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Plenarprotokoll 13/21

Deutscher Bundestag
Stenographischer Bericht

21. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Inhalt:

Erweiterung und Abwicklung der Tages Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
ordnung . . . . . . . . . . . . 1351B, 1447 C NEN 1357B
Dr. Olaf Feldmann F.D.P. . . . . . . 1358C
Absetzung des Punktes 8 von der Tages
ordnung . . . . . . . . . . . . . . . 1352 A Andrea Lederer PDS . . . . . . . . 1359D
Dr. Alfred Dregger CDU/CSU . . . . 1361 C
Tagesordnungspunkt 3: Dr. Winfried Wolf PDS . . . . . . . 1362 B
a) Antrag der Abgeordneten Klaus Uta Zapf SPD 1364 B
Francke (Hamburg), Peter Kurt Würz-
bach und der Fraktion der CDU/CSU Ludger Volmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
sowie der Abgeordneten Karsten NEN 1367A
D. Voigt (Frankfurt), Uta Zapf und der Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU . . . 1367 D
Fraktion der SPD sowie der Abgeordne--
ten Ulrich Irmer, Dr. Olaf Feldmann und Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA 1368D
der Fraktion der F.D.P.: Unbefristete
und unkonditionierte Verlängerung des Zusatztagesordnungspunkt 2:
Nichtverbreitungs-Vertrages (Drucksa- Antrag der Fraktion der SPD: Bestim-
che 13/398) mung des Verfahrens für die Berech-
nung der Stellenanteile (Drucksache
b) Antrag der Abgeordneten Andrea Le-
13/547)
derer, Heinrich Graf von Einsiedel und
der weiteren Abgeordneten der PDS:
Beitrag der Bundesrepublik Deutsch- in Verbindung mit
land zur Nichtverbreitung von Kern-
waffen (Drucksache 13/429) Zusatztagesordnungspunkt 3:
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
in Verbindung mit und F.D.P.: Wahlverfahren von Gre-
mien (Drucksache 13/542)
Zusatztagesordnungspunkt 1: Joachim Hörster CDU/CSU 1371 A
Antrag der Abgeordneten Angelika Dr. Peter Struck SPD 1371 D
Beer, Ludger Volmer und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Reform Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE
und Stärkung des Nichtweiterverbrei- GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . 1372C
tungsvertrages für Atomwaffen und Jörg van Essen F.D.P. 1373 A
das Mandat der Bundesregierung für
Manfred Müller (Berlin) PDS . . . . . . 1373 D
die Verlängerungskonferenz in New
York (Drucksache 13/537)
Namentliche Abstimmung . . . . . . , 1374 D
Klaus Francke (Hamburg) CDU/CSU . 1352C
Gernot Erler SPD 1354 B Ergebnis 1375 A
II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Zusatztagesordnungspunkt 4: j) Wahl der Mitglieder des Gemeinsamen


Ausschusses nach Artikel 53 a des
Wahlen zu Gremien Grundgesetzes (Drucksachen 13/558,
a) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu 13/559, 13/560, 13/561, 13/571) . . . . 1377 C
entsendenden Mitglieder des Aus-
schusses nach Artikel 77 Abs. 2 des Zusatztagesordnungspunkt 5:
Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) Abgabe einer Erklärung der Bundes-
(Drucksachen 13/557, 13/570) regierung
b) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu Hilfen für die neuen Bundesländer
entsendenden Mitglieder des Schul- Aufbau Ost -Erfolgreicher
denausschusses bei der Bundesschul- Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 1379B
denverwaltung gemäß § 6 Abs. 1 und 2
des Gesetzes über die Errichtung einer Otto Schily SPD 1382 D
Schuldenverwaltung des Vereinigten Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident
Wirtschaftsgebietes und § 2 der Ver- (Thüringen) . . . . . . . . . . . . 1385 A
ordnung über die Bundesschuldenver-
waltung (Drucksache 13/562) Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN 1389B
c) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu Ernst Hinsken CDU/CSU . . . 1390C, 1391 B
bestimmenden Mitglieder des Kon-
trollausschusses beim Bundesaus- Ernst Schwanhold SPD 1391 A
gleichsamt gemäß § 313 Abs. 1 und 2 Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. 1392 A
des Lastenausgleichsgesetzes (Druck-
Ingrid Matthäus-Maier SPD .. 1393B, 1409 B
sachen 13/563, 13/572)
Dr. Gregor Gysi PDS . . . . . . . . 1394 D
d) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu 1397 B
Rolf Schwanitz SPD
entsendenden Mitglieder gemäß § 11
des Gesetzes über die Regulierung der Stefan Heym PDS 1399 C
Telekommunikation und des Postwe- Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU 1399 D
sens (Drucksachen 13/564, 13/573)
Otto Schily SPD 1401A, 1411 A
e) Wahl der vom Deutschen Bundestag Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU . . . 1401 B
vorzuschlagenden Mitglieder des Pro-
grammbeirats der Deutschen Bundes- Antje Hermenau BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
post gemäß §§ 1 und 2 der Geschäfts- NEN 1403A
ordnung des Beirats zur Bestimmung Jürgen Türk F.D.P 1404 B
der Anlässe für die Ausgabe von Son-
Helmut Wieczorek (Duisburg) SPD . 1405 D
derpostwertzeichen ohne Zuschlag der
-
Deutschen Bundespost (Programmbei- Hans-Peter Repnik CDU/CSU 1408 B, 1412 C
rat) (Drucksache 13/565) . . . . . . 1411 D
Ingrid Matthäus-Maier SPD
f) Wahl der vom Deutschen Bundestag
vorzuschlagenden Mitglieder des Tagesordnungspunkt 4:
Kunstbeirats der Deutschen Bundes- Erste Beratung des von der Bundesre-
post gemäß §§ 1 und 2 der Geschäfts- eginbrachtuEwfse
ordnung des Beirats für die graphische Gesetzes zu dem Beschluß des Rates
Gestaltung der Postwertzeichen der vom 31. Oktober 1994 über das System
Deutschen Bundespost (Kunstbeirat) der Eigenmittel der Europäischen Ge-
(Drucksache 13/566) meinschaften (Drucksache 13/382)
g) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär
entsendenden Mitglieder des Kuratori- BMF 1413 B
ums der Stiftung „Haus der Geschichte Hans Georg Wagner SPD 1414 1)
der Bundesrepublik Deutschland"
(Drucksachen 13/567, 13/574) Uwe Lühr F.D.P 1416 C
Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
h) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu NEN 1417 C
entsendenden Mitglieder des Kuratori-
ums der „Stiftung Archiv der Parteien Dr. Barbara Höll PDS 1418C
und Massenorganisationen in der Wilfried Seibel CDU/CSU 1419 D
DDR" (Drucksachen 13/568, 13/575) 1421 B
Detlev von Larcher SPD . . . . . . .
i) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu Wilfried Seibel CDU/CSU 1422 D
entsendenden Mitglieder des Parla-
Friedrich Merz CDU/CSU 1423 B
mentarischen Beirats der Stiftung für
das sorbische Volk (Drucksache 13/569) Detlev von Larcher SPD 1423 C
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 III

Tagesordnungspunkt 5: Tagesordnungspunkt 13:


Antrag der Abgeordneten Dr. Ingomar Überweisung im vereinfachten Ver-
Hauchler, Hans Büttner (Ingolstadt), fahren
weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD: Weltgipfel für soziale Ent- Antrag des Bundesministeriums der
wicklung vom 6. bis 12. März 1995 in Finanzen: Einwilligung gemäß § 64
Kopenhagen (Drucksache 13/421) Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in
die Veräußerung einer Teilfläche der
in Verbindung mit bundeseigenen ehemaligen US-Wohn-
siedlung Pattonville (Gemarkungen
Zusatztagesordnungspunkt 6: Kornwestheim und Remseck) an den
Zweckverband Pattonville/Sonnen-
Antrag der Abgeordneten der PDS: bergsiedlung (Drucksache 13/393)
Weltgipfel für soziale Entwicklung
vom 6. bis 12. März 1995 in Kopen-
hagen (Drucksache 13/535) in Verbindung mit

in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 12:

Erste Beratung des von den Fraktionen


Zusatztagesordnungspunkt 7:
CDU/CSU, SPD, F.D.P. und BÜNDNIS
Antrag der Abgeordneten Dr. Angelika 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
Köster-Loßack, Dr. Uschi Eid, Wolfgang wurfs eines Gesetzes zur Änderung der
Schmitt, weiterer Abgeordneter und der Vorschriften über parlamentarische
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gremien (Drucksache 13/543)
Weltsozialgipfel (Drucksache 13/539)
in Verbindung mit
in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 8: Zusatztagesordnungspunkt 13:

Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Antrag der Abgeordneten Marieluise


Pinger, Wolfgang Vogt (Düren) und der Beck (Bremen), Annelie Buntenbach
Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
geordneten Roland Kohn, Dr. Irmgard GRÜNEN: Aktionsprogramm Arbeits-
Schwaetzer und der Fraktion der F.D.P.: politik (Drucksache 13/578) 1445 C
Weltgipfel für soziale Entwicklung
vom 6. bis 12. März 1995 in Kopen- Tagesordnungspunkt 14:
hagen (Drucksache 13/556)
Abschließende Beratungen ohne Aus-
Hans Büttner (Ingolstadt) SPD . . 1425 C, 1430 C
sprache
Wolfgang Vogt (Düren) CDU/CSU 1427 B, 1430 C
a) Zweite und dritte Beratung des von den
Dr. Angelika Köster-Loßack BÜNDNIS 90/ Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
DIE GRÜNEN 1428 C eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Roland Kohn F.D.P. 1430 D zur Änderung des Asylverfahrensge-
setzes (Drucksachen 13/240, 13/544)
Dr. Winfried Wolf PDS . . . . . . . 1432 D
Dr. Winfried Pinger CDU/CSU . . . 1433 B b) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
Frederik Schulze CDU/CSU . , . 1434 B BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.:
Beteiligung einer Delegation des Deut-
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 1435 A schen Bundestages an der VN-Konfe-
Dr. Winfried Wolf PDS 1435 C renz in Berlin vom 23. März bis 7. April
1995 (Drucksache 13/540)
Dr. R. Werner Schuster SPD .. 1436 B
Peter Dreßen SPD 1436 D c) Beschlußempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Wirtschaft zu der Ver-
Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD . . 1437 D
ordnung der Bundesregierung: Aufheb-
Ingrid Becker-Inglau SPD 1438 B bare Fünfunddreißigste Verordnung
Birgit Schnieber-Jastram CDU/CSU . . 1440 A zur Änderung der Außenwirtschafts-
verordnung (Drucksachen 13/23, 13/
Klaus-Jürgen Hedrich, Parl. Staatssekretär 428)
BMZ 1441C
Gabriele Fograscher SPD 1442 C d-h) Beschlußempfehlungen des Petitions-
ausschusses: Sammelübersichten 9 bis
Andreas Krautscheid CDU/CSU . . . 1444 A
13 zu Petitionen (Drucksachen 13/334,
Freimut Duve SPD . . . . . 1 445 A 13/424, 13/425, 13/426 und 13/427) . 1446 A
IV Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Zusatztagesordnungspunkt: ach, der Bahn Hausach nach Freudenstadt


Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, sowie der Bahn Titisee nach Seebrück
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: MdlAnfr 19
Solidarität mit Salman Rushdie und Peter Dreßen SPD
Appell gegen die Einschränkung von Antw PStSekr Johannes Nitsch BMV . 1451 A
Meinungsfreiheit (Drucksache 13/586)
ZusFr Peter Dreßen SPD 1451 B
Gerhard Zwerenz PDS (Erklärung nach
ZusFr Dr. Winfried Wolf PDS 1451 C
§ 31 GO) 1447 D
Viergleisiger Ausbau der Rheintalschiene
Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung):
zwischen Offenburg und Basel im Zuge
Fragestunde der gemäß Alpenkonvention geplanten
(Drucksache 13/470 vom 10. Februar umweltfreundlichen Verkehrsabwicklung
1995) MdlAnfr 20
Peter Dreßen SPD
Härtefallregelung für traumatisierte
Antw PStSekr Johannes Nitsch BMV . . 1452 A
Flüchtlinge und ältere alleinstehende
Menschen aus Kroatien; Aufenthaltser- ZusFr Peter Dreßen SPD . . . . . . 1452 B
laubnis nach § 32 AuslG für bosnische ZusFr Elke Ferner SPD 1452 C
Flüchtlinge bis zur Umsetzung des für
Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge vor- Einsatzziele für die mit deutschen Mitteln
gesehenen § 32a AuslG geförderten türkischen Fregatten
MdlAnfr 45, 46 MdlAnfr 25
Dr. Max Stadler F.D.P. Elke Ferner SPD
Antw PStSekr Eduard Lintner BMI . . . 1448 B Antw StMin Dr. Werner Hoyer AA . . . 1452 D

Aussetzung der Abschiebung kroatischer Verstärkung des militärischen Ungleich-


Flüchtlinge angesichts der Lage in Kroa- gewichts im östlichen Mittelmeer zu La-
tien bei Nichtverlängerung des Mandats sten des NATO-Partners Griechenland
der UN-Schutztruppen durch die Lieferung von zwei Fregatten
MdlAnfr 47 aus Deutschland an die Türkei
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig F.D.P. MdlAnfr 26, 27
Antw PStSekr Eduard Lintner BMI . . . 1448 D Uwe Hiksch SPD
ZusFr Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜND Antw StMin Dr. Werner Hoyer AA 1453 A, 1456 A
NIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . 1448 D ZusFr Elke Ferner SPD 1453 B
ZusFr Uwe Hiksch SPD 1453 C, D, 1456 B
Ausbau der A 6 zwischen Amberg-Ost,
- ZusFr Uta Zapf SPD 1454 A
Pfreimd und Waidhaus; Dringlichkeits-
einstufung ZusFr Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/
MdlAnfr 9, 10 DIE GRÜNEN . . 1454 B, 1457 A
Georg Pfannenstein SPD ZusFr Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD . 1454 C
Antw PStSekr Johannes Nitsch BMV 1449 B, D ZusFr Eckart Kuhlwein SPD . . . 1454 D, 1457 B
ZusFr Georg Pfannenstein SPD . . . 1449 C ZusFr Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD 1455 A, 1456 D
ZusFr Amke Dietert-Scheuer BÜNDNIS 90/
Lärmschutzminderung von mindestens DIE GRÜNEN 1455 B, 1457 C
3 Dezibel im Zusammenhang mit dem
ZusFr Gernot Erler SPD . . . 1455 C, 1457 C
Lkw-Nachtfahrverbot
ZusFr Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/
MdlAnfr 12
DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . 1456 C
Uta Zapf SPD
Antw PStSekr Johannes Nitsch BMV . 1450 A Verhinderung des Einsatzes der für die
ZusFr Uta Zapf SPD 1450 A Türkei vorgesehenen Fregatten aus
Deutschland zur Sicherung der Versor-
Baubeginn der B 70n im Kreis Steinfurt gung der türkischen Besatzungstruppen
(Neuenkirchen/Wettringen/Metelen) auf Zypern
MdlAnfr 14 MdlAnfr 28
Dr. Angelica Schwall-Düren SPD Renate Rennebach SPD
Antw PStSekr Johannes Nitsch BMV 1450 C Antw SIMin Dr. Werner I foyer AA . . . . 1457 D
ZusFr Dr. Angelica Schwall-Düren SPD . 1450 D ZusFr Renate Rennebach SPI) 1458 A
ZusFr Uwe Hiksch SPD 1458 B
Privatisierungs- und Regionalisierungsten
denzen bei der Elztalbahn, der Bahn von ZusFr Gernot Erler SPI) 1458 C
Freiburg nach Breisach, der Bahn Biber ZusFr Eckart Kuhlwein SPD 1458 D
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 V

