoben.
geprüft, zuwenig hinterfragt, zuwenig kontrolliert.
Verlängert wird die Aussetzung der Vermögen-
Jene, die sich damals an der Zögerlichkeit der Verga-
steuer. Die Gewerbekapitalsteuer soll ab 1996 in
bestellen hochgezogen haben, sind heute die Laute-
ganz Deutschland abgeschafft werden. Die Förde-
sten, wenn es darum geht, deren angebliche Blauäu-
rung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Ver-
gigkeit zu verdammen.
besserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" wird
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) fortgesetzt, es erfolgt aber eine stärkere Konzentra-
tion auf besonders strukturschwache Gebiete und
Ich sage hier klar: Diese Debatte ist nicht zufällig eine noch stärkere Differenzierung der Fördersätze
gerade jetzt angefacht worden, wo es um die Fortfüh- durch die Länder. Fortgesetzt werden auch das Ei-
rung der Hilfen für den Ausbau Ost geht und wo genkapitalhilfeprogramm und die ERP-Darlehens-
wichtige Entscheidungen im politischen Bereich in möglichkeiten.
Bundesländern anstehen. Wir müssen uns darüber
klar sein, daß wir zwar große Fortschritte bei der Ent- Wir müssen uns überlegen, wie Risikokapital in
wicklung in den neuen Bundesländern gemacht - stärkerem Umfang nach Ostdeutschland fließen
das zeigen die Wachstumsraten -, daß wir aber be- kann. Die Bundesregierung hat dazu zwei Maßnah-
stenfalls die Hälfte des Weges zur wirtschaftlichen men beschlossen. Die erste ist die steuerliche Förde-
Entwicklung der neuen Länder geschafft haben. Die rung von Verkaufserlösen von Beteiligungen, wenn
Produktivität je Kopf der Bevölkerung beträgt nur diese Erlöse umgehend in Beteiligungen oder beteili-
1382 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es hat mich schon ein wenig gewundert, daß der
Bundeswirtschaftsminister Rexrodt hier lauthals be-
angesichts der vielfältigen Verantwortlichkeiten in klagt, daß die gegenwärtige Debatte dazu benutzt
Bund, Ländern und Gemeinden, die parteipolitisch wird, die Fortführung der Fördermittel für die neuen
ganz verschiedenartig zusammengesetzt sind. Jeder Bundesländer in Frage zu stellen. Noch vor ein paar
trägt dort seine Verantwortung, und keiner hat An- Tagen war in der „Bild-Zeitung" nachzulesen, daß
laß, mit dem Finger auf den anderen zu zeigen. Herr Waigel es ist, der das tut. Also versuchen Sie
doch mal, den kurzen Draht zu Herrn Waigel zu be-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne nutzen, Herr Rexrodt! Das wäre vielleicht besser, als
ten der CDU/CSU) hier Fensterreden zu halten.
Ich füge ganz bewußt hinzu: Dieses Thema eignet (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
sich auch nicht für populistisches Anbiedern aus in ten der PDS)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1383
Otto Schily
Meine Damen und Herren Kollegen, in einer Zeit, Im übrigen kann jeder wissen, der sich der Mühe
in der die Abgabenlast auf Grund der verfehlten unterzieht, Berichte des Bundesrechnungshofes und
Steuer- und Finanzpolitik der Bundesregierung eine anderer Rechnungshöfe zu lesen, daß Verschwen-
Rekordmarke erreicht hat, muß es den verständli- dung von Steuergeldern in beträchtlichem Ausmaß
chen Zorn der Menschen hervorrufen, wenn sie aus beileibe nicht nur im Osten, sondern leider auch im
den Zeitungen erfahren, daß Steuergelder in Milliar- Westen Deutschlands an der Tagesordnung ist.
denhöhe verplempert und verschlampt werden.
Gestern ist in einem Ausschuß des Deutschen Bun-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) destages, im Ausschuß für Bildung, Wissenschaft,
Forschung, Technologie und Technikfolgenabschät-
Vielerorts scheint das Bewußtsein dafür verlorenge- zung, eine Passage des jüngsten Bundesrechnungs-
gangen zu sein, daß der Staat fremdes Geld verwal- hofberichts diskutiert worden. Darin beklagt der
tet, daß er wie ein verläßlicher Treuhänder mit dem Bundesrechnungshof, daß bei der Förderung der Ent-
Geld der Steuerzahler umzugehen hat. wicklung des Magnetschnellbahnsystems Transra-
pid Steuermittel in erheblichem Umfang verschwen-
(Zuruf von der F.D.P.: Das sagen Sie mal det wurden, etwa daß der privaten Betreibergesell-
Frau Hildebrandt! - Zuruf von der CDU/ schaft ein sogenannter kalkulatorischer Gewinn in
CSU: Pharisäer!) Höhe von 9,5 Millionen DM zugebilligt wurde, ob-
wohl die private Betreibergesellschaft kein unterneh-
Wenn dann der Eindruck entsteht, daß gerade bei merisches Risiko einzugehen hat.
den unteren und mittleren Einkommen rücksichtslos
Steuern und Abgaben bis aufs Blut herausgepreßt (Zurufe von der CDU/CSU)
werden,
Man sieht: Auch dort liegt leider sehr vieles im ar-
(Oh-Rufe von der CDU/CSU und der F.D.P.) gen, und wir sollten beide Augen offenhalten.
aber auf der anderen Seite Milliardenbeträge wie Ka- (Zuruf von der CDU/CSU: Aber beide!)
melle im Karneval unter die Leute gestreut werden,
ist der soziale Friede massiv gefährdet, meine Damen Schließlich sollte nicht übergangen werden, daß
und Herren. die Gefoppten und Hintergangenen bei vielen Fehl-
leitungen von Steuermitteln nicht nur die Steuerzah-
(Beifall bei der SPD - Zurufe von der CDU/ ler im Osten und Westen sind, sondern häufig die
CSU) Ostdeutschen in doppelter Weise. Überdimensio-
nierte Kläranlagen bedeuten nicht nur vergeudete
Ohne falsche Rücksichtnahmen müssen daher heute Steuergelder, sondern sie treffen die Ostdeutschen
die Fehler und Versäumnisse in der Finanzkontrolle zusätzlich hart, weil diese von den Kommunen für
diskutiert werden. entsprechend hohe Anschlußbeiträge in Anspruch
genommen werden. Ich denke, man muß auch das in
Vor einem ist allerdings in Übereinstimmung mit Augenschein nehmen.
dem Bundeswirtschaftsminister zu warnen:
Aber Verschwendung im Westen macht Ver-
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Banane!) schwendung im Osten keinen Deut besser. Ob es
nun 65 Milliarden DM sind, wie der „Spiegel"
Wer versucht, sich aus der politischen Verantwortung
schreibt, oder etwas weniger, ist nicht das Entschei-
zu mogeln, indem er für alles, was schiefgegangen
dende.
ist, die vermeintliche Leichtfertigkeit ostdeutscher
Landesregierungen und Kommunen haftbar macht, (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)
nach der Melodie „die Ostdeutschen verprassen un-
ser sauer verdientes Westgeld", vergiftet die Debatte Entscheidend ist, daß sich der Finanzminister um
und sucht sein Heil in schäbigen Ausflüchten. eine effiziente Ausgabenkontrolle überhaupt nicht
gekümmert hat.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD und der PDS - Zuruf
Deshalb scheint es mir notwendig zu sein, mit aller von der F.D.P.: Das stimmt doch gar nicht!)
Deutlichkeit festzustellen - es freut mich, daß da zwi-
schen Herrn Rexrodt und uns Übereinstimmung be- Herr Waigel war völlig desinteressiert, wohin die Mil-
steht -: Unsere ostdeutschen Landsleute verdienen lionen und Milliarden gewandert sind.
unsere Anerkennung für die beachtliche Aufbaulei-
stung, die sie in den vergangenen Jahren vollbracht (Zuruf von der F.D.P.: Das stimmt doch gar
haben, nicht! - Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ein
Unsinn! Völlig falsch! Das ist doch falsch!)
(Joachim Hörster [CDU/CSU]: Wegen der
Banane!) Nicht in einem einzigen Fall hat Herr Waigel ein
deutliches Signal gesetzt, daß die Vergeudung von
und sie verdienen Ermutigung und Solidarität auch Steuermitteln nicht hingenommen wird und die Kon-
für die Zukunft. trollen verschärft werden.
Otto Schily
Herr Waigel, sagen Sie mir einen einzigen Fall einer fährte Herr Glos versucht, die Schuld auf den schwa-
Pressekonferenz, wo wir von Ihnen hören konnten: chen Schultern von Herrn Rexrodt abzuladen.
Diesen Fall nehme ich zum Anlaß verschärfter Kon-
trolle. Diesen Fall können Sie uns hier heute nicht (Michael Glos [CDU/CSU]: Ich? - Eduard
präsentieren. Oswald [CDU/CSU]: Das ist falsch!)
(Joachim Hörster [CDU/CSU]: Von der Herr Waigel seinerseits zeigt mit dem Finger auf die
Treuhand verstehen Sie nichts! - Zuruf von ostdeutschen Kommunen und Landesregierungen.
der F.D.P.: Das stimmt doch gar nicht!) Aber fragen Sie sich doch zunächst einmal selbst,
Herr Waigel: Was haben Sie getan, damit die Steuer-
Zu keinem Zeitpunkt fühlte sich Herr Waigel be- gelder nicht verpulvert wurden? Wo waren Ihre Vor-
müßigt, der Sache nachzugehen, auch bei spektaku- gaben für eine vernünftige und zielorientierte Struk-
lären Fällen nicht; beispielsweise wenn es darum tur- und Investitionspolitik?
ging, daß sich einige unbedarfte Personen mit Millio-
nensummen an den Liquidationen von Treuhandfir- (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Hören Sie
men bereicherten - doch auf! Ihnen ist doch gar nichts eingefal
len!)
(Zuruf von der F.D.P.: Die Debatte hatten
wir doch schon!) Haben Sie nicht mit Ihrem unübersichtlichen Wirr-
warr an Fördertöpfen dafür gesorgt, daß es nun zahl-
zehn Liquidatoren allein mit 120 Millionen DM. Das reiche Investitionsruinen gibt und geben wird?
erzeugt eine Stimmung. Statt dessen hat sich Herr
(Beifall bei der SPD und der PDS)
Waigel stets auf das Beschönigen, auf das Herunter-
spielen und das Beschwichtigen verlegt. Welche Sicherungsmaßnahmen haben Sie getroffen,
damit nicht unseriöse Geschäftemacher, vornehmlich
(Beifall bei der SPD - Joachim Hörster
aus dem Westen, Steuergelder in Millionen- und Mil-
[CDU/CSU]: Da haben Sie im Untersu
chungsausschuß völlig versagt, Herr liardenhöhe an sich brachten?
Schily!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
So entsteht eine Selbstbedienungsstimmung nach Was sollen denn die Lohnempfänger sagen, die
dem Motto: Wer will noch mal, wer hat noch nicht? jetzt einen sogenannten Solidaritätszuschlag auf
mindere und kleine Einkommen entrichten müssen,
Auch die Tatsache, daß der Bundesfinanzminister
wenn sie sehen, was da im Osten von einigen Herr-
die Treuhandanstalt weitgehend zu einer kontroll-
schaften aus dem Westen abgeholt worden ist?
freien Zone erklärt hat, gehört in dieses Szenario,
meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Warum, Herr Bundesfinanzminister - das ist einer
GRÜNEN und der PDS) Ihrer ärgsten Fehler -, haben Sie bei der Kontrolle
- und bei der Auswahl von Investoren nicht verstärkt
Allein der Umstand, daß die zivilrechtlichen Haf-
Belegschaften und Betriebsräte der ostdeutschen
tungsregeln praktisch außer Kraft gesetzt wurden
und zugleich versucht wurde, den strafrechtlichen
Betriebe hinzugezogen? Da hätten Sie lernen kön-
nen, wie man Kontrolle ausübt und wie man vorsorg-
Untreuetatbestand zu neutralisieren, beweist, daß
lich Maßnahmen trifft, damit die Dinge nicht aus
der Bundesfinanzminister mit einer Sorglosigkeit
dem Lot geraten.
sondergleichen der Verschwendung von Steuergel
dern Vorschub geleistet hat. Alle Warnungen hat er (Beifall bei der SPD und der PDS)
in den Wind geschlagen. Seine Unfähigkeit und
Schwäche, der Verschwendung von Steuergeldern Viele Millionen- und Milliardenschäden wären
entgegenzuwirken, wurde letztlich auch dadurch do- vermieden worden, wenn die Menschen im Osten
kumentiert, daß er alles darangesetzt hat, die parla- nicht zu Objekten der Politik degradiert worden wä-
mentarische Kontrolle des Finanzgebarens der Treu- ren, statt sie als Subjekte in die Entscheidungen ein-
handanstalt zu behindern und zu sabotieren. zubeziehen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD und der PDS - Eduard (Beifall bei der SPD und der PDS - Wider
Oswald [CDU/CSU]: Völliger Unsinn! Völlig spruch bei der CDU/CSU)
falsch!)
Nein, Herr Bundesfinanzminister, es helfen keine
Es ist nicht erkennbar, daß irgend etwas aus dem Ablenkungsmanöver, es hilft kein Versteckspiel. Sie
Bundesfinanzministerium in die Wege geleitet ist, persönlich sind für dieses Debakel verantwortlich.
um z. B. die Informationswege zum Bundesrech- Daraus sollten Sie die richtigen Konsequenzen zie-
nungshof zu verkürzen, damit dessen Ratschläge hen. So schrieb die „Frankfurter Rundschau" in den
dann auch während eines Projekts Beachtung fin- letzten Tagen:
den. Nichts hat er getan, um bestimmte Zwänge der
Kameralistik zu mildern. Der Bundesfinanzminister kann mit seiner Philo-
sophie von Steuergerechtigkeit so gut wie nichts
Heute müht sich der Bundesfinanzminister, die zur Lösung des Problems beitragen, weil er selbst
Verantwortung von sich abzuschütteln. Sein Ge- Teil des Problems ist.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1385
Otto Schily
- Wie wahr! Schauen Sie in den Spiegel, Herr Bun- Entwicklung gilt für alle neuen Länder. Dies möchte
desfinanzminister Waigel, und Sie wissen die Ant- ich als gegenwärtiger Sprecher der ostdeutschen Mi-
wort. nisterpräsidenten ausdrücklich unterstreichen. Dabei
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE unterdrücke ich die Freude darüber, daß sie in Thü-
GRÜNEN und der PDS - Zuruf von der ringen am stärksten steigen - allerdings von einem
CDU/CSU: Welche Ausgabe?) besonders niedrigen Niveau -, natürlich nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
Zur Treuhand nur den einen Satz: Ich habe unter - ordneten der F.D.P.)
wie ich glaube - falschen Entscheidungen mehr ge- Meine Damen und Herren, neben den Bürgern
litten als andere. Aber ich gehöre auch zu denjeni- danke ich auch den Regierungen, zuvorderst der
gen, die anerkennen, daß über 2 000 Betriebe in vier Bundesregierung, insbesondere dem Bundeskanzler,
Jahren in einem Land zu privatisieren eine einmalige für den Mut beispielsweise zur Wirtschafts- und
Leistung ist und daß diese einmalige Leistung aner- Währungsunion vom 1. Juli 1990.
kannt werden muß.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Der Jahreswirtschaftsbericht, über den Sie hier vor Wie viele Kritiker haben abgeraten, und wie viele
einer Woche diskutiert haben, weist beachtliche Stei- Kritiker haben die Katastrophen in diesem Zusam-
gerungsraten des Bruttoinlandsprodukts in den jun- menhang vorausgesagt!
gen Ländern nach. Die Prognosen für 1995 sind gün-
stig. Die Steuereinnahmen steigen deutlich, was uns (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Vor allem der
ermutigt und den gebenden Ländern Geld spart. Je Schily!)
stärker die Steuereinnahmen bei uns steigen, um so
Ich bedanke mich für das Zustandekommen des
größer ist die Entlastung für die gebenden Länder.
Föderalen Konsolidierungsprogramms, das für die
Die Steuern, die auf das Land Thüringen entfallen, Finanzordnungen der neuen Länder von fundamen-
steigen um 16 %, und die Steuern in Thüringen, die taler Bedeutung und deswegen ein wichtiger Schritt
auf die Kommunen entfallen, steigen um 30 %. Diese zur Normalität ist.
1386 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich warne davor, die ersten Jahre nach der Wieder-
vereinigung mit normalen oder auch nur mit heuti-
Aber wenn man die Zeitungen aufschlägt: Von gen Maßstäben zu messen. Viele scheinen es nicht
Stolz und Dankbarkeit keine Spur! Kritik und Vor- mehr zu wissen: 1990 gab es weder Länder noch Lan-
würfe werden laut. desregierungen. Die alten Bezirksverwaltungsbehör-
(Jürgen Türk [F.D.P.]: Eine Schweinerei ist den waren, vor allem bei der Erstellung der Über-
das!) gangshaushalte und der Vergabe der Mittel, bis weit
in das Jahr 1991 hinein wirksam. Der erste Thüringer
Wenn ich auf diese Kritik und auf diese Vorwürfe Haushalt ist in der zweiten Hälfte des Jahres 1991
eingehe, so möchte ich zunächst eines klarstellen: verabschiedet worden. Auch als Regierungen gebil-
Ich will Fehler nicht leugnen oder verharmlosen. det waren, mußten die Verwaltungsapparate erst
Meine Damen und Herren, es wäre ein noch größe- mühsam aufgebaut werden. Was trotzdem alles funk-
res Wunder als die deutsche Einheit selbst, wenn in tioniert hat, ist beachtlich.
dieser Situation keine Fehler gemacht worden wä-
ren. (Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!)
-
(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Sehr rich Jedenfalls ist das, was funktioniert hat, viel erstaunli-
tig!) cher als das, was schiefgegangen ist.
Das möchte ich ausdrücklich sagen. Ich füge hinzu: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wo sie gemacht worden sind, muß ihnen nachgegan-
gen werden, und wo sie korrigiert werden können, Daß es zum Beispiel trotz gewaltiger wirtschaftli-
müssen sie korrigiert werden. Das ist entschieden cher Zusammenbrüche und elementarer gesell-
und eindeutig ganz klar vorab festzustellen. schaftlicher Umbrüche gelang, den sozialen Frieden
zu erhalten, ist eine Leistung, auf die alle Beteiligten
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stolz sein können.
Allerdings wende ich mich genauso entschieden (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
und eindeutig dagegen, daß Kritik verantwortungs-
los überzogen wird, daß maßlose Formulierungen Gelegentlich höre ich von erregten Debatten,
verwendet werden und daß Horrorzahlen hochge- wenn in einem alten Bundesland 100 000 Arbeits-
rechnet werden. plätze zur Disposition stehen. Wir sind froh, wenn die
ARD bei derartigen Sorgen in Ostdeutschland über-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haupt eine solche Meldung bringt.
Wenn das in dieser Weise geschieht, dann ist die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Frage erlaubt: Cui bono - wem nützt das? Und
Zuruf des Abg. Wolfgang Thierse [SPD] -
warum wird das in dieser Form und zu diesem Zeit-
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
punkt gemacht? DIE GRÜNEN]: Da sorgt doch der MDR
(Zuruf von der CDU/CSU: Das nützt der schon dafür! Keine Sorge, Herr Vogel! -
Hessenwahl!) Weitere Zurufe)
Der quantitativ größere Teil aller Transferleistun- - Beim ZDF - da haben Sie recht, Herr Kollege - hat
gen beruht auf gesetzlichen Grundlagen. Mehr als eine solche Meldung genauso große Schwierigkeiten
die Hälfte aller Transferleistungen betreffen Renten, durchzukommen. Da gibt es keinen Unterschied.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1387
Aber, meine Damen und Herren, ich will nicht ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so
genrechnen. Gerade weil ich das nicht tue, möchte wie bei Abgeordneten der SPD)
ich im Namen vieler, so glaube ich, aus den neuen
Ländern sagen: Hört auf, neue Gräben aufzureißen! Wir sind auf weitere großzügige Hilfe angewiesen,
so wie wir sie im Föderalen Konsolidierungspro-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so gramm mit Bund und Ländern einmütig vereinbart
wie bei Abgeordneten der SPD) haben. Dieses Föderale Konsolidierungsprogramm
schließt ausdrücklich den Solidaritätszuschlag mit
Es mag ja sein, daß wir manches falsch gemacht ha- ein, den wir übrigens nicht nur im Westen, sondern
ben. Wir versprechen: Bei der nächsten Wiederverei- natürlich auch im Osten bezahlen.
nigung machen wir das alles viel besser!
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/ und der F.D.P.)
CSU und der F.D.P.)
Der Solidarbeitrag ist im übrigen entgegen dem
-
Es mag sein, daß wir Fehler gemacht haben. Eines Entwurf der Regierungskoalition des Bundes, die
aber weiß ich sicher: Wer jetzt neue Gräben aufreißt, 3,5 %) vorsah, auf Drängen von Ländern wie Hessen
weiß nicht, was er tut. auf 7,5 % angesetzt worden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - (Zuruf von der CDU/CSU: Genauso ist es!)
Zuruf von der SPD: Sagen Sie das einmal Meine Damen und Herren, das hatte seinen Grund:
Herrn Stoiber!) Weil es der Gemeinschaft der Länder gelungen war,
einen höheren Anteil an der Mehrwertsteuer für die
Die immateriellen Schäden könnten weit größer sein
Länder zur Finanzierung des Programmes zu sichern,
als alle vorstellbaren materiellen Schäden, meine Da-
mußte sich der Bund durch einen Solidarzuschlag in
men und Herren.
Höhe von 7,5 % refinanzieren.
(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Richtig! (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)
Sagen Sie das dem Stoiber!)
Sonst wäre die Einigung seinerzeit nicht zustande
- Herr Kollege, ich sage das all denen, die Gräben gekommen.
aufreißen. Ich schaue dabei nicht nach links oder
rechts, da ich das Vergnügen habe, eine große Koali- Wir brauchen diese Hilfe, nicht weil wir unersätt-
tion zu führen. Darum kann ich sagen, was ich lich wären, sondern weil wir vom Tropf wegkommen
denke. wollen. Wir sind noch nicht am Ziel. Wer uns jetzt die
Hilfe versagt, der muß wissen, daß wir ihm um so län-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - ger auf der Tasche liegen werden. Wer populistisch
Wolfgang Thierse [SPD]: Sagen Sie das zurückschreckt und von Rückführung der Mittel
auch Herrn Stoiber!) spricht, muß vorsichtig sein, damit er nicht gefährdet,
was erfolgreich begonnen worden ist.
- Wissen Sie, zwischen hessischen und bayerischen
Ministerpräsidenten mache ich da keinen so wahn- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
sinnigen Unterschied. DIE GRÜNEN]: Wer hat das denn gesagt?)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1389
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel (Thüringen)
Meine Damen und Herren, noch immer liegt die Fi- Leider gibt es einige Fehler, die irreparabel sind. In
nanzkraft der jungen Länder bei einem knappen diese Rubrik muß auch die verschleppte Solidarität
Drittel der des Westens; die Produktivität beträgt im Zuge der deutschen Einheit eingestuft werden.
knapp 50 %. Wer den Solidarzuschlag vorschnell Es war nämlich Ihr Kanzler, der den Deutschen - mit
wieder einstellt, gefährdet den weiteren Aufbau. den Worten: die Ostdeutschen bekommen die D-
Mark, damit die Westdeutschen sie behalten können -
(Zuruf von der SPD: Richtig!) eingeredet hat, die deutsche Einheit sei im Grunde
Es muß schon Deutschland sein, wo man erst ge- genommen ohne Kosten zu machen.
meinsam die Wiedereinführung beschließt und be- (Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
reits vor der ersten Zahlung die Abschaffung be- NEN und bei der SPD - Ingrid Matthäus
schließen will. Maier [SPD]: Portokasse!)
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ja, das Jetzt wundert man sich über die Stimmungsmache
ist wahr!) im Land.
Ich sage ausdrücklich: Geben ist seliger denn neh- Ein Fehler ist z. B. auch, den Solidarzuschlag ein-
men. Zumindest für mein Land gilt: Wir wollen nicht zuführen und ihn damit zu begründen, daß er eigent-
auf Dauer ein nehmendes Land bleiben, sondern wir lich für den Golfkrieg gebraucht werde, um ihn dann
wollen so schnell wie möglich ein Geberland wer- gleich wieder abzuschafffen, um ihn dann wieder
den. einzuführen,
(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr gut!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Aber wir brauchen Hilfe, das auch erreichen zu kön-
nen. Auch haushälterisch ist es sehr viel zweckmäßi- wobei man den Leuten verschweigt, daß dieser Soli-
ger, uns zu helfen, dieses Ziel rasch zu erreichen und darbeitrag für längst ausgegebenes Geld gebraucht
nicht über die Jahre hinzuziehen. Ich bitte, daß es zu wird, damit der Schuldenberg abgetragen werden
einer Solidarität all derer kommt, die selbstverständ- kann, auf dem Theo Waigel im Moment sitzt. - Herr
lich - - Waigel ist leider verschwunden oder hat sich ir-
gendwo hier ins Plenum gesetzt. Aber ich akzeptiere,
daß er nicht die ganze Zeit zuhören kann. Er weiß
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schily, der
ohnehin, worüber wir hier reden; er kennt diese Miß-
Redner ist schon ein gutes Stück über die Zeit hin-
stände alle.
aus. Ich kann ihm nicht mehr anbieten, noch eine
Zwischenfrage anzunehmen. Es zählt ebenfalls zu den Fehlern, daß man mit den
„blühenden Landschaften" regelrecht das Gießkan-
nenprinzip eingeführt hat, indem man behauptet,
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel (Thüringen):
daß im Grunde genommen eine unterkapitalisierte
Der Redner bietet Herrn Schily nachher ein Ge-
Landschaft mit Fördermitteln überschwemmt werden
spräch an und schließt mit den Worten: Helfen Sie
- den Kern- muß, damit dort etwas entsteht.
bitte mit, daß wir diese Diskussion auf
punkt zurückführen, daß wir Fehler als Fehler erken- Ich sage Ihnen ganz klar: Sie haben das einkalku-
nen und zu korrigieren versuchen, daß wir uns aber liert, weil Sie sich gesagt haben: Wir müssen rein-
nicht wegen gemachter Fehler die Erfolge zerreden pumpen, was möglich ist, damit 1994 der Wahlerfolg
lassen, sondern daß wir die Erfolge fortsetzen. gesichert wird.
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der F.D.P.) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Sie haben Fördermittel hineingepumpt, die jede gut
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- funktionierende Westverwaltung nicht verlustfrei
lege Werner Schulz. hätte ausgeben können.
Es kommt hinzu, daß die ostdeutschen Verwaltun-
Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen noch nicht standen. Ich könnte Ihnen reihen-
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! weise aus unserer Kritik zum Einigungsvertrag zitie-
Herr Ministerpräsident Vogel, es ist zweifellos rich- ren. Es gab noch keine Verwaltungen. Sie hatten
tig, daß wir diese Diskussion möglichst schnell been- nicht den Mut, die westdeutschen Beamten, die nor-
den müssen, weil sie tatsächlich niemandem nützt malerweise dienstverpflichtet sind, in den Osten zu
und dem komplizierten Prozeß des Zusammenwach- schicken und zu sagen: Paßt auf, daß die Gelder rich-
sens eher schadet. Ich hoffe nur, daß Sie diese Er- tig verwendet werden usw.
kenntnis demnächst auch Ihrem Kollegen in Mün-
chen mitteilen werden. Denn es hört sich schon et- Es ist also eine Debatte zur Unzeit und im falschen
was verzwickt an, wenn sich Herr Stoiber aus Amigo Tonfall. Sie wird mit fragwürdigen, scheinheiligen
land in der obersten Tonlage der Betroffenheit wie Argumenten und falschen Zahlen geführt. Wir laufen
der Ehrenvorsitzende des Bundes der Steuerzahler Gefahr, daß der Prozeß der Vereinigung in eine Neid-
über Steuerverschwendung beschwert. kampagne ausartet, daß im Osten womöglich ein fi-
nanzielles Schlaraffenland ausgebrochen ist, in dem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die frischen Banknoten den Leuten nur so in die lee-
und bei der SPD) ren Taschen flattern.
1390 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sowie bei Abgeordneten der SPD) NEN): Ja.
Ich finde auch das Herangehen des Ministerpräsi-
denten Stolpe nicht in Ordnung, der nach dem Motto Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Schulz,
handelt: Ich werde prüfen lassen, ob ich den „Spie- wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der
gel" vor Gericht ziehen kann. - Ich glaube, er sollte bayerische Ministerpräsident vorgestern im „Heute
einmal prüfen, ob die Vorwürfe stimmen, und nicht Journal" folgendes erklärt hat:
nebenbei eine offene Rechnung präsentieren.
Ich glaube, daß diese Zahlen
(Beifall des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] - von denen auch Sie eben gesprochen haben -
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
so nicht stimmen . . .
Bei Ihnen, Herr Vogel, hätte ich mir gewünscht,
Er fügt hinzu:
daß Sie über die fehlenden Berichte des Landesrech-
nungshofs von 1992 und 1993 reden, als - daß Sie sa- Ich muß im übrigen auch deutlich machen, es hat
gen: Ja Gott, das ist nun einmal so, da weiß ich nicht, keinen Sinn, jetzt in die Vergangenheit hineinzu-
ich bin zwar der Landesvater, aber was hat man da recherchieren, sondern wichtig ist, daß wir die
für Pflichten? Mittel zielgenauer und effizienter in der Zukunft
einsetzen . . .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) (Ernst Schwanhold [SPD]: Nachdem er die
Lunte gezündet hat, schüttet er einen Eimer
Ich glaube, Sie haben ,die Pflicht, das zu kontrollie- Wasser drauf!)
ren, Sie haben die Pflicht, daß Ihr Rechnungshof
Wenn bestimmte Mittel fehlgeleitet worden sind,
funktioniert, gut ausgestattet ist und sich nicht mit
dann darf das nicht dazu führen, daß hier jetzt ge-
Personalquerelen aufhält.
nerell Transferleistungen in Frage gestellt wer-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den. Das wäre verheerend für unsere Entwick-
und bei der SPD) lung.
Er fügt hinzu - ich greife das heraus -:
Vor allen Dingen stört uns das Doppelpaßspiel, das
aus Bayern kommt, daß der eine den Solidarbeitrag 60 Milliarden Fehlleitung halte ich für maßlos
einführt und sich der andere über dessen Erhebung übertrieben . . .
beklagt.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen und auch
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu würdigen, was er damit zu dieser Themenstellung
und bei der SPD) in der Öffentlichkeit gesagt hat?
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das sind Dinge, die diese mißliche Diskussion eher
anheizen.
Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Michael Glos [CDU/CSU]: Reden Sie doch NEN): Herr Kollege Hinsken, ich bin bereit, zur
keinen Unsinn!) Kenntnis zu nehmen, daß der bayerische Minister-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1391
Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
NEN): Offensichtlich ist sein Brandruf in München (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
angekommen. Der bayerische Ministerpräsident
- hat und bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sich offenbar sofort korrigiert, und Herr Hinsken hat der PDS)
uns heute informiert, daß das, was gestern gesagt
wurde, heute nicht mehr gilt.
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schulz, mir
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS
liegt schon daran, Ihnen noch einmal darzulegen,
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
daß es die Pflicht jedes amtierenden Präsidenten ist,
Ich bin zufrieden, daß das so ist. den Redner zu unterbrechen, wenn ein Kollege auf-
steht und sich zu Wort meldet, und zu fragen, ob er
die Frage zuläßt.
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schulz,
das ist für mich jetzt ein bißchen schwierig. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Ich habe sogar versucht, das noch ein bißchen ab-
DIE GRÜNEN]: Das kann ich mir denken!) zuschwächen; denn wir waren schon sehr weit gera-
- Nein, nein, rein geschäftsordnungsmäßig. Der Kol- ten.
lege Hinsken könnte sich noch einmal um eine Frage (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
bemühen. Da er dies tut, frage ich den Kollegen DIE GRÜNEN]: Aber wir wollen festhalten:
Schulz, ob er sie zuläßt. Es wird hier nicht gerügt, den bayerischen
Ministerpräsidenten als Brandstifter zu be
Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zeichnen!)
NEN): Bitte.
Daß es in diesem H ause höchst unüblich ist, eine Äu-
ßerung aus Ausschußsitzungen in einer Zwischen-
Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Schulz, frage gegen einen Kollegen zu verwenden, steht auf
sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das, einem anderen Blatt.
was der Kollege Schwanhold gesagt hat, nicht
stimmt, sondern daß ich mich auf Grund der Einlas- Ich erteile dem Kollegen Dr. Otto Graf Lambsdorff
sung verschiedener Kollegen seitens der SPD und das Wort.
1392 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Präsident! keit, die soziale Absicherung der von Arbeitslosigkeit
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! In der Betroffenen und der Rentner wären ohne westliche
„Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" vom Diens- Hilfe nicht machbar gewesen. Das wäre unzumutbar
tag sah man eine Karikatur, die zeigt, welcher für die betroffenen Menschen und ein Pulverfaß für
Sprengstoff in dieser Debatte liegen kann. Da sitzt uns alle geworden.
ein Ossi, der auf der Fiedel spielt. Der reiche Wessi
Herr Kollege Schily, ich muß sagen: Ich finde es,
wirft Markstücke in den vor ihm stehenden Hut, die
gelinde gesagt, reichlich geschmacklos, die Austei-
in ein Loch im Boden fallen.
lung von Subventionen und die Zurverfügungstel-
Da wird das Vorurteil geschürt, daß im Westen ge- lung von Fördermitteln in Ostdeutschland mit dem
schröpft wird, das Geld aber im Osten versickert. Das Vorgang des Werfens von Kamellen unter das Volk
ist falsch. Ostdeutschland ist der Wachstumspol in im Karneval zu vergleichen.
Europa. Seine Städte und Dörfer sind im Vergleich
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
zum Jahre 1990 kaum noch wiederzuerkennen.
Das ist - es tut mir leid - dieselbe Haltung gegenüber
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist richtig!)
den Menschen in Ostdeutschland, die Sie am Abend
Da wird das Vorurteil geschürt, daß Ostdeutsche des 2. Dezember 1990 mit der Banane vor der Fern-
nichts tun. Das ist falsch. Die Menschen in den sehkamera gezeigt haben.
neuen Bundesländern haben viele Klärten der Um-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
strukturierung zu tragen. Sie tragen sie geduldig.
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [F.D.P.]: Typi
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) che Arroganz! Menschenverachtung!)
Sie zahlen Steuern. Herr Ministerpräsident Vogel hat Meine Damen und Herren, in der kurzen Zeit nach
es zu Recht erwähnt: Sie zahlen auch den Solidarbei- der Wiedervereinigung war es im Interesse Gesamt-
trag, alles entsprechend ihrer Leistungskraft. deutschlands, den Aufbau der Infrastruktur mög-
lichst rasch voranzubringen, neue wettbewerbsfä-
Andererseits, meine Damen und Herren, warne ich hige Arbeitsplätze zu schaffen, zu zeigen, daß es jen-
davor, zu behaupten, daß es bei den Transfers nach seits von Zusammenbruch und Mißwirtschaft eine
Ostdeutschland keine Mitnahme, keine Fehlleitung, bessere Perspektive für die Menschen gibt. Ohne
keinen Mißbrauch und auch keine Kriminalität gege- Förderung der Kommunen gäbe es die Handwerks-
ben hat. Der Bundeswirtschaftsminister hat doch betriebe in den neuen Bundesländern nicht. Ich will
recht, Herr Schulz: Alle Erfahrung macht uns völlig gerne bestätigen, daß wir hier an dieser Stelle - ich
klar - wir laufen doch nicht blauäugig durch die Ge- für meine Fraktion - mehrfach vorgeschlagen haben:
gend -, daß Fehlleitung und Mißbrauch von Subven- Gebt ein paar weniger ABM-Mittel, und gebt ein biß-
tionen niemals voll vermeidbar sind. Deswegen ist chen mehr direkte Investitionsmittel in die Kommu-
das aber nicht etwa ein Naturgesetz der Sozialen nen, damit die Handwerksbetriebe Aufträge bekom-
Marktwirtschaft. Das Naturgesetz der Sozialen men und leben können!
Marktwirtschaft würde vielmehr heißen: Es gibt
keine Subventionen, wir brauchen keine. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
-s
(Beifall bei der F.D.P.) Wer damals auf den Aufbau einer leistungsfähigen
Bürokratie, der Rechnungshöfe und der Verwal-
Aber das können wir wohl nicht in Ostdeutschland tungsverfahren gewartet hätte, der hätte unvorstell-
anwenden. baren menschlichen und politischen Schaden in Kauf
Fehlleitung und Mißbrauch sind schon gar nicht genommen. Wir alle wußten, daß Fehlleitung und
voll vermeidbar, wenn Subventionen in einem sol- Mißbrauch von Geldern, wie sie auch im Westen vor-
chen Umfang, in einer solchen Höhe und unter sol- kommen, in der ersten Zeit nach der Wiedervereini-
chem Zeitdruck gewährt werden, wie wir es nach gung noch stärker auftreten würden. Wir haben sie
1990 und 1991 getan haben und tun mußten. Ich will in Kauf genommen. Es gab keine Blaupause für den
gar nicht die vielen Beispiele, die Herr Rexrodt er- Aufschwung Ost. Alte Kader, unerfahrene Ostdeut-
wähnt hat, wiederholen, was es auch für Mißbräuche sche, wohlmeinende West- und Ostdeutsche, Abzok-
ohne solchen Zeitdruck unter sogenannten normalen ker, all das war die Mischung des Jahres 1990 und
Umständen gegeben hat: von Europa über die Bun- folgende.
desrepublik und die Länderebene bis hin zu den Herr Schulz meinte, wir hätten westdeutsche Kon-
Kommunen. trolleure schicken sollen. Sie müßten eigentlich bes-
In einigen Bereichen ist sicher die falsche Mittel- ser wissen, Herr Schulz, wie die Atmosphäre war.
verwendung in den neuen Bundesländern sichtbar: Einfach Beamte schicken, unerbeten, unerwünscht
bei überdimensionierten Handelsflächen auf der grü- und ungefragt? In Brandenburg hieß es und heißt es
nen Wiese, bei riesigen Kläranlagen und bei leeren doch: Sie kommen aus NRW mit der Devise: NRW
Gewerbegebieten. Aber gibt es die nicht oft genug steht für „Nun regieren wir". Vorsicht!
auch in Westdeutschland? Ich will hier ausdrücklich bestätigen: Die F.D.P. hat
sich 1991 für mehr und schnellere Investitionen ein-
(Rolf Schwanitz [SPD]: Aber nicht so viele!)
gesetzt. Wir waren und wir sind für verkürzte Ge-
Das ist doch alles nur die halbe Wahrheit. Der Auf- nehmigungs- und Planungsverfahren. H err Minister-
schwung, den wir jetzt in Ostdeutschland beobach- präsident Vogel, Sie haben da völlig recht. Ich habe
ten, die ersten Ansätze zum Abbau der Arbeitslosig- mehrfach vorgeschlagen - auch von dieser Stelle im
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1393
Dr. Otto Graf Lambsdorff
I Deutschen Bundestag -, Angehörige des öffentlichen städten auf der anderen Seite überhaupt nichts zu
Dienstes von der Haftung für eventuelle fehlerhafte tun.
Investitions- und Vermögensentscheidungen - außer
im Fall des Vorsatzes - freizustellen. (Widerspruch bei der SPD und der PDS -
Wolfgang Thierse [SPD]: Das ist doch blan
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) ker Unsinn! Sie haben keine Ahnung von
den Realitäten in den ostdeutschen Städten!
- Gegenruf von der F.D.P.: Herr Thierse, sa
Haben wir nicht die Kommunen kritisiert, die man-
gen Sie das doch nicht wider besseres Wis
gels geeigneter Investitionsprojekte Fördermittel auf
Konten geparkt hatten? Herr Vogel hat erwähnt, daß sen!)
auch die Länder für das Nichtabrufen von Geld kriti- Meine Damen und Herren, die Verwaltungen in
siert worden sind. Alles, meine Damen und Herren, den Ländern und Kommunen in Ostdeutschland sind
doch wohl im Interesse der Beschleunigung der Inve- jetzt weitgehend aufgebaut. Die Verwaltungsverfah-
stitionstätigkeit, alles im Interesse neuer Arbeits- ren sind seit fünf Jahren eingeübt; die Rechnungs-
plätze! höfe arbeiten. Ministerpräsident Biedenkopf hat das
im Bundestag in der letzten Woche ausdrücklich be-
So verständlich die Probleme der korrekten Mittel- stätigt.
verwendung in der Zeit nach der deutschen Vereini-
gung waren, so falsch wäre es allerdings, Fehlleitung Jetzt muß man sich eine klare Übersicht darüber
und Mißbrauch von Geldern auch noch heute blanko verschaffen, was sich in den fünf neuen Bundeslän-
zu entschuldigen. dern ereignet hat. Dazu müssen der Bundesfinanzmi-
nister und auch der Bundeswirtschaftsminister nicht
gesondert aufgefordert werden; das versteht sich von
selbst.
Vizepräsident Hans Klein: Graf Lambsdorff, die
Kollegin Matthäus-Maier würde Ihnen gerne eine Man kann Entscheidungen natürlich nicht auf Zei-
Zwischenfrage stellen. tungsberichte gründen. Der Fokus unserer Debatte
sollte nicht darin liegen, daß wir Tango vor dem Spie-
gel tanzen.
Dr. O tt o Graf Lambsdorff (F.D.P.): Bitte sehr. (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. sowie
bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN wie bei Abgeordneten der SPD)
und der PDS - Zuruf von der F.D.P.: Ein Un
sinn ist das!) Die beste Art, den Mißbrauch öffentlicher Mittel
abzustellen, ist die Privatisierung öffentlicher Lei-
stungen.
Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Meine Damen (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
und Herren, es wäre mir nichts lieber, Frau
Matthäus, als Ihnen endlich mal ein wenig recht ge- Warum haben sich die neuen Bundesländer lange,
ben zu können - worum Sie mich gebeten haben. Ich zum Teil bis heute gewehrt, Wasserbereitung und
bin dazu leider nicht in der Lage. Abwasserbeseitigung, Müllabfuhr und Energiever-
sorgung Privaten zu überlassen?
(Zuruf von der SPD: Uneinsichtig!) Die in der Koalitionsvereinbarung festgelegte Ver-
besserung der Übersichtlichkeit und Vereinfachung
Das Thema „Rückgabe vor Entschädigung oder der Förderung für die neuen Bundesländer muß und
umgekehrt" hat mit der Frage der Ausdehnung von wird mit Nachdruck vorangebracht werden. Die För-
Flächen auf der grünen Wiese auf der einen Seite derung muß regional auf Problemgebiete konzen-
und mit der Frage der Gewerbeflächen in den Innen- triert werden.
1394 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
- Lesen Sie doch einmal die Interviews; nie wird das Noch einen Punkt will ich ansprechen. Unsere Ab-
gesagt. Sie können es auch durch Unterlassen be- geordnetengruppe war ja relativ fleißig, was Kleine
streiten, indem Sie auf diese Tatsache nicht hinwei- Anfragen betrifft.
sen. (Zuruf von der CDU/CSU: Quantität vor
Ich sage Ihnen ein Beispiel. Die Kali und Salz AG Qualität!)
hat über eine Milliarde DM dafür bekommen, daß sie Gerade z. B. zu der Frage des Aufbaus der Steuerver-
Bischofferode und andere Gruben im Osten ge- waltung und dazu, wie das Ganze vor sich geht und
schlossen hat. So sind die Fördermittel auf dem Weg wie z. B. Fördermittel verwendet werden, haben wir
über den Osten nach Westen geflossen, immer wieder Kleine Anfragen an die Bundesregie-
rung gerichtet. Sie können ja einmal die entspre-
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne
chenden Antworten aus den Jahren 1994 und 1993
ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
nachlesen. Dann werden Sie feststellen, daß die Bun-
GRÜNEN)
desregierung immer der Auffassung war, daß im we-
und zwar ohne zu zögern. Dafür gibt es ganz viele sentlichen alles in Ordnung sei und wunderbar laufe.
Beispiele. Das heißt, sie ist natürlich ihrer Kontrollpflicht nicht
nachgekommen und hat trotz entsprechender Hin-
(Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat denn die weise darauf, daß es auch erhebliche Mängel gibt,
Betriebe kaputtgemacht?) nicht reagiert.
-
Das wissen auch Sie. Übrigens, die letzte Kleine Anfrage unserer
Gruppe zur Verwendung von Investitionszulagen
Was Thüringen betrifft - auch das ist schon ange-
stammt vom September 1993 und ist vom Finanzmi-
sprochen worden, Herr Ministerpräsident -, muß ich
nisterium im März 1994 dahin gehend beantwortet
das Folgende sagen: Ausschließlich unsere Fraktion
worden, daß nunmehr aber alles in Ordnung sei. Das
hat es abgelehnt, im Landtag über den Haushalt für
heißt, das Bundesfinanzministerium hat die Probleme
das Jahr 1995 zu entscheiden, wenn die Prüfberichte
permanent bagatellisiert.
des Landesrechnungshofes über die Verwendung
der Haushaltsmittel für die Jahre 1992 und 1993 - Ich finde, es ist ein starkes Stück, wenn sich die
von 1994 will ich gar nicht reden - nicht vorliegen. Bundesregierung dann hier hinstellt, die ganze Poli-
Die Fraktion ist sogar zum Bundesverfassungsgericht tik verteidigt, sagt, das dürfe man nicht machen, das
gegangen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich schütte Gräben auf - da ist ja überall etwas dran -,
zwar für nicht zuständig erklärt, hat aber in seinem und die CSU, die an dieser Bundesregierung betei-
Beschluß immerhin hervorgehoben, daß es stimmt, ligt ist, aus Bayern das größte Sperrfeuer in dieser
daß ein Abgeordneter über einen Haushalt eigentlich Richtung auch gegen die Ostdeutschen abschießt.
erst entscheiden kann, wenn er weiß, was in den Das ist einfach unaufrichtig, und das wird auch der
Vorjahren mit den Geldern passiert ist. Der Landes- Grund sein, weshalb sich der Bundesfinanzminister
rechnungshof ist bis heute außerstande, die Berichte hier nicht geäußert hat, denn er ist ja Vorsitzender
vorzulegen. dieser Partei.
(Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel (Zuruf des Abg. Joachim Poß [SPD])
[Thüringen]: Widerspruch!)
- Wissen Sie, Herr Thierse, Ihre Kenntnis der PDS
Das muß Mißtrauen schüren. scheint sehr begrenzt zu sein, wenn Sie sie mit der
CSU vergleichen.
Das führt dazu, Herr Ministerpräsident, daß man
einem solchen Haushalt natürlich nicht zustimmen (Zuruf von der SPD: Das war nicht Herr
kann. - Ich freue mich, daß Sie von der SPD nicken; Thierse!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1397
Dr. Gregor Gysi
- Sie waren das? Dann bitte ich um Entschuldigung, Ich glaube, I lerr Kollege Lambsdorff, daß Selbstge-
Herr Thierse. - Da muß ich Ihnen sagen: Wissen Sie, rechtigkeit da nicht am Platz ist. Es gibt eine Menge
wenn Sie sich an die frühere SED erinnerten und Ih- von Punkten, die man in Rückschau auf die Vergan-
nen dann bei Parteitagen Ähnlichkeiten mit der CSU genheit hier in Frage zu stellen hat.
auffielen, würde ich Ihnen ja zustimmen. Aber bei
der PDS ist das wirklich nicht mehr gegeben. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der PDS - Zuruf Ich erinnere beispielsweise an die immer noch im
des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.]) Bundesrat hängende Honorarordnung für Architek-
ten.
Lassen Sie mich als letztes darauf hinweisen, daß
es dringend erforderlich ist, daß wir die Fördermittel (Monika Ganseforth [SPD]: Die ist uralt!)
in den neuen Bundesländern künftig wirklich dafür
Die ostdeutschen Länder beklagen einvernehmlich
einsetzen, daß wir industrielle Kerne erhalten bzw.
und vehement, daß es keinen Sinn macht, die Hono-
dort, wo sie schon nicht mehr erhalten sind, auf-
rare der Architekten an die Investitionssumme des
bauen und daß wir Arbeitsplätze schaffen. Das
Objektes zu binden. Hier gibt es beim Bundeswirt-
Schlimme ist nämlich, daß die Fördermittel benutzt
schaftsminister keine Bewegung. Das ist ein aktuel-
worden sind, um eigentlich nur Aufträge an west-
les Problem, das auf dem Tisch liegt. Das ist kein Ver-
deutsche Unternehmen zu verteilen, und daß die ge-
gangenheitsproblem. Hier kann man sich nicht hin-
samten Struktur- und Wirtschaftsaufgaben in den
stellen und so tun, als habe man immer schon das
neuen Bundesländern damit nicht erfüllt worden
Richtige dazu gesagt und die Probleme schon immer
sind. Es ist sozusagen ein Doppeltransfer organisiert
richtig und exakt formuliert.
worden und kein wirklicher Aufbau im Osten. Sie
werden Dienstleistungseinrichtungen auf Dauer (Beifall bei der SPD - Ingrid Matthäus
nicht erhalten können, wenn Sie keine industriellen Maier [SPD]: Graf Lambsdorff, da hat er
Kerne haben. wirklich recht! Ändern Sie das mal!)
(Beifall bei der PDS) Erstens. Haben die Bundesregierung und die sie
tragende Koalition schon einmal über den Zusam-
menhang zwischen diesen Fehlentwicklungen im
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat
-
Osten und den offenen Vermögensfragen nachge-
jetzt der Kollege Rolf Schwanitz (SPD). dacht? Die Grundsatzentscheidung Rückgabe vor
Entschädigung hat nicht nur allgemein Rechtsunsi-
Rolf Schwanitz (SPD): Herr Präsident! Meine Da- cherheit und soziale Spannungen erzeugt. Sie ist
auch für diese Fehlentwicklungen in doppelter Hin-
men und Herren! Die im Lande gärende Debatte
sicht mitverantwortlich.
über die Verwendung von Steuergeldern und auch
über deren Verschwendung zum Aufbau Ost geht Frau Matthäus-Maier hat vollkommen recht: Zum
den Menschen im Osten und im Westen unter die einen wurden Investitionen in den Stadtkernen mas-
Haut. Es ist richtig, daß es in den ostdeutschen Län- siv behindert. Das Bauen auf der grünen Wiese, das
dern und Kommunen Versäumnisse gegeben hat. Investieren in Industrie- und Gewerbeparks vor den
Wie groß dieses Versagen war und welche finanziel- Städten mit enormen finanziellen Aufwendungen
len Auswirkungen das hatte, muß aufgedeckt wer- und erheblichen Auslastungsrisiken waren durch
den. diese Grundsatzentscheidung förmlich vorprogram-
miert.
Ich will an dieser Stelle Herrn Kollegen Schulz aus-
drücklich widersprechen. Ich glaube nicht, daß das (Beifall bei der SPD)
eine Debatte zur Unzeit ist. Vor dem Hintergrund,
daß es eine über Monate, vielleicht auch über Jahre, Zum anderen hat der Grundsatz Rückgabe vor Ent-
latent existierende Debatte zwischen den Ostdeut- schädigung natürlich etwas mit dem Personal zu tun.
schen und den Westdeutschen über die Gerechtig- Wer vom Bundesgesetzgeber verdonnert wird, über
keit und über die Berechtigung dieses Transfers gibt, viele Jahre hinweg, Bundes-, Landes- und Kommu-
ist es höchste Zeit, daß diese Debatte auch hier im nalämter zur Abwicklung von Alteigentümerinteres-
Parlament geführt wird. sen und -ansprüchen einzurichten - die überdies
1398 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Rolf Schwanitz
noch bis in das Jahr 2000 hinein damit zu tun haben Hier liegen Verantwortlichkeiten, bei denen nicht
werden -, dem fehlen die Leute für Planung, Verwal- nach Ostdeutschland gezeigt werden kann. Hier lie-
tung und Kontrolle. Daran hat es offensichtlich ge- gen die Verantwortlichkeiten dieser Bundesregie-
mangelt. rung.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Petra
Diejenigen, die diese Grundsatzentscheidung Bläss [PDS])
Rückgabe vor Entschädigung 1990 durchs Parlament
An dieser Stelle sei es mir gestattet, eine Anmer-
gedrückt haben, haben eine Mitschuld an den Miß-
kung zu einem heute morgen von Herrn Rexrodt
ständen, die heute diskutiert werden. Daß gerade
noch einmal erhobenen Vorwurf zu machen. Die Op-
auch die F.D.P., die im letzten Jahr noch stolz war,
position, so war zu hören, habe durch ihre starke For-
1990 das Grundprinzip der Restitution erkämpft zu
derung nach der kommunalen Investitionspauschale
haben, heute am lautesten danach schreit, die Gelder
gerade ein unsicheres Instrument bevorzugt, das be-
für den Osten zu sperren, belegt die unverantwortli-
sonders wenig von Bundes- oder Landesbehörden
che Demagogie, mit der hier agiert wird.
habe kontrolliert werden können. Ich halte diesen
(Beifall bei der SPD - Ingrid Matthäus Vorwurf für falsch. Zunächst wollen wir erst einmal
Maier [SPD]: Rohde, Landtag NRW!) abwarten, bis die Berichte des Bundeswirtschaftsmi-
nisters auf dem Tisch liegen. Wollen wir erst einmal
- Ja, setzen Sie sich doch bitte einmal mit Herrn sehen, über welche Instrumente tatsächlich der mei-
Rohde vom Landtag NRW in Verbindung, der würde ste Mißbrauch getrieben wurde und die größten
den Solidaritätszuschlag am liebsten rückwirkend Fehlinvestitionen gelaufen sind.
zum 1. Januar dieses Jahres rückgängig machen.
Zweite Bemerkung: Natürlich gibt es einen Zusam- Die Fehlentwicklungen vor Ort haben nach meiner
menhang zwischen den Fehlentwicklungen im Osten Meinung auch etwas mit dem allgemeinen Finanz-
und dem pauschalen Überstülpen des bundesdeut- status der ostdeutschen Kommunen zu tun. Wer den
schen Rechts- und Verwaltungssystems. Die kompli- Kommunen keine eigene Finanzausstattung gewährt
zierte Steuergesetzgebung und der Wirrwarr in den und sie gleichzeitig mit einer Vielzahl unterschied-
aufgelegten Förderungssystemen taten ein übriges. lichster Fördertöpfe und zum Teil zweifelhafter För-
derungsrichtlinien konfrontiert, wendet sich gegen
Experten sagen uns, daß es mehrere hundert ver- das eigenverantwortliche Entscheiden der Kommu-
schiedene Förderungsvarianten für Tätigkeiten in nen und erzeugt Strukturen, bei denen die Investitio-
Ostdeutschland gibt, zum Teil mit daumendicken nen nicht mehr nach der größten Dringlichkeit, son-
Anweisungen zur Umsetzung dieser Richtlinien. Wo dern nach der schnellsten Verfügbarkeit der Förder-
sind diese Vorschriften denn hergekommen? Haben mittel ausgerichtet werden.
die sich im luftleeren Raum entwickelt, ohne Zutun
der Bundesregierung? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten der PDS)
CDU/CSU und F.D.P. mögen doch bitte nicht so
tun, als ob dieser Förderungsdschungel- und die Ziel- Das produziert Handlungszwänge und Fehlent-
ungenauigkeit der einzelnen Ins tr umente erst seit wicklungen. Für diese kann ich nicht nur den Bür-
heute kritisch hinterfragt werden. germeister vor Ort, sondern muß ich auch diejenigen
(Beifall bei der SPD) verantwortlich machen, die windige Cleverneß stär-
ker gefördert haben als verantwortungsbewußtes
Seit Jahren liegen die kritischen Anmerkungen des Handeln. Auch diese Fragen gehören hier auf den
Sachverständigenrates auf dem Tisch. Seit Jahren Tisch, meine Damen und Herren.
wendet sich die SPD beispielsweise gegen das un
effiziente Instrument der 50prozentigen Sonderab- (Beifall bei der SPD)
schreibungen. Daß hier stets westdeutsche Spitzen-
verdiener enorme Steuervorteile einstreichen können Zum Schluß will ich eine dritte Bemerkung zur Art
und viele ostdeutsche Betriebe, da sie keinen Ge- und Weise der öffentlichen Diskussion selbst ma-
winn erwirtschaften, leer ausgehen, hat die Bundes- chen. Es ist klar: In besonderer Weise betroffen sind
regierung Jahr für Jahr ignoriert. die Ostdeutschen, denn sie haben von den Steuergel
dern, über deren Verschwendung wir in dieser Wo-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie che und in dieser Debatte reden, meist nichts gese-
der Abg. Margareta Wolf-Mayer [BÜND hen. Profitiert haben windige Investoren, unseriöse
NIS 90/DIE GRÜNEN]) Beratungsfirmen und einige Bauunternehmen, fast
Anstatt mit einer verstärkten Investitionszulage ausschließlich aus dem Westen. Finanziert wurden
auch für kleinere ostdeutsche Unternehmen etwas zu diese Vorgänge durch treuhänderisches Geld, durch
tun, ihnen bei ihrem Hauptproblem, nämlich der die Steuerzahler in West und Ost, wobei die Ostdeut-
Eigenkapitalschwäche, zu helfen, wurden enorme schen für diese Fehlentwicklungen künftig durch
steuerliche Anreize für gutbetuchte Westdeutsche kräftige Kommunalabgaben und Gebühren ein zwei-
gegeben, so daß der Sprung in überteuerte Objekte tes Mal bezahlen sollen.
und wirtschaftlich unsinnige Investitionen auch noch
Begleitet wird das Ganze von einer grundsätzli-
auf Kosten des Steuerzahlers vergoldet worden ist.
chen Diskussion über die weitere Akzeptanz der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Transfers für den Osten insgesamt. Das ist eine spal-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1399
Rolf Schwanitz
terische Diskussion, wie wir sie seit 1990 noch nicht Für dieses Klima, meine Damen und Herren, sind Sie
hatten, für die die Bundesregierung und die sie tra- mit dieser Strategie verantwortlich.
genden Fraktionen und Parteien ebenfalls mit ver-
antwortlich sind. (Beifall bei der SPD, sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Zuruf und der PDS)
von der CDU/CSU: Scheinheilig!)
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort zu ei-
Seit 1990 wird jede Leistung des Bundes für die ner Kurzintervention von zwei Minuten hat der Kol-
neuen Länder durch die Verlautbarungen der Bun- lege Stefan Heym (PDS).
desregierung und des Bundespresseamtes künstlich
hochgerechnet. Bei den Leistungen wird grundsätz-
lich von Bruttowerten ausgegangen, unabhängig da- Stefan Heym (PDS): Ich danke Ihnen, Herr Präsi-
von, ob die Ostdeutschen als Bundesbürger einen dent. - Ich finde, was mein Vorredner gesagt hat, ist
Rechtsanspruch auf die Leistungen haben. sehr, sehr gut. Ich kann es nur billigen und ihm ap-
plaudieren, und zwar aus folgendem Grund: Diese
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!) verschwundenen Millionen
(Dr. Paul Krüger [CDU/CSU]: Der PDS!)
Alles ist Transfer, und alles ist westdeutsche Wohltat.
Die Ostdeutschen werden dadurch im Blick des We- haben die Ossis in eine Rolle gedrängt, die sie gar
stens in eine kollektive Demutsverpflichtung ge- nicht ausfüllen können. Man macht ihnen den Vor-
drückt, die man anderen strukturschwachen Regio- wurf, sie hätten sich all dieses Geld genommen, und
nen Westdeutschlands nie abverlangen würde. nun säßen sie im Fett.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marga Ich will Ihnen etwas sagen: Wenn es so wäre, wäre
reta Wolf-Mayer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ das gar nicht einmal schlecht. Aber ich muß Ihnen
NEN] und des Abg. Stefan heym [PDS]) leider mitteilen: Die Ossis sind viel zu unerfahren,
um so etwas machen zu können.
Der gemeinschaftliche Unmut und der berechtigte (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Aber
Widerstand der Westdeutschen, die durch die Fehl- lernfähig!)
entscheidungen der Bundesregierung heute unter ei-
ner noch nie dagewesenen Abgabenlast zu leiden Die haben nicht einmal gewußt, was ein Konto ist;
haben, werden dadurch gleichzeitig geschickt von (Lachen bei der CDU/CSU)
der Bundesregierung weg auf die Ostdeutschen ge-
lenkt. Die Bundesregierung präsentiert sich dann als geschweige denn, wie man auf das eigene Konto die
Biedermann und wandelt die Aktuelle Stunde - von Gelder anderer Leute bringen kann.
uns in dieser Woche zum Thema „Haltung der Bun-
(Widerspruch bei der CDU/CSU - Zuruf von
desregierung zu den Meldungen über Milliardenver-
der CDU/CSU: Für Stefan Heym trifft das
schwendungen in den neuen Ländern" vorgeschla-
- nicht zu!)
gen - um zu einer Regierungserklärung unter dem
Motto „Hilfen für die neuen Bundesländer - Erfolg- Auf diese Weise haben sich andere Leute ihrer be-
reicher Aufbau Ost", während Stoiber und Rohde mächtigt und sie benutzt, um das Geld des Steuer-
von der F.D.P. aus Nordrhein-Westfalen mit ihrem zahlers sehr wohl auf das eigene Konto zu bringen.
Populismus gleichzeitig die westdeutschen Stammti- Aber die Konten, auf denen das Geld jetzt ist, befin-
sche bedienen. den sich im Westen.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marga Das möchte ich Ihnen sagen, und ich empfehle Ih-
reta Wolf-Mayer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ nen auch die Lektüre von „Candide" von Voltaire.
NEN]) Schon da können Sie das Ganze nachlesen. Das war
schon damals aktuell.
Dieser strategische Ansatz, meine Damen und Her-
Ich danke Ihnen.
ren von der Koalition, verbunden mit Ihrer Verweige-
rung einer selbstkritischen Analyse des eigenen (Beifall bei der PDS - Zuruf von der SPD:
Handelns in den letzten Jahren, ist der Treibsatz der Gilt das auch für die SED-Konten? - Dr. Otto
Spaltung zwischen Ost und West, mit dem wir uns Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Seine Tantiemen
gegenwärtig auseinanderzusetzen haben. konten hat er jedenfalls beherrscht!)
Wie weit ist es jetzt noch bis zu jenem Tag, an Dr.-Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Herr Präsident!
dem Neuwagen mit Dresdener Kennzeichen auf Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor dem
westdeutschen Straßen sofort Unmut und bittere Hintergrund der insgesamt sehr guten Entwicklung
Vorwürfe hervorrufen - frei nach dem Motto: in den neuen Bundesländern mutet die heutige De-
Schau mal, Liese, da fahren unsere Steuern spa- batte zuweilen absurd, ja gespenstisch an. Ich
zieren! glaube, wir haben soeben zwei Zeugnisse dessen er-
1400 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Krüger, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des - Sie fühlen sich getroffen.
Kollegen Dr. Faltlhauser?
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wenn
Sie nicht die Wahrheit sagen, muß man
Dr. Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Ja, bitte, Herr
- doch wohl einmal reagieren können!)
Faltlhauser.
- Ich glaube, daß Ihre Reaktion beweist, daß ich hier
wohl doch ein Stückchen Wahrheit aufgedeckt habe.
Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Herr Kollege,
könnten Sie den Kollegen Schily darauf hinweisen, Meine Damen und Herren, wenn ich soeben ge-
daß man in den letzten Tagen das Ohr nicht unbe-
fragt habe, wem die Debatte nützt, dann kann man
dingt an Tageszeitungen haben mußte, um mitzube-
doch berechtigt auch fragen: Wem schadet sie? Sie
kommen, was der Finanzminister sagt, sondern daß
schadet allen Menschen in Deutschland - was schon
der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung
schlimm ist -, dieses undifferenzierte Gerede schadet
und andere offizielle Erklärungen der Bundesregie-
aber vor allem auch dem an Bedeutung gewinnen-
rung schon seit langem darauf hinweisen, daß die den wirtschaftlichen Standort Ostdeutschland. Da-
Förderung zielgerichteter gestaltet werden soll und mit schadet die Debatte uns allen, unserem ganzen
dementsprechend die Gesamtmittel der Förderung
Gemeinwohl. Wir sollten u. a. nicht vergessen, daß
herabgeführt werden müssen?
die beschleunigt steigende Nachfrage aus den neuen
Bundesländern das Wirtschaftswachstum in West-
Dr. Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Ich kann nur be-
- deutschland in ganz erheblichem Maße im letzten
stätigen, daß diese Diskussion - zumindest in meiner Jahr angeregt hat.
1402 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die ten. Die einen sagen, es war schon immer so, die an-
Kollegin Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- deren sagen, es geht auch anders. Es streiten eigent-
NEN). lich nur die Westdeutschen untereinander; tut mir
leid.
Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis jetzt
habe ich in dieser Debatte erlebt: Ängstlichkeit, Trotz Solange es in Westdeutschland so ist, daß mit zwei-
- ein Herr Waigel will nicht der Sündenbock sein, be- erlei Maß gemessen wird, solange durch Neiddebat-
nimmt sich wie ein trotziges Kind -, Nervosität - viel- ten vom dringend notwendigen gesamtdeutschen
leicht geht es an die eigenen Pfründe -, Aktionismus Strukturwandel abgelenkt wird, bleiben politische
- die Ausschüsse müssen sofort informiert werden, und wirtschaftliche Debatten vergiftet. Das läßt sich
weil es keiner vorher gewußt haben konnte. Es wird leider nicht ändern.
moralisiert; man spricht darüber, daß Ossis vielleicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nicht wissen, was ein Konto ist. - Wissen Sie, Herr sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Heym, ich war nicht so oft im Westen wie Sie. Viel- der F.D.P.)
leicht haben Sie sich nur mit Wessis unterhalten. Das
kann ich nicht beurteilen. Die in den fünf neuen Ländern erbrachten Aufbau-
leistungen, meine Damen und Herren, erforderten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sehr viele persönliche Opfer, und das ist auch noch
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und nicht zu Ende. Und jetzt gibt es eine Hypothek. Es
der F.D.P.) gibt eine Hypothek von praktizierter vierjähriger Po-
Es kommt zu Verbalattacken zwischen den MdBs. litik in diesem Lande. Die muß auch im alten Bundes-
Übrigens haben bisher nur Männer geredet, viel- gebiet abgeleistet werden, damit wir mittel- und
leicht lag es daran. Ich bitte Sie, meine lieben Kolle- langfristig zusammen ein stabiles Deutschland errei-
ginnen und Kollegen: Können wir uns nicht einmal chen können. Die von mir beobachtete allgemeine
zusammensetzen und darüber reden, was passiert Scheu vor diesem Strukturwandel, der in der gesam-
ist? ten BRD ansteht, stimmt mich äußerst bedenklich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser:
Sagen Sie doch „Bundesrepublik Deutsch
Meine Herren, Sie haben so wenig über den Dingen land" !)
gestanden. Sie haben sich hier aufgeführt, daß es be-
Wie oft habe ich bei uns gehört: Im Osten kann
schämend gewesen ist.
man wenigstens kreativ sein, da kann man etwas ma-
Herr Lambsdorff spricht vom Gesetz der reinen chen; im Westen ist alles so starr usw., man kommt
Marktwirtschaft. - Die Lehre hör' ich wohl. Wo ist die nicht vorwärts. Ich wäre froh gewesen, wenn das Ein-
F.D.P. beim Abbau der Subventionen für die west- zelmeinungen irgendwelcher Pioniere gewesen wä-
deutsche Steinkohle? Bei der Braunkohle - in drei ren. Jetzt stelle ich fest, daß das wirklich das Problem
Jahren ist die Zahl der Arbeitsplätze von
- ca. 100 000 ist. I -lier geht es doch gar nicht darum, wie das
auf ca. 8 000 verringert worden - hat sie die reine Förderinstrumentarium für Ostdeutschland in den
Lehre der Marktwirtschaft praktiziert. nächsten zehn Jahren aussehen soll. Hier geht es
doch darum, wie wir jetzt damit umgehen wollen und
(Beifall des Abg. Dr. Michael Luther [CDU/ wie wir miteinander weiter umgehen wollen.
CSU])
Wir haben jetzt eine Abrechnung der Kleinbürger
Es gibt eine Zumutbarkeitsgrenze in diesem Land. untereinander.
Die verläuft dort, wo früher die Mauer verlief. Die
Zumutbarkeitsgrenze heißt: Wir Ostdeutschen müs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sen das aushalten, weil wir nur dazugekommen sind, sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
aber den Westdeutschen können wir es nicht zumu-
Wir haben die Profilierungsneurose deutscher Parti-
ten. Jetzt bekommen wir sogar noch eins drauf. - Ich
kulargewalten. Und wir haben die Zukunftsangst -
bitte Sie! Sie haben Wasser gepredigt, jetzt wird hier
nicht nur der Wirtschaft - vor der wachsenden Potenz
im Wein ersoffen. Die fünf neuen Länder waren die
im Osten. Viele Deutsche in Ost und West werden
Nagelprobe auf die Tauglichkeit und Untauglichkeit
gar nicht mehr wissen, wie sie das noch menschlich
all der Dinge, die in dieser Republik bis zum Jahre
und intellektuell in den Griff bekommen sollen. Die
1989 entwickelt worden sind. Das war eine Super-
Wogen der Unsicherheit, die alle häßlicher, dümmer
chance. Es war eine Chance, in dieser Bundesrepu-
und kleiner machen, als sie eigentlich sind, schlagen
blik insgesamt endlich wieder zu neuen Wegen zu
über uns allen zusammen. Alles, was in der gesamt-
finden, aus 20jährigen Debatten herauszukommen.
deutschen Politik schiefläuft, braucht eine emotio-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nale Bündelung. Da bot sich z. B. auch der Solidarzu-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) schlag an.
Was ist passiert? Wer hat die fünf neuen Länder in Die Zeiten, meine Damen und Herren, werden
den letzten vier Jahren regiert? Jetzt streiten sich die nicht mehr besser. Die ruhigen Jahre sind vorbei. Die
real existierenden Westdeutschen mit den real exi- ganze Welt verändert sich. Europa wird nicht mehr
stierenden Zwischendeutschen. Inzwischen gibt es der Zivilisationsbeglücker der Welt sein, sondern die
auch eingewanderte ostdeutsche Ministerpräsiden- abendländische Zivilisation wird sich gefälligst in die
1404 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Antje Hermenau
anderen Kulturkreise dieser Welt einordnen müssen. rung stark reduziert wird, möglichst auf null, obwohl
Das ist die eigentliche Frage, die dahintersteht. Aber wir alle wissen - oder wissen müßten -, daß der deut-
niemand hat die Europäer - und damit die Deut- sche Steuerzahler um so schneller wieder vom Soli-
schen - auf diese dramatischen Veränderungen im darzuschlag, den übrigens auch die Ostdeutschen
nächsten Jahrhundert aufmerksam gemacht. Doch zahlen - das muß man hier wieder einmal sagen -,
sie finden statt. Sie bahnen sich ihren Weg, ob wir es entlastet wird, je eher der Aufschwung Ost sich sel-
wahrhaben wollen oder nicht. Die ersten Symptome ber trägt.
lösen bei unseren Hypochondern erst einmal die
Angst vor einem Krebsgeschwür aus. Sofort bricht Diese Kampagne so bezeichne ich das - ist durch-
-
man in Panik aus und es werden Beschimpfungen sichtig und schäbig, weil sie nicht aufklärt, sondern
laut. durch Verallgemeinerung von Einzelfällen verunsi-
chert.
Meine Damen und Herren, die Westdeutschen ha-
ben sich zum größten Teil mit einer Menge Geld vom (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
wirklichen Interesse an uns und den fünf neuen Län- ten der CDU/CSU)
dern freigekauft. Das ist eine Tatsache. Diesen Vor-
wurf muß sich der Westen auch gefallen lassen. Die Ich hätte wirklich geglaubt, daß wir mit der deut-
Bundesregierung hat es sich zu leicht gemacht: Hier, schen Einheit schon ein Stück weiter sind.
nehmt, aber haltet die Klappe!
Was will man erreichen, wenn man in einer Karika-
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Keine kluge tur der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung", Ver-
Rede!) breitungsgebiet Ruhrgebiet, suggeriert, daß der
Wir haben euch eigentlich nicht gewollt, nur ein biß- dumme Westdeutsche Mark für Mark in ein Faß
chen, aber nun seid ihr da! - Das konnte doch nicht ohne Boden wirft? - Ich sage Ihnen: Ich stehe dazu,
gutgehen. Ich hätte mir so gewünscht, wir hätten uns für eine Steigerung der Investitionszuschüsse, Zula-
heute zusammengesetzt und in Ruhe über alles ge- gen und Pauschalen gekämpft zu haben. Ich werde
sprochen, so wie dies gestern im Haushaltsausschuß auch weiterhin dafür kämpfen. Herr Stolpe sagt jetzt
geschah. Dazu aber war dieses Parlament nicht in laut „Bild"-Zeitung, daß ihm in der Anfangszeit das
der Lage. Geld geradezu aufgenötigt worden sei. Das ist natür-
lich Blödsinn. Es mußte und muß geklotzt werden!
Natürlich brauchen wir auch weiterhin Fördermög- Kleckern würde heißen: Dauersubventionen, Trans-
lichkeiten für die Eigenkapitalbildung, für die Exi- fer auf unbestimmte Zeit. Das wäre ein noch größeres
stenzgründung und für die Markteinführung - wahr- Übel.
scheinlich noch über eine ganze Dekade hinweg. Ich
frage mich, ob wir uns überhaupt noch in dem Rah- Es war richtig, daß Herr Möllemann als damaliger
men unseres Gemeinwesens bewegen. Sicherung Wirtschaftsminister den Aufschwung Ost eingeleitet
von Demokratie, Herstellung und Erhalt von sozialer und der jetzige Wirtschaftsminister, Herr Rexrodt,
Gerechtigkeit, Entwicklung einer stabilen, ökolo- diesen zunehmend erfolgreich fortgesetzt hat.
gisch verträglichen Wirtschaft - waren das nicht die
-
Eckpunkte, unter denen wir uns verständigen woll- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Diese
ten? Beschwörungsformeln helfen Ihnen auch
nicht!)
Ich erlebe jetzt, daß es einen deutlichen Realitäts-
verlust gibt, der sich kultiviert hat. Das ist natürlich Ich muß mich z. B. über Herrn von Waldenfels, sei-
sehr bequem, weil man sich darin gemütlich einrich- nes Zeichens Finanzminister von Bayern, schon wun-
ten kann. Die Politik geht auch hier - leider - lieber dern, der in einem TV-Interview in keiner Weise die
den Weg des kleineren Widerstandes. Herr Kohl hat aus der Luft gegriffenen 65 Milliarden DM anzwei-
damals damit angefangen, die gemeinsame Aufgabe felte, dafür aber die Installation von goldenen Was-
der Wiedervereinigung gewaltig und sträflich zu un- serhähnen in Thüringen beklagte, während die
terschätzen. Dazu kann ich leider wegen meiner ab- bayerischen Gemeinden haushaltsmäßig sehr zu-
gelaufenen Redezeit nicht mehr sagen. rückhaltend seien. - Herr von Waldenfels, das ist
Danke. pure Stimmungsmache! Wir wissen doch, daß sich
Bayern am wenigsten an das Sparprogramm von
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 1993 gehalten hat und statt des empfohlenen zurück-
haltenden Zuwachses von 3,5 % satte 7 % ausgewie-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat der
-
sen hat.
Kollege Jürgen Türk (F.D.P.).
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Jürgen Türk (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr Das war aber nicht nur in Bayern so.
geehrten Damen und Herren! Es ist Brunnenvergif-
tung, wenn im „Spiegel" von einem „Milliardengrab Daß Brandenburg laut Waldenfels keine wirt-
,Aufschwung Ost' " gesprochen und geschrieben schaftlichen Schwierigkeiten mehr hat, ist sehr
wird; das ist undifferenziert und einseitig. Die Ab- schmeichelhaft für die F.D.P. ; denn immerhin hatten
sicht aber ist erkennbar: West und Ost sollen gegen- wir dort einen liberalen Wirtschaftsminister, der übri-
einander ausgespielt, aufgehetzt werden. Es soll da- gens nicht mit der Gießkanne gefördert hat. Aber
für Stimmung gemacht werden, daß die Ost-Förde- daß dort, wie der bayerische Finanzminister schluß-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1405
Jürgen Turk
folgerte, keine Förderung mehr nötig sei, geht wohl Natürlich brauchen wir zur Ankurbelung des pro-
etwas an der Realität vorbei. Mit dem wirtschaftli- duzierenden Gewerbes die 50 %ige Sonderabschrei-
chen Aufschwung wird es schon noch ein Weilchen bung. Natürlich muß die Gießkannenförderung redu-
dauern. ziert und immer mehr auf Schwerpunktförderung
umgestellt werden. Dies wurde übrigens unter einem
Laut „Bayern 3"-TV will der Bundesfinanzminister liberalen Wirtschaftsminister in Brandenburg bereits
ebenfalls die Förderung reduzieren. Die Koalitions- praktiziert. Ich kann mir z. B. sehr gut die Einrich-
vereinbarung aber sagt aus - wir sollten sie auch tung von Sonderwirtschaftszonen sowohl im Osten
durchsetzen -, Herr Staatssekretär, daß die Förde- als auch im Westen vorstellen. Ausschlaggebend
rung fortgesetzt und vereinfacht werden soll. Wir wäre allein die Strukturschwäche. Lassen Sie uns das
sollten also nicht auf der Grundlage zweifelhafter als Pilotprojekt testen.
Zeitungsberichte pauschal reduzieren, sondern vor-
Eine weitere Möglichkeit ist die Einführung von
her den Bedarf errechnen. Vereinfachen und straffen
ist richtig. Bemessungskennziffern für Anlagen und Immobi-
lien der öffentlichen Hand als Prüfgrundlage auch
für die Rechnungshöfe. Ich bin überzeugt, daß wir in
Wir haben ein übersichtliches und damit einfach
Ost und West sowohl hinsichtlich der Größe als auch
anwendbares Förderinstrumentarium. Wir brauchen
das. Das ist der erste Schritt zu einer effizienteren des Standortes erheblich überbemessen. Das sind
Fördermittelverwendung. Diese brauchen wir im unsere eigentlichen Reserven.
Osten und im Westen. Wenn Herr von Waldenfels Bei dieser Gelegenheit müssen wir auch überle-
nur von einer Kontrolle im Osten spricht, so ergänze gen, wie wir schrittweise vom kameralistischen
ich: Diese Kontrolle brauchen wir auch im Westen; Haushaltssystem der Kommunen und Kreise weg-
denn auch hier gibt es vergoldete Türklinken an kommen. Es verleitet dazu, jeweils bis zum Jahres-
manchen Rathäusern. ende wertvolle Mittel „verbraten" zu müssen. Lö-
sung: Die Kommunen müssen wie Unternehmen ge-
Wir sollten aus der Not eine Tugend machen, also führt werden. Gott sei Dank gibt es da schon ganz
diese Chance nutzen und Verschwendung, die wir kleine Ansätze.
uns in der Tat nicht länger leisten dürfen, sowohl in
West als auch in Ost beseitigen; denn mit einseitigen Lassen Sie uns das gemeinsam in Bund, Ländern,
Schuldzuweisungen kommen wir nicht weiter. Wir Kommunen und Kreisen bald angehen, und zwar in
müssen also Verschwendung, zu hohe Steuern und ganz Deutschland. Lassen Sie uns nicht unsere Kraft
Abgaben sowie Subventionen in ganz Deutschland in gegenseitigen Beschimpfungen verschwenden,
auf den Prüfstand stellen. sondern für gute Ideen einsetzen.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Ich stelle folgendes zur Diskussion: Lassen wir den
drei Gs - den Gangstern, Gaunern und Ganoven - Wir sind gefordert. Wir sollten nicht - wie es im
durch bessere Übersichtlichkeit und Kontrollen im- „Spiegel" stand - „erst baggern, dann denken", son-
mer weniger Chancen. Lassen wir öffentliche Lei- dern wir sollten den Kopf sofort einsetzen.
stungen durch Private anbieten, wenn diese das effi-
Vielen Dank.
zienter können, und das können sie vielfach. Leider
hat das die Länderkammer im Haushaltsgrundsätze- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
gesetz verhindert. Leider haben wir das auch bei den
Abwasseranlagen nicht ganz geschafft. Ergebnis: Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat der
-
Jahrelang haben Sie das Verschuldungsproblem (Joachim Poß [SPD]: Die F.D.P. nicht verges
der ostdeutschen Wohnungswirtschaft verschleppt. sen!)
Dadurch haben Sie die Kreditfähigkeit der Woh-
nungsunternehmen blockiert, so daß dringend not- war von Anfang an darauf gerichtet, der privaten Fi-
wendige Maßnahmen zur Sanierung des Wohnungs- nanzierung von Kläranlagen über das sogenannte
bestandes und der Belebung der ostdeutschen Wirt- Betreibermodell Vorrang einzuräumen. Hier wurden
schaft verzögert wurden. viele Kommunen über den Tisch gezogen. Sie wur-
den über die Probleme privater Finanzierung im Ge-
(Beifall bei der SPD - Dr.-Ing. Paul Krüger gensatz zu denen bei einer kommunalen Haushalts-
[CDU/CSU]: Unsinn! Das stimmt doch gar finanzierung nicht hinreichend aufgeklärt. Hieraus
nicht!) resultieren dann exorbitant hohe Abwassergebüh-
ren, die den Bürgern unzumutbare Kosten auferlegen
- Sie wissen genau, daß das stimmt. Wenn Sie so rea- und die kommunale Finanzkraft weit übersteigen.
gieren, merkt man das.
Welcher Geist hier auf seiten der Bundesregierung
Auf diesen Politikfeldern im Verantwortungsbe- und der Koalition herrscht, macht eine Diskussion im
reich der Bundesregierung liegen die wirklichen Mil- haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages vom
liardengräber öffentlicher Gelder, nicht in Einzelfäl- November 1992 deutlich.
len fragwürdiger kommunaler Entscheidungen in
Ostdeutschland. Aber selbst dort sitzen Sie mit Ihrer
Verantwortung im Boot. Denn auch diese Fälle sind Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Kollege
-
die logische Konsequenz einer Bonner Politik, die in Wieczorek, achten Sie bitte auf die Zeit.
1408 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Aber gerne. - Die enormen Finanzleistungen - und vor allem
Da hat die Koalition einen Beschluß zum Verwal- deren Mißbrauch - heizen im Westen erneut Res-
tungshandeln in den neuen Bundesländern vorge- sentiments gegen den Osten auf. Der gesell-
schlagen. Darin heißt es: schaftliche Schaden, den Neid und Mißgunst im
geeinten Deutschland anrichten können, ist
Alle Entscheidungsträger in Bund, Ländern und kaum absehbar.
Gemeinden sind aufgefordert, auf der Grundlage
des geltendes Rechtes schnell und kreativ zu ent- So konnten wir in dieser Woche in einem Beitrag des
scheiden und vor allem Ermessensspielräume „Spiegel" lesen. Selten bin ich einem höheren Maß
bestmöglichst ... auszuschöpfen. an Heuchelei als in diesem Artikel begegnet. Über
viele Seiten hinweg wird hier nichts anderes getan,
So weit - so gut. Ich habe eben gesagt, das will ich
als Neid und Mißgunst zu schüren, um dann zu die-
deutlich unterstreichen. Aber dann sollte es weiter
sen Ressentiments zu kommen. Angeblich wurden
heißen - der Haushaltsausschuß hat diese weitere
65 Milliarden DM mißbraucht, nicht belegt - gegrif-
Passage nicht beschlossen -:
fene Zahlungen, eine Schätzung.
Aufgrund unbest re itbarer Schwierigkeiten in
den neuen Bundesländern darf die Fehlerhäufig- Meine sehr verehrten Damen und Herren, sowenig
keit höher sein als im alten Bundesgebiet. es Oskar Lafontaine 1990 im Bundestagswahlkampf
gelungen ist, mit einer Neid-, mit einer Mißgunst-
kampagne die Herzen und die Stimmen der Bürger
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Kollege
-
zu gewinnen, so wenig wird der „Spiegel" mit dieser
Wieczorek, Sie sind deutlich über der Zeit. Kampagne seine schwindende Auflagenhöhe bes-
sern.
Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Herr Präsi-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
dent, diese eine halbe Seite, dafür brauche ich noch
ordneten der F.D.P.)
etwas Zeit, weil sonst mein ganzer Vortrag nicht
mehr im Zusammenhang wäre. Phantasie statt Recherche. Ich glaube, es ist wichtig,
(Zuruf von der CDU/CSU: Das wäre nicht daß wir darauf hinweisen; denn wenn es noch eines
schlimm!) Beweises der Komplizenschaft zwischen „Spiegel"
und SPD bedurft hätte,
Es geht nicht darum, daß wir etwas verstecken. Wir Auch hier haben wir eine klare Linie, wie bei der
haben nichts zu verbergen - im Gegensatz zur SPD. Wiedervereinigung. Wir wollten sie, wir haben sie,
und wir stehen zu den Konsequenzen.
Vizepräsident Hans Klein: Herr Repnik, Sie gestat- Frau Kollegin Matthäus-Maier, wir lassen nicht zu
s eine Zwischenfrage von Frau Kollegin Matthäu
ten - Kollege Krüger hat darauf hingewiesen -, daß die
Maier? SPD gerade jetzt wieder vor den Landtagswahlen in
liessen in dieser Frage ständig mit gespaltener
Hans Peter Repnik (CDU/CSU): Bitte, Frau Mat-
-
Zunge redet.
thäus-Maier.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Hans-Peter Repnik
Ich bin sehr gespannt, wie Sie bei einer der näch- wenn Sie für eine einheitliche Investitionszulage ein-
sten Landtagswahlen reagieren werden, die wir in getreten sind. Der Herr Präsident möge mir erlauben,
der Bundesrepublik Deutschland haben, nämlich bei auch ihn zu zitieren. Er hat in seiner damaligen Ei-
der Berliner Wahl, wo Ost und West vereint sind, wie genschaft als Fraktionsvorsitzender der SPD gesagt:
Sie dort versuchen werden, die Menschen hinters Zukunftsprogramme für Ostdeutschland in der Höhe
Licht zu führen. Ich werde dies mit Interesse zur von 10 Milliarden DM pro Jahr für zehn Jahre sind
Kenntnis nehmen. erforderlich. - Ich sage: Jawohl, auch wir sind dafür.
Aber dies muß finanziert werden. Dies geht nun ein-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was mal nicht ohne den Solidaritätszuschlag. Es stünde
diese Art von Politik betrifft, so hat der Kollege Gysi der SPD gut an, wenn sie dazu stünde und der Bevöl-
heute morgen auf einen Schelmen anderthalbe ge- kerung, auch jetzt in Hessen, und ebenso dem hessi-
setzt. Herr Präsident, ich bedauere sehr, daß der Kol- schen Ministerpräsident Eichel sagen würde, daß es
lege Gysi heute früh von diesem Pult aus ungerügt der SPD-dominierte Bundesrat war - mit den Stim-
einen Vergleich zwischen der Partei, die an der de- men der SPD-Ministerpräsidenten -, der diesen Soli-
mokratischen Entwicklung in Deutschland einen daritätszuschlag doch mit beschlossen und ihn auf
maßgeblichen Anteil hat, nämlich der CSU, und der 7,5 % festgesetzt hat. Sagen Sie das doch; stehen Sie
PDS-Vorgängerin SED ziehen konnte - einer Partei, zu Ihrem Wort!
der wir Mord, Diktatur, Unfreiheit und die Mauer zu
verdanken haben. Wenn Herr Kollege Gysi da wäre, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
würde ich ihm zurufen: Schämen Sie sich, und ent- und der F.D.P.)
schuldigen Sie sich beim Vorsitzenden der CSU für
Herr Schily, Sie haben gesagt, der Bürger würde
diesen Vergleich!
ausgepreßt. Die letzte Aktion, der Solidaritätszu-
(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Barbara Höll schlag - ich sage es noch einmal -, ist mit Zustim-
[PDS]: Die PDS ist nicht die SED!) mung der SPD - Gott sei Dank hat sie sich hier in die
Verantwortung nehmen lassen - gemacht worden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe Nicht wir oder der Finanzminister - wie Sie es gesagt
mit großem Interesse die Worte gelesen, die der SPD- haben - mogeln sich aus der Verantwortung, sondern
Vorsitzende Rudolf Scharping seinen lieben Genos- Sie stehlen sich aus der Verantwortung, wenn Sie
sinnen und Genossen im „Vorwärts" vom Januar die- heute den Solidaritätszuschlag in Frage stellen.
ses Jahres geschrieben hat. Er schreibt dort:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
Verläßlicher Schutz der Schwachen und die Be- ordneten der F.D.P.)
wahrung des Zusammenhalts der Gesellschaft
durch Solidarität und Miteinander ist erforder- Ich möchte Sie noch an ein Weiteres erinnern, was
lich. Sie heute auch nicht mehr wissen wollen. Nicht nur
im Jahre 1992 haben Sie es gesagt, sondern auch im
Wer, meine sehr verehrten Damen und Herren, Wahlprogramm der SPD stand noch: Um die Investi-
wenn nicht unsere Landsleute in den neuen Län- tionen der Städte und Gemeinden in Ostdeutschland
dern, bedarf gerade dieses besonderen Schutzes! zu beschleunigen, soll den Kommunen für eine be-
- wenn nicht
Wer ist auf mehr Solidarität angewiesen, grenzte Zeit wieder eine Investitionspauschale be-
die Menschen in den neuen Bundesländern! reitgestellt werden. - Dies beklagen Sie heute;
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nein, bekla
Nun zu Ihren Äußerungen, Frau Matthäus-Maier, gen wir nicht! - Gegenruf von der CDU/
zum Solidaritätszuschlag. CSU: Doch! Doch!)
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was habe in Ihrem Wahlprogramm haben Sie es noch gefor-
ich denn gesagt?) dert.
- Sie haben gesagt, er sei ökonomisch unsinnig, er Sie wollten vor wenigen Wochen und Monaten,
solle abgeschafft werden. noch im Wahlkampf, einmal mehr eine Gießkanne,
ein Füllhorn über die Gerechten und die Ungerech-
(Widerspruch bei der SPD) ten in den neuen Ländern ausgießen. Wir haben
Kollege Scharping hat ähnliches gesagt. Wer solche ganz konkret aus vierjähriger Erfahrung unsere Kon-
Äußerungen in einer Zeit tut, in der wir auf die Soli- sequenzen gezogen.
darität aller Menschen in Deutschland angewiesen (Abg. Otto Schily [SPD] meldet sich zu einer
sind, um unseren Landsleuten im Osten gleichwer- Zwischenfrage)
tige Lebensverhältnisse zu geben, der vereint nicht,
der spaltet.
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Kollege
-
Schande, wenn Sie 1992 gesagt haben, die Investi- danken noch zu Ende führen darf, dann gerne.
tionspauschale für die Kommunen in den neuen Bun-
Herr Schily, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, wir
desländern sei erforderlich,
müßten Konsequenzen ziehen. Wir haben diese Kon-
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Richtig!) sequnzgo.HrSchulvmBÜNDI90/
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1411
Hans-Peter Repnik
DIE GRÜNEN hat dies ebenfalls angeregt. Wir haben rem Konsumverhalten. Wir mußten doch so schnell
geprüft. All das, was der Wirtschaftsminister und der wie möglich so viel Geld, Leistungen, Beratungen,
Finanzminister jetzt im Hinblick auf die Anschlußför- Hilfe wie möglich in die neuen Länder bringen, um
derung für das Jahr 1997 und die folgenden Jahre diese Zuwanderung, diesen Strom an Menschen von
vorgeschlagen haben, ist ja ein Ergebnis gerade die- Ost nach West zu stoppen. Wir wissen doch auch,
ser Prüfung. Wir sind nicht erst jetzt dabei, die ent- daß es häufig die Besten waren, die zu uns gekom-
sprechenden Konsequenzen zu ziehen, sondern wir men sind, diejenigen, die mit Initiative ausgestattet
haben das bereits getan. waren, die Wagemutigen, die wir für den Aufbau im
Osten gebraucht hätten. Deshalb mußten wir so han-
Sie haben gesagt: Für diese Politik trägt der Fi- deln. Es gab doch, ehrlich gesagt, gar keine andere
nanzminister die Verantwortung. Alternative.
(Zuruf von der SPD: Richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wohl wahr. Er trägt sie. Ich kann nur sagen: Er tut In diesem Zusammenhang wird immer wieder das
gut daran, durch eine konsequente Spar- und Konso- Stichwort Solidarität strapaziert. Da frage ich mich
lidierungspolitik überhaupt erst den Gestaltungs- schon: Wo bleibt eigentlich die Solidarität mit den
spielraum im Haushalt zu eröffnen, den wir brau- Menschen, die vor Ort in den neuen Ländern tätig
chen, um die Herausforderungen in den neuen Län- sind - seien es Bürger aus den neuen Ländern oder
dern zu bewältigen. Dafür trägt er die Verantwor- Westdeutsche, die zur Hilfe hingegangen sind -,
tung; dafür sind wir ihm dankbar. wenn wir heute einen Maßstab der Prüfung anlegen,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge wie er sich in 40 Jahren einer geordneten Verwal-
ordneten der F.D.P.) tung im Westen entwickelt hat? Die Menschen dort
hatten doch gar keine Chance. Wir sollten sie nicht
so sehr kritisieren, sondern wir sollten diesen Men-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Kollege
-
schen unseren Dank abstatten für das, was sie in die-
Repnik, sind Sie jetzt bereit, die Zwischenfrage zuzu- ser Zeit geleistet haben.
lassen? - Bitte, Herr Schily.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der F.D.P.)
O tt o Schily (SPD): Herr Kollege Repnik, ist Ihnen
im Eifer des Gefechts einfach entgangen, daß der Unser Konzept Aufschwung Ost ist aufgegangen -
Kollege Schwanitz heute ausdrücklich die Investi- Graf Lambsdorff hat darauf hingewiesen -: 8,9 %
tionspauschale wieder als ein wichtiges Instrument Wirtschaftswachstum. Dies kam nicht von allein, wir
der Investitionsförderung zur Sprache gebracht hat? haben es entsprechend stimuliert.
Wie kommen Sie dazu, zu behaupten, wir wollten
uns von diesem Instrument distanzieren? Für die Zukunft ist für uns klar: Förderpräferenzen
zugunsten der neuen Länder sind in dem Maße abzu-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Ingrid bauen - und wir sind dabei, dies zu tun -, wie sich
Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!) die Standortnachteile in Ostdeutschland verringern.
- Ich darf nochmals an den Jahreswirtschaftsbericht er-
innern. Dort ist vorgegeben, daß die Förderungen ge-
Hans Peter Repnik (CDU/CSU): Vieles von dem,
-
strafft, deutlich degressiv ausgestaltet und schritt-
was der Kollege Schwanitz gesagt hat, kann ich nur
weise zurückgeführt werden sollen. Die notwendi-
unterstreichen. Es deckt sich mit unseren Erfahrun-
gen Hilfen werden auf die Bereiche Industrie, Mittel-
gen und unseren Beobachtungen. Deshalb lade ich
Sie ausdrücklich dazu ein - ich glaube, im Kollegen stand sowie Innovationen konzentriert.
Schwanitz haben wir einen guten Gesprächspartner -, Es liegt jetzt an uns allen, im Rahmen der parla-
gerade jetzt, bei der parlamentarischen Beratung des mentarischen Beratung all diese Vorschläge aufzu-
Jahreswirtschaftsberichts, diese Erfahrungen einzu- greifen, das Beste daraus zu machen - ein Ziel ei-
bringen und dafür zu sorgen, daß solche Mißstände gentlich, dem Sie, meine Damen und Herren von der
in der Zukunft nicht mehr passieren. Opposition, sich nicht verschließen dürften. Ich
möchte Sie herzlich dazu einladen. Im Sinne der Ein-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich
heit Deutschlands sollten wir endlich darauf verzich-
möchte jetzt noch auf das eingehen, was der Kollege
ten, dieses Thema in jedem Landtagswahlkampf zu
Wieczorek gesagt hat. Es wurde und wird der Ein-
mißbrauchen.
druck vermittelt, als ob die Bundesregierung, die
Landesregierungen in den neuen Bundesländern (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
und die Kommunen im Osten Deutschlands grund- Otto Schily [SPD]: Reine Heuchelei! - Wei
sätzlich überhaupt eine Alternative gehabt hätten. tere Zurufe von der SPD)
Wir hatten im Grunde keine Alternative. Wir erin-
nern uns daran: Seit dem Öffnen der Mauer bis zum
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort zu ei-
Wirksamwerden der Wirtschafts- und Währungs- -
Ingrid Matthäus-Maier
mit zwei Zungen spräche. Ich bin dafür - und das ha- Das zweite: Wir haben einen Bundesfinanzmini-
ben wir unter uns immer so gehalten -, daß wir hier ster, der seit zwei Jahren die Berichte des Rech-
streitig diskutieren, aber so etwas hat mir noch nie nungshofes zu den Abschreibungsbedingungen in
ein Kollege vorgeworfen, auch nicht aus Ihren Rei- den Wind geschlagen hat und die Treuhand agieren
hen. ließ. Der Rechnungshof hat seit Jahren gefragt:
Warum kontrolliert Herr Waigel die Treuhandanstalt
Erstens. Ich habe nicht die generelle Abschaffung nicht ausreichend?
des Solidaritätszuschlages gefordert. Was ich im hes-
sischen Wahlkampf, im nordrhein-westfälischen
Wahlkampf und auch seit drei Jahren im Deutschen Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Frau Matthäus
-
Bundestag für meine Partei und mit meiner Partei ge- Maier, Sie müssen jetzt zum Schluß kommen.
fordert habe, ist, daß der Solidaritätszuschlag erst ab
einer bestimmten Einkommensgrenze erhoben wer-
den sollte. Wir haben Sie immer aufgefordert: Neh- Ingrid Matthäus Maier (SPD): Recht hat er.
-
ner und mittlerer Einkommen zuwenig Geld in der Repnik, Sie können erwidern.
Tasche haben, um einkaufen zu können. Deswegen
ist es auch ökonomisch ein Fehler, diese Menschen
mit dem Solidaritätszuschlag zu belasten. Hans Peter Repnik (CDU/CSU): Ich würde gern
-
Ich sage Ihnen, mir hat das Herz geblutet, als ich (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist die
gesehen habe, wie viele ökonomische Fehler Sie am Unwahrheit gegenüber Herrn Eichel!)
1. Juli 1990 gemacht haben. Sie haben die Wäh-
rungsunion gemacht, aber kein Programm Aufbau - Wir haben genügend Belege, daß sowohl Herr Ei-
Ost. Das kam Monate zu spät. Das sind die Fehler, chel als auch Ihr Parteivorsitzender Scharping ge-
die dazu beitragen, daß wir heute in Ostdeutschland rade jetzt, in dieser sensiblen Zeit, dieses Thema ge-
noch so viele Probleme haben. nutzt hat, um die Menschen bei uns einmal mehr hin-
ters Licht zu führen.
Und der letzte Punkt - und das hat Herr Schily
heute morgen gesagt -: Daß wir bei der Investitions- (Widerspruch bei der SPD)
förderung durchaus Verschwendung konstatieren
Das zweite, Frau Matthäus-Maier: Ihre Verdienste
müssen, in Ehren, die will ich gar nicht schmälern. Aber ich
-
zwar noch eine Menge Zwischenrufe, aber keine Mit dem EG-Eigenmittelbeschluß wird ab 1995 die
Wortmeldung mehr. Deshalb schließe ich die Aus- Finanzausstattung der Gemeinschaft schrittweise
sprache. von derzeit 1,2 auf bis zu 1,27 % des Bruttosozial-
produkts der Gemeinschaft im Jahre 1999 erweitert.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag Kleine Zahlen, große Wirkung, kann ich nur sagen.
der PDS auf Drucksache 13/579 zur federführenden
Beratung an den Haushaltsausschuß und zur Mitbe- Gleichzeitig wird die Lastenverteilung bei der Auf-
ratung an den Finanzausschuß und an den Ausschuß bringung der Eigenmittel der Gemeinschaft zwi-
für Wirtschaft zu überweisen. Sind Sie damit einver- schen den Mitgliedstaaten verändert. Das Gewicht
standen? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. der sogenannten Mehrwertsteuer-Eigenmittel wird
verringert, und das Gewicht der Bruttosozialprodukt
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf: Eigenmittel wird dadurch erhöht.
Erste Beratung des von der Bundesregierung Die vom Bundeskabinett am 15. Juli 1994 verab-
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu schiedete Finanzplanung des Bundes berücksichtigt
dem Beschluß des Rates vom 31. Oktober bereits die möglichen finanziellen Auswirkungen des
1994 über das System der Eigenmittel der Eu- neuen EG-Eigenmittelbeschlusses; zwischen 400 Mil-
ropäischen Gemeinschaften lionen DM im Jahr 1995 und bis zu 2,6 Milliarden
DM im Jahr 1999 sind eingestellt.
- Drucksache 13/382 -
Überweisungsvorschlag: Meine Damen und Herren, lassen Sie mich vor
Haushaltsausschuß (federführend) dem Hintergrund der Stellungnahmen des Bundesta-
Finanzausschuß ges, die schon abgegeben wurden, kurz auf die zum
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Teil sehr kritische Diskussion in der Öffentlichkeit zu
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die unseren deutschen Brutto- und Nettoleistungen an
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe kei- die Europäischen Gemeinschaften eingehen. Die
nen Widerspruch. Dann ist das so akzeptiert. Bundesregierung hat die 1992 von der EG-Kommis-
sion vorgelegten Vorschläge für eine massive Erwei-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
terung der Finanzausstattung schon ab 1993 bis auf
mentarische Staatssekretär Kurt Faltlhauser. Bitte.
- 1,37 % des Gemeinschaftsbruttosozialprodukts sowie
die Forderungen des Europäischen Parlaments und
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- einzelner Mitgliedstaaten nach darüber hinausge-
desminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine Da- henden Sätzen - der Vorschlag lautete 1,4 % - strikt
men und Herren! Es gibt eine Brücke zwischen dem abgelehnt.
Thema, das wir gerade debattiert haben, und dem
Thema, das jetzt in der Debatte ansteht: Durch die Erstens. Wir haben durchgesetzt, daß die Anhe-
Vergabe von Mitteln, durch den Streit um die Grö- bung des Eigenmittelplafonds erst mit einer Verzöge-
ßenordnung und die Verwendung der Mittel darf rung von zwei Jahren, statt 1993 erst ab 1. Januar
kein Graben zwischen den Deutschen aufgebrochen 1995, einsetzen soll.
werden. Das war gerade unser Thema.
Zweitens. Wir haben durchgesetzt, daß sich der
Beim jetzigen Thema geht es darum, daß durch die Umfang der notwendigen Eigenmittelerhöhung von
Verteilung der Mittel und die Größenordnung der 1,27 % des Bruttosozialprodukts auf nahezu ein Drit-
Mittel im Zuge der Vereinigung Europas keine tel der Forderungen verringert.
neuen Gräben aufgerissen werden dürfen. Der Streit,
der um die Mittel der EG teilweise in den Hinterzim- Drittens. Wir haben durchgesetzt, daß nur eine
mern geführt wird, ist nicht gerade geeignet, die In- schrittweise Anhebung dieses Plafonds im Zeitraum
tegration Europas voranzubringen. von 1995 bis 1999 erfolgt.
Der vorliegende Entwurf der Bundesregierung für Des weiteren haben wir darauf hingewirkt, daß
ein Zustimmungsgesetz hat eine Vorgeschichte. Er sich die Beitragsleistung künftig stärker als bisher
geht zurück auf die Verhandlungen zum sogenann- am Bruttosozialprodukt der einzelnen Mitgliedstaa-
ten Delors-Paket II und auf die Entscheidungen des ten orientiert und so eine bessere Beitragsgerechtig-
Europäischen Rates vom 11. und 12. Dezember 1992 keit bewirkt.
in Edinburgh.
Nun eine Kommentierung zu den Bruttoleistungen
Auf dieser Tagung haben die Staats- und Regie- und zu den Nettoleistungen. Zu den Bruttoleistun-
rungschefs für einen mittelfristigen Zeitraum bis gen können wir nur sagen, daß die Beschlüsse von
1999 Rahmen und Perspektive der EG-Finanzen fest- Edinburgh und die unter deutscher Präsidentschaft
1414 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Wenn insgesamt die erhöhten Zahlungen der Bun- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!)
desrepublik Deutschland zu einem sinnvollen und Ein Industrieland wie Deutschland hat eben nur ei-
vor allem wirksamen Einsatz der Haushaltsmittel in -
nen marginalen Anteil an den Transfers der Agrar
der gesamten Europäischen Union führen, geben wir und Strukturhilfefonds der Gemeinschaft. Natürlich
dazu unsere Zustimmung. In der Beratung dieses Ge- kann eine Lastenverteilung, bei der ein Mitglieds-
setzentwurfs werden wir das eine oder andere noch staat rund 70 % des gesamten Nettotransfers tragen
vortragen. Aber insgesamt bewerten wir die Sache soll, weder im Interesse der EU liegen, noch ist sie
positiv. der Bundesrepublik zumutbar, insbesondere nicht in
Schönen Dank. einer Zeit, in der sie ohnehin durch die Anstrengun-
gen zur Deutschen Einigung besonderen Belastun-
(Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei gen ausgesetzt ist.
Abgeordneten der CDU/CSU)
Es ist auch selbstverständlich, daß der Gemein-
schaftshaushalt nicht von den Konsolidierungsbemü-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat der
- hungen der Mitgliedsstaaten ausgenommen werden
Kollege Uwe Lühr. kann. Wir gehen daher davon aus, daß die Bundesre-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1417
Uwe Lühr
gierung - wie angekündigt - noch stärker als bisher Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
auf eine sparsame, kontrollierte Haushaltsführung, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ja
die strikte Beachtung des Subsidiaritätsprinzips und bereits angesprochen worden: Deutschland ist der
eine entsprechende Überprüfung der Planungen hin- größte Nettozahler in der Europäischen Union.
wirken wird. Eine grundlegende Veränderung der 1995, also in diesem Jahr, werden von unserer Seite
Finanzverpflichtungen des Bundes wird vor 1999 al- 44 Milliarden DM in den Haushalt der Europäischen
ler Voraussicht nach nicht zu erreichen sein. Union fließen. Es kommen noch andere internatio-
nale Verpflichtungen hinzu, die im Prinzip zur Netto-
Bei der dann anstehenden Überprüfung der Ge- belastung zu addieren wären.
meinschaftsfinanzen werden Einnahmen und Ausga-
ben der Gemeinschaft grundsätzlich neu geordnet Dies tun wir ja nicht, weil wir irgend etwas zu ver-
werden müssen. Es muß in Zukunft eine ausgewoge- schenken hätten, sondern dies tun wir, weil wir der
nere Lastenverteilung in der Union geben, wenn die Auffassung sind, daß der Integrationsprozeß der Eu-
Union eine Zukunft haben soll. Dafür muß der Bei- ropäischen Union unsere Hoffnung auf ein demokra-
tragsschlüssel neu berechnet werden. Nach dem Bei- tisches, friedliches und vor allem auf die Menschen-
tritt der neuen Mitgliedsländer ist dies ohnehin erfor- rechte achtendes Europa ist.
derlich. Bei der Maastricht-Folgekonferenz im Jahr
1996 werden die institutionelle Reform sowie die zu Es ist grundsätzlich nichts daran auszusetzen, daß
künftigen Aufgaben der EU ganz oben auf der Ta- wir entsprechend unserer Wirtschaftskraft, die wir
gesordnung stehen. Diese Themen stehen mit der Gott sei Dank haben - im Vergleich zu den anderen
Frage der EU-Finanzen in unmittelbarem Zusam- Mitgliedsstaaten -, zu den supranationalen Auf-
menhang. gaben der Europäischen Union mit herangezogen
Für uns Liberale ist sowohl für die Reform der Ge- werden. Auf der anderen Seite ist es jedoch so, daß
meinschaftsorgane als auch für die Festlegung neuer unsere Bürger und Bürgerinnen durchaus einen An-
gemeinschaftlicher Aufgabenbereiche das Prinzip spruch auf eine Antwort zu der Frage haben, wie die
der Subsidiarität oberste Richtschnur. Alle Bereiche, Bundesregierung - die Leistungsfähigkeit der deut-
in denen die Gemeinschaft heute tätig ist, müssen schen Wirtschaft, die Aufbauleistung für die neuen
auf ihre Zweckmäßigkeit und Effizienz hin kritisch Bundesländer, angebliche Belastung usw. sind ja be-
überprüft werden. Da darf es keinerlei Tabus geben. kannt - trotz dieser Belastung, die immer wieder in
Ich denke z. B. an die In fl ation der Fördertöpfe in der den Vordergrund gestellt wird, die Nettozahlungen
Union, die zu Unüberschaubarkeit, hohem bürokrati- an die Europäische Union von 1990 bis 1994 prak-
schen Aufwand und damit häufig zu recht wenig Ef- tisch verdoppeln kann. Das ist eine Frage, die sich
fizienz einzelner Programme geführt hat. Es gibt draußen stellt und beantwortet werden müßte.
mittlerweile Beispiele dafür, daß Kreisverwaltungen
hochdotierte Stellen ausschreiben und Mitarbeiter Es ist auch klar, daß 30 % des europäischen Haus-
nach Brüssel entsenden, nur um die Mittel aus Brüs- halts von Deutschland finanziert werden. Davon flie-
sel voll ausschöpfen zu können. ßen - und das ist überraschend - aus dem drastisch
erhöhten Strukturtopf, den wir haben, gerade einmal
-
Deshalb muß bei der Frage der zukünftigen Fi- 7 % an Fördermitteln in die neuen Bundesländer.
nanzausstattung der Gemeinschaft vorher die bishe- Mehr ist es gar nicht, was die neuen Bundesländer
rige Ausgabenpraxis der Gemeinschaft genau unter zur Verfügung gestellt bekommen. Dadurch entsteht
die Lupe genommen werden. Wenn die Gemein- oft in der Öffentlichkeit eine Diskussion, wo man
schaft nicht den Mut aufbringt, ihre Ausgaben kon- glaubt, daß das, was zurückfließt, hauptsächlich in
sequent zu reformieren, dann wird der Ruf aus Brüs- die neuen Länder fließen würde. Aber dies ist eben
sel nach Einnahmeverbesserungen schließlich in der falsch.
Forderung nach EU-Steuern münden. Ich gehe da-
von aus, daß es in diesem Hohen Haus keine große Wir hatten vorhin erst die Debatte darüber geführt,
Mehrheit gibt, die eine solche Neugestaltung der wie es sein kann, daß in den ostdeutschen Bundes-
Einnahmen der Union vor Augen hat. ländern Milliarden an Steuermitteln und Finanzhil-
fen verschwendet wurden. Es wurden Beispiele ge-
Worüber wir aber auch einmal nachdenken müs- nannt. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch
sen, ist die Beteiligung der Bundesländer. Vor allem noch sagen, daß auch die Verschwendung in den
nach der Neufassung des Artikels 23 GG, der den westdeutschen Bundesländern eklatant ist.
Bundesländern jetzt verstärkte Mitspracherechte in
Europaangelegenheiten einräumt, ist auch die finan- Wir haben den neuesten ORH-Bericht aus Bayern
zielle Mitverantwortung zu regeln. Es ist ein ganz vorliegen. Da gehen aus zwei Beispielen Dinge her-
gängiges Prinzip, das derjenige, der bestellt, auch vor, die man nicht hinnehmen kann. So hat z. B. die
bezahlt. Daher muß derjenige, der mitbestellt, auch Nichtbearbeitung von Erbschaft- und Schenkung-
mitbezahlen. steuerfällen bei den Finanzämtern auf Grund
schlechter Stellenbesetzung - nicht für die Beamten
Schönen Dank.
gesehen, sondern quantitativ; es sind so wenig Be-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) amtinnen und Beamte da - zu Einnahmeausfällen
von 800 Millionen DM allein im Lande Bayern ge-
führt. Das ist nicht nachvollziehbar. Wenn man dann
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun mitbekommt, daß das Land beispielsweise auch Reit-
der Abgeordneten Christine Scheel das Wort. turniere und Pferdezucht mit Millionenbeträgen sub-
1418 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Christine Scheel
ventioniert, muß man sich schon einmal ans Hirn sicht über Betrugsfälle und Unregelmäßigkeiten bei
greifen. der Erhebung von Eigenmittelanteilen aus Mehr-
wertsteuer, Zöllen, Abgaben etc. zu geben, wenn sie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diese dem eigenen Parlament im Hinblick auf die
In der Europäischen Union wird immer wieder Subventionskontrolle nicht geben kann. Hier sind
Klage darüber geführt, daß Transferleistungen in den Unregelmäßigkeiten und Betrügereien bei der Ver-
Mitgliedstaaten verschwendet werden oder, schlim- gabe öffentlicher Fördermittel anscheinend nicht be-
mer noch - es wird immer mehr und öfter angespro- kannt. Diese Angaben fordern wir ein. Wenn sie von
chen -, betrügerischen Zwecken dienen. Die Bun- anderen eingefordert werden, sollten wir uns an die
desregierung tut sich locker hervor mit der Forde- eigene Nase fassen und dies auch für uns tun.
rung nach schärferen Kontrollen und Sanktionen,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
aber nicht im Hinblick auf die Bundesregierung
und bei der PDS sowie bei Abgeordneten
selbst, sondern im Hinblick auf Sanktionen für Län-
der SPD)
der wie Griechenland, Italien oder Spanien.
Wir meinen, daß sie hier Auskunft darüber geben
muß, wie die wenigen europäischen Transferleistun- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der
gen, die nach Deutschland zurückfließen, hier ver- Abgeordneten Dr. Barbara Höll das Wort.
wandt werden, wie sie sinnvoll eingesetzt werden
und wie sie vor allem kontrolliert werden. Wir den-
Dr. Barbara Höll (PDS): Herr Präsident! Meine Da-
ken auch, daß die Bürger und Bürgerinnen einen An-
men und Herren! Nur scheinbar geht es heute um
spruch darauf haben, daß es unsere nationalen Ge-
die Frage, ob die reiche Bundesrepublik von 1995 bis
setze wenigstens ermöglichen, europäische Gelder
1999 über 7 Milliarden DM zusätzlich an die EU ab-
entsprechend ihrer Zielsetzung einzusetzen.
führen soll. Auch im Zentrum der heutigen Debatte
Ich möchte Ihnen nur einmal ein Beispiel für das steht wieder einmal die Klage über den angeblichen
Kuddelmuddel nennen, was wir in diesem Bereich Zahlmeister in Europa, die Bundesrepublik Deutsch-
haben. Denn die Mittel des europäischen Sozial- land - und das, obwohl sich die Europäische Kom-
fonds sollen vorrangig für eine europäische Arbeits- mission und der Rechnungshof in Luxemburg unter
marktpolitik zum Abbau von Arbeitslosigkeit einge- Hinweis auf die komplizierte Umverteilung der Fi-
setzt werden. Das ist kein Geheimnis. Ergänzt wer- nanzen unter den EU-Ländern weigern, Tabellen
den diese Leistungen aus den Gemeinschaftsinitiati- und Statistiken über die umstrittene Frage nach den
ven. Wir müssen uns fragen, was mit den Antragstel- Nettozahlern und -empfängern herauszugeben.
lern passiert. Hier ist festzustellen, daß es das deut-
sche Arbeitsförderungsgesetz verbietet, daß bei- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das stimmt
spielsweise Teilnehmer an Bildungsmaßnahmen doch überhaupt nicht!)
Praktika im europäischen Ausland absolvieren oder Doch wenn es ums Geld geht, dann ist nicht nur bei
daß Fremdsprachenunterricht finanziell unterstützt Herrn Waigel „Schluß mit lustig".
wird, und transnationale Kooperationen und Aktio-
nen werden unglaublich erschwert. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, daß
Da stellt sich zu Recht die Frage: Wie soll denn in der Europäer Waigel schon einmal jede Zurückhal-
Deutschland die auch von der Bundesregierung viel- tung hat vermissen lassen und in begrüßenswerter
fach unterstützte Zielsetzung verwirklicht werden, Offenheit gefordert hat, die Europäische Zentral-
daß Arbeitslose ihre beruflichen Chancen auf dem bank müsse nach Frankfurt kommen
europäischen Arbeitsmarkt wahrnehmen können, (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Wo hätten Sie
wenn die Voraussetzungen, die ich vorab genannt sie denn gerne gehabt?)
habe, in der Realität einfach nicht vorliegen? Das ist
ein Unding. Das müßten wir einmal überdenken. oder es werde, so der Bundesfinanzminister unter
Einen letzten Punkt noch: Wenn die Europäische Hinweis auf die ansonsten von ihm so bejubelte
Union nun eine eigene Steuer erhalten soll, müssen Währungsunion wörtlich, aus der ganzen Veranstal-
die haushaltspolitischen und gesetzgeberischen tung nichts. Das war natürlich kein massiver nationa-
Kompetenzen des Europäischen Parlaments vorher listischer Erpressungsversuch durch ein Mitglied der
dringend gestärkt werden. Ansonsten, so glaube ich, Bundesregierung, sondern lediglich ein kollegialer
kann dies nicht sinnvoll sein. Auf keinen Fall darf ein Rat aus Bonn.
weiterer Abbau der nationalen Kompetenzen und Ich glaube, wir sollten uns heute nicht auf eine ab-
des Subsidiaritätsprinzips ohne eine Demokratisie- strakte Debatte über bundesdeutsche Zahlungsver-
rung der Europäischen Union stattfinden. pflichtungen gegenüber der EU einlassen. Wir soll-
(Beifall des Abg. Gerd Poppe [BÜNDNIS 90/ ten auch nicht an einigen technischen Details des
DIE GRÜNEN] und der Abg. Dr. Barbara Gesetzentwurfs Kritik üben oder vielleicht marginale
Höll [PDS]) Verbesserungsvorschläge machen.
Herr Präsident, ich komme zum Schluß: Aus aktu- Aus Sicht der demokratischen Sozialisten und So-
ellem Anlaß möchte ich fragen, warum die Bundesre- zialistinnen steht das Gesamtprojekt namens EU auf
gierung auf Grund ihrer eigenen Durchführungsver- dem Prüfstand. Da geben wir uns nicht der Illusion
ordnung zur Finanzierung der Europäischen Union hin, daß sich EU und Binnenmarkt vielleicht darin er-
in der Lage ist, der Kommission monatlich eine Über- schöpfen, daß jetzt Mozzarella billiger zu kaufen ist
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1419
Dr. Barbara Höll
oder der französische Wein im Supermarkt im Son- Doch nicht nur aus inhaltlichen, sondern auch aus
derangebot zu haben ist. Wir fragen nüchtern und formalen Gründen werden wir diesen Gesetzentwurf
realistisch, welche Interessen mit der als EWG ge- ablehnen. Das Europäische Parlament spielt im Zu-
gründeten EU bedient werden. sammenhang mit der Aufstellung und Verabschie-
dung des EG-Haushalts eine Rolle wie unter den Be-
Fakt ist: dingungen des aufgeklärten Absolutismus.
Auch von einer soliden Finanzverfassung der EU
Aus der dynamischen Wirtschafts- und Handels- sind wir noch Lichtjahre entfernt. Es gibt noch immer
macht, die wir schon sind, muß eine politische kein organisiertes und gerechtes System des Finanz-
Großmacht hervorgehen. ausgleichs zwischen den wirtschaftsstarken und wirt-
schaftsschwachen Mitgliedsstaaten. Das Gesamt-
So definierte es der ehemalige Kommissionspräsi- kunstwerk namens EU hängt gewissermaßen am
dent Delors in einem ,,Spiegel"-Interview bereits im Subventionstropf der einzelnen Mitgliedsstaaten.
Jahre 1991.
Wir befinden uns in einer Phase der beschleunig-
Diese, wie es in der Diplomatensprache so ver- ten Kapitalkonzentration, die in Kombination mit
harmlosend heißt, gewachsene internationale Ver- niedrigen Wachstumsraten und insgesamt rückläufi-
antwortung hat sich nicht nur in über 100 Quasi-Bot- ger Produktion auch in den Mitgliedsstaaten der
schaften der EU niedergeschlagen, sondern vor al- Union die Massenarbeitslosigkeit zu einem Dauerzu-
lem auch in einem explosionsartigen Anstieg der stand werden ließ.
Ausgaben für die Außenpolitik: Von 1988 bis 1992 Im Dezember 1993 soll der griechische Europami-
haben sich diese auf mehr als 10,4 Milliarden DM nister folgendes gesagt haben.
verdoppelt.
Von Anfang an war die Sicherung der Rohstoff- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin,
quellen und Absatzmärkte das Ziel der EWG. Der eu- Sie müssen zum Ende kommen, weil Ihre Redezeit
ropäische Wohlstand sollte und soll noch immer auf abgelaufen ist.
Kosten der sogenannten Dritten Welt ausgebaut und
notfalls auch mit Waffen verteidigt werden. Dr. Barbara Höll (PDS): Ich möchte mit diesem Satz
schließen. Ich zitiere:
Aus dem Haushalt der EU werden u. a. die Mittel
aufgebracht, um das sogenannte Drei-Säulen-Mo- Das wiedervereinigte Deutschland ist ein Riese
dell der Europäischen Union zu stützen. Die Außen- mit bestialischer Kraft und dem Hirn eines Kin-
und Sicherheitspolitik sowie die koordinierte Innen- des.
und Justizpolitik stehen bei der unterschiedlichen fi- Ich würde mir wünschen, daß Sie den Versuch un-
nanziellen Bedienung der drei Säulen eindeutig im ternähmen, zu beweisen, daß in den Hirnen der Re-
Mittelpunkt. gierung und Ihrer Koalition mehr ist. Tun Sie etwas
für die Schwerpunkte in Europa, für die Angleichung
Wir lehnen dies ab, weil es hier in erster Linie um der Sozialstandards auf höchstem Niveau und für die
den Ausbau der Festung Europa geht. Denn hinter Demokratisierung, damit sich dieser Kontinent tat-
der in Maastricht vereinbarten verbesserten Zusam- sächlich weiterentwickeln kann!
menarbeit im Bereich Justiz und Polizei verbirgt
sich unserer Auffassung nach nichts anderes als die Ich danke Ihnen.
Vereinheitlichung und Verbesserung der Asyl- und
(Beifall bei der PDS)
Abschottungspolitik gegenüber den Flüchtlingen aus
Osteuropa und der sogenannten Dritten Welt. Dazu
soll nicht nur die militärische Sicherung der EG-Au- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem
ßengrenzen beitragen, sondern vor allem das Vorha- Kollegen Wilfried Seibel das Wort.
ben, einen Großteil der Flüchtlinge durch Maßnah-
men wie Visumspflicht oder Grenzbeamte in den
Wilfried Seibel (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr
Herkunftsländern erst gar nicht an die Grenzen der
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
EU herankommen zu lassen.