Förderung türkischer Rüstungsvorhaben Zusatztagesordnungspunkt 9:


durch die Bundesrepublik Deutschland
Antrag des Abgeordneten Dr. Jürgen
angesichts der politischen Lage in der
Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Ägäis
DIE GRÜNEN: Widerspruchsrecht für
MdlAnfr 31 die Bundesministerin für Umwelt,
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD Naturschutz und Reaktorsicherheit
Antw StMin Dr. Werner Hoyer AA . . . 1459 A (Drucksache 13/352)
ZusFr Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD . 1459 B Dr. Jürgen Rochlitz BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN 1491 C
ZusFr Gernot Erler SPD 1459 C
Ulrich Irmer F.D.P 1492 D
Politische und soziale Stabilisierung der Ulrich Klinkert CDU/CSU 1493 B
Türkei mit Finanzhilfen für den Ausbau
Dr. Angela Merkel, Bundesministerin
der Infrastruktur anstelle von Rüstungslie-
BMU 1493D
ferungen
Halo Saibold BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
MdlAnfr 32
NEN 1494C
Eckart Kuhlwein SPD
Dietmar Schütz (Oldenburg) SPD . . . 1494 D
Antw StMin Dr. Werner Hoyer AA . . . 1459 D
ZusFr Eckart Kuhlwein SPD . . . . . . Birgit Homburger F.D.P. 1496 A
1460 A
Meinrad Belle CDU/CSU 1496 D
Tagesordnungspunkt 6: Rolf Köhne PDS . . . . . . . . . . 1497 C
Erste Beratung des von der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- Tagesordnungspunkt 9:
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Ergänzung des Pflege-Versicherungs-
Steffen Tippach und weiteren Abgeord-
gesetzes (Drucksache 13/99)
neten der PDS: Stopp der Militär- und
Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE Wirtschaftshilfe an die Türkei sowie
GRÜNEN 1460 C Vermittlung für eine politische Lösung
Julius Louven CDU/CSU . . . . . . 1461 D in Kurdistan/Türkei (Drucksache 13/212)
Gerd Andres SPD . . . . . . . . 1463 A, 1470 C
in Verbindung mit
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister
BMA 1465 B, 1471 A Zusatztagesordnungspunkt 10:
Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Angelika
DIE GRÜNEN 1467 A Beer und der Fraktion BÜNDNIS 90/
-
Petra Bläss PDS 1468 A DIE GRÜNEN: Politik der Bundesre-
Dr. Gisela Babel F.D.P gierung gegenüber der Türkei (Druck-
1469 B
sache 13/538)
Dr. Maria Böhmer CDU/CSU 1471 C
Ulla Jelpke PDS 1498 B, 1502 C
Ulrike Mascher SPD 1473 A
Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . 1499 B
Tagesordnungspunkt 7: Rudolf Bindig SPD 1500 D
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
und F.D.P.: Situation des deutschen Ho- NEN 1502D
tel- und Gaststättengewerbes (Druck- Ulrich Irmer F.D.P 1504 B
sache 13/541)
Leyla Onur SPD 1505 B
Dr. Rolf Olderog CDU/CSU 1474 D
Thomas Kossendey CDU/CSU 1506 D
Iris Follak SPD 1476 B
Dr. Angelika Köster-Loßack BÜNDNIS
Dr. Olaf Feldmann F.D.P 1478 A
90/DIE GRÜNEN 1508 B
Hans Büttner (Ingolstadt) SPD . . . 1478 D
Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . 1508 D
Halo Saibold BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1479 D
Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE
Dr. Uwe-Jens Rudi Rössel PDS 1481 C GRÜNEN 1510 D
Michael Jung (Limburg) CDU/CSU .. 1483 A Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch . . 1504 A
Ulrich Irmer F.D.P. . . . . . . . . 1484 B
Brunhilde Irber SPD 1485A Nächste Sitzung 1511 C
Ulrich Schmalz CDU/CSU 1487 D
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär Anlage 1
BMWi . . . . . . . . . . . . . . 14 89 D Liste der entschuldigten Abgeordneten 1513* A
VI Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Anlage 2 MdlAnfr 33, 34 - Drs 13/470 -


Dr. Egon Jüttner CDU/CSU
Äußerungen von Bundeskanzler Dr. Kohl
im Zusammenhang mit der Reise von Eh- SchrAntw StMin Dr. Werner Hoyer AA . 1515* D
rengästen zur Fußball-Weltmeisterschaft
in Chicago; Beteiligung des Senders SAT 1
Anlage 9
MdlAnfr 5, 6 - Drs 13/470 -
Freimut Duve SPD Erörterung der Menschenrechtssituation
im Sudan in der Menschenrechtskommis-
SchrAntw PStSekr Bernd Schmidbauer BK 1513* B
sion der Vereinten Nationen; Zusammen-
arbeit des Sudan mit dem Sonderbericht-
Anlage 3 erstatter; Forderung von Amnesty Interna-
tional zur Einrichtung einer zivilen Men-
Tötungsgefahr für Babys auf dem Beifah-
schenrechtsbeobachtermission im Sudan
rersitz durch den Beifahrer-Airbag bei
einem Unfall MdlAnfr 35, 36 - Drs 13/470 -
Amke Dietert-Scheuer BÜNDNIS 90/DIE
MdlAnfr 11 - Drs 13/470
GRÜNEN
SPD -HorstKubatschka
1514* A SchrAntw StMin Dr. Werner Hoyer AA 1516* A
SchrAntw PStSekr Johannes Nitsch BMV

Anlage 4 Anlage 10
Einflußmöglichkeiten des Bundes auf die Forderung rechtsstaatlicher Handlungs-
Bahn- und Post-Unternehmen, z. B. bei weisen als Voraussetzung für die Gewäh-
der Fahrplanumstellung 1995/1996 rung von EU-Hilfen zur Beseitigung der
Kriegsfolgen in Kroatien
MdlAnfr 13 - Drs 13/470 -
Ludwig Stiegler SPD MdlAnfr 37 - Drs 13/470 -
1514* B Dr. Edzard Schmidt-Jortzig F.D.P.
SchrAntw PStSekr Johannes Nitsch BMV
SchrAntw StMin Dr. Werner Hoyer AA 1516*' C

Anlage 5
Entscheidungsgrundlage für die endgül- Anlage 11
tige Autobahn-Trassenführung (A 44) im Genehmigung von Rüstungsexporten
Bereich des Kasseler Kreuzes deutscher Firmen, insbesondere der Firma
MdlAnfr 15, 16 - Drs 13/470 - Telemit Electronic GmbH, in den Irak und
Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P. Iran während oder auch nach dem ira-
kisch-iranischen Krieg
SchrAntw PStSekr Johannes Nitsch BMV 1514* C
MdlAnfr 48, 49 - Drs 13/470 -
Norbert Gansel SPD
Anlage 6
SchrAntw PStSekr Dr. Norbert Lammert
Entscheidungsgrundlage für die Wahl der BMWi 1516* D
endgültigen Autobahntrasse (A 44) im Be-
reich des Kasseler Kreuzes; Berücksichti-
gung der Frage des Verkehrslärms Anlage 12
MdlAnfr 17, 18 - Drs 13/470 - Probleme kleiner und mittelständischer
Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. Unternehmen in den neuen Bundeslän-
SchrAntw PStSekr Johannes Nitsch BMV 1515* A dern durch die mangelhafte Zahlungsmo-
ral privater und öffentlicher Auftraggeber
MdlAnfr 50 - Drs 13/470 -
Anlage 7
Michael Wonneberger CDU/CSU
Veränderung der Sicherheitslage der Re-
SchrAntw PStSekr Dr. Norbert Lammert
publik Zypern durch die Lieferung deut-
BMWi 1517* B
scher Fregatten an die Türkei
MdlAnfr 29, 30 - Drs 13/470 -
Dr. Elke Leonhardt SPD Anlage 13
SchrAntw StMin Dr. Werner Hoyer AA 1515* B Notwendigkeit der Mitgliedschaft der
Apotheker in den Industrie- und Handels-
kammern
Anlage 8
MdlAnfr 51, 52 - Drs 13/470 -
Beurteilung der Vertreibung und entschä-
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P.
digungslosen Enteignung der Sudeten-
deutschen mit dem Hinweis auf den „hi- SchrAntw PStSekr Dr. Norbert Lammert
storischen Kontext" BMWi . . . . . . . . . . . . 1517* D
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 VII

Anlage 14 nach der erfolgreich abgeschlossenen Ab-


Situation der deutschen Grenzgänger in schlußprüfung
die Schweiz bei der Arbeitsgeldregelung; MdlAnfr 56 - Drs 13/470 -
Einbeziehung dieses Personenkreises in Hans-Werner Bertl SPD
die Pflegeversicherung SchrAntw PStSekr Bernd Wilz BMVg . . 1520* A
MdlAnfr 53, 54 - Drs 13/470 -
Karin Rehbock-Zureich SPD
Anlage 17
SchrAntw PStSekr Horst Günther BMA . 1518* C
Verlegung der Tornado-Pilotenausbildung
von Upjever (Ostfriesland) in die USA
Anlage 15 (Holloman/El Paso); Auswirkungen auf die
Luftwaffenwerft 62
Aufkommen an Altersversicherungsbeiträ-
gen der Ehefrauen von Landwirten in MdlAnfr 57, 58 - Drs 13/470 -
Nebenbetrieben nach dem Agrarsozial- Gabriele Iwersen SPD
reformgesetz 1995 SchrAntw PStSekr Bernd Wilz BMVg . . 1520* B
MdlAnfr 55 - Drs 13/470 -
Dr. Angelica Schwall-Düren SPD
Anlage 18
SchrAntw PStSekr Horst Günther BMA . 1519* C Verschleuderung von Steuergeldern mit
dem Abriß des Gebäudes für einen Flug-
Anlage 16 simulator in Ottobrunn bei München

Berufliche Nachteile für Absolventen einer MdlAnfr 59, 60 - Drs 13/470 -


betrieblichen Ausbildung durch die sofor Gernot Erler SPD
tige Einziehung zum Grundwehrdienst SchrAntw PStSekr Bernd Wilz BMVg . . 1520* D

-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1351

21. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich eröffne die Sit- e) Wahl der vom Deutschen Bundestag vorzuschlagenden
zung. Mitglieder des Programmbeirats der Deutschen Bun-
despost gemäß §§ 1 und 2 der Geschäftsordnung des
Beirats zur Bestimmung der Anlässe für die Ausgabe
(Freimut Duve [SPD]: Die Unionsfraktion von Sonderpostwertzeichen ohne Zuschlag der Deut-
hat wohl die Regierung abgesetzt?) schen Bundespost (Programmbeirat) - Drucksache 13/
565 -
- Wir hier oben sind vollzählig.
f) Wahl der vom Deutschen Bundestag vorzuschlagenden
Mitglieder des Kunstbeirats der Deutschen Bundespost
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ gemäß §§ 1 und 2 der Geschäftsordnung des Beirats
DIE GRÜNEN] zu Bundesminister Dr. Klaus für die graphische Gestaltung der Postwertzeichen
Töpfer gewandt: Sie dürfen sich auf den der Deutschen Bundespost (Kunstbeirat) - Drucksache
Stuhl des Bundeskanzlers setzen!) 13/566 -

g) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden


Ich komme zunächst zu den amtlichen Mitteilun- Mitglieder des Kuratoriums der Stiftung „Haus der Ge-
gen. schichte der Bundesrepublik Deutschland" - Druck-
sachen 13/567, 13/574 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die h) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden
verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Mitglieder des Kuratoriums der „Stiftung Archiv der
Zusatzpunkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatz- Parteien und Massenorganisationen in der DDR" -
punktliste aufgeführt. Drucksachen 13/568, 13/575 -

1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Beer, i) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden
Ludger Volmer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mitglieder des Parlamentarischen Beirats der Stiftung
NEN: Reform und Stärkung des Nichtweiterverbreitungs- für das sorbische Volk - Drucksache 13/569 -
vertrages für Atomwaffen und das Mandat der Bundesre-
j) Wahl der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschus-
gierung für die Verlängerungskonferenz in New York -
ses nach Artikel 53a des Grundgesetzes - Drucksachen
Drucksache 13/537 -
13/558, 13/559, 13/560, 13/561, 13/571 -
2. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Bestimmung
(ZP 2 bis ZP 4 Aufruf nach TOP 3)
des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile -
Drucksache 13/547 - 5. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Hilfen für
3. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und die neuen Bundesländer - Erfolgreicher Aufbau Ost
F.D.P.: Wahlverfahren von Gremien - Drucksache 13/542 - 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten der PDS: Weltgip-
4. Wahlen zu Gremien fel für soziale Entwicklung vom 6. bis 12. März 1995 in Ko-
penhagen - Drucksache 13/535 -
a) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden
Mitglieder des Ausschusses nach Artikel 77 Abs. 2 des 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Angelika Kö-
Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) - Drucksachen ster-Loßack, Dr. Uschi Eid, Wolfgang Schmitt, weiterer Ab-
13/557, 13/570 - geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Weltsozialgipfel - Drucksache 13/539 -
b) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden
Mitglieder des Schuldenausschusses bei der Bundes- 8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Pin-
schuldenverwaltung gemäß § 6 Abs. 1 und 2 des Geset- ger, Wolfgang Vogt (Düren) und der Fraktion der CDU/CSU
zes über die Errichtung einer Schuldenverwaltung des sowie der Abgeordneten Roland Kohn, Dr. Irmgard
Vereinigten Wirtschaftsgebietes und § 2 der Verord- Schwaetzer und der Fraktion der F.D.P.: Weltgipfel für so-
nung über die Bundesschuldenverwaltung - Druck- ziale Entwicklung vom 6. bis 12. März 1995 in Kopenha-
sache 13/562 - gen - Drucksache 13/556

c) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu bestimmenden 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jürgen
Mitglieder des Kontrollausschusses beim Bundesaus- Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
gleichsamt gemäß § 313 Abs. 1 und 2 des Lastenaus- Widerspruchsrecht für die Bundesministerin für Umwelt,
gleichsgesetzes - Drucksachen 13/563, 13/572 - Naturschutz und Reaktorsicherheit - Drucksache 13/352 -
d) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden 10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Beer
Mitglieder gemäß § 11 des Gesetzes über die Regulie- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Politik
rung der Telekommunikation und des Postwesens - der Bundesregierung gegenüber der Türkei - Drucksache
Drucksachen 13/564, 13/573 - 13/538 -
1352 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth


11. Erste Beratung des von der Abgeordneten Christina Schenk Beitrag der Bundesrepublik Deutschland
und der weiteren Abgeordneten der PDS eingebrachten zur Nichtverbreitung von Kernwaffen
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sexualstraf-
rechts (§§ 177 bis 179 StGB) und strafprozessualer Rege- - Drucksache 13/429 -
lungen bei Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
von Frauen - Drucksache 13/536 - Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
12. Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD,
F.D.P. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- ZP1 Beratung des Antrags der Abgeordneten An-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften Ober gelika Beer, Ludger Volmer und der Fraktion
parlamentarische Gremien - Drucksache 13/543 -
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck
(Bremen), Annelie Buntenbach, Andrea Fischer (Berlin) und Reform und Stärkung des Nichtweiterver-
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aktionspro- breitungsvertrages für Atomwaffen und das
gramm Arbeitspolitik - Drucksache 13/578 -
Mandat der Bundesregierung für die Verlän-
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, so- gerungskonferenz in New York
weit erforderlich, abgewichen werden. - Drucksache 13/537 -

Außerdem ist vereinbart worden, die Vorlagen zur Überweisungsvorschlag:


Auswärtiger Ausschuß
Wehrkraftzersetzung, Tagesordnungspunkt 8a und
b, abzusetzen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind
für die gemeinsame Aussprache anderthalb Stunden
Die Beratungen ohne Aussprache werden nach der vorgesehen. - Auch dazu sehe ich keinen Wider-
Debatte über den Weltgipfel für soziale Entwicklung spruch. Wir verfahren so. Es beginnt der Kollege
aufgerufen. Daran anschließend findet gegen Klaus Francke.
17.15 Uhr die Fragestunde statt.
Weiterhin mache ich auf Änderungen von Aus- Klaus Francke (Hamburg) (CDU/CSU): Frau Präsi-
schußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkt dentin! Meine Damen und Herren! Von Professor
liste aufmerksam: Weidenfeld stammt die Feststellung: „Wir durchle-
Auf die Mitberatung des Ausschusses für Wahlprüfung, ben eine Zwischenzeit ohne dominierende Konstella-
Immunität und Geschäftsordnung zu nachfolgenden Vorla- tion, ohne prägendes Muster." Diese Feststellung gilt
gen soll verzichtet werden. Die Überweisung an den Innen- in einem ganz besonderen Maße für die Sicherheits-
ausschuß bleibt unverändert.
politik.
Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Glotz, Arne Börnsen
(Ritterhude), Freimut Duve, weiterer Abgeordneter und der In der früheren, bipolaren Landschaft waren die
Fraktion der SPD: Garantie des Bestandes der ARD nuklearpolitischen Akteure bekannt, die Verfü-
- Drucksache 13/396 -
gungsgewalt in ihrem politischen Einflußbereich war
Entschließungsantrag des Abgeordneten Rezzo Schlauch mindestens berechenbar. Diese Eindeutigkeit ist
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur verein-
barten Debatte zu dem Thema: „Strukturreform der ARD"
heute nicht mehr vorhanden. Die Welt ist in vielen
- Drucksache 13/404 - Bereichen noch komplizierter geworden. Sie fordert
von uns neue und differenzierte Konzepte.
-
Sind Sie mit den interfraktionellen Vereinbarun-
gen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfah- Es mag Bereiche geben, wo wir uns mit der Anpas-
ren wir so. sung an die neuen Entwicklungen noch etwas Be-
denkzeit lassen können. Ein Bereich, der dies jedoch
absolut nicht zuläßt, ist die Kontrolle der nuklearen
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b so-
Rüstung; denn die Menschen in unserem Land brau-
wie den Zusatzpunkt 1 auf:
chen dringend Lösungsansätze, die ihren Ängsten
3. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten und Befürchtungen begegnen.
Klaus Francke (Hamburg), Peter Kurt Anlaß unserer Debatte ist die anstehende Verlän-
Würzbach, Dr. Friedbert Pflüger und der gerung des Nichtverbreitungsvertrages, der seit dem
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- Jahr 1970 in Kraft ist. Der NVV hat heute mit einer
ordneten Karsten D. Voigt (Frankfurt), Uta Zahl von 170 Vertragsstaaten eine annähernd univer-
Zapf, Gernot Erler und der Fraktion der selle Geltung. Dabei ist insbesondere der Beitritt der
SPD sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Ukraine, Weißrußlands und Kasachstans zu begrü-
Dr. Olaf Feldmann, Roland Kohn, Dr.-Ing. ßen, die dem NVV als Nichtkernwaffenstaaten beige-
Karl-Hans Laermann und der Fraktion der treten sind und damit ihre Bereitschaft unterstrichen
F.D.P. haben, daß die noch auf ihrem Gebiet lagernden so-
Unbefristete und unkonditionierte Verlän- wjetischen Gefechtsköpfe nach Rußland abgezogen
gerung des Nichtverbreitungs-Vertrages werden.