Nach der Verfolgung der Rede der Vorrednerin ist
man zuweilen geneigt, daran zu zweifeln, daß die ei-
Ein solches Europa verdient aus Sicht der PDS gene Wahrnehmungsfähigkeit noch mit der Realität
keine müde Mark. Wir lehnen es ab, für die Fortset- einhergeht.
zung und Verbesserung der Abschottung dieses rei-
chen Kontinents der Kolonialmächte gegenüber den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
von ihnen ausgebeuteten Staaten auch nur einen
Ich habe mich dafür entschieden, das zu glauben.
Pfennig zu bewilligen.
Unsere innerstaatliche deutsche Haushaltsent-
(Beifall bei der PDS) wicklung ist - sie wird dies auch in den nächsten Jah-
ren bleiben - durch Anstrengungen um Haushalts-
Wir lehnen es ferner ab, für die Verfolgung und Ab- konsolidierungen auf allen staatlichen Ebenen -
schiebung von Flüchtlingen Haushaltsmittel bereit- beim Bund, bei den Ländern und bei den Gemein-
zustellen. den - gekennzeichnet. Sicherlich gibt es aktuelle
1420 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Wilfried Seibel
Aufgaben, die gelegentlich die Ausweitung der be- Im Durchschnitt der letzten Jahre erhöhten sich die
reitgestellten Mittel verlangen. Das Einsparpotential Transfers an den EG-Haushalt um ca. 12 % per an-
der öffentlichen Ausgaben ist jedoch noch längst num. Das geht zu Lasten der Steuereinnahmen des
nicht erschöpft. Bundes. Die Rückflüsse steigen in erheblich geringe-
rem Umfang.
Das Gerede vom schlanken Staat macht die Runde; Nun darf sich die Diskussion um die Höhe der
aber bis heute ist das nur ein Fummeln am Gürtel. Es deutschen Beteiligung am Haushalt der Gemein-
ist allenfalls mal probiert worden, was passiert, wenn schaft nicht auf eine isolierte Betrachtung der Haus-
man den Gürtel für kurze Zeit ein Loch enger haltstitel beschränken. Der europäische Binnen-
schnallt. Drei Löcher enger geschnallt haben wir ihn markt hat in Deutschland erhebliche positive wirt-
alle noch nicht, obwohl wir das eigentlich müßten. schaftliche und soziale Wirkungen. Von der Ausfuhr
in die EU hängt jeder vierte deutsche Arbeitsplatz
Die Anstrengungen um Einsparungen haben ihren ab. Die Bedeutung des Binnenmarktes für den natio-
Hauptgrund darin, daß wir um der Stabilität unserer nalen Arbeitsmarkt und damit für den sozialen Frie-
D-Mark willen die staatliche Verschuldung nicht den darf auf gar keinen Fall unterschätzt werden.
vorantreiben können. Der Staat darf nicht länger als
größter Nachfrager für Darlehnsmittel auftreten. Für Auch im stets wichtiger werdenden Bereich der ge-
das aktuelle Haushaltsjahr 1995 kann der Anteil der meinschaftlichen Außenpolitik ist Deutschland indi-
Neuverschuldung wahrscheinlich auf einen Wert von rekter Nutznießer der Gemeinschaft. Die erreichte
ca. 60 Milliarden DM zurückgeführt werden. Aber es Gleichstellung der neuen Bundesländer mit den an-
bleibt noch immer eine Verschuldung, d. h., wir ge- deren Ziel-1-Gebieten wird in den nächsten Jahren
ben noch immer rund 15 % mehr aus, als wir pro Jahr zu Rückflüssen der europäischen Strukturförderung
einnehmen. in Höhe von rund 28 Milliarden DM führen. 1992 be-
trugen die Nettozahlungen der EG an Ostdeutsch-
Der Haushaltsausschuß, der in diesen Tagen den land nur 1,5 Milliarden DM.
Haushalt für 1995 in Einzeletats berät, ist gegenüber Obwohl eine Gesamtbetrachtung weniger negativ
der Regierungsvorlage bemüht, weitere 5 Milliarden ausfällt, sind Neuorientierungen unserer zukünftigen
DM oder 1 % einzusparen. Sie alle wissen, mit wel- Beteiligung am Haushalt der Gemeinschaft unbe-
cher Begleitmusik das geschieht. dingt notwendig. Die traditionellen Eigenmittel, die
derzeit rund ein Viertel der Gesamteinnahmen er-
Ganz anders verläuft die Entwicklung beim Haus- bringen, werden mittelfristig sinken. Infolge der
halt der Europäischen Gemeinschaft. Hier hat insbe- Neuregelung der Mehrwertsteuer-Eigenmittel wird
sondere nach dem Vertrag von Maastricht durch die die Bruttosozialproduktabgabe deutlich an Gewicht
Hinzunahme neuer Aufgaben eine deutliche Aus- gewinnen. Mit der notwendigen und von uns auch
weitung des Haushaltsvolumens stattgefunden. gewünschten Erweiterung der EU nach Osten wer-
den Länder der Gemeinschaft beitreten, deren Brut-
Zur Veranschaulichung möchte ich ausführen, wo- tosozialprodukt auf einem sehr niedrigen Niveau
her die Eigenmittel der EU kommen oder, anders liegt. Die verstärkte Ausrichtung der Eigenmittelfi-
ausgedrückt, aus welchen Quellen sie fließen. Der nanzierung an diesen volkswirtschaftlichen Kenn-
EG-Haushalt wurde ursprünglich aus Zöllen, Agrar- größen muß für das nächste Jahrzehnt korrigiert wer-
abschöpfungen und durch Zahlungen, die sich am den. Unsere Nettozahlerposition würde sich, wenn
Mehrwertsteueraufkommen orientierten, finanziert. das so bleiben würde, erheblich verstärken, und das
Um den zusätzlichen Aufgaben durch den Beitritt - das muß man offen aussprechen - können wir uns
weiterer Länder gerecht werden zu können, wurde nicht leisten.
der. Mehrwertsteuer-Eigenmittelplafond ab dem
(Beifall des Abg. Joachim Gres [CDU/CSU])
1. Januar 1986 von 1 % auf 1,4 % erhöht. Nach dem
sogenannten Delors-I-Paket aus dem Jahre 1987 ist Durch die Wiedervereinigung hat sich unser Brutto-
der Anteil der Mehrwertsteuer-Eigenmittel zurück- sozialprodukt zwar zunächst verringert, mit dem
gefahren worden, indem als vierte Finanzierungs- wirtschaftlichen Aufschwung, der kräftig im Gange
quelle der Gemeinschaft die am Bruttosozialprodukt ist, ist aber ein Anstieg in der Zukunft zu erwarten.
bemessenen Eigenmittel eingeführt wurden.
Neben einer notwendigen Neuordnung wird es
künftig noch mehr als bisher darauf ankommen,
Das hat für Deutschland dazu geführt, daß sich un-
strikte Haushaltsdisziplin auf Gemeinschaftsebene
sere Zahlungen an die Europäische Gemeinschaft in
zu üben oder einzufordern. Von erheblicher Bedeu-
den Jahren von 1987 bis 1994 um 21 Milliarden DM
tung ist die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips,
auf 42 Milliarden DM mehr als verdoppelt haben. Mit
d. h., es ist in jedem wesentlichen Einzelfall zu prü-
dem Delors-II-Paket und dem Beschluß des Europä- fen, ob eine Aufgabe überhaupt von der Gemein-
ischen Rates wird sich eine nochmalige Steigerung schaft wahrgenommen und finanziert werden muß.
der deutschen Zahlungen für die Eigenmittel der EG Wir müssen gleichzeitig die Bemühungen intensivie-
ergeben. Heute zahlen wir 44 Milliarden DM. In nur
ren, den Rückfluß von Gemeinschaftsmitteln nach
fünf Jahren werden es auf Grund der heutigen Plan- Deutschland zu verstärken.
zahlen voraussichtlich 58 Milliarden DM oder sogar
mehr sein. Diese Zunahme wird im wesentlichen im Besondere Aufmerksamkeit verdient die Tatsache,
Bereich der Bruttosozialprodukt-Eigenmittel stattfin- daß neben der Ausweitung des EG-Gesamthaushalts
den. auch eine starke Zunahme der Darlehnstätigkeit zu
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1421
Wilfried Seibel
verzeichnen ist. So wurden im Jahr 1994 Kredite mit Die höchste Kunst darin hat die CSU entwickelt. Wir
einem Gesamtvolumen von mehr als 39 Milliarden konnten das bei dem Thema erleben, das heute vor-
DM vergeben. Hauptdarlehnsgeber ist die Europä- mittag anstand: Erst hat Herr Stoiber die Stimmung
ische Investitionsbank, deren Kredite die Strukturför- populistisch angeheizt und von angeblichem Miß-
derung aus dem EG-Haushalt ergänzen sollen. Die brauch in Ostdeutschland geredet, und dann spielt
Finanzdisziplin auf Gemeinschaftsebene darf nicht Herr Waigel, der CSU-Vorsitzende, den Staatsmann
durch die Schaffung neuer bzw. die Ausweitung be- und versucht, alles herunterzuspielen.
stehender Nebenhaushalte unterlaufen werden. Di-
Bei diesem Thema geht es genauso zu. Erinnern
rekt oder indirekt subventionierte Kredite können
Sie sich nur an den Europawahlkampf. Da durfte
zudem die nationale Geldpolitik in ihrer Wirksamkeit
Herr Stoiber im Trachtenjopperl die Vorurteile gegen
beschränken.
Europa anheizen, während der CSU-Vorsitzende,
Unter Beachtung dieser Vorgaben sichert der vor- Herr Waigel, in Bonn den Staatsmann im grauen An-
liegende Gesetzentwurf den Haushalt der EU und zug spielte.
damit die effektive Aufgabenerfüllung der Europä- (Wilfried Seibel [CDU/CSU]: Das macht
ischen Gemeinschaft. Im Interesse der nationalen jetzt Herr Eichel mit der deutschen Wieder
Staatsfinanzen und nicht zuletzt der europapoliti- vereinigung!)
schen Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung muß
mittelfristig eine grundlegende Erneuerung des ge- Im Juni 1994 z. B. sprach Ministerpräsident Stoiber
meinschaftlichen Finanzierungssystems erarbeitet von einer zu hohen Nettozahlung Deutschlands an
werden. Dies ist eine Hauptaufgabe der Folgekonfe- Europa.
renz 1996. (Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser:
Sagen wir doch auch!)
CDU und CSU unterstützen den vorliegenden Ge-
setzentwurf, weil er unter den gegebenen Bedingun- - Moment, ich komme schon noch auf Ihr Brutto-
gen die verabredete Politik der Europäischen Ge- Netto-Spiel. - Er knüpfte damit an seine populisti-
meinschaft finanziert und für unseren nationalen schen Äußerungen im Europawahlkampf an. Zum
Haushalt dennoch eine, wenn auch stark steigende, Beispiel sagte er am 23. November 1993:
berechenbare Größe bleibt.
Und da haben unsere Bürgerinnen und Bürger
Starke Steigerungen der europäischen Ausgaben, häufig das Gefühl, daß sie mehr zur Leistung für
garniert mit Pressemeldungen über Verschwendung Europa herangezogen werden als andere.
und Betrügereien bei gleichzeitig großen Einspa- Das war im Bayern-TV.
rungsanstrengungen im nationalen Haushalt, verlan-
gen von uns Politikern einen Spagat, den wir auf In einem Interview in der ARD sagte er
Dauer nicht aushalten und der dem Bürger auch (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was, der war
nicht mehr zu vermitteln ist. Deshalb müssen wir viel in der ARD? - Lilo Blunck [SPD]: Nein!)
mehr als bisher alle Ausgaben Europas in der Phase
-
des Entstehens stärker überprüfen, auf die sparsame - ja, auch ich wundere mich, Frau Kollegin, aber
Bewirtschaftung der Mittel Wert legen und, wenn auch das passiert -:
nötig, auch ein Nein in Richtung Brüssel sagen.
Nur, man darf nicht immer nur sagen: Deutsch-
Ich bin sicher, dies wird von den anderen europä- land profitiert alleine von Europa. Deswegen
ischen Staaten nicht als Kraftmeierei der Deutschen müssen wir auch mehr hineinzahlen in die euro-
verstanden, sondern unterstützt und verstärkt die päische Kasse, als wir wieder herausbekommen.
Konvergenzbemühungen aller europäischen Staaten, Von Europa profitieren auch die anderen Natio-
für die eine Erkenntnis aus der gemeinsamen Zusam- nen. Zum Beispiel wird natürlich die Frage zu
menarbeit in Europa unerläßlich bleibt: Jede Politik stellen sein: Können wir gleichzeitig 130 bis
verliert ihre Wirksamkeit, wenn es nicht gelingt, im 150 Milliarden DM in den Finanzausgleich zu-
gemeinsamen europäischen Markt auf der Basis sta- gunsten der neuen Länder geben, können wir
biler Währungsverhältnisse gemeinsam zu wirtschaf- 80 Milliarden DM nach Osteuropa geben, wo wir
ten und den Wohlstand und das Eigentum zu meh- die Hauptlast tragen, können wir auch weiterhin
ren. eine gewaltige Steigerung unserer Leistungen in
die europäische Kasse machen?
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Im gleichen Interview sagte er weiter - es geht um
die Europäische Gemeinschaft -:
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat Und ich meine - ich kann nicht vertiefen in der
der Abgeordnete von Larcher. Form -, daß ich immer noch mehr Geld in die eu-
ropäische Kasse liefere . . ., das ist mit der deut-
schen Bevölkerung auf Dauer nicht zu machen.
Detlev von Larcher (SPD): Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Mich fasziniert in diesem Zu- Der Finanzausschuß hat sich mit diesem Thema,
sammenhang die gewollte Schizophrenie der Bun- was wir heute behandeln, in der Vorbereitung der
desregierung und der sie tragenden Parteien. Tagung in Edinburgh vielfach befaßt, z. B. am
11. März 1992, am 23. September 1992, am
(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Na, na! 29. Oktober und am 9. Dezember 1992. Wir haben im
1422 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Detlev von Larcher (SPD): Herr Kollege Seibel, ich Detlev von Larcher (SPD): Herr Kollege, sehen Sie
finde, eigentlich wäre eine andere Konsequenz aus es nicht als Aufgabe der Opposition an, die Verant-
Ihrer Rede richtig gewesen: Auf Grund des histori- wortung da hinzuschieben, wo sie hingehört?
schen Zusammenhangs, den Sie angesprochen ha-
ben, hätte man doch erwarten können, daß die Bun-
desregierung darauf aufmerksam macht, wie hoch Friedrich Merz (CDU/CSU): Herr von Larcher, ich
die Belastung, die die deutsche Einheit mit sich würde es begrüßen, wenn Sie Ihre Rolle als Opposi-
bringt, für die Bundesrepublik sein wird. tion manchmal ernster nähmen, als Sie es tun. Aber
der richtige Oppositionsführer ist gar nicht da.
Die europäischen Partner hätten gebeten werden
können, auf diese hohe Belastung Rücksicht zu neh-
men. Man hätte vielleicht ein anderes Verhandlungs- Detlev von Larcher (SPD): Aber wenn wir es tun,
ergebnis erzielen können. dann beklagen Sie sich.
Friedrich Merz
Aber nach dem Haushaltsvolumen der Europäi- schlag, aber er will sorgfältig begründet und in unser
schen Union ist die Frage weit bedeutsamer, zu wel- Steuersystem eingepaßt werden.
chen Zwecken die Europäische Union ihre Haus-
haltsmittel einsetzt. Wer auf Dauer zu einer gerech- (Detlev von Larcher [SPD]: Aber es geht um
ten Verteilung der Ausgaben kommen will, kommt Ihre Regierung!)
um eine grundlegende Reform der Agrarpolitik auf Entscheidend für mich, meine Damen und Herren,
lange Sicht nicht herum. Wir werden sie ohnehin ma- ist nicht, daß wir dieses Thema der Eigenmittelaus-
chen müssen, spätestens dann, wenn Staaten aus stattung der Europäischen Union allein unter buch-
Mitteleuropa und Osteuropa beitreten. halterischen Aspekten beurteilen. Vor dem Hinter-
grund der vollkommen veränderten geopolitischen
Wer heute hier steht und den Betrug beklagt, dem
Lage in Deutschland, in Europa und in der Welt müs-
will ich sagen: Man müßte schon an der Intelligenz
sen wir uns Rechenschaft darüber ablegen, welche
der Beteiligten zweifeln, wenn in einem solchen Sy-
Aufgaben die Europäische Union für uns alle in Zu-
stem der Staatswirtschaft Betrug und Mißbrauch
kunft wahrnehmen soll.
nicht an der Tagesordnung wären.
Für mich gehört dazu an erster Stelle die dauer-
Aber, meine Damen und Herren, die Ursache für hafte Sicherung von Frieden und Freiheit in Europa.
die von unseren Bürgern zu Recht als problematisch Diesen Auftrag kann die Europäische Union aber nur
empfundene Nettozahlerposition liegt auf der Aus-
erfüllen, wenn wir bereits 1996 einen weiteren muti-
gabenseite und nicht auf der Einnahmenseite. Las- gen Schritt hin zu einer gemeinsamen Außen- und
sen Sie mich in diesem Zusammenhang auch sagen: Sicherheitspolitik unternehmen. Wir stehen heute
Es gehört schon zu den wenig wahrgenommenen vor der Frage, ob wir die Grundentscheidungen der
Fakten, daß der Bund für die Einnahmen zuständig Gründerjahre der Europäischen Gemeinschaften im
ist, aber die Länder in der Bundesrepublik Deutsch- Sinne einer vertieften Integration weiter akzeptieren
land zu einem großen Teil von den Ausgaben der Eu- und fortentwickeln oder ob wir unter der Überschrift
ropäischen Union profitieren, weil es Aufgaben der der intergouvernementalen Zusammenarbeit in die
Länder sind, die eigentlich mit diesen Ausgaben be- Zeiten des Nationalismus zurückfallen.
dacht werden.
Bei aller berechtigten Kritik an Subventionsmenta-
Ich will an dieser Stelle - sozusagen in Klammern - lität und Fehlleitung von Haushaltsmitteln in Europa
auch darauf hinweisen, daß wir nicht erwarten dür- sollte uns das Zustimmungsgesetz zu den Beschlüs-
fen, daß das gesamte System der Haushaltsfinanzie- sen von Edinburgh Veranlassung geben, auf diesen
rung in der Europäischen Union jemals große Zu- existentiellen Zusammenhang unserer Europapolitik
stimmung finden wird, wenn wir es dabei belassen, erneut hinzuweisen.
daß der überwiegende Teil des Haushalts im Wege
einer Umlage finanziert wird. Herzlichen Dank.
Jeder Kommunalpolitiker in unserem Land weiß, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
daß Umlagehaushalte übergeordneter Gebietskör-
perschaften ein ständiges Ärgernis auf- der Seite der Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
Zahlungspflichtigen sind. Die Begünstigten finden Merz, das war zwar nicht Ihre erste parlamentarische
dabei ihrerseits bei den Bürgern keine Akzeptanz, Rede, aber Ihre erste Rede in diesem Hause. Dazu
weil eine unmittelbare Beziehung zwischen den möchte ich Ihnen gratulieren.
steuerpflichtigen Bürgern auf der einen und den für
die Ausgaben politisch verantwortlichen Institutio- (Beifall)
nen auf der anderen Seite fehlt.
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich
Wir müssen deshalb bei der Beschlußfassung über schließe die Aussprache.
die Eigenmittelausstattung der Europäischen Union
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetz-
beim nächstenmal, also nach 1999, schon darüber
entwurfs auf Drucksache 13/382 an die in der Tag es-
sprechen, ob nicht eine Gemeinschaftsteuer das bes-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es an-
sere Instrument darstellt, um Einnahmen- und Aus-
dere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es
gabenverantwortung herzustellen.
so beschlossen.
(Detlev von Larcher [SPD]: Das haben Sie Meine Kolleginnen und Kollegen, ich habe in einer
bis jetzt strikt abgelehnt!) Sitzung der letzten Woche dem Kollegen Carstensen
- Nein, Herr von Larcher. Ich persönlich bin als Mit- einen Ordnungsruf erteilt. Er hat sich bei den Betrof-
glied des Europäischen Parlaments an einem solchen fenen entschuldigt und mich gebeten, das dem Ple-
Beschluß beteiligt gewesen, num mitzuteilen. Damit ist die Sache erledigt.
(Detlev von Larcher [SPD]: Ich meine nicht Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 und die
Sie persönlich!) Zusatzpunkte 6 bis 8 auf:
an einer Vorlage, die aber sorgsam darauf bedacht 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten
ist, daß die Abgabenbelastung der Bürger in der Eu- Dr. Ingomar Hauchler, Hans Büttner (Ingol-
ropäischen Union durch ein solches System nicht stadt), Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter
steigt. Ich habe Sympathie für einen solchen Vor und der Fraktion der SPD
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1425
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Weltgipfel für soziale Entwicklung vom 6. bis Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Präsident!
12. März 1995 in Kopenhagen Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vom 6. bis
11. März 1995 findet in Kopenhagen der Weltsozial-
- Drucksache 13/421 - gipfel statt, an dem nach bisherigen Erkenntnissen
Überweisungsvorschlag: über 115 Staats- und Regierungschefs teilnehmen
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) werden - eine Veranstaltung, die allerdings in der
Finanzausschuß Bundesrepublik bisher weitgehend unter Ausschluß
Ausschuß für Wirtschaft der Öffentlichkeit und ohne ihre Beteiligung vorbe-
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
reitet worden ist. Ich sage das mit großem Bedauern.
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich ein Me-
Haushaltsausschuß dium, die Wochenzeitung „Die Zeit", hervorheben,
die die Bedeutung dieser Konferenz richtig einzu-
ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten der schätzen vermag.
PDS
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
Weltgipfel für soziale Entwicklung vom 6. bis
12. März 1995 in Kopenhagen Betrachtet man nämlich die bisher bereits erarbeite-
ten Papiere, den vorbereiteten Entwurf der Erklä-
- Drucksache 13/535 — rung der Regierungschefs und auch die weitgehend
Überweisungsvorschlag: abgestimmten Papiere für das Aktionsprogramm,
dann kann man, glaube ich, bereits jetzt mit Fug und
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend)
Finanzausschuß
Recht sagen: Dieser Weltsozialgipfel bietet die
Ausschuß für Wirtschaft Chance, nationale und internationale Finanz- und
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- Wirtschaftspolitik wieder vom Kopf auf die Füße zu
lung stellen und damit den Monetarismus als Ideologie
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuß
endgültig zu Grabe zu tragen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Angelika Köster-Loßack, Dr. Uschi Eid, Sehr geehrte Damen und Herren, statt Wohlstand,
Wolfgang Schmitt, weiterer Abgeordneter und soziale Sicherheit und damit qualitatives Wachstum
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu ermöglichen, hat nämlich diese Wirtschaftsideolo-
gie in den vergangenen beiden Dekaden wesentlich
Weltsozialgipfel dazu beigetragen, daß weltweit Armut zugenommen
- Drucksache 13/539 hat, daß Arbeitslosigkeit angestiegen ist und natio-
nale und internationale Beziehungen destabilisiert
—Überwisungvorschlag: wurden.
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend)
Finanzausschuß Die für die Gipfelkonferenz vorliegenden Doku-
Ausschuß für Wirtschaft mente lassen hoffen, daß die Mehrheit der Staats-
- und Entwick-
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Regierungschefs erkennt oder bereits erkannt
lung
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
hat: Wirtschaft findet weder alleine in der Wirtschaft
Haushaltsausschuß statt, noch hat sie ausschließlich der Kapitalvermeh-
rung zu dienen. Vielmehr ist ihre Aufgabe die Ver-
ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten besserung der Lebensbedingungen der Menschen
Dr. Winfried Pinger, Wolfgang Vogt (Düren) bei weitestgehender Schonung der Umwelt.
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-
geordneten Roland Kohn, Dr. Irmgard (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
Schwaetzer und der Fraktion der F.D.P. ten der PDS)
Die Kopenhagener Konferenz bietet die Chance,
Weltgipfel für soziale Entwicklung vom 6. bis
Wirtschafts- und Finanzpolitik auf internationaler
12. März 1995 in Kopenhagen
und nationaler Ebene dort wiederaufzunehmen, wo
- Drucksache 13/556 — sie der Monetarismus unterbrochen hat, nämlich bei
den Ergebnissen des Club of Rome.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Finanzausschuß PDS)
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- Sehr verehrte Kolleginnen, sehr verehrte Kollegen,
lung dies gilt, wenn man sich den Entwurf der Deklara-
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union tion anschaut, im einzelnen bereits für die Grund-
Haushaltsausschuß
sätze, die dort niedergeschrieben sind und bei denen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind man sich gelegentlich wundern muß, ob die Bundes-
für die gemeinsame Aussprache anderthalb Stunden regierung mit Absicht das, was sie hier als einen akti-
vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Wider- ven Beitrag für eine Politik für die Menschen mitzu-
spruch. Dann ist so beschlossen. tragen gedenkt, der Öffentlichkeit vorenthalten will,
weil es in die nationale Auseinandersetzung nicht
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster ganz hineinpaßt. In dem Entwurf steht - ich darf das
der Abgeordnete Hans Büttner. einmal kurz zitieren -: Wir als Staats- und Regie-
1426 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Nun kann man trefflich darüber streiten, was Groß- Ich will nicht verhehlen, daß mir solch rein quanti-
konferenzen dieser Art letzten Endes bewirken. tative Ansätze Bauchschmerzen bereiten. Es kann
Ohne Zweifel ist hier ein gewisses Maß an Skepsis nicht allein auf die Höhe staatlicher Ausgaben für so-
angebracht. ziale Bereiche in Relation zu anderen Aufgaben an-
kommen. Entscheidend ist doch die Sinnhaftigkeit
-
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) des Konzeptes für solche Ausgaben, ob also die Gel-
der tatsächlich bei den bedürftigen Menschen an-
Aber ich sage: Wenn eine solche Konferenz dazu kommen und eine langfristig positive Entwicklung
führt, daß Verantwortliche nachdenklich werden, ermöglichen.
daß Einsichten wachsen und daß sich schließlich da (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
und dort auf der Welt die Lebenschancen von Men-
schen ein klein wenig verbessern, dann bezeichne Ich bin trotzdem bereit, über ein solches Konzept zu
ich eine solche Konferenz bereits als einen Erfolg. diskutieren, wenn man damit bewirken kann, daß
auch die Entwicklungsländer selbst ihrer Verantwor-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) tung nachkommen und eigene Anstrengungen zur
Förderung der sozialen Entwicklung unternehmen.
Ich denke, dieser Gipfel sollte nicht damit enden,
Zweitens. Absolut nicht hinnehmbar ist es, daß es
daß über ein ganzes Bündel von Lösungen diskutiert
Staaten gibt, die einen Teil ihrer Ressourcen, die
worden ist und schließlich vollmundig große Absich-
dringend für den Aufbau menschenwürdiger gesell-
ten verkündet werden. Vielmehr sollte er sich als Be-
schaftlicher Strukturen gebraucht würden, für
ginn eines Prozesses verstehen, in dessen Verlauf
machtgeilen Rüstungswahnsinn verschwenden.
realistische und praktikable Vorschläge dafür erar-
beitet werden, wie die für die Erreichung der ge- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
nannten Ziele notwendigen inneren Rahmenbedin-
gungen in den Entwicklungsländern geschaffen wer- Ich bleibe dabei: Staaten, die Gelder für ein eigenes
den können, die es diesen Staaten dann ermögli- ABC-Waffenprogramm ausgehen oder sich auf an-
chen, die Lebensbedingungen ihrer Menschen er- dere Weise solche Waffen zu beschaffen versuchen,
träglicher zu gestalten. dürfen keinen Pfennig deutsche Entwicklungshilfe
bekommen.
Ich möchte heute auf einige wenige Aspekte hin- (Beifall bei der F.D.P.)
weisen, die aus der Sicht der Liberalen auf dem Welt-
gipfel für soziale Entwicklung eine besondere Rolle Drittens. Ich begrüße ausdrücklich, daß in dem An-
spielen sollten: trag der Koalitionsfraktionen das Prinzip der Unteil-
1432 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Roland Kohn
barkeit der Menschenrechte als eine unabdingbare keinen Umständen akzeptiert werden können, wie
Voraussetzung für die soziale Entwicklung der Völ- Zwangsarbeit, wie Ausbeutung von Kindern als ex-
ker und Staaten eine solch starke Berücksichtigung trem billige Arbeitskräfte. Dagegen muß mit aller
gefunden hat. Wir dürfen nicht zulassen, daß es un- Kraft vorgegangen werden. Ich kann mich allerdings
ter Hinweis auf kulturelle und historische Gegeben- manchmal nicht des Eindrucks erwehren, daß es bei
heiten zu einer Abkehr von diesem Prinzip der Un- uns Interessenvertreter gibt, die solche Probleme
teilbarkeit kommt. mißbrauchen, um unerwünschte Konkurrenz vom
heimischen Markt fernzuhalten.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
ten der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
Eine kulturelle Relativierung der Menschenrechte Also: Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen
werden wir Liberalen auf keinen Fall akzeptieren. müssen bekämpft werden, aber niedrigere Arbeits-
kosten als Wettbewerbsargument müssen möglich
(Zuruf von der CDU/CSU: Wir auch nicht!) bleiben. Andernfalls zerstören wir einen der wenigen
Viertens. Für mich steht die Notwendigkeit im Vor- Wettbewerbsvorteile von Entwicklungsländern.
dergrund, stabile institutionelle Rahmenbedingun- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
gen für die Errichtung sozialer Sicherungssysteme
zu schaffen. Hierbei kann es natürlich nicht darum Wichtig ist meiner Fraktion vor allem die Forde-
gehen, soziale Systeme, wie sie sich bei uns in den rung, daß möglichst viele Staaten den Übereinkom-
westlichen Industriestaaten herausgebildet haben, men zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung
einfach in die Entwicklungsländer zu exportieren; der Frau sowie über die Rechte des Kindes beitreten.
dies um so weniger, da endlich bei uns selbst die Dis- Unser Außenminister Klaus Kinkel hat im Zusam-
kussion über den notwendigen Umbau unserer eige- menhang mit der Ratifizierung des von der Ge-
nen Sozialsysteme in Gang gekommen ist, um sie zu- neralversammlung der Vereinten Nationen am
kunftsfest zu machen. Es ist vielmehr notwendig, die 20. November 1989 verabschiedeten Übereinkom-
Entwicklungsländer zu beraten und ihnen Hilfestel- mens über die Rechte des Kindes gesagt - ich zitiere -:
lungen anzubieten, wie Grundstrukturen solcher Sy- „Kinder sind kleine Menschen, die große Rechte
steme unter den in ihrem Land jeweils herrschenden brauchen." Deshalb trete ich und tritt meine Fraktion
Bedingungen aufgebaut werden können. Auch hier für die Ächtung von Kinderarbeit ein, die ja eher
sind wiederum die Eliten in den Entwicklungslän- einer Form von Sklaverei gleichkommt.
dern gefordert, sich Gedanken über die Möglichkei- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so
ten solcher sozialen Sicherungssysteme zu machen. wie bei Abgeordneten der SPD)
Mir scheint, dies ist eine wesentliche Voraussetzung Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, wir
dafür, daß ökonomische, soziale und politische Sta- fordern die Bundesregierung auf, den Deutschen
bilität mit den entsprechend positiven Folgen auch Bundestag nach Abschluß des Weltgipfels für soziale
für die Begrenzung des Bevölkerungswachstums ge- Entwicklung in Kopenhagen zeitnah über dessen Er-
schaffen werden kann. gebnisse und Beschlüsse zu unterrichten. Dann wol-
Lassen Sie mich auf einen wichtigen Punkt hinwei- len wir gemeinsam überlegen, welche Konsequen-
sen. Es muß gelingen, leistungsfähige -und leistungs- zen sich daraus für unsere zukünftige Politik erge-
bereite Mittelschichten in den Entwicklungsländern ben.
hervorzubringen. (Abg. Dr. Winfried Wolf [PDS] meldet sich
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) zu einer Zwischenfrage)
Wir müssen nämlich wissen, daß solche Mittelschich- Die Bundestagsfraktion der Freien Demokraten
ten eine notwendige Voraussetzung für wirtschaftli- wird sich an diesen Beratungen aktiv und engagiert
chen Erfolg, für gesellschaftlichen Fortschritt und für beteiligen.
politische Stabilität sind. Soziale Marktwirtschaft, of-
Vielen Dank.
fene Gesellschaft, Demokratie, Rechtsstaat bedürfen
solcher Mittelschichten, denn sonst funktionierten (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
solche Konzepte nicht.
Fünftens. Es wird niemanden überraschen, daß Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
sich ein Liberaler vehement für Marktwirtschaft in Wolf, da Sie ohnehin als nächster das Wort haben, er-
sozialer Verantwortung einsetzt. Richtige ordnungs- übrigt sich Ihre Frage. Sie können das, was Sie fra-
politische Entscheidungen setzen erst die marktwirt- gen möchten, innerhalb Ihrer Rede äußern.
schaftlichen Kräfte frei. Erst auf diesem Wege ver-
dient eine Gesellschaft das Geld, um den wirklich Sie haben das Wort.
Bedürftigen zu helfen und tragfähige soziale Struktu-
ren aufzubauen. Ich bekenne mich dazu: In einer Dr. Winfried Wolf (PDS): Werte Kolleginnen und
Volkswirtschaft muß erst erwirtschaftet werden, was Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Am
dann den Armen zugute kommen soll. 14. Februar 1995 hat die Vorsitzende des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung, die Kollegin Ul-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) rike Mascher, einen Brief an die Frau Präsidentin
Ich möchte auch noch ein Wort zu dem nicht einfa- Rita Süssmuth gerichtet. Sie hatte damit eine im
chen Thema des sogenannten Sozialdumping sagen. Grunde unangenehme Aufgabe wahrzunehmen, die
Selbstverständlich gibt es Bedingungen, die unter sie jedoch mit einer gewissen Grandezza bewältigt
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1433
Nun ließe sich in Kopenhagen mit Schillers Wal- ... vor allen Dingen auf strukturelle Änderungen
lenstein sagen: Spät kämmt Ihr - Doch Ihr kömmt! ankommen, mit denen Fehlentwicklungen korri-
Aber der Inhalt des Briefs hat einen anderen Charak- giert werden können. In der Notwendigkeit der
ter. Dort heißt es: Ausgabenbegrenzung sollte auch eine Chance
zu sozialgerechtem Umbau gesehen werden.
Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, in
dessen fachlichen Zuständigkeitsbereich dieser So der Text der Bundesregierung zum Weltsozialgip-
Gipfel fällt, hatte zunächst überlegt, mit einer De- fel in Kopenhagen.
legation des Ausschusses an dieser Veranstal- Das zweite Zitat aus demselben Text:
tung
Im Laufe der Jahre konnte - in Deutschland - die
- in Kopenhagen - gesellschaftliche Stellung der Frau insbesondere
teilzunehmen. Aus terminlichen Gründen war es durch ihre eigene Erwerbstätigkeit verbessert
nicht möglich, eine Delegation des Ausschusses werden.
zu bilden. Allerdings beabsichtigt das Mitglied Solche Feststellungen sind überheblich, unzutref-
des Ausschusses, die Kollegin Petra Bläss, nach fend und zynisch. Damit wird den Vertreterinnen
Kopenhagen zu reisen. Ich bitte Sie, die Dienst- und Vertretern der Dritten Welt angedeutet: Unser
reise der Kollegin Bläss zu genehmigen. Haus ist in Ordnung; nehmt euch dieses als Beispiel!
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Just dies ist die Unwahrheit. Zunächst: Wir, die Er-
DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) ste Welt, produzierten nicht nur seit Jahrhunderten
die Gegenwart der Verelendung und Verarmung der
Werte Kolleginnen und Kollegen, angesichts der
Dritten Welt, sondern wir tun dies heute weiterhin.
Gesamtumstände - unzureichende Vorbereitung,
mangelnde Präsenz, Nichtbildung einer nationalen Ein Beispiel: Jährlich schweben in Thailand rund
Vorbereitungsgruppe unter Einschluß der Nichtre- 250 000 Deutsche als Touristen ein, 70 % davon sind
gierungsorganisationen und hektische - Aktivitäten Männer. Laut Schätzungen des Bonner Familienmi-
um fünf vor zwölf - läßt sich fragen: Mangelt es der nisteriums muß davon ausgegangen werden, daß da-
Regierungskoalition an der erforderlichen Ernsthaf- von wiederum 70 oder rund 100 000 Männer pro
tigkeit, diesen Weltsozialgipfel umfassend zu würdi- Jahr als Sextouristen ins Land kommen; Sex mit Kin
gen? - Das ist keine billige Polemik. dern inklusive. Thailand ist nur ein Beispiel und nur
eine Form von vielen dieser Art von Weltsozialunord-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Wolf, ge- nung.
statten Sie eine Zwischenfrage? Doch auch unser Haus, der Sozialstandort
Deutschland, ist von wenig sozialer Ordnung ge-
Dr. Winfried Wolf (PDS): Selbstverständlich. prägt. Ich zitiere:
Etwa 150 000 Obdachlose leben zur Zeit in
Dr. Winfried Pinger (CDU/CSU): Herr Kollege, ist Deutschland auf der Straße. Weitere 800 000
Ihnen bekannt, daß der Weltsozialgipfel in Kopen- Menschen in Notunterkünften . Die hohe und
hagen vom 6. bis zum 12. März stattfindet? Und ist immer noch steigende Zahl der Sozialhilfeemp-
Ihnen bekannt, daß das eine Sitzungswoche des fänger ist ... ein Indiz für ... die Zunahme von
Deutschen Bundestages ist und es deshalb für Kolle- Armut im strengen Sinn.
gen schwierig ist, zu diesem Zeitpunkt in Kopen- Ich bringe damit die Kirche in das Hohe Haus; es
hagen zu sein? handelt sich um Auszüge aus dem Text der evangeli-
schen und der katholischen Kirche, veröffentlicht di-
Dr. Winfried Wolf (PDS): Genau dies, werter Kol- rekt nach der jüngsten Bundestagswahl.
lege von der CDU, könnte ein Beispiel für langfri- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Daß
stige Planung sein. Die Tagung des Weltsozialgipfels gerade Sie das zitieren, ist natürlich ganz
ist, soweit ich weiß, vor einem Dreivierteljahr auf die- interessant!)
sen Zeitraum festgelegt worden. Wenn danach für
denselben Zeitraum eine Sitzungswoche angesetzt - Eine solide katholische Ausbildung habe auch ich
worden ist, heißt das, daß man die frühere Planung erfahren.
1434 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Das will sagen: Erstens gibt es Armut in Deutsch- Diesen Gipfel ernst zu nehmen hieße, sich jetzt
land; zweitens nimmt diese zu; drittens betrifft ein noch einen Ruck zu geben und den Anteil der Ent-
Großteil dieser Armut Frauen. Zu ergänzen wäre wicklungshilfe am neuen Bundeshaushalt auf die
viertens: All dies findet zu einem Zeitpunkt statt, zu tausendfach versprochenen 0,7 % des Bruttosozial-
dem die Besserverdienenden zunehmend besser ver- produkts anzuheben und ihn damit zugegebenerma-
dienen und relativ immer weniger an Steuerleistung ßen mehr als zu verdoppeln und zugleich die Ent-
erbringen. wicklungshilfe derart umzustrukturieren, daß darin
die geforderten 20 % für die „human priorities", die
(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Ach! Ha Herr Kohn richtig charakterisiert hat, enthalten sind.
ben Sie einen Taschenrechner?)
Den Weltsozialgipfel in Kopenhagen ernst nehmen
So hat, Herr Kollege Kohn, die Oberfinanzdirek- heißt schließlich, einen nationalen Maßnahmenkata-
tion Freiburg vor kurzem festgestellt, daß allein im log zur Umsetzung der Forderungen dieses Gipfels
Zeitraum 1990 bis 1993 dem Staat mehr als festzulegen, der mindestens zwei Prämissen haben
100 Milliarden DM Steuerverluste auf Grund des sollte: Erstens. Es müßte eine volle Kontroll- und
Transfers großer Vermögen nach Luxemburg ent- Überwachungskompetenz unter Einbeziehung von
standen. Nichtregierungsorganisationen bei der Umsetzung
Fürwahr, bei der Vorbereitung auf den Gipfel in dieser Maßnahmen geben. Zweitens. Es darf nicht
Kopenhagen sind seitens der Bundesregierung über- die bisher praktizierte Rollenzuschiebung an die
hebliche Töne gegenüber dem Rest der Welt nicht Nichtregierungsorganisationen geben, die aktuell
angebracht. - nur darauf hinausläuft, daß mit diesen die Lücken in
der nationalen Sozial- und Entwicklungspolitik über-
tüncht werden.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Dr. Wolf,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fre- Doch - zum Schluß - sind in dieser Richtung sei-
derick Schulze? tens der Bundesregierung keine Schritte, nicht ein-
mal Gesten erkennbar. Gestern informierte uns, die
Mitglieder des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
Dr. Winfried Wolf (PDS): Selbstverständlich.
sammenarbeit und Entwicklung, Minister Spranger
darüber, daß im Rahmen der Haushaltsberatungen
Frederick Schulze (CDU/CSU): Herr Kollege, kann der Etat für wirtschaftliche Zusammenarbeit ein wei-
es sein, daß Sie noch nicht mitgekriegt haben, daß teres Mal gekürzt worden ist. Das ist exakt entgegen-
der frühkapitalistische Klassenkampf eigentlich vor- gesetzt der Geste, die wir und die Initiatoren des
bei ist? Predigen Sie ihn immer noch? Weltsozialgipfels in Kopenhagen bei der Bundesre-
gierung einklagen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Danke schön.
Dr. Winfried Wolf (PDS): Werter Kollege, ich habe (Beifall bei der PDS)
in meiner ersten Bundestagsrede gesagt, daß es mei-
ner Ansicht nach gute Gründe dafür gibt, daß die Sy-
steme im Osten, die ich niemals als sozialistisch be- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Abgeord-
zeichnet habe, zusammengebrochen sind und daß neter Wolf, ich möchte Sie nur darauf aufmerksam
der Kapitalismus übriggeblieben ist. Ich stelle aber machen, daß die Sitzungswochen dieses Hauses vom
fest, daß es gerade in der Zeit seit der Wende 1989/90 Ältestenrat im allgemeinen Einvernehmen bestimmt
tatsächlich neue und in stärkerem Maß manchester- werden und daß ich von keiner Seite den Wunsch ge-
kapitalismusartige Züge in diese unsere Gesellschaft hört habe, die Woche des Gipfels in Kopenhagen sit-
Einkehr halten. zungsfrei zu halten.
(Beifall bei der PDS) (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1435
Herr Kollege Wolf, Sie nehmen unsere deutsche Man kann die Zahlen, die Herr Kohn genannt hat,
Sozialhilfe als Armutsindiz. Gemessen an dem, was nicht oft genug in Erinnerung rufen. Mit ihm sage
wir hier diskutieren, ist ein Sozialhilfeeinkommen in ich: Die Zahlen lenken eigentlich von der existentiel-
Deutschland geradezu ein Spitzeneinkommen in der len Frage, die dahinter steht, ab, weil sie nur Statistik
Dritten Welt. Ich bezeichne die Sozialhilfezahlen sind. Trotzdem: Eine Milliarde Menschen haben we-
nicht als Ausweis von Armut, sondern als Beweis be- niger als einen Dollar pro Tag zur Verfügung. Jähr-
kämpfter Armut. Sozialhilfe bekämpft Armut. lich verhungern 15 Millionen Menschen. Das ist der
Krieg, der täglich stattfindet. 110 Millionen Men-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schen weltweit sind auf der Flucht. Die Vereinten
1436 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wenn die Bombe des Hungers explodiert, dann So sind wir Sozialpolitiker. Es geht weniger um die
werden die Folgen schlimmer sein als die jeder hohe Ideologie. Wir haben keinen weiteren Ideolo-
Atombombenexplosion. Wenn wir uns um die Ent- giebedarf in der Welt. Wir haben einen Bedarf an
wicklung der Welt kümmern, wenn wir Solidarität konkreter Hilfe.
einsetzen, dann nicht nur aus Barmherzigkeit und Auch das will ich sagen: Das schlägt sich nicht nur
Gerechtigkeit - obwohl das als Motivation bereits in den Prozentzahlen der Entwicklungshilfe nieder.
ausreicht -, sondern auch zur Selbsterhaltung. Es Diese Monetarisierung jeden Denkens halte ich ge-
wird wohl niemand glauben, daß der Friede der Welt radezu für ein Hindernis der Weltentwicklung. Denn
auf Dauer gesichert ist, wenn 20 % der Erdbevölke- es ist nichts gewonnen mit repräsentativen Regie-
rung von 80 % der Erdengüter leben und 80 % der rungsgebäuden und großen Flughäfen. Die Entwick-
Erdbevölkerung mit 20 % der Ressourcen auskom- lung der Massen, das ist die Herausforderung. Das ist
men müssen. Damit es jeder weiß: Das ist Kriegsge- auch eine mentale Frage. Das setzt ein Programm
fahr. Es gibt keinen Zaun, hinter den wir uns zurück- „Hilfe zur Selbsthilfe" voraus. Das hat nicht nur et-
ziehen können. was mit Geld zu tun.
Deshalb begrüße ich die Anstrengungen der Ver- Kollege Büttner, auch eine andere Verengung
einten Nationen - die sich auch im Weltsozialgipfel scheint mir stattzufinden. Sie fragen: Was trägt der
niederschlagen -: den Weltkindergipfel, die Umwelt- Staat zum gesellschaftlichen Prozeß bei? Das scheint
konferenz, die Menschenrechtskonferenz, die Welt- mir eine alte Staatsgläubigkeit zu sein. Der gesell-
bevölkerungskonferenz. Das sind Beiträge - zur Welt- schaftliche Prozeß hängt nicht nur von den staatli-
innenpolitik. Ich will selbstkritisch bekennen - zum chen Autoritäten ab, sondern auch von den gesell-
Teil exerzieren wir es heute vor -, daß unsere Diskus- schaftlichen Kräften, die nicht staatlicher Natur sind.
sionen manchmal etwas provinziell sind. Wir haben
manchmal gar nicht kapiert, daß wir geradezu die (Beifall bei der CDU/CSU)
gemeinsame Besatzung einer Weltraumfähre sind.
Umweltprobleme lassen sich doch national gar nicht Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister
mehr lösen. Dies gilt selbst für Fragen der Beschäf- Blüm, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn
tigung. Ich bezweifle, daß es noch Nationalökonomie Dreßen?
im klassischen Sinne gibt. Wir sind in eine Weltwirt-
schaft einbezogen: Die Finanzströme sind interna-
tional, die Kapitalströme sind international. Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und
Sozialordnung: Ja.
Insofern ist dieser Weltsozialgipfel die Gelegenheit
zum Dialog, allerdings auch zur Selbstbesinnung, um
Peter Dreßen (SPD): Herr Minister, ich gebe Ihnen
aus nationalen Befangenheiten herauszutreten.
ja recht: Fünf Taten wären auch mir lieber als eine
Tonne Papier Erklärungen. Nur, die Frage des Kolle-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister gen Schuster war: Was sind diese fünf Taten? Mit
Blüm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- welchen Taten gehen Sie denn dort hinein? Erklären
ordneten Schuster? Sie doch einmal die Taten! Das ist das, was uns inter-
essiert.
Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
Sozialordnung: Bitte schön. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Dr. R. Werner Schuster (SPD): Herr Minister, in der Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und
Diagnose stimmen wir überein. Ich habe aber nicht Sozialordnung: In der Tat: Kampf gegen Ausgren-
ganz verstanden, mit welchen konkreten Therapie- zung, Kampf gegen Armut, Kampf gegen Diskrimi-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1437
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
nierung der Frau, breite Qualifizierung, das sind sehr lich. Dafür muß ein Weltbewußtsein geschaffen wer-
konkrete Vorhaben. Keineswegs in allen Ländern den. Insofern ist der Weltsozialgipfel ein Teil der
der Welt ist es selbstverständlich, daß es ein Recht Weltinnenpolitik, die aus meiner Sicht nicht mit
auf Bildung für alle und nicht nur für die Oberschich- Paragraphen, sondern im Denken beginnt.
ten gibt. Das scheint mir eine ganz konkrete For-
derung für den Weltsozialgipfel zu sein. Ich möchte noch auf einen Irrtum hinweisen. Es ist
keineswegs so, daß wir die Nichtregierungsorganisa-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tionen nicht beteiligt hätten. Sie waren an der Vorbe-
reitung in New York beteiligt; und sie werden auch
Im übrigen haben wir uns diesen Forderungen
unserer Delegation angehören. Wir reisen nicht in
nicht erst auf dem Weltsozialgipfel zugewandt. Ich
der Form „Regierung pur" nach Kopenhagen, son-
mache darauf aufmerksam, daß zum erstenmal auf
dern wir reisen mit den vom NRO-Forum ausgewähl-
dem Treffen der G 7 im letzten Jahr die Frage der
ten und delegierten Teilnehmern der Nichtregie-
Qualifizierung ein Thema der Weltwirtschaftspolitik
rungsorganisationen.
war und daß wir uns dort diesen sozialen Fragen zu-
gewandt haben. Ich glaube, daß sie eine wichtige Rolle spielen. Bei-
Herr Kohn, wenn wir uns darauf verständigen spielsweise wird unser Programm gegen Kinderar-
könnten: Erst muß das, was verteilt wird, erwirtschaf- beit - getragen von der Internationalen Arbeitsorga-
tet werden. Das ist natürlich nicht in einem engen, nisation, finanziert von der Bundesrepublik - wesent-
monokausalen Sinne zu verstehen. Die Sozialpolitik lich durch Nichtregierungsorganisationen gestützt.
ist nicht sozusagen der Reparaturwagen hinter der In der Marktwirtschaft gibt es Sanktionen für alle,
Wirtschaftspolitik, sondern eine integrierte Sozialpo- keine Resolutionen, sondern Sanktionen. Teppiche,
litik unterstützt den wirtschaftlichen Wachstumspro- die von Kindern produziert werden, sollten in
zeß. Deutschland keinen Käufer finden.
Ich will etwas, was unstrittig ist, noch einmal klar-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
stellen, nämlich daß wir nicht die veraltete Vorstel-
ordneten der F.D.P., der SPD und des
lung haben sollten: Als erstes wird Wirtschaft betrie-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ben, und dann sehen wir einmal, was für Sozialpoli-
tik übrig ist. Bereits in dem wirtschaftspolitischen Dafür gibt es die marktwirtschaftlichen Sanktionen:
Ansatz „Vorbeugen ist besser als Heilen" sind so- Teppiche, die nicht durch Kinderarbeit entstehen,
ziale Überlegungen enthalten. Sonst hätten wir ja werden durch Nichtregierungsorganisationen - -
kein Arbeitsrecht, sonst hätten wir keine sozialen
Rechte, die integriert sind. (Peter Dreßen [SPD]: Wie soll man wissen,
ob der Teppich von einem Kind geschaffen
Das scheint mir das Modell für die Welt zu sein, ist?)
wobei ich - damit wir uns gemeinsam von jeder
Überheblichkeit befreien - sagen möchte: Es geht - Das haben wir sichergestellt, indem unabhängige
nicht um Patentrezepte, die wir exportieren. Die Kul- Organisationen einschließlich Nichtregierungsorga-
-
turen dieser Erde sind höchst unterschiedlich. Aber nisationen dafür den Ausweis schaffen.
richtig ist, daß es Grunderfahrungen gibt, die sehr
wohl weltweite Bedeutung haben, beispielsweise die Das halte ich für ganz konkret: So wehrlos ist der
Grunderfahrung, daß es ein Menschenrecht des ein- Konsument nicht gegen Ausbeutung. Er kann nicht
zelnen gibt, daß es nicht durch kollektive Rechte ein- nur mit Worten, sondern ganz konkret seinen Beitrag
geebnet werden kann und daß der Mensch als Indivi- dazu leisten, daß Kinderarbeit auf der Erde ver-
duum Teilhaberechte an der sozialen Entwicklung schwindet.
hat. Das ist das, was der Kollege Vogt klarstellen
wollte. Kollektive sind nicht die Träger von Grund- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister
rechten. Das ist immer der einzelne. Blüm, gestatten Sie eine Abschlußfrage?
Es ist ganz selbstverständlich, daß zu diesen Men-
schenrechten auch soziale Rechte gehören. Es geht
Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und
auch darum, Grundrechte nutzen zu können. Schon
Sozialordnung: Bitte, eine Abschlußfrage.
Anatole France hat darauf aufmerksam gemacht: Un-
ter den Brücken von Paris gibt es für den König wie (Zuruf von der CDU/CSU: Aber auf dem
für den Bettler das Recht, zu schlafen. Nur, der eine Teppich bleiben!)
muß es, und der andere muß es nicht. - Insofern sind
Rechtsstaat und Sozialstaat aus meiner Sicht gar kein
Gegensatz. Es geht auch um die Chancen zur Teil- Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Herr Minister
habe an den rechtstaatlichen Garantien. Blüm, Sie haben eben davon gesprochen, Sie hätten
diese Regeln zur Abschaffung der Kinderarbeit in
Ich will noch einmal klarstellen, daß diese Men- der Teppichindustrie geschaffen. Sind Sie bereit, zur
schenrechte, diese elementaren Grundrechte, nicht Kenntnis zu nehmen, daß es die Organisationen
nach Rassen, Kontingenten oder Ideologien unterteilt „Brot für die Welt" und „terre des hommes" gewesen
werden können, sondern daß es einen Grundbestand sind, die diese Regeln hier in Deutschland verbreitet
von Rechten gibt, die jedem Menschen ohne Rück- haben
sicht auf seine Hautfarbe und Religion zustehen.
Diese Grundrechte sind keineswegs selbstverständ- (Beifall bei der SPD)
1438 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
(Brigitte Adler [SPD]: Wie haben Sie sich im (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Voll
GATT verhalten?) mer)
Ingrid Becker-Inglau
liche Zusammenarbeit dort den gleichen Stellenwert und daß auch die Entwicklungsländer dafür Geld in
- nicht untergeordnet - erhalten hätte. gleichem Verhältnis aus ihrem eigenen Etat einset-
zen. Ich denke, das ist auch eine Verpflichtung zur
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Selbsthilfe.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen, daß
Ich darf aber auch sagen: Dieser Gipfel sollte nicht diese Regelung, wenn sie richtig angewandt wird,
zu einem Nord-Süd-Gipfel entarten, bei dem ledig- keine neuen Geldmittel für die Umsetzung erfordert.
lich über die Höhe von Transferleistungen gestritten Vielmehr kommen die Mittel durch eine Umstruktu-
wird. Zweck und Ziel dieses Treffens sollte die wirt- rierung bei den Haushaltsprioritäten zusammen.
schaftliche und soziale Neuordnung unserer einen, Diese Umstrukturierung hätte dann sogar zur Folge,
kleinen, nah und eng zusammengerückten Welt sein. daß jährlich zwischen 30 und 40 Milliarden Dollar für
Denn eines ist uns allen inzwischen klar: Globale Zu- elementare Entwicklungsprojekte frei würden. Dies
kunftssicherung ist auch immer unsere eigene Zu- kann doch nur im Sinne unserer entwicklungspoliti-
kunftssicherung. schen Anstrengungen sein.
(Beifall bei der SPD - Dr. R. Werner Schu
Deswegen möchte ich noch einmal bekräftigen:
ster [SPD]: Bloß wollen muß man müssen!)
Weg von Militär- und Rüstungsausgaben bei uns, in
den Entwicklungsländern und in unseren Partnerlän- - So ist es.
dern, hin zu einer Welt, in der mit sozialen marktwirt-
schaftlichen Instrumenten nachhaltige - darauf lege Wir hoffen, daß sich die Bundesregierung derart
ich besonderen Wert - sozial, wirtschaftlich und öko- als Partner beim Gipfel erweist, daß sie dieses Regel-
logisch orientierte Entwicklung verwirklicht wird. werk schon auf EU-Ebene umsetzen kann.
Ich möchte noch ein Lob anbringen. Wie bei jedem
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Kopenhagen
großen Gipfel haben auch bei der Vorbereitung die-
muß auch gewährleistet werden, daß die dort gefaß-
ses Treffens in Kopenhagen viele Institutionen und
ten Beschlüsse und Empfehlungen nicht hinter die
Organisationen mitgewirkt. Einen besonderen Dank
Ergebnisse der anderen UN-Konferenzen - für Um-
möchte ich an die NROs richten, und einen ganz be-
welt in Rio 1992, für Menschenrechte in Wien 1993
sonderen Dank an die Organisationsbereitschaft der
und für Bevölkerung in Kairo 1994 - zurückfallen.
Friedrich-Ebert-Stiftung,
Ebenso sollten wir auch noch einmal daran erin- (Beifall bei der SPD)
nern, daß die bereits 1966 in dem UN-Pakt über wirt-
schaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte die ein Forum eingerichtet hat, von dem maßgebli-
und die in den ILO-Konventionen festgehaltenen che und wertvolle Anstöße an die Bundesregierung
rechtsverbindlichen Regelungen nicht ausgehöhlt ausgegangen sind. Vielleicht war es der Dank von
werden dürfen; denn das könnten wir nicht vertre- seiten der Bundesregierung, daß sie die NROs einge-
ten. laden hat, mit fünf Mitgliedern beim Weltsozialgipfel
dabeizusein.
-
Nicht zuletzt ist ebenfalls sicherzustellen, daß
Eines muß man den NROs zugestehen: Erst sie ha-
keine Beschlüsse gefaßt werden, die gegen das
ben dafür gesorgt, daß der Weltsozialgipfel in der Öf-
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der
fentlichkeit aus der Bedeutungslosigkeit herausge-
Diskriminierung der Frau von 1979 verstoßen. Die-
kommen ist und einen besonderen Stellenwert in der
ser Punkt ist auch deshalb von Bedeutung, weil wir,
öffentlichen Diskussion erhalten hat. Die Tatsache,
meine Fraktion und ich, von diesem Weltsozialgipfel
daß eine solche Vielzahl von Menschen nach Kopen-
auch wichtige Impulse für die Weltfrauenkonferenz
hagen reisen wird, berechtigt mich zu der Hoffnung,
in Peking erwarten.
daß es viele Multiplikatoren geben wird, die das, was
Ich will an dieser Stelle die Bundesregierung bei- in Kopenhagen beschlossen und erklärt wird, ver-
spielhaft an ihr 1992 in Rio gegebenes Versprechen breiten. Ich denke, daß damit die soziale Entwick-
erinnern, wo sie mitbeschlossen hat, die finanziellen lung in dieser Welt einen Aufschwung nehmen wird.
Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit auf ei-
nen Anteil von 0,7 % des Bruttosozialprodukts zu er- Vizepräsident Dr. Antje Vollmer: Sie müssen zum
höhen. Es wäre ein Fortschritt gewesen, wenn unsere Schluß kommen.
Regierung an ihrer eigenen Zielvorgabe bei den
Haushaltsberatungen 1995 festgehalten hätte.
Ingrid Becker-Inglau (SPD): In diesem Sinne hoffe
Man ist einen anderen Weg gegangen. Es stehen ich auf eine erfolgreiche Konferenz und wünsche de-
jetzt 0,03 % weniger als im letzten Jahr zur Verfü- nen, die dort hinfahren, eine gute Beratung. Ich
gung. Ich hoffe, daß es diesbezüglich in Kopenhagen hoffe, daß man sich auf gute Ziele festlegt. Wir im
klare Aussagen mit einer eindeutigen zeitlichen Ziel- Parlament werden sie dann anschließend umsetzen
vorgabe geben wird. Wir erwarten von der Bundesre- und ihre Einhaltung kontrollieren können.
gierung auch eine klare, nachprüfbare Aussage zum Vielen Dank.
20/20-Vertrag, den die UNDP entwickelt hat. Dieser
Vertrag sieht vor, daß sich die internationalen Geber- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
länder verpflichten, jeweils 20 % der Entwicklungs- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN,
hilfe für die soziale Grundversorgung aufzuwenden der F.D.P. und der PDS)
1440 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Gewalt. Es sind hier von Ihnen und von Herrn Blüm
jetzt die Abgeordnete Birgit Schnieber Jastram.
- heute mehrfach sehr eindrucksvolle Zahlen genannt
worden. Jeden Tag sterben in Lateinamerika 3 000
Kinder an den Folgen des Elends, und jeder zweite
Birgit Schnieber Jastram (CDU/CSU): Frau Präsi-
- Einwohner des Subkontinents lebt unterhalb der Ar-
dentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin- mutsgrenze.
nen und Kollegen! Ich freue mich, daß es in diesem
Hause eine große Einigkeit in dieser Frage gibt, und Es ist - und so steht es auch in dem vorliegenden
ich habe auch den Eindruck gewonnen, daß der Entwurf der Schlußerklärung von Kopenhagen - ein
Wunsch, hier gemeinsame Anstrengungen zu unter- moralisches, ein soziales, ein politisches und ein wirt-
nehmen, sehr groß ist. schaftliches Gebot der Menschheit, diesen Ärmsten
zu helfen. Die Bundesregierung - und darüber bin
Die entscheidende Herausforderung dieses Welt- ich froh - wird die Verpflichtung wahrnehmen, sich
sozialgipfels ist das Thema der globalen Bekämp- im Rahmen der internationalen Staatengemeinschaft
fung von Armut; denn Armut macht nicht nur entschieden für die soziale, die wirtschaftliche und
stumm, Armut ist auch stumm, und deshalb ist es auch die ökologische Entwicklung der Dritten und
höchste Zeit, daß ihr in Kopenhagen eine Stimme ge- der Vierten Welt zu engagieren.
geben wird, und zwar eine möglichst laute, möglichst
eindringliche Stimme, wie ich hoffe.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so ordneten der F.D.P.)
wie bei Abgeordneten der SPD)
Im Mittelpunkt dieses Weltgipfels werden ohne
In diesem Zusammenhang, Frau Becker, möchte Zweifel und zu Recht die wirklich dramatischen Zu-
ich nur eines sagen. stände in den ärmsten Regionen der Erde stehen. Ein
Blick dorthin, über die Grenzen Deutschlands und
(Ingrid Becker-Inglau [SPD]: Becker-Inglau! der EU hinaus - und wir tun gut daran, wirklich ein-
Mein Mann würde sich beschweren!) mal über diese Grenzen hinauszublicken -, sollte für
manche, die leichtfertig das Bild von der drohenden
- Frau Becker-Inglau. Ich will nicht, daß Ihr Mann Verelendung in unserem Land beschwören - und das
sich beschwert. ist hier heute auch wieder von einigen Seiten pas-
siert -, Anlaß zur Besinnung und zur vorsichtigeren
Ich wollte Ihnen in diesem Zusammenhang gerne Wortwahl, was unsere eigene Situation betrifft, sein.
eines sagen: Ich glaube, wir sollten unsere Erwartun-
gen nicht so hochschrauben, daß wir anfangen, von
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
einem Zeitplan zu reden, sondern ich glaube, daß wir
ordneten der F.D.P.)
froh sein können, wenn diese Veranstaltung in Ko-
penhagen genutzt wird, eine ganz große Problematik
deutlich zu machen. Herr Minister Blüm hat das, Die positive Bilanz sozialer Sicherheit, die wir ge-
denke ich, so drastisch geschildert, daß- wir es uns genüber den meisten Ländern, auch sogenannten
gut merken sollten. Wohlstandsstaaten, aufweisen können - und in die-
sem Zusammenhang von einem Zerbröckeln zu spre-
(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. R. Werner chen ist schon eine Katastrophe -, darf und wird uns
Schuster [SPD]: „Außer Spesen nichts ge allerdings auch nicht veranlassen, im eigenen Land
wesen" ist zuwenig!) in Selbstgefälligkeit zu verfallen. Denn auch in
Deutschland, einer der reichsten Nationen der Welt,
- Seien Sie nicht so unbescheiden! gibt es unbestritten Armut, und diejenigen, die von
Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit betroffen sind,
Wer sich Berichte und Zahlen aus Afrika, aus Ost- tröstet in der Tat der Vergleich mit den Ärmsten der
asien, aus Lateinamerika vor Augen hält, der wird Welt wenig.
rasch erkennen, daß Armut dort und Armut, wie wir
sie in Deutschland kennen, zwei gänzlich unter- Lassen Sie mich an Hand von zwei ausgewählten
schiedliche Phänomene sind. Verpflichtungen der vorgesehenen Schlußerklärung
kurz auf besonders brennende Problemfelder einge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - hen, und zwar in den Entwicklungsländern und auch
Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Richtig!) bei uns: auf die soziale Integration und auf die Situa-
tion der Frauen.
Das hat auch Norbert Blüm deutlich gemacht.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das Mit der sozialen Integration befaßt sich die vierte
befriedigt die Armen in Deutschland aber Verpflichtung. Ziel der Bemühungen soll es sein,
überhaupt nicht!) eine Gesellschaft für alle zu schaffen. Verurteilt wird
hier jede Art von Diskriminierung, von Intoleranz
- Da haben Sie recht. - Armut in den unterentwik- und von Gewalt. Gleichzeitig ist diese Verpflichtung
kelten Regionen dieser Erde bedeutet nicht nur eine ein Aufruf zur Gewährung von Chancengleichheit,
menschenunwürdige Existenz, sondern Krankheit ein Aufruf - und da sind auch wir angesprochen - zu
und Tod, und zwar massenhaften Tod durch Unterer- Solidarität, zu Toleranz und zu demokratischer Betei-
nährung, durch Epidemien, durch Drogen und durch ligung.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1441
Birgit Schnieber-Jastram
Wir sollten diesen Punkt der Schlußerklärung gut Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Ich wäre
durchlesen. Der Katalog der hierzu angeratenen Um- gerne noch auf die Rolle der Frau eingegangen. Das
setzungsmaßnahmen erscheint wirklich nur auf den wird ein Kollege besorgen.
ersten Blick etwas übertrieben. Alle 81 Einzelpunkte,
Ich danke Ihnen.
auch die umfangreichen Erläuterungen, haben ihre
Berechtigung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so
wie bei Abgeordneten der SPD)
Ich wiederhole, was Wolfgang Vogt bereits gesagt
hat und möchte ein gravierendes Beispiel nennen:
Die Verweigerung von Bildung und Qualifikation, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das war Ihre er-
egal ob Geschlecht, Rasse, fehlende finanzielle Mit- ste Rede, Frau Kollegin, wie mir gesagt wurde. Ich
tel oder eine Behinderung der Grund sind, wider- hätte Ihnen gerne mehr Zeit gegeben. Das konnte
spricht entschieden dem Grundsatz der sozialen Inte- ich aber nicht. Herzlichen Glückwunsch.
gration (Beifall)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Das Wort hat jetzt der Staatssekretär Hedrich.
ordneten der F.D.P. und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Klaus-Jürgen Hedrich, Parl. Staatssekretär beim
und versperrt unzähligen Menschen den Zugang in Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit
eine bessere Zukunft. und Entwicklung: Frau Präsidentin! Meine sehr ver-
ehrten Kolleginnen und Kollegen! Wirtschaftliche
Allein diese exemplarische Praxis der Diskriminie- und soziale Entwicklung sind zwei Seiten der glei-
rung zeigt, welche Defizite es an sozialer Integration chen Medaille. Das wird die zentrale Aussage des
in vielen Teilen der Welt gibt. Ich sage das ohne Weltgipfels für soziale Entwicklung sein.
Überheblichkeit; denn mir ist klar, daß es auch bei Die Bundesregierung hat, ausgehend von ihren ei-
uns Maßnahmen geben muß, um die Integration Be- genen entwicklungspolitischen Erfahrungen und
nachteiligter zu gewährleisten. Ich sage Ihnen aber Prioritäten, die Entwürfe der beabsichtigten Gipfel-
gleichzeitig: Wir werden mit dieser Aufgabe nie fer- beschlüsse intensiv mitgestaltet. Ich möchte an die-
tig werden. ser Stelle nur zwei Beispiele nennen:
Wer von sozialer Integration redet, muß auch auf Erstens. Die politischen, die wirtschaftlichen und
das Thema Ausländer eingehen. Ich will nicht in Ab- die sozialen Rahmenbedingungen sind von zentraler
rede stellen, daß in diesem Bereich in Deutschland Bedeutung. Hierfür ist die Regierung eines jeden
durchaus noch Anstrengungen notwendig sind. Das Landes selbst verantwortlich. Alle Politikbereiche,
gilt nicht nur für die Unterbindung ausländerfeindli- auch die Wirtschafts-, die Haushalts-, die Steuer- und
cher Gewalttaten, die bei fast allen Deutschen nur die Strukturpolitik müssen armutsmindernd gestaltet
Scham, Empörung und Wut hervorgerufen haben. werden, also der sozialen Entwicklung dienen.
-
Jedes dieser Verbrechen ist eines zuviel. Wir dür- Auch Strukturanpassungsprogramme müssen von
fen und werden nicht zulassen, daß feige Brandstifter Anfang an auf dieses Ziel ausgerichtet sein. Darin
und Mörder den guten Ruf, den das demokratische sind sich die Gipfelteilnehmer mit der Weltbank ei-
Deutschland in den vergangenen 50 Jahren im Aus- nig.
land erworben hat, besudeln.
(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Das ist nicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) richtig!)
Die Achtung der politischen, bürgerlichen, wirt-
schaftlichen, sozialen und kulturellen Menschen-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ihre Redezeit ist rechte einschließlich der Gleichberechtigung von
leider zu Ende, Frau Kollegin. Mann und Frau, die Beteiligung aller Bevölkerungs-
schichten am politischen Prozeß und die Entwick-
lungsorientierung staatlichen Handelns sind ent-
Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Aber auch
scheidende Voraussetzungen für soziale Entwick-
im alltäglichen Bereich stellt die Bezeichnung „aus-
lung.
ländischer Mitbürger" allzu oft nur eine Worthülse
dar. Dennoch ist festzustellen, daß das weitgehend Armut - darauf ist hingewiesen worden - bedeutet
problemfreie, oft sogar selbstverständliche und har- nicht nur materielle Not, sondern auch Ausgeschlos-
monische Zusammenleben zwischen Deutschen und sensein von Entscheidungen, fehlende Möglichkei-
ihren ausländischen Nachbarn eher den Regelfall bil- ten einer eigenverantwortlichen Lebensgestaltung,
det als die Ausnahme. Verletzung der menschlichen Würde und Freiheit.
Deshalb ist die Beteiligung der Menschen an Ent-
Es bleiben natürlich viele Fragen offen. Ich erin- scheidungen, die sie selbst betreffen, von elementa-
nere nur an die Diskussion über die doppelte Staats- rer Bedeutung.
bürgerschaft.
Ich bin der Frau Kollegin Schnieber-Jastram sehr
dankbar, daß sie auf die Verwendung des Wortes Ar-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ihre Redezeit ist mut hingewiesen hat. Wir hatten Ende letzten Jahres
vorbei. ein Gespräch mit den Vertretern der Kirchen. Herr
1442 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord GRÜNEN und der PDS sowie hei Abgeord
neten der CDU/CSU) neten der CDU/CSU)
Beteiligung einer Delegation des Deut- und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die
schen Bundestages an der VN-Konferenz dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-
in Berlin vom 23. März bis 7. April 1995 ben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? -
Damit ist der Gesetzentwurf bei einigen Stimment-
- Drucksache 13/540 - haltungen mit großer Mehrheit angenommen.
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Tagesordnungspunkt 14 b: Abstimmung über den
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft
- Antrag der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNIS-
(9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bun- SES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. zur Beteiligung
desregierung einer Delegation des Deutschen Bundestages an der
Aufhebbare Fünfunddreißigste Verord- UN-Konferenz in Berlin auf Drucksache 13/540. Wer
nung zur Änderung der Außenwirtschafts- stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Stimm-
verordnung enthaltungen? - Ich stelle große Einmütigkeit im Ple-
num fest. Der Antrag ist damit angenommen.
- Drucksachen 13/23, 13/428 -
Tagesordnungspunkt 14c: Abstimmung über die
Berichterstattung:
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
Abgeordneter Erich Fritz
zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung auf
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Drucksachen 13/23 und 13/428. - Wer stimmt für
tionsausschusses (2. Ausschuß) diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimm-
enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung
Sammelübersicht 9 zu Petitionen bei einigen Stimmenthaltungen angenommen.
- Drucksache 13/334 - Tagesordnungspunkte 14d bis 14h: Abstimmung
über die Beschlußempfehlungen des Petitionsaus-
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti-
schusses auf Drucksachen 13/334 und 13/424 bis 13/
tionsausschusses (2. Ausschuß)
427. Das sind die Sammelübersichten 9 bis 13. Wer
Sammelübersicht 10 zu Petitionen stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Gegen-
probe! - Stimmenthaltungen? -
- Drucksache 13/424 -
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- DIE GRÜNEN]: Wir beantragen Wiederho
tionsausschusses (2. Ausschuß) lung der Abstimmung!)
Sammelübersicht 11 zu Petitionen
- Es wird um Wiederholung der Abstimmung gebe
- Drucksache 13/425 - ten. Ich wiederhole die Abstimmung: Wer stimmt für
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1447
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
diese Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe! - Ich gebe jetzt das Ergebnis der Abstimmung be-
Stimmenthaltungen? - Es sieht ganz so aus, als sei kannt. Mit Ja haben gestimmt: 272 Abgeordnete. Mit
das abgelehnt worden. Nein haben gestimmt: 217 Abgeordnete.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 489 Abgeordnete waren anwesend. Damit war das
PDS - Zuruf: Durchzählen!) Haus beschlußfähig. Die Beschlußempfehlungen
- Dann müssen wir durchzählen. sind damit angenommen.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tages-
DIE GRÜNEN]: Das war eindeutig! - Abg. ordnung um die Beratung des Antrages der Fraktion
Brigitte Baumeister [CDU/CSU] und Abg. der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE
Clemens Schwalbe [CDU/CSU] begeben GRÜNEN und der F.D.P. zur Solidarität mit Salman
sich zum Präsidium) Rushdie und zu einem Appell gegen die Einschrän-
kung der Meinungsfreiheit zu erweitern. Über diesen
- Die CDU/CSU-Fraktion verlangt Zählung der Sti Antrag soll jetzt gleich ohne Aussprache abgestimmt
men. Wir machen deswegen einen Hammelsprung. werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Ich bitte Sie also, den Saal zu verlassen. - Wenn alle Fall. Dann ist das so beschlossen.
Mitglieder des Hauses draußen sind, bitte ich, die
Türen zu schließen. Sind die Schriftführer anwesend? Ich rufe folgenden Zusatzpunkt auf:
(Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Nein, Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/
noch nicht!) CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
Können wir einmal klären, ob die notwendigen F.D.P.
Schriftführer anwesend sind? - Ich frage noch ein- Solidarität mit Salman Rushdie und Appell
mal, ob die Schriftführer inzwischen eingetroffen gegen die Einschränkung von Meinungsfrei-
sind. heit
(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Nein!) - Drucksache 13/586 -
- Es sind einige andere Mitglieder des Hauses da, die Wir kommen damit zur Abstimmung über den in-
das machen könnten. - terfraktionellen Antrag. Wer stimmt dafür? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Der Antrag zur Solidarität
Mir sind folgende Schriftführer benannt worden,
mit Salman Rushdie und zu einem Appell gegen die
die jetzt den Zähldienst an den Türen übernehmen:
Einschränkung der Meinungsfreiheit ist bei großer
der Abgeordnete Dr. Max Stadler, der Abgeordnete
Beteiligung einstimmig in diesem Haus angenom-
Roland Kohn, die Abgeordnete Elisabeth Altmann
men worden. Ich danke Ihnen.
und die Abgeordnete Steffi Lemke. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, an die Türen zu (Beifall im ganzen Hause)
gehen. Sobald sie an den Türen sind, beginnt die Ab- Der Abgeordnete Gerhard Zwerenz hat um das
m-
stimmung. - Sobald ich das Zeichen habe, daß die Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung erbeten.
Schriftführerinnen und Schriftführer an den Türen
sind, beginnt die Abstimmung. -
Gerhard Zwerenz (PDS): Frau Präsidentin! Meine
(Zuruf: Alles okay! Sie können anfangen!) Damen und Herren! Dem interfraktionellen Antrag
- Dann eröffne ich die Abstimmung. - zur Solidarität mit Salman Rushdie stimme ich nur im
Sinne eines Minimums zu. Ich erkläre zugleich
Hat jemand noch nicht an der Abstimmung teil- meine Unzufriedenheit mit dem geradezu unanstän-
nehmen können? Können die Schriftführer mir bitte dig zurückhaltenden Antragstext, der weit hinter al-
ein Zeichen geben, ob die Abstimmung abgeschlos- lem zurückbleibt, was unser Schriftstellerverband in
sen ist? - Die Türen werden geschlossen. der IG Medien und unsere beiden deutschen PEN-
Zentren sowie viele Bürgerinitiativen längst aus-
Ich bitte die Schriftführer, umgehend zu mir zu drücklich gefordert haben.
kommen und das Ergebnis mitzuteilen.
(Beifall bei der PDS)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will etwas
vorweg sagen. Es ist ein etwas ungewöhnlicher Vor- Sechs Jahre religiös-staatlicher Morddrohung ge-
gang, daß wir jetzt ein so volles Haus haben. gen Salman Rushdie sind genug. Die Gruppe der
PDS fordert deshalb, dem Iran ausdrücklich einen
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Termin von nicht länger als drei Monaten zu setzen.
GRÜNEN und der PDS) Ist der Mordauftrag bis dahin nicht offiziell zurückge-
Das hat einen großen Nutzen. Ich möchte Sie bitten, nommen, wird der Deutsche Bundestag die Bundes-
gleich, nachdem ich das Ergebnis der Abstimmung regierung auffordern, die diplomatischen, politischen
bekanntgegeben habe, wenn es Ihnen möglich ist, und wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran abzubre-
hierzubleiben, weil wir über den Antrag zu Salman chen, wie es im interfraktionellen Antrag leider ohne
Rushdie abstimmen. Dafür hat es sich sicherlich ge- Terminierung angedroht wird.
lohnt, daß wir hier so viele sind. Ich danke Ihnen.
(Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der PDS)
1448 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Abgeord- bosnischen Flüchtlingen, die inzwischen ihren Le-
neter Zwerenz, eine Erklärung zur Abstimmung kön- bensunterhalt im Bundesgebiet ohne Inanspruch-
nen Sie nicht im Namen Ihrer Fraktion, sondern nur nahme von Sozialhilfe bestreiten können, eine Auf-
für sich persönlich abgeben. Ich nehme das in die- enthaltsbefugnis nach § 32 des Ausländergesetzes
sem Sinne zu Protokoll. erteilt werden. Entsprechende Vorschläge in der In-
nenministerkonferenz wird die Bundesregierung un-
(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das ist doch keine terstützen.
Fraktion, Frau Präsidentin!)
Nach Auffassung der Bundesregierung sollte
Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien eine
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Aufenthaltsbefugnis erteilt werden, wenn sowohl die
Fragestunde freiwillige Ausreise als auch eine Abschiebung aus
Gründen unmöglich sind, die die Flüchtlinge nicht
- Drucksache 13/470 - zu vertreten haben, und wenn nicht damit zu rech-
nen ist, daß das Ausreise- und Abschiebungshinder-
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministe- nis in absehbarer Zeit entfällt.
riums des Innern auf. Zur Beantwortung steht Herr
Parlamentarischer Staatssekretär Lintner bereit. Nach dem derzeitigen Sachstand kommen nur die
Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina für die Er-
Ich rufe die Frage 45 des Abgeordneten Dr. Max teilung einer Aufenthaltsbefugnis in Betracht.
Stadler auf:
Ist die Bundesregierung bereit, eine Härtefallregelung für
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gibt es Zusatz-
traumatisierte, in Behandlung befindliche Flüchtlinge und älte-
re, in Kroatien alleinstehende Menschen, die in der Bundesrepu- fragen? - Nein, das ist ausreichend beantwortet.
blik Deutschland durch enge Angehörige versorgt sind, gegen-
über den Innenministern der Länder zu unterstützen, und liegen Dann rufe ich Frage 47 des Abgeordneten
ihr Erkenntnisse darüber vor, wie viele Personen eine solche Re- Dr. Edzard Schmidt-Jortzig auf:
gelung betreffen würde?
Wie beurteilt die Bundesregierung die Sicherheitslage in
Bitte, Herr Staatssekretär. Kroatien für den Fall, daß dort das Mandat der VN-Schutztrup-
pen nicht über den 31. März 1995 hinaus verlängert wird und die
serbisch besetzten Gebiete Kroatiens noch nicht zurückgegeben
worden sind, und können die hier lebenden Flüchtlinge aus
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Kroatien davon ausgehen, daß ihre Rückschiebung ausgesetzt
minister des Innern: Frau Präsidentin, die Antwort wird, falls es zu erneuten Kriegshandlungen kommt bzw. diese
lautet wie folgt: Die Ständige Konferenz der Innenmi- ernsthaft zu befürchten sind?
nister und -senatoren der Länder hat sich 1993/1994
Bitte, Herr Staatssekretär.
mehrfach mit der Rückführung der kroatischen
Kriegsflüchtlinge und der Notwendigkeit einer Här-
tefallregelung befaßt. Der bislang endgültige Be- Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
schluß vom 9. Februar 1994 enthält keine Regelun- minister des Innern: Die Bundesregierung hält es
gen über den Verbleib bestimmter Kriegsflüchtlinge nicht für angezeigt, Vermutungen über die künftige
in Härtefällen. Sicherheitslage in Kroatien zu äußern. Ob eine et-
waige Änderung der Sicherheitslage in Kroatien es
Die Bundesregierung sieht keine Notwendigkeit, erfordert, die Rückführung kroatischer Kriegsflücht-
das Thema von sich aus erneut aufzugreifen. Der linge auszusetzen, werden gegebenenfalls die Län-
Bundesregierung liegen auch keine Erkenntnisse
der zu entscheiden haben, denen nach Art. 83 des
über die Zahl der Personen vor, die für eine etwaige Grundgesetzes die Ausführung der ausländerrechtli-
Härtefallregelung in Betracht kämen. chen Bestimmungen im Bundesgebiet als eigene An-
gelegenheit obliegt.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich rufe Frage 46
des Abgeordneten Dr. Max Stadler auf: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gibt es Zusatz-
Wird die Bundesregierung sich angesichts der langen Aufent- fragen? - Eine Zusatzfrage des Abgeordneten
haltsdauer vieler bosnischer Flüchtlinge auf der nächsten Innen- Schmidt.
ministerkonferenz dafür einsetzen, daß diesen bis zur Umset-
zung des für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge vorgesehenen
§ 32a Ausländergesetz eine Aufenthaltsbefugnis nach § 32 Albe rt Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
AuslG erteilt wird, und teilt die Bundesregierung die Ansicht, GRÜNEN): Meine Frage, verehrte Frau Präsidentin,
daß Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die im Be-
sitz einer Duldung sind, nach Einzelfallprüfung regelmäßig eine ist folgende: Kann es Sinn der Vereinbarung der Län-
Aufenthaltsbefugnis erteilt werden sollte, sofern sie sich seit derinnenminister vom 9. Februar 1994 gewesen sein,
mindestens zwei Jahren in der Bundesrepublik Deutschland daß nunmehr auch Kriegsflüchtlinge aus Bosnien mit
aufhalten? einem zweiten, zusätzlichen kroatischen Paß mit der
Bitte, Herr Staatssekretär. Ausreise in ihre Heimat bedroht werden, in die sie
nicht zurückkehren können, weil dort Kriegsgebiet
ist, oder aber nach Kroatien, wo sie nicht zu Hause
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- sind, wo sie allenfalls in einem Flüchtlingslager unter
minister des Innern: Herr Kollege Dr. Stadler, die erbärmlichen Verhältnissen Aufnahme finden könn-
Frage 46 beantworte ich wie folgt: Nach Auffassung- ten? Ist dies die ratio legis der Länderinnenminister-
der Bundesregierung sollte jedenfalls denjenigen vereinbarung vom 9. Februar 1994?
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1449
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- In diesem Bedarfsplan ist die A 6 zwischen Am-
minister des Innern: Frau Präsidentin, ich darf darauf berg-Ost und Waidhaus in den vordringlichen Be-
hinweisen, daß sich diese Frage auf die Frage 45 be- darf eingestellt - ebenso wie viele Bundesautobahn-
zieht, die eigentlich längst abgehandelt ist. Ich bin projekte in den neuen Ländern.
aber gern bereit, trotzdem zu antworten.
Ich darf Sie, Kollege Schmidt, darauf verweisen, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Haben Sie eine
daß es sich um Staatsangehörige von Kroatien han- Zusatzfrage, oder möchten Sie die nächste Frage be-
delt und eine Differenzierung unter Staatsangehöri- antwortet haben?
gen nach der Problemlage, wie wir sie hier vorliegen
haben, nicht angezeigt erscheint.
Georg Pfannenstein (SPD): Ja, ich habe eine Zu-
satzfrage. Herr Staatssekretär, in welchem Zeitraum
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Keine weiteren ist die Finanzierung vorgesehen? Gibt es eine Mög-
Zusatzfragen? - Sie, Herr Abgeordneter Schmidt, ha- lichkeit, die Finanzierung bzw. die Realisierung des
ben leider keine zweite Zusatzfrage. Bauvorhabens vorzuziehen?
Damit schließe ich den Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums des Innern. Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun-
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers desminister für Verkehr: Herr Kollege, Sie gehen da-
und des Bundeskanzleramtes auf. Zur Beantwortung mit zu Ihrer nächsten Frage über. Darf ich das so zur
steht Herr Staatsminister Bernd Schmidbauer bereit. Kenntnis nehmen?
Uta Zapf (SPD): Ist die Bundesregierung der Mei- kretär, sind Sie auf Grund der langjährigen Erfahrun-
nung, daß einzelne innerörtliche Lärmereignisse an- gen in der Lage, annähernd den Beginn des Baus an-
ders zu bewerten sind, oder beharrt die Bundesregie- zugeben?
rung darauf, daß hier eine einheitliche Beurteilungs-
praxis eingehalten wird und diese sich auch auf Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun-
Nachtfahrverbote für Lkws erstrecken sollte? desminister für Verkehr: Für welchen Teilabschnitt,
bitte?
Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister für Verkehr: Auch in diesem Fall ist die Dr. Angelica Schwall Düren (SPD): Ich teile das
-
Bundesregierung der Meinung, daß die Einzelschall- dann auch noch einmal auf den Bereich Wettringen,
ereignisse Bestandteil des Mittelungswertes sind und wo das Verfahren ja noch am weitesten zurück ist,
damit in die Ausführungen, die ich als Antwort gege- und den Bereich Metelen auf.
ben habe, einbezogen wurden.
Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir kommen da- desminister für Verkehr: Hier darf ich auf meine
mit zur Frage 13. Hier ist um schriftliche Antwort ge- dritte Teilantwort verweisen. Dort hatten wir im
beten worden. Die Antwort wird als Anlage abge- Jahre 1990 das Planfeststellungsverfahren und sind
druckt. heute noch nicht beim Baubeginn. Ich kann auf
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1451
Für die Fragen 15, 16, 17 und 18 ist um schriftliche Können Sie mir dann sagen, Herr Staatssekretär,
Beantwortung gebeten worden. Die Antworten wer- welche Kosten auf die einzelnen Kommunen durch
den als Anlagen abgedruckt. Übernahme der Schienenwege usw. zukommen und
ob wir - man hört, daß zum Teil Überforderungen
Ich rufe die Frage 19 des Abgeordneten Peter Dre- durch die Bahn AG stattfinden - im Parlament noch
ßen auf: Möglichkeiten haben, darauf Einfluß zu nehmen?
Welche Privatisierungs- und Regionalisierungstendenzen hat
die Bundesregierung im Hinblick auf die Elztalbahn, die Bahn Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun-
von Freiburg nach Breisach, die Bahn Biberach Z. a. H., die
Bahn Hausach nach Freudenstadt sowie die Bahn Titisee nach
desminister für Verkehr: Ich habe Ihnen die Mittel
Seebrück im einzelnen, und welche finanziellen Konditionen genannt, die der Bund dem Land Baden-Württem-
sind ggf. für die Betreiber vor Ort im einzelnen vorgesehen? berg für die Jahre 1996 und 1997 zur Verfügung
stellt, um diese Aufgabenverteilung im Land und in
Bitte, Herr Staatssekretär. den Kommunen erträglich zu gestalten.
Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
desminister für Verkehr: Sehr geehrter Herr Kollege, frage des Abgeordneten Wolf.
die Übertragung der Verantwortung für den Schie-
nenpersonennahverkehr der Deutschen Bahn AG
auf die Länder zum 1. Januar 1996 bedeutet, daß die Dr. Winfried Wolf (PDS): Herr Staatssekretär, Sie
derzeit noch unterschiedlichen Zuständigkeiten im haben als Antwort auf die Frage des Kollegen Dre-
gesamten öffentlichen Personennahverkehr durch ßen gesagt, daß bei der Bahn mit der Privatisierung
Landesrecht auf regionaler Ebene zusammengefaßt alles besser, schöner und grüner werden soll. Sie ha-
werden. Die Länder bereiten hierfür derzeit Landes- ben auf die Frage, ob die Strecken von Stillegungen
ÖPNV-Gesetze vor. Es wird erwartet, daß durch die bedroht sind, konkret nicht geantwortet.
Planung, Organisation und Finanzierung der öffent- Ist Ihnen bekannt, daß gerade in Baden-Württem-
lichen Personennahverkehrsbedienung aus einer berg auf Grund der Tatsache, daß die Deutsche Bahn
Hand vor Ort der SPNV insgesamt wirtschaftlicher, - ihre Preise für die Nutzung der Trassen verzehn
AG
leistungsfähiger, kundennäher und attraktiver ge- oder versiebenfachen will, zwei Linien direkt von
staltet werden kann als heute. Schließung bedroht sind? Das betrifft die Karlsruher
Der Bund hat dem Land Baden-Württemberg für Stadtwerke, die die Regionalbahn um Karlsruhe
das Jahr 1996 insgesamt 894,69 Millionen DM sowie herum betreibt, und es betrifft die Bodensee-Ober-
für das Jahr 1997 insgesamt 1 278,88 Millionen DM schwaben-Bahn von Friedrichshafen nach Ravens-
zur Verfügung gestellt. Das Land Baden-Württem- burg. Beide Gesellschaften sagen, bei diesen Tras-
berg entscheidet in eigener Verantwortung über die senpreisen müßten sie den Schienenverkehr einstel-
in seinem Bereich liegenden Eisenbahnstrecken, die len. Bisher hat der Bund 100 % Eigentum der Bahn
der Sicherstellung einer ausreichenden Verkehrsbe- AG, deshalb müssen Sie darauf anworten.
dienung im öffentlichen Personennahverkehr die-
nen. Einzelheiten der Ausgestaltung des SPNV sind Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
vom Land Baden-Württemberg und von den nach minister für Verkehr: Ich kann Ihnen in diesem Mo-
Landesrecht bestimmten Aufgabenträgern für die ment nicht sagen, welche Forderungen die Deutsche
Durchführung von Schienenpersonennahverkehr mit Bahn AG für die Benutzung der Wege erhoben hat. Ich
der DB AG zu vereinbaren. Die Bundesregierung habe Ihnen die allgemeine Situation dargestellt, die im
nimmt hierauf keinen Einfluß. Schienenpersonennahverkehr ab 1996 gilt.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Vielleicht wäre
frage? - Bitte. das eine neue Frage wert.
Wir kommen jetzt zur Frage 20 des Abgeordneten
Peter Dreßen (SPD): Das habe ich eigentlich nicht Dreßen:
gefragt, Herr Staatssekretär, sondern ich wollte wis- Welche konzeptionellen Vorstellungen wird die Bundesregie-
sen - und das können Sie sicherlich auch sagen -, ob rung anläßlich der geplanten Vorlage der endgültigen Fassung
es Überlegungen gibt, diese Strecken unter Umstän- des Verkehrsprotokolls der Alpenkonvention, das nach dem Wil-
den zu privatisieren. len der Unterzeichnerstaaten im ersten Halbjahr 1995 vorliegen
soll, in die Verhandlungen einbringen, um eine möglichst um-
weltfreundliche Verkehrsabwicklung durch den vorrangigen
Einsatz des kombinierten Verkehrs und den Umstieg von der
Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun- Straße auf die Schiene zu fördern, und welche Priorität wird da-
desminister für Verkehr: Die von Ihnen genannten bei dem Ausbau der viergleisigen Rheintalschiene zwischen Of-
Strecken gehören zu dem Bereich des öffentlichen fenburg und Basel zugewiesen?
1452 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun- Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister für Verkehr: Sehr geehrter Herr Kollege, desminister für Verkehr: Ich sichere Ihnen zu, daß
nach den Vorstellungen der Bundesregierung sollen Sie dazu eine schriftliche Antwort bekommen.
die Belastungen und Risiken im Bereich des inner
alpinen und alpenquerenden Verkehrs auf ein Maß
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
gesenkt werden, das für Menschen, Tiere und Pflan-
frage.
zen sowie deren Lebensräume erträglich ist. Seitens
der Bundesregierung wird dem Handlungsbedarf im
Schienen- und im öffentlichen Verkehr Priorität ein- Elke Ferner (SPD): Sehr geehrter Herr Staatssekre-
geräumt. tär, Sie haben in der Antwort auf die Frage des Kolle-
gen Dreßen gesagt, die Bundesregierung betreibe
Güterverkehr soll auf mittlere und lange Distanzen
eine Schienenvorrangpolitik. Wie können Sie uns
auf der Schiene abgewickelt werden. In Art. 2 Ziffer 2
dann erklären, daß erstens im Haushaltsansatz 1995
ist daher konkret folgende Formulierung im Ver-
ein deutliches Prä für die Straßeninvestitionen zu
kehrsprotokoll vorgesehen:
verzeichnen ist - ungefähr 2 Milliarden DM mehr für
Ebenso unerläßlich wie neue Bahninfrastruktu- Straßeninvestitionen -, und was hält die Bundesre-
ren ist die Entwicklung des Kombinierten Ver- gierung von der Tatsache, daß die Koalition im Haus-
kehrs für den inneralpinen und alpenquerenden haltsausschuß den Ansatz für die Schieneninfrastruk-
Güterverkehr. Die Vertragsparteien verpflichten tur um 649 Millionen DM gekürzt hat und davon wie-
sich darauf hinzuarbeiten, daß die Bahnen sich derum 250 Millionen DM dem Straßenbautitel zuge-
organisatorisch vermehrt auf den Kombinierten schlagen hat?
Verkehr ausrichten, Terminals erstellen und Vor-
und Nachläufe verbessert werden, um den Wech-
Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun-
sel von Straße, Schiene und Häfen möglichst na-
desminister für Verkehr: Sehr geehrte Kollegin, ich
he an Quelle und Ziel zu ermöglichen.
darf erwähnen, daß sich meine Antwort auf eine
Aus diesem Grund kommt dem Ausbau der Frage zur Alpenkonvention bezog. Meine Ausfüh-
Strecke Karlsruhe-Offenburg-Basel eine besondere rungen bezogen sich auf die Querung der Alpen.
Bedeutung zu. Die Strecke Karlsruhe-Müllheim ist
bereits im vordringlichen Bedarf eingeordnet. Der
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es liegen keine
südliche Teil Müllheim-Basel ist unter den „länder-
weiteren Fragen zum Geschäftsbereich des Bundes-
übergreifenden Projekten" enthalten, für deren Aus-
ministeriums für Verkehr vor. Ich danke dem Parla-
bau eine Vereinbarung mit dem betroffenen Nach-
mentarischen Staatssekretär Johannes Nitsch dafür,
barland erforderlich ist. Derzeit ist dieser Teil der
daß er gekommen ist.
Strecke Untersuchungsgegenstand einer bilateralen
Arbeitsgruppe. Ich komme zum Geschäftsbereich des Auswärti-
gen Amtes. Zur Beantwortung steht Herr Staatsmini-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz- ster Dr. Werner Hoyer bereit.
frage, Herr Dreßen. -
Wir kommen zur Frage 25 der Abgeordneten Elke
Ferner.
Peter Dreßen (SPD): Herr Staatssekretär, können
Wo sollen die durch die Bundesrepublik Deutschland geför-
Sie mir sagen, bis wann Sie mit dem Planfeststel- derten türkischen Fregatten eingesetzt werden, und wo könnten
lungsverfahren beginnen? dabei deutsche Interessen berührt sein?
Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun- Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
desminister für Verkehr: Das kann ich Ihnen schrift- Amt: Frau Präsidentin! Frau Kollegin Ferner! Die
lich geben. Im Moment habe ich dazu keine Unterla- Entscheidung über den Einsatz türkischer Fregatten
gen. obliegt im Grundsatz der türkischen Regierung. In ei-
ner vertraglichen Vereinbarung zwischen der Bun-
Peter Dreßen (SPD): Ich möchte Ihnen nur mittei- desrepublik Deutschland und der Türkei über die fi-
len, daß man vor Ort hört, daß man damit erst im nanzielle Unterstützung des Baus von zwei Fregat-
Jahre 2002 oder später beginnen will. Ich halte es für ten wird deren ausschließliche Verwendung in Über-
eine Katastrophe, wenn jetzt nicht mit dem Planfest- einstimmung mit Art. 5 des Nordatlantikpaktvertra-
stellungsverfahren begonnen wird. Ich hoffe, Sie ha- ges vereinbart werden.
ben Verständnis dafür, daß das jetzt gemacht werden Ich schlage vor, daß ich die Fragen, die sich auf das
muß; denn Sie wissen, das dauert seine Zeit. deutsche Interesse an dem Vorhaben beziehen, ge-
meinsam mit der folgenden Frage beantworte, wenn
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nun machen Sie Sie damit einverstanden sind.
noch eine Frage aus Ihrer Ermahnung!
(Heiterkeit) Elke Ferner (SPD): Ja.
Peter Dreßen (SPD): Ich nehme an, Sie sind meiner Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gut. Sie können
Meinung? dann Zusatzfragen stellen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1453
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wir kommen also zunächst zur Frage 26 des Abge- Uwe Hiksch (SPD): Ich habe eine Zusatzfrage zur
ordneten Hiksch: Frage 25 der Abgeordneten Ferner.
Trifft es zu, daß die Bundesregierung den Bau von zwei Können Sie bestätigen, daß selbst dann, wenn Ver-
MEKO(Mehrzweck-Kombination)-Fregatten für die Türkei auf träge geschlossen werden, nach denen diese beiden
deutschen Werften mit einer Summe von 150 Mio. DM subven-
tionieren will, und womit wird dieses Vorhaben begründet? MEKO-Fregatten für gewisse Dinge nicht eingesetzt
werden dürfen, dadurch natürlich andere Waffen frei
werden, die dann genau für das eingesetzt werden
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen könnten, wofür die zwei Fregatten eben nicht einge-
Amt: Herr Kollege Hiksch, Bundeskanzler Dr. Kohl setzt werden dürfen? Dadurch werden faktisch trotz-
hat der türkischen Premierministerin Ciller am dem Waffen in ein Spannungsgebiet im Mittelmeer
20. September 1993 eine finanzielle Unterstützung geliefert.
für den Bau von zwei MEKO-Fregatten in Höhe von
150 Millionen DM zugesagt. Die Finanzierungshilfe (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das sind dann die
soll in drei Raten ab dem Jahr 1996 erfolgen. Die För- Fregatten für den Landeinsatz!)
derung des Baus der Fregatten erfolgt vor dem Hin-
tergrund des deutschen Interesses an einer sicher- Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
heitspolitischen Stützung der Türkei in einer von In- Amt: Das ist eine Überlegung, die man theoretisch
stabilitäten gezeichneten Region. sicherlich nachvollziehen kann; gleichwohl ist sie
Mit der Finanzierungshilfe wird das umfangreiche durchaus etwas um die Ecke gedacht. Es ist unbe-
Programm des Fregattenbaus eines deutschen Fir-. streitbar, daß Mittel, die auf diese Weise freigesetzt
menkonsortiums mit der türkischen Regierung unter- werden könnten, für andere Zwecke verwendet wer-
stützt. Das Vorhaben ist auch für die deutsche Werft- den könnten. Das ist völlig richtig.
industrie von großer Bedeutung, die durch diese Auf-
Aber das ist natürlich auch Teil einer Überlegung,
träge ihre Auslastung deutlich verbessern kann. die hinter einer solchen Zusammenarbeit steht. Dies
Das Vorhaben der Förderung der MEKO-Fregatten geschieht ja im Hinblick auf einen wichtigen Partner
wird von der türkischen Regierung als Ausdruck und der NATO, einen Mitgliedsstaat der NATO, mit dem
auch als Prüfstein der deutschen Bereitschaft zu ei- wir enge Beziehungen auch als Europäische Union
ner partnerschaftlichen Kooperation über den sicher- haben wollen.
heitspolitischen Bereich hinaus angesehen.
Wir sind an einer Entwicklung der Türkei in Rich-
(Uta Zapf [SPD]: Das ist nicht zu fassen!) tung Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlich -
keit, an einer Entwicklung der Türkei in Richtung hin
auf die Europäische Union interessiert. Wir hoffen,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zunächst eine
daß wir damit auch einen Beitrag leisten, um deutlich
Zusatzfrage der Abgeordneten Ferner. Bitte.
zu machen, wie wir an der Türkei und der Zusam-
menarbeit mit ihr interessiert sind.
Elke Ferner (SPD): Sie haben im Prinzip gesagt, es
sei Sache des Empfängerlandes, in dem Fall der Tür-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Hiksch hat
kei, wo die Fregatten eingesetzt werden. Ist Ihnen
noch eine Zusatzfrage. Diese Zusatzfrage bezieht
denn bekannt, Herr Staatsminister, daß gerade bei
sich aber nicht mehr auf Frage 25 der Kollegin Fer-
den Spannungen zwischen den NATO-Partnern
ner, sondern auf seine eigene Frage 26. Bitte, Herr
Griechenland und Türkei natürlich auch die Anzahl
der Fregatten, die das jeweilige Land hat, eine sehr Hiksch.
große Rolle spielt? Wie sehen Sie in dem Zusammen-
hang die Befürchtungen von Griechenland hinsicht- Uwe Hiksch (SPD): Können Sie mir, sehr geehrter
lich dieser Aktion? Herr Staatsminister, wenn Sie davon sprechen, daß
es Instabilitäten in der Region gibt, bestätigen, daß
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen diese Instabilitäten vor allem von der aggressiven
Amt: Das ist selbstverständlich ein Gesichtspunkt, Politik der Türkei ausgehen, d. h. die Türkei maßgeb-
der immer zu berücksichtigen ist. Es gibt noch wei- lich daran schuld ist, daß Instabilitäten in dieser Re-
tere Fragen, die genau hierauf abzielen und die ich gion entstanden sind?
auch entsprechend beantworten werde.
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Es ist klar, daß eine Gleichgewichtsüberlegung,
Amt: Nein.
was militärische Potentiale angeht, im Hinblick auf
zwei Partner, die beide dem Nordatlantikvertrag an-
gehören, etwas merkwürdig wäre. Dennoch ist es für Uwe Hiksch (SPD): Eine weitere Zusatzfrage zu
uns wichtig, in dem Vertrag, in dem die Mitfinanzie- meiner Frage: Können Sie mir begründen, warum die
rung durch die Bundesrepublik Deutschland gere- Lieferung von Kriegswaffen dazu beitragen soll, In-
gelt wird, sicherzustellen, daß der Einsatz dieser Fre- stabilitäten in einer Region zu befrieden und abzu-
gatten nur im Rahmen der Vorschriften des Nord- stellen?
atlantikvertrages in Frage kommt.
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Der Kollege Amt: Die Türkei ist ein wichtiger Partner, der ein
Hiksch hat eine Zusatzfrage. Recht auf Schutz seiner eigenen Landesgrenzen und
1454 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz- Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Herr Staatsmi-
frage der Abgeordneten Zapf. nister, Sie haben vorhin die sicherheitspolitischen Be-
dürfnisse angesprochen. Ist Ihnen vielleicht in Erin-
Uta Zapf (SPD): Herr Staatsminister, ist die Finan- nerung, daß verschiedentlich Vertreter des Auswärti-
zierung der Fregatten mit dem Beschluß und der Zu- gen Amtes, darunter auch mehrere Staatsminister, im
sage der Bundesregierung vereinbar, keine Militär- Auswärtigen Ausschuß erwähnt haben, daß nach
hilfe und keine Rüstungshilfe mehr an die Türkei zu 1989 in dieser Region eine sicherheitspolitische Ver-
gewähren, und haben Sie noch in Erinnerung, in änderung in der Weise eingetreten ist, daß Rüstungs-
welchem Zusammenhang damals die Diskussion ge- lieferungen verschiedener Art an die Türkei und
führt und diese Zusage der Bundesregierung gege- auch an Griechenland nicht mehr zu rechtfertigen
ben worden ist, und haben Sie vielleicht auch noch sind, und daß deshalb, wenn diese Analyse zutrifft,
in Erinnerung, daß damals die Zusage des ordnungs- von Ihrer hehren sicherheitspolitischen Begründung
gemäßen Einsatzes von Waffen nicht in dem Sinne wenig, nämlich nur noch die nackten bloßen Wirt-
eingehalten worden ist, wie Sie uns das jetzt versi- schaftsinteressen der Rüstungsindustrie übrigblei-
chert haben? ben?
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Das ist ein ganz besonders wichtiger Punkt, mit Amt: Die Bewertung der maritimen Situation in der
dem wir uns - auch in diesem Hause - strittig ausein- Türkei und der Umgebung der Türkei erfährt sicher-
andergesetzt haben. Allerdings ist bei der Verwen- lich hin und wieder eine Aktualisierung. Wenn die
dung von Fregatten die Möglichkeit nicht so ohne Türkei zu dem Ergebnis käme, im Rahmen ihrer
weiteres gegeben, daß wir hier in einen internen NATO-Verpflichtung über eine Ergänzung ihrer
Streit geraten. Flotte nachzudenken, ist dies ein Punkt, über den wir
sicherlich gemeinsam und partnerschaftlich mit der
(Uta Zapf [SPD]: Sie haben meine Frage Türkei diskutieren würden.
nicht ganz beantwortet!)
- Der Zusammenhang mit der Rüstungshilfe, die be- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
endet worden ist, ist nicht gegeben. Es gehört nicht frage des Abgeordneten Kuhlwein.
in dieses Programm hinein. Wir geben diese Waffen
nicht ab, wie wir seinerzeit die Rüstungshilfe bedient Ecka rt Kuhlwein (SPD): Herr Staatsminister, trifft
haben, sondern hier handelt es sich um einen Auf- es zu, daß das Auswärtige Amt nicht besonders
trag der türkischen Regierung an ein deutsches glücklich darüber war, daß diese Rüstungshilfe an
Werftenkonsortium, das mit einer Finanzierungshilfe die Türkei über die Bezuschussung von Fregatten im
der Bundesrepublik unterstützt wird. Haushalt des Auswärtigen Amtes etatisiert war und
daß nach Wegen gesucht wurde und noch wird,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz- diese Rüstungshilfe in einem anderen Etat unterzu-
frage des Abgeordneten Lippelt. bringen, und warum ist dies so?
Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Herr Staatsminister, können Sie meinem Verständnis Amt: Herr Kollege Kuhlwein, Sie erfreuen natürlich
aufhelfen? Sie haben soeben gesagt, daß es ja unser das Herz des zuständigen Staatsministers, wenn Sie
politisches Ziel sei, die Demokratisierung der Türkei als der zuständige Berichterstatter darauf hinweisen,
zu fördern. Jetzt frage ich einmal ganz unabhängig daß die Etatisierung dieses Postens - ob im Einzel-
von der Frage, in welchem Programm nun die Kredit- plan des Auswärtigen Amtes, des Wirtschaftsmini-
hilfe hier steht: Wie soll ich verstehen, daß durch die sters oder im Einzelplan 60 - bisher noch nicht fest-
Lieferung von Rüstungsgütern in ein Land, das sich steht, so daß Sie darüber im Rahmen der Haushalts-
in einem Bürgerkrieg befindet, die Demokratie ge- beratungen noch zu entscheiden haben.
fördert wird?
Eckart Kuhlwein (SPD): Warum wollen Sie es wo-
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen anders etatisieren?
Amt: Die Demokratie wird nicht durch die Lieferung
von Rüstungsgütern gefördert, sondern dadurch, daß Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
wir diesem Land klarmachen, daß wir daran interes- Amt: Dies ist nicht nur eine außenpolitische, sondern
siert sind, dieses Land in der Gemeinschaft freier de- eine gesamtpolitische Angelegenheit. Solche Pro-
mokratischer Völker zu haben. Dies setzt voraus, daß jekte gehören dann, wenn sie finanzielle Fragen be-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1455
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Gernot Erler (SPD): Herr Staatsminister, ausge-
Amt: Die Anregung ist angekommen. hend von einer Gemeinsamkeit in der Einschätzung,
daß es die Aufgabe des Auswärtigen Amtes ist, nicht
(Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/CSU nur die Interessen eines so wichtigen Partners wie
- Uta Zapf [SPD]: Ist das alles, was Sie dazu der Türkei, sondern auch das internationale Anse-
zu sagen haben?) hen der Bundesrepublik Deutschland im Auge zu
- Sehr verehrte Frau Kollegin Zapf, das ist in der Tat haben, stelle ich Ihnen folgende Frage:
alles, was ich dazu sagen kann, weil ich die Antwort Wir haben gemeinsam die Erfahrungen gemacht,
des Kollegen Kolb gerade durch die Kollegin Skarpe- daß die Waffenlieferungen an die Türkei dazu ge-
lis-Sperk zum ersten Mal gehört habe. Ich werde die führt haben, daß teilweise in Eilreisen Vertreter von
Abstimmung innerhalb der Bundesregierung sicher- deutschen Ministerien nach Ankara fahren mußten,
lich noch vornehmen. um sich schriftlich und mündlich Zusagen über die
(Uta Zapf [SPD]: Darüber wird noch zu dis Weiterverwendung und den korrekten vertragsge-
kutieren sein!) mäßen Einsatz dieser Waffen einzuholen. Diese Er-
- fahrungen haben dazu geführt, daß Bürgerrechtsor-
ganisationen mit weltweiter Aufmerksamkeit Bild-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das waren drei material und Beweise für Verstöße gegen diese Zusa-
Fragen, verpackt in eine, und eine sehr kurze Ant- gen beigebracht haben, die dann das Auswärtige
wort. Sie können leider keine zweite Frage stellen, Amt als nicht beweiskräftig bezeichnen mußte. Wie
Frau Kollegin Skarpelis-Sperk. Vielleicht finden Sie verträgt sich das alles mit dem Ziel, dabei auch das
jemand anderen, der die Frage für Sie stellt. Ansehen der Bundesrepublik Deutschland und nicht
Eine Zusatzfrage der Kollegin Amke Dietert nur die Interessen des Bündnispartners im Auge zu
Scheuer. haben?
Amke Dietert-Scheuer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
NEN): Bezüglich der Förderung von Demokratie und Amt: Wir können an dieser Stelle nicht die gesamte
Menschenrechten frage ich Sie, ob Sie in Ihre Über- Debatte über die Beweiskraft des damals vorgeleg-
legungen auch die Frage einbezogen haben, ob es ten Materials aufgreifen. Das müßte man in anderer
nicht zur Förderung von Demokratie und Menschen- Form tun.
rechten sinnvoller sein könnte, keine Waffen an die (Zuruf von der SPD: Das haben Sie schon
Türkei zu liefern, um so einen stärkeren Druck für damals nicht gemacht!)
eine Verbesserung der Situation ausüben zu können.
Entscheidend ist, daß im Hinblick auf die Waffen-
systeme, um die es hier geht, nach Auffassung der
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Bundesregierung klare Vereinbarungen getroffen
Amt: Hier stellt sich die grundsätzliche Frage, wie
werden können, die es ausschließen, daß hier Miß-
man zur Waffenhilfe, zur militärischen Zusammenar-
brauch betrieben wird.
beit und zur Zusammenarbeit mit der Türkei als
Bündnispartner steht. Wenn wir insgesamt der Auf-
fassung sind, daß wir dem von uns allen angestreb- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich habe jetzt
ten Ziel der Demokratisierung, Wahrung von Men- folgendes Problem: Formal sind alle Zusatzfragen zur
1456 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Amke Dietert Scheuer: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
-
Herr Staatsminister, habe ich Sie vorhin richtig ver- NEN): Ich habe mit Interesse Ihre Besorgnisse über
standen, daß es sich bei dem Marineaufmarsch in der die Spannungssituation in der Ägäis zwischen Grie-
Ägäis um einen Freundschaftsbesuch handelte, bei chenland und der Türkei zu Kenntnis genommen.
dem von griechischer Seite ein Faß Retsina und von Nur drängt sich mir die Frage auf, ob es nicht viel-
türkischer Seite ein Faß Samos überreicht wurde? leicht ein sinnvollerer Weg wäre, beiden Seiten keine
Waffen zu liefern, um Spannungen nicht weiter zu
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen verschärfen, sondern zu beseitigen.
Amt: Ich habe akustisch nicht verstanden, was Sie
gesagt haben. Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Diese Frage habe ich bereits vorhin beantwor-
Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tet.
Ich habe gefragt, ob ich Sie vorhin richtig verstanden
habe, daß es sich bei dem jüngsten Schiffsaufmarsch
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
in der Ägäis, den wir ja von den Fernsehbildern her
frage des Abgeordneten Erler.
noch sehr deutlich in Erinnerung haben, in Wirklich-
keit um einen vorher vereinbarten Freundschaftsbe-
such im Rahmen der NATO-Allianz handelte, bei Gernot Erler (SPD): Herr Staatsminister, Sie haben
dem die eine Seite ein Fäßchen Samos und die an- vorhin dargelegt, daß Sie über eine Störung des
dere Seite ein Fäßchen Retsina überreichte. Gleichgewichts durch die Lieferung der MEKO-Fre-
gatten an die Türkei nicht besorgt sind. Welche Re-
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen aktion hat die griechische Regierung inzwischen ge-
Amt: Herr Kollege, wir beobachten diese Vorgänge, genüber der deutschen gezeigt? Teilt sie die Unbe-
die recht wenig mit freundschaftlichen Besuchen zu sorgtheit, die Sie hier zum Ausdruck gebracht ha-
tun haben, mit allergrößter Sorge. Die Frage ist ledig- ben?
lich - darauf läuft die ganze Debatte hinaus -: Kom-
men wir im Hinblick auf die Sicherung einer friedli- Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
chen Entwicklung in dieser Region weiter, indem wir Amt: Nein. Griechenland nimmt natürlich eine Maß-
es riskieren, daß wir einen Partner verprellen und ab-
nahme, die zugunsten der Türkei läuft, und zwar völ-
stoßen, oder kommen wir dadurch weiter, daß wir lig unabhängig davon, auf welchem Gebiet, ob auf
uns darum bemühen, ihn möglichst einzubinden? dem Gebiet der militärischen Hilfe oder sonstigen
Diese Frage bleibt so bestehen. Man kann sie unter- Wirtschaftshilfe, stets zum Anlaß, die Aufmerksam-
schiedlich beantworten. Die Bundesregierung hat keit darauf zu richten, ob hier möglicherweise eine
hierzu eine klare Antwort gegeben.
ungleiche Behandlung beider NATO-Partner gege-
ben ist.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
frage des Abgeordneten Kuhlwein. - Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich rufe die
Frage 28 der Abgeordneten Renate Rennebach auf:
Ecka rt Kuhlwein (SPD): Herr Staatsminister, da Sie
davor warnen, einen der beiden betroffenen Partner HatdieBunsrg chvetaliZusrngde
türkischen Seite sichergestellt, daß die MEKO(Mehrzweck-
abzustoßen oder zu verprellen, frage ich Sie: Können Kombination)-Fregatten nicht zur Sicherung der Versorgung der
Sie sich vorstellen, daß sich Griechenland durch die türkischen Besatzungstruppen auf Zypern eingesetzt werden,
von der Bundesrepublik subventionierte Lieferung um zu verhindern, daß UNO-Resolutionen unterlaufen werden?
von Fregatten an die Türkei verprellt fühlen könnte,
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
und würden Sie daraus schlußfolgern, daß dann in
einer späteren Phase auch Griechenland zwei durch
die Bundesrepublik subventionierte Fregatten gelie- Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
fert bekommen müßte? Amt: Frau Kollegin, im Entwurf zum Bundeshaus-
(Zuruf von der F.D.P.: Haben die doch haltsplan 1995 - ich betone, im Entwurf, denn der
schon!) Haushaltsplan ist noch nicht verabschiedet - ist im
Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes eine Ver-
pflichtungsermächtigung für die Jahre 1996, 1997
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen und 1998 über insgesamt 150 Millionen DM als Fi-
Amt: Als leidgeprüfter Vertreter der Bundesrepublik nanzierungshilfe zum Bau von MEKO-Fregatten
Deutschland im Allgemeinen Rat der Europäischen eingestellt.
Union könnte ich Ihnen jetzt einen Vortrag über das
Problem der Ausbalancierung der jeweiligen Hilfen (Vorsitz: Vizepräsident Hans-Ulrich Klose)
an Griechenland und die Türkei halten. Keine der
beiden Seiten kann in irgendeiner Weise das Gefühl Eine vertragliche Vereinbarung zwischen der Bun-
desrepublik und der Türkei wurde hierüber bislang
haben, zu kurz zu kommen.
nicht abgeschlossen. Wie ich bereits in der Antwort
auf die allererste Frage gesagt habe, ist die Regie-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz rung entschlossen, mit der Türkei eine entspre-
frage der Abgeordneten Amke Dietert Scheuer.
- chende Vereinbarung zu schließen.
1458 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Eine Zusatz- Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Jetzt eine Zu-
-
Renate Rennebach (SPD): Herr Staatsminister, Sie Gernot Erler (SPD): Herr Staatsminister, in bezug
haben vorhin von der Freundschaft zur Türkei und auf den von Ihnen noch zu schließenden Vertrag
darüber gesprochen, daß diese Schiffe die Freund- möchte ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, für die Bun-
schaft zur Türkei bekräftigen sollen. Wäre es nicht im desregierung die Zusage an das Hohe Haus zu ge-
Sinne der Freundschaft zwischen der Türkei und ben, daß, bevor eine endgültige Entscheidung fällt,
Deutschland sinnvoller, die Freundschaft dahin ge- dieser Vertrag dem zuständigen Fachausschuß zur
hend zu lenken, daß die Türkei UNO-Resolutionen Beratung vorgelegt wird.
im Zusammenhang mit Zypern nicht unterläuft? Ha-
ben Sie die Absicht, dies noch vertraglich zu verein-
baren? Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Sie wissen, daß sich die Bundesregierung -
speziell auch das Haus, in dem ich tätig bin - um ein
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Optimum an Information des Parlaments und seiner
Amt: Wir sind der Auffassung, daß der Zypern-Pro- Ausschüsse bemüht. In welchem Zeittakt das Parla-
zeß dringend vorangebracht werden muß und daß ment und seine Ausschüsse zu informieren sind oder
alle Hindernisse, die auf dem Weg zu einer friedli- einbezogen werden sollen, müßte man einmal in al-
chen Lösung liegen, gemeinschaftlich aus dem Weg ler Ruhe besprechen.
geräumt werden müssen. Das ist völlig unstrittig, ins-
besondere weil - das hat der Allgemeine Rat der Eu- Ich möchte diese Frage jetzt nicht „nagelfest" be-
ropäischen Union in der vorletzten Woche noch ein- antworten. Natürlich muß die Zustimmung des Parla-
mal festgehalten - wir von einem Gesamtzypern aus- ments eingeholt werden, aber wann und in welchem
gehen, wenn wir die Perspektive der Mitgliedschaft Stadium der Verhandlungen, möchte ich jetzt hier
Zyperns in der Europäischen Union diskutieren. Von nicht festlegen.
daher ist es selbstverständlich, daß wir in der vertrag-
lichen Vereinbarung mit der Türkei darauf achten
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Abgeordne-
werden, daß, wie ich bereits in der Antwort auf die
-
ter Kuhlwein.
Kollegin Ferner gesagt habe, nur ein Einsatz dieser
Fregatten im Sinne des NATO-Vertrages zulässig
sein darf.
Eckart Kuhlwein (SPD): Herr Staatsminister, ist Ih-
nen bekannt, daß es in der Republik Zypern erhebli-
che Sorgen gibt, die Türkei könnte wie 1974 in völ-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Jetzt eine Zu-
-
kerrechtswidriger Weise weitere Teile der Insel be-
satzfrage des Abgeordneten Uwe Hiksch.
setzen, und wie beurteilen Sie in diesem Zusammen-
hang das Sicherheitsbedürfnis der Republik Zypern?
Uwe Hiksch (SPD): Sehr geehrter Herr Staatsmini-
ster, können Sie bestätigen, daß die Türkei trotz in- Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
ternationaler Zusagen mehrmals diese Vereinbarun- Amt: Herr Kollege, Sie haben an der Beantwortung
gen nicht eingehalten und beispielsweise NVA-Pan-
der vorangegangenen Fragen bemerkt, daß ich dem
zer in terroristischer Weise gegen die kurdische Min- Zypern-Problem besondere Aufmerksamkeit widme.
derheit im eigenen Land eingesetzt hat? Von daher muß ich vorsichtig antworten, daß ich die
bei Ihnen anklingende Besorgnis nicht teile, daß ich
da aber sehr sensibel bin. Wenn Sie konkrete An-
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen haltspunkte haben, die das substantiieren, bin ich
Amt: Wir haben uns bereits vorhin darüber unterhal- sehr daran interessiert, sie zu hören; denn die Frage
ten, daß die Frage der Wertung der diesbezüglichen des Fortschritts beim Zypern-Problem ist im Hinblick
Belege Gegenstand langwieriger Debatten im Deut- auf die Aufnahme von Verhandlungen über den Bei-
schen Bundestag gewesen ist und hierüber im Deut- tritt Zyperns zur Europäischen Union von außeror-
schen Bundestag nach wie vor kein Einvernehmen dentlicher Bedeutung.
besteht und die Bewertung der Einsätze, insbeson-
dere auch der aus dem Potential der NVA gelieferten Wie eng diese Frage wiederum mit vielen anderen
Waffen, unterschiedlich ist. Fragen der Vertiefung und Erweiterung der Europä-
ischen Union zusammenhängt, ist allen bekannt. Da-
her bitte ich Sie um Verständnis dafür, daß ich hier
Uwe Hiksch (SPD): Herr Staatsminister, ich habe sehr vorsichtig antworte.
gefragt, ob Sie das bestätigen können.
Bitte.
Gernot Erler (SPD): Danke schön.