- Drucksache 13/398 -
25 Jahre nach dem Inkrafttreten des NVV soll nun
eine Mehrheit der Vertragsstaaten auf einer für Mitte
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
April anberaumten Verlängerungskonferenz über
eine unbegrenzte oder befristete Weitergeltung ent-
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten scheiden. Aus diesem Anlaß liegt Ihnen heute der
Andrea Lederer, Heinrich Graf von Ein- von mir initiierte, dann aber von CDU/CSU, SPD und
siedel, Willibald Jacob und der weiteren F.D.P. gemeinsam eingebrachte Antrag vor, der die
Abgeordneten der PDS Bundesregierung dazu auffordert, sich für eine unbe-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1353
Klaus Francke (Hamburg)
fristete und unkonditionierte Verlängerung des NVV Meine Damen und Herren, ein wichtiger weiterer
einzusetzen. Nur so kann dauerhafte Stabilität er- Punkt im Umfeld des NVV, mit dem den Ängsten der
reicht und der Wesensgehalt des Vertrages gesichert Nichtkernwaffenstaaten und Nicht-NATO-Mitglie-
werden. dern begegnet werden könnte, ist unsere Anregung
zur Errichtung eines Kernwaffenregisters bei den
Bei einer befristeten Verlängerung besteht die Ge- Vereinten Nationen, wie es im übrigen Außenmini-
fahr, daß immer wieder Wünsche nach Vertragsver- ster Kinkel bereits im Dezember 1993 vorgeschlagen
änderungen aufkommen oder Partikularinteressen hat.
den Bestand des Ganzen gefährden. Wir unterstüt-
zen damit die bisherige Position der Bundesregie- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
rung, die bereits von vielen Vertragspartnern geteilt
wird. Durch Transparenz in bezug auf diesen Waffenbe-
stand könnte ein weiterer Baustein für Vertrauen in
Dennoch bleibt das Ziel weit gesteckt. Wir alle wis- die nukleare Abrüstung gelegt werden, da dann der
sen, daß es bislang unter den Vertragspartnern keine Abbau genau nachzuvollziehen wäre. Wir wollen da-
Mehrheit für eine unbefristete Verlängerung gibt. bei gegenüber den Kernwaffenbesitzern nicht als
Noch müssen die Kritiker einer unbefristeten Verlän- Lehrmeister auftreten. Ich denke aber, daß die Nicht-
gerung überzeugt werden. kernwaffenbesitzer zu Recht bei pflichtbewußter Er-
füllung des NVV auch von den Kernwaffenstaaten
Der NVV kann nur eine der Säulen des Nichtver- ein Zeichen der Bereitschaft zur Offenlegung ihrer
breitungsregimes sein. Seine Wirksamkeit ist eng mit Bestände einfordern können.
Fortschritten im Umfeld des NVV und der gesamten
Rüstungskontrollpolitik verbunden. Hiervon hängt Das Nichtverbreitungsregime würde auch dadurch
auch der Erfolg der Verlängerungskonferenz ab. Die gestärkt werden, wenn ein Sanktionsmechanismus
Bundesregierung sollte daher wie bisher aktiv auf im Falle der Verletzung des Vertrages entwickelt
den Abschluß eines verifizierbaren und umfassenden würde. Es muß klar sein, daß eine Vertragsverlet-
Teststoppabkommens hinarbeiten. Obwohl mit ei- zung nicht ohne Folgen bleibt. Dies bedeutet nicht
nem Abschluß nicht vor Ende 1995 zu rechnen ist, nur die Befassung des UN-Sicherheitsrats, der den
haben die USA mit der Verlängerung ihres Test- Vertragsverletzer klar benennt, mit dem Vorgang.
stoppmoratoriums bis zum Abschluß eines umfassen- Der Sicherheitsrat hat ja bereits mit seiner Erklärung
den Teststoppabkommens bereits ein deutliches posi- vom 31. Januar 1992 den ersten Ansatz eines Sankti-
tives Zeichen gesetzt. Besonders China ist aufgefor- onsmechanismus aufgezeigt,
dert, hier dem amerikanischen Beispiel zu folgen und
sich endlich zu einem Testmoratorium durchzurin- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das muß ausge
gen. baut werden!)

(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Sehr richtig!) wonach die völkerrechtswidrige Herstellung oder
der Erwerb von Nuklearwaffen mit Sanktionen be-
Fortschritte in der nuklearen Abrüstung
- sind wich- legt werden muß.
tige Meilensteine auf dem Weg zu einer unbefriste-
ten Verlängerung des NVV. Insbesondere die rasche
Umsetzung von START I und die baldige Ratifizie- Ziel, meine Damen und Herren, muß aber letzten
rung von START II würden eine zügige Fortsetzung Endes die Reduzierung der Bedrohung, nicht die
des nuklearen Abrüstungsprozesses sichern. Strafe an sich sein. Dreh- und Angelpunkt des Nicht-
verbreitungsvertrages ist jedoch die Verifikation der
Das Nichtverbreitungsregime steht immer wieder Vertragseinhaltung. Der Deutsche Bundestag hat
vor der grundlegenden Aufgabe, den Befürchtungen schon in seiner Entschließung vom Juni 1993 An-
der Nichtkernwaffenbesitzer zu begegnen, im Aus- strengungen zur Stärkung der Internationalen Atom-
tausch für ihre Selbstbeschränkung im Rahmen des energiebehörde in Wien eingefordert, was ich hier
NVV nicht genügend an Sicherheit dazuzugewin- erneuern möchte. Der Konflikt um das nordkoreani-
nen. Die Bundesrepublik als Nichtkernwaffenstaat sche Atomprogramm hat bereits einen Modellfall für
und NATO-Mitglied ist in der glücklichen Lage, un- das Recht der IAEO auf Ad-hoc-Inspektionen ge-
ter dem Schirm der Allianz Sicherheit zu finden. schaffen, das aber weiter gestärkt und ausgebaut
Wenn aber denjenigen Staaten, die sich vertragstreu werden muß. Auch der Zugang der Behörde zu Infor-
verhalten, verbindliche Sicherheitsgarantien der mationen muß ausgeweitet und institutionalisiert
Kernwaffenstaaten gegeben würden, könnte dies der werden; und sie muß darüber hinaus personell und
Versuchung der Entwicklung eigener Atompro- finanziell in die Lage versetzt werden, die ihr gesetz-
gramme effektiv entgegenwirken. ten Aufgaben zufriedenstellend erfüllen zu können.
Die Zusammenarbeit mit Euratom sollte verstärkt
(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sehr werden. Der Ansatz für kontrollrelevante signifi-
richtig!) kante Mengen an nuklearem Material übersteigt
heute nach den neueren technischen Entwicklungen
Bislang zeichnen sich in dem Genfer Verhandlungs- die zur Herstellung von Atomwaffen nötige Menge
ausschuß für den Nichteinsatz von Atomwaffen und kann deswegen niedriger festgelegt werden.
durch die Kernwaffenstaaten noch keine positiven Eine Neufestsetzung darf allerdings der friedlichen
Ergebnisse ab, so daß die Bundesregierung auch hier Nutzung und der Erforschung der Kernenergie, wie
zu weiterem aktiven Engagement aufgefordert ist. sie bisher betrieben wird, nicht entgegenstehen.
1354 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Klaus Francke (Hamburg)


Mit diesem Forderungskatalog wollen die Antrag- dem Ziel, einen ganz anderen Vertrag mehrheitsfä-
steller dazu beitragen, ein dauerhaftes, engmaschi- hig zu machen; und die PDS will aus ähnlichen Be-
ges Netz der Nichtverbreitung zu knüpfen, und da- weggründen, daß nur eine begrenzte Verlängerung
mit einen unerläßlichen Beitrag zur Sicherung des der Geltungsdauer unterstützt wird.
Friedens leisten. Atomwaffen dürfen auch in Zukunft
nur politische Waffen sein. Die Anzahl derer, die Diese unterschiedlichen Voten bezüglich der wei-
über sie verfügen, muß weiterhin sorgfältig begrenzt teren politischen Vorgehensweise sollten nicht zu ei-
werden. nem falschen Eindruck führen. Tatsächlich besteht
im deutschen Parlament eine große Einigkeit dar-
Es gilt nun, ein Klima von Sicherheit und Stabilität über, daß atomare Waffen und die Fähigkeit, sie zu
zu schaffen, um auch die dem NVV noch fernstehen- bauen, nicht weiterverbreitet werden dürfen,
den Staaten in den Krisenregionen dieser Welt zum
Beitritt zu ermutigen. Insbesondere Israel als einer (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
der entscheidenden Akteure im Nahost-Friedens- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
prozeß sollte sich auf diesen Vertrag zubewegen. Der CDU/CSU)
Nahe Osten könnte ein solches Signal auf seinem jet- sondern daß weitere entscheidende Schritte zur
zigen schmalen Grat zum Frieden dringend brau- atomaren Abrüstung notwendig sind und von der
chen. Aber auch ein Beitritt von Indien und Pakistan, Bundesregierung unterstützt werden sollten.
die sich bereits an den Teststoppverhandlungen be-
teiligen, wäre ein wertvoller Beitrag für die regionale Auf dieser gemeinsamen Basis lohnt es sich durch-
Stabilisierung, und damit wäre der Weg zu einer tat- aus, den Charakter, die Funktion und die erkennba-
sächlichen universellen Geltung des Vertrages vor- ren Defizite des Nichtverbreitungsvertrages kritisch
gezeichnet. zu beleuchten und zu diskutieren.
Vielen Dank. Geht man einmal ohne Pathos an das „Geschäft"
heran, das vor 25 Jahren abgeschlossen wurde, dann
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so kann man es mit folgenden Worten beschreiben: Die
wie bei Abgeordneten der SPD) fünf Kernwaffenstaaten erreichten eine Verzichtser-
klärung zahlreicher Nichtkernwaffenstaaten, ihrem
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster privilegierten Status nachzueifern und selber Atom-
waffen zu bauen oder sich zu verschaffen, durch
spricht der Kollege Gernot Erler.
zwei feierliche Versprechen, nämlich die atomaren
Habenichtse bei der zivilen Nutzung der Kernener-
Gernot Erler (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- gie nach Kräften zu unterstützen und selber auf die
ginnen und Kollegen! In wenigen Wochen - genau: weitere Entwicklung von Atomwaffen zu verzichten
am 17. April 1995 - beginnt in New York eine Konfe- und statt dessen entschlossene Schritte hin zum Ziel
renz, die über das Schicksal des Vertrages über die einer vollständigen atomaren Abrüstung zu unter-
Nichtverbreitung von Nuklearwaffen entscheiden nehmen.
-
wird. Die Frage ist: Welches Signal, welche Botschaft
Dieses „Geschäft" spiegelt die Vorstellungen und
soll der Deutsche Bundestag im Vorfeld dieser Konfe-
Ängste der Nichtkernwaffenstaaten aus der zweiten
renz aussenden?
Hälfte der 60er Jahre wider. Auf keinen Fall wollte
Die Frage ist anscheinend einfach zu beantworten. man abgekoppelt werden von der zivilen Nutzung
Der Nichtverbreitungsvertrag besteht jetzt 25 Jahre. der Kernenergie, die zu dieser Zeit noch unter-
Die Zahl der Vertragsstaaten steigerte sich von 95 im schiedslos als Zukunftstechnologie schlechthin ange-
Jahre 1968, als der Text vereinbart wurde, bis auf sehen wurde, und man wollte auf Dauer auch nicht
172 Staaten heute - sicherlich ein Zeichen für wach- als gottgegeben hinnehmen, daß fünf privilegierte
sende Zustimmung zu einem der wenigen tatsächlich Staaten sich das Recht auf nicht kontrollierbare
wirksamen, teilweise auch erfolgreichen Rüstungs- Atomwaffen und damit auf nicht sanktionierbare
kontrollverträge. Machtentfaltung - sie spiegelt sich bis heute im Veto-
recht dieser fünf Mächte im Sicherheitsrat der Ver-
So wundert es denn auch nicht, daß keine der im einten Nationen wider - sicherten.
Bundestag vertretenen Parteien einem Auslaufen des
Nichtverbreitungsvertrages oder gar einem Verzicht Auf eine zeitliche Festlegung, bis wann diese Privi-
auf ihn das Wort redet. Ich halte ausdrücklich und legien abgebaut werden sollten, verzichtete man da-
mit Genugtuung fest: Im Bundestag gibt es keine mals. Dahinter steckte ein unausgesprochenes und
Position, die den Vertrag etwa auf der Basis deut- zeitlich befristetes Einverständnis mit einem interna-
scher atomarer Begehrlichkeit in Frage stellt. tionalen politischen System, dessen Stabilität sich im
Zeichen des Kalten Krieges auf die wechselseitige
(Beifall bei der SPD) atomare Abschreckung zwischen Ost und West grün-
dete.
Trotzdem gibt es Unterschiede. CDU/CSU, F.D.P.
und SPD unterstützen gemeinsam eine unbefristete, Nur die Balance zwischen dem Entwicklungs- und
an keine weiteren Voraussetzungen gebundene Ver- Beschaffungsverzicht einerseits und dem erwähnten
längerung des Vertrages; BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- doppelten Versprechen andererseits überwandt die
NEN dagegen verlangen, daß sich die Bundesrepu- schon zur Entstehungszeit des Vertrages aufkom-
blik für eine Veränderungskonferenz einsetzt, mit men den Bedenken, das Nonproliferationsregime
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1355
Gernot Erler
könnte die Welt auf Dauer diskriminatorisch in Besit- Nichtkernwaffen- und dem Kernwaffenstatus steht
zer und Nichtbesitzer von Nuklearwaffen einteilen regelmäßig ein als zivil ausgegebenes Reaktorpro-
und damit zugleich Entwicklungs- und Machtchan- gramm mit offenen und verborgenen Brücken zur
cen definitiv ungerecht verteilen. Gewinnung militärisch nutzbarer Spaltmaterialien.
Diese schon 1970 virulenten Bedenken haben die Gerade die letzten Tage und Wochen haben für
Erweiterung der Zahl der Vertragsstaaten nicht ver- dieses ungelöste Problem Beispiele geliefert. Die
hindert, verstummt sind sie aber bis heute nicht. Vereinigten Staaten haben sehr nachdrückliche An-
Heute haben wir eine ganz andere politische Situa- strengungen unternehmen müssen, um die Volksre-
tion. Atomwaffen werden nicht mehr zur Aufrechter- publik Korea von ihrem eingeschlagenen Reaktor-
haltung eines Sicherheitspatts zwischen Ost und pfad abzubringen. Es wird vier Milliarden Dollar ko-
West gebraucht. Ihre Brauchbarkeit als Abschrek- sten, bis die vorhandenen Reaktoren Pjöngjangs mit
kungsinstrument in regionalen Konflikten muß nach ihren fragwürdigen Fähigkeiten zur Ausscheidung
einigen verlustreichen Erfahrungen zumindest in waffenfähigen Plutoniums durch unbedenklichere
Zweifel gezogen werden. Die Beispiele des Falkland- Leichtwasserreaktoren ersetzt sein werden.
und des Golfkriegs haben das gezeigt.
Parallel dazu führt die amerikanische Regierung
Man sollte meinen, diese veränderte Funktion von schweres Geschütz gegen die russischen Pläne auf,
Atomwaffen müßte ihre Verminderung und Beseiti- Siemens-Nachfolger als Bestücker des iranischen Re-
gung, wie sie der NVV postuliert, erleichtern und be- aktorkomplexes Buschir zu werden. Die Gefahr, daß
schleunigen. Tatsächlich gibt es Abrüstungserfolge; sich hier ein Proliferationsfenster für das schon lange
der Kollege Francke hat soeben schon darauf hinge- mißtrauisch beobachtete Nuklearprogramm Tehe-
wiesen. rans öffnet, wird in Washington sehr ernst genom-
men.
Der 1987 beschlossene INF-Vertrag hat bis 1991
zur Eliminierung einer ganzen Sorte von Nuklear- Nur darf man aus all diesen Schwierigkeiten und
waffen geführt. START I, seit dem 4. Dezember 1994 Widersprüchen nicht die falschen Schlußfolgerungen
endlich und mit einer Verspätung von dreieinhalb ziehen. Jeder Versuch, diese Probleme durch eine
Jahren in Kraft, wird innerhalb von sieben Jahren die Vertragsrevision und dies auch noch ein paar Minu-
Zahl der bestehenden Atomwaffen um 40 reduzie- ten vor der Entscheidung über die Fortexistenz des
ren. START II sieht vor, daß im Jahre 2003 „nur" Vertrages lösen zu wollen, ist fragwürdig und äußerst
noch 3 500 bzw. 3 000 atomare Sprengköpfe bei den gefährlich.
beiden Supermächten übrigbleiben. Das Wort nur
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der
steht natürlich in Anführungsstrichen, weil auch
CDU/CSU und der F.D.P.)
diese Potentiale die Erde mehrfach unbewohnbar
machen können. Niemand sollte vergessen, welche enormen An-
strengungen es gekostet hat, das Vertragswerk über-
Neuerdings mangelt es weniger an der „redlichen
haupt zu sichern. 19 Jahre dauerte es, bis die letzten
Absicht" beim Verhandeln, den der Nichtverbrei-
der 98 Erstunterzeichner von 1970 ihre Ratifikations-
tungsvertrag fordert, sondern eher an ausreichenden
urkunden hinterlegt haben. Und auch heute, 1995,
technischen und finanziellen Mitteln, um die verab-
wird es noch größter Anstrengungen bedürfen, um
redeten Abrüstungsmaßnahmen auch zeitgerecht
eine Mehrheit der Vertragsstaaten für eine uneinge-
verwirklichen zu können. Aber auch im Jahre 2003,
schränkte Verlängerung zu gewinnen. Erst 70 der
33 Jahre nach Vertragsabschluß, wird jener „Vertrag
172 Mitgliedsländer haben sich positiv festgelegt.
zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter
Das heißt, daß noch mindestens weitere 17 in den
s tr enger und wirksamer internationaler Kontrolle",
nächsten Wochen für die Fortsetzung der Nonprolife-
wie ihn Art. VI des NVV fordert, noch lange nicht in
ration gewonnen werden müssen.
Sicht sein.
Es ist die amerikanische und westliche Linie, ohne
Das heißt aber auch, das diskriminatorische Manko
Rückfallposition in die New Yorker Konferenz zu ge-
des Vertrags bleibt ohne eine dramatische Beschleu-
hen, damit keine Zersplitterung der Gruppe derjeni-
nigung der Abrüstungsprozesse, die nicht zu erwar-
gen erfolgt, die im Prinzip an der Weiterentwicklung
ten ist, noch lange als Stolperstein für potentielle und
-der Nonproliferation interessiert sind. Diese Alles
neue Vertragsstaaten und damit als Herausforderung
oder-nichts-Position ist nicht ohne Risiko, sie macht
für alle Mitgliedstaaten bestehen.
aber jede Vorstellung unrealistisch, eine mögliche
Aber die atomare Klassengesellschaft ist nicht das Veränderung und Reform des Vertrages sei jetzt, im
einzige Problem, das bei der Fortentwicklung des Kontext mit der Verlängerungskonferenz, erreichbar.
Nonproliferationsregimes bisher nicht überzeugend Die Hürde für eine solche Veränderung ist' auch
gelöst wurde. Zum Erbe der Vertragsentstehungsge- kaum überwindbar hoch: Art. VIII Abs. 2 des Vertra-
schichte gehört ein unangemessenes Vertrauen in ges verlangt, daß eine solche Änderung gleichzeitig
die verläßliche Trennbarkeit von militärischer und die Zustimmung der Mehrheit aller Vertragsstaaten
ziviler Nutzung der Kernkraft und der dazugehöri- sowie aller Kernwaffenstaaten und aller Mitglieder
gen Brennstoffkreisläufe. des Gouverneursrats der IAEO erhält.
Längst hat sich erwiesen, daß diese Trennung trotz Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzt sich
der Weiterentwicklung der internationalen Kontrolle in ihrem Antrag leider über diese Fakten hinweg und
durch das IAEO-Safeguard-Regime nicht ausrei- kommt, was ich bedauere, zu einer in sich wider-
chend funktioniert. An der Schwelle zwischen dem sprüchlichen Position. Da wird von Unglaubwürdig-
1356 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Gernot Erler
keit des Vertrages, ja sogar von Vertragsbruch sei- Aber - und ich kann nicht ausschließen, daß hier
tens der Atomwaffenstaaten gesprochen. Ein paar die Gemeinsamkeiten der drei antragstellenden
Zeilen später aber fordert man alle Staaten, die noch Fraktionen enden - Deutschland kann auch in eige-
nicht Vertragspartei sind, nachdrücklich auf, dem ner Verantwortung wichtige Initiativen zugunsten
NW beizutreten. Warum sollten weitere Länder ei- der atomaren Nichtverbreitung und Abrüstung er-
nem unglaubwürdigen Nichtverbreitungsregime bei- greifen.
treten, das auf Vertragsbruch aufbaut?
(Zuruf von der F.D.P.: Das hat die Bundesre
(Ulrich Heinri ch [F.D.P.]: Das bleibt den gierung auch getan!)
GRÜNEN vorbehalten!) Warum verzichtet die Bundesregierung z. B. nicht
auf jede Produktion und Nutzung von hochangerei-
Nein, es gibt unseres Erachtens keine Alternative chertem Uran (HEU), u. a. dadurch, daß sie die Kon-
dazu, jetzt für eine unbefristete und unkonditio- zeption des geplanten Garchinger Forschungsreak-
nierte Verlängerung des Vertrages zu kämpfen, tors FRM II ändert?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
ten der CDU/CSU und der F.D.P.) F.D.P.)