Dr. Sigrid Skarpelis Sperk (SPD): Herr Staatsmi-
-
nister, würden Sie unter diesen Umständen bestäti- Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Jetzt rufe ich die
-
gen - Sie haben ja selbst zumindest eine Rhetorik Frage 32 des Abgeordneten Eckart Kuhlwein auf:
zwischen den zwei Nationen eingeräumt; ich meine,
„Rhetorik" ist da verniedlichend -, daß eine einsei- Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß der politischen
und sozialen Stabilisierung der Türkei mit Finanzhilfen für den
tige Rüstungshilfe die Spannungen in dieser Region, Ausbau der Infrastruktur mehr gedient wäre als mit der Förde-
veranlaßt durch die Bundesrepublik Deutschland, rung von Rüstungsvorhaben?
eher erhöht als vermindert?
Herr Staatsminister.
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Nein. Auch kann von einer Einseitigkeit unserer Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Zusammenarbeit überhaupt keine Rede sein. Wir be- Amt: Herr Kollege Kuhlwein, die Bundesregierung
mühen uns um ein ausgesprochen ausbalanciertes Ver- unterstützt den Ausbau der Infrastruktur der Türkei
hältnis in der Zusammenarbeit mit beiden Ländern. Ich mit einer Vielzahl von Projekten, die zur politischen
halte das im Hinblick auf unsere jeweiligen bilateralen und sozialen Stabilisierung beitragen. Die Rüstungs-
Interessen, im Hinblick auf die Stabilität der Region und hilfeprogramme der Bundesregierung für die Türkei
die Sicherheit der beiden Länder und auch im Hinblick sind bis auf Restlieferungen der Materialhilfe abge-
auf das Verhältnis dieser beiden Länder zur NATO und schlossen. Im übrigen, denke ich, beantwortet das,
zur Europäischen Union für außerordentlich wichtig. was ich zu den vorangegangenen Fragen gesagt
habe, Ihre Frage mit.
Man darf nicht exakt in jeder Schublade immer
gleich die Balance suchen, sondern muß die Balance
in der Zusammenarbeit über das gesamte Spektrum Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Erste Zusatz-
-
Ecka rt Kuhlwein (SPD): Herr Staatsminister, mei- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für
nen nicht auch Sie, daß mit dem Ende des kalten diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe
Krieges Rüstungshilfe in den Bereichen, die an der keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlos-
Südostflanke der NATO der Sicherheit dienen soll- sen.
ten, ein Ende haben sollte, wie das auch die Bundes-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
regierung beschlossen hat, und daß statt dessen
gin Andrea Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN).
zivile Hilfen geleistet werden müßten? Und wäre es
in dem Zusammenhang nicht sinnvoller, die
150 Millionen DM dafür aufzuwenden? Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Ich bin jetzt hier in einem so trauten Kreise, daß ich
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen meine Rede fast zu Protokoll geben könnte.
Amt: Herr Kollege, das ist immer die Abwägungs-
frage, insbesondere dann, wenn man sich nicht deut- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Wir waren schon
lich klarmacht, daß die Zusammenarbeit der Bundes- sehr viel weniger! - Zuruf von der SPD: Wir
republik Deutschland mit den betroffenen Ländern, sind doch noch einige, Frau Kollegin!)
in dem Fall mit der Türkei, natürlich ein ganzes
- Dann wollen wir es doch noch mit der Diskussion
Spektrum von Politikfeldern abdeckt, z. B. das
versuchen.
Thema Infrastruktur, z. B. das Thema Bildungszu-
sammenarbeit und vieles andere. Selbstverständlich Die Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen ist
wünschen wir uns, daß wir alle in einer Situation wä- ein herausragendes Ziel der neuen Versicherung. So
ren, auch im Nahen und Mittleren Osten und auch steht es sogar in der Einleitung des zweiten Paragra-
im Mittelmeerraum, in der militärische Vorsorge phen des Gesetzes. Bloß wird dieses hehre Ziel im
nicht mehr erforderlich wäre. Es geht um die Frage, einzelnen oft genug nicht verfolgt. Nach unserer Auf-
ob es legitim ist, auch im Hinblick auf die militäri- fassung zeigt sich bei einer ganzen Reihe von Be-
sche Sicherheit Zusammenarbeit zu organisieren, stimmungen dieses Gesetzes, daß es von einem ver-
und da sagt die Bundesregierung ja. engten Begriff von Pflegebedürftigkeit geprägt ist.
Wir Bündnisgrünen legen deswegen heute einen
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Zweite Zusatz-
- Gesetzentwurf vor, mit dem in einigen sehr wesentli-
frage. chen Punkten das Selbstbestimmungsrecht von Be-
hinderten gewahrt und gefördert werden soll.
Ecka rt Kuhlwein (SPD): Ich will die Frage präzisie- Da ist zunächst der in unseren Augen ganz offen-
ren. Glaubt die Bundesregierung, Herr Staatsmini- sichtliche Skandal, daß Leistungen der Pflegeversi-
ster, daß die inneren Spannungen in der Türkei mit cherung bei Auslandsaufenthalten nicht gewährt
einem Mangel an Waffen bei der türkischen Armee werden dürfen, auch nicht bei nur vorübergehendem
zusammenhängen oder nicht vielmehr u. a. und ins- Aufenthalt. Im Klartext heißt das, daß Behinderten
besondere mit sozialen und ethnischen Problemen? Reisen über die deutsche Grenze nicht möglich sind.
Ich finde, daß das von einer ziemlich großen Igno-
ranz gegenüber den Lebensumständen von behin-
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen derten Pflegebedürftigen zeugt; denn das verlangt
Amt: Ich glaube, da sind wir uns einig. von ihnen, daß sie ihre Pflegekräfte in der Zeit eines
Auslandsaufenthaltes selber bezahlen. Ich kann
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Meine Damen
-
nicht erkennen, daß das den Behinderten, die anson-
und Herren, an dieser Stelle muß ich die Fragestunde sten dafür der Leistungen bedürfen, einfach möglich
beenden. Es tut mir sehr leid; aber wir haben die Zeit ist.
erreicht. Da gibt es keine Verlängerung. Ich danke Nach meiner Kenntnis haben die Krankenkassen
Ihnen. inzwischen erkannt, daß diese Regelung außerdem
(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Wir ha- noch einen ausgesprochen hohen Kontrollaufwand
ben uns angeschlagen über die Runden ge- erfordern würde, der dann wiederum neue Kosten
rettet! - Gegenruf des Staatsministers verursachen würde. Deswegen haben sie kluger-
Dr. Werner Hoyer: Das hätte ich gemerkt!) weise eine großzügige Auslegung dieser Bestim-
mung vorgeschlagen. Sie berufen sich dabei auf den
§ 18 Abs. 3 SGB V und wählen eine in meinen Augen
Wir fahren in der Tagesordnung fort. Ich rufe den recht kühne Konstruktion, um das zu rechtfertigen.
Tagesordnungspunkt 6 auf: Ich frage Sie jetzt, warum sich die Kassen und die
Erste Beratung des von der Fraktion BÜND- Pflegebedürftigen bei diesem Vorgang im rechts-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs freien Raum bewegen sollen? Ich glaube, daß wir
eines Gesetzes zur Ergänzung des Pflege-Ver- Rechtssicherheit schaffen könnten, indem wir diese
sicherungsgesetzes (PflegeVErgG) Regelung einfach streichen.
- Drucksache 13/99 — Mit den beiden anderen Änderungsvorschlägen,
Überweisungsvorschlag:
die dieser Gesetzentwurf enthält, wollen wir Bestim-
mungen des Pflege-Versicherungsgesetzes korrigie-
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend)
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ren, die in unseren Augen ebenfalls die Ansprüche
Ausschuß für Gesundheit von Behinderten an eine eigenverantwortliche Ge-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1461
Andrea Fischer (Berlin)
staltung ihres Lebens nicht ausreichend berücksich- Von noch größerer Bedeutung ist häufig die sozial-
tigen. Dabei rede ich zunächst davon, daß Behin- pädagogische Kompetenz. Verlangt man von diesen
derte auch als Arbeitgeber auftreten, ein Umstand, Diensten, um jeden Preis eine Pflegefachkraft einzu-
der im bestehenden Gesetz nicht vorgesehen ist. Da- stellen, so wird dieser Preis sehr hoch sein, denn er
bei gibt es nach unseren Informationen ausgespro- paßt nicht zur Form der dort geleisteten Arbeit, und
chen viele - nicht alle, aber eine beträchtliche Zahl - er wird die Kosten für diese Dienste unnötig in die
Behinderte, die Arbeitgeber ihrer eigenen Pflege- Höhe treiben.
kräfte sind. Nach Angaben des Verbandes der behin-
derten Arbeitgeber sind es ungefähr 1 Million Pflege- Mißverstehen Sie uns nicht. Wir messen der Be-
stunden, die im Jahr in Form dieser, sagen wir ein- rufsqualifikation der professionellen Pflegekräfte
mal: kleinen Pflegebetriebe geleistet werden. Bis- eine große Bedeutung bei. Wir werden sicherlich
lang haben die Sozialämter die Kosten für diese Art noch reichlich über ein Ausbildungskonzept für die
von Pflege von Behinderten übernommen und damit Pflegeberufe zu diskutieren haben. Aber bei unse-
dieses Arbeitgebermodell finanziert. rem Vorschlag geht es um einen wohldefinierten Be-
reich der Selbsthilfe, den wir durch zu hohe Stan-
Alle diese Möglichkeiten einer selbstbestimmten dards nicht austrocknen dürfen.
Beschäftigung von Pflegekräften gibt es also längst.
Sie finden statt, und sie haben bislang Finanzierung Sie wissen, daß wir Bündnisgrünen ganz grundle-
durch die bestehenden Träger gefunden. Ich meine, gend andere Vorstellungen von einer bedarfsgerech-
daß wir im Pflege-Versicherungsgesetz die Möglich- ten Absicherung des Pflegerisikos haben, als sie sich
keiten einer selbstorganisierten Betreuung durch bei dem mühsamen Geschäft, überhaupt eine solida-
ausgewählte Personen des Vertrauens eben nicht rische Pflegeabsicherung zu erreichen, schließlich
durch zu anspruchsvolle Bestimmungen einschrän- durchgesetzt haben. In diesem Prozeß blieben viele
ken, sondern dieses Engagement im Gegenteil unter- Debatten über die Qualität der Pflege auf der
stützen sollten. Strecke. Aber es ist ja nicht zu spät.
Viele Behinderte haben in den letzten Jahren Kon- Nehmen Sie unsere Vorschläge als ein Angebot,
sequenzen daraus gezogen, daß sich Art und Um- offenkundige Versäumnisse zu berichtigen! Dann
fang der Betreuung häufig mehr an den Organisati- können wir einen Beitrag zu einer wirklich moder-
onsplänen der ambulanten Pflegedienste und am nen Sozialpolitik leisten, die von mündigen Bürgerin-
Selbstverständnis der Pflegekräfte orientieren als an nen und Bürgern ausgeht. Die Menschen können
den Bedürfnissen der Betroffenen selbst. Sie wollen und wollen ihre Geschicke in die eigenen Hände
es nicht länger hinnehmen, daß ihnen eine Anpas- nehmen. Die Aufgabe der Politikerinnen und Politi-
sung an die Versorgungsstrukturen abverlangt ker ist es, sie daran nicht zu hindern, sondern sie im
wurde, sondern sie fordern, wie ich finde, zu Recht, Gegenteil dabei zu unterstützen, wo immer es geht.
daß sich umgekehrt die Strukturen ihren Bedürfnis-
sen anzupassen hätten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und bei der PDS sowie der Abg. Renate
Rennebach [SPD])
Um die Verfügung über den eigenen- Alltag wie-
derzuerlangen, haben Behinderte ihre Pflegekräfte
vielfach selbst angestellt oder sich zusammengetan, Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat
-
um eigene selbstorganisierte Pflegebetriebe aufzu- jetzt der Kollege Julius Louven (CDU/CSU-Fraktion).
bauen. In ihrer Arbeitgeberrolle haben sie dabei ein
Maß an Selbstbestimmung gewonnen, das diese Ge-
sellschaft für ihre behinderten Mitglieder ausgespro- Julius Louven (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
chen selten vorsieht. Sie wurden von Objekten der sehr verehrten Damen und Herren! Seit dem 1. Ja-
Fürsorglichkeit zu Subjekten eigenen Handelns. nuar ist das im vorigen Jahr beschlossene Pflege
Versicherungsgesetz in Kraft, zunächst mit der Bei-
(Julius Louven [CDU/CSU]: Na, na, Frau
tragspflicht, ab 1. April mit der Leistungsgewährung.
Kollegin!)
Das Pflege-Versicherungsgesetz stellt in seiner bis- Noch vor Inkrafttreten des Pflege-Versicherungs-
herigen Form diese Eigeninitiative nicht sicher. Es gesetzes legten Sie, meine Damen und Herren vom
sieht einen Arbeitgeberstatus für Behinderte nicht BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ihren Gesetzentwurf
vor, sondern verweist sie auf die Inanspruchnahme zur Ergänzung der Pflegeversicherung vor und argu-
der Dienste, die durch die Wohlfahrtsverbände be- mentieren, daß einige besonders mißlungene Vor-
reitgestellt werden. Pflegebedürftige aber müssen schriften korrigiert werden müßten.
die Möglichkeit erhalten, selber als Arbeitgeber Ver-
träge mit den Pflegekassen abzuschließen; sonst Nun schließe ich nicht aus, daß wir, wenn die er-
bricht diese Form der Pflegeorganisation zusammen. sten Erfahrungen mit der Pflegeversicherung vorlie-
gen, einmal Änderungen des Gesetzes beschließen
Dazu gehört auch, daß die Kriterien für die Leitung müssen. Bei einer so schwierigen Gesetzesmaterie
von selbstorganisierten Pflegebetrieben nicht über- wäre dies überhaupt nichts Ungewöhnliches.
mäßig hoch angesetzt werden. Gerade dann, wenn
Behinderte ihre Pflegekräfte anleiten, sind sie Spe- Keinesfalls kann ich jedoch akzeptieren, daß jetzt
zialisten in eigener Sache. In diesen Eigenbetrieben „besonders mißlungene Vorschriften" korrigiert wer-
geht es nicht nur um fachpflegerische Kompetenz. den müßten. Nein, meine Damen und Herren, miß-
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Julius Louven
lungen ist allenfalls Ihr Versuch, die Pflegeversiche- An Stelle der Sachleistung kann ein Pflegegeld ge-
rung schlechtzureden. währt werden. Es wird zweckgebunden mit der Ab-
sicht gewährt, dem Pflegebedürftigen die Finanzie-
(Gerd Andres [SPD]: Na, na, Julius! - Kon rung einer selbstbeschafften Pflegekraft zu ermögli-
rad Gilges [SPD]: Nicht nur die Regierung chen. Dieses Pflegegeld dient also letztlich ebenfalls
ist mißlungen, auch das Gesetz!) der Erbringung von Sachleistungen. Die Geldleistun-
gen haben in diesem System lediglich eine Surrogat-
- Sie haben dem Gesetz doch zugestimmt, Herr Gil-
funktion. Ob Pflegebedürftige das Pflegegeld für die
ges.
Beschaffung von Sachleistungen verwenden, kann
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Trotzdem, das ist ja im Ausland ebenfalls nicht überprüft werden.
eine Tatsache! - Konrad Gilges [SPD]: Wir
sind ja Christenmenschen, wir begehen Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
schon einmal Sünden!) schon Verständnis dafür, daß die sogenannten
Grenzgänger und daß Rentner, die ihren Wohnsitz
Wir haben uns im Pflege-Versicherungsgesetz be- ins Ausland verlagern, Leistungen der Pflegeversi-
wußt gegen einen dauerhaften Leistungsexport ins cherung auch im Ausland dauerhaft in Anspruch
Ausland entschieden. Dabei liegt die Betonung auf nehmen möchten. Ich denke jedoch, daß ich Ihnen
„dauerhaft". Falsch ist daher, Frau Kollegin, Ihre Be- dargelegt habe, warum dies nicht geht. Wer mehr
hauptung, künftig könnten Pflegebedürftige keine Leistungen haben will, Frau Kollegin, muß dann
Auslandsreisen unternehmen, weil sie andernfalls auch sagen, wie wir diese Leistungen finanzieren.
ihre Leistungsansprüche aus der Pflegeversicherung
verlieren würden. Richtig ist, daß auch dann Leistun- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
gen der Pflegeversicherung in Anspruch genommen Gerd Andres [SPD]: Aber die Grenzgänger
werden können, wenn der Pflegebedürftige alleine zahlen doch Beiträge!)
oder mit Betreuungsperson eine Auslandsreise von
üblicher Dauer unternimmt. Die Pflegekassen wer- Ihrer weiteren Forderung, Pflegesachleistungen in
den in der Praxis in diesem Sinne verfahren. Von da- geeigneten Fällen auch durch eigene Pflegebetriebe
her sollten Sie hier nicht von „Skandal" reden. der Pflegebedürftigen erbringen zu können, kann ich
ebenfalls nicht zustimmen. Diese Forderung orien-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tiert sich am sogenannten Arbeitgebermodell der
Leistungsgewährung. Sie haben dies dargestellt.
Wir wollten und wollen jedoch keinen dauerhaften
Dies wird von der Sozialhilfe in Sonderfällen für
Leistungsexport. Für diese im Gesetzgebungsverfah-
schwerstbehinderte Rollstuhlfahrer akzeptiert. Hier-
ren getroffene politische Grundentscheidung gibt es
bei treten die Pflegebedürftigen als Arbeitgeber auf.
gute Gründe. Wir haben uns bemüht, das finanzielle
Risiko in der Pflegeversicherung so gering wie mög- Ich sehe jedoch keine Notwendigkeit, dieses Modell
in die Pflegeversicherung zu übernehmen; denn die
lich zu halten. Deshalb galt es, Mitnahmeeffekte und
Mißbrauch nicht zuzulassen, um die Finanzierung Kosten hierfür sind erheblich. Sie haben im Einzelfall
bis zu 20 000 DM betragen.
der Pflegeversicherung nicht zu gefährden.
- Wir ha-
ben darüber hinaus immer wieder zum Ausdruck ge-
Schließlich, meine Damen und Herren von der
bracht, daß die Pflegeversicherung keine Rundum-
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, for-
versicherung ist, sondern eine Grundversorgung mit
dern Sie, die Notwendigkeit der ständigen Verant-
Eigenverantwortung sein soll. Eine einnahmeorien-
wortung einer ausgebildeten Pflegefachkraft für am-
tierte Ausgabenpolitik ist daher im Gesetz festge-
bulante Pflegeeinrichtungen zu ergänzen durch die
schrieben.
Möglichkeit der Verwendung anderer geeigneter
Das bedeutet natürlich nicht, wie teilweise auch Fachkräfte. Auch diese Forderung ist sachlich nicht
behauptet wird, daß Preissteigerungen im Pflegebe- geboten und führt zu finanziellen Mehrbelastungen.
reich notwendigerweise rückläufige Leistungen zur
Folge hätten. Da die Einnahmen der Pflegeversiche- Wir haben uns bewußt für eine Pflegeversicherung
rung auch bei einem konstanten Beitragssatz auf entschieden, die die Sicherstellung der Grundpflege
Grund von Lohnerhöhungen und der Erhöhung der und der hauswirtschaftlichen Versorgung verfolgt.
Beitragsbemessungsgrenze zunehmen, können Wir haben uns gegen eine Pflegeversicherung ent-
Mehreinnahmen auch Leistungserhöhungen möglich schieden, die allumfassende Hilfestellungen bietet,
machen. Wichtig war, einer Kosten und Beitragsex-
-
plosion vorzubeugen. Dies war auch der Grund da- (Beifall der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.])
für, keinen dauerhaften Leistungsexport ins Ausland
zuzulassen. z. B. auch die soziale und berufliche Eingliederung
Behinderter umfaßt. Dies soll nicht Aufgabe der Pfle-
Eine Ausgabenkontrolle im Ausland ist so gut wie geversicherung sein. Bei der Eingliederungshilfe
unmöglich. Grundsätzlich erbringt die Pflegeversi- steht nicht die Grundpflege und hauswirtschaftliche
cherung Sachleistungen. Zur Sicherstellung der Qua- Versorgung, sondern die berufliche und soziale Ein-
lität der Sachleistungen müssen die Pflegeeinrich- gliederung von Behinderten im Vordergrund. Hierfür
tungen mit den Pflegekassen einen Versorgungsver- wendet die Sozialhilfe derzeit etwa 12 Milliarden DM
trag abschließen, was mit ausländischen Leistungs- auf. Selbst eine Verlagerung nur von Teilbeträgen in
anbietern in aller Welt ja wohl unmöglich ist, Frau die Pflegeversicherung würde den finanziellen Rah-
Kollegin. men sprengen. Mit der Pflegeversicherung entlasten
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Julius Louven
wir die Sozialhilfe bereits jetzt mit einem zweistelli- Mit der Veränderung der Beihilferichtlinien wur-
gen Milliardenbetrag. Wer die Sozialhilfe noch stär- den bessere Regelungen für Beamte getroffen, als sie
ker entlasten will, sollte sagen, wie dies finanziert für Sozialversicherte gelten.
werden soll.
(Konrad Gilges [SPD]: Ja!)
Ich sehe, meine Damen und Herren, derzeit keinen
Dies alles sind Belege dafür, wie man Vertrauen ver-
Anlaß, Korrekturen zu beschließen. Eine noch stär-
spielen oder mißbrauchen kann.
kere Belastung von Arbeitgebern und Arbeitneh-
mern kann mit uns nicht in Frage kommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es bleibt abzuwarten, wie sich die Diskussion um
die Pflegeversicherung nach Inkrafttreten der ersten
Im Gegenteil: Ich habe bereits bei der Einbringung
Leistungsstufe bei den Betroffenen auswirkt. Alle
des Haushaltsentwurfs für das Jahr 1995 an dieser
Verantwortlichen müssen mithelfen, daß die prakti-
Stelle ausgeführt, daß wir unsere ganze Kraft darauf
sche Umsetzung der Pflegeversicherung nicht zu
verwenden wollen, in den kommenden Jahren die
weiteren politischen Enttäuschungen bei der Bevöl-
Belastungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern
kerung führt.
zugunsten der Sicherung und Schaffung von Arbeits-
plätzen zu verringern. Ich erinnere daran, daß es nur mit einem politi-
schen Kraftakt möglich war, die Pflegeversicherung
Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Her-
überhaupt zu verabschieden.
ren vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bleibt mir nur,
abschließend für meine Fraktion zu erklären, daß wir (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das ist wahr!)
Ihren Wünschen nicht entsprechen können. Ihren
Gesetzentwurf lehnen wir ab. Alle Beteiligten wissen, daß sie nicht mit dem An-
spruch realisiert wurde, umfassend alle politischen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gesellschaftlichen, finanziellen und menschlichen
Probleme lösen zu können,
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat der
-
(Julius Louven [CDU/CSU]: Jetzt ist es wie
Kollege Gerd Andres, SPD-Fraktion. der richtig!)
die im Zusammenhang mit der Pflege bestehen.
Gerd Andres (SPD): Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Wenige Wochen nach (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Jetzt ist es wieder
Inkrafttreten des Pflege-Versicherungsgesetzes und in Ordnung!)
wenige Wochen vor dem Wirksamwerden der Lei-
stungen im ambulanten Bereich diskutieren wir im Die Absicht, eine Pflegeversicherung als Sozialver-
Deutschen Bundestag erneut das Thema Pflege. Es sicherung zu realisieren, war von zwei Zielen be-
scheint so, als sei nicht nur das Zustandekommen der stimmt: erstens die ambulante Versorgung Pflegebe-
Pflegeversicherung von langwierigen politischen dürftiger zu verbessern und eine deutliche Entla-
Auseinandersetzungen begleitet gewesen; nein, stung Pflegebedürftiger und ihrer Angehörigen zu
-
auch der weitere Lebensweg dieses Gesetzes bleibt erreichen und zweitens zu gewährleisten, daß bei
heftig umstritten. stationärer Versorgung alle Menschen so abgesi-
chert sind, daß sie gegen das Lebensrisiko Pflege in
Wir befinden uns in einer Phase, in der wir mit der seinen pflegebedingten Kostenteilen versichert sind.
Umsetzung des Pflege Versicherungsgesetzes be-
- Damit sollte vor allen Dingen erreicht werden, daß
faßt sind. Schon dabei ist es zu Wortbrüchen gekom- die Sozialhilfe nicht weiter als Regelsicherungssy-
men. Der Bundesarbeitsminister hat mit seinen Richt- stem für das Lebensrisiko Pflege herhalten muß. Daß
linien die Pflegeeinheit entgegen seinen Zusagen in sie bei allen unterschiedlichen politischen Vorstel-
der Verrichtungszeit mit 90 Minuten definiert. lungen in ihrem Be- und Entlastungsteil gesellschaft-
lich mittelfristig kalkulierbar bleiben muß, war den
(Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Absolut
Beteiligten klar.
unwahr!)
Der hier heute in erster Lesung anstehende Ge-
Allerorten hört man, daß weitere Versuche unter-
setzentwurf wird diesen Ansprüchen, die ich eben
nommen werden sollen, die versprochenen Leistun-
bewußt so formuliert habe, meiner Auffassung nach
gen nach unten zu drücken.
nicht gerecht.
(Konrad Gilges [SPD]: Richtig! - Dr. Uwe
In der Zielsetzung formuliert die Fraktion BÜND-
Küster [SPD]: Das ist ja interessant!)
NIS 90/DIE GRÜNEN, daß die besonders mißlunge-
Wortbrüche gibt es auch bei der Kompensationsrege- nen Vorschriften des Sozialgesetzbuches XI - Pflege-
lung, bei der beispielsweise das Land Sachsen entge- versicherung - noch vor Inkrafttreten der ersten Lei-
gen vorheriger Vereinbarung im Kreis der Minister- stungsstufe korrigiert werden müßten, ohne daß man
präsidenten den Arbeitnehmern die alleinige Bei- die festgelegten Grundstrukturen der Pflegeleistun-
tragslast für die Pflegeversicherung aufbürdet. gen kurzfristig ändern könnte. Bei der Aufzählung
dessen, was die besonders mißlungenen Vorschriften
(Konrad Gilges [SPD]: Sehr richtig! - Julius des SGB XI sind, stößt man dann doch auf wenig
Louven [CDU/CSU]: Aber das läßt das Ge Substanz für diese drastische Bewertung.
setz doch zu, Herr Kollege! - Konrad Gilges
[SPD]: Das ist doch eine Sauerei!) (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: So ist es!)
1464 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Gerd Andres
Der Gesetzentwurf verlangt erstens, das Ruhen der einzelnen Sozialhilfeträgern im Rahmen von Arbeit-
Leistung bei Auslandsaufenthalten aufzuheben. Be- gebermodellen erbracht werden, bis in Größenord-
gründet wird diese geforderte Änderung damit, daß nungen von 10 000, 12 000, in der Spitze bis zu
diese Bestimmung des Pflege-Versicherungsgesetzes 20 000 DM gehen.
auch bei vorübergehenden Auslandsaufenthalten,
z. B. Urlaub oder Dienstreisen, Leistungen an Pflege- Das Argument, daß durch eine rechtliche Ände-
bedürftige unterbreche und dieses Gesetz damit zu rung der einzelne Behinderte in die Lage versetzt
einem Ausreiseverbot für Behinderte führe. würde, statt der niedrigeren Pflegegeldleistung die
höhere Sachleistung in Anspruch nehmen zu kön-
Schaut man sich die Gesetzesbegründung der nen, macht vor dem Hintergrund dieser Summen kei-
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN etwas genauer nen Sinn.
an, so stellt man aber fest, daß mit ihrem Formulie-
rungsvorschlag nicht dieser Tatbestand geheilt wird, (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
sondern daß gefordert wird, diese Gesetzesvorschrift Selbst wenn der Härtefall für Sachleistungen von
zu streichen. Sie hat allerdings den Sinn, einen dau- 3 750 DM in Anspruch genommen werden könnte,
erhaften Leistungsbezug im Ausland auszuschließen. ist der einzelne Betroffene nach wie vor auf die er-
Jeder, der die Geschichte des Pflege-Versicherungs- gänzende Aufstockung durch die Sozialhilfe ange-
gesetzes kennt, weiß, daß die Lösung dieser Proble- wiesen. An diesem Beispiel werden auch die Pro-
matik wichtige Vorbedingung für die Pflegeversiche- bleme der Abgrenzung zwischen den Leistungen,
rung überhaupt war. die nach dem Pflege-Versicherungsgesetz erbracht
Im übrigen ruht - nach übereinstimmender Inter- werden, und den Leistungen nach dem Bundesso-
pretation der Krankenkassen und beispielsweise zialhilfegesetz offensichtlich.
auch der Pflegekonferenz - der Leistungsanspruch Zusätzlich muß das Argument angeführt werden,
nicht bei einem vorübergehenden Auslandsaufent- daß in den Beratungen des Pflege-Versicherungsge-
halt. Als vorübergehend gilt in analoger Anwendung setzes ausdrücklich festgehalten wurde, daß es bei
des § 18 Abs. 3 SGB V ein Zeitraum von längstens bisher Betroffenen keine Schlechterstellung durch
sechs Wochen im Kalenderjahr. die Einführung des Pflege-Versicherungsgesetzes
Die zweite Veränderungsabsicht bezieht sich dar- geben dürfe. Aus den Diskussionen, die in den Ge-
auf, Pflegesachleistungen durch einen eigenen Pfle- setzesberatungen und mit Behindertenverbänden so-
gebetrieb des Pflegebedürftigen zu erhalten. In der wie Gruppen von Behinderten geführt wurden, weiß
Begründung zum Gesetzentwurf wird richtig davon ich allerdings, daß dieser Tatbestand im kommenden
ausgegangen, daß wir solche Modelle schon kennen, Beratungsverfahren im Ausschuß für Arbeit und So-
die auch in Fachkreisen unter den Stichworten „Ar- zialordnung noch einmal ausführlich erörtert und ge-
beitgebermodell" oder „Pflegeassistenzmodell" dis- prüft werden sollte.
kutiert werden. Die dritte Änderung, die vorgeschlagen wird, be-
Bei der Inanspruchnahme von Pflegesachleistun- zieht sich darauf, daß die Definition des Begriffs
gen besteht die Voraussetzung, daß die Sachleistung Pflegefachkraft ausgeweitet und ergänzt wird. Pfle-
durch eine zugelassene Pflegeeinrichtung erbracht geeinrichtungen erfüllen die Voraussetzung zur Zu-
wird. § 77 des Pflege-Versicherungsgesetzes sieht lassung nur dann, wenn die Leistungen nach dem
vor, daß die häusliche Pflege auch von Einzelperso- Pflege-Versicherungsgesetz unter ständiger Verant-
nen geleistet werden kann. Zur Gewährung der wortung einer ausgebildeten Pflegekraft erbracht
häuslichen Pflege können die Pflegekassen Verträge werden. Dies ist § 72 in Verbindung mit § 71 Sozial-
mit geeigneten einzelnen Pflegekräften schließen, so gesetzbuch XI.
daß dieser Weg in der Begründung auch zutreffend In der Begründung des Gesetzentwurfs wird be-
angeführt ist. sonders angeführt, daß bereits heute Pflegesachlei-
Für mich ergibt sich in dieser Frage die schwierige stungen nach § 55 Sozialgesetzbuch V erbracht wer-
Abgrenzung zwischen bisher bestehenden Arbeitge- den, hei denen die Voraussetzung der Leitung durch
bermodellen und Assistenzverträgen sowie der gro- eine pflegerische Fachkraft nicht gegeben ist.
ßen Zahl der künftig zu regelnden Fälle bei der Ein- Sowohl die Spitzenverbände der Krankenkassen
führung der Leistung im ambulanten Bereich, wie auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der über-
Bekanntermaßen ist die Sachleistung, die in der örtlichen Träger der Sozialhilfe, die Bundesvereini-
ambulanten Versorgung gewährt wird, in ihrem ma- gung der kommunalen Spitzenverbände und die
teriellen Wert höher als die Geldleistung. Wo ist bei Vereinigung der Träger von Pflegeeinrichtungen auf
einer solchen Regelung der Unterschied zwischen ei- Bundesebene haben Vorschläge entwickelt, die die
ner selbst beschafften Pflegehilfe, die als Familienan- fachlichen Voraussetzungen für verantwortliche
gehöriger, Lebenspartner, Freund oder Bekannter Pflegekräfte definieren. Sie schlagen beispielsweise
die Pflege versieht und für die Pflege Geld erhält, vor, Heilerziehungspflegerinnen oder Heilerzie-
und einem Arbeitgebermodell zu sehen? hungspfleger in die Gruppe der verantwortlichen
Pflegekräfte mit einzubeziehen. Auch die Länder tei-
Die gesamte Systematik der Abgrenzung zwischen len diese Position. Unter Beachtung von notwendi-
Geld- und Sachleistung wird damit problematisch. gen Qualitätsstandards und eines sicherlich starken
Wir alle wissen aus der Diskussion zum Thema Pfle- Bedarfs an Pflegekräften sollte diese Auffassung in
geversicherung, daß die Leistungen, die bisher von der Ausschußberatung sorgsam diskutiert werden.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1465
- Gerd Andres
Zusammenfassend möchte ich für die SPD-Frak- - Ja, und ich führe jetzt der deutschen Öffentlichkeit
tion als Bewertung folgendes festhalten. Alle drei vor, wie inflationär mit Wörtern wie „Wortbruch",
Punkte, die im Gesetzentwurf angesprochen sind, „Vertrauensbruch" - das ist ein weiterer Hammer -
machen möglicherweise eine Gesetzesänderung umgegangen wird. Ist das seriös? Es steht im Gesetz
überhaupt nicht notwendig. Die Frage des Auslands- nichts von 60 Minuten. In den Richtlinienentwürfen
aufenthalts ist meiner Auffassung nach schon ge- der Krankenkassen gab es diese 60 Minuten. Dar-
klärt. Die Frage der Pflegefachkräfte und ihrer Defi- über haben wir diskutiert. Wir haben uns auf einen
nition sollte in Gesprächen mit dem BMA und den Wert von 90 Minuten geeinigt, der im Blick auf die
betroffenen Verbänden weiter erörtert und einer Re- nächsthöhere Pflegestufe nicht aus der Luft gegriffen
gelung zugeführt werden. Den Positionen der Bun- ist.
despflegekonferenz ist möglicherweise nichts hinzu-
zufügen; ich weiß, daß das dort erörtert worden ist. Ich komme immer wieder auf das Wort „Vertrau-
ensbruch" zurück. Verwenden Sie es ein bißchen
Das Problem des Arbeitgebermodells ist gegen- sparsamer!
wärtig so geregelt, daß bestehende Verträge weiter-
geführt werden können. Ausnahmen sind bereits (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Sehr
jetzt durch das Gesetz vorgesehen. Es stellt sich aber wahr!)
die prinzipielle Abgrenzungsproblematik für alle
Pflegebedürftigen, da mit einer solchen Arbeitgeber- Da bin ich empfindlich.
konstruktion die klare Trennung zwischen Sach- und
Wie kamen die 90 Minuten zustande? Die nächst-
Geldleistung im Gesetz insgesamt in Frage gestellt
höhere Pflegestufe, die der Schwerpflegebedürfti-
wird.
gen, ist vom Bundessozialgericht mit einem Zeitbe-
Bevor wir dazu eine abschließende Position bezie- darf von drei Stunden versehen worden. Die Geldlei-
hen, werden wir in den Ausschußberatungen ent- stungen in der Stufe, um die es hier geht, sind halb
sprechende fachliche Prüfungen vornehmen und so hoch. Das ist mehr als ein Grund, sich für diese 90
Diskussionen führen. Minuten zu entscheiden.
Herzlichen Dank. Ich füge hinzu: Wir befinden uns in der Anlauf-
phase der Pflegeversicherung. Ich empfehle uns,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne diese neue Versicherung vorsichtig einzuführen, Er-
ten der F.D.P.) fahrungen zu sammeln.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich bitte um - Es wird doch gar nicht bestritten. Es wird von den
Nachsicht. Hier gibt es jetzt ein paar Probleme mit Pflegekassen gewährt.
der Rednerreihenfolge. Aber Sie haben das Wort zu
einer Zwischenfrage. Wenn Sie jetzt noch eine Diskussion darüber
haben wollen, wo was geregelt werden soll, können
Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir die gern führen. Es verändert aber die faktische
NEN): Ich habe eine Frage. Sie sind jetzt eigentlich Lage überhaupt nicht. Es werden Leistungen im
schon weiter, aber ich bitte noch einmal zu der Frage Urlaub gewährt. Das ist doch die wichtigste Nach-
des Ruhens der Leistungen bei Auslandsaufenthalt richt. Das ist das, was die Pflegebedürftigen interes-
zurückkommen zu dürfen. siert.
Sie sagen, daß im Pflegeversicherungsgesetz bei (Zuruf von der F.D.P.: Ja, es wird alles ver
vorübergehendem Auslandsaufenthalt de facto ana- bürokratisiert!)
log zum Krankenversicherungsgesetz verfahren
wird. Warum besteht dann nach Ihrer Meinung ein
Regelungsbedarf im Rahmen des § 18 des SGB V, der Vielleicht sollte ich meinen Beitrag abkürzen: Bei
diesen Leistungsbezug auch bei vorübergehendem dem Arbeitgebermodell handelt es sich in der Tat um
Auslandsaufenthalt vorsieht, und warum besteht die- ein anderes Modell. Sie würden dann auf ein Kosten-
ser Regelungsbedarf im SGB XI, bei der Pflegeversi- erstattungsprinzip umsteigen. Sie könnten praktisch
cherung, nicht explizit im Rahmen des Gesetzes, son nicht mehr zwischen Sach- und Geldleistungen un-
dern funktioniert über Vereinbarungen der Versiche- terscheiden.
rungsträger?
Den Behinderten kommen diese Leistungen auch
zugute. Sie werden Pflegegeld erhalten. Die mit dem
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und
Arbeitgebermodell angesprochenen Pflegebedürfti-
Sozialordnung: Das ist doch ganz unstrittig. Es ent-
gen haben einen Anspruch auf Pflegegeld. Die Pfle-
spricht dem gesunden Menschenverstand, daß je-
geversicherung kann aber nicht an die Stelle des von
mand, der sich vorübergehend zu einem Urlaub ins
der Eingliederungshilfe finanzierten Arbeitgebermo-
Ausland begibt, anders zu behandeln ist als jemand,
dells treten.
der seine Pflegeleistungen ins Ausland mitnimmt, so
daß Pflegeleistungen an einen Wohnort exportiert
werden. Der Urlaubsort ist doch nicht der Wohnort. Die Pflegeversicherung kann überhaupt nicht alles
Ich bitte Sie, da müssen Sie nicht in die höhere Philo- leisten, was von ihr verlangt wird. Sie kann nicht die
sophie der Sozialpolitik einsteigen. Es ist etwas ande- Sozialhilfe mit ihren Eingliederungshilfen völlig er-
res, ob jemand an einen Urlaubsort reist und dort vier setzen oder die ganze Behindertenpolitik bezahlen.
Wochen mit einem Pflegebedürftigen, den er mit- Sie hat auch nicht die Kraft, die ganze Rehabilitation
nimmt, bleibt oder ob jemand Pflegeleistungen aus zu finanzieren. Die Pflegeversicherung ist ein wichti-
Deutschland irgendwo im fernen Ausland beziehen ger Fortschritt für die Pflegebedürftigen, aber sie hat
will, was überhaupt nicht mehr kontrollierbar
- wäre, nie beansprucht, alle Fragen des Sozialstaates zu
was auch im Sinne des Gesetzes überhaupt nicht lösen.
mehr zu überwachen wäre.
(Beifall des Abg. Julius Louven [CDU/CSU])
(Beifall der Abg. Birgit Homburger [F.D.P.])
Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- denn ich fürchte, die Pflegebedürftigen verstehen
NEN): Ich freue mich, von Ihnen zu hören, daß Sie das ganze Hickhack nicht. Jetzt wird schon über die
das für völlig unstreitig halten. Meine Frage richtete Leistungen der Pflegeversicherungen geurteilt, sie
sich aber darauf: Die Ausnahme des vorübergehen- werden schon schlechtgemacht, bevor sie überhaupt
den Aufenthaltes ist im SGB V ausdrücklich geregelt. beim ersten angekommen sind. Da sehe ich doch den
Warum behaupten Sie, daß man das nicht analog im bösen Willen.
SGB XI regeln müßte?
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der F.D.P. - Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: So
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und
ist es!)
Sozialordnung: Wenn Sie beim Pflegegesetz keine
anderen Sorgen haben als die Frage, was wann wo
und wie geregelt ist, dann kann ich Sie beruhigen. Das Geld ist noch nicht angekommen, da wird
schon gesagt, es sei zu wenig, und es sei falsch orga-
(Zuruf von der SPD: O Gott!) nisiert. Wer guten Willen hat, der muß diesem Gesetz
1468 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Eingliederungsmaßnahmen sind ohne integrierte
Pflegebestandteile nicht durchführbar, und nur im
Einzelfall ist eine organisatorische und damit finan-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat
-
zielle Trennung von „klassischer" Leistung der Ein-
jetzt die Kollegin Petra Bläss.
gliederungshilfe und von pflegerischer Leistung
möglich.
Petra Bläss (PDS): Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Herr Minister Blüm, Sie haben Probleme Wenn nun aber die Sozialhilfeträger, wie im Positi-
damit, daß wir das Pflege-Versicherungsgesetz im onspapier der überörtlichen Träger der Sozialhilfe
Vorfeld des Leistungsbezugs kritisieren. Es geht uns nachzulesen ist, sich weigern, die Kosten für die Ein-
doch nicht darum, das Gesetz an sich zu verbannen, gliederungshilfe wie bisher zu übernehmen, dann ist
sondern Fehler, die im Verlauf von Gesetzesberatun- das nicht nur der Versuch, die Kosten auf Beitrags-
gen, noch dazu, wenn sie so schnell durchgeführt zahlerinnen und -zahler zu verlagern, sondern auch
werden, auftreten können, noch rechtzeitig zu korri- Ergebnis einer Politik des Abbaus sozialer Rechte
gieren. Bei der Kritik unsererseits geht es in keinem und Leistungen.
Fall darum, die eigentlich Betroffenen zu verunsi-
Zu den durch die Pflegeversicherung offenbar zu
chern.
beseitigenden Strukturen scheint auch die individu-
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne elle Schwerbehindertenbetreuung zu gehören. Hier
ten der SPD) stehnozialpädgcusarbeith
Aufgaben im Vordergrund, wird Assistenz und Hilfe
Das Jahrhundertwerk Pflegeversicherung ist ins geleistet. Betroffene übernehmen die fachliche An-
Gerede gekommen und zeigt Risse. Was sich von An- leitung der Pflegekräfte, organisieren ihre Pflege
fang an andeutete, wird jetzt zunehmend deutlich. selbst. Das stärkt natürlich ihr Selbstbewußtsein und
Die Pflegeversicherung ist weit davon entfernt, eine ihre Unabhängigkeit. Genau das scheint wohl nicht
- Gesetz ist
adäquate Pflegeabsicherung zu sein. Das gewollt zu sein.
ein Stückwerk, und gewachsene Strukturen in der
Pflegeinfrastruktur sind gefährdet. Doch damit nicht genug. Mit der Pflegeversiche-
rung sollen anscheinend behinderte Menschen von
Die eigentlich Betroffenen werden unzureichend
ihrem Arbeitsplatz, so sie überhaupt noch einen ha-
in die Entscheidungen einbezogen. Das betrifft ins-
ben, vertrieben werden. Oder wie soll man sonst das
besondere die mangelnde Berücksichtigung des
Schreiben vom November 1994 vom Bundesministe-
Selbstbestimmungsrechts jüngerer Behinderter.
rium für Arbeit und Sozialordnung interpretieren?
Trotz oder gerade wegen unserer grundsätzlichen Darin heißt es:
Kritik am Pflegeversicherungsmodell unterstützt die
Soweit der Personenkreis voll berufstätig ist, sind
PDS den Versuch der Bündnisgrünen, einige beson-
zumindest Zweifel am Hilfebedarf im Sinne des
ders gravierende Mängel des Gesetzes im Sinne der
Pflegeversicherungsgesetzes angebracht.
Betroffenen auszuräumen. Aus den vielen nicht oder
ungenau geregelten Fragen möchte ich vor allem die Ich denke, das ist sehr beschämend, gerade auch an-
ungenaue Abgrenzung der Leistungen der Einglie- gesichts der mehr als 180 000 arbeitslos gemeldeten
derungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz von Schwerbehinderten.
den Leistungen nach dem Pflege-Versicherungsge-
setz herausgreifen. Manche behaupten kühn, daß (Julius Louven [CDU/CSU]: Das ist doch
der Gesetzgeber schlampig, gewissermaßen unter Quatsch, was Sie da erzählen!)
Zeitdruck gearbeitet habe und dieses Manko über-
sah. Doch augenscheinlich hat das die Regierung be- - Das ist kein Quatsch. Wir haben im Ausschuß ge
absichtigt: Das gesamte historisch gewachsene und stern erst die Zahlen gehört.
erkämpfte Hilfesystem, insbesondere zur Sicherung
Die überall auftretenden Unsicherheiten im Zu-
eines selbständigen und selbstbestimmten Lebens
sammenhang mit der Pflegeversicherung - wir und
behinderter Menschen,
sicher auch Sie erhalten täglich Anrufe und Briefe -
(Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat Ihnen wären bei klareren Aussagen der Bundesregierung
das aufgeschrieben?) vermeidbar. Auch die notwendigen Verordnungen
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1469
Petra Bläss
sind entweder zu spät oder noch gar nicht vorhan- stammt aus dem Dezember des vergangenen Jahres,
den. bevor das Pflegegesetz in Kraft getreten ist und die
Leistungen gezahlt wurden.
(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Die PDS hätte das
alles besser hinbekommen!) (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Hellseherisch!)
Hinzu kommt, daß derzeit niemand konkret weiß, Das Schiff wird also zur Reparatur gebracht, noch
wie die Leistungen dieser Versicherung ab 1. April ehe es vom Stapel läuft.
an alle Hilfebedürftigen erbracht werden sollen. Seit
Januar 1995 sollen von 500 000 Anträgen 125 000 be- Nun könnte das noch Sinn machen, wenn Ihre Än-
arbeitet worden sein. Und täglich werden neue An- derungsanträge sich auf Punkte bezögen, die das
träge gestellt. Gesetz nicht geregelt oder ersichtlich falsch geregelt
hätte. Das ist aber, wie ich gleich erklären werde,
Nach Auffassung von Vertreterinnen des Medizini- nicht der Fall. Ihre Absicht wird daher zutreffender
schen Dienstes der Spitzenverbände der Kranken- weise nicht im Versuch liegen, das Pflegegesetz zu
kassen wird bis zum 1. April nur ein Teil der Begut- ändern, sondern lediglich darin, die Diskussion neu
achtungsaufträge erledigt sein. Es ist also fast sicher, zu entfachen.
daß nicht alle Menschen, die auf Hilfe und Pflege an-
gewiesen sind, die ihnen zustehenden Leistungen Es ist ein Jammer, daß wir im Gesetzgebungsver-
auch zum 1. April erhalten werden. fahren kein Institut wie die Rechtskraft eines Urteils
oder die Erschwernisse wie bei der Wiederaufnahme
(Julius Louven [CDU/CSU]: Die hätten doch eines Verfahrens kennen. Es gibt keinen Schutz vor
die Anträge früher stellen können!) solchen Anträgen und der Ermüdung, die ihre Be-
- So zeitig war das Gesetz nun auch nicht da, Herr handlung verursacht.
Kollege Louven. Sie wollen das Ruhen der Leistungen der Pflege-
(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Na, na!) versicherung bei Auslandsaufenthalten aufheben.
Für das Ruhen bei Auslandsaufenthalten - so kann
Die PDS wird, ausgehend von Hinweisen und Stel- man in Ihrem Entwurf nachlesen - gebe es keinen
lungnahmen sowie Protesten der Behinderten- und sachlichen Grund, und Art. 2 Grundgesetz wird her-
Betroffenenverbände, eigene Novellierungsvor- angezogen.
schläge einbringen. Sie betreffen insbesondere die
Aufnahme der Leistung Kommunikation in den Lei- Sie wissen ganz genau, daß die Reisefreiheit der
stungskatalog der Pflegeversicherung, die Aufwer- Pflegebedürftigen nicht eingeschränkt wird. Eine
tung von Prävention und Rehabilitation in der Pflege Auslandsreise des pflegebedürftigen Menschen al-
sowie die reale Gleichstellung der familiären, häusli- lein oder mit seiner Pflegeperson ist durch die Vor-
chen Pflege mit der Fremd- bzw. professionellen schrift nicht ausgeschlossen, wenn es sich um eine
Hilfe. Auslandsreise von üblicher Dauer, d. h. 6 Wochen
pro Kalenderjahr, oder einen kurzfristigen Auslands-
Nach wie vor halten wir jedoch eine steuerfinan- aufenthalt handelt. Zwar können in diesen Fällen im
zierte Lösung des Dauerbrenners Pflegeabsicherung Ausland keine Pflegesachleistungen erbracht wer-
für die gerechteste und beste Lösung.- Nur bei einer den, die Gewährung von Pflegegeld ist aber auch für
steuerfinanzierten Lösung werden Einkommen und diesen Zeitraum möglich. Es ist sichergestellt, daß
Vermögen aller Bürgerinnen und Bürger angemes- die Pflegekassen auch in diesem Sinne in der Praxis
sen in die Finanzierung einbezogen. Das wäre dann verfahren werden. Eine Änderung des § 34 Abs. 1
im Ansatz wirklich solidarisch. Nr. 1 SGB XI ist daher im Moment nicht angezeigt.
(Beifall bei Abgeordneten der PDS) Für das Ruhen bei Auslandsaufenthalt gibt es gute
Gründe: Auch bei der umlagefinanzierten Pflegever-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Frau Kollegin,
- sicherung muß es bei dem Grundsatz bleiben, daß
Sie müssen zum Schluß kommen. Sachleistungen nicht exportiert werden können. Pfle-
geleistungen im Ausland können nur dann erbracht
Petra Bläss (PDS): Noch einen Satz: Wir werden werden, wenn in dem jeweiligen Land eine gleich-
nicht lockerlassen, schrittweise eine bedarfsdek- wertige Versicherung besteht. Das ist derzeit allen-
kende, die Selbstbestimmung und Eigenverantwor- falls in Holland möglich. Pflegesachleistungen nach
tung der Betroffenen stärkende Regelung einzufor- dem Pflege-Versicherungsgesetz können ohnehin
dern. nur im Inland von entsprechenden Vertragspartnern
der Pflegekassen erbracht werden. Nur hier gibt es
(Beifall bei der PDS - Julius Louven [CDU/ die notwendige Qualitätskontrolle. Ebensowenig ist
CSU]: Donnerwetter! Wir kriegen es mit der die für die Anspruchsbegründung notwendige Kon-
Angst zu tun!) trolle der Pflegebedürftigkeit durch den medizini-
schen Dienst gewährleistet.
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat
-
Meine Damen und Herren, diese Punkte sind in
jetzt die Kollegin Dr. Gisela Babel. Ausschußsitzungen diverse Male sehr eingehend be-
raten und bewußt so entschieden worden. Sie wol-
Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Da- len, daß Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI auch
men und Herren! Der Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/ durch eigene Pflegebetriebe der Pflegebedürftigen
DIE GRÜNEN, über den wir heute diskutieren, erbracht werden können. Das wäre nun wirklich eine
1470 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
einen schmalen Korridor der Kostenübernahme vor- ner Kurzintervention hat der Kollege Gerd Andres.
gesehen. Dabei bleibt es. Das heißt aber nicht, daß
die Betroffenen nicht in der Weise Hilfe bekommen
können, wie die Finanzierung auch derzeit geregelt Gerd Andres (SPD): Meine sehr verehrten Damen
ist. und Herren! Der Bundesarbeitsminister hat mich in
seiner Rede aufgefordert, mit dem Wort Wortbruch
Ich finde, es ist ein gutes Zeichen für unseren So- vorsichtiger umzugehen. Er war dann so geschickt
zialstaat, wenn wir in einer Größenordnung von und schlitzohrig, es gleich der Hessischen Landesre-
20 000 DM Hilfe finanzieren. An dieser Stelle könnte gierung anzuhängen.
man ruhig einmal sagen: Anerkennung für den So-
zialstaat Deutschland. Ich habe von mehreren Wortbrüchen gesprochen
und werde diese begründen und ausdrücklich wie-
Als dritten Punkt, meine Damen und Herren, wol- derholen. Ich halte es für einen Wortbruch, daß die
len Sie, daß wir von der Vorstellung abgehen, daß Landesregierung von Sachsen entgegen den Zusa-
eine solche ambulante Pflegedienstleistung eine aus- gen in der Ministerpräsidentenrunde den Arbeitge-
gebildete Pflegekraft als Leitung bekommt. Ich finde beranteil nicht wie die anderen Länder kompensiert,
es vernünftig und richtig, daß wir bei dein Grundsatz sondern den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
bleiben: Die Leitung einer solchen Pflegedienstein- den vollen Beitrag aufbürdet.
richtung sollte bei einer ausgebildeten Pflegekraft
liegen. Das sollte die Regel sein. Ich halte es auch für (Beifall bei der SPD)
richtig, daß wir dies jetzt so starten. Ich halte es für einen Wortbruch, daß die Bundesre-
Aber ich könnte mir denken, daß wir bei der Frage gierung bei der Anpassung der Beihilferichtlinien
der Leitung unter Umständen Ausnahmen oder an- Zeitsätze aufgeschrieben hat, während sie für die So-
dere Entscheidungen treffen könnten, wenn Erfah- zialversicherungspflichtigen die Sätze an Geldbeträ-
rungen mit Kräften vorliegen, die zwar ebenfalls päd- gen festgemacht hat. Dies halte ich für einen Wort-
agogische Hilfe anbieten, die wir aber nicht finanzie- bruch, wenn vorher gesagt wurde, daß beide gleich-
ren. Wir werden vielleicht über diese Frage noch ein- behandelt werden sollten. Daran ändert sich auch
mal sachliche Diskussionen im Ausschuß führen kön- nichts, Herr Bundesarbeitsminister, wenn Sie sagen,
nen. Da könnte ich mir flexible Entscheidungen zu- dies begründe sich auf Grund des Verhältnisses zu
mindest vorstellen. den alten Beihilferichtlinien. Dies hat damit über-
haupt nichts zu tun. Dies ist ein Wortbruch.
Wichtig ist, festzuhalten, daß es uns bei den Be-
stimmungen darum ging, bezüglich der Sachleistun- Ich halte es für einen Wortbruch, Herr Bundesar-
gen eine qualitätsvolle und von ausgebildeten Kräf- beitsminister, daß Sie die Verrichtungszeiten in Ih-
ten geleistete Pflege zu gewährleisten. Dies wollen rem Richtlinienentwurf auf 90 Minuten festgelegt ha-
wir auch neben Geldleistungen, mit denen wir eine ben. Mir ist so klar wie Ihnen - danach brauchen Sie
nicht zu fragen -, daß die 60 bzw. 90 Minuten nicht
Laienhilfe honorieren können, beibehalten.
im Gesetz stehen. Aber wir sind in der gesamten
Zum Schluß möchte ich noch sagen: Die Pflegever- Pflegedebatte, in der gesamten Diskussion über den
sicherung stand möglicherweise zu Beginn unter kei- Gesetzentwurf immer von einer Einheit von
nem guten Stern, was jedoch nicht heißt, daß dies so 60 Minuten ausgegangen.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1471
Gerd Andres
Vielleicht haben wir bei nächsten Debatten noch Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und
Gelegenheit, über das eine oder andere zu reden. Ihr Sozialordnung: Nein, wir machen ja hier kein Ver-
Problem ist jetzt, daß Sie Angst haben, daß der ge- wirrspiel. Erst wird der Kollege Andres richtigge-
setzlich vorgesehene Rahmen durch die Beitragsein- stellt.
nahmen nicht finanziert werden kann. Ihre Begrün-
dung lautete: Wir führen dies jetzt erst einmal so ein, Weiterhin stelle ich fest, daß der Kollege Andres
und wenn es besser läuft, können wir es nachbes- zugeben mußte, daß an keiner Stelle im Gesetz
sern. Der Punkt ist, daß in der öffentlichen Debatte „60 Minuten" stand, sondern daß lediglich im Rah-
von etwas anderem ausgegangen worden ist. men der Richtlinie über die Alternative 60 oder
90 Minuten diskutiert wurde. Seit wann ist eine Dis-
Ich füge hinzu, Herr Bundesarbeitsminister, daß kussion ein Wortbruch?
wir möglicherweise in anderem Zusammenhang
noch einmal auf die Wortwahl zurückkommen, näm- Weder findet sich im Gesetz das Verbot für die
lich wenn man die eine oder andere Frage, die man Sachsen, so zu handeln, wie sie handeln, noch befin-
so hört, aufgreift oder weitere Beratungen zu mögli- det sich im Gesetz eine Angabe von 60 Minuten. Ich
chen Pflegestufen la, I b, I c oder II a usw. durchführt. stelle fest, daß der Vorwurf „Wortbruch" ein großer
Rohrkrepierer des Kollegen Andres war. Insofern hat.
(Beifall bei der SPD) sich die Debatte jetzt schon gelohnt.
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Bundesmi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
-
nister.
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat
-
Dr. Norbert Blüm , Bundesminister für Arbeit und jetzt die Kollegin Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU-Frak-
Sozialordnung: Ich bedanke mich für den Beitrag des tion).
Kollegen Andres, denn er konnte an keiner einzigen
Stelle seinen schweren Vorwurf beweisen.
Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Herr Präsident!
Was Sachsen macht, ist nach dem Gesetz aus- Meine Damen und Herren! Herr Kollege Andres,
drücklich als Alternative möglich Hartnäckigkeit macht Äußerungen nicht besser und
auch nicht wahrer; das haben Sie eben erfahren.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich denke auch, daß hier zu Verunsicherungen bei-
Etwas ganz anderes ist, wie ich dies bewerte. Die-
getragen wird - was Sie deutlich getan haben -,
ses Gesetz ist nicht allein von der CDU/CSU, son-
wenn falsche Hoffnungen genährt werden und wenn
dern auch mit der Stimme des Kollegen Andres be-
in vieler Weise unbegründete Erwartungen zusätz-
schlossen worden. Wenn er diese Alternative hätte
lich gestützt werden.
ablehnen wollen, hätte er gegen das Gesetz stimmen
müssen. (Zuruf von der SPD: Wer hat das denn ge
Zweiter Punkt: Es sind bei der ambulanten Pflege macht?)
-
nicht Beträge, sondern es sind Zeitansätze festge- Das trägt nicht dazu bei, daß wir zu einer wirklich
setzt worden. Die Zeitansätze stimmen ungefähr mit stetigen und von der Bevölkerung angenommenen
den heutigen Beträgen der Pflegeversicherung über- Umsetzung der Pflegeversicherung kommen.
ein. Im übrigen werden Verträge abgeschlossen, wo-
bei diese Verträge auch den Geldfaktor im Griff ha- (Beifall bei der CDU/CSU)
ben.
.Jetzt kommt es darauf an, daß wir alle Kräfte bün-
Aus diesem relativ minimalen Unterschied Wort- deln, um die Pflegeversicherung umzusetzen.
bruch herzuleiten - -
(Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Richtig!)
(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Minimal?
Das sind zehn Einsätze mehr im Monat!) Wenn wir den Skeptikern und den ewigen Beden-
kenträgern gefolgt wären, dann hätten wir heute
- Das ist ein minimaler Unterschied, wenn ich be-
noch keine Pflegeversicherung. Deshalb müssen wir
denke, daß für die Beamten bisher 5 400 DM für die
wirklich voranschreiten.
ambulante Pflege beihilfefähig sind und daß die
Geldleistung in der ersten Stufe jetzt im Extremfall Ich halte es für grundfalsch, liebe Frau Kollegin Fi-
auf 400 DM heruntergeht. scher, wenn wir jetzt mitten in der ersten Umset-
Wenn Sie bestreiten, daß das eine gewaltige An- zungsphase Änderungen an der Pflegeversicherung
passung ist, und wenn Sie das als Wortbruch be- vornehmen.
zeichnen, dann sind Sie wirklich sehr großzügig mit
(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Da war
dem Aussprechen von Beleidigungen.
die F.D.P. schuld an dem langen Gemäkel!)
(Abg. Frank Hofmann [Volkach] [SPD) mel
det sich zu einer Zwischenfrage) Es kann kein Prinzip von Politik sein, jeden Tag mit
einer neuen Überraschung und mit einem neuen An-
liegen aufzuwarten. Gerade in dieser ersten Phase
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Minister,
- der Pflegeversicherung ist es wichtig, daß wir dem
gestatten Sie eine Zwischenfrage? Grundsatz der Verläßlichkeit und der Kontinuität fol-
1472 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
(Beifall bei der CDU/CSU) Es zeichnet sich darüber hinaus ab - das sage ich
auch vor dem Hintergrund des Gesetzentwurfes in
Es scheint mir aber auch wichtig, eines noch ein- Rheinland-Pfalz -, daß versucht wird, die bewährte
mal in den Blick zu rücken: Aufgrund der zahlrei- Struktur der Sozialstationen in diesem Land auszu-
chen Gespräche mit den Betroffenen - so geht es si- hebeln. Heiner Geißler hat die Sozialstationen dort
cherlich vielen von uns - merken wir, daß nach wie vor Jahren eingeführt. Viele andere sind diesem Bei-
vor Schwierigkeiten bestehen, wenn es um die Ab- spiel gefolgt. Der Gesetzentwurf für Rheinland-Pfalz
grenzung geht: Was bedeutet Eingliederungshilfe, sieht die Schaffung sogenannter ambulanter Hilfe-
und was bedeutet eigentlich Abdeckung des Pflege- zentren vor. Im Hinblick auf die Finanzierung ist
risikos? Ich denke, wir müssen hier sehr deutlich an auch an der Stelle nur eine Nullinie zu erwarten. So
den Kriterien festhalten, die im Gesetz genannt sind. kommen wir mit Sicherheit nicht weiter. Die Länder
Wir müssen an den klaren Abgrenzungen der Ein- müssen an dieser Stelle endlich ihre Pflicht erfüllen.
gliederungshilfen festhalten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Natürlich kann es bei Behinderten zu einem Ne- Meine Damen und Herren, bei einem so komple-
beneinander der Leistungen der Eingliederungshilfe xen Gesetz wie dem über die Pflegeversicherung
und der Pflegeversicherung kommen. Das wider- versteht es sich von selbst, daß nicht jedes Detail im
spricht sich aber nicht. Sie wissen aber genausogut voraus perfekt durchgeplant werden kann. Aber so-
wie ich, daß nicht jeder Behinderte zugleich auch fort von Veränderungen zu sprechen - das betone ich
pflegebedürftig ist; denn derzeit gibt es in unserem noch einmal -, halte ich für falsch. Ich halte es aller-
Land 6,5 Millionen Menschen mit einer Behinderung dings für notwendig, daß wir uns, wenn wir einige
von mindestens 50 %, aber nur 1,6 Millionen Perso- Erfahrung gesammelt haben, dann zusammensetzen,
nen sind erheblich, schwer- oder schwerstpflegebe- wenn wir merken, daß es sich hier nicht nur um Ein-
dürftig. Das macht doch deutlich, daß die Fälle nicht zelfälle handelt, sondern daß es auch ein Stück weit
immer deckungsgleich sind und daß allein schon von an bestimmten Strukturen liegt. Dann müssen wir
daher ein differenziertes Vorgehen notwendig ist. sehr gründlich darüber sprechen, ob einzelne Rege-
lungen noch einmal zu überprüfen sind und ob mög-
Ein differenziertes Vorgehen ist aber auf Grund licherweise eine bessere Regelung gefunden werden
der Unterschiede bei den Leistungen und auf Grund kann. Wir sollten aber jetzt wirklich alle Kraft daran
der unterschiedlichen Träger notwendig. Eine klare setzen, denjenigen, die ab 1. April die entsprechen-
Abgrenzung ist im Interesse der Pflegeversicherung, den Leistungen erwarten dürfen, mit der Umsetzung
vor allem aber im Interesse der Pflegebedürftigen nö- des Pflegeversicherungsgesetzes zu helfen und zü-
tig, wenn wir die Möglichkeiten für die Zukunft so gig voranzukommen.
erhalten wollen, wie sie im Gesetz festgelegt worden
sind. (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1473
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die nister oder das Bundesarbeitsministerium in aller Re-
Kollegin Ulrike Mascher. gel eine restriktive Auslegung der Pflegeversiche-
rung verfolgt. Das geht dann zu Lasten der Betroffe-
Ulrike Mascher (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- nen.
ginnen! Liebe Kollegen! Ich habe ein bißchen ge- (Beifall bei der SPD und der PDS - Gerd
schmunzelt, als der begnadete Demagoge Norbert Andres [SPD]: Deshalb auch die 90 Minuten,
Blüm einen anderen Kollegen einen Demagogen ge- Herr Minister!)
scholten hat. Das ist in diesem Fall vielleicht eine
hohe Anerkennung. Ich vermute, dahinter steckt der Versuch, den Fi-
nanzbedarf im Rahmen der Deckelung der Pflegever-
Ich habe mich auch ein wenig gewundert, als hier sicherung zu halten. Angesichts der Horrorberichte
aus dem hessischen Gesetz zitiert worden ist. Mir über mögliche Kostenentwicklungen ist dieses Be-
liegt der Gesetzentwurf aus Bayern vor. Auch hier mühen ja vielleicht durchaus ehrenwert, solange -
heißt es: Der Staat beteiligt sich nach Maßgabe der ich sage ausdrücklich: solange - es nicht dazu führt,
im Staatshaushalt bereitgestellten Mittel an der Fi- daß Pflegebedürftige, für die die Pflegeversicherung
nanzierung usw. eigentlich einmal gedacht war, von Leistungen aus-
(Zuruf von der SPD) gegrenzt werden.
Auch hier ist es so, daß es diese Einschränkungen (Beifall bei der SPD und der PDS)
gibt. Leider gibt es nicht mehr so sehr viele CDU/ Ich gestehe dem Bundesarbeitsminister durchaus
CSU-regierte Länder, so daß es nicht so viele Bei- zu, daß his zum 1. April eine Reihe von Abstimmun-
spiele gibt. Es gibt mehr sozialdemokratisch regierte gen, Interpretationen und notwendigen Abgrenzun-
Länder. gen, z. B. zur Sozialhilfe, zur Krankenversicherung,
(Karl Josef Laumann [CDU/CSU]: Das wird zur Eingliederungshilfe, auch noch zugunsten der
sich Sonntagabend ändern!) Betroffenen erfolgen werden. Hätte ich diese Erwar-
tung nicht, hätte die SPD diese Erwartung nicht, so
Ich glaube, sie sind sich alle einig, daß sie knappe würde heute nicht nur ein Antrag der GRÜNEN mit
Kassen haben. drei klärungsbedürftigen Punkten vorliegen, son-
(Karl Josef Laumann [CDU/CSU]: Das wird dern ein sehr viel längerer Katalog von Fragen. Aber
sich Sonntagabend ändern!) wir werden sehr genau prüfen, ob der Arbeitsmini-
ster, das Arbeitsministerium, unseren Erwartungen
Ich denke, daß wir nach der schwierigen Mehr- nachkommt.
heitsfindung für eine gesetzliche Pflegeversicherung
und nach dem Hin und Her um die Kompensations- Der vorliegende Antrag der GRÜNEN betrifft eine
leistung für die Arbeitgeber jetzt darangehen sollten, Gruppe von Behinderten, die trotz einer oft erhebli-
darauf zu achten, wie das Gesetz umgesetzt wird. chen Behinderung mit großen Anstrengungen ein
Werden die Erwartungen, auch die Erwartungen, die selbstbestimmtes Leben erreicht haben. Sie sind teil-
durch die schönen, bunten Broschüren des Bundes- weise
- berufstätig, haben aber einen großen Hilfe
arbeitsministers besonders hoch gestimmt - sind, der oder Assistenzbedarf. Ich denke, es wäre für die Poli-
Pflegebedürftigen erfüllt? Gibt es wirklich eine Ver- tik beschämend, wenn es nicht gelänge, ihre Lebens-
besserung, eine Erleichterung der Lebenslage Pfle- form, ihre hart erkämpfte Selbstbestimmung auch
gebedürftiger und ihrer Angehörigen? mit den Regelungen der Pflegeversicherung in Ein-
klang zu bringen.
Ich verfolge mit Sorge die widersprüchlichen Mel-
dungen in der Presse. Einmal kritisiert der Minister (Beifall bei der SPD, der PDS sowie bei Ab
die niedrige Ablehnungsquote bei der Festlegung geordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ
der Pflegestufen durch den Medizinischen Dienst in NEN)
der „Süddeutschen Zeitung" - vielleicht war es ja Deshalb sollten wir im Ausschuß sehr sorgfältig bera-
falsch -, um kurz darauf dem Medizinischen Dienst ten, um eine Lösung zu finden, falls dies im Rahmen
wieder sein Vertrauen auszusprechen. Was ist denn des Pflegeversicherungsgesetzes notwendig ist.
hier nur los? Aus vielen Gesprächen mit Wohlfahrts-
verbänden, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Erstens. Das Ruhen der Leistungen bei einem Aus-
ambulanten Einrichtungen, mit Betroffenen, mit Fa- landsaufenthalt darf sicher nicht dazu führen, daß
milienangehörigen von Betroffenen weiß ich - und pflege- oder betreuungsbedürftige Menschen per
ich denke, es geht allen Abgeordneten, die hier sit- Gesetz vom Urlaub im Ausland oder auch von einem
zen, nicht anders -, daß es eine ganz große Unsicher berufsbedingten Auslandsaufenthalt ausgeschlossen
heit gibt, werden. In der Praxis scheint schon eine Regelung
gefunden worden zu sein. Ich wünsche mir aber, daß
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Betroffenen das, was sie angeht, im Gesetz fin-
wie die bisher gewachsenen Strukturen in die neue den, nicht erst in Ausführungsbestimmungen.
Systematik der Pflegeversicherung eingebaut wer-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie
den können. Und wenn frau sich dann als pflichtbe-
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wußte Abgeordnete aufmacht und versucht, die Fra-
gen zu klären, dann stelle ich fest: Es gibt einfach Zweitens. Es gibt eine Reihe von ambulanten Pfle-
noch viele ungeklärte Abgrenzungsprobleme. Ich gediensten, die im Rahmen der individuellen
habe leider den Eindruck, daß der Bundesarbeitsmi Schwerbehindertenbetreuung ganz spezielle, nicht
1474 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Ulrike Mascher
nur fachpflegerische Dienste im engen Kontakt mit Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt auf-
Betroffenen aufgebaut haben. Ich erwarte, daß diese rufe, geht es darum, eine Korrektur vorzunehmen.
spezifischen Angebote nicht in einem Abstimmungs- Bei der Wahl der vom Deutschen Bundestag zu ent-
marathon zwischen den Spitzenverbänden der Kran- sendenden Mitglieder des Parlamentarischen Beirats
kenkassen und den kommunalen Spitzenverbänden, der Stiftung für das sorbische Volk, Drucksache 13/
aber auch zwischen dem Bundesarbeits- und dem 569, sind irrtümlich der Abgeordnete Gottfried
Bundesgesundheitsminister durch den Rost fallen. Haschke (Großhennersdorf) als ordentliches Mitglied
und der Abgeordnete Ulrich Klinkert als stellvertre-
Drittens. Es geht auch darum, eine Möglichkeit zu
tendes Mitglied benannt worden. Die Fraktion der
finden, die am spezifischen Hilfebedarf von Pflege-
CDU/CSU teilt uns mit, daß es richtig heißen muß:
bedürftigen ausgerichtete besondere Organisations-
Abgeordneter Ulrich Klinkert als ordentliches Mit-
form, bei der Pflegebedürftige als Arbeitgeber ihrer
glied, Abgeordneter Gottfried Haschke als stellver-
Pflegekräfte auftreten, die diese Pflege nicht als An-
tretendes Mitglied.
gehörige, sondern als Erwerbstätige leisten, nicht zu
zerschlagen. Sie hat sich in vielen Fällen bewährt. Ich gehe davon aus, daß es sich um eine schlichte
Ich hoffe auf eine Klärung, eine Abgrenzung, eine Richtigstellung handelt. Darf ich davon ausgehen,
verbindliche Regelung darüber, was die Sozialhilfe, daß auch Sie das so sehen? -
die Pflegeversicherung, die Krankenversicherung,
die Krankenkassen leisten. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Aber die Geschäftsordnung sieht das nicht
Im Moment besteht natürlich die Gefahr, daß so-
vor!)
wohl die Sozialhilfeträger wie auch die Pflege- und
Krankenkassen versuchen, die Lasten auf den je- Ich höre keinen Widerspruch. Dann haben wir das so
weils anderen abzuschieben. Ich ganz persönlich beschlossen.
kann es nicht ertragen, wenn die Pflegebedürftigen
hier auf Prozesse verwiesen werden, indem ihnen (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
gesagt wird: Klagt erst einmal! Ich glaube nicht, daß die Geschäftsordnung
das vorsieht!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN -- Peter Dreßen [SPD] zu der - Das läßt sie zu. Mit gutem Willen ist fast alles mög-
CDU/CSU und der F.D.P. gewandt: Da soll lich,
ten Sie mitklatschen! Das ist doch etwas,
was wir alle nicht wollen!)
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 7 auf:
Ich hoffe sehr, daß die von uns gemeinsam müh-
sam genug und mit schmerzlichen Einbußen er- Beratung des Antrags der Fraktionen der
reichte gesetzliche Absicherung des Pflegerisikos CDU/CSU und F.D.P.
nicht zu einer Dampfwalze wird, die einzelnen Grup-
pen ihre mühevoll aufgebauten Versorgungsstruktu- Situation des deutschen Hotel- und Gaststät-
ren zerstört. tengewerbes
-
Ich bin gern bereit, um Vertrauen für die Pflegever- - Drucksache 13/541 —
sicherung zu werben. Dann aber müßte ich das Ver-
Überweisungsvorschlag:
trauen haben, daß Regelungen vor allen Dingen mit
Blick auf die Betroffenen, nicht mit Blick auf die fi- Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus (federfüh-
nanzielle Situation, gefunden werden. So wichtig die rend)
Finanzausschuß
Finanzen sind: Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Aha!) Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Bei der Pflegeversicherung geht es um die Pflegebe- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die
dürftigen und deren Angehörige, die in einer ganz Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe kei-
schwierigen Lage sind und die wir als erste berück- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
sichtigen sollten.
Danke. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kolle-
gen Dr. Rolf Olderog, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
PDS) Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir erle-
ben heute dank unse re s Antrages eine Premiere. Oft
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Die Aussprache
-
hat der Bundestag über Landwirtschaft, über Kohle,
ist damit geschlossen.
Stahl und Autoproduktion debattiert, aber noch nie
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Ge- speziell über das Hotel- und Gaststättenwesen. Wir
setzentwurfs auf Drucksache 13/99 an die in der Ta- halten es daher für geboten, daß der Bundestag jetzt
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es auch einmal die großen Leistungen und die vielen
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der tüchtigen Persönlichkeiten des Gastgewerbes ange-
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. messen würdigt und daß endlich auch dessen Pro-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1475
Dr. Rolf Olderog
bleme und dessen Perspektiven auf die Tagesord- lem zu einem positiven Bild von Deutschland und
nung des Parlaments kommen. den Deutschen in der Welt bei.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Richtig! Das war Das gilt es auszubauen!)
höchste Zeit!) Anerkennung verdient das Gastgewerbe auch für
Die Zahlen für die wirtschaftliche Bedeutung des seinen Beitrag zum Aufbau Ost. Das Gewerbe hat
Gewerbes sind eindrucksvoll: Umsatz: 100 Milliarden nicht nur mit überdurchschnittlichem Erfolg dazu
DM, Beschäftigte: 1 Million, Auszubildende: 61 000, beigetragen; das Wirtschaftsministe rium hat es sogar
Anteil an der Wertschöpfung: 1,4 %. als „Hoffnungsträger" für den Aufbau Ost bezeich-
net.
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Beeindruk
Seit 1991 haben wir bei Gästen und Übernachtun-
kende Zahlen!)
gen zweistellige Zuwachsraten - ein hervorragendes
1 Million Beschäftigte - eine imponierende Zahl. Ergebnis. Hier präsentieren wir im Osten einen Wirt-
Das ist die Größenordnung der Automobilindustrie. schaftsbereich, in dem die Steuerzahlergelder nicht
Aber während dort die Arbeitsplätze wegrationali- verschwendet, sondern sinnvoll und erfolgreich ein-
siert oder exportiert werden und schon heute man- gesetzt wurden.
che davon reden, daß in Deutschland zukünftig nur Dann, wenn die meisten nach Feierabend sowie an
noch Blaupausenproduktion stattfinden soll, wach- Sonn- und Feiertagen ihre Freizeit genießen, noch
sen die Arbeitsplätze im Gastgewerbe, sind sie selbst für andere mit ganzem persönlichen Einsatz und
in schwierigen Zeiten vergleichsweise stabil und stets freundlich und hilfsbereit tätig zu sein, verdient
kaum durch Abwanderung bedroht. Anerkennung. Deswegen möchte ich im Namen mei-
Ich halte es für einen schweren Fehler, beim ner Fraktion den im Gastgewerbe Tätigen von Her-
Thema Arbeitsplätze nur über Industriepolitik zu re- zen danken.
den und nicht die großen Chancen im Dienstlei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
stungssektor zu sehen. Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Die F.D.P.
schließt sich an!)
Zentral ist der Beitrag des Gastgewerbes zu Le-
bensqualität und Lebensfreude. Reisen, Essen, Trin- Die mittelständische Branche hat eine Fülle von
ken und miteinander Fröhlichsein gehört natürlich Problemen. 85 % der Betriebe sind Klein- und Mittel-
dazu. betriebe mit fünf und weniger Beschäftigten. Von al-
len Seiten sieht sich das Gewerbe bedrängt und be-
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: droht, z. B. durch spezielle Steuern, drastische Ge-
Sehr richtig!) bührenerhöhungen, Schwarzgastronomie und desin-
Das Gastgewerbe bietet Orte des menschlichen Ge- teressierte Banken.
sprächs und Miteinanders, Orte, an denen Menschen (Horst Kubatschka [SPD]: Waigel, ran!)
einander kennenlernen und verstehenlernen.
- Dabei ist die finanzielle Situation der Betriebe alles
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Wie im Ple andere als rosig. Der Kollege Schmalz wird dazu
num!) sprechen.
Gasthäuser, Restaurants, Biergärten und auch Knei- Hinzu kommt: Das Gastgewerbe ist mit einem tief-
pen sind ebenso wie Hotels und Gasthöfe prägende greifenden Strukturwandel konfrontiert und sieht
Elemente deutscher Lebenskultur. sich auch international in hartem Wettbewerb. Sie
kennen die Zeichen des Strukturwandels: Fast food,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Systemgastronomie, Ketten, Franchising, neue Fi-
Susanne Kastner [SPD]: Sagen Sie doch mal nanzierungswege, kooperative Konzepte, um einige
was zum Antrag!) Stichworte zu nennen.
Im deutschen Gastgewerbe sind 180 000 ausländi- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Auch der DE
sche Arbeitnehmer und 56 000 ausländische Hote- HOGA-Präsident steht für Systemgastrono
liers und Gastwirte tätig. Ausländer helfen und stüt- mie!)
zen nicht nur das Gewerbe, nein, sie machen es auch
interessanter und vielfältiger, sie sind mit ihrer Arbeit Die Lebenskräfte dieses mittelständischen Gewerbes
und ihrer Kultur für unser Land und für uns alle in so zu stärken, daß es den großen Herausforderungen
Deutschland eine wirkliche Bereicherung. gewachsen bleibt, daß es nicht resigniert, sondern er-
mutigt wird, ist eine Aufgabe der Wirtschaftspolitik.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so
wie bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt]
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) [SPD])
Der Erhalt vieler selbständiger Existenzen ist für uns
Noch ein Letztes zur Bedeutung des Gastgewer- aber vor allem ein wichtiges Gebot der Gesellschafts-
bes: Gastlichkeit ist die Visitenkarte unseres Landes politik.
in aller Welt. Vielfalt, Gastfreundschaft und Toleranz
steigern nicht nur die Attraktivität des Reise- und Ur- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
laubslandes Deutschland, sondern sie tragen vor al- und der F.D.P.)
1476 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Heiterkeit und Beifall bei der SPD - Beifall
und der F.D.P.) bei Abgeordneten der PDS)
Die Bundesregierung hat in der Antwort auf un- Nicht nur die Tatsache, daß hier auf zwei Seiten ge-
sere Große Anfrage einen eindrucksvollen Überblick nau zehnmal von „weiterhin unterstützen", „fortset-
über das Gastgewerbe vorgelegt. Dafür, lieber Herr zen" und „Regelungen beibehalten" die Rede ist,
Solveen, Ihnen und Ihrer Mannschaft ein herzliches läßt das von dem Bürger im Land erwartete konstruk-
Dankeschön! tive politische Engagement sowie eine wirklich kriti-
sche Reflexion bisheriger Entscheidungen und Maß-
(Dr. Willfried Penner [SPD]: Dankenswerter nahmen vermissen.
weise!)
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Regie-
Von der Politik muß, lieber Willfried, jetzt etwas rungskoalition, es ist doch nicht so, als gäbe es kei-
Weiteres hinzukommen: Das Gastgewerbe muß spü- nen Handlungs- und Entscheidungsbedarf. Wie sieht
ren, daß die Politik ihm nach besten Kräften zur Seite denn bisher die Unterstützung mittelständischer und
steht. kleiner Betriebe in der Praxis aus? Wie steht es denn
um die tatsächlichen Möglichkeiten des Hotel- und
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Sehr richtig!) Gaststättengewerbes - vor allem in den neuen Bun-
desländern -, sich dem raschen Strukturwandel an-
Wenn die finanziellen Mittel des Staates knapp sind,
zupassen? Wie stellt sich denn die Situation des öf-
dann ist es um so wichtiger, dem Gewerbe Orientie-
fentlichen Personenverkehrs vor allem in ländlichen
rung, Perspektiven und Leitbilder zu bieten. Wir
Gebieten dar?
müssen den Unternehmern Mut machen, die Heraus-
forderungen der Zeit anzunehmen und zu neuen Zie- Entscheidende Schwachstellen der derzeitigen Si-
len zu streben. Betriebe und Unternehmer, die dies tuation, die angepackt werden müssen, sind z. B. fol-
tun, die mutig Risiken übernehmen und verantwor- gende:
tungsbewußt investieren, die dies im Interesse auch
ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tun und die Erstens. Die Förderung von Neugründungen und
dies auch tun, damit unsere Bürger abends und an weiteren Investitionen im Hotel- und Gaststättenge-
Sonn- und Feiertagen Dienstleistungen entgegen- werbe verläuft meist recht bürokratisch und in nicht
nehmen können, haben die Unterstützung durch die zufriedenstellendem Umfang. Das, was vor mehreren
Politik verdient. - Jahren investiert wurde, macht sich erst heute in ei-
ner gestärkten Position am Markt bemerkbar. Den-
Wir Tourismuspolitiker werden tun, was wir tun noch dämpfen die langwierigen Genehmigungsver-
können. fahren und die restriktive Vergabe von Krediten und
Fördermitteln die Investitionsplanungen.
Herzlichen Dank.
(Susanne Kastner [SPD]: Die weiß, was sie
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so redet! - Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Wo sie
wie des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt] recht hat, hat sie recht!)
[SPD])
Ich komme aus einem neuen Bundesland und weiß
daher, wovon ich spreche, wenn ich hier auf die Pro-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat die
-
bleme der ungeklärten Eigentumsverhältnisse ein-
Kollegin Iris Follak, SPD-Fraktion. gehe. Wie soll Wettbewerbsfähigkeit zustande kom-
men? Ein Hotelier, der bemüht ist, in seinen Betrieb
Iris Follak (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! zu investieren, wird dies so lange nicht tun, bis die
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der zur Beratung Besitzverhältnisse geklärt sind.
stehende Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und (Beifall des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt]
der F.D.P. zur Situation des deutschen Hotel- und [SPD])
Gaststättengewerbes, den Sie heute dem Deutschen
Bundestag vorlegen, ist beachtlich. Ich bin tief beein- Der von der Bundesregierung positiv bewertete Pri-
druckt, vatisierungsprozeß ist daher noch lange nicht abge-
schlossen.
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das ist gut so!)
(Beifall bei der SPD)
aber nicht wegen des Inhaltes, sondern weil Sie es ge-
schafft haben, einen Antrag auf die Tagesordnung zu Die unattraktiven Objekte in strukturschwachen Ge-
setzen, den Sie in Ihren eigenen Fraktionsgremien zu bieten, die noch keinen Käufer gefunden haben, sind
diesem Zeitpunkt noch nicht einmal behandelt hatten. nur ein Beispiel dafür.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1477
Iris Follak
Das Modell „Einkommenssicherung durch Dorf- und die damit verbundene Ernennung zur „fahrrad-
tourismus", welches vor zwei Jahren von den Mini- freundlichen Stadt" können doch wohl nicht alles
sterien für Wirtschaft und für Landwirtschaft einge- sein, was wir für den ökologischen Grundsatz des
richtet wurde, zeigt, auf welche Art und Weise Unter- Fremdenverkehrs veranlassen wollen.
nehmensberater der alten Bundeslänger häufig die
Unerfahrenheit der oft jungen Betriebsbesitzer und (Beifall bei der SPD - Dr. Olaf Feldmann
der Verwaltungen in Ostdeutschland dazu nutzten, [F.D.P.]: Das sollen mal die Privaten ma
um mit möglichst wenig Zeitaufwand möglichst gro- hen!)
ßen Profit zu erlangen. Warum, frage ich Sie, werte Gerade in den fünf neuen Ländern haben wir jetzt
Kolleginnen und Kollegen, mußten Beratungsver- die Chance, im Spannungsfeld zwischen Natur-
träge mit bestimmten westlichen Unternehmen abge- schutz und Tourismus guten, zukunftstauglichen Lö-
schlossen werden, die ein Drittel der gesamten För- sungen näherzukommen. Hier erwähne ich nur die
dersumme in Anspruch genommen haben? Diese zahlreichen Campingplätze, die in der Nähe von
Gelder hätten doch wirklich effektiver eingesetzt noch zu errichtenden Naturparks, Nationalparks und
werden können. Naturschutzgebieten entstehen.
(Beifall bei der SPD und der PDS) Viertens. In diesem Zusammenhang muß auch die
Situation des öffentlichen Personenverkehrs gese-
Zweitens. Die Frage der Strukturverbesserung hen werden. Mehr als die Hälfte des Autoverkehrs
betrifft vor allem die neuen Länder. Die Schaffung
entfällt auf Freizeit- und Urlaubsfahrten. Die Ten-
und Sicherung leistungsfähiger touristischer Struktu- denz ist steigend. Um diese Entwicklung zu stoppen,
ren muß nach wie vor eines der Hauptanliegen des ist ein Ausbau der öffentlichen Verkehrsverbindun-
Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus gen und -anbindungen unerläßlich.
sein.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Halo
(Franz Peter Basten [CDU/CSU]: Wo sie Saibold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
recht hat, hat sie recht!)
Sie aber, meine Damen und Herren der Regierungs-
Hier ist besonders der dringend notwendige Ausbau parteien, haben es zu verantworten, daß die Maßnah-
infrastruktureller Maßnahmen unumgänglich. men nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsge-
setz Ende 1994 ausgelaufen sind.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Olaf
Feldmann [F.D.P.]) (Beifall bei der SPD - Dr. Wolfgang Weng
[Gerlingen] [F.D.P.]: Das sehen Sie etwas zu
Da, wie im Folgenden noch erläutert wird, bisher zu- eng, Frau Kollegin!)
dem das öffentliche Verkehrssystem unzureichend
erweitert wurde, beeinflussen diese Mißstände nicht Besonders in den ländlichen Regionen, z. B. in de-
nur indirekt, sondern auch direkt die weitere Investi-nen der neuen Länder oder des Rheinlandes, wo oft
tionsbereitschaft der gastronomischen Betriebe. mit selbstlosem Engagement Strukturverbesserun-
gen und Service in Hotels und Gaststätten vorange-
- immer noch trieben werden, verschlechtern sich jedoch zuse-
-c
Ein weiterer Punkt ist sicherlich das
nicht ausreichend vorhandene Kommunikationssy- hends die Angebote des öffentlichen Personenver-
stem. Telefon- und Faxanschlüsse sind noch lange kehrs. Schienen- und Buslinien fallen immer häufi-
nicht lückenlos vorhanden. Somit sind viele Betriebe ger dem Rotstift zum Opfer.
nicht in der Lage, Reservierungen und Buchungen
professionell und unkompliziert abzuwickeln. Hier Was nützen die größten Investitionen eines Hote-
ist dringend Abhilfe zu schaffen. liers oder Gastronomen, wenn sein Hotel, die Restau-
ration nicht in das öffentliche Verkehrssystem inte-
(Susanne Kastner [SPD]: Dazu hat Herr O
l griert ist, der potentielle Gast also gar nicht in der
derog nichts gesagt!) Lage ist, mit Hilfe von Bussen und Bahnen diese Ört-
lichkeiten zu erreichen?
Drittens. Die Bestrebungen der Firmen nach um-
weltorientierter Geschäftsorganisation und -praxis, Abschließend: Durch all das wird deutlich, daß es
welche als ein Ziel in den Bericht der Bundesregie- einerseits in der Natur unserer Aufgabenbereiche in
rung über die Entwicklung des Tourismus eingegan- Fremdenverkehr und Tourismus liegt, daß gerade
gen sind, sind meistens nur vorn persönlichen Enga- hier Kooperation mit den Kolleginnen und Kollegen -
gement und Idealismus des einzelnen abhängig. Die vor allem der Ministerien für Wirtschaft, Umwelt,
Sicherung der Umweltqualität als wichtigstes Kapi- Verkehr sowie Post und Telekommunikation - so un-
tal des Fremdenverkehrs und Tourismus bedeutet abdingbar wie in kaum einem anderen Ressort ist
gleichzeitig die Schaffung eines hohen Qualitätsstan- und erheblich intensiviert werden muß, und daß an-
dards in der Tourismusbranche. dererseits ständig nach neuen Möglichkeiten zu su-
chen ist, um unkompliziert und gegebenenfalls auch
Bei den Umweltgütezeichen läßt der „Grüne Kof- kurzfristig wirklich praxisorientierte, interdisziplinär
fer" schon lange auf sich warten. Die Errichtung ei- angelegte Problemlösungen, falls erforderlich auch
ner geringen Anzahl von Radfahrwegen individuell, zu realisieren.
(Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Aber das ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nicht Sache des Staates!) DIE GRÜNEN)
1478 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Iris Follak
Dazu fordere ich Sie, liebe Kolleginnen und Kolle- sicherung, die wir gerade in der vorhergehenden
gen aller Parteien, in dieser Legislaturperiode auf. Runde debattiert haben - als Lohnnebenkosten im-
Denn nicht zuletzt sind wir es, die dem prosperieren- mer wieder auf die Lohnkosten aufgeschlagen wer-
den Wirtschaftsfaktor des Hotel- und Gaststättenge- den.
werbes Rechnung tragen sollten.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Danke. ten der CDU/CSU)
(Beifall im ganzen Hause)
Dadurch wird Arbeit in Deutschland unbezahlbar.
Arbeit gibt es genug in Deutschland
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich danke Ihnen,
Frau Kollegin Follack, für Ihre erste Bundestagsrede. (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Im Gast
stättengewerbe!)
Ich erteile jetzt dem Kollegen Dr. Olaf Feldmann,
F.D.P.-Fraktion, das Wort. - und auch woanders -, aber sie muß bezahlbar sein.
Wenn wir sie zu teuer machen, brauchen wir uns
nicht zu wundern, wenn wir hier keine neuen Ar-
Dr. Olaf Feldmann (F.D.P.): Herr Präsident! Meine beitsplätze schaffen können.
sehr verehrten Damen und Herren! Wir feiern heute
zwei Premieren. Die erste Premiere ist, daß die Kolle- Die Schwarzgastronomie ist eine weitere Zusatz-
gin Follack heute im Plenum des Deutschen Bundes- belastung für den gastronomischen Mittelstand. Ich
tages ihre Jungfernrede gehalten hat. Frau Kollegin weiß, ich fasse hier ein heißes Eisen an. Während die
Follack, dazu möchte ich Ihnen im Namen der F.D.P. kleinbetrieblich und mittelständisch strukturierte
herzlich gratulieren, obwohl Sie zum falschen Ergeb- Gas tronomie mit immer neuen Auflagen und büro-
nis gekommen sind. kratischen Regelungen belastet wird - von der
Raumhöhe über die Toilettenausstattung bis hin zur
(Beifall bei der F.D.P. - Lachen bei der SPD) Sperrzeit; der DEHOGA spricht von fast 200 Ge-
Heute debattieren wir erstmals im Bundestag die setzen, Verordnungen und Erlassen, die zum Betrieb
Situation und die Perspektiven des deutschen Hotel- einer kleinen Kneipe notwendig sind -, geht es in der
und Gaststättengewerbes. Das ist unsere zweite Pre- Freizeitgastronomie locker und leger zu: keine Aufla-
miere. Als arbeitsplatzintensive Dienstleistungsbran- gen, keine Kontrollen. Nach dem Motto „Feste feiern
che hat das Gastgewerbe einen besonders hohen ohne Zwang und ohne Kosten" blüht die Schwarzga-
Stellenwert, gerade heute, wo Rentabilität fast aus- stronomie.
schließlich über Arbeitsplatzabbau erreicht werden Ich habe nichts gegen den vom Gesetzgeber in § 12
soll. Das Gastgewerbe ist eine tragende Säule des Gaststättengesetz vorgesehenen „besonderen An-
Tourismus. laß", z. B. das zehnjährige Jubiläum, von mir aus
Vor knapp drei Wochen haben wir uns hier mit auch das Jahresfest. Aber es muß ein „besonderer
dem Tourismusbericht der Bundesregierung befaßt. Anlaß" für die Gestattung vorliegen. Es darf eben
Das sind Zeichen, daß Parlament und Regierung die nicht nur um den Verkauf von Speisen und Geträn-
enorm gestiegene Bedeutung dieser Wachstums-
- ken zur Aufbesserung der Vereinskasse gehen.
branche erkannt haben. Die von der Bundesregie- Die total verlotterte Gestattungspraxis vor Ort
-
rung vorgelegten Zahlen - Wirtschafts- und Beschäf- meist politisch gedeckt - ist mehr als nur ein Ärger-
tigungszahlen - sind beeindruckend. Der Kollege Ol- nis.
derog hat bereits auf die 1 Million Arbeitnehmer und
auf die 100 Milliarden DM Umsatz hingewiesen. Sie (Susanne Kastner [SPD]: Sie beleidigen die
belegen die große wirtschaftliche und beschäfti- bayerische Verwaltung!)
gungspolitische Bedeutung der Branche.
- Ich bin selber im Gemeinderat, ich weiß, wovon ich
Trotzdem bedarf es einer differenzierten Betrach- spreche.
tung. Auch das Gastgewerbe hat mit Problemen zu
kämpfen. Es muß seine arbeitsplatzintensive Dienst- Das Vollzugsdefizit im Rahmen des § 12 Gaststät-
leistung in einem Hochlohnland erbringen und kann tengesetz grenzt an Rechtsbruch.
kaum oder nur bedingt rationalisieren.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege
Während die Autoindustrie, Herr Kollege und Be-
Feldmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab-
triebsratsvorsitzender Janssen, ihre Produktion aus
geordneten Büttner, Ingolstadt?
Kostengründen ins nahe Ausland verlagert, kann das
überwiegend mittelständisch strukturierte Gastge-
werbe seine arbeitsplatzintensive und teure Dienst- Dr. Olaf Feldmann (F.D.P.): Selbstverständlich,
leistung nur im Hochlohnland Deutschland erbrin- wenn ich, um diesen Punkt abzuschließen, noch ei-
gen. Es kann nicht auswandern. Es ist standortge- nen Satz sagen darf: Der Gesetzgeber sollte meines
bunden. Es erhält und schafft Arbeitsplätze hier in Erachtens den „besonderen Anlaß" klar definieren.
Deutschland. Das ist der große Unterschied. Dies er-
gibt, Herr Kollege Weng, seinen besonderen Stellen- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Mach mal einen Entwurf!)
wert. Gerade deswegen muß die Politik dem stärker
Rechnung tragen. Es kann z. B. auf Dauer nicht gut-
gehen, wenn die gesamten Sozialleistungen - von Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Kollege
der Renten - über die Kranken- bis hin zur Pflegever- Feldmann, darf ich Sie als Vertreter einer Partei, die
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1479
Hans Büttner (Ingolstadt)
sich sonst in allen Feldern gegen jegliche Regulie- Die F.D.P. begrüßt die Fortführung der mittelstän-
rung wendet, fragen, ob es nicht der sinnvollere Weg dischen Förderprogramme vom ERP bis zum Eigen-
wäre, die Qualifikationsvoraussetzung, die Ausbil- kapitalhilfeprogramm.
dung und die Weiterbildung von Gastronomen zur (Susanne Kastner [SPD]: Das tun auch wir!)
Auflage zu machen, statt hier über mehr regulative
Maßnahmen den Wettbewerb einzuschränken? - Es freut mich, Frau Kollegin Kastner. Wir hatten uns
schon anläßlich der Debatte über den Tourismusbe-
richt darauf geeinigt, daß das Eigenkapitalhilfepro-
Dr. Olaf Feldmann (F.D.P.): Herr Kollege Büttner, gramm fortgesetzt werden muß.
bei der Deregulierung, die Sie ansprechen, ziehen
wir am gleichen Strang in der gleichen Richtung; (Susanne Kastner [SPD]: Richtig!)
ebenso, Herr Kollege Büttner, wenn Sie Qualifika- Ebenso wichtig sind aber Existenzfestigungspro-
tionsmaßnahmen anmahnen. In diesem Bereich tut gramme und eine Verbesserung der Förderung der
die Bundesregierung viel. Aber wir können ja ge- Unternehmerberatung.
meinsam noch mehr dazu fordern. Vielleicht gibt der
Staatssekretär als Mittelstandsbeauftragter der Bun- Die F.D.P. ist für den Erhalt der Sozialversiche-
desregierung nachher dazu eine entsprechende Er- rungsfreiheit und der Steuerpauschalierung für ge-
klärung ab. Ich danke Ihnen für diese hilfreiche In- ringfügig Beschäftigte.
tervention. (Beifall bei der F.D.P.)
Lieber Wolfgang Weng, der DEHOGA hat einen Die F.D.P. wird auch weiterhin für den Erhalt der
entsprechenden Vorschlag zur besseren und klare- abgabenfreien Zuschläge für Sonntags-, Feiertags-
ren Definition des § 12 Gaststättengesetz vorgelegt. und Nachtarbeit kämpfen. Diese Zuschläge sind An-
Um nicht mißverstanden zu werden, Herr Kollege, erkennung und Anreiz für Leistungen zu atypischen
möchte ich hinzufügen: Das Ehrenamt ist gesell- Arbeitszeiten.
schaftlich gewünscht und verdient hohen Respekt; (Susanne Kastner [SPD]: Die hat die Regie
darin sind wir uns hoffentlich einig. Die Politik muß rung doch gekürzt!)
aber Prioritäten setzen. Es muß zwischen dem ehren-
amtlichen Engagement und der unternehmerischen - Haben wir nicht!
Tätigkeit, die Arbeitsplätze sichert und Steuern er-
Dies sollten wir als Politiker ausdrücklich anerken-
wirtschaftet, unterschieden werden.
nen.
Die Politik ist aufgefordert zu helfen, das bisherige Für das Protokoll: Beifall von allen Seiten des Hau-
Gegeneinander von gewerblicher Gastronomie und ses!
Vereinsgastronomie in ein konstruktives Miteinander
umzuwandeln. (Beifall bei der F.D.P. - Lachen bei der SPD)
Die F.D.P. ist für eine Flexibilisierung der Arbeits-
Wir brauchen Rahmenbedingungen für Modelle zeit wie auch für eine Liberalisierung der Laden-
der Kooperation zwischen Gastgewerbe und Verei- schlußzeiten.
-
nen, um den existenzbedrohenden Wettbewerbsver-
zerrungen ein Ende zu setzen. Im harten Wettbe- Zum Schluß darf ich für die F.D.P. das freiwillige
werb braucht das Gastgewerbe unternehmerische Umweltengagement des Gastgewerbes begrüßen.
Handlungsfreiheit, also die von Ihnen angespro- Vor allem das 40-Punkte-Programm des Gastgewer-
chene Deregulierung. Diese wird durch immer neue bes für eine umweltfreundliche Betriebsführung ist
Belastungen ständig weiter eingeengt. Der behördli- beispielhaft. Hier wird gezeigt, daß sich Umwelt-
chen Regelungswut muß Einhalt geboten werden. schutz auch betriebswirtschaftlich rechnet. Nicht nur
Gebote und Verbote, sondern auch marktwirtschaftli-
Vielleicht beachten Sie einen weiteren Punkt: Die che Anreize fördern umweltfreundliches Verhalten.
absolute Gewerbefreiheit - z. B. kein Sachkunde-
nachweis, kein Meisterbrief - führt zu einer sehr ho- Das Gastgewerbe ruft nicht nach mehr Subventio-
hen Fluktuation: Über 20 % - das sind fast 40 000 Be- nen, aber es braucht faire Rahmenbedingungen.
triebe - schließen jährlich. Das sind Zahlen, die uns Nach den zustimmenden Zurufen der SPD gehe ich
alarmieren müssen. davon aus, daß auch die Politiker der SPD - wie
selbstverständlich auch die der Koalition - dazu bei-
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Regulie tragen werden, gute Rahmenbedingungen für das
ren Sie doch mal!) Gastgewerbe zu schaffen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Die unter Abschreibungs- und Steueraspekten auf-
gelegten Hotel- und Immobilienfonds drohen die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
traditionellen mittelständischen Familienhotels zu
erdrücken; auch sie verzerren den Wettbewerb. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat
die Abgeordnete Halo Saibold.
( Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch)
Die Stadthotellerie leidet unter einer schranken- Halo Saibold (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr
losen Kapazitätsausweitung und kommt deswegen geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
nicht mehr auf ihre Kosten. Herren! Nachdem Sie, Herr Olderog, heute sehr vie-
1480 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Halo Saibold
len Gruppen usw. gedankt haben, möchte ich nicht tigten, sondern auch besonders nachteilig bei Krank-
versäumen, auch Ihnen einmal zu danken, weil Sie heit, Arbeitslosigkeit und im Alter aus. Es sei hier
doch einige Tatsachen richtig dargestellt haben. auch daran erinnert, daß wieder einmal vorrangig
Frauen durch diese ungeschützten Arbeitsverhält-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nisse betroffen sind.
Das Hotel- und Gaststättengewerbe ist nicht nur
eine wichtige Säule für den Fremdenverkehr, son- Eine Frage an Herrn Dr. Olderog und insbesondere
dern ist zu einem fast unverzichtbaren Bestandteil an Herrn Dr. Feldmann: Haben Sie und Ihre Fraktio-
des täglichen Lebens vieler Menschen, insbesondere nen schon einmal die Chancen der Ökosteuern ge-
in der Freizeit, geworden. Es ist mehr als nur ein Teil rade für diesen arbeitsintensiven Bereich überdacht?
der Wirtschaft; es ist ein Teil unserer Kultur. Wer geht Wenn man Energie und Rohstoffe verteuerte
nicht gern in einen Biergarten, in eine Kneipe oder in
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Die F.D.P. will
eine Weinstube?
keine neuen Steuern!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. - und damit unter Umständen die Lohnnebenkosten
Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wirtschaft senken könnte, dann wäre das gerade für den von
findet in der Wirtschaft statt!) Ihnen so hochgehaltenen Bereich sehr vorteilhaft.
Immer mehr Menschen schätzen ein gepflegtes Es- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Wir wollen
sen an einem angenehmen Ort der Begegnung. In keine neuen Steuern!)
keinem anderen Sektor spiegelt sich so deutlich die
Wirklichkeit unserer multikulturellen Gesellschaft - Eine Reform bedeutet immer eine Umschichtung;
wie in diesem Bereich. das kann ich Ihnen aber ein anderes Mal erklären.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Darüber kann
und bei der F.D.P.) man ja einmal reden!)
Das Flair eines Lokals oder eines Hotels hängt je- Wenn das Hotel- und Gaststättengewerbe in sei-
doch sehr stark von den dort Beschäftigten ab. nen Umweltschutzbemühungen unterstützt werden
Freundlichkeit und Gastlichkeit werden manchmal soll, dann reicht es nicht aus, eine Hochglanzbro-
vermißt, und nicht nur, wenn Kinder am Tisch sitzen. schüre mit fünfstelligen Beträgen durch die Bundes-
Gerade ausländischen Besuchern und Besucherin- regierung finanzieren zu lassen. Die Einsicht in die
nen fällt dies besonders unangenehm auf. Hier kann Rentabilität ökologischen Wirtschaftens ist bei vielen
die Politik zwar nicht direkt eingreifen; aber die Rah- Betreibern und Betreiberinnen längst vorhanden. Es
menbedingungen könnten einen positiven Einfluß müssen endlich Markteinführungsprogramme auf
nehmen. den Tisch, die dem Gewerbe die Möglichkeit geben,
(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Wie im Bundestag!) seine Umweltschutzgedanken auch praktisch umzu-
setzen. Dazu gehört die Förderung eines ökologisch
Die Beschäftigungsverhältnisse sind vielfach
- saiso- verantwortlichen Energieeinsatzes, wie z. B. die
nal und zeitlich begrenzt. Unzureichend bezahlte Kraft-Wärme-Koppelung.
- Wir brauchen ein 100 000
Vollerwerbsarbeitsplätze, miserable Unterbringung Dächer-Programm zur Nutzung der Sonnenenergie
und kaum zumutbare Arbeitsspitzen führen oft ge- und vieles mehr. Finanzielle Hilfestellungen zur Er-
nug zu Unzufriedenheit, zu Motivationsverlust und richtung eines zweiten Wasserkreislaufes oder zum
damit auch zu einer hohen Fluktuation. Erreichen eines Niedrigenergiehaus-Standards wä-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren ein wesentlicher Beitrag zur Ökologisierung des
sowie bei Abgeordneten der SPD - Ulrich Gewerbes.
Irmer [F.D.P.]: Wie im Bundestag!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
- Da ist die Fluktuation ja nicht so groß, wenn ich Sie sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
anschaue, Herr Irmer. SPD und der F.D.P.)
Die Praxis der von Ihnen gewünschten kurzfristi- Durch solche Maßnahmen würde nicht nur die Mit-
gen geringfügigen Beschäftigungen disqualifiziert welt geschont, sondern es würden Arbeitsplätze ge-
das Berufsbild im Hotel- und Gaststättenbereich, schaffen und Einkommen gesichert, was sich sicher-
(Beifall des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt] lich wiederum zum Vorteil des Hotel- und Gaststät-
tengewerbes auswirken würde.
[SPD])
so daß auf Grund unzureichender Arbeitsplatznach- Wenn in Ihrem Antrag wenige Zeilen weiter gefor-
frage dann vielfach ein Arbeitskräftemangel beklagt dert wird, daß die kommunalen Abgaben, wie z. B.
wird - eine Entwicklung, die Sie mit Ihrer Politik för- die Verpackungssteuer, abzulehnen sind, konterka-
dern. rieren Sie Ihre eigenen Forderungen nach betriebli-
chem Umweltschutz, es sei denn, Sie bezeichnen
Wir setzen uns dafür ein, daß die Sozialversiche- McDonald's als einen umweltfreundlichen Betrieb.
rungsfreiheit geringfügig Beschäftigter aufgehoben
wird, weil damit u. a. Vollzeitarbeitsplätze vernichtet (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Sie werden
werden. Zudem wirken sich diese Beschäftigungs- sicherlich zustimmen, daß man eine sorgfäl
verhältnisse nicht nur auf die Stimmung der Beschäf- tige Öko-Bilanz erstellen muß!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1481
Halo Saibold
Wenn ich schon beim Fast food angekommen bin, Dabei stieß ich auf die Tatsache, daß dieses subven-
möchte ich noch darauf hinweisen, daß die Förde- tionierte Restaurant ausgerechnet an einen amerika-
rung der Vermarktung von frischen Produkten aus nischen Konzern verpachtet ist. Da dies wohl noch
ökologischem Anbau eine Voraussetzung dafür immer so ist, denke ich, könnten Sie Ihre Mittel-
wäre, eine bessere Qualität der Angebotspalette zu standsfreundlichkeit unter Beweis stellen und für
erreichen. Veränderung sorgen.
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das ist ein sehr Ich danke für die Aufmerksamkeit.
guter Vorschlag, den wir teilweise bereits (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
umgesetzt haben!) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
- Sehr schön. Das ist sehr erfreulich. SPD, der F.D.P. und der PDS)
Ihre Forderung nach günstigeren Freizeitmöglich- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat
keiten für Familien finde ich natürlich unterstützens- der Abgeordnete Dr. Rössel.
wert. Aber wie soll dies denn in der Praxis aussehen?
Soll die Bundesregierung die Spielplätze finanzie-
ren? Oder wollen Sie spezielle Steuervergünstigun- Dr. Uwe-Jens Rudi Rössel (PDS): Herr Präsident!
gen, die dann doch wieder nur Einrichtungen wie Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der
z. B. Damp 2000 zugute kommen? Das kann es ja Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU- und
wohl nicht sein. der F.D.P.-Fraktion über Situation und Perspektive
des Gastgewerbes in Deutschland stellte die Bundes-
Eine kleine Maßnahme, die für Familien und Ju- regierung fest, daß dieses in seiner wirtschaftlichen
gendliche äußerst sinnvoll wäre, nämlich ein alkohol- Bedeutung noch vor solchen Sektoren wie der Land-
freies Getränk billiger anzubieten als alkoholische und Forstwirtschaft oder dem Bergbau rangiert.
Getränke, stieß auf erbitterten Widerstand der F.D.P..
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Die Große An
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Auf freiwilliger frage ist in der letzten Legislaturperiode un
Basis! Wir wollen es freiwillig!) tergegangen!)
- Ja. - Dagegen habe ich nichts.
Auch ein verstärkter Nichtraucherschutz findet bei Eine Million Beschäftigte im Hotel- und Gaststät-
Ihnen kein Gehör. Gott sei Dank machen viele Hotels tengewerbe, darunter ca. 300 000 ausländische
und Gaststätten hier bereits verantwortungsbewußt Bürgerinnen und Bürger, erwirtschaften nach Aus-
mit und tragen diesen Bedürfnissen von sich aus kunft des Deutschen Hotel- und Gaststättenverban-
Rechnung. des 1995 einen Umsatz von voraussichtlich
106 Milliarden DM.
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Auf freiwilliger
Basis! Selbstverständlich freiwillig! Ich bin (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das ist die Aus
Nichtraucher!) kunft der Bundesregierung!)
- Das ist in der Tat beeindruckend.
Es ist ein Trugschluß, wenn Sie meinen, daß die
Senkung der Gewerbeertragsteuer dem Hotel- und 88,4 % der insgesamt 209 000 Gaststättenbetriebe
Gaststättengewerbe zugute käme. liegen in einer Umsatzgröße unter 500 000 DM jähr-
lich, sind also Klein- und Kleinstunternehmer. Allein
(Susanne Kastner [SPD]: Das ist ein
schon wegen dieser geringen Umsätze steht so man-
Quatsch! - Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Wer
cher dieser Gastwirte oder Hoteliers ständig am Rand
hat denn das gesagt?)
der Existenz.
- Das steht in Ihrem Antrag. Diese Maßnahme be- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: So ist es!)
günstigt lediglich den Großbetrieb und nicht den
Mittelstand. Zudem müßte dann ehrlicherweise an- Es gibt wohl kaum eine andere Branche, in der der
gemerkt werden, daß Sie im Gegenzug eine Mehr- Konkurrenzkampf zwischen den Unternehmen so
wertsteuererhöhung planen. unmittelbar und so stetig auf die Beschäftigten wirkt
wie im Gastgewerbe.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch
falsch!) Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband
machte uns darauf aufmerksam, daß das Gastge-
Das ist ein wenig verbraucherfreundlicher Schritt, werbe selbst in Rezessionszeiten kontinuierlich über-
der letztendlich auch zu Lasten des Gastgewerbes durchschnittlich viele Lehrlinge ausbildet. Seit Jah-
gehen würde. ren sind es konstant um 60 000.
Zum Schluß habe ich noch eine Anregung für die (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr lobenswert!)
Koalitionsparteien. In der elften Legislaturperiode
habe ich des öfteren versucht, neben Veränderungen - Jawohl. - Nach Einschätzung der Gewerkschaft
auf dem Speiseplan der Kantine auch im Bundestags- Nahrung - Genuß - Gaststätten ist dies vor allem
restaurant Vollwertkost einzuführen. auch zum Ausgleich der überdurchschnittlichen
Fluktuation in dieser Branche notwendig. Unbe-
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das gibt es zahlte oder unterbezahlte Überstunden, ein hoher
doch heute!) Anteil von geringfügig Beschäftigten ohne Sozialver-
1482 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
sich mancherorts Hinterziehung von Arbeitgeberan- Bundesregierung mit gesetzlichen Regelungen Rech-
teilen für die Sozialversicherung mit Steuerhinterzie- nung tragen. Dazu machen wir Vorschläge.
hung. Wir meinen, auch hier liegt ein weites Betäti- Ich danke für die Aufmerksamkeit.
gungsfeld für die Bundesregierung.
(Beifall bei der PDS)
Bei allen konträren Auffassungen, meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren, über die Entwicklung in
den neuen Bundesländern sind sich wohl alle politi- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun
schen Strömungen einig: Was sich seit der Wende dem Kollegen Michael Jung das Wort.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1483
Michael Jung (Limburg) (CDU/CSU): Herr Präsi- Deshalb müssen wir uns die Frage stellen, wie wir
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kol- das gemeinsam ändern können. Ein Bereich, der
legen! Ich möchte gerne einige Schwerpunkte bei hierbei eine Rolle spielt, ist sicher die Frage der
der Debatte über dieses Thema bilden. Strukturierung der Deutschen Zentrale für Touris-
mus. Sie ist von uns gemeinsam beauftragt und im
Erster Schwerpunkt: Mittelstand. Wir haben ei- wesentlichen finanziert.
gentlich übereinstimmend über die Fraktionsgren- (Susanne Kastner [SPD]: Was hat das mit
zen hinweg gehört, daß das Gewerbe, über das wir der Gas tr onomie zu tun?)
heute abend diskutieren, mittelständisch geprägt ist.
85 % der Betriebe dieses Gewerbes haben bis zu fünf - Frau Kollegin, das ist ganz einfach. Wir sind uns
Beschäftigte. Die Frage, die wir uns in der Tat stellen doch darüber einig, daß Nachfrage nach Hotel- und
müssen - das sage ich als Mitglied der Regierungsko- Gastronomieleistungen von denjenigen, die nach
alition auch selbstkritisch -, lautet, ob wir überall Deutschland kommen, um hier Urlaub zu machen,
das, was für den Mittelstand und sein Überleben not- ausgelöst wird. Sie wissen von einer ganzen Reihe
wendig ist und gewesen wäre, auch getan haben. von Feriengebieten, daß dort der Rückgang der Zahl
ausländischer Touristen automatisch zu Nachfrage-
Von einigen Rednern ist schon so manches an Defi- rückgängen und damit in einigen Bereichen, die
ziten aufgezählt worden. Es ist von bürokratischen überwiegend von ausländischen Touristen leben, zu
Hemmnissen gesprochen worden, von den Schwie- Problemen in der mittelständischen Struktur führt.
rigkeiten, Arbeitsplätze zu besetzen, von ungünsti-
Das ist ganz einfach. Das mag vielleicht nicht für
gen Arbeitsbedingungen, die auch mit den Arbeits-
Unterfranken gelten, aber für andere Bereiche unse-
zeiten zusammenhängen. Dort wird zu Zeiten gear-
rer geographischen Landschaft sehr wohl.
beitet, wo andere gern ihre Freizeit genießen: abends
und am Wochenende. (Susanne Kastner [SPD]: Haben Sie schon
etwas von Würzburg gehört?)
Es gibt auch eine Reihe von finanziellen Proble-
men, Schwierigkeiten der Finanzierung, Fragen der - Da ich gebürtiger Würzburger bin, Frau Kollegin,
Kreditbedingungen und anderes mehr. Ich glaube, ist mir die Struktur dort sehr bekannt.
daß einer der Schwerpunkte unserer Politik in der Ich glaube, daß es eine der wichtigen Aufgaben für
Zukunft sein muß, hier mittelstandsfreundliche Kom- uns ist, zu überlegen, wie das Reiseland Deutschland
ponenten einzuführen und im Rahmen unserer Mög- ein positiveres Image im Ausland bekommen kann
lichkeiten dafür zu sorgen, daß die Strukturen, die und wie wir dafür sorgen können, daß sich dadurch
wir für sinnvoll und vernünftig halten, auch in Zu- das Zahlungsbilanzdefizit, das wir alle kennen, ver-
kunft bestehen. ringert.
(Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben ein Zahlungsbilanzdefizit von 70 Mil-
liarden DM, davon allein 50 Milliarden DM aus dem
Reiseverkehr. Die Bundesbürger geben 67 Milliarden
Meine Damen und Herren, auch da- haben wir in
DM bei Auslandsreisen aus. Wir erzielen nur
der Politik das eine oder andere gemacht, das eine
17 Milliarden DM Einnahmen durch Reisen von Aus-
Belastung darstellt. Wir müssen uns daher die Frage
ländern nach Deutschland.
stellen, ob das alles in jeder Facette so notwendig ist,
von den Fragebögen bis zu den Statistiken und vie- Das macht doch deutlich, daß das ein Feld der Be-
lerlei bürokratischen Hemmnissen bei Baugenehmi- tätigung für uns sein muß. Dafür ist die Deutsche
gungsverfahren, Erweiterungen und anderem mehr. Zentrale für Tourismus das Instrumentarium.
Wir müssen den Mittelstand als tragende Säule un- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wo ma
seres Systems nicht nur im wirtschaftlichen, sondern chen Sie Urlaub?)
auch im gesellschaftspolitischen Bereich besonders - Wissen Sie, ich habe einen so schönen Wahlkreis,
stützen, weil wir aus anderen Feldern der Politik wis- in den ich Sie gerne einmal einlade, Rheingau-Tau-
sen, daß leider auch durch unsere Entscheidungen nus-Limburg, daß ich einen Urlaub woanders gar
die Mittelstandskomponenten nicht mehr die tragen- nicht nötig habe.
den Komponenten sind, sondern sich andere Struktu-
ren ergeben haben. Wir wollen eine solche Entwick- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so
lung in diesem Bereich nicht haben. wie der Abg. Lisa Peters [F.D.P.])
Meine Damen und Herren, wir müssen dafür sor-
Das zweite, das ich erwähnen möchte, ist die Tat-
gen, daß die Auslandswerbung verstärkt wird. Da
sache, die uns allen zur Besorgnis Anlaß gibt, daß wir
sind wir auch nicht mit allem zufrieden und einver-
eine immer geringere Anzahl von ausländischen
standen, was bei der DZT geleistet wird. Wir brau-
Touristen in Deutschland haben. Wir hatten hier ei-
chen neue Strukturen, wir brauchen zusätzliche Gel-
nen Rückgang von über 10 % in den vergangenen
der von Anbietern in diesem Bereich, um im Ausland
Monaten und Jahren.
sinnvoll und positiv werben zu können.
(Susanne Kastner [SPD]: Das liegt nicht an (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Schon wieder
der Gastronomie!) neue Strukturen!)
1484 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun blik Deutschland verzeichnet für den Umsatz des
das Wort der Abgeordneten Brunhilde Irber. Gastgewerbes eine Stagnation seit 1984.
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Die Rezession
Brunhilde Irber (SPD): Herr Präsident! Meine sehr bleibt nicht folgenlos!)
verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen Die Zahl der Übernachtungen im Beherbergungs-
und Kollegen! Inhaltlich ist der vorgelegte Antrag ein
gewerbe ist in den letzten 24 Monaten deutlich rück-
reiner Schaufensterantrag. läufig. Sie haben vollkommen recht, wenn Sie schrei-
(Beifall bei der SPD - Dr. Olaf Feldmann ben, daß sich die kleineren und mittleren Betriebe ei-
[F.D.P.]: Aber, aber! So fängt man doch nem immer härteren internationalen Wettbewerb
keine Jungfernrede an!) ausgesetzt sehen. Auch dies zeigt die Statistik.
Er läßt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen: Die Anzahl der Betriebe im Bundesgebiet ist von
Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit et- 45 846 im Jahr 1992 zurückgegangen auf 44 612 in
was für das deutsche Hotel- und Gaststättengewerbe 1993. Trotz des Rückgangs der Zahl der geöffneten
getan, Betriebe ist die Zahl der angebotenen Betten leicht
angestiegen von 1 787 000 auf 1 795 000. Das heißt:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Es gibt eine stetige Entwicklung hin zu größeren Be-
Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Sehr richtig! Das trieben, also eine Entwicklung zur Konzentration des
ist doch schon etwas!) Angebots.
und der Deutsche Bundestag fordert sie nun auf, das (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das ist leider
weiterhin zu tun. richtig!)
Aber ich will mich ernsthaft mit Ihrer Vorlage aus- Liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu finden wir
einandersetzen. Meine sehr verehrten Damen und aber in Ihrem Antrag überhaupt keine Hinweise und
Herren der Regierungskoalition, Sie listen 13 For- auch keine Handlungsvorschläge für die Bundesre-
derungen auf, gierung.
(Zuruf von der CDU/CSU: 12!) (Beifall bei der SPD - Dr. Olaf Feldmann
[F.D.P.]: Wir können doch nicht alles regeln!)
die wir hier beschließen sollen. Nach keiner einzigen
Hingegen finden wir nur die Festschreibung be-
Forderung soll der Handlungsrahmen, den die Bun-
stehender Schieflagen.
desregierung bislang nutzt, erweitert oder verändert
werden. Dies ist ein Antrag, der vollständig die be- Aber ich will mich mit Ihren Forderungen im Detail
stehende Politik der Bundesregierung gutheißt. auseinandersetzen. Als erstes fordern Sie, die Bun-
Warum also überhaupt solch ein Antrag? desregierung möge den Förderungskatalog beibe-
halten. Dies hätten Sie sich sparen können, wenn Sie
(Beifall bei der SPD - Susanne Kastner das Eigenkapitalhilfeprogramm, das zum Jahres-
[SPD]: Luftnummer!) ende auslaufen wird, verlängert hätten.