aber gleichzeitig und parallel dazu mit weiteren ent- Diese Maßnahme ist durch den jüngsten amerikani-
schlossenen Schritten den Abrüstungskonsens zu er- schen Verzicht auf die Nutzung von ANS (Advanced
weitern, um den NVV sozusagen wie ein Flaggschiff Neutron Source) für den Reaktor am Oak Ridge Na-
mit einem Konvoi weiterer Abrüstungsfahrzeuge zu tional Laboratory in Tennessee nur noch dringlicher
umgeben, die ihn absichern und ihm freie Fahrt si- geworden. Die Behauptung, ein Hochtechnologie
chern. land wie die Bundesrepublik müsse an der zumin-
dest forschenden Nutzung von HEU festhalten, scha-
(Beifall des Abg Karsten D. Voigt [Frank det den Nichtverbreitungszielen.
furt] [SPD]) Warum steigt die Bundesregierung nicht aus der
Plutoniumnutzung aus, beendet die Wiederaufarbei-
Der gemeinsame Antrag der drei Fraktionen nennt tungsverträge mit dem Ausland und verzichtet auf
hierzu die entscheidenden Punkte: allen voran ein die weitere Mischoxidnutzung, um damit ein Signal
umfassendes Teststoppabkommen einschließlich der an die Länder zu senden, für die Plutoniumkreisläufe
freiwilligen Atomtestmoratorien, eine überzeugende noch immer Signets erstrebenswerter, reichtumver-
Realisierung von START I und START II, ein verbind- sprechender High-Tech-Gesellschaften ist?
liches Kernwaffenregister, eine Erweiterung des Sa-
feguard-Systems, den Cut-off-Vertrag. Herr Francke (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
hat diese Punkte des Vertrages hier alle schon aufge- DIE GRÜNEN)
zählt.
Warum verschärft die Bundesregierung nicht die
An der Gewichtung der Einzelmaßnahmen muß Exportkontrolle für sensible und Dual-use-Güter
- oder verteidigt nicht wenigstens die erreichten deut-
dabei erkennbar werden, daß es sich nicht um die
Stabilisierung eines in sich nicht legitimierbaren schen Standards,
atomaren Klassensystems handelt, sondern um (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Schritte zu einer Welt, die ohne Atomwaffen mehr
Frieden und Sicherheit organisiert, als das heute an- sondern unternimmt immer neue Anläufe, unter dem
gesichts von noch immer etwa 23 000 auf mindestens Deckmantel der sogenannten europäischen Harmo-
acht Länder verteilten Atomsprengköpfen möglich nisierung und unter Nutzung von äußerst fragwürdi-
ist. gen Arbeitsplatzargumenten das Kontrollregime
Schritt für Schritt aufzuweichen? Wer sich im eige-
Die Bundesrepublik Deutschland kann zu dieser nen Haus von solchem Egoismus leiten läßt, kann bei
umfassenden Absicherung eines dauerhaften Nicht- anderen nur mit gebremster Überzeugungskraft für
verbreitungssystems einiges tun. Unbestritten ist die proliferatorische Zurückhaltung werben.
konstruktive Rolle unseres Landes in der jetzigen
entscheidenden Vorphase der New Yorker Konfe- (Beifall bei der SPD)
renz, bei der es darum geht, möglichst viele Länder, Warum beweist die Bundesregierung nicht durch
auf die wir Einfluß haben, von der Notwendigkeit der einen Ausstieg aus der zivilen Nutzung der Kernen-
Unterstützung des NVV zu überzeugen. Auch der ergie und eine umfassende Anstrengung zur Etablie-
Deutsche Bundestag wird seinen Beitrag zu diesen rung modernster regenerativer Energietechnologien,
Bemühungen leisten. Als Vorsitzender des Unteraus- daß der ganze Streit um den freien Zugang zur zivi-
schusses für Abrüstung und Rüstungskontrolle kann len Kerntechnik als Entréebillet zu Modernität und
ich Ihnen mitteilen, daß wir uns gleich zu Beginn der Prosperität ein Anachronismus ist und daß das Privi-
Konferenz im April mit einer eigenen Delegation und leg der nächsten Generation die Unabhägigkeit und
mit einer deutlichen inhaltlichen Botschaft in die in- nicht die Abhängigkeit von Kernreaktoren und
ternationale Meinungsbildung einschalten wollen. Atomtechnologie sein wird?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
ten der CDU/CSU und der F.D.P.) DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1357
Gernot Erler
Das wäre eine unschätzbare Entlastung für einen wert, daß die Verifikationsproblematik überhaupt ge-
Konflikt, der immer wieder zum Hindernis für die nannt und als wichtig bewertet wird und daß die Fra-
Nichtverbreitung wird. gen nach Sanktionen angesprochen werden.
Schließlich: Warum leistet die Bundesregierung Allerdings geht der Antrag der Koalition und der
nicht einen angemessenen finanziellen Beitrag - ich SPD nicht auf Widersprüche im Vertragswerk ein. Ich
freue mich, daß Herr Kinkel jetzt gerade da ist -, um glaube - das sage ich an die SPD gerichtet -, daß die
die technischen Schwierigkeiten bei der Realisierung Problematik der Atomwaffennutzung und des nach
der atomaren Abrüstung in den Nachfolgestaaten wie vor drohenden Einsatzes von Atomwaffen zu
der Sowjetunion zu überwinden? Es ist einfach lä- wichtig ist, als daß man darauf verzichten könnte,
cherlich, wenn in den Bundeshaushalt für die Abrü- dieses Vertragswerk besser auszugestalten.
stungshilfe nur 13 Millionen DM für das Jahr 1995
eingestellt werden, Koalition und SPD erwähnen in ihrem gemeinsa-
men Antrag weder die Weigerung der Atomwaffen-
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Besser als staaten, ihre Atomwaffen vollständig abzurüsten,
nichts! Wir kämpfen für mehr!) noch wird das Kernproblem, nämlich das der zivilen
wenn man weiß, daß die Russische Föderation allein Nutzung der Atomenergie, angesprochen.
zur Erfüllung der bisher vertraglich zugesagten Ab- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das ist ein Pro
rüstungsverpflichtungen schätzungsweise 400 Mil- blem, aber nicht das Kernproblem! - Zurufe
liarden Dollar wird aufwenden müssen, von denen von der SPD)
bisher niemand weiß, woher sie kommen sollen.
- Das, lieber Gernot Erler, könnte die Antwort der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Hein GRÜNEN auf Ihre Fragen sein, die Sie soeben an die
rich Lummer [CDU/CSU]: Von der Aufrü Bundesregierung gestellt haben.
stung abziehen! - Gegenruf des Abg. Jo
seph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE Die Bundesregierung ist nicht bereit, von der zivi-
GRÜNEN]: Heinrich! Heinrich!) len Nutzung der Atomenergie abzusehen. Sie ist
nicht bereit, diese Nutzung zu beenden. Sie ist offen-
Ich komme zum Schluß: Aus der Sicht der SPD
sichtlich, genauso wie die SPD - dies sage ich, weil
heißt mehr Verantwortung in der Welt wahrnehmen,
dies heute ein gemeinsamer Antrag ist -, nicht bereit
bei dem Ziel Nonproliferation und atomare Abrü-
einzugestehen, daß es keine friedliche Nutzung von
stung mit gutem Beispiel voranzugehen, ein Vorbild
Atomenergie gibt.
zu sein
(Beifall bei der SPD) Aus den genannten Gründen ziehen wir die
Schlußfolgerung, daß der Vertrag reformiert und ver-
Im Augenblick geht es darum, alles zu tun, damit bessert werden muß, um wirksam Proliferation zu
der Nichtverbreitungsvertrag in diesem Frühjahr die verhindern bzw. einen substantiellen Abrüstungspro-
Hürde der unbefristeten Gültigkeit nimmt und zu ei- zeß zu beginnen.
ner sicheren Leitplanke aller künftigen Abrüstungs-
anstrengungen wird. - Ich möchte die Kritik der GRÜNEN am Vertrags-
werk präzisieren:
Wir werden aber noch oft Gelegenheit haben, den
Konsens auszuweiten auf weitere mutige und krea- Erstens. Das Hauptziel des Vertrages ist die Ver-
tive Schritte. Ohne diesen Konsens kann die Nonpro- hinderung der Atomwaffenproliferation. Er läßt
liferation auf Dauer nicht Bestand haben. aber die fortgesetzte Weiterentwicklung von Kern-
waffen in den Atomwaffenstaaten zu.
Ich hoffe, daß sich dann die prinzipielle Einigkeit
wiederholen läßt, die wir heute hier in der Frage des Zweitens. Die Atomwaffenstaaten haben Art. VI
Nichtverbreitungsvertrages haben. mißachtet und sind ihrer wichtigsten Verpflichtung
im Rahmen des Vertrages nicht nachgekommen,
Vielen Dank. nämlich in „redlicher Absicht" - so steht es im Ver-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne tragswerk - zu einem „baldigen Zeitpunkt" wirk-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, same Maßnahmen auszuhandeln, um das nukleare
der F.D.P. und der PDS) Wettrüsten zu stoppen und ihre Atomarsenale abzu-
rüsten. Wenn man den Vertrag wörtlich nimmt, kann
man daraus schließen, daß die unterzeichnenden
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste hat das Atomwaffenstaaten den Vertrag gebrochen haben.
Wort Angelika Beer. Dies läßt sich daran aufzeigen, daß die Zahl der
(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Diese Atomwaffen - Gernot Erler hat es vorhin genannt -
Rede können Sie sofort zu Protokoll geben seit 1970 zugenommen und nicht abgenommen hat.
und dann zustimmen!)
Drittens. Atomwaffenstaaten, die bei der Entwick-
lung von Atomwaffen zusammenarbeiten, werden
Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ver- ebensowenig mit Sanktionen belegt, wie die Ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, den die tragsverletzungen von Art. VI durch die Atomwaf-
Koalition und die SPD einbringen, hat positive fenstaaten selbst mit Sanktionen belegt werden. Dies
Aspekte. Das wollen wir überhaupt nicht bestreiten. ist ein Punkt des Vertragswerkes, der verbesserungs-
Zum Beispiel halten wir es für sehr unterstützens- würdig ist.
1358 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Angelika Beer
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Probleme Gernot Erler, Sie haben unsere Bedenken bestä-
im Zusammenhang mit dem Vertrag müssen besei- tigt. Sie sollten sich in den Ausschußberatungen über
tigt werden, damit die Unterzeichnung durch mög- beide Anträge überlegen, ob nicht unser Antrag zu-
lichst viele Staaten gesichert ist und ein besserer Ver- treffender ist als der der Koalition.
trag zustandekommt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aber es ist nicht nur die Unvollkommenheit des sowie bei Abgeordneten der PDS)
NVV, die wir kritisieren und die zu Problemen führt.
Im zurückliegenden Verhandlungsprozeß hat die
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Nächster Redner
Bundesregierung versucht, sich verschiedene Optio-
ist der Kollege Olaf Feldmann.
nen für Atomwaffen offenzuhalten. Auf die Frage
nach einem Verzicht auf nationale Optionen hat die
Bundesregierung bis heute keine Antwort gegeben. Dr. Olaf Feldmann (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine
Der Verzicht im Zwei-plus-Vier-Vertrag ist eine Be- sehr verehrten Damen und Herren! Die Frage der
kräftigung des Verzichtes Adenauers. Dieser wie- Nichtverbreitung von Kernwaffen ist eines der drän-
derum ist an die inzwischen ohnehin schon beendete gendsten Probleme der internationalen Politik. Wir
Kontrolle deutscher Militärmacht durch die WEU ge- haben uns schon wiederholt hier im Deutschen Bun-
bunden. Das heißt: Wenn die WEU in die GASP auf- destag damit befaßt.
gelöst werden sollte, hat der Verzicht auf Atomwaf-
fen seine Grundlage verloren. Frau Kollegin Beer, Sie waren in der letzten Zeit
hier nicht dabei. Nehmen Sie daher zur Kenntnis:
Wenn „mensch" sich überlegt, für wie unwahr- Die Bundesregierung hat für Deutschland mehrfach
scheinlich wir alle es noch vor einigen Jahren gehal- klipp und klar auf Herstellung, Besitz und Gebrauch
ten haben, daß Out-of-area-Optionen durchgesetzt von Atomwaffen verzichtet. Das, was Sie ihr immer
werden, die inzwischen verfassungsrechtlich abgesi- wieder vorwerfen, ist unfair und falsch.
chert sind, sollte „mensch" dem jetzigen „Konsens"
zwischen SPD und Regierung hinsichtlich des Ver- (Beifall bei der F.D.P.)
zichts auf nukleare Teilhabe nicht allzusehr ver-
Die F.D.P. begrüßt, daß die Proliferationsthematik
trauen. Nicht nur Greenpeace warnt davor, daß
auch für die Bundesregierung erheblich an Bedeu-
Deutschland eine Atommacht im Wartestand ist. Ein
tung gewonnen hat. Das zeigt die Zehnpunkteinitia-
Mitarbeiter des US-amerikanischen, regierungsna- tive von Außenminister Kinkel, das zeigt auch seine
hen Think tanks bezeichnet Deutschland als „virtu- Teilnahme an der heutigen Debatte. Die Bundesre-
elle Atommacht".
publik nimmt als führende westliche Industrienation
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das ist falsch!) und zugleich Nichtkernwaffenstaat eine wichtige
Mittlerrolle ein. Das wurde bereits von einigen Kolle-
Der Verdacht, daß die Bundesregierung eine Option gen erwähnt.
auf Atomwaffen oder zumindest eine nukleare Teil-
habe erreichen möchte, erscheint uns durchaus be- Trotz der Kritik möchte ich hier feststellen: Der
rechtigt. Atomwaffensperrvertrag hat zu einer wesentlichen
- Verbesserung der qualitativen wie quantitativen Rü-
Wir setzen dem eine grundsätzliche Forderung ent- stungskontrolle im Nuklearbereich geführt. Bereits
gegen, die nicht nur mit dem Vertragswerk des NVV 171 Staaten sind heute Mitglied des NVV. Weitere
zu tun hat. Wir halten es für notwendig, daß Deutsch- haben ihre Aufnahme in die Wege geleitet.
land in der jetzigen verantwortlichen politischen Po-
sition eigene, national umsetzbare Maßnahmen er- Natürlich gibt es Probleme: Die Verlängerung des
greift. Das heißt: Wir fordern den grundgesetzlich NVV ist noch nicht gesichert. Viele Staaten machen
verankerten Verzicht auf Besitz von und Verfü- sie von Fortschritten beim Teststopp abhängig. Hier
gungsgewalt über Atomwaffen. sind die Atommächte gefordert - Herr Kollege
Francke hat bereits darauf hingewiesen -, vor allem
Dieser nationale Schritt ist verbunden mit unserer China. Ich habe mich schon seit langem und immer
Forderung, daß Sie sich innerhalb der NATO dafür wieder für den sofortigen Stopp aller Atomtests aus-
einsetzen, eine international vertrauensvolle Atmo- gesprochen. Gemeinsam haben wir hier 1993 eine
sphäre zu schaffen, in der die NATO, der wir angehö- Allparteienentschließung für dieses Ziel gefaßt.
ren, als Verteidigungsbündnis sofort und definitiv
darauf verzichtet, Atomwaffen als erste einzusetzen. Wie auch die Vorredner begrüßt die F.D.P. die Ver-
Dieser Schritt würde sehr viel mehr Sicherheit schaf- längerung der freiwilligen Atomtestmoratorien der
fen als das Beharren auf einem unveränderten Ver- USA, Frankreichs und Rußlands. Diese müssen aber
trag, der ganz wesentliche Lücken, wie aufgezeigt, auch weiterhin, über 1995 und 1996 hinaus, Geltung
beinhaltet. behalten. Vor allem China, das sich dieser Politik
noch verschließt, muß mil Nachdruck überzeugt wer-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den, sich den Testmoratorien anzuschließen.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ziel bleibt: Die Genfer Verhandlungen müssen zu
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Aspekt der einem umfassenden, verifizierbaren Teststoppab-
zivilen Nutzung der Kernenergie, der in Ihrem ge- kommen führen.
meinsamen Antrag leider mit keinem Wort erwähnt
wird, wird in unserem zweiten Beitrag durch meinen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Kollegen Ludger Volmer erläutert werden. ten der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1359
Dr. Olaf Feldmann
Ein weiteres zentrales Problem ist die Frage der Si- auf 13 Millionen DM erhöht wurde. Wir können uns
cherheitsgarantien für die Nichtkernwaffenstaaten. ja gemeinsam mit der Union für eine Verdoppelung
Ich stimme dem Kollegen Francke zu: Die Atom- einsetzen. Das würde der Sache wirklich guttun.
mächte sollten sich zu solchen Garantien durchrin- Diese Millionen - da stimmen wir, glaube ich, über-
gen. Sie tragen hier eine besondere Verantwortung. ein - können uns helfen, im Verteidigungsbereich
Denn der Verzicht auf Kernwaffen darf nicht mit we- Milliarden zu sparen. Investitionen in die Abrüstung
niger Sicherheit, sondern muß mit mehr Sicherheit sind Investitionen in unsere eigene Sicherheit.
verbunden sein. Dies erhöht die Attraktivität des
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
NVV.
ten der CDU/CSU und des Abg. Gernot Er
Dazu gehört auch die Schaffung eines Kernwaffen ler [SPD])
registers. Eine Dokumentation der weltweiten Kern-
Abrüstungshilfe ist ein wesentlicher Bestandteil un-
waffenbestände durch die Vereinten Nationen würde
serer Abrüstungspolitik. Langfristiges Ziel bleibt eine
das Vertrauen in die nukleare Abrüstung stärken.
atomwaffenfreie Welt.
Auch das Kontrollregime muß effizienter gestaltet
Ich möchte zum Schluß feststellen: Der NVV und
werden. Eine Ausweitung der Inspektionsrechte der
die dazugehörigen Kontrollregime sind noch lange
IAEO ist unabdingbar. Die IAEO muß personell, aber
nicht vollkommen. Insofern haben Sie natürlich
auch finanziell besser ausgestattet werden, auch
recht, Frau Beer. Das Thema ist aber sehr komplex
wenn dies mehr kostet. Dies sind Investitionen in un-
und läßt sich hier nicht mit großen Worten abtun.
sere eigene Sicherheit.
Fortschritte sind eben nur durch eine Politik der be-
(Beifall bei der F.D.P.) hutsamen, kleinen, aber stetigen Schritte zu errei-
chen. Eine weltweit akzeptierte Nuklearordnung
Ich meine, die große Verantwortung der Nuklear- kann nur das Ergebnis einer klugen, vorausschauen-
mächte sollte auch bei der Finanzierung noch deutli-
den Zusammenarbeit der Staaten sein, die nuklear-
cher werden.
politisch besondere Verantwortung tragen. Es gibt
Der Versuch von Nichtkernwaffenstaa ten , sich keine realistische Alternative zur international ver-
Atomwaffen zu verschaffen, wird zunehmend als Be- einbarten, garantierten und kontrollierten Politik der
drohung des Weltfriedens und damit als Verstoß ge- Nichtverbreitung von Atomwaffen.
gen die UN-Charta angesehen. Die entsprechende
Vielen Dank.
Resolution des UN-Sicherheitsrates muß weiterent-
wickelt werden. Das Beispiel Nordkoreas hat die Ri- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so
siken deutlich gezeigt. Nukleare Proliferation muß wie bei Abgeordneten der SPD - Gernot Er
als Bedrohung des Weltfriedens konsequent mit ler [SPD]: Olaf, du kommst uns immer nä
empfindlichen Sanktionen geahndet werden. her!)
Der NVV hat einen globalen Anspruch: Neben der
Verlängerung und qualitativen Verbesserung ist Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht
auch eine Ausweitung nötig. In Südamerika zeichnet die Abgeordnete Andrea Lederer.
- möchte ex-
sich eine erfreuliche Entwicklung ab; ich
tra darauf hinweisen. Wir begrüßen ausdrücklich den Andrea Lederer (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kol-
kürzlich erfolgten Beitritt von Argentinien. Wie be- leginnen und Kollegen! Der Atomwaffensperrver-
reits erwähnt, geben auf der anderen Seite Indien, trag war und ist ein Vertrag auf Gegenseitigkeit. Die
Pakistan, aber auch Israel Anlaß zur Sorge. Wir müs- Nichtatomwaffenstaaten erklärten in Art. II ihre Be-
sen da noch große Anstrengungen unternehmen, reitschaft, auf Kernwaffen oder die Verfügungsge-
diese, aber auch andere Staaten zum Beitritt zum walt darüber zu verzichten, die Atomwaffenstaaten
NVV zu gewinnen. in Art. VI ihre Bereitschaft, nuklear abzurüsten und
in Verhandlungen über einen Vertrag zur allgemei-
Dazu kann - entgegen Ihren Vorstellungen, Frau
nen und vollständigen Abrüstung unter strenger und
Beer - auch die wissenschaftliche Kooperation bei
der zivilen Nutzung der Kernenergie beitragen. wirksamer internationaler Kontrolle einzutreten.
Mehrfach - da kann ich mich meiner Kollegin Ange-
Frau Beer, die nicht diskriminierende internationale
lika Beer anschließen - ist hier erwähnt worden: Es
Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung der
sind auch die Atomwaffenbesitzer, die gegen ihren
Kernenergie ist ausdrücklich in Art. IV des NVV ga-
Teil der Verpflichtung verstoßen haben. Noch heute
rantiert. Es ist eben die militärische Nutzung und
kann keine Rede davon sein, daß ernsthaft über eine
nicht die zivile Forschung und Nutzung, die ge-
allgemeine und vollständige Abrüstung verhandelt
bremst werden sollen. Zwischen diesen beiden Punk-
und - vor allem - diese umgesetzt wird. Das zeigt,
ten besteht kein Widerspruch, wie Sie meinen, son-
daß die Atomwaffenstaaten nach wie vor nicht bereit
dern sie ergänzen sich. Insofern ist Ihre Kritik unge-
rechtfertigt und überzogen, Frau Beer. sind, auf dieses Teufelszeug ein für allemal und kom-
plett zu verzichten.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
So sehr die Abrüstungsverträge zu begrüßen sind,
Einen wichtigen Beitrag zur Begrenzung der Proli- so zeigen sie auch, welche wahnwitzigen Potentiale
feration leistet auch die vom Kollegen Erler bereits in der Zeit des Kalten Krieges aufgehäuft wurden
erwähnte Abrüstungshilfe. Herr Erler, Sie werden und daß der verbleibende Rest, vor allem künftige
verstehen, daß die F.D.P. es begrüßt, daß der Titel Atomwaffen, modernisiert und „effektiviert" werden
„Abrüstungshilfe" im Etat des Auswärtigen Amtes soll. Die verbleibenden Atomwaffen reichen aus, um
1360 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Andrea Lederer
die Welt mehrmals zu vernichten. Deshalb sind wir Die Frage nach der Rolle der französischen und
der Auffassung, daß es dringend notwendig ist, in re- britischen Atomwaffen im Rahmen einer euro-
gelmäßigen Abständen international zu kontrollie- päischen „Sicherheitsunion" stand im Mittelpunkt
ren, wie es um die Umsetzung des Vertrages steht. - eines Berichts des WEU-Verteidigungsausschusses
Ich komme gleich noch auf die Problematik einer Be- im Mai 1994. Darin wird problematisiert - Zitat -:
fristung oder einer nicht bef risteten Verlängerung
In diesem Zusammenhang
zurück.
- gemeint ist die Glaubwürdigkeit der US-Atomwaf-
Es bedarf der Weiterentwicklung und Verbesse- fengarantie -
rung des Atomwaffensperrvertrages. Es bedarf vor
allem der Aufgabe jeglicher bundesdeutscher Vor- muß für Deutschland eine glaubwürdige atomare
behalte. Ich will noch einmal darauf eingehen: Es ist Abschreckung gewährleistet werden, damit es
festgeschrieben worden, daß Deutschland von „kei- sich nicht gezwungen sieht, seine eigene atomare
ner Entwicklung in der Kernforschung" ausgeschlos- Abschreckung aufzubauen.
sen bleiben soll. Die Entwicklung solcher Technolo-
gien impliziert eben auch eine Entwicklung in militä- Und weiter:
rischer Hinsicht. Es ist 1975 seitens der Bundesregie- Eine auf Frankreich und Großbritannien be-
rung erklärt worden, daß keine Auslegung des Ver- schränkte atomare Zusammenarbeit könnte von
trages die weitere Entwicklung der Europäischen Deutschland als eine Kraft wahrgenommen wer-
Union behindern darf. den, die es auszubalancieren gilt, und es gäbe
starke Widerstände gegen eine solche Zusam-
(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das ist
menarbeit, wenn die Deutschen nicht in der ei-
richtig und notwendig!)
nen oder anderen Weise zur Beteiligung eingela-
- Ich komme gleich noch einmal auf diesen proble- den würden.
matischen Punkt zurück. Diese Schlußfolgerung aus der derzeitigen Situation
Der Vertrag enthält das Paradoxon, daß er einer- wurde 1994 im WEU-Verteidigungsausschuß gezo-
seits - zu Recht - die Proliferation verhindern will, gen.
aber andererseits die Förderung der sogenannten Diese Einschätzung kommt nicht von ungefähr. Ich
friedlichen Nutzung der Kernenergie vorsieht. Nur: will die Öffentlichkeit ergänzend auf folgende Äuße-
Wer die Entwicklung einer Atomwirtschaft zuläßt, rung des Kollegen Lamers vom 10. März 1991 auf-
versetzt solche Staaten über kurz oder lang, je nach merksam machen - Zitat -:

Stand der Technologie und Ökonomie, auch in die


Lage, zumindest über die Technologie der militäri- Wenn wir eine gemeinsame europäische Sicher-
schen Entwicklung und Nutzung der Kernenergie zu heits- und Verteidigungspolitik schaffen, müssen
verfügen. Ein prägnantes Beispiel dafür ist dieses die nuklearen Waffen einbezogen werden. Und
Land, die Bundesrepublik. wenn diese Politik wirklich eine gemeinsame ist,
dann heißt das natürlich auch, daß die Deutschen
Auf die Frage, welcher europäischer Nichtkern- ein Mitwirkungsrecht bekommen müssen.
waffenstaat in der Lage wäre, ein Atomwaffenarse-
nal aufzubauen, das dem französischen und dem bri- So Kollege Lamers von der CDU im Jahr 1991. Im
tischen ebenbürtig wäre, antworteten die beiden füh- Jahre 1994 wird in der WEU offenkundig diese Art
renden Nichtverbreitungsexperten der regierungsna- von Bestrebungen auf europäischer Ebene so ernst
hen „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik", genommen, daß man darüber diskutiert, die Glaub-
Erwin Häckel und Karl Kaiser, wie folgt: würdigkeit der Abschreckung der US-Atomwaffen,
verstärken zu müssen, um zu verhindern, daß letzt-
Vorauszusetzen wären ein hohes technologisches endlich auf europäischer Ebene doch eine deutsche
Entwicklungsniveau, eine breite industrielle Ba- nukleare Verfügungsgewalt dazukommt. Wir haben
sis, eine erhebliche volkswirtschaftliche Belast- deshalb vorgeschlagen, sich für die Verlängerung
barkeit sowie ein umfangreicher Militärapparat des Vertrages auf 25 Jahre einzusetzen; das fordern
mit konversionsfähigen Trägerwaffen. Unter den wir auch von der Bundesregierung.
Nichtkernwaffenstaaten
Kollege Erler, das heißt natürlich nicht, daß man
- so die beiden Experten - sich auf das Vabanquespiel einlassen sollte, jetzt eine
Veränderung des Vertrages herbeizuführen, sondern
Europas könnte diese Bedingungen auf absehba- das heißt, daß sich die Vertragsunterzeichner inner-
re Zeit wohl nur Deutschland erfüllen. halb dieser 25 Jahre intensiv darum bemühen soll-
ten, die Widersprüche und offenen Stellen dieses
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das wollen wir Vertrages zu schließen und sich für die Ziele einzu-
doch gar nicht!) setzen, die Sie am Ende Ihrer Rede erwähnt haben.
- Ich komme darauf noch zurück. Hier sind wir in guter Gesellschaft. Organisationen
wie IPPNW und IALANA schließen sich solchen For-
Ich will auf einen weiteren Aspekt bundesdeut- derungen an, weil sie meinen, daß vor allem Nicht-
scher Doppeldeutigkeiten in der Atompolitik einge- atomwaffenstaaten einen Hebel haben müssen, um
hen. Sie legen nahe, daß sich die Bundesregierung auf Atomwaffenstaaten einzuwirken, damit diese ih-
zumindest die Option auf nukleare Verfügungsge- ren Verpflichtungen nachkommen, nämlich abzurü-
walt offenhalten will. sten, Proliferation zu verhindern und Kooperation mit
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1361
Andrea Lederer
Staaten aufzugeben, die unter Umständen in der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster
Lage sein werden, selbst über ein Atomwaffenarse- spricht Dr. Dregger.
nal zu verfügen. Es kann doch wirklich nicht um die
Festschreibung des Status quo gehen! Es muß viel- Dr. Alfred Dregger (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
mehr um eine Ausweitung und um eine Verbesse-
Meine Damen und H erren! Bei dem Antrag, den wir,
rung dieses Vertrages gehen, um die Schließung sol-
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, heute zu meiner
cher Lücken.
Freude zusammen mit der SPD und der F.D.P. vorge-
(Beifall bei der PDS) legt haben, geht es um mehr als nur um Friedenssi-
cherung. Es geht letztlich um die Befreiung der Welt
Deshalb fordern wir - ich komme zum Schluß -: von Waffensystemen, die nicht nur Städte und Land-
Die Bundesregierung muß auf jegliche nukleare Op- schaften verheeren können, sondern die Welt als
tion verzichten. Dazu gehört - erstens - die Absage Ganzes.
an die sogenannte nukleare Teilhabe im Rahmen
der NATO. Während des Kalten Krieges konnten wir noch da-
von ausgehen, daß die Atomwaffen gerade wegen ih-
Zweitens. Es kommt darauf an, daß die Bundesre- rer Unanwendbarkeit einen Beitrag zur Friedenssi-
gierung endlich erklärt - hierzu fordere ich den Au- cherung leisten konnten. Weil es Atomwaffen gab
ßenminister, der anwesend ist, auf -, daß jeglicher und beide Supermächte sich mit ihnen wechselseitig
Vorbehalt im Hinblick auf die europäische Entwick- zerstören konnten, entschieden sie sich gegen jede
lung ungültig ist, und daß sie bereit ist, tatsächlich direkte militärische Konfrontation; denn diese hätte
auch auf europäischer Ebene auf die Verfügungsge- zur atomaren Auseinandersetzung führen können.
wait über europäische Atomwaffen zu verzichten.
Wir fordern, daß der Atomwaffenverzicht, wie er hier Wir in Europa und insbesondere in Deutschland,
von allen lautstark gefordert wird, endlich im Grund- das nicht über Atomwaffen verfügt und nicht über
gesetz verankert wird. Atomwaffen verfügen will - meine Damen und Her-
ren, darüber herrscht Konsens -,
(Beifall bei der PDS)
(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und
Drittens. Wir fordern dazu auf, endlich die Zwei- der SPD)
deutigkeiten in Verbindung mit dem Bundeslager in
waren sehr darauf bedacht, von dieser nuklearen Si-
Hanau aufzugeben. Wozu die Geheimniskrämerei?
cherheit unseres strategischen Partners USA nicht
Warum geben Sie das Material, das dort lagert, nicht
abgekoppelt zu werden. Darum ging es damals in
in internationale Obhut?
der sogenannten Nachrüstungsdebatte. Nur so konn-
Viertens. Steigen Sie endlich aus der gefährlichen ten wir das konventionelle Übergewicht der mitten in
und gefährlich doppeldeutigen Atomwirtschaft aus! Europa stehenden großen Masse angriffsbereiter so-
Verzichten Sie auf die Wiederaufarbeitung! Die wjetischer Streitkräfte aushalten.
MOX-Technologie darf nicht weiterverfolgt werden. Aber, meine Damen und Herren, gilt das noch
Es darf keine Atomdeals geben, auch nicht mit Ruß- heute, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion?
land! Die Förderung des Forschungsreaktors in Gar- Ich meine, nein.
ching muß sofort eingestellt werden!
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der PDS)
Die Lage hat sich grundlegend verändert. Die alte
Schließlich: Schluß mit jeglicher Atom-Connection Funktion der Atomwaffen als politische Waffen der
mit potentiellen Nuklearwaffenstaaten. Immer wie- wechselseitigen Abschreckung, um damit eine politi-
der gibt es Pressemeldungen, daß es insbesondere sche Lösung der Konflikte zu erzwingen, ist mit der
die deutsche Wirtschaft ist, die kein Pardon kennt bipolaren Weltordnung entfallen.
und immer wieder in der Lage ist, Lücken zu finden
und damit dazu beizutragen, daß es weitere Atom- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
waffenstaaten gibt. und des Abg. Karsten D. Voigt [Frankfurt]
[SPD])
Der interfraktionelle Antrag enthält zwar einige
richtige Punkte; er geht uns aber nicht weit genug. Können Atomwaffen heute dennoch eine friedens-
Vor allem: Einerseits handelt es sich zum Teil um sichernde Funktion wahrnehmen? Ich glaube das
wohlklingende Deklarationen. Andererseits aber nicht. Sie vermitteln keine militärische Sicherheit, al-
sieht man mit an, wie sich die Bundesregierung ste- lenfalls eine trügerische. Denn was wir im Ernstfall
tig, Jahr für Jahr, weigert, einen Atomwaffenverzicht für unsere Sicherheit bräuchten, das müßten wir
ins Grundgesetz zu nehmen. Zudem erklärt sie we- dann so auch einsetzen können, und dazu sind
der die Vorbehalte für ungültig, noch will sie den Atomwaffen nicht geeignet.
Ausstieg aus der Atomtechnologie. - Deshalb sind (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
wir der Auffassung, daß es noch sehr viel Überzeu- und der F.D.P.)
gungskraft auch gegenüber der Bundesregierung
bedarf, um diese davon zu überzeugen, daß das der Auch die Aufgabe der Kriegsverhinderung erfüllen
einzig richtige Weg ist. sie nicht mehr.