-
Ich glaube, dieser Antrag verfolgt den alleinigen (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das wird ja ge
Zweck, alle künftigen Anträge der Opposition von macht!)
vornherein auf ein Abstellgleis zu schieben.
In Ihren Koalitionsvereinbarungen haben Sie sich
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Sie brauchen ja ja auch schon darauf verständigt. Dann machen Sie
nur unseren zu unterstützen, dann ist alles das doch! Die Betroffenen brauchen die Sicherheit.
klar!) Verschieben Sie also die Verlängerung nicht auf den
letzten Drücker!
Wenn wir in Zukunft zur besonderen Situation des
Hotel- und Gaststättengewerbes einen Antrag vorle- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Machen wir
gen wollen, so wird man ihn formal auf Grund dieses doch auch!)
beschlossenen Antrags abweisen können.
Oder bezweifeln Sie doch noch den Sinn der Sache?
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Wir haben vor (Beifall bei der SPD - Dr. Olaf Feldmann
her viele gemeinesame Anträge gemacht!) [F.D.P.]: Der Staatssekretär wird Ihnen die
Wenn dieser Antrag also genauso wie vorgelegt Antwort geben!)
verabschiedet wird, dann ist das Thema für unsere Gemäß der vierten Forderung soll die Einführung
weiteren Beratungen erschöpft, und das fände ich eines Reservierungssystems für die mittelständische
natürlich schade. Hotellerie unterstützt werden. Hilfreicher wäre es ge-
(Beifall bei der SPD) wesen, wenn Sie hier dargestellt hätten, wie dieses
Reservierungssystem aussehen soll, damit es in die
Aber ist es denn wirklich so, daß eine Änderung heutige Landschaft paßt.
der Politik der Bundesregierung nicht notwendig
(Beifall bei der SPD)
wäre? Ein Blick in die Statistik ist hilfreich und hätte
auch Ihnen, Herr Dr. Olderog, aufgezeigt, daß es auf Dann hätten Sie auch die Bundesregierung auffor-
keinen Fall so weitergehen darf wie bislang prakti- dern können, gezielt an den bisherigen Schwach-
ziert. Das Statistische Jahrbuch für die Bundesrepu- punkten tätig zu werden.
1486 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Brunhilde Irber
Als nächstes fordern Sie die Bundesregierung auf, Oder ist es der eingetragene Verein: die Feuerwehr,
auch weiterhin wirkungsvoll - das mögen Sie beson- der Schützenverein?
ders: weiterhin wirkungsvoll -
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Frau Kollegin,
(Heiterkeit bei der SPD) es hat etwas mit § 12 Gaststättengesetz zu
tun!)
die mittelständischen Gaststättenbetriebe bei der
Auslandswerbung durch die Deutsche Zentrale für - Das weiß ich. Ich habe schon hinter und vor der
Tourismus zu unterstützen. Die DZT ist ein eingetra- Theke gestanden, als Vereinsvorsitzende und als
gener Verein, also ein Zuwendungsempfänger. Die Wirtin. Ich weiß schon, wovon ich rede. -
Forderung soll dann doch wohl eher heißen, die Bun- (Beifall bei der SPD und der PDS sowie des
desregierung solle die DZT weiterhin großzügig fi- Abg. Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.])
nanzieren, ohne auf ihre Zielsetzung maßgeblich
Einfluß zu haben. Oder meinen Sie den Verein, der steuerlich als ge-
meinnützig anerkannt ist und am Rande seiner Mit-
(Zuruf von der SPD: Der Verdacht liegt gliederversammlung zur Finanzierung seines ge-
nahe!) meinnützigen Zweckes Getränke verkauft? Wollen
Sie hier die Gemeinnützigkeit aushebeln und diesen
Gleich im nächsten Satz, fordern Sie dann aber, daß
Bereich für die Steuerabschöpfung erfassen? Sagen
sich das Gewerbe selbst finanziell stärker an der
Sie das den Vereinen so?
Werbung beteiligen soll. Soll also dann die Bundesre-
gierung ihre Unterstützung in dem Maße zurückfah- Des weiteren wollen Sie die Sozialversicherungs-
ren, in dem sich das Gewerbe finanziell selbst betei- freiheit für geringfügig Beschäftigte erhalten. Ha-
ligt? ben Sie sich einmal Gedanken darüber gemacht, daß
Sie mit der Propagierung dieser Sozialversicherungs-
Als nächstes regen Sie eine zentrale Stelle zur freiheit die zukünftigen Sozialfälle im Alter schaffen?
Koordinierung der verschiedenen Werbeaktivitäten
an, also noch eine Organisation, die auch wieder (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Geld kosten würde. GRÜNEN und der PDS)
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Es geht nur um Vor allem wird dadurch die Altersarmut von Frauen
die Koordinierung!) von morgen vorprogrammiert.
Dieser Punkt in Ihrem Forderungskatalog ist in sich (Beifall bei der SPD)
nicht schlüssig. Ich könnte Ihnen Beispiele en masse aus Niederbay-
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Aber es ist gut, ern nennen. Was Sie dort in viereinhalb dürftigen
daß Sie das so genau gelesen haben!) Zeilen beschrieben haben, trifft das Problem in kei-
ner Weise.
Dann kommt es aber ganz dick: Die Fremdenver-
kehrsdebatte als Vehikel für eine Unternehmen- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Keiner will den
steuerreform und für die Forderung nach Abschaf- Mißbrauch!)
fung der Gewerbekapitalsteuer zu benutzen, das ist Wir sind für die generelle Einführung der Versiche-
nicht recht ernst zu nehmen. rungspflicht. Wenn diese Regelung allgemein gültig
ist, bestehen auch für das Gastgewerbe keine Wett-
(Beifall bei der SPD und der PDS) bewerbsnachteile.
Wenn Sie gegen kommunale Abgaben wettern, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
frage ich mich: Kennen Sie denn das Kasseler Urteil GRÜNEN und der PDS)
nicht? In einem Antrag der Union und der F.D.P. im
Zusammenhang mit dem Wettbewerb den Begriff Was soll denn Ihre sibyllinische Formulierung in
„fair" zu finden eröffnet für mich ein völlig neues der nächsten Forderung, die vorhandenen Regelun-
Politikfeeling. Der unlautere Wettbewerb ist gesetz- gen des Arbeitsförderungsgesetzes zu nutzen? - In
lich erfaßt. Treten Sie denn neuerdings für eine den Fällen eines prekären Arbeitskräftemangels,
Erweiterung der Menschenrechtsdebatte auf den wenn Arbeitgeber also händeringend nach Mitarbei-
wirtschaftlichen Wettbewerb ein? tern suchen, wollen Sie die Arbeitsförderungsgesetze
heranziehen? Sie meinen doch wohl: Die Zumutbar-
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der keitsregelung bei Arbeitslosen soll überprüft wer-
PDS) den. Was haben Sie hier für Geschichten vor? Einen
deftigen bayerischen Ausdruck dafür ersparen Sie
Im nächsten Punkt fordern Sie, die Schwarzgastro- mir bitte an dieser Stelle. Schreiben Sie deutlich und
nomie wirkungsvoll einzudämmen. Wie das gesche- verständlich in Ihren Antrag, was Sie überhaupt wol-
hen soll, schreiben Sie in Ihrem Antrag aber nicht. len.
Und überhaupt: Was ist in Ihrem Sprachgebrauch
Schwarzgastronomie? Meinen Sie damit die CSU- Ihr vorletzter Punkt, Deregulierung, ist in Ord-
Gastronomie in Bayern? nung.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dein (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Wenigstens ein
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Lichtblick!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1487
Brunhilde Irber
Abbau von Bürokratie ist immer gut. Hier stellt sich terstützung der DEHOGA in ihrem eifrigen Bestre-
aber wieder die Frage: Welche Regelungen wollen ben, umweltfreundlichen Betrieben Hilfe zu gewäh-
Sie denn einschränken oder aufheben, und was soll ren.
an deren Stelle treten? Hierzu finden sich leider in
Ihrer Vorlage keine Hinweise. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Olaf Feld
Zu guter Letzt: das Subsidiaritätsprinzip. Auch mann [F.D.P.] - Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]:
das ist immer gut, vor allem, wenn es so allgemein Da sind wir uns wieder einig!)
gehalten ist wie in Ihrem Antrag.
Außerdem frage ich Sie: Wie sieht eine Steuerhar-
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dem monisierung zugunsten des mittelständischen Ge-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) werbes aus? Wie werden die Steuerausfälle kompen-
siert, die durch Abschaffung der Gewerbekapital-
Welcher Regelungsvorgang der Europäischen Union steuer und durch Absenkung der Gewerbeertrag-
stößt denn auf Ihr Mißfallen? Welche Regelung steuer entstehen?
könnte denn besser auf regionaler oder lokaler
Ebene individuell entschieden werden? (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Kommunale
Steuerreform!)
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Zum Beispiel Wie wollen Sie die gewünschte gemeinnützige
bei der Pauschalreisegesetzgebung!) Schwarzmarktgastronomie von der unerwünschten
wirkungsvoll trennen, ohne die Vereine und die Dorf-
Ihre Forderung enthält lediglich dieselbe Aussage,
gastronomie gegenseitig auszuspielen?
die die Bundesregierung bereits in der Antwort auf
die Große Anfrage, Drucksache 12/8489, gemacht Wenn Sie dann noch eine Deregulierungsverord-
hat. Also, auch hier nichts Neues. nung vorlegen können, dann macht die Diskussion
um Ihren Antrag Sinn. Wenn Sie diese Fragen nicht
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Sie wol- beantworten können, dann ziehen Sie doch bitte Ih-
len also diesen Antrag ernsthaft in das Beratungsver- ren Antrag zurück; denn er bringt dem Hotel- und
fahren des Fremdenverkehrsausschusses einbringen. Gaststättengewerbe so überhaupt nichts.
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: So ist es!) (Beifall bei der SPD)
Ulrich Schmalz
Ausgezeichnet war Ihre intensive Befassung mit nomie und in der Hotellerie eine Qualifizierungsof-
dem Antrag der Koalitionsfraktionen. Das heißt, die- fensive; denn nur wirkliche Unternehmer - nicht
ser Antrag muß substantiell eine erhebliche Bedeu- Leute, die nur eine Kneipe führen - sind auch in der
tung haben; sonst hätten Sie sich nicht so ausführlich Lage, sich nach den Usancen des Marktes, des Wett-
mit ihm befaßt. bewerbs zu bewegen. Das heißt, wir brauchen prä-
ventiv eine Qualifizierungsoffensive.
(Zuruf von der SPD: Das müssen wir ja!)
Wir brauchen aber auch eine Nachqualifizierungs-
Meine Damen und Herren, wer einmal einem Auf- offensive; denn auch in dieser Branche gelten Ge-
sichtsrat einer lokalen Bank angehört hat, der weiß, setzmäßigkeiten. Nicht: Die Großen fressen die Klei-
daß es kaum eine Branche gibt wie das Hotel- und nen, sondern: Die Langsamen werden von den
Gaststättengewerbe, in der eine so grausige Bilanz Schnellen gefressen. Das heißt, nur derjenige, der
vorherrscht. Das Eigenkapital in der Hotellerie, in
wirklich Unternehmer ist, hat in dieser Branche eine
der Gastronomie steht in vielen Fällen auf der fal- Chance.
schen Seite. Wir haben einmal das Wort „Minus-
wachstum" gehabt. Hier ist es das „Minuskapital", Wir erleben eine ganz beachtliche Veränderung
das die Branche kennzeichnet. der Strukturen. Wir erleben - wie in fast allen Bran-
chen - eine Segmentierung der Märkte, in der Ga-
Das führt natürlich auch dazu, daß die Banken bei
stronomie am konsequentesten von der Systemga-
Kreditgewährungen eine ungewöhnliche Zurückhal-
stronomie angewandt. Denken Sie an die Abteilung
tung an den Tag legen. - Ich will hier keine Kritik an
„Burger". Dort setzt man auf standardisierte Pro-
den Banken üben; denn die Banken sind Treuhänder
dukte und auf konsequentes Marketing. Das gleiche
von Kundeneinlagen. - Bilanzen werden bekanntlich
gilt für die Ketten der Hotellerie. Auch dort gibt es
herangezogen, wenn Kredite gewährt werden. Wenn
eine Standardisierung der Produkte, Marketing und
die Bilanzen eben ausweisen, daß es keine Ertrags-
Verkaufssteuerung.
kraft, sondern ein „Minuskapital" gibt, dann fördert
das nicht die Bonität. Das führt am Ende zu mangeln- In der privaten Hotellerie gibt es Ansätze von Ko-
der Investitionsfähigkeit. Es gibt eine Statistik, die operation. Denken Sie an „Romantik-Hotels", „Ring
zeigt, daß die Gastronomen am unteren Ende der Hotels". Aber das beschränkt sich im wesentlichen
Einkommensskala liegen. auf Marketingmaßnahmen. Ich glaube deshalb, daß
es richtig und gut ist, wenn wir auch mit materieller
Es gibt noch eine interessante und betrübliche
Unterstützung dazu kämen, daß im Rahmen dieser
Feststellung, nämlich daß die Gastronomen der Be-
Hotelkooperationen ständig Betriebsvergleiche
rufsstand mit der geringsten Lebenserwartung sind.
möglich sind, daß sich die Hotels mit Instrumenten
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Weil sie zuviel wie bei DER-Data, also bei den Reisebüros, bei de-
schaffen!) nen es monatlich Betriebsvergleiche gibt, der Selbst-
kontrolle stellen können, daß sie feststellen können,
- In der Tat, Herr Kollege Feldmann. Sie haben ja - wo Abweichungen sind und wo ein Gegensteuern
das zeichnet Sie aus - auf dem Gebiet der Gastrono- notwendig ist.
mie durchaus beachtliche Kompetenz. -
Wir brauchen auch ein besseres Binnenmarketing.
Wir haben es in der Gastronomie mit einer hohen Jede geschlossene Gaststätte ist ein Stück Kulturver-
Fluktuation zu tun. Wir haben ein hohes Maß an Be- lust.
triebsaufgaben. Das führt zu mangelnder Kontinuität
in der Leistung. Es macht keinen Sinn, sich daran zu (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Richtig!)
berauschen, daß in diesem Bereich eine Million Be-
Ich glaube auch, daß wir an die Gemeinden appellie-
schäftigte tätig sind. Vielmehr müssen wir hier und
ren müssen, etwas weniger im Bereich der Para-Ga-
heute die Situation ungeschminkt beschreiben;
stronomie zu investieren. Ich glaube, es macht kei-
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Sehr richtig!) nen Sinn, daß wir auf der einen Seite das Sterben
von Gaststätten beklagen und daß die Gemeinden
denn nur dann, wenn wir uns wirklich realistisch und auf der anderen Seite Bürgerhäuser und Dorfgemein-
ungeschminkt mit der Situation beschäftigen, sind schaftshäuser errichten und damit mit ungleichen
wir in der Lage, auch die richtigen Therapien anzu- Mitteln zum Wettbewerber für die dörfliche Gastro-
wenden, die zu einer Gesundung beitragen können. nomie werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: So ein
Der sehr sympathische und von mir hochgeschätzte Quatsch!)
Kollege Heiner Geißler würde in solchen Fällen im Binnenmarketing heißt auch, die Gaststätte wieder
Zweifel dazu raten, ein Gaststättensicherungsgesetz als Kommunikationsstätte zu sehen. Stammtisch,
zu verabschieden und anschließend einen Gaststät- liebe Freunde, hat auch eine Sozialfunktion. Wer
tenbedarfsplan aufzustellen. wollte das leugnen?
In der Wirtschaft haben wir in der Regel andere (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so
Möglichkeiten, Ursachenforschung zu betreiben. Ur- wie bei Abgeordneten der SPD)
sache Nummer eins ist aus meiner Sicht die Tatsache,
daß der Zugang zum Gewerbe ohne besonderen Meine Damen und Herren, Urlaub ist kein saiso-
Qualifizierungsnachweis möglich ist. Deshalb ist nales Produkt mehr. Die Zeiten, in denen zwei-, drei-
meine erste Forderung: Wir brauchen in der Gastro- mal im Jahr Urlaub genommen wurde, sind vorbei.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1489
Ulrich Schmalz
Urlaub erstreckt sich heute über das ganze Jahr. Das Ulrich Schmalz (CDU/CSU): Ich möchte dies in al-
heißt, wir haben Urlaubsansprüche, die über das ler Kürze tun, Herr Präsident, weil an der Bundesre-
ganze Jahr befriedigt werden. Das bedeutet, daß wir gierung nicht sehr langatmig Kritik geübt werden
in der Infrastruktur auch Maßnahmen ergreifen müs- kann. - In den letzten vier Jahren, in denen es erst-
sen, damit eine Saisonverlängerung stattfindet, da- mals einen Vollausschuß Fremdenverkehr im Bun-
mit die Betriebe ganzjährig - ungeachtet der Wetter- destag gegeben hat, war der Bundeswirtschaftsmi-
situation - Urlaub anbieten können. nister nicht einmal in diesem Ausschuß.
Lassen Sie mich noch wenige Sätze zu der heute (Beifall bei der SPD)
mehrfach erwähnten Tatsache sagen, daß wir einen
Bei aller Wertschätzung für unseren Kollegen und
real sinkenden Ausländerreiseanteil haben. Es ist
Parlamentarischen Staatssekretär Kolb, der jetzt
schon gesagt worden: 63 Milliarden DM für Aus-
landsurlaub, 17 Milliarden aus dem Incoming. Das noch eine besondere Erhöhung erfahren hat, weil er
zum Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung
heißt, wir haben ein beträchtliches Leistungsbilanz-
ernannt worden ist: Eine Branche mit 1 Million Be-
defizit, das im wesentlichen aus dieser Differenz
schäftigten und 100 Milliarden Umsatz verdient es,
herrührt. Es ist schon ein kleines Wunder, daß die D-
daß der Bundeswirtschaftsminister diesem Ausschuß
Mark immer noch so stabil ist.
auch einmal persönlich seine Aufwartung macht.
Ich möchte noch eine andere Anregung geben. Wir
Vielen Dank.
haben über die DZT gesprochen. Die deutsche Wirt-
schaft errichtet zur Zeit in einer ganzen Reihe von (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so
Ländern, in einer ganzen Reihe von Städten soge- wie bei Abgeordneten der SPD)
nannte Deutsche Häuser. Denken Sie an Shanghai,
denken Sie an Singapur, an Japan. Ich glaube, daß
es Sinn macht, wenn in den Deutschen Häusern auch Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun erteile ich
eine Filiale der DZT ihren Sitz hat, um ein gebündel- dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundes-
tes Leistungsangebot zu erbringen. minister für Wirtschaft, unserem Kollegen Kolb, das
Wort.
Meine Damen und Herren, Deutschland sollte in
seiner Werbung auch seine Events einbringen, seine
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun-
Möglichkeiten, die sich aus unserer Geschichte, aus
desminister für Wirtschaft: Herr Präsident! Liebe Kol-
unserem kulturellen Angebot ergeben. Denken Sie
leginnen und Kollegen! Ich muß Ihnen zu Beginn
daran, daß 1999 Goethes 250. Geburtstag ist. Warum
meiner Rede sagen, daß die Kollegen von der Koali-
können wir uns nicht entschließen, unsere Dichter,
tion ihren eigenen Antrag umfassend gewürdigt ha-
unsere Denker auch ein bißchen im positiven Sinne
ben. Daher braucht es nur wenig Zeit, dieses jetzt
für Werbung für Deutschland einzuspannen? Das
aus der Sicht der Bundesregierung zu tun.
sind Werbeträger! Ein Goethe-Jahr in Deutschland
könnte für uns eine beträchtliche Verbesserung der (Zuruf von der F.D.P.: Der Antrag spricht für
Reiseströme, gerade auch aus dem Ausland, bringen. sich selbst!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der-F.D.P.) Ich bitte um Nachsicht, wenn ich mich, auch mit
Blick auf die fortgeschrittene Tages- und Debatten-
Wir brauchen auch, meine Damen und Herren,
zeit, kurzfassen muß.
eine europäische Initiative - ich rede in voller Kennt-
nis der Probleme -, nicht eine Mär Europas mit Blick Frau Kollegin Irber, das Kompliment möchte ich Ih-
auf Fremdenverkehrsmaßnahmen. Ich glaube, daß es nen doch noch machen: Ihr Vortrag war wirklich er-
Sinn macht, daß wir uns in Europa so etwas wie die frischend, auch wenn ich ihm inhaltlich in weiten
PATA zulegen. Das ist eine Organisation, die im pazi- Teilen nicht zustimme. Aber richtig war Ihr Satz: Die
fischen Raum Urlaub begünstigt veranstaltet. Europa Bundesregierung hat etwas für die Branche getan. -
partizipiert zur Zeit unterschiedlich an den weltwei- Das kann ich nur voll und ganz unterstreichen.
ten Reiseströmen. Deshalb macht es Sinn, auch ein-
mal darüber nachzudenken. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, wir brauchen insge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Tatsache, daß
samt mehr Bewußtsein für die ökonomische Bedeu- sich der Deutsche Bundestag heute ausführlich mit
tung dieser Branche. Diese Branche hat auch im ge- der Situation im deutschen Hotel- und Gaststerbege-
samtwirtschaftlichen Maßstab eine erhebliche Be- werbe
deutung. (Große Heiterkeit)
Lassen Sie mich an dieser Stelle - das ist für ein - Entschuldigung, Gaststättengewerbe - befaßt, be-
Mitglied der Koalitionsfraktionen sicherlich ein un- weist den hohen Stellenwert, den das Parlament die-
gewöhnlicher Vorgang - auch ein Wort der Kritik an ser Schlüsselbranche des Fremdenverkehrs in
die Bundesregierung sagen, meine Damen und Her- Deutschland zu Recht beimißt. Ich denke, daß sicher-
ren. lich auch - -
(Fortgesetzte Heiterkeit)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Trotzdem, Herr
Kollege, müssen Sie mit Ihrer Rede nun zum Schluß - Ich bitte um Auszeit, Herr Präsident. Das Parlament
kommen. ist nicht ernst genug.
1490 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Kapazitäten sind stark angestiegen, und die Nach-
hier gilt der alte Satz: Ein guter Redner findet sein frage schrumpft, nicht zuletzt auch deshalb, weil die
Publikum. Nachfrage des Auslandes in den vergangenen Jah-
ren enorm abgenommen hat.
(Heiterkeit)
(Marion Caspers-Merk [SPD]: Warum wohl?
- Susanne Kastner [SPD]: Müssen wir doch
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- noch einmal mit der DZT sprechen?)
desminister für Wirtschaft: Das ist sicherlich richtig,
Herr Präsident. Wenn aber der Redner zum Lachen Als Ergebnis dieser Entwicklung befindet sich diese
gebracht wird, Branche wie auch andere Wirtschaftssektoren in ei-
nem tiefgreifenden Strukturwandel. Ich bin aber si-
(Erneute Heiterkeit) cher, daß der sich vollziehende Strukturwandel ins-
ist das natürlich sehr schwer. gesamt zu höherer Leistungs- und damit auch Wett-
bewerbsfähigkeit des deutschen Hotel- und Gaststät-
tengewerbes führen wird. Immer mehr Betriebe
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Da haben Sie schließen sich in Marketingkooperationen und Hotel-
schon recht. ketten zusammen, um das eigene Angebot transpa-
renter vermarkten zu können.
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- (Susanne Kastner [SPD]: Das ist dann der
desminister für Wirtschaft: Ich meine, daß die wirt- Mittelstand!)
schaftliche Bedeutung dieser Branche hier zu Recht
gewürdigt wird. Ich muß ganz deutlich sagen, Frau Kollegin: Nach
meinem Verständnis und auch dem der Bundesregie-
Ich möchte, weil dies heute abend noch nicht ge- rung sollte man keine Schutzzäune um überholte,
schehen ist, in dieser Debatte feststellen, daß der Ge- nicht mehr wettbewerbsfähige Strukturen ziehen.
schäftsverlauf im deutschen Hotel- und Gaststätten- Das wäre sicherlich auch für die Branche nicht gut.
gewerbe zunehmend positiv wird. Nach einer Um- Es geht vielmehr darum, daß wir dem Hotel- und
frage des Deutschen Industrie- und Handelstages bei Gaststättengewerbe bei der Bewältigung des Struk-
mehr als 4 000 Unternehmen gehen derzeit mehr als turwandels helfen. Das wollen wir sehr gerne tun.
drei Viertel der Unternehmen davon aus, daß der Ge-
schäftsverlauf vom Frühjahr an zumindest gleichblei- (Susanne Kastner [SPD]: Wenn Sie noch sa
ben oder sich sogar noch verbessern wird. Für diese en, wie, sind wir zu Gesprächen bereit!)
realistische Einschätzung spricht auch die Tatsache, Zu den Förderungen zähle ich in erster Linie die
daß mehr als 70 % der Betriebe Investitionen in die Zuschüsse im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe
Zukunft planen. „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur",
Auf die wirtschaftliche Bedeutung, die 1 Million das Eigenkapitalhilfeprogramm
--g
Beschäftigten und die 100 Milliarden Umsatz, ist hier
(Susanne Kastner [SPD]: Das haben Sie
schon hingewiesen worden. Ich möchte nur noch be-
schon einmal gesagt! - Marion Caspers
tonen, daß gerade auch in den neuen Ländern spür-
Merk [SPD]: Das wird durch Wiederholen
bare Hilfen von Bund und Ländern dafür sorgen, daß nicht mehr!)
das Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe einen
vorderen Platz beim wirtschaftlichen Aufbau ein- und die zinsgünstigen ERP-Darlehen. - Zahlen habe
nimmt. So wurden u. a. im Rahmen des Eigenkapital- ich hier schon genannt. - Dazu zähle ich weiter die
hilfeprogramms 1994 über 1 800 Unternehmen des Unterstützung im Rahmen der Deutschen Zentrale
Gastgewerbes mit 411 Millionen DM gefördert. Das für Tourismus, woran sich der Bund nach wie vor - er
sind immerhin 13,5 % der gesamten Kreditmittel; da- wird das auch in Zukunft tun - mit erheblichen Beträ-
mit ist dies ein deutlich über dem Anteil der Branche gen beteiligt.
am Bruttoinlandsprodukt liegender Prozentsatz.
(Susanne Kastner [SPD]: Da gucken wir
(Zuruf der Abg. Susanne Kastner [SPD] - noch einmal genau hin!)
Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Jetzt sagen Sie
der Frau Kastner auch noch, daß das Eigen Daß sich aber auch die Wirtschaft selbst, die Unter-
kapitalhilfeprogramm fortgesetzt wird!) nehmen der Branche, in Zukunft stärker engagieren
soll und muß, als das bisher der Fall gewesen ist, ist
- Frau Kollegin, ich glaube, wir haben uns darüber sicher keine unzulässige Bitte, kein unzulässiger
schon unterhalten. Ich bin in der Not, hier nur noch Hinweis.
zwei Minuten zur Verfügung zu haben. Es würde si-
cherlich mehr Zeit erfordern, darüber zu debattieren. Schließlich möchte ich noch sagen, daß ein flä-
Das werden wir in der nächsten Ausschußsitzung chendeckendes, einheitliches, vom Ausland her zu-
nachholen. gängliches Reservierungs- und Informationssystem
für Beherbergungsbetriebe auf der Tagesordnung
Ich möchte der Kollegin Irber insofern beipflichten, steht.
als sie zu Recht gesagt hat, daß die Branche unter ei-
nem verschärften Wettbewerbsdruck steht: Die Er- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Vorsicht vor
gebnisse stagnieren. Die Erlöse sind rückläufig. Die Dauersubventionen!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1491
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb
Wir, das Bundesministerium für Wirtschaft, haben Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
mit der touristischen Informationsnorm wesentliche Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwar
Vorarbeit geleistet. Ich bin zuversichtlich, daß mit steht die Fastnacht vor der Tür und damit auch die
German Soft in Kürze ein entsprechendes System zur Zeit der Kostümierung.
Verfügung stehen wird.
(Unruhe bei der SPD)
Es gäbe eine ganze Menge zu sagen zu vielen
Punkten, die im Koalitionsantrag richtig erwähnt
worden sind: z. B. die Revitalisierung der Innen- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Einen Augen-
städte und die Beibehaltung der Sozialversiche- blick, Herr Kollege! - Meine Kolleginnen und Kolle-
rungsfreiheit für geringfügig Beschäftigte, die wir gen von der SPD-Fraktion, ich bitte wirklich, die Ge-
richtig finden, damit den Klein- und Mittelbetrieben spräche nach draußen zu verlagern. Wir sind bereits
des Gastgewerbes die Möglichkeit zur Bewältigung beim nächsten Punkt der Tagesordnung. Wenn Sie
von Saison- und Auftragsspitzen erhalten bleibt. weiter stören, unterbreche ich die Sitzung.
Wir sind auch dafür - das möchte ich noch sagen, Herr Kollege, Sie haben das Wort.
bevor ich schließe -, daß es keine Tourismuskompe-
tenz in der europäischen Kommission geben soll.
Wir werden dies mit Blick auf das Subsidiaritätsprin- Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zip auch im nächsten Jahr auf der dann stattfinden- Trotz Fastnacht haben Sie es hier nicht mit einem A n
den Regierungskonferenz zur Revision des Vertrages -tragzun,deschwitmgrüneMäl-
von Maastricht deutlich machen. chen. Wenn die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN bei allen umweltrelevanten Entscheidungen im
Damit ist meine Redezeit leider abgelaufen. Ich Kabinett ein Vetorecht für die Ministerin für Um-
hätte gerne noch mehr zum Antrag gesagt. Ich be- welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit einfordert,
danke mich aber für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe, dann wollen wir weniger der Koalition einen Gefal-
daß Sie mein Versprecher von vorhin nicht zu sehr len tun als dazu beitragen, daß Umwelt- und Natur-
belustigt hat. schutz konsequent umgesetzt werden, praktisch als
Vielen Dank. überparteiliche Staatsaufgabe.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Bisher jedenfalls hat die Bundesregierung die Ein-
Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Vielen Dank für sicht vermissen lassen, daß die drängenden Umwelt-
den fröhlichen Beitrag! - Ulrich Irmer probleme auf allen Ebenen eine zentrale Herausfor-
[F.D.P.]: Wir freuen uns auf das nächste derung des Staates darstellen, ohne deren Bewälti-
Mal!) gung auch der Fortbestand des demokratischen Ge-
meinwesens einer modernen Gesellschaft gefährdet
ist. Trotzdem hat das Parlament in der letzten Legis-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe laturperiode - entgegen den Empfehlungen des
damit die Aussprache. Sachverständigenrates für Umweltfragen - eine
Staatszielbestimmung nur in Form eines bloßen Ge-
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
setzgebungsauftrags in das Grundgesetz aufgenom-
auf Drucksache 13/541 an die in der Tagesordnung
men. Art. 20a über den Schutz der natürlichen Le-
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe
bensgrundlagen sieht zwar die hohe Verantwortung,
keine weiteren Vorschläge. Ich sehe und höre keinen
für die künftigen Generationen die natürlichen Le-
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
bensgrundlagen zu schützen, dies jedoch nur nach
Maßgabe von Gesetz und Recht durch die Verwal-
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: tung und Rechtsprechung. Der Sachverständigenrat
sprach daher im letzten Umweltgutachten zu Recht
Beratung des Antrags des Abgeordneten von einer entscheidenden Schwächung der Staats-
Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion BÜND- zielbestimmung, die der fundamentalen Bedeutung
NIS 90/DIE GRÜNEN
des Umweltschutzes im Sinne einer dauerhaft um-
Widerspruchsrecht für die Bundesministerin weltgerechten Entwicklung nicht gerecht wird.
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit Heute - und dann später im Ausschuß - haben Sie
die seltene Gelegenheit, „im Rahmen der verfas-
- Drucksache 13/352 sungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung" -
—Überwisungvorschlag: wie es im Grundgesetz heißt - die Bundesregierung
aufzufordern, die fundamentale Bedeutung des Um-
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
weltschutzes in der Geschäftsordnung der Bundesre-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für gierung festzuschreiben, und zwar durch ein Wider-
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wo- spruchsrecht, das in Ausübung und Umfang dem des
bei die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zehn Finanzministers für Entscheidungen innerhalb des
Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Wi- Kabinetts entspricht. Denn was würde mehr von öko-
derspruch. Dann werden wir so verfahren. logischer Reife zeugen als eine Orientierung an ei-
nem dauerhaften, vorsorgenden Umweltschutz durch
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Ab- eine umweltpolitische Richtlinienkompetenz für die
geordnete Dr. Jürgen Rochlitz. Umweltministerin?
1492 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Meinrad Belle
kennt, weiß: Dies ist eine gewaltige Leistung von ein- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Es spricht nun
maliger historischer Bedeutung. Dafür gebührt den der Abgeordnete Rolf Köhne.
verantwortlichen Ministern, Klaus Töpfer und Angela
Merkel, unser aller Dank. Rolf Köhne (PDS): Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Wir müssen nicht nur mit den uns
Wir werden mit diesen umweltpolitischen Anstren-
anvertrauten Steuergeldern sparsam umgehen, son-
gungen auch in Zukunft nicht nachlassen. Das be-
dern auch mit der außermenschlichen Natur, den
weist doch auch der Haushalt des Umweltministeri -
vorgefundenen Rohstoffen und der Energie. Diese
ums - den Sie offenbar noch gar nicht gelesen haben,
Erkenntnis setzt sich ja glücklicherweise immer mehr
Herr Rochlitz -, der in diesem Jahr um deutlich mehr
durch. Es ist deshalb logisch, daß nicht nur der Fi-
als 6 % ansteigt und damit angesichts einer Steige-
nanzminister das Recht hat, zu sagen, was geht oder
rungsrate für den Gesamthaushalt von lediglich
was nicht geht, sondern auch die Umweltministerin.
0,9 % überproportional angehoben wird. Dieser
Haushalt ist eine ausgezeichnete Grundlage für un- Wir versprechen uns in dieser Legislaturperiode je-
sere nächsten Vorhaben. Dazu gehören z. B. die Ver- doch überhaupt nichts davon. Erst gestern kommen-
wirklichung der ehrgeizigen nationalen Klimaschutz- tierte die „Stuttgarter Zeitung" die 100-Tage-Bilanz
politik, die Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz, unserer Umweltministerin mit der Überschrift: „Die
die Schaffung des Bodenschutzgesetzes usw. ersten hundert Tage im Schatten des Kanzlers", und
das „Handelsblatt" schrieb: „Das Beispiel Flugben-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zin zeigt: Wer aktiv Umweltpolitik gestalten will, den
Meine Damen und Herren, diese Bilanz zeigt: Das bestraft der Kanzler mit einer Abmahnung."
Bundesumweltministerium ist ein starkes Ressort, Letzte Woche überraschte uns Frau Merkel mit ih-
rem Vorstoß zur Privatisierung der atomaren Endla-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ger. Sie will also nicht einmal gestalten; sie will den
in dessen Händen die Umweltpolitik wahrlich gut Einfluß von Bund, Ländern und insbesondere den
aufgehoben ist. Es ist erfolgreich, ohne über das von Betroffenen zugunsten der Profitinteressen der Ener-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nunmehr geforderte Wi- giekonzerne auf Null bringen.
derspruchsrecht im Kabinett zu verfügen. (Birgit Homburger [F.D.P.]: Billiger Quatsch!)
Auch für mich als Innenpolitiker - als Innenpoliti- - Ja natürlich.
ker spreche ich heute abend, Herr Rochlitz - ist die
Umweltpolitik im weitesten Sinne wirklich eine Auf- Allein um die Sicherung dieser Interessen wird es
gabe von besonderer, grundsätzlicher, herausragen- ihr auch bei den Energiekonsensgesprächen gehen.
der Bedeutung. Aber - das wollen wir doch nicht ver- Unsere Schlußfolgerung ist deshalb: Wichtiger als
kennen - daneben gibt es weitere äußerst wichtige ein Vetorecht der Umweltministerin ist ein Ein-
Bereiche, die unsere Bundesregierung im Rahmen spruchs- und Widerstandsrecht all derer, die sich für
ihrer Gesamtverantwortung nicht unberücksichtigt Umweltschutz engagieren und betroffen sind.
lassen kann. Stichworte wie „Sicherheit", „Woh-
nen", „Arbeitsplatz" mögen genügen. - Mit Recht (Birgit Homburger [F.D.P.]: Bei jeder Ent
würden andere Ressorts ähnliche Widerspruchs- scheidung des Kabinetts?)
rechte einfordern. Dies kann doch nicht im Sinne Nach der neuerlichen Castor-Weisung von Frau
einer ersprießlichen und auch sachgerechten, wir- Merkel wird es ohnehin Widerstand geben. Die Men-
kungsvollen Zusammenarbeit innerhalb des Kabi- schen in Niedersachsen wollen diese Zwischenlage-
netts sein. rung auf unbestimmte Zeit in einer Leichtmetallhalle
nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Zuruf von der CDU/CSU: Die Mehrheit
Auch aus diesem Grunde ist der Antrag von BÜND- schon!)
NIS 90/DIE GRÜNEN abzulehnen.
Frau Merkel, Gedankenspiele über eine Neuauf-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, theoretische Stil- lage eines Wiederaufbereitungsprojektes sind Spiele
übungen und Geschäftsordnungsakrobatik sind mit dem Feuer.
keine tauglichen Instrumente einer überzeugenden
Politik. Abgesehen davon kann es auch nicht Sache Abschließend möchte ich deshalb sagen: Wir ver-
des Parlaments sein, geschweige denn - ich sage trauen mehr auf die Aktivitäten von zahlreichen Bür-
dies ein bißchen augenzwinkernd, Herr Rochlitz; es gerinitiativen, die auch mehr Sachverstand aufwei-
ist demnächst Karneval - einer kleinen Oppositions- sen können, als auf ein Vetorecht der Umweltmi-
fraktion, der Regierung vorzuschreiben, wie sie sich nisterin.
zu organisieren hat. Das macht die Regierung schon Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
selber. Sie ist groß und schlau genug dazu.
(Beifall bei der PDS - Dr. Peter Paziorek
Wir lehnen daher den Antrag der Fraktion BÜND- [CDU/CSU]: Das habt ihr in eurer Zeit auch
NIS 90/DIE GRÜNEN entschieden ab. gemacht! Das ist der Stil eurer Partei!)
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich sehe und
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) höre nicht, daß es noch weitere Wortmeldungen gibt.
1498 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Stopp der Militär- und Wirtschaftshilfe an die Meine Damen und Herren, trotz alledem will die
Türkei sowie Vermittlung für eine politische Bundesregierung planmäßig weiter Waffen in die
Lösung in Kurdistan/Türkei Türkei liefern. Verteidigungsminister Rühe berich-
tete im Januar 1995 vor dem Verteidigungsausschuß,
- Drucksache 13/212 -
daß derzeit Rüstungsgüter im Wert von 52 Millionen
Überweisungsvorschlag: DM geliefert werden. Darunter befinden sich
Auswärtiger Ausschuß (federführend] 39 Bergpanzer, 70 Brückenlegepanzer, Ersatzteile für
Verteidigungsausschuß Kampfpanzer, Flugzeuge und anderes mehr. Es han-
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
delt sich hierbei um die erste Rate von noch offenen
ZP10 Beratung des Antrags der Abgeordneten An- 118,7 Millionen DM aus dem Materialhilfeabkom-
gelika Beer und der Fraktion BÜNDNIS 90/ men mit der Türkei.
DIE GRÜNEN
Insgesamt hat die Bundesregierung Waffen für
Politik der Bundesregierung gegenüber der 1,5 Milliarden DM zugesagt. Beispielsweise sollen
Türkei auf Grund einer Zusage des Bundeskanzlers vom
Sommer 1993 in diesem Jahr auch 150 Millionen DM
- Drucksache 13/538 -
zum Bau von Fregatten für die Türkei vom Bundestag
Überweisungsvorschlag: bewilligt werden - ein lukrativer Auftrag für Thys-
Auswärtiger Ausschuß (federführend) sen, Rheinstahl und die Hamburger Werft Blohm &
Verteidigungsausschuß Voss, wie überhaupt die deutsche Rüstungsindustrie
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
kräftig am Krieg der türkischen Regierung gegen die
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die kurdische Bevölkerung verdient. Etwa 700 deutsche
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und Rüstungsbetriebe produzieren heute militärisches
höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Material auf türkischem Boden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abge- Der schmutzige Krieg in den kurdischen Gebieten
ordnete Ulla Jelpke. - hat 2 000 Dörfer zerstört, über 3 Millionen Menschen
vertrieben und über 20 000 Menschen das Leben ge-
kostet. Hören Sie, die Sie zu meiner Rechten sitzen,
Ulla Jelpke (PDS): Herr Präsident! Meine Damen endlich auf, diesen Krieg weiter zu unterstützen und
und Herren! Nach jüngsten Berichten von Amnesty zu finanzieren!
International und dem Sonderberichterstatter der
UN-Menschenrechtskommission in Genf hat sich die (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne
Menschenrechtssituation in der Türkei dramatisch ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
verschlechtert. Das Verschwindenlassen von Men-
schen durch Sicherheitskräfte sei an der Tagesord- Zu Recht schreibt der kurdische Bundesverband
nung. Allein im vergangenen Jahr sind fast „Komkar":
400 Menschen politischen Morden seitens der Si- Mit über 70 Milliarden Dollar Auslandsverschul-
cherheitskräfte zum Opfer gefallen. Das sind zwan- dung, mit über 150prozentiger Inflationsrate, mit
zigmal mehr als 1991. Das Ausmaß der Folter ist er- einer Kriegsausgabe, die die Hälfte des Haushal-
schreckend. Auch würden die Foltermethoden weiter tes ausmacht, kann der türkische Staat diesen
perfektioniert, um keine Spuren z. B. bei Elektro- schmutzigen Krieg nicht mehr finanzieren.
schocks, Todesdrohungen, sexuellem Mißbrauch und
ähnlichem zu hinterlassen. Kritisiert wird in dem Be- Nehmen Sie endlich solche Menschen in der Tür-
richt auch die nahezu uneingeschränkte Straffreiheit kei ernst wie den Sprecher des mächtigen Arbeitge-
für Armee und Polizei. Amnesty appelliert an die Re- berverbandes „Tüsiad" und Vorsitzenden der neuge-
gierungen aller Länder, kein Kriegsgerät mehr an die gründeten türkischen Partei „Bewegung für neue
Türkei zu liefern. Demokratie", Cern Boyner, der mir übrigens anson-
sten politisch nicht besonders nahesteht. Im Rahmen
Natürlich ist mir bekannt, daß die türkische Mi- eines Auftritts in Diyarbakir sagte er:
nisterpräsidentin Ciller und der Parlamentspräsident
Cindoruk auf Grund wachsender Kritik an der Men- Die Politik der Leugnung der kurdischen Identi-
schenrechtssituation in der Türkei Reformen ange- tät ist am Ende. Die Türkei muß beginnen, über
kündigt haben. Ob und wie diese sogenannten De- die kurdische Frage zu reden. Zur Zeit reden wir
mokratisierungsprozesse tatsächlich auf den Weg ge- mit Waffen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1499
Ulla Jelpke
In einem heutigen „taz"-Interview mit Boyner ist funktion an, die die Türkei lange Jahrzehnte im Rah-
zu lesen, man habe es „sich zur Angewohnheit ge- men des NATO-Verbundes gespielt hat. Ich knüpfe
macht, die kurdische Frage nur unter dem PKK-Ge- an zweierlei Fragen an, die wichtig sind.
sichtspunkt zu sehen. Diese fehlerhafte Optik bringt
falsche Reflexe hervor." Der Ausnahmezustand Erstens. Wie und auf welche Weise können die Le-
müsse seiner Ansicht nach aufgehoben werden, die bensumstände aller in der Türkei wohnenden Men-
paramilitärischen Dorfschützer, die vom Staat für den schen verbessert werden, wie kann insbesondere der
Kampf gegen die PKK bezahlt würden, müßten abge- Konflikt mit den Kurden gelöst und damit verhindert
schafft werden, und den Kurden müsse man das werden, daß die Türkei an diesem Dauerproblem in-
volle Organisationsrecht einräumen. Das denke ich nerlich zerfällt und sich selbst destabilisiert bzw. sich
auch. aus der Partnerschaft mit Europa ausgrenzt?
Rudolf Bindig
Ein Programm und eine Tranche eines Lieferpro Ulla Jelpke (PDS): Herr Kollege Schmidt, ich ma-
grammes folgt der nächsten. Zunächst wurde die che Sie darauf aufmerksam, daß Sie offensichtlich
18. Tranche der NATO-Verteidigungshilfe 1992 bis die Begründung des Antrages nicht ganz richtig ge-
1994 abgewickelt. Es folgen die Materialhilfen im lesen haben. Es wird darin aus einem Gutachten in-
Rahmen des 1,5 Milliarden DM-Programmes und die terpretiert, das Norman Paech von der Universität
Lieferungen der Rüstungssonderhilfe II. Die zu ganz Hamburg erstellt hat zu den völkerrechtlichen Impli-
anderen Zeiten und ganz anderen Zwecken zuge- kationen der Verbotsverfügung des Bundesministeri-
sagten Lieferungen hätten bei der zunehmenden Ge- ums des Innern gegenüber kurdischen Vereinen und
walt in der Türkei und den schweren Menschen- Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland.
rechtsverletzungen nicht fortgeführt werden dürfen.
Ich denke, es ist legitim, daß vorhin der Satz ge-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE sagt wurde, daß die PKK, würden in der Türkei heute
GRÜNEN und der PDS) Wahlen stattfinden, einen hohen Stimmenanteil in
der kurdischen Bevölkerung erhalten würde. Das ha-
Aber selbst die Zusagen, nach der Abwicklung der ben auch bürgerliche Institute erforscht, das will man
vertraglich vereinbarten Lieferungen die verschiede- hier nur nicht zur Kenntnis nehmen.
nen Waffenlieferungsprogramme einzustellen, wer-
den nun nicht eingehalten. Für die Lieferung der so- Ich persönlich möchte Ihnen noch einmal ganz klar
genannten MEKO Fregatten sollen Finanzierungs- sagen: Ich bin sicher, daß kein Krieg auf der Welt
menschlich verläuft und daß von beiden Seiten Men-
-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Dann erteile ich der Kollegin Angelika Beer das
GRÜNEN und der PDS) Wort.
-
Auch für die Türkei wären die 150 Millionen DM in Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
anderen Bereichen gut anzulegen. Wir Sozialdemo- Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich
kraten setzen uns dafür ein, diese und weitere Be- möchte mit zwei Beispielen anfangen. Der türkische
träge in der Türkei für zivile Projekte zu verwenden, Schriftsteller Yasar Kemal hat vor kurzem dem
z. B. für den Ausbau der Infrastruktur in der Osttür- „Spiegel" ein Inte rview gegeben, in dem er sowohl
kei. die türkische als auch die deutsche Politik kritisiert
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hat. Gegen Yasar Kemal läuft heute ein Verfahren
DIE GRÜNEN) mit dem Vorwurf des Separatismus. Ihm droht eine
mehrjährige Haftstrafe.
Mit einem Teilbetrag könnten die Menschen- Ich füge ein Zitat an:
rechtsorganisationen in der Türkei gestärkt und un-
terstützt werden. Wir sind für eine Beendigung der Und während ich mit Ihnen spreche,
militärischen Hilfe für die Türkei, treten aber für eine
- nämlich mit dem „Stern", in dem es heute abge-
soziale, menschenrechtliche und gezielte wirtschaft-
druckt ist -
liche Hilfe der Bundesrepublik Deutschland an die
Türkei ein. Wir wollen die soziale und wirtschaftliche ertappe ich mich dabei, daß ich darüber nachden-
Entwicklung der Türkei fördern und dort Rechtsstaat- ke, was mir in der Türkei nach Veröffentlichung
lichkeit und Demokratie unterstützen. Ein Totalboy- dieses Gesprächs passieren wird. Diese Situation
kott ist dafür genauso falsch, wie es die ständigen ist durchaus vergleichbar mit jener in der Nazi
Lieferungen von Rüstungsgütern in die Türkei sind. Zeit, wo sich Deutsche, die im Ausland die regi-
metreue Justiz angeprangert haben, in Todesge-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fahr begaben. Etwa hundert Schriftsteller und
DIE GRÜNEN) Journalisten sind derzeit wegen „staatsfeindli-
cher Aktivität" in türkischen Gefängnissen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz- Dieses Zitat ist ebenfalls von einem türkischen
inte rv ention gebe ich noch einmal das Wort an Frau Schriftsteller, der sich im „Stern" geäußert hat. Es ist
Jelpke. Aziz Nesin.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1503
Angelika Beer
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es Liebe Kollegen, ich befürchte, daß nach der Land-
ist an der Zeit, den immer wieder im Bundestag ge- tagswahl in Hessen Dr. Kanther als Innenminister
führten Debatten mehr als nur eine Resolution wie im wieder die Federführung in diesem Trio übernehmen
Dezember folgen zu lassen und endlich zu Taten zu wird und nach den Gesprächen mit dem Geheim-
kommen. dienstchef aus der Türkei, der kürzlich hier zu Be-
such war, dafür sorgen wird, daß ein Abschiebever-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) trag abgeschlossen wird, der möglicherweise genau
dann, wenn wir nicht hier sind, nämlich in den fol-
Der Deutsche Bundestag hat sich zu Recht über genden zwei Sitzungswochen und zum Ende des Ab-
das Urteil gegen demokratisch gewählte kurdische schiebestopps am 28. Februar, dazu führt, daß es tat-
Abgeordnete empört, die bis zu 15 Jahren Gefängnis sächlich zu Massenabschiebungen, d. h. Beihilfe
verurteilt worden sind und in Haft sitzen. zum Mord, kommt.
Wir haben hier einen vorläufigen Abschiebestopp
beschlossen. Ich frage Sie: Was machen wir danach? (Zuruf des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.])
Wir haben diesen ersten Schritt positiv bewertet, wir
haben ihn unterstützt. Aber wir bestehen darauf, daß Ein Vertrag mit einem Staat, Herr Kollege Irmer,
wir uns als Parlament nicht darauf beschränken kön- der sämtliche völkerrechtlichen Verträge, die er un-
nen, nur aus Empörung über die Verurteilung von terzeichnet hat, gebrochen hat - ich frage Sie: was ist
Abgeordneten, von ehemaligen Kollegen Maßnah- der eigentlich wert? Was ist ein Vertrag wert, wenn
men zu ergreifen. Vielmehr müssen wir das Ausmaß Mehdi Zana wegen seiner Rede vor dem Unteraus-
von Folter, Vernichtung, Vertreibung und Zerstö- schuß des Europäischen Parlaments zu vier Jahren
rung, also von Krieg - ich glaube, man muß sagen: verurteilt worden ist und jetzt im Gefängnis sitzt? Mit
Krieg der türkischen Regierung sowie der Militärs wem wollen Sie eigentlich Verträge abschließen?
gegen die kurdische Bevölkerung, und jeder Krieg Wie kommen Sie dazu, mit dieser Türkei, wenn sie
ist schmutzig -, benennen und der daraus auch für nicht nachweislich ihre Zusagen tatsächlich in die
uns erwachsenen Verantwortung - Kollege Bindig Praxis umsetzt, einen Vertrag zu schließen? Wie kön-
hat gerade gesagt, worin sie besteht - gerecht wer- nen Sie sich da schuldig machen und überhaupt
den. noch an einen Vertrag denken? Das ist menschenver-
achtend!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ich zitiere noch einmal: und bei Abgeordneten der SPD)
Für 10 Provinzen der Südosttürkei ist der bisheri- Verehrte Kollegen, es geht nicht um die Frage des
ge Ausnahmezustand ausgedehnt und der Not- Einsatzes deutscher Waffen in der Türkei - es ist
stand ausgerufen worden. Das Notstandsgesetz schlimm genug, daß dies geschieht -, sondern es
enthält die Ermächtigung, zur „Evakuierung geht darum, daß die Türkei und das Militär Waffen
bzw. Umsiedlung der Einwohner bestimmter Ort- gegen die Zivilbevölkerung unter dem Vorwand der
schaften". Hierbei kommt es - wie bei sonstigen PKK-Bekämpfung einsetzen. 500 000 schwer bewaff-
großangelegten Aktionen der Sicherheitskräfte nete Soldaten, auch mit deutschen Waffen ausgerü-
im Südosten zu Übergriffen gegenüber Zivilper- stet, gegen eine Gruppe von Terroristen - das ist
sonen, wenn diese verdächtig sind, mit der PKK überhaupt kein Verhältnis. Das ist Krieg gegen die
zusammenzuarbeiten... Bisher wurden rund kurdische Bevölkerung.
1 300 Dörfer evakuiert und teilweise oder ganz
zerstört. Die Zahl der Dörfer im Notstandsgebiet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wird mit insgesamt 12 000 angegeben. und bei der SPD)
Liebe Kolleginnen, das ist nicht irgendeine antitür-
Wir beantragen, die Wirtschaftshilfe zu streichen,
kische Propaganda, sondern das stammt aus dem
weil wir wissen - das wird von Instituten bestätigt -,
nicht veröffentlichten Lagebericht des Auswärtigen
daß die Türkei nicht mehr in der Lage ist, diesen
Amts. Das heißt, die Bundesregierung weiß genau
Krieg aus eigener Kraft zu finanzieren. Wir lassen
um die Situation, über die wir heute abend reden.
uns nicht vorwerfen, daß wir die Türkei isolieren
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollten. Wir haben uns in unserem Antrag für einen
und bei der SPD) Vollzug der Zollunion ausgesprochen, wenn die Tür-
kei nachweisbar den Standard an Menschenrechten
Wie reagieren verantwortliche deutsche Politiker? einhält.
Am 25. Januar erklärt Herr Dr. Beckstein im Bayeri-
schen Landtag, dieser neue Lagebericht bestätige Herr Schäfer, zum Schluß möchte ich Sie heute, am
seine Auffassung, daß ein genereller Abschiebe- 16. Februar, auffordern - deswegen haben wir au!
stopp nicht notwendig sei. Im Fall Simsek mußte das diesrDbathundes-,zbrich
Bundesverwaltungsgericht einschreiten, um die Ab- ten, welche Waffensysteme die Türkei bis zum
schiebewut Becksteins zu bremsen. Der sächsische 15. Februar für die 118 Millionen DM denn noch an-
Innenminister Eggert versucht durch plumpe Lügen gefordert hat und wie lange diese Lieferungen noch
und falsche Darstellungen von Äußerungen von laufen. Sie können hier nicht selbstgefällig sagen, es
Menschenrechtsvereinsmitgliedern, die Vorausset- sei ja nun alles gestoppt. Jede einzelne Waffe, die in
zungen für weitere Abschiebungen zu schaffen. den letzten Jahren geliefert worden ist, und jede, die
1504 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Angelika Beer
auf Grund deutscher Vertragstreue jetzt noch in die- scher Standpunkt sei, aber wir müssen schließlich
sen Krieg geschickt wird, wird weiter mitmorden. auch überlegen, daß uns das ganze betrifft, sonst
Das ist zu verurteilen; das ist gerade heute abend zu könnte es uns egal sein. Das heißt, ein derartiger Um-
verurteilen. sturz in der Türkei würde einen zusätzlichen Brand-
herd von ungeahnten Ausmaßen an den Rand Euro-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN pas setzen. Ich möchte nicht wissen, wie wir darauf
und bei Abgeordneten der SPD) reagieren wollten.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, daß (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])
dieser Abschiebestopp - wir dürfen ihn heute abend
nicht vergessen - unbegrenzt verlängert wird. Das Wir sollten uns jedoch einmal ernsthaft fragen, was
betrifft auch diejenigen, die sich hier zu Protesten wir denn tun können. Über die Waffenlieferungen
entschlossen haben; denn Abschiebung bedeutet im kann man geteilter Meinung sein.
Moment Mord und Folter. Ich möchte, daß wir die
letzte Glaubwürdigkeit des Parlaments, die durch die (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Praxis der Bundesregierung, Waffen zu liefern, unter- - Nein, warten Sie einmal. Wenn hier behauptet
höhlt wird, nicht preisgeben und darauf bestehen, wird, die Fregatten würden eingesetzt, um Men-
daß dieser Abschiebestopp fortgesetzt wird. schenleben zu vernichten, speziell in Südostanato-
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ lien, dann ist das schlichter Unsinn. Halten Sie diese
NEN, bei der SPD und der PDS) Debatte von solchen Punkten fern!
Aber ich sage, bei anderen Waffenlieferungen
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Abgeord- kann man ernsthaft darüber diskutieren, ob die Bun-
nete Beer, ich wollte Sie während Ihrer Rede nicht desregierung nicht hier ihre Position überprüfen und
unterbrechen. Sie haben dieser Regierung vorgewor- auch ändern sollte. Darüber kann man gegebenen-
fen, daß sie beabsichtige, einen Vertrag zu schließen, falls seriös sprechen. Darüber kann man sich unter
der Beihilfe zum Massenmord sei. Ich erteile Ihnen unterschiedlichen Aspekten auseinandersetzen. Ver-
dafür einen Ordnungsruf. gessen Sie nicht, daß die Türkei erstens ein NATO-
Verbündeter ist und von daher zumindest einen An-
(Zuruf von der PDS: Bravo! Herzlichen spruch auf waffentechnische Zusammenarbeit hat.
Glückwunsch!) Zweitens sind die Behauptungen, die immer aufge-
Das Wort hat der Kollege Irmer. stellt worden sind, Waffen, die aus Deutschland ge-
liefert wurden, seien gegen Kurden in Südostanato-
lien eingesetzt worden, nie bewiesen worden. Dies
Ulrich Irmer (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen sind Behauptungen, die mit großem Getöse aufge-
und Herren! Es ist schon schrecklich, wenn man das stellt wurden. Es gibt nicht den Hauch eines Bewei-
hört! Als wenn die Welt so einfach wäre, wie das hier ses.
dargestellt wird! Da sind die PKK-Terroristen die ar-
men Verfolgten. Und die Türkei ist ein blutrünstiger (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])
-
Kriegstreiber, ein Ausrotter von Menschenleben und Ich möchte dazusagen: Es kommt nicht darauf an,
ein schonungsloser Unterdrücker von Menschen- mit welchen Waffen gegen die Kurden vorgegangen
rechten. Niemand will das beschönigen, was in der wurde, ob die aus Deutschland kommen oder woher
Türkei geschieht. Ganz im Gegenteil. sie kommen. Es ist in jedem Fall schlimm genug.
Wir sind um so beunruhigter darüber, daß sich dies Jetzt frage ich einmal, ob wir nicht außer Bekun-
auch nicht geändert, nicht verbessert hat, in der letz- dungen unserer Entrüstung über das, was dort vor-
ten Zeit vielmehr umgekehrt, viel schlimmer gewor- fällt, und über unsinnige Vorschläge wie den Stopp
den ist. Wir sind darüber um so fassungsloser, als es der wirtschaftlichen Beziehungen hinaus Hilfe anbie-
sich bei der Türkei nicht um irgendein Land ir- ten könnten.
gendwo auf der Welt handelt, sondern um ein Land,
das unseren Organisationen angehört: der OSZE, Ich habe den Eindruck - da haben Sie auch nicht
dem Europarat, der NATO. Dies sind alles Organisa- die Wahrheit gesagt -, daß sich die türkische Regie-
tionen, die wir auch mit bestimmten Wertvorstellun- rung der Probleme sehr wohl bewußt ist, daß sie
gen verbinden und wo man von allen Mitgliedern er- wohl genau weiß, mit welch immensen Schwierigkei-
warten sollte, daß sie diesen Wertvorstellungen nicht ten sie hier zu tun hat und daß sie sich ihren Weg
nur verbal entsprechen, sondern sich auch in ihrem nach Europa durch diese Vorgänge selber verbaut.
Verhalten für die Durchsetzung dieser Wertvorstel- Ich gehöre nicht zu denen, die sagen: Es kommt
lungen einsetzen. All das ist in der Türkei ohne Zwei- überhaupt nicht in Frage, daß die Türkei eines Tages
fel nicht der Fall. Mitglied der Europäischen Union wird. Ganz im Ge-
genteil, ich bin der Meinung, wir sollten diese Mög-
Nur, so einfach ist es auch nicht. Wer da sagt: strei- lichkeit offenhalten - natürlich unter bestimmten
chen wir für die Türkei die Wirtschaftshilfe und bre- Voraussetzungen. Aber die Türkei kann auf Dauer
chen wir die Beziehungen ab, trägt natürlich dazu nur stabilisiert werden, wenn wir ihre vernünftige
bei, daß die Türkei erst recht ins Chaos gestürzt wird, Anbindung an Europa und an das erreichen, wofür
daß sich dort die islamistischen Radikalen durchset- Europa steht.
zen, sich mit der PKK verbünden, den Staat überneh-
men und sich dann auch gegen uns richten. Da Ich frage jetzt einmal ganz konkret, und zwar rich-
könnte man mir jetzt vorwerfen, daß das ein egoisti- ten sich diese Fragen an die türkische Regierung:
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1505
Ulrich Irmer
Erstens. Warum sind Sie bisher nicht bereit gewe- Die Debatte, die im April 1994 hier geführt worden
sen, folgende Hilfestellungen von uns anzunehmen, ist und sich in 14 Forderungen niedergeschlagen hat,
die wir Ihnen geben könnten, gerade weil wir Ihre im wesentlichen von der SPD-Fraktion initiiert - sie
Probleme verstehen? Warum sind Sie nicht bereit, haben aber dennoch eine Mehrheit gefunden -, ist
Ihre Sicherheitskräfte, Polizei, Gefängnispersonal fortzusetzen. Die Forderungen gelten nach wie vor,
und dergleichen in Menschenrechtshandhabung müßten allerdings um einige Punkte ergänzt werden.
schulen zu lassen? Das gibt es nämlich. Vielfach aber Andere Punkte, die sich inzwischen aus Zeitgründen
ist es so, daß dies die Regierung gar nicht will. Im Ge- überholt haben, müßten daraus gestrichen werden.
genteil, die Regierung läßt Folterer aus Gefängnissen
Es bleibt bei der Tatsache, daß wir nach wie vor
und solche, denen nachgewiesen wird, daß sie Men-
keine wesentlichen Verbesserungen bezüglich der
schenrechte verletzt haben, verfolgen. Die Praxis ist
eine andere. Menschenrechte und der demokratischen Entwick-
lung in der Türkei feststellen können. Im Gegenteil,
Vergessen Sie nicht: Die Türkei liegt nicht nur in der Bericht von Amnesty zeigt auf, daß gerade im Be-
Europa, sondern an der Schnittstelle zwischen Eu- reich der Menschenrechtsverletzungen eher eine
ropa und Asien, mit z. T. ganz anderen kulturellen Verschärfung eingetreten ist denn eine Verbesse-
Traditionen. Es ist gar nicht so einfach, da das Foltern rung.
in den Gefängnissen par ordre du mufti zu unterbin- Ich habe eben gesagt: „keine wesentlichen Ver-
den. Dazu gehörte vielmehr, daß das Personal, das in besserungen". Ich habe das ganz bewußt gesagt,
den Gefängnissen Dienst tut, in Menschenrechtsfra- weil ich der Auffassung bin, daß man auch die klein-
gen geschult wird. sten, noch so zarten Pflänzchen, die da langsam aus
dem Boden hervorkommen und sich eventuell wei-
Zweitens. Ich möchte von der türkischen Regie-
terentwickeln könnten, nicht zertreten, sondern be-
rung wissen: Warum akzeptieren Sie nicht unsere
gießen sollte. Ich meine damit die Bemühungen eini-
Angebote, daß wir das, was sich in der Bundeswehr
ger Kräfte in der türkischen Großen Nationalver-
als innere Führung bewährt hat, auch Ihrem eigenen
sammlung, nun endlich die Diskussion über die Ver-
Militär in der Türkei angedeihen lassen? Warum fin-
fassungsänderungen ernsthaft zu führen.
den keine ständigen Beratungen über die Einfüh-
rung der Prinzipien der inneren Führung in die türki- Jede Partei in der Großen Nationalversammlung
schen Streitkräfte statt? hat seit der letzten Wahl behauptet, die Verfassung
ändern zu wollen. Nur, alle hatten völlig verschie-
Drittens. Warum wenden Sie sich in der Türkei in dene Vorstellungen darüber, wie die Verfassungsän-
Sachen Terrorismusbekämpfung nicht an die Län- derungen aussehen sollten. Nun scheint sich eine
der, die hier erhebliche Erfahrungen aufzuweisen ha- Mehrheit abzuzeichnen, die die ersten vorsichtigen
ben? Dazu gehören die Bundesrepublik Deutsch- Schritte hin zu einer Veränderung der Verfassung
land, aber auch Spanien und Italien. einleiten, die noch immer ganz deutlich die Hand-
schrift der Militärdiktatur trägt. Weil dies eine Ver-
Es wäre vernünftig, wenn man in einem großange- fassung ist, die von der Militärdiktatur gemacht
legten Hilfspaket der Türkei in dieser Beziehung hel- wurde, und weil diese Verfassung in allen Bereichen
-
fen würde. Wir sind jederzeit dazu bereit; alle Mit- ein Hindernis für eine Entwicklung darstellt, muß zu-
glieder dieses Hauses sollten das sein. Die Türkei erst diese Verfassung geändert werden.
muß dieses Angebot nur annehmen. Dann könnte sie
vielleicht einen Beitrag leisten, um diese schreckli- So behutsam diese ersten Schritte auch sein mö-
chen Probleme, mit denen wir es zu tun haben, in gen, die jetzt eingeleitet werden, so sollten wir sie
den Griff zu bekommen. doch mit allen Kräften unterstützen.
Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
F.D.P.)
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Denn die anderen, die dies nicht wollen - Teile des
ten der CDU/CSU)
Militärs, insbesondere die reaktionären und konser-
vativen Kräfte in der Türkei -, wollen um jeden Preis
eine Verfassungsänderung verhindern, um ihre böse,
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat
menschenunwürdige Politik fortsetzen zu können.
die Abgeordnete Leyla Onur.
Das wollen wir nicht.
(Beifall hei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Leyla Onur (SPD): Herr Präsident! Meine sehr ver- GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abge
ehrten Kollegen und Kolleginnen! Ich glaube, die ordneten der CDU/CSU)
Wortbeiträge, die wir eben gehört haben, machen
deutlich, daß eine erneute umfassende Debatte über Wir müssen ebenfalls sehr behutsam mit unserem
die Situation in der Türkei in diesem Hause notwen- Demokratieverständnis und dem, was in der Türkei,
dig ist. auch in der Bevölkerung, unter Demokratie verstan-
den wird, umgehen. Unsere Wertvorstellungen und
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unser Demokratieverständnis stellen eine hohe Meß-
DIE GRÜNEN - Dr. Jürgen Rochlitz latte für den einzigen laizistischen demokratischen
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber zu an Staat in dieser Region dar. Wir sollten nicht verges-
derer Zeit!) sen, daß sich viele Staaten im Umfeld der Türkei, also
1506 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Leyla Onur
in dieser Region, sozusagen an der Türkei - so defizi- Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe
tär ihre demokratische Situation aus unserer Sicht Kolleginnen und Kollegen, aus aktuellem Anlaß
auch ist - orientieren und sie als ein Modell nehmen. möchte ich noch einige Sätze zu der bevorstehenden
Wir sollten deshalb Kräfte unterstützen, die es in der Zollunion sagen. Ich halte es in dieser sensiblen
Türkei gibt - auch im türkischen Parlament -, die die Phase für falsch, die Zollunion jetzt nicht fristgerecht
türkische Demokratie im Sinne der westeuropäi- auf den Weg zu bringen. Ich sage das auch auf
schen Demokratie weiterentwickeln wollen. Grund fünfjähriger Erfahrung als Mitglied des Ge-
mischten Parlamentarischen Ausschusses EG-Türkei
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem
im Europäischen Parlament. Wir haben festgestellt,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)
daß die Blockierung des 4. Finanzprotokolls, die
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Die Blockierung des Matutes-Pakets - Sie wissen, das
Situation in Südostanatolien ist hier ausreichend be- war und ist immer noch ein Vorschlag der Kommis-
schrieben worden. Ich war oft in Diyarbakir und in sion im Rahmen des Assoziationsvertrags -, verhin-
der Umgebung und habe mit Menschen gesprochen dert, ein Paket von Maßnahmen auf den Weg zu brin-
- mit Taxifahrern, mit der Frau auf dem Markt und gen, um eben all unseren gemeinsamen Forderun-
mit Passanten -, die ich direkt angesprochen habe, gen bezüglich der Menschenrechte, der demokrati-
was mir auf Grund meiner türkischen Sprachkennt- schen Entwicklung, der sozialen und ökonomischen
nisse möglich ist. Das ist natürlich eine Hilfe, wenn Entwicklung Nachdruck verleihen zu können und
man auf die Menschen zugehen will; denn dann gezielt Hilfe - auch Wirtschaftshilfe - leisten zu kön-
kann man von ihnen sehr offen, ehrlich und ohne Ab- nen; denn auch das muß unser Petitum sein.
striche erfahren, wie sie denn nun diese Situation
wirklich empfinden. Wenn wir jetzt zur Zollunion nein sagten, würde
dieser gerade wiederaufgenommene Dialog abge-
Ich habe von mehreren Besuchen in Südostanato- brochen. Die Fronten sind verhärtet, die Beziehun-
lien mitgebracht, daß die kurdische Bevölkerung gen sind eingefroren. Es gibt nichts Schlimmeres und
dort in Frieden und unter gerechten, sozialen und Schwierigeres, wenn man gemeinsame Ziele ver-
ökonomischen Bedingungen leben möchte. Die Men- wirklichen will, als nicht mehr miteinander zu spre-
schen möchten, daß sie ihre Sprache sprechen kön- chen. Die Gespräche müssen im Interesse der Bezie-
nen. Sie möchten sozusagen ihre Identität anerkannt hungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland
bekommen. Sie möchten nicht aus dem türkischen und der Türkei, aber insbesondere im Interesse der
Staatsverband ausscheiden. Sie möchten auch nicht Menschen in der Türkei wiederaufgenommen wer-
zwischen den beiden Fronten zermahlen werden. Sie den.
wollen Frieden. Genau diese Menschen müssen wir
unterstützen.
Ich bedanke mich.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
F.D.P.)
Wir haben im letzten Jahr einen Antrag einge-
bracht, der dazu führen sollte, daß eine OSZE-Dele-
gation nach Südostanatolien entstandt wird. Ich erin-
nere mich, daß zwar der Bundesaußenminister wohl Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin,
unsere Auffassung geteilt hat, aber die Regierungs- Sie haben zwar schon im Europäischen Parlament
mehrheit sich dem nicht anschließen konnte. Es ist gesprochen, hier heute aber zum erstenmal. Ich
um so mehr zu begrüßen, daß der Präsident der türki- möchte Ihnen im Namen des Hauses herzlich gratu-
schen Nationalversammlung, Herr Cindoruk, eine lieren.
Parlamentarierdelegation - so muß ich ausdrücklich
sagen - der OSZE unter Leitung des Kollegen Wim- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der
mer nach Südostanatolien eingeladen hat. SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und der F.D.P.) Ich erteile dem Kollegen Thomas Kossendey das
Die Delegation, der auch ein Vertreter des Auswärti- Wort.
gen Amtes angehören soll, wird Gespräche mit Re-
gierungsvertretern und kurdischen Organisationen
führen. Thomas Kossendey (CDU/CSU): Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, Sie
Wir sollten das als einen ersten kleinen - sicherlich
haben Kollegin Onur auf Grund der Tatsache, daß sie
sehr kleinen - Schritt betrachten, um die starren Posi-
hier zum erstenmal geredet hat, gerade gratuliert.
tionen aufzuweichen, um die Headliner zurückzu-
Ich möchte ihr auch zu dem gratulieren, was und wie
weisen und den notwendigen Dialog wieder in Gang
sie es gesagt hat.
zu bringen. Das ist mir ein ganz besonderes Anlie-
gen; denn nur so können wir unsere Forderung
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
durchsetzen, daß die Menschen aus dem Krieg über
politische Lösungen endlich ihren Frieden bekom-
Ich habe mich sehr darüber gefreut, daß wir in ihrer
men, den sie erwarten und auch verlangen dürfen.
Rede einen ersten Punkt gehabt haben, an dem wir
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE sachlich anknüpfen und bei dem wir um Gemein-
GRÜNEN und der F.D.P.) samkeiten werben können.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1507
Thomas Kossendey
Die Probleme der Türkei, liebe Kolleginnen und Ich will Ihnen deswegen einige Punkte nennen,
Kollegen, sind meines Erachtens zu vielschichtig, als mit denen wir den türkischen Politikern vielleicht
daß man sie mit dem sehr einseitigen Antrag der helfen könnten:
PDS, der heute zur Diskussion vorliegt, einer Lösung
zuführen könnte. Erstens. Ich fordere seit langem, auch von dieser
Stelle, daß die Bundesregierung endlich eine neue
(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.]) Türkeipolitik formuliert. Deutschland hat ein ele-
mentares Interesse an einer innenpolitisch stabilen
Wer von Deutschland aus, liebe Frau Beer, mit politi- und einer außenpolitisch handlungsfähigen Türkei.
schen Repressionen die Politik der Türkei in eine be- Aber das, was wir dabei tun müssen - die kontinuier-
stimmte Richtung lenken möchte, wird dort Gegen- liche Entwicklung dieses Landes zu gewährleisten -,
druck erzeugen und kaum dazu beitragen, die wirk- macht eine andere Politik nötig als die, die wir in der
lich vorhandenen Probleme zu lösen. Vergangenheit gehabt haben.
Die Irreführung in diesem Antrag der PDS - es ist (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
schon ein paarmal darüber gesprochen worden -
Wir müssen den Wirtschaftsminister, wir müssen
fängt schon damit an, daß Sie die PKK als „Arbeiter-
den Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit,
partei" bezeichnen. Nun mag es sein, daß auf Grund
unseren Innenminister, den Außenminister und auch
der historischen Vergangenheit der PDS Arbeiterpar-
unseren Verteidigungsminister einmal an einen
tei und Terrorismus vielleicht zusammengehören.
Tisch holen. Sie müssen sich so lange zusammenset-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zen, bis sie sich Gedanken gemacht haben, die wir
der Öffentlichkeit, vielleicht auch in diesem Hause,
Aber Sie sollten das dann hier nicht verdrängen. präsentieren können. Zwischen diesen Ressorts muß
der zukünftige Kurs erarbeitet werden.
Wir müssen klarmachen - das hat der Amnesty-Be-
Allzulange haben wir in der Vergangenheit ge-
richt zum erstenmal sehr deutlich gemacht -, daß die
glaubt, die deutsch-türkische Freundschaft mit Rü-
PKK eine terroristische Organisation ist, die allein in
stungslieferungen als Schmiermittel erhalten zu kön-
den letzten Jahren über 150 Lehrer ermordet hat. Die
nen. Angesichts der Tatsache, daß wir seit 1963, seit
Opfer des letzten Jahres sind im Amnesty-Bericht
es diese Rüstungshilfen gibt, für rund 7 Milliarden
aufgezählt worden. Allerdings - das sage ich sehr
DM Rüstungsgüter in die Türkei geliefert haben,
deutlich - wissen wir auch: Das, was in der Türkei
aber nur für rund 5,6 Milliarden DM allgemeine wirt-
passiert, ist nicht Schuld der PKK allein. Wir wissen,
schaftliche Hilfe gewährt haben, scheint mir das in
daß die Armee überreagiert; wir wissen, daß die Ar-
einem krassen Mißverhältnis zu stehen. Ich bin froh,
mee der politischen Kontrolle entgleitet; und wir wis-
daß diese Rüstungslieferungen aufhören. Wer glaubt,
sen, daß die Armee an vielem Leid und Elend der
Freundschaft nur auf Waffenlieferungen aufbauen zu
Menschen im Südosten des Landes schuld ist. Das
können - eine Meinung, die übrigens im türkischen
müssen wir eingrenzen. Wir wissen auch, daß, was
Parlament und von türkischen Politikern häufig ver-
die Gerichtsverfahren und die strafprozessuale Ahn-
treten wird -, der wird sehen, daß diese Freundschaft
dung von Straftaten angeht, die Behandlung durch
brüchig ist. Ich bin dankbar, daß wir uns darauf in
die Polizei längst nicht so ist, wie wir uns das wün-
Zukunft nicht mehr verlassen müssen.
schen sollten. Die Verfahrensvorschriften sind so, daß
sie der Polizei, wie wir hören, mehr Möglichkeiten zu Ich hoffe also, daß alle Ministerien, die ich genannt
Folter geben, als das nach europäischen Standards habe, irgendwann im Laufe dieses Jahres ein abge-
überhaupt vorstellbar ist. stimmtes Konzept vorlegen - ein Konzept, das den
wirklichen Problemen der Türkei gerecht wird. Diese
Wenn wir über Waffen gesprochen haben, die da- bestehen im wesentlichen im wirtschaftlichen Be-
bei gebraucht werden, und uns erregt haben, daß es reich, aber auch im Demokratiedefizit.
deutsche sind: Für mich ist das vollkommen egal. Wir
müssen den politisch Verantwortlichen in der Türkei Zweitens. Wir müssen auch als Parlamentarier der
klarmachen, daß man Probleme weder im Gefängnis Türkei Hilfe geben und den türkischen Kollegen un-
mit Folter noch im Südosten mit Bomben und Jagd- sere Hilfe anbieten. Denn Frau Onur hat zu Recht
bombern regeln kann. darauf hingewiesen: Wir dürfen die Türkei nicht mit
unseren Maßstäben messen und dann feststellen,
Das Problem der Kurden im Südosten der Türkei daß sie denen nicht entspricht, und dürfen dann
wird einer politischen Lösung zuzuführen sein, oder nicht urteilen, daß das ein schlimmer Staat ist.
es wird nicht gelöst werden.
Wir müssen die Türkei, wenn wir ehrlich mit ihr
Es ist so, wie Frau Onur sagt - das wissen wir aus umgehen wollen, an dem messen, was in ihrer Nach-
den Gesprächen, die wir geführt haben -: Die Men- barschaft vor sich geht. Da ist die Türkei - auch das
schen sind es mittlerweile satt, von der PKK, von der muß man einmal deutlich sagen - allemal das demo-
Armee oder von wem auch immer mit Gewalt über- kratisch stabilste System mit der am weitesten ent-
zogen zu werden. Diese Stimmung breitet sich aus wickelten demokratischen Kultur, trotz der Mängel,
und ist vielleicht auch für die Politiker im türkischen die wir alle sehen und die abgestellt werden müssen.
Parlament ein Hinweis darauf, daß es gut ist, mehr zu Aber wenn wir das in Abrede stellen, werden wir mit
reagieren, als sie das in der Vergangenheit getan ha- den türkischen Politikern nicht ins Gespräch kom-
ben. men.
1508 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Thomas Kossendey
Wir müssen den türkischen Kolleginnen und Kolle- Thomas Kossendey (CDU/CSU): Diese Dinge
gen im Parlament sehr präzise Hinweise geben, was müssen, weil sie uns bekannt sind, besprochen und
in der Verfassung geändert werden muß. Diese geändert werden. Das werden wir nicht durch einen
22 Punkte, die jetzt auf den Weg gebracht werden, Beschluß des Bundestages regeln können, das wer-
sind vielleicht ein erster wichtiger Schritt, jedoch den wir nur im Dialog regeln können.
längst nicht alles, weil die nachgeordneten Gesetze
überprüft werden müssen: das Antiterrorgesetz, das (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])
Presserecht, das Versammlungsrecht, das Recht der Nur wer mit anderen im Dialog steht, kann sie wirk-
Gewerkschaften. lich beeinflussen. Dieses Mittel des Sprechens sollten
Wir müßten den türkischen Kolleginnen und Kolle- wir uns nicht einfach nehmen lassen. „Parlament"
gen in der Großen Versammlung klarmachen, daß sie kommt von „Sprechen", von „parlare". Wenn wir mit
ihre Rechte ernster wahrnehmen müssen. Denn die denen, die wir ändern wollen, nicht sprechen, dann
Rechte, die das Parlament in Ankara hat, entspre- berauben wir uns selber eines wichtigen Mittels. Ich
chen längst nicht dem Maßstab, den wir in Europa glaube, daß wir nicht so dumm sein sollten.
gewohnt sind. Wir sollten in dieser Hinsicht ruhig et-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
was selbstbewußter sein.
Wir müßten den Türken auch klarmachen: Wenn Frau Jelpke hat auf Cem Boyner Bezug genom-
sie sich auf dem Weg nach Europa befindlich sehen, men. Wir haben heute nachmittag mit ihm geredet.
dann müssen sie sich langfristig auch mit euro- Wir haben ihn gefragt, was er von der Diskussion
päischen Maßstäben messen lassen. Wer sich nicht über die Türkei in Deutschland hält und ob er es für
auf diesen Weg begeben will, der wird in Europa hilfreich halten würde, wenn wir die Türken vor der
lange vor der Tür stehen bleiben. Erste Signale aus europäischen Tür stehenlassen wollten, wenn wir ge-
der Türkei - ich sage das noch einmal - gibt es. Wir nau das machen wollten, was in Ihrem Antrag steht.
müssen sie unterstützen. Er hat uns gesagt, genau das wäre das Falsche. Da,
wo zwischen den Politikern und zwischen den Men-
Drittens. Langfristig wollen wir die Freundschaft schen der Länder keine Verbindung ist, wird auch
zwischen dem deutschen und dem türkischen Volk nichts bewegt werden. Da wird kein Funke der Er-
erhalten und vertiefen. Ja, wir wollen weiterarbeiten kenntnis überspringen, wie wir uns das so gerne
an der deutsch-türkischen Freundschaft, aber nicht wünschen.
um den Preis des Schweigens zu innenpolitischen
Verhältnissen in der Türkei, zu denen kein Demo- Lassen Sie mich zum Schluß einen Vorschlag ma-
krat schweigen darf. Pauschale Verurteilungen hel- chen. Wir wissen alle, Frau Jelpke, daß es zwischen
fen hier aber nicht weiter, pauschale Sanktionen wer- der PDS und der PKK gute Kontakte gibt. Das haben
den das türkische Volk und den türkischen Staat in wir in vielen Zeitungen gelesen. Deshalb nehmen
eine Isolation treiben. Undifferenziertes Abweisen Sie doch Ihre Aufgabe wahr, und fordern Sie auf
der Türken an der europäischen Haustür wird den Grund Ihrer guten Kontakte zur PKK diese Terror-
Fundamentalismus in der Türkei stärken und damit gruppe zum Gewaltverzicht auf. Wir wollen dann mit
letztendlich die Menschenrechte schwächen. den demokratischen Politikern im türkischen Parla-
ment reden, damit es in der Türkei langfristig zu
Deswegen bedauere ich die Entscheidung des Eu- einer guten politischen Lösung kommt.
ropäischen Parlaments, weil sie meines Erachtens
kurzsichtig ist und auf diesem Wege weitere Hinder- Herzlichen Dank.
nisse aufbauen wird. Sie wird den türkischen Politi-
kern Schwierigkeiten machen, sie wird aber auch auf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
dem Weg zu mehr Menschenrechten und mehr
Demokratie Schwierigkeiten machen. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat
der Herr Staatsminister Helmut Schäfer.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kossen-
dey, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit-
Thomas Kossendey (CDU/CSU): Ja, bitte. ternacht ist sehr bald erreicht und insofern auch die
Diskussion der interessantesten Themen des Deut-
schen Bundestages. Es wäre wünschenswert, Herr
Dr. Angelika Köster Loßack (BÜNDNIS 90/DIE
Vizepräsident, wenn wir solche Debatten gelegent-
-
- Sie sind hier doch ein Parlament. Sie sind doch völ- Dann müssen Sie die Frage stellen: Was geht unter
lig unabhängig von der Regierung, dachte ich. den Kurden vor? Es ist einfach nicht wahr, daß die
PKK die Vertreterin der Kurden schlechthin ist, son-
(Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/ dern es ist wahr, was Frau Onur völlig zu Recht ge-
DIE GRÜNEN) sagt hat: Sehr viele Kurden sind in keiner Weise ein-
verstanden mit dem, was die PKK ihnen auferlegt -
Insofern würde ich Ihnen den Rat geben, das nächste
was aber in keiner Weise das Vorgehen türkischer
entsprechende Thema einmal ein bißchen früher zu
Behörden rechtfertigt, was in keinerlei Weise das,
behandeln.
was Amnesty International aufzeichnet, rechtfertigt.
Ich finde es ein bißchen seltsam, wenn ich hier Wir sind uns hier völlig einig. Aber es stellt sich doch
grundsätzlich gegen 24 Uhr für die Regierung die Frage: Wie können wir es ändern? Was können
freundlicherweise das Wort ergreifen darf. Vielleicht wir tun? Genügen solche mitternächtlichen Tiraden?
könnten wir eine solche Debatte etwas früher abhal-
(Zuruf des Abg. Rudolf Bindig [SPD])
ten, Herr Hörster. Das wäre von Zeit zu Zeit ganz gut.
Die Themen, die wir hier diskutieren, sind ja nicht so - Entschuldigung, Herr Bindig, ich sage immer wie-
ganz unwichtig. der - vielleicht schon zum sechsten, siebten oder ach-
ten Mal in diesem Bundestag -, daß die Parteien sich
(Beifall im ganzen Hause) intensiver für einen Dialog mit den jeweiligen türki-
- Meine Damen und Herren, nachdem wir jetzt Bei- schen Parteien einsetzen müssen, damit im Parla-
fall von allen Seiten des Hauses feststellen können, ment in der Türkei mehr Mut aufkommt, solche
wird sich das schnell ändern. Dinge abzustellen: die Sozialdemokraten mit den So-
zialdemokraten,
Ich darf sehr herzlich Frau Onur danken. Ich bin
der Auffassung, daß sich das, was Sie heute abend (Rudolf Bindig [SPD]: Das tun wir doch!)
gesagt haben, sehr wohltuend von einigem, was die christlichen Demokraten mit der Mutterlandpar-
Ihnen an Tiraden vorausgegangen ist, abgehoben tei; als Liberale Ansprechpartner zu finden ist in der
hat. Türkei im Augenblick ein bißchen schwierig; wahr-
- scheinlich finden aber auch wir Ansprechpartner.
(Beifall bei der F.D.P., der SPD und der PDS)
Ich habe fast den Eindruck, Sie haben Verständnis Es ist nicht gut, wenn wir hier nur verurteilen, statt
für die Türkei und Vorstellungen von der Türkei. Sie in der Türkei unablässig Einfluß zu nehmen: von Par-
kennen dieses Land, während mir das bei einigen lament auf Parlament, von Partei auf Partei, von Re-
anderen Rednern und Rednerinnen nicht so er- gierung auf Regierung. Die Regierung tut es übri-
scheint. Ich würde jedem, der hier über die Türkei re- gens. Sie tut es auch wieder im Zusammenhang mit
det, empfehlen, gelegentlich in die Türkei zu reisen, der Abschiebung von Kurden.
mit Türken und Kurden zu sprechen und hier viel- Gerade heute nachmittag fand im Auswärtigen
leicht etwas differenzierter aufzutreten, als das im- Amt eine Besprechung mit Herrn Kinkel statt, bei der
mer wieder geschieht. Denn wir reden ja nicht zum wir sehr genau überlegt haben, wie wir uns einzu-
erstenmal zu diesem Thema - ein Thema, das mit stellen haben, was wir tun können, was seitens der
großem Ernst diskutiert werden muß. Türkei erreicht werden muß, um nicht generell sagen
(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Oder auch nur Akten zu müssen: Es kann kein Kurde abgeschoben wer-
zu lesen! Das würde auch schon helfen!) den. Wir wollen sehr differenziert verfahren und si-
cherstellen, daß niemandem, der abgeschoben wer-
- Das würde auch schon helfen, Herr Kollege Irmer. den muß, in irgendeiner Weise ein Schaden entsteht.
Es geht darum, ein Problem zu sehen, das so einfach, Das ist doch die Zielsetzung dieser Regierung. Darin
wie es einigen hier erscheint, nicht zu lösen ist. unterscheiden wir uns von Ihnen doch nicht. Glau-
ben Sie es uns.
Sie reden heute den ganzen Abend über die Kur-
den und deren Verfolgung. Wir alle sind uns einig in Bei allem Verständnis dafür, daß heute abend wie-
dem Punkt, daß so nicht weitergegangen werden der der Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen gefor-
darf und daß die Kurden das Recht auf eine kultu- dert wird, darf ich Ihnen sagen, was wir wirtschaft-
relle Autonomie haben. Das ist die Meinung dieser lich tun: Mit den von der Bundesregierung zugesag-
Bundesregierung. Dieses Recht ließ sich bisher nicht ten 150 Millionen DM werden in der Türkei konkrete
durchsetzen. Die Türkei wird keinen Erfolg damit ha- Entwicklungsvorhaben gefördert: in den Bereichen
ben, die Kurden militärisch zu bekämpfen. Umweltschutz - hier müßte das BÜNDNIS 90/DIE
1510 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Die Waffenlieferungen laufen aus; Sie wissen das. Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Materialhilfe und damit sämtliche Rüstungshilfs- Herr Staatsminister, um hier keine falschen Töne auf-
programme für die Türkei werden in diesem Jahr ab- kommen zu lassen: Sie werden unseren Antrag ja
geschlossen. auch gelesen haben. Da wird Ihnen aufgegangen
sein, daß wir die Frage der weiteren Wirtschaftshilfe
Ich will jetzt nicht noch einmal die Debatte über usw. sehr konditioniert ausgesprochen haben. Im
die Fregatten aufwärmen; das wurde in der Frage- übrigen bestehen in der GRÜNEN-Fraktion keine
stunde heute schon in extenso getan. Ich darf nur sa- Probleme mit einer perspektivischen Aufnahme der
gen: Auch die Türkei hat das Recht auf kommerzielle Türkei in die EU; damit werden eher andere Schwie-
Lieferungen von Waffen und Rüstungsgütern, wenn rigkeiten haben.
sich diese Lieferungen nach den Grundsätzen der
Bundesregierung für den Waffenexport richten. (Ulla Jelpke [PDS]: Das ist auch ganz neu!)
(Rudolf Bindig [SPD]: Brauchen wir - Das ist nicht so neu. Das hat die AL in Berlin schon
150 Millionen, wenn das kommerziell ist?) vor zehn Jahren gefordert; aber es muß ganz anders
diskutiert werden als hier.
- Herr Kollege Bindig, Sie haben doch die Gelegen-
heit, Ihre Ansicht über die Höhe solcher Lieferungen Aber dann dürfen Sie doch nicht durch das Fort-
- das gilt auch für U-Boote, die an andere Nachbar- führen der bisherigen Politik die Türkei geradezu in
staaten geliefert worden sind; da habe ich Ihre Prote- dem, was sie tut, bestätigen, wobei Sie zwar verbal
ste vermißt - in den Ausschüssen zur Kenntnis zu ge- protestieren, aber im übrigen die Politik so weiterlau-
ben. fen lassen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1511
Dr. Helmut Lippelt
Unsere Forderungen - das bitte ich doch zur in westeuropäischen Staaten gewohnt sind, und
Kenntnis zu nehmen - sind genau auf das Verhalten wenn sie das nicht auch in der Praxis umsetzt. All das
konditioniert. Und das vermissen wir auf Ihrer Seite. ist immer wieder gesagt worden. Wir brauchen dazu
keine neue Politik der Bundesregierung, sondern ein
Zusammenwirken von Parlament und Regierung.
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Wir brauchen den konstanten Dialog mit diesem
Amt: Herr Kollege Lippelt, ich konnte ein Fragezei- Land und seinen Parteien statt dieser immer wieder-
chen zu Ihrem Statement nicht entdecken; aber das holten Szenen der Verurteilung. Der Bundestag als
macht nichts. Tribunal führt ebensowenig weiter.
Ich möchte Ihnen sagen: Wenn Sie demnächst von
Ihrer Fraktion die Chance bekommen, hier einmal an Vielen Dank.
Stelle von Frau Beer eine Rede zur Türkei und zu den
Kurden zu halten, dann hört es sich vielleicht ein biß- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
chen gemäßigter an. Wir würden das alle sehr begrü-
ßen. Frau Beer wird in Mitternachtsdebatten arg stra-
paziert. Schon beim letztenmal hat sie eine ganz ähn- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Es liegen keine
liche Rede zu einem ganz anderen Thema gehalten. weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aus-
Liebe Frau Beer, es tut mir leid: Ich sehe in Kollegen sprache.
Lippelt jemanden, der etwas differenzierter zu spre-
chen vermag, als Sie es können. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla-
gen auf den Drucksachen 13/212 und 13/538 an die
Ich darf zum Schluß sagen: Ich bin ja durchaus der
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
Meinung, daß wir die Türkei immer wieder von
geschlagen. - Ich sehe und höre keinen Wider-
neuem mahnen müssen. Ich bin auch der Meinung,
spruch. Damit sind die Überweisungen beschlossen.
daß wir alles unternehmen müssen, um dem Miß-
brauch von Militär oder Polizei oder Sicherheitskräf-
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-
ten in Ost- und Südostanatolien entschieden entge-
ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deut-
genzutreten. Ich bin auch der Auffassung, daß unse-
schen Bundestages auf morgen, Freitag, 17. Februar,
rerseits alles getan werden muß, um eine andere Ent-
9.00 Uhr ein.
wicklung in der Türkei zu fördern.
Ich bin weiterhin der Auffassung, daß die Türkei Die Sitzung ist geschlossen.
nicht in die Europäische Union kommen kann, wenn
ihre Rechtsordnung nicht Züge annimmt, wie wir sie (Schluß der Sitzung: 23.45 Uhr)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1513*
des Parl. Staatssekretärs Johannes Nitsch auf die Eine Einflußnahme des Bundes auf Einzelheiten
Frage des Abgeordneten Horst Kubatschka (SPD) der Fahrplangestaltung der DB AG würde mit den
(Drucksache 13/470 Frage 11): Zielen der Bahnreform, insbesondere der klaren
Trennung von staatlichen und unternehmerischen
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus einer
Aufgaben jedoch nicht in Einklang stehen.
internationalen Verbraucherstudie, nach der die Gefahr besteht,
daß Babys auf dem Beifahrersitz bei einem Unfall durch den Bei-
fahrer-Airbag getötet werden können? Für den Geschäftsbereich des Bundesministeriums
für Post und Telekommunikation gilt: In seiner Eigen-
schaft als Regulierer, die der Bundesminister für Post
Es ist richtig, daß bei einem Unfall mit Airbag-Aus- und Telekommunikation als hoheitliche Aufgabe
lösung die Gefahr besteht, ein Kind, das in einem ausübt, hat er die Einhaltung des verfassungsrecht-
rückwärtsgerichteten Kindersitz auf dem Beifahrer- lich verankerten Infrastrukturauftrag es sicherzustel-
sitz gesichert ist, durch das Aufblasen des Airbags len. Dieser besagt, daß die angebotenen Dienstlei-
samt Sitz nach hinten katapultiert wird und erhöhte stungen des Post- und Fernmeldewesens flächendek-
Verletzungsgefahr für das Kind besteht. kend, angemessen und ausreichend erbracht wer-
Die Bundesregierung begrüßt daher, daß die Euro- den.
päische Kommission sich des Problems angenommen In diesem Sinne gelten z. B. die Telekommunikati-
hat, indem sie eine Ergänzung der Richtlinie über Si- onsverordnung, die Postdienstverordnung und die
cherheitsgurte und Haltesysteme vorgelegt hat; da- Pflichtleistungsverordnungen für die Unternehmen
nach müssen Sitze, die mit einem Airbag ausgerüstet der Deutschen Bundespost fort. Darüber hinaus wer-
sind, mit einem entsprechenden Warnhinweis verse- den in Lizenzbedingungen für Wettbewerber am
hen sein. Erste Beratungen hierzu werden bei der Markt entsprechende Auflagen eingebracht.
Europäischen Kommission Ende Februar stattfinden.
Anlage 5
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Johannes Nitsch auf die Fra-
Anlage 4 gen des Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt
- (F.D.P.) (Drucksache 13/470 Fragen 15 und 16):
Antwort
Wie bewertet der Bundesminister für Verkehr hinsichtlich der
des Parl. Staatssekretärs Johannes Nitsch auf die Umweltbelastung die Tatsache, daß ein Korridor in der direkten
Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) Verlängerung der A 44 am Kasseler Kreuz zu einer Einsparung
von 4 km Strecke führen würde?
(Drucksache 13/470 Frage 13):
Ist der Bundesminister für Verkehr der Auffassung, daß eine
In welcher Weise nimmt die Bundesregierung nach dem In-
ausreichende und vertretbare Kostengrundlage für eine endgül-
krafttreten der Post- und Bahnreform auf diese Unternehmen
tige Korridorentscheidung vorhanden ist, nachdem der Zwi-
Einfluß, um sie zur regionalpolitischen Verantwortung im Sinne
schenbericht der Kocks-Consult für die Trassenvariante im
des Raumordnungsgesetzes des Bundes anzuhalten, und gibt es „Lossetalkorridor" Kosten von 231,3 bis 397,2 Mio. DM und für
z. B. bei der Fahrplanumstellung 1995/1996 konkrete Einfluß die Trassenvariante im „Soehrekorridor" 399,9 bis 542,7 Mio.
nahmen der Bundesregierung auf den Bahnvorstand? DM veranschlagt (also zwischen niedrigster und höchster Sum-
me eine Differenz zwischen 130 und 140 Mio. DM bei beiden
Trassen besteht)?
Ein Einwirken der Bundesregierung im Sinne des
§ 4 Abs. 2 Raumordnungsgesetz hat sich an dem be-
stehenden Gesetzesrahmen, insbesondere des Akti- Zu Frage 15:
engesetzes zu orientieren.
Die in der Frage unterstellte Aussage in Verlänge-
Als politische Instrumente sind im Bereich der Ei- rung der A 44 wären Trassenführungen im Soehre-
senbahninfrastruktur Vereinbarungen nach dem Korridor 4 km kürzer als Trassenführungen im Losse-
Schienenwegeausbaugesetz, bei Eisenbahnver- Korridor, trifft nicht zu. Denkbare Trassen in beiden
kehrsleistungen Verpflichtungen bzw. Vereinbarun- Korridoren sind etwa gleich lang.
gen nach der Verordnung (EWG) Nr. 1191/69 zu nen-
nen. Hierbei müßte der Bund der DB AG die nicht Zu Frage 16:
gedeckten Aufwendungen erstatten. Für den Fern-
verkehr sind im übrigen keine Mittel im gültigen Die in der Frage richtig zitierten Bandbreiten der
Haushalt bereitgestellt. Im Nahverkehr werden die Kosten in den beiden Korridoren entstanden durch
für den Schienenpersonennahverkehr der DB AG die Abschätzung unterschiedlicher Trassenvarianten
verwendeten Mittel ab 1. Januar 1996 auf die Länder in jedem Korridor.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1515*
Zu Frage 17:
Zu Frage 30:
Die Bundesregierung drängt mit Nachdruck dar-
auf, daß die hessische Straßenbauverwaltung die pla- Die Stationierung türkischer Truppen im nördli-
nungsrechtlichen Voraussetzungen zum Bau der als chen Teil der Republik Zypern geht auf die Invasion
vordringlich erkannten A 44 zwischen Kassel und Nordzyperns durch die Türkei im Jahre 1974 zurück.
Herleshausen (A 4) möglichst zügig schafft. Zur Bereits damals hat der VN-Sicherheitsrat in seiner
Findung einer für die A 44 geeigneten Trassenfüh- Resolution 353 (1974) den Rückzug aller ausländi-
rung war zunächst die Ermittlung relativ konflikt- schen Truppen aus der Republik Zypern gefordert,
armer Korridore erforderlich. die die Souveränität und territoriale Integrität Zy-
perns beeinträchtigen. Auch in seiner jüngsten Reso-
Nach der noch ausstehenden Abstimmung Land/ lution vom 21. Dezember 1994 hat der Sicherheitsrat
Bund über konkrete Trassenführungen (außerhalb die betroffenen Parteien zu Truppenreduzierungen
der bereits in den Raumordnungsverfahren befindli- als erstem Schritt zu einem Rückzug nicht-zyprischer
chen Teilstrecken) sind für diese Trassen auf Landes- Truppen von der Insel aufgerufen. Die Bundesregie-
ebene Raumordnungsverfahren durchzuführen. Mit rung hat die Folgen der türkischen Besetzung, insbe-
dem Ergebnis der Raumordnungsverfahren wird das sondere die Errichtung einer unabhängigen „Türki-
Land anschließend die Linienbestimmung durch das schen Republik Nordzypern" nie anerkannt. Nach
-
Bundesministerium für Verkehr beantragen. Einschätzung der Bundesregierung wird das Vorha-
Das Bundesministerium für Verkehr wird in diesem ben zur Förderung des Baus von zwei Fregatten für
Rahmen alle Vorschläge ernsthaft prüfen. die Türkei, über deren Hintergrund bei der Beant-
wortung der Fragen 25 ff. ausführlich berichtet
wurde, keine Veränderung der Sicherheitslage der
Zu Frage 18:
Republik Zypern zur Folge haben.
Bei der endgültigen Trassenwahl wird dem Krite-
rium des Verkehrslärms eine sehr große Bedeutung
zukommen. Aussagen für einzelne Betroffene sind
erst bei der näheren Untersuchung eines genau defi-
nierten Trassenverlaufs möglich. Anlage 8
Antwort
Anlage 9 Anlage 10
Antwort Antwort
des Staatsministers Dr. Werner Hoyer auf die Fragen des Staatsministers Dr. Werner Hoyer auf die Frage
der Abgeordneten Amke Dietert-Scheuer (BÜND- des Abgeordneten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 13/470 Fragen 35 (F.D.P.) (Drucksache 13/470 Frage 37):
und 36): 'tat die Bundesregierung im Zusammenhang mit der vorgese-
henen Gewährung von EU-Hilfen zur Beseitigung der Kriegsfol-
Setzt sich die Delegation der Bundesregierung hei der gegen- gen gegenüber der kroatischen Regierung auch die Forderung
wärtig tagenden Menschenrechtskommission der Vereinten Na- nach einem rechtsstaatlichen Umgang mit denjenigen Gruppen
tionen dafür ein, daß die Menschenrechtssituation im Sudan be- hervorgehoben, die gegenwärtig in Kroatien Diskriminierungen
handelt wird und die Regierung des Sudan gedrängt wird, die ausgesetzt sind (Serben, Moslems, Deserteure), und wenn nein,
Zusammenarbeit mit dem Sonderberichterstatter der VN zum warum nicht?
Sudan, Ga<'spa<'r Biro<', wieder aufzunehmen, wenn ja, auf wel-
che Weise?
Der Europäische Rat hat bereits im Dezember 1992
Unterstützt die Delegation der Bundesregierung die Forde- grundsätzlich beschlossen, Kroatien in das PHARE-
rung von Amnesty International nach der Einrichtung einer zivi-
len Menschenrechtsbeobachterkommission durch die VN-Men-
Programm einzubeziehen und Restmittel aus dem in-
schenrechtskommission in Verantwortung der VN oder der Or- zwischen wegen der Kündigung des Kooperationsab-
ganisation für Afrikanische Einheit, die mit Zustimmung aller kommens mit dem ehemaligen Jugoslawien hinfälli-
drei Kriegsparteien (der sudanesischen Regierung und der bei- gen 2. Finanzprotokoll zur Verfügung zu stellen.
den Flügel der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee [SPLA]) in
allen Provinzen des Sudan arbeiten soll, und welche Mittel zur Die Kommission legte am 23. November 1994 einen
Durchsetzung dieser Forderung gegenüber der sudanesischen
förmlichen Vorschlag für die Einbeziehung Kroatiens
Regierung und der oppositionellen SPLA nutzt die Bundesregie-
rung? in das PHARE-Programm vor. Die notwendige Stel-
lungnahme des Europäischen Parlaments hierzu
Zu Frage 35: steht noch aus.
Die Bundesregierung hat bereits auf der letztjäh- Fragen im Zusammenhang mit Vorwürfen bezüg-
rigen Sitzung der VN-Menschenrechtskommission lich Diskriminierungen von Teilen der kroatischen
den von den USA eingebrachten Resolutionsentwurf Bevölkerung sind von der Bundesregierung gegen-
zur Menschenrechtssituation im Sudan unterstützt, über Kroatien bei jeder sich bietenden Gelegenheit
der u. a. die Entschließung beinhaltet, die Menschen- angesprochen worden.
rechtssituation im Sudan auch 1995 wieder auf die
Tagesordnung zu setzen. Die Bundesregierung wird
sich auch auf der diesjährigen Sitzung mit allen ihr
zur Verfügung stehenden Mitteln dafür einsetzen,
daß das Mandat des Sonderberichterstatters Gaspar Anlage 11
Biro verlängert wird und der Sonderberichterstatter
seine Arbeit wieder aufnehmen kann. Die Bundesre- Antwort
gierung wird auch dieses Jahr den von den USA ge- des Parl. Staatssekretärs Dr. Norbert Lammert auf die
planten Resolutionsentwurf zum Sudan unterstützen. Fragen des Abgeordneten Norbert Gansel (SPD)
(Drucksache 13/470 Fragen 48 und 49):
Zu Frage 36:
Welche Firmen haben außer der Telemit Electronic GmbH
Die Bundesregierung hält die Einrichtung von während des irakisch-iranischen Krieges Genehmigungen nach
dem Außenwirtschaftsgesetz oder Kriegswaffenkontrollgesetz
Menschenrechtsbeobachtermissionen durch die Ver- für Exporte in den Irak oder Iran erhalten?
einten Nationen oder durch Regionalorganisationen
Hat die Firma Telemit Electronic GmbH auch nach dem ira-
für ein geeignetes und sinnvolles Instrument zur Ver- kisch-iranischen Krieg Genehmigungen der Bundesregierung
besserung der Menschenrechtssituation in Ländern nach dem Außenwirtschaftsgesetz oder Kriegswaffenkontroll-
mit gravierenden Menschenrechtsdefiziten. Grund- gesetz erhalten?
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1517*
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Norbert Lammert auf die
Frage des Abgeordneten Michael Wonneberger
(CDU/CSU) (Drucksache 13/470 Frage 50): Anlage 13
höheren freien Beruf des Gesundheitswesens aus (SPD) (Drucksache 13/470 Fragen 53 und 54):
und sind zugleich Inhaber eines gewerblichen Be- Wie beurteilt die Bundesregierung die Situation der Grenz-
triebes. gänger in die Schweiz, die ihre Arbeitslosenversicherung nach
schweizerischem Arbeitslosengesetz bezahlen, im Falle der
Arbeitslosigkeit aber nach deutscher Auslegung vergütet wer-
Die Pflichtmitgliedschaft des Apothekers zur Indu- den, welche erheblich tiefer liegt?
strie- und Handelskammer bleibt davon unberührt,
daß er als selbständiger Apotheker aufgrund landes- Wer prüft gegenwärtig, ob und inwieweit Grenzgänger in die
Schweiz, die dort krankenversichert sind, in die deutsche Pfle-
rechtlicher Vorschriften auch noch einer besonderen geversicherung einbezogen werden können, und liegen der
Berufsorganisation, der Apothekerkammer, ange- Bundesregierung schon erste Ergebnisse dieser Prüfung vor?
hört. Diese Doppelmitgliedschaft selbständiger Apo-
theker wurde vom Gesetzgeber bei Erlaß des IHK- Zu Frage 53:
Gesetzes durchaus gesehen. Sie ist Ausfluß der Si-
tuation, daß zwei kammerpflichtige Berufe ausgeübt Aufgrund des deutschschweizerischen Abkom-
werden. Im Zuge der parlamentarischen Beratungen mens über Arbeitslosenversicherung können u. a.
dieses Gesetzes wurde eine Vorschrift in das Gesetz Grenzgänger, die in Deutschland wohnen und in der
aufgenommen, die die Auswirkungen der doppelten Schweiz arbeiten, im Falle der Arbeitslosigkeit deut-
Beitragspflicht bei den kammerzugehörigen Apothe- sches Arbeitslosengeld erhalten.
kern einschränkt. Danach brauchen Inhaber einer Für die Bemessung des deutschen Arbeitslosengel-
Apotheke neben dem Grundbeitrag nur ein Viertel des wird gemäß dem Abkommen allerdings nicht das
der Umlage zu zahlen. Wesentlich für diese Regelung zuletzt in der Schweiz tatsächlich bezogene Arbeits-
ist, daß selbständige Apotheker zwangsläufig neben entgelt zugrunde gelegt. Vielmehr ist das tarifliche
ihrer freiberuflichen Tätigkeit zugleich ein Gewerbe Arbeitsentgelt in der Bundesrepublik Deutschland
betreiben. heranzuziehen, das der Beschäftigung in der
Schweiz entspricht. Daher ist es möglich, daß der Un-
Dieser Regelung hatte seinerzeit die Arbeitsge- terschied zwischen dem bisherigen Nettoverdienst in
meinschaft der Berufsvertretungen deutscher Apo- der Schweiz und dem deutschen Arbeitslosengeld
theker einvernehmlich mit dem Deutschen Industrie-
größer ist als bei einem in Deutschland Beschäftig-
und Handelstag zugestimmt. ten. Zu berücksichtigen ist dabei, daß der Nettover-
dienst in der Schweiz wegen des dortigen höheren
Zu Frage 52: Lohnniveaus und der geringeren Sozialabgaben in
der Regel über dem eines vergleichbaren Beschäftig-
Die gleichzeitige Zugehörigkeit zur Indus trie- und ten in Deutschland liegt.
Handelskammer und zur Apothekerkammer ist ver-
fassungsrechtlich unbedenklich. Beide Kammern ha- Würde bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes
ben verschiedene Zielsetzungen; der Industrie- und hingegen von dem schweizerischen Arbeitsentgelt
Handelskammer gehört der Apotheker als Gewerbe- ausgegangen, führte dies zu einer finanziellen Bes-
treibender an, der Apothekerkammer (Berufsorgani- serstellung der arbeitslosen Grenzgänger gegenüber
sation) als Berufsangehöriger (ebenso wie jeder ihren in Deutschland beschäftigten Kollegen und es
nichtselbständige Apotheker). fehlte möglicherweise ein Anreiz, sich auf dem deut-
schen Arbeitsmarkt vermitteln zu lassen.
Im übrigen gibt es Doppelmitgliedschaften zu ver-
schiedenen Kammern auch bei anderen Berufen. Das Zu Frage 54:
Bundesverwaltungsgericht hat in mehreren Urteilen Es trifft zu, daß der in Deutschland wohnhafte Per-
die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kammern recht- sonenkreis der Grenzgänger, der keine Anbindung
lich für zulässig erachtet. So sind handwerkliche an die deutsche Krankenversicherung hat, derzeit
Mischbetriebe, die ein Handwerk und daneben ein nicht vom Pflege-Versicherungsgesetz erfaßt ist.
anderes Gewerbe betreiben, Mitglieder der Hand-
werkskammer und mit ihrem nichthandwerklichen Der Gesetzgeber hat die Versicherungspflicht in
Betriebsteil auch Pflichtmitglieder der Industrie- und der Pflegeversicherung bewußt an die gesetzliche
Handelskammer. Auch Wirtschaftsprüfer und Steuer- Krankenversicherung angebunden und sich nicht für
berater gehören gleichzeitig der IHK an, wenn sie, das sogenannte Wohnsitzmodell entschieden. Aller-
soweit berufsrechtlich zulässig, auch gewerbliche Tä- dings ist mit der Einführung einer Versicherungs-
tigkeiten ausüben. pflicht in der privaten Pflegeversicherung für den pri-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1519*
vat krankenversicherten Bevölkerungsteil eine wei- tritt. Ein solches Wahlrecht wäre gegenüber dem
testgehende Einbeziehung der Wohnbevölkerung in pflichtversicherten Personenkreis ungerecht. Würde
Deutschland erreicht worden. man diesen Personenkreis ohne eine Anbindung an
die Krankenversicherung in der Pflegeversicherung
Grenzgänger, die aus Deutschland in EG-Länder versicherungspflichtig machen, käme dies einer vom
pendeln, sind aufgrund des ausländischen Kranken- Gesetzgeber nicht gewünschten Volksversicherung
versicherungsschutzes in Deutschland im Wege der gleich.
Sachleistungsaushilfe ebenfalls leistungsrechtlich
eingebunden, da die Verordnung 1408/71 EWG die
Pflegeversicherung in ihrem sachlichen Geltungsbe- Ob und wie gegebenenfalls diese Einbeziehung
reich erfaßt. Dies bedeutet, daß dieser in Deutschland auszugestalten ist, wird derzeit im Bundesministe-
wohnhafte Personenkreis die Leistungen der Pflege- rium für Arbeit und Sozialordnung geprüft. Ich weise
versicherung aufgrund seines ausländischen Kran- darauf hin, daß in dieser Angelegenheit auch das
kenversicherungsschutzes erhält. Bundesministerium für Gesundheit zu beteiligen ist.
Demgegenüber wird die Pflegeversicherung nicht
vom sachlichen Geltungsbereich des deutsch-
schweizerischen Abkommens über soziale Sicherheit
erfaßt, so daß deutsche Grenzgänger in der Schweiz
die Leistungen bei Pflegebedürftigkeit nicht über Anlage 15
ihre Schweizer Krankenversicherung im Rahmen der
Sachleistungsaushilfe erhalten können. Folgende Lö- Antwort
sungen sind denkbar:
- eine Änderung des Sozialversicherungsabkom- des Parl. Staatssekretärs Horst Günther auf die Frage
mens in der Weise, daß die in Deutschland leben- der Abgeordneten Dr. Angelica Schwall-Düren
den, in der Schweiz versicherten Grenzgänger die (SPD) (Drucksache 13/470 Frage 55):
Leistungen der Pflegeversicherung zu Lasten der
Schweizer Krankenversicherung erhalten. Diese
Im Zusammenhang mit der eingeführten Agrarsozialreform
Lösung halte ich jedoch im Hinblick auf schweize- zum 1. Januar 1995 und der Zahlungspflicht zur Alterskasse
rische Bedenken kaum für durchsetzbar. auch der Ehefrauen von Landwirten im Nebenbetrieb frage ich,
liegen der Bundesregierung bereits Erkenntnisse dazu vor, wie
- Einräumung eines freiwilligen Beitrittsrechts zur viele Ehefrauen von Landwirten in Nebenbetrieben von der
Pflegeversicherung im Sozialversicherungsabkom- Neuregelung betroffen sind, und welchen Anteil die von ihnen
men. gezahlten Versicherungsbeiträge am Versicherungsaufkommen
insgesamt haben?
- Pflichtversicherung in der Pflegeversicherung.
Eine vergleichbare Regelung gibt es bereits für die Der Bundesregierung liegen derzeit noch keine Er-
freiwillige Versicherung in der gesetzlichen Kran- kenntnisse zu Ihren Fragen vor.
kenversicherung. Die Grenzgänger, die von dieser
Regelung Gebrauch gemacht haben, sind von der
Versicherungspflicht in der gesetzlichen Pflegeversi- Es gibt keine Statistiken über Ehegatten von Ne-
cherung erfaßt. benerwerbslandwirten in der Alterssicherung der
Landwirte. Solche Statistiken kann es schon deshalb
Bei einer isolierten Einbeziehung dieses Personen- nicht geben, weil bei den landwirtschaftlichen Al-
kreises in die soziale Pflegeversicherung ergeben terskassen nicht in jedem Fall festgestellt wird, ob
sich aber wegen der weiterhin bestehenden Mit- ein Versicherter seinen Betrieb im Haupterwerb oder
gliedschaft in der Schweizer Krankenversicherung im Nebenerwerb führt. Daher hat die Bundesregie-
zahlreiche Abgrenzungsprobleme. Im Gegensatz zur rung bei ihren Modellrechnungen anläßlich der
Krankenversicherung, wo die freiwillige Versiche- Agrarsozialreform auch keine spezifischen Annah-
rung eine eigenständige Form der Mitgliedschaft ist, men über die Anzahl der Ehegatten von Haupt- oder
gibt es in der sozialen Pflegeversicherung keine ei- Nebenerwerbslandwirten getroffen, sondern nur
genständige Form der freiwilligen Mitgliedschaft. eine Annahme über die Anzahl der im Jahr 1995 ver-
Dies müßte in der Pflegeversicherung für deutsche sicherten Ehegatten von Landwirten insgesamt
Grenzgänger in die Schweiz neu eingeführt werden. (181 000 Personen).
Weiterhin müßten die Pflegekassen für diesen Perso-
nenkreis dann die Beitragsbemessung eigenständig
prüfen. Sie könnten nicht auf die Beitragsbemessung Wie groß die Gesamtzahl aller versicherten Ehe-
in der freiwilligen Krankenversicherung zurückgrei- gatten tatsächlich sein wird, läßt sich frühestens
fen. Der Vorteil der Anbindung der Pflegeversiche- Ende 1995 abschätzen, da erst dann die Erklärungs-
rung an die Krankenversicherung ginge somit verlo- frist für Ehegatten von Landwirten abläuft. Die Zahl
ren. der versicherten Ehegatten von Nebenerwerbsland-
wirten wird sich auch dann nur grob abschätzen las-
Grundsätzliche Bedenken gegen eine freiwillige sen. Gerade bei der Gruppe der Ehegatten von Ne-
Mitgliedschaft ergeben sich daraus, daß dieser Perso- benerwerbslandwirten ist es zur Zeit nur sehr schwer
nenkreis sich in jüngeren Jahren zunächst gegen abzusehen, wie stark bei diesem Personenkreis die
eine freiwillige Mitgliedschaft entschließen kann und Neigung ist, sich mit Wirkung zum 1. Januar 1995
erst in späteren Jahren der Solidargemeinschaft bei- von der Versicherungspflicht befreien zu lassen.
1520* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995
Nach Überzeugung der Bundesregierung ist die Die Luftwaffenwerft 62 nimmt Instandsetzungsauf-
Ableistung des Wehrdienstes unmittelbar nach dem gaben für das Waffensystem F-4 Phantom wahr. Das
Abitur oder dem Abschluß einer Ausbildung auch dort eingesetzte technische Personal ist schwer-
die beste Lösung, um den Wehrpflichtigen und ihren punktmäßig für das Waffensystem F-4 ausgebildet
potentiellen Arbeitgebern die Möglichkeit zu geben, und verfügt nicht über TORNADO-spezifische
den weiteren Lebensweg und die berufliche Karriere Kenntnisse.
zu planen.
Aus diesem Grunde ist die Luftwaffenwerft 62 von
den Maßnahmen, die für die TORNADO-Einrichtung
in Holloman geplant sind, nicht betroffen.
Anlage 17
Antwort
Anlage 18
des Parl. Staatssekretärs Be rn d Wilz auf die Fragen
der Abgeordneten Gabriele Iwersen (SPD) (Drucksa-
Antwort
che 13/470 Fragen 57 und 58):
In welchem Umfang und für welchen Zeitraum wird die Torna- des Parl. Staatssekretärs Bernd Wilz auf die Fragen
do-Pilotenausbildung von Upjever nach I Zolloman (El Paso) ver- des Abgeordneten Gernot Erler (SPD) (Drucksache
leg t? 13/470 Fragen 59 und 60):
Wie weit wird z. Z. technisches Personal für den Einsatz in den Wie beurteilt die Bundesregierung den Vorgang in Ottobrunn
USA vorbereitet, und inwieweit ist die Luftwaffenwerft 62 von bei München, demzufolge ein geschütztes Gebäude für einen
den geplanten Maßnahmen betroffen? Flugsimulator zunächst für einen zweistelligen Millionenbetrag
aus Steuermitteln gebaut wurde und jetzt für einen Millionenbe-
Zu Frage 57: trag aus Steuermitteln wieder abgerissen wird, mit der Folge,
daß für hinter dem Abrißprojekt eingesetzte Computer keine
Die deutsche Luftwaffe hat entsprechende planeri- Abstrahlsicherheit mehr gegeben ist, so daß neue, abstrahlsiche-
re Geräte im Millionenwert aus Steuermitteln erforderlich wer-
sche und organisatorische Maßnahmen eingeleitet, den, und um welche DM-Beträge handelt es sich bei Gebäude-
um die im US-Bundesstaat Neu Mexico gelegene aufbau, Gebäudeabriß und Wiederherstellung der Kommunika-
Luftwaffenbasis Holloman ab Mitte 1996 zur Durch- tionssicherheit im einzelnen?
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1521*
Was gedenkt die Bundesregierung angesichts dieser Vernich- baut hatte, laut Vertrag mit dem BMVg aus den 60er
tung von Werten aus Mitteln des Steuerzahlers zu tun, und in
welcher Weise wird sie die Schuldigen zur Verantwortung zie-
Jahren einen Rechtsanspruch auf „Rückbau" bei
hen bzw. Schadenersatz fordern? Auslaufen der Gebäudenutzung.
Das Simulatorgebäude kann allenfalls begrenzt
Zu Frage 59: zur Abstrahlsicherheit der in benachbarten Gebäu-
Die Bundesregierung hat die Simulationsanlage den eingerichteten Computer beigetragen haben. In-
bei der IABG in Ottobrunn aus Rationalisierungs- wieweit und ob überhaupt die Abstrahlsicherheit
gründen im Jahr 1993 stillgelegt und die Kosten für durch den Abriß des Gebäudes beeinträchtigt wird,
Gebäudeabrißmaßnahmen in ihren Berechnungen wird zur Zeit mit Hilfe von Abstrahlmessungen durch
und bei ihrer Entscheidung berücksichtigt. das Amt für Fernmelde- und Informationssysteme
der Bundeswehr untersucht. Die Ergebnisse liegen
Die Stillegung der Anlage war durch zwei Fakto- noch nicht vor.
ren bedingt:
Die Kosten des Gebäudeaufbaues und des Gebäu-
- Die seinerzeit bestehende Auftragslage lastete den deabrisses stellen sich wie folgt dar.
Simulator bei weitem nicht aus. Zusätzliche bzw.
neue Aufträge oder weitere Nutzer waren nicht zu G ebäudeherstellungs
erwarten. kosten (1973) 10,764 Mio. DM
- Bei Fortsetzung des Betriebes wären zusätzlich zu abzulösender Zeitwert
den Betriebskosten von jährlich 4,8 Mio. DM Inve- (1993) 3,319 Mio. DM (einmalig)
stitionskosten in Höhe von ca. 2 Mio. DM für den
Abrißkosten (1995)
Austausch der völlig veralteten Simulationsrechner
(geschätzt) 4,6 Mio. DM (einmalig)
notwendig geworden.
Eine anderweitige Verwendungsmöglichkeit für das Zu Frage 60:
Simulatorgebäude bestand nicht.
Die Durchführung der Rationalisierungsmaßnahme
Die Mietbelastung durch das Gebäude war nur mit führt bereits kurzfristig zu Einsparungen. Die Frage
dessen Abriß zu umgehen. Außerdem hatte die IVG, nach schuldhaftem Handeln bzw. Schadenersatz
die das Gebäude für den Bund auf ihrem Gelände er- stellt sich nicht.