Ich danke. Saddam Hussein hat im Golfkrieg seine - wie er es


nannte - „Mutter aller Schlachten" gegen eine Koali-
(Beifall bei der PDS) tion geführt, der nicht weniger als drei Atomwaffen-
1362 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dr. Alfred Dregger


staaten angehört haben, darunter die atomare Super- Dr. Alfred Dregger (CDU/CSU): Diese alten Kamel-
macht USA, und mit Duldung der Sowjetunion, die len werde ich in meinem Vortrag nicht behandeln.
damals noch bestand, wenn auch in Agonie. Im Golf- Wir wollen vielmehr über die Grundsatzfragen der
krieg haben die Atomwaffen den Atommächten Atompolitik sprechen.
USA, Frankreich und Großbritannien die bewaffnete
Auseinandersetzung nicht erspart. Die Atomwaffen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
haben damals weder den Krieg verhindert noch ihn und der F.D.P.)
entschieden. Was aber wäre gewesen, wenn Saddam
Hussein seinerseits über Atomwaffen verfügt hätte? - Sind die Ergebnisse so - das ist die nächste Fra-
Das lag doch im Bereich des Möglichen, hätten die ge -, daß wir mit dem bisherigen System der Nicht-
Israelis nicht Jahre zuvor den Reaktor Osirak bom- verbreitung von Atomwaffen zufrieden sein können?
bardiert. - Hätte Saddam Hussein die gleichen Kon- Natürlich müssen wir das, was wir jetzt haben, näm-
sequenzen aus seinem Atomwaffenbesitz gezogen, lich den Nichtverbreitungsvertrag, behalten, verbes-
wie dies die Atomwaffenstaaten bisher getan haben? sern und verlängern, möglichst auf unbegrenzte Zeit
Wäre er wie sie zu genereller Mäßigung einschließ- und unter Beteiligung möglichst vieler. Aber selbst
lich des Verzichts auf den Gebrauch von bewaffneter wenn das gelingen sollte, bestünde zur Zufriedenheit
Macht bereit gewesen? - Es fällt schwer, diese Frage kein Anlaß. Nach 25 Jahren Geltung des Nichtver-
zu bejahen. breitungsvertrag es gibt es mehr Atomwaffenstaaten
Die Geschäftsgrundlage der wechselseitigen als 1970, dazu noch viele sogenannte Schwellenlän-
atomaren Abschreckung im Kalten Krieg war ja doch der, und exorbitant mehr Atomwaffen als damals.
der gemeinsame Wille zum Überleben. Das war der
kleinste gemeinsame Nenner der Antagonisten. Nicht um den Nichtverbreitungsvertrag in Frage
Hätte Saddam Hussein diesen kleinsten gemeinsa- zu stellen, den wir selbstverständlich verabschieden,
men Nenner akzeptiert, oder hätte er in Erwartung sondern nur deshalb, weil uns die Ergebnisse nicht
größtmöglichen Gewinns auch das höchstmögliche zufrieden machen können, die Frage: Was können
Risiko in Kauf genommen? Ich halte das für wahr- wir über das Bisherige hinaus tun, um die atomare
scheinlich; zumindest ist es nicht auszuschließen. Die Gefahr weiter zu verringern? Die Ausgangslage ist
wirkliche Gefahr, in der wir leben, ist, daß morgen heute anders: Der Kalte Krieg ist vorüber. Das alte
Gewaltmenschen, Hasardeure, Diktatoren und Po- Blocksystem existiert nicht mehr. Die Atomwaffen
tentaten, die völlig anderen Wertvorstellungen fol- sind in einer Größenordnung geblieben, wie sie auch
gen als die klassischen Atommächte und keinerlei im Kalten Krieg zu keinem Zeitpunkt notwendig und
demokratischer Kontrolle unterliegen, zu jedem Ri- sinnvoll gewesen war. Es war wohl ein nicht nur mili-
siko bereit sein könnten, um ihre politischen Ziele tärischer, sondern auch technischer Rausch, Atom-
rücksichtslos durchzusetzen, d. h., daß sie Atomwaf- waffen dieser Zahl und Perfektion anzuhäufen.
fen offensiv gebrauchen könnten.
Aber es gibt nicht nur negative Aspekte. Die Mög-
Heute muß es unsere größte Sorge sein - ich lichkeiten und Chancen internationaler Zusammen-
glaube, auch darüber besteht Konsens -, daß Atom- arbeit haben mit dem Ende des Ost-West-Konflikts
waffen in die falschen Hände geraten. Dafür bleibt zugenommen. Wir sollten diese Möglichkeiten nut-
Abschreckung oder, wie die Franzosen sagen, „Ab- zen, um dem Wahnsinn der Vergangenheit zu steu-
haltung" geboten. Ein Minimalbestand an Atomwaf- ern und die atomare Abrüstung zur Nichtverbrei-
fen zur Abschreckung solcher politischer Despera- tungspolitik auf eine noch breitere und erfolgver-
dos bleibt notwendig. Die große Masse der Atomwaf- sprechendere Grundlage zu stellen.
fen aber kann und sollte so bald wie möglich ver-
schwinden.
Der aussichtsreichste Ansatz für eine neue Nicht-
verbreitungspolitik besteht nach meiner Überzeu-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: H err Dr. Dregger, gung darin, den Anreiz zum Erwerb von Atomwaf-
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten fen zu mindern, den Besitz dieser Waffen möglichst
Wolf? unattraktiv zu machen. Das trägt weiter als alle Kon-
trollsysteme, die naturgemäß immer nur von be-
Dr. Alfred Dregger (CDU/CSU): Ja, bitte. grenzter Wirksamkeit sein können. Der Schlüssel zu
dem Erfolg oder Mißerfolg eines solchen Vorgehens
liegt bei den klassischen Atommächten. Solange sie
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Bitte, Herr Wolf. eine Politik betreiben, die den Eindruck erweckt, sie
wollten ihren Bestand an Atomwaffen wegen politi-
Dr. Winfried Wolf (PDS): Herr Kollege Dregger, Sie scher Vorteile, die damit verbunden sind, erhalten,
haben in Ihrem Beitrag gesagt, daß der Diktator Sad- wird es immer atomare Habenichtse auf dieser Welt
dam Hussein kurz davor stand, Atomwaffen zu ha- geben, die gleichziehen wollen, um sich ebenfalls
ben. 1st Ihnen bekannt, daß er vor dieser Schwelle diese vermeintlichen Vorteile zu sichern,
auf Grund der Beihilfe deutscher Firmen stand, dar-
unter Rhein-Bayern, Kaufbeuren, und die damals in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
bayerischem Staatsbesitz befindliche Firma MBB, die
die Rakete Condor 2 entwickelt hat, und daß damit die deshalb alles daransetzen, um geheim oder weni-
ein direkter Zusammenhang zwischen dem Thema ger geheim in den Besitz von Atomwaffen zu gelan-
Proliferation und deutsche Hilfe besteht? gen. Das ist die große Gefahr.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1363
Dr. Alfred Dregger
Durchbrochen werden kann dieser fatale Kreislauf nen wir es: Minimalabschreckung würde eine welt-
nur mittels einer wirksamen Einhegung der Atom- weite Abrüstung der ungeheuren Massen von Atom-
waffen durch die Völkergemeinschaft, an der sich waffen, die es noch gibt, auf einen sehr geringen Be-
alle beteiligen, auch die klassischen Atommächte. stand ermöglichen, weit mehr als das, was in den bis-
Diese müssen sogar vorangehen. Sie sollten selbst herigen Verträgen vorgesehen ist.
die Initiative ergreifen.
Bei einer Neuordnung dieser Art sollten alle Atom-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU waffen mit ihren Trägern und ebenso alle atomaren
und der SPD - Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Anlagen einer internationalen Kontrolle im Auftrag
Sehr richtig!) der UNO unterstellt werden, und zwar alle der glei-
Die Frage ist: Würde das für diese klassischen chen Kontrolle.
Atommächte einen unzumutbaren Verlust an Sicher-
(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und
heit und an internationaler Handlungsfähigkeit be-
der SPD)
deuten? Nein. Kein Staatsmann, der bei Verstand ist
und ein Minimum an Verantwortung empfindet, wird Privilegien im Kontrollregime sollte es nicht mehr ge-
nach den Erfahrungen von Hiroschima, Nagasaki, ben, weil auch daran die notwendigen Vereinbarun-
aber auch Tschernobyl Atomwaffen einsetzen. Atom- gen scheitern könnten.
waffen sind keine Waffen des militärischen Sieges,
keine Waffen der Schlacht, Die von mir vorgeschlagene Neuordnung würde
den Anreiz, Atomwaffen zu besitzen, wesentlich ver-
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Sehr richtig!)
mindern. Hinzu käme bei Ländern der Dritten Welt
sie gehören erst recht nicht auf das Gefechtsfeld, und die Möglichkeit, Verzicht auf Atomwaffenbesitz zu
auf eigenem Territorium sind sie Selbstmordwaffen. belohnen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD])
und der F.D.P.)
- ähnliches gibt es ja bereits -: durch Hilfen bei der
Es darf daher keine militärische Strategie und
Energiegewinnung, auch bei der friedlichen Nut-
keine militärische Doktrin mehr geben, die, und sei
zung der Kernenergie, wenn ein Sicherheitsstandard
es als Ultima ratio, den Einsatz von Atomwaffen vor-
gewährleistet werden kann, der unseren Maßstäben
sieht.
entspricht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU,
der F.D.P., der SPD und des BÜNDNISSES 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -
DIE GRÜNEN) Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Der hält eine Ostermarsch
Fazit: Kein Land kann seine Sicherheit und die sei- rede!)
ner Partner auf Waffen gründen, die niemand in sei-
ner Verantwortung vor Gott und den Menschen ein- Meine Damen und Herren, Vorbild für eine Nicht-
setzen könnte. In letzter Konsequenz heißt
- das: Die verbreitungspolitik dieser Art könnte der Baruch
Atomwaffenstaaten sollten sich fragen, ob die, wie Plan von 1947 sein. Damals haben die USA, noch
ich meine, fragwürdigen Vorteile des Besitzes von ganz unter dem Eindruck der Atombombenangriffe
Atomwaffen das Risiko wettmachen, sich und die auf Hiroschima und Nagasaki, die sich heute zum
Welt der atomaren Vernichtung preiszugeben. 50. Mal jähren, das Einmalige, das Besondere der
Atomwaffen erkannt: daß mit ihnen die Schöpfung
(Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD]) vernichtet werden könnte, aber kein Krieg geführt
Es gibt keine politischen und militärischen Gefah- werden kann. Damals waren die USA bereit, ihre
ren, denen die jetzigen Atommächte nicht auch ohne Atomwaffen im Dienste einer neuen Friedensord-
Atomwaffen begegnen könnten. Den Golfkrieg ha- nung der internationalen Kontrolle der eben neu ge-
ben die Atomwaffenstaaten nicht durch Atomwaffen schaffenen UNO zu unterstellen. Gleichzeitig sollte
gewonnen, sondern durch ihre Präzisionswaffen. Das sich die UNO nach dem Baruch-Plan im Interesse der
sollte es ihnen erleichtern, auf Atomwaffen weitge- gesamten Menschheit stärker um die friedliche Nut-
hend zu verzichten und zu einschneidender Selbst- zung der Kernenergie kümmern.
beschränkung bereit zu sein.
Heute ticken in bezug auf die entfesselte Atom-
Die von mir vorgeschlagene Selbstbeschränkung energie zwei Zeitbomben: die Atomwaffen und die
bei Atomwaffen bedeutet leider nicht volle Beseiti- Atommeiler mit unzureichenden Sicherheitsstan-
gung aller Atomwaffen. Das wäre illusorisch. Man dards, letztere vor allem auf dem Boden der ehemali-
kann das Rad nicht ein zweites Mal erfinden. Die gen Sowjetunion.
Waffe ist da, ebenso wie das Wissen, wie sie produ-
ziert wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Der von mir vorgeschlagene Verzicht bedeutet DIE GRÜNEN]: Biblis A!)
aber Abrüstung auf einen Minimalbestand, der not-
wendig ist, urn politische Desperados, die sich in den Es war die Sowjetunion, die damals den Baruch-Plan
Besitz von Atomwaffen gebracht haben, abzuschrek- abgelehnt hat, weil Atomwaffen ihrer expansiven Po-
ken. Dafür würden nur wenige Atomwaffen ge- litik die entscheidende Stütze geben sollten. Heute
braucht. Die Begrenzung auf diesen Zweck der, nen- ist kein sowjetisches Veto mehr zu erwarten. Deshalb
1364 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dr. Alfred Dregger


meine ich, die Staatengemeinschaft sollte einen Ich halte dies für einen ausgesprochen wichtigen
neuen Anlauf nehmen. Vorgang; denn die Frage, wie wir mit dem Atomwaf-
fensperrvertrag umgehen, aber wie wir auch mit dem
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Sehr richtig!) Nichtverbreitungsregime um den Atomwaffensperr-
Mit einer gemeinsamen Initiative der dem Nichtver- vertrag herum weiterverfahren, ist von entscheiden-
breitungsvertrag angehörenden Atomwaffenstaa ten der Bedeutung. Deshalb halte ich es für von aus-
in der UNO könnten diese den Weg frei machen für schlaggebendem und wichtigem politischen Ge-
eine neue und wirksamere Nichtverbreitungspolitik, wicht, daß eine überwiegende Mehrheit dieses Hau-
über die Bestimmungen und die Reichweite der jetzi- ses die hier vorliegende Initiative beschließt; denn
gen Verträge weit hinaus. dies wird eine große und überragende politische Be-
deutung haben.
(Beifall des Abg. Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.])
Ich weise darauf hin, daß 1993 unsere gemeinsame
Und noch einen Vorteil: Wenn das geschähe, wird
Initiative, eben weil es eine gemeinsame Initiative
es auch leichter sein, daß die Chemiewaffen, die wir
war, hohe Aufmerksamkeit auch international erregt
geächtet haben, nicht als die Massenvernichtungs-
hat und die Vorschläge, die wir gemacht haben,
mittel des kleinen Mannes nun noch eine neue Kar-
durchaus bei den internationalen Verhandlungen mit
riere machen können.
bedacht werden. Dies halte ich für eine gute Sache.
Meine Damen und Herren, ich wäre Ihnen dank-
bar, wenn Sie die von mir vorgetragenen Überlegun- Wir hatten 1993 als SPD in einer gutachterlichen
gen prüfen, vielleicht aufnehmen würden. Eine ge- Stellungnahme im Unterausschuß für Abrüstung und
meinsame Initiative in dieser Existenzfrage unseres Rüstungskontrolle unsere weitergehenden Vorstel-
Lebens und unserer Politik könnte vielleicht den Er- lungen formuliert. Ich werde in der weiteren Diskus-
folg erleichtern. sion noch darauf zurückkommen.
Danke schön. Es besteht hier auch ein breiter Konsens, die unbe-
grenzte und unkonditionierte Verlängerung zu un-
(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und terstützen. Im Unterschied zu anderen Verträgen ist
der SPD sowie des Abg. Werner Schulz der NPT zeitlich begrenzt, u. a. auch, weil die Bun-
[Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) desrepublik Deutschland seinerzeit keine unbe-
grenzte Dauer wünschte. Die Forderung nach unbe-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt die grenzter Verlängerung ist nicht unumstritten. Von
Kollegin Uta Zapf. den Atommächten, den NATO-Mitgliedstaaten, den
Mitgliedern der OSZE und einigen anderen wird sie
befürwortet. Aber eine ganze Reihe von Nichtatom-
Uta Zapf (SPD): Meine sehr geehrten Damen und waffenstaaten erhebt schwere Bedenken, weil sie se-
Herren! Ich bin Herrn Dregger für die Ausführungen, hen, daß die Atomwaffenstaaten ihre Verpflichtun-
die er hier gemacht hat, sehr dankbar. gen aus dem Vertrag verletzt haben.
(Gernot Erler [SPD]: Ja!) Herr Feldmann, ich teile nicht Ihre Auffassung
-
Ich denke, Sie haben eine ganze Menge an Vorurtei-
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das ist aber
len eingestürzt, die wir gegenüber einer Politik, wie
schade!)
wir sie bisher von Ihnen kennen, gehabt haben. Ich
glaube, keiner von uns hätte erwartet, daß Sie in die- - hören Sie doch erst einmal zu, zu welchem Punkt -,
sem Parlament jemals einen Satz wie diesen sagen: daß der Atomwaffensperrvertrag zur Abrüstung ge-
führt hat. Die Amerikaner haben kürzlich in einem
Es darf daher keine militärische Strategie und
Papier, das auf diese Konferenz zielt, die jetzt stattfin-
keine militärische Doktrin mehr geben, die, und
det, ausdrücklich gesagt, nicht der Atomwaffensperr-
sei es als Ultima ratio, den Einsatz von Atomwaf-
vertrag sei das, was sie zur Abrüstung bewegt habe,
fen vorsieht.
sondern ihre eigenen nationalen Sicherheitsinteres-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sen. Ich glaube, auch das gehört zur Ehrlichkeit in
DIE GRÜNEN) einer Diskussion. Das mindert nicht den Wert dieses
Vertrages, Herr Feldmann. Nur dürfen Sie es nicht so
Ich kann Ihnen sagen, Herr Kollege Dregger - ich
ausformulieren.
habe gestern abend Ihren Aufsatz gelesen und war
sehr erstaunt -: Wir stimmen sicher nicht in jeder Ein- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Frau Zapf, ich
zelheit, insbesondere nicht in der Frage der zivilen habe auch gesagt, zur besseren nuklearen
Nutzung der Kernenergie - was Sie ja verstehen wer- Rüstungskontrolle habe der Vertrag ge
den -, überein, aber ich denke, Sie haben einen noch führt!)
größeren Schritt auf die Position der SPD zu ge-
macht, als es Ihre Kolleginnen und Kollegen getan - Darin sind wir uns einig.
haben, was sich auch in dem Antrag, den wir hier be- (Beifall bei der F.D.P.)
raten, niederschlägt. Aber dieser Antrag ist wie-
derum ein weiteres Aufeinanderzugehen seit 1993. Noch ist die notwendige Anzahl an Teilnehmer-
Ich begrüße dies ausdrücklich, weil in diesem Antrag staaten für eine unbefristete Verlängerung nicht er-
nun Forderungen, die beim letztenmal noch abge- reicht. Nach interner US-amerikanischer Zählung
lehnt und als abweichendes Votum von uns nieder- werden sich bisher nur 70 Teilnehmerstaaten dieser
gelegt worden sind, akzeptiert worden sind. Forderung anschließen. Im Moment sind aber
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1365
Uta Zapf
87 Stimmen erforderlich, weil es 172 Mitgliedstaaten das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, den wir politisch
gibt. Möglicherweise werden - das ist ein erfreuli- auch noch gemeinsam bearbeiten müssen. Frank-
cher Vorgang, den wir in den letzten Jahren beob- reich, China und Großbritannien sind zu Abrüstung
achten - bis zu dieser Konferenz noch weitere Staa- bislang nicht bereit. Im Gegenteil: Sie modernisieren
ten beitreten. ihre Arsenale. Auf Israel, Indien und Pakistan als De-
facto-Atommächte wurde hier auch schon hingewie-
Es wäre aber fatal, meine Damen und Herren, sen.
sollte die Verlängerungskonferenz ausgehen wie die
Überprüfungskonferenz: ohne Ergebnis. Diese Über- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Da müssen Sie
prüfungskonferenz scheiterte an dem Unvermögen mal mit den Sozialisten Frankreichs reden!)
oder dem mangelnden Willen der Atommächte, eine
- Ich bin mir darüber im klaren, daß unsere Bruder-
formale Verpflichtung zum Abschluß eines Test-
und Schwesterparteien nicht in allen Punkten in vol-
stoppvertrages einzugehen. Zwar würde ein Schei-
ler Harmonie mit uns sind. Auch da werden wir si-
tern der Konferenz nicht automatisch das Ende des
cher noch viel Arbeit zu leisten haben, Herr Feld-
Nichtverbreitungsregimes bedeuten - die Konferenz
mann.
könnte sich bis zu einer absehbaren Entscheidung
vertagen; der Vertrag bliebe in Kraft -, aber der poli- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Leider!)
tische Schaden für das Nichtverbreitungsregime Wer ernsthaft an nukleare Abrüstung denkt, kann
wäre groß. Staaten, die Atomwaffenprogramme pla- allerdings nicht ernsthaft an der Option des nuklea-
nen, würden sich veranlaßt sehen, ihre Pläne zu for- ren Einsatzes - geschweige an der des Ersteinsatzes -
cieren. Andere könnten mit Planungen zur Nuklear- festhalten. Die NATO hat diese Strategie aber erneut
rüstung beginnen - und sei es nur aus Angst vor der festgeschrieben. Auch andere Staaten halten an ihr
Nuklearrüstung ihrer Nachbarn. Die nukleare Abrü- fest.
stung würde ernsthaft gefährdet. Weitere Abrü-
stungsbemühungen würden unmöglich gemacht. Ein Minimalschritt zur Stärkung der Glaubwürdig-
keit eines ernsten Abrüstungswillens wäre die Erklä-
Die „Non-Aligned Group" - das sind alle, die noch rung, Nuklearwaffen nicht als erste einzusetzen: also
Bedenken haben - hat immer wieder ihre Frustration eine No-First-Use-Erklärung. Meine Damen und
über die Nichterfüllung der Verpflichtungen aus Herren, leider haben wir in diesem Punkt einen tie-
Art. VI formuliert. Sie versuchen, durch Drohung mit fen Dissens. Für die SPD ist das Ziel nach wie vor
einer Nichtverlängerung einen Hebel zu finden, um eine atomwaffenfreie Welt.
die Nuklearmächte zu ihrer Abrüstungsverpflichtung
zu zwingen. Diese Staaten weisen mit Recht darauf Die Ungeduld der nuklearen Habenichtse hat sich
hin, daß die Zahl der Nuklearwaffen heute größer ist Jahre nach der Beendigung des Kalten Krieges ver-
als zur Zeit des Inkrafttretens des Vertrages. stärkt, und sie beklagen, daß sie bisher vergeblich
auf einen allgemeinen Teststopp gewartet haben.
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Leider!) Angesichts der Tatsache, daß die Verhandlungen zu
einem „Comprehensive Test Ban Treaty" bis vor kur-
Sie weisen darauf hin, daß sowohl die Versprechun-
zem in der Sackgasse steckten und sich die verspro-
gen in der Präambel - nämlich das Testverbot
- in der
chenen Verhandlungen über einen Stopp der Pro-
Atmosphäre in ein allgemeines Testverbot zu über-
duktion atomwaffenfähigen Spaltmaterials - cut-off -
führen - als auch die Einstellung der Produktion von
auf die Formulierung eines sehr engen Mandats re-
Atomwaffen bis heute Versprechungen geblieben
duzieren, ist diese Haltung sehr verständlich.
sind. Sie weisen auch auf die Verpflichtung in Art. VI
hin, die lautet: Die Debatte über eine Verbesserung des Nichtver-
breitungsregimes muß jedoch außerhalb der Debatte
... in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen
um eine Verlängerung des Vertrages ausgetragen
über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des
werden.
nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur
nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag Unkonditionierte Verlängerung kann aber nicht
zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung bedeuten, die Nuklearmächte aus ihrer Verantwor-
unter strenger und wirksamer internationaler tung zu entlassen. Sie müssen eine deutliche Per-
Kontrolle. spektive für baldige weitere Abrüstungsverhandlun-
gen aufzeigen.
So erfreulich die Erfolge bei den Abrüstungsbemü-
hungen bisher gewesen sind - das ist hier auch von Das Teststoppabkommen ist eine unabdingbare
Vorrednern schon angeführt worden -: Es bleiben Vora ussetzung dafür, daß das Nichtverbreitungsre-
noch immer zu viele Atomwaffen übrig. Für uns ist gime auch in Zukunft funktioniert. Solange es Tests
ein Erfolg von atomarer Abrüstung erst dann ge- gibt, wird es auch neue Atomwaffen geben. Zur Si-
währleistet, wenn wir keinerlei Atomwaffen mehr cherheit der bestehenden Atomwaffen bedarf es kei-
haben. An dieser Position halten wir fest. ner Tests; dazu gibt es andere technische Verfahren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne In der Frage des Atomteststopps gibt es in diesem
ten der F.D.P.) Haus breiten Konsens. Wir alle wollen nicht nur ein
Moratorium, sondern eine Beendigung des Testens.
Nach dem heutigen Stand, wenn alle Abrüstungs-
verpflichtungen eingelöst sind - auch START II, das Es gibt einen weiteren erfreulichen Fortschritt zu
noch nicht ratifiziert ist -, verbleiben bei den Super- verzeichnen. Konnte beim letzten gemeinsamen An-
mächten noch immer je 3 500 Systeme. Ich denke, trag kein Konsens in der Forderung nach einem Pro-
1366 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Uta Zapf
duktionsverbot für waffenfähiges Spaltmaterial er- Ich weise hier nochmals auf unsere Forderung
zielt werden, so wird diese Forderung jetzt von Ihnen nach Einrichtung eines Fonds zur Förderung alter-
mitgetragen. Ich nehme an, daß Sie von der Kinkel nativer und erneuerbarer Energien bei der UNO
Initiative inspiriert sind, und diese scheint mir wie- hin, um Entwicklungsländern eine Alternative zur
derum von der Clinton-Administration inspiriert zu Kernenergie zu bieten. Dies wäre ein wesentlicher
sein. Wir begrüßen diese Sinnesänderung ausdrück- Beitrag zur Verhinderung der Weiterverbreitung.
lich.
Ich will noch eine Anmerkung zum Punkt 6 des
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Antrags, zu den Sanktionen, machen. Natürlich
macht ein Nichtweiterverbreitungsregime ohne
Sorge bereitet allerdings in diesem Zusammen-
Sanktionen keinen Sinn. Aber, meine Damen und
hang, daß die USA eine neue Tritium-Fabrik bauen
Herren, ich sage hier noch einmal ganz ausdrücklich:
wollen. Ein Produktionsstopp allein beendet ja noch
Gedankenspielereien über präventive militärische
nicht die Gefahr des Baus neuer Nuklearwaffen,
Schläge oder Counterproliferation, d. h. militärische
denn die vorhandenen Vorräte reichen bis in das
Optionen lehnen wir ab. Wir sind in dieser Hinsicht
Jahr 2012.
auch nicht mit dem einverstanden, was in der Zehn-
Auch die Forderung nach Einrichtung eines Kon- Punkte-Initiative ausgeführt worden ist.
trollregisters für Atomwaffen und von internationa- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Nicht einver
len Überwachungsmaßnahmen bei der Abrüstung ist standen? Das ist schade!)
ein erfreulicher Fortschritt. Dennoch bleibt unsere
Forderung bestehen, solche Waffen weiterhin inter- - Nicht einverstanden mit diesem Punkt der militäri-
nationaler Überwachung zu unterstellen. Dies ist schen Optionen bei Sanktionen.
auch in dem neuen Antrag nicht enthalten, obwohl
Allerdings muß ein Sanktionssystem ausgebaut
Herr Dregger diese Position ganz offensichtlich teilt.
werden; denn wir sehen ja, daß Sanktionen sinnlos
Ein weiterer Dissens, den ich für wichtig halte, sind, wenn sie durchlöchert werden. Wir sehen es bei
bleibt: Die SPD fordert nach wie vor den freiwilligen Jugoslawien, und wir haben es auch anderswo gese-
Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf die hen. Damit sind wir einverstanden, nur müssen es zi-
Nutzung sensitiver Nukleartechnologien wie Wie- vile Mittel sein, bis hin zur völligen wirtschaftlichen
derverarbeitung und Plutoniumnutzung. Wir brau- und anderen Isolation von Staaten.
chen diese Technologien nicht. Sie sind weder wirt- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Aber sonst ist
schaftlich noch vernünftig. die Zehn-Punkte-Initiative gut?)
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph - Sie wissen, daß ich selbst und auch die SPD für die
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ militärische Überwachung von Embargos plädieren.
NEN]) Das wäre ja ein militärischer Schritt, aber kein militä-
rischer Schlag, wie er in den Gedankenspielen der
Ein freiwilliger Verzicht würde ein positives Signal Zehn-Punkte-Initiative enthalten ist. Das ist ein ganz,
sein. Wir können doch nur wünschen, daß
- diese am- ganz wichtiger Unterschied.
bivalente zivilmilitärische Kerntechnologie insge-
samt eingestellt wird, um Proliferationsängste zu Die SPD hat z. B. auch dazu Vorschläge gemacht,
mindern. Wir wollen keine Kernwaffenoptionen of- daß gegenüber Sanktionsbrechern Sanktionen er-
fenhalten. Ein Verzicht würde unsere Glaubwürdig- griffen werden müssen, daß es einen Fonds geben
keit steigern. muß, um diejenigen, die unter Sanktionen wirtschaft-
lich leiden, mit Kompensationen versehen zu kön-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph nen. Denn ich kann ja wohl nicht erwarten, daß je-
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ mand, der wirtschaftlich über die Wupper geht, nicht
NEN]) den Gelüsten erliegt, solche Sanktionen zu durchbre-
chen.
Wir dürfen doch nicht glauben, daß es keine Proli-
ferationsängste mehr gegenüber der Bundesrepublik Meine Damen und Herren, wir werden sicher noch
Deutschland gibt, nachdem Deutschland den Vertrag weiter über die Verbesserung des Nichtverbreitungs-
nur unter dem Vorbehalt unterzeichnet hat, daß er regimes diskutieren. Die Diskussion muß weiterge-
nur so lange für die Bundesrepublik Gültigkeit habe, hen; sie wird weitergehen, weil der Atomwaffen-
wie es keine europäische Verteidigung gibt, die dann sperrvertrag nur dann Bestand haben wird, wenn bei
zwangsläufig auch nuklear sei. der Abrüstung und Kontrolle weitere Fortschritte ge-
macht werden. Trotz aller Mängel des Vertrages
Noch ist auch die heftige Debatte über atomare stelle ich fest: Er ist ein guter Vertrag, der wesentlich
Teilhabe in der Mitte der achtziger Jahre in Erinne- dazu beigetragen hat, Proliferation zu verhindern.
rung, die im Zusammenhang mit einer europäischen
Option stand, Herr Feldmann - um wieder auf die Ich danke Ihnen.
französischen Sozialisten zu kommen. Damals war es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
der Generalsekretär der französischen Sozialisten, ten der CDU/CSU und der F.D.P.)
der bejammert hat, daß Deutschland nicht in die
atomare Option einbezogen ist. Der im Zwei-plus-
Vier-Vertrag ausgesprochene Verzicht mag die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt
Ängste lindern, aber nicht ganz beseitigen. der Abgeordnete Ludger Volmer.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1367

Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau um dort die MOX-Technologie anzudienen, worauf
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es ein- ein anderer Minister dorthin reisen mußte, um sich
mal ganz klar zu sagen: Wenn wir den vorliegenden über den Plutoniumschmuggel zu beschweren. Der
Vertrag kritisieren, weil er uns nicht hinreichend er- Plutoniumschmuggel ist das Problem der Zukunft.
scheint, so möchte ich dennoch erklären: An uns Wir müssen dafür sorgen, daß die Handelswege un-
wird die Ratifizierung der Verlängerung nicht schei- terbrochen und die Produktion gestoppt wird. Auch
tern. Das ist völlig selbstverständlich. dann, wenn auf internationaler Ebene nichts durch-
zusetzen ist, kann die Bundesregierung mit einseiti-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen Maßnahmen vorangehen.
sowie bei Abgeordneten der PDS)
Wir fordern Sie auf: Machen Sie Ihre Haltung da-
Nur meinen wir: Die Probleme, die es in diesem durch glaubwürdig, daß Sie die Plutonium-Wirt-
Vertrag gibt, müssen auf internationaler Ebene ein- schaft in der Bundesrepublik sofort unterbinden.
mal thematisiert werden können, damit wir der Lö- Stoppen Sie die Planung von Garching; stoppen Sie
sung der Probleme näherkommen. die MOX-Anlagen in Hessen. Liefern Sie die deut-
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das wollen wir schen Plutoniumvorräte an ein internationales Über-
doch auch!) wachungsregime aus. Das sind die Möglichkeiten,
die Sie jetzt schon wahrnehmen können. Nehmen
Ich behaupte, Herr Erler - darin unterscheiden sich Sie die Gelegenheit wahr, in letzter Minute für die
unsere Auffassungen -, daß die sogenannte zivile Berliner Energiekonferenz Vorschläge vorzubereiten,
Nutzung der Atomkraft - das ist natürlich nicht un- wie man ohne Plutonium, ohne die sogenannte zivile
wichtig - kein Randproblem ist, sondern eines der Nutzung der Atomkraft Energie zur Verfügung stel-
Kernprobleme ist und eines der Zukunftsprobleme len kann.
sein wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)
sowie bei Abgeordneten der PDS)
Daß so etwas geht, ist bewiesen worden. Daß so et-
Denn die Hauptgefährdung im atomaren Bereich was einseitig geht, ist ebenfalls bewiesen worden.
wird sich nicht mehr dadurch ergeben, daß die hoch-
gerüsteten Blocksysteme irgendwelchen Drittstaaten Dafür, daß sie gegen die aggressive Wirtschafts-
Atomwaffen übergeben, um ihre eigene Machtposi- politik der Firma Siemens alles darangesetzt haben,
tion auszubauen, sondern die Gefährdung wird darin die Produktion dieses fürchterlichen Teufelszeugs
liegen, daß sehr viele kleinere Staaten und sehr viele und Bombenstoffs in den Atomfabriken von Hanau
kriegslüsterne Despoten sich Atomwaffen auf dem möglichst zu behindern und einzudämmen, sollte
freien Markt verschaffen können. Der freie Markt für nicht nur die hessische Bevölkerung, sondern auch
Plutonium ist das Problem der Zukunft. Das muß die Bevölkerung in der ganzen Bundesrepublik der
man ins Auge fassen, wenn man die Nichtverbrei- hessischen Landesregierung und insbesondere den
tung von Atomwaffen durchsetzen möchte. grünen Umweltministern danken.
-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der PDS) sowie bei Abgeordneten der PDS)

Die sogenannte friedliche Nutzung ist in den Ver-


trag eingeführt worden, um die Zustimmung sehr Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster
vieler Drittweltländer zu bekommen. Mittlerweile spricht der Herr Abgeordnete Friedbert Pflüger.
wissen wir, daß diese Technik energiewirtschaftlich
eine Sackgasse ist. Wir wissen aber mittlerweile Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Frau Präsiden-
auch, daß die zivile von der militärischen Nutzung tin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Fischer
überhaupt nicht mehr zu trennen ist, seitdem es Nu- hat eben in einem Zwischenruf bei der Rede des Eh-
kleartechnologien wie die Anreicherung und die renvorsitzenden unserer Fraktion Dr. Dregger ge-
Wiederaufbereitung gibt. Es gibt mindestens sagt, das sei eine Ostermarschrede gewesen.
19 Schwellenstaaten, die, wenn sie genügend Pluto-
nium hätten, sofort die Bombe bauen könnten. Wenn (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das sollte ein Lob
weiterhin, wie es heute geschieht, auf zivilem Wege sein!)
hochangereichertes Uran produziert wird, dann wird Ich stehe zwar in dieser Frage ein bißchen rechts von
es im Jahre 2010 die Kapazität für 71 000 neue Atom- Herrn Dregger,
bomben geben. Das ist doch die Gefährdung, der wir
einen Riegel vorschieben müssen. (Heiterkeit bei allen Fraktionen)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN möchte aber sagen: Wenn der Zwischenruf des Kolle-
sowie bei Abgeordneten der PDS) gen Fischer so zu verstehen ist, daß demnächst die
GRÜNEN Ostermärsche zur Unterstützung der Posi-
Daß es sich hierbei nicht um ein Nebenproblem tion unseres Ehrenvorsitzenden organisieren, dann
handelt, zeigt doch auch das sich anbahnende Zer- sind wir in der CDU/CSU darüber sehr erfreut.
würfnis zwischen den USA und Europa, insbeson-
dere Euratom. Die USA sind zum Glück zu einem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Zeitpunkt mit einem Stopp der Plutoniumproduktion Uta Zapf [SPD]: Wir haben auch nichts da
vorangegangen, als Herr Töpfer nach Rußland reiste, gegen, wenn Herr Dregger mitmacht!)
1368 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dr. Friedbert Pflüger


Meine Damen und Herren, der Nichtverbreitungs- Das dritte Argument, das immer wieder angeführt
vertrag ist der wichtigste Damm gegen die Prolifera- worden ist, sind die mangelnden Sicherheitsgaran -
tionsflut. Wenn er scheitert, dann droht nicht eine tien. Auch dieses Argument müssen wir in der Tat
Ara der nuklearen Abrüstung, wie wir sie uns alle sehr ernst nehmen. Denn seien wir doch einmal ehr-
nach 1989 erhofft haben, sondern dann droht eine lich: Wäre denn die Bundesrepublik Deutschland
Ära der nuklearen Weiterverbreitung. Angesichts dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten, wenn wir
des nuklearen Erbes der Sowjetunion muß es einfach nicht den NATO- und USA-Schutzschirm gehabt hät-
gelingen, eine Mehrheit für die Verlängerung des ten? Wir konnten nur deshalb beitreten, weil wir uns
Vertrages zustande zu bringen. in einem Bündnis befanden, das uns eine Sicher-
heitsgarantie gegeben hat. Deshalb sollten wir das
Im Moment gibt es diese Mehrheit nicht. Das be- Argument mancher Entwicklungsländer aufnehmen
deutet für uns, d. h. sowohl für die Parlamentarier und dafür werben, daß es zumindest negative Sicher-
wie für die Regierung, daß wir in den nächsten zwei heitsgarantien gibt, etwa durch eine Erklärung des
Monaten überall auf der Welt, wo es unentschlossene Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.
Staaten gibt, anfangen zu werben, und zwar zu wer-
ben in einer Art und Weise, die sich nicht nur auf Im ganzen gesehen liegt es im Interesse aller Staa-
schriftliche Demarchen beschränkt. Vielmehr müs- ten, sowohl der Kernwaffenbesitzer wie der Nicht-
sen wir versuchen, die Argumente mancher Entwick- waffenbesitzer, daß der Vertrag verlängert wird. Ich
lungsländer gegen die Verlängerung des Atomwaf- behaupte: Die Kernwaffenbesitzer haben sogar ein
fensperrvertrages ernst zu nehmen und uns mit die- geringeres Interesse an der Vertragsverlängerung;
sen Argumenten auseinanderzusetzen. denn wenn sich der eine oder andere Staat in der
Dritten Welt oder das eine oder andere Schwellen-
Was sind diese Argumente? Einer der wesentli- land Nuklearwaffen besorgt, dann entsteht dadurch
chen Gründe, der immer wieder angeführt wird, ist, noch nicht eine fundamentale Bedrohung der kern-
daß viele Entwicklungsländer glauben, mit dem waffenbesitzenden Staaten. Im Gegenteil: Sie haben
Atomwaffensperrvertrag und der Einteilung in Kern- die finanziellen Mittel, dann „Counter-Proliferation"
waffenbesitzer und -nichtbesitzer würde es eine in- zu machen, d. h. über neue Rüstungen neuen Bedro-
ternationale Statuseinteilung geben. In den 60er Jah- hungen entgegenzutreten.
ren, als der Vertrag geschlossen worden ist, war es ja
in der Tat in der damals bipolaren Welt so, daß die Die wirklichen Verlierer bei einer Nichtverlänge-
Frage des Besitzes oder Nichtbesitzes von Kernwaf- rung des Atomwaffensperrvertrages sind die Staaten
fen Aufschluß über den Standort eines Landes in der der Dritten Welt, weil in dem Moment, in dem das
internationalen Rangordnung gab. Das ist aber in- ganze Proliferationsregime zusammenbricht, sie es
zwischen nicht mehr der Fall. sind, die neue Rüstungswettläufe machen werden,
da sie fürchten, der Nachbar könnte nuklear rüsten.
Gerade die Bundesrepublik Deutschland als Kern- Sie sind es, die dann Gelder für Rüstung statt für den
waffennichtbesitzer oder ein Land wie Japan zeigen, Erhalt der Regenwälder, für Entwicklung, für die Be-
daß es heute, wenn es um Prestige und Einfluß geht, kämpfung von Hunger und Krankheit ausgeben.
auf ganz andere Dinge ankommt: z. B. auf wirtschaft- Deshalb ist es im fundamentalen Interesse gerade
lichen Erfolg, auf Beiträge zur Entwicklung
- und zum der Entwicklungsländer, diesem Vertragswerk zuzu-
Umweltschutz. Umgekehrt zeigt Rußland, daß der stimmen.
Besitz von Kernwaffen keineswegs von vornherein
Auf diese Weise sollten wir versuchen - vielleicht
den Status eines Landes in der internationalen Staa-
in Form einer Sondermission eines Staatsministers -,
tengemeinschaft garantiert.
in den nächsten zwei Monaten in die Welt hinauszu-
Der zweite wesentliche Grund, der immer wieder gehen und mit guten Argumenten und ohne mora-
vorgebracht wird, ist, daß die Kernwaffenbesitzer lisch erhobenen Zeigefinger zu werben. Dann wer-
ihre Verpflichtungen zur Abrüstung nicht eingehal- den wir den Vertrag auch verlängern. Erst dann geht
ten hätten. Das haben wir heute auch von Frau Beer, unsere Arbeit hier richtig los, denn der Vertrag ist
von Frau Zapf und von Frau Lederer in dieser De- nichts mehr als die Grundlage für ein dann zu schaf-
batte gehört. Ich würde sagen, daß das für 20 der fendes Netz von weiteren Vereinbarungen, die die
25 Jahre Geltungsdauer auch wirklich zutreffend ist. Proliferation von Nuklearwaffen verhindern oder er-
Vor fünf oder sechs Jahren hätte ich genau das glei- schweren.
che Argument gebraucht. Aber, Frau Kollegin Lede- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
rer und Frau Kollegin Beer, Sie können doch wirklich
nicht die gewaltigen Abrüstungsfortschritte in den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
letzten fünf Jahren verkennen! Wenn es überhaupt ordneten der F.D.P., der SPD und des
Bemühungen gegeben hat, dann doch in den letzten BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
fünf Jahren mit dem START-Vertrag, mit dem INF-
Vertrag und jetzt natürlich auch mit den Cut-Off-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzter Redner
Verhandlungen und den Verhandlungen über einen
zu diesem Tagesordnungspunkt spricht der Außen-
umfassenden Atomteststopp. Das sind doch Fort-
minister Dr. Klaus Kinkel.
schritte, die Sie nicht einfach leugnen können! Viel-
mehr sollten Sie versuchen, gegenüber den Staaten
der Dritten Welt umgekehrt zu argumentieren: Guckt Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen:
doch, hier ist jetzt Bewegung hineingekommen, so Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Die
daß ihr zustimmen könnt! Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1369
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
stellt eine Bedrohung des Weltfriedens und der inter- Bei dem, was uns bevorsteht, kommt Deutschland
nationalen Sicherheit dar." Mit diesem Beschluß hat eine Schlüsselrolle zu. Wir haben völkerrechtlich ein
der UNO-Sicherheitsrat auf seinem Gipfel am für allemal und absolut verbindlich erklärt, daß wir
31. Januar 1992, übrigens auf deutschen Vorschlag auf Massenvernichtungswaffen aller Art verzichten.
hin, unmißverständlich auf eine Entwicklung rea-
giert, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, des (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so
Kalten Krieges zum Sicherheitsrisiko Nummer eins wie bei Abgeordneten der SPD)
geworden ist.
Das schenkt unserem Appell an andere auch eine be-
sondere Glaubwürdigkeit, und das in doppelter Hin-
Heute gibt es immerhin noch schätzungsweise
sicht: Wir stehen nämlich als Deutsche nicht im Ver-
über 50 000 Atomsprengköpfe mit einer millionenfa-
dacht, Sonderrechte verteidigen zu wollen. Wir sind
chen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Nach der-
Beispiel dafür, daß der Verzicht auf Kernwaffen kei-
zeitigen Schätzungen arbeiten bis zu 20 Staaten an
nerlei Nachteile bringt.
nuklearfähigen Trägersystemen oder verfügen schon
über solche. Auch die Zahl der potentiellen Lieferlän- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Gutes Beispiel!)
der für Kernwaffen- und Trägertechnologien wächst.
Wir haben dieses Guthaben gemehrt und genutzt.
Die im letzten Jahr in Deutschland aufgedeckten So wurden die Verhandlungen über die Chemiewaf-
Fälle von Nuklearschmuggel, insbesondere die Be- fenkonvention 1992 unter deutschem Vorsitz erfolg-
schlagnahme von waffenfähigem Plutonium in Mün- reich zum Abschluß gebracht.
chen, waren ein Alarmsignal. Nukleare Weiterver-
breitung ist wie eine ansteckende Krankheit. Wenn (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Eine hervorra
es bei der Vielzahl der regionalen Brandherde nicht gende Arbeit!)
gelingt, diese Gefahr zu bändigen, dann gehen wir
-Die Einrichtung der internationalen Wissenschafts
schwierigen - ich würde sogar sagen: schlimmen -
und Technologiezentren in Moskau geht auf deut-
Zeiten entgegen. Deshalb gibt es für die Bundesre-
sche Initiative zurück. Von dort werden seit 1994
gierung nur eines: alles zu tun, um die Zahl der Staa-
4 000 Wissenschaftler in bisher 76 Projekten unter-
ten, die Kernwaffen besitzen, und das Risiko des Nu-
stützt.
klearterrorismus zu begrenzen.
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das muß ver
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne längert werden!)
ten der CDU/CSU)
Die von mir am 15. Dezember 1993 vorgestellte
Die Bewahrung einer verläßlichen „nuklearen Zehn-Punkte-Initiative zur Nichtverbreitung von
Weltordnung" ist zum kategorischen Imperativ der Massenvernichtungswaffen hat ebenfalls unser be-
globalen Sicherheits- und Abrüstungspolitik gewor- sonderes Engagement auf diesem Gebiet gezeigt.
den. Das ist ganz zweifellos ein Mehrfrontenkampf.
Der Nichtverbreitungsvertrag bleibt und muß Eck- Meine Damen und Herren, der atomare Geist ist
- bleibt ein
pfeiler bleiben. Dieser Vertrag war, ist und aus der Flasche entwichen. Ob wir ihn jemals wieder
Erfolg, auch als Garant für eine friedliche Nutzung ganz zurückbringen werden, ist fraglich, aber ihn zu
der Kernenergie unter der Kontrolle der IAEO. Ihm zähmen müssen wir jedenfalls mit allen uns zur Ver-
gehören inzwischen 171 Staaten an. Wir setzen alles fügung stehenden Mitteln versuchen.
daran, auch die letzten noch abseits stehenden Staa-
ten in dieses Vertragswerk einzubeziehen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
ten der CDU/CSU und der SPD)
(Beifall bei der F.D.P.)
Der Erhalt des Nichtverbreitungsvertrags ist bei die-
sem Zähmungsversuch von allergrößter Bedeutung.
Natürlich stehen wir vor einer entscheidenden
Weichenstellung. Auf der Überprüfungs- und Ver- Wir haben unsere EU-Präsidentschaft im letzten
längerungskonferenz in New York wird im April halben Jahr genutzt, um mit zum Teil weltweiten De-
über die Fortgeltung dieses vor 25 Jahren abge- marchen noch zögernde Staaten für unsere Ziele zu
schlossenen Vertrags zu entscheiden sein. Die Bun- gewinnen. Ich werde heute in Bonn mit dem ägypti-
desregierung tritt dabei gemeinsam mit ihren Part- schen Außenminister Moussa zusammentreffen und
nern im Bündnis und in der OSZE für seine unbe- unsere Position erläutern und versuchen, ihn für eine
grenzte und unkonditionierte Verlängerung ein. kompromißbereite Haltung Ägyptens und der ge-
Jede Neuverhandlung des Vertrages, auch nach be- samten Arabischen Liga zu gewinnen. Leider wird
fristeter Verlängerung, ginge zu Lasten seiner Uni- dort noch gezögert. Eine EU-Troika-Delegation hat
versalität und damit auch zwangsläufig seiner Wirk- auf Ministerebene vergangene Woche in Israel und
samkeit. in anderen Staaten der Region ebenfalls für eine sol-
che Haltung geworben.
Meine Damen und Herren, vergessen wir nicht:
Ohne diesen Vertrag wäre es in den letzten Jahren (Unruhe)
wohl kaum gelungen, in Staaten wie Südafrika, der
Ukraine und Nordkorea gefährliche Entwicklungen
hin zu einer weiteren Verbreitung von Kernwaffen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen
aufzuhalten und umzukehren. und Kollegen, stellen Sie sich vor, Sie stünden hier
1370 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth


vorne. Ich denke, die Höflichkeit gebietet es, auch Präsident Clinton hat das angeboten, und wir hoffen,
noch vor der Abstimmung zuzuhören. daß dieses Angebot von anderen Kernwaffenstaaten,
insbesondere auch von Rußland, übernommen wird.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
ten der CDU/CSU) Sechstens. Das Instrumentarium der Internationa-
len Atomenergieorganisation muß im Lichte der
Irak-Erfahrungen weiter gestärkt werden.
Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen:
Noch vor Beginn der NVV-Konferenz wird der Abrü- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Richtig!)
stungsbeauftragte der Bundesregierung in einigen
für die Verlängerungsentscheidung wichtigen Län- Im Vordergrund steht dabei das Recht, in nicht dekla-
dern unseren Standpunkt nochmals mit Nachdruck rierten Anlagen Sonderinspektionen durchzuführen.
darlegen. Siebtens. Der UN-Sicherheitsrat muß seine Rolle
Eine wirksame nukleare Nichtverbreitungspolitik als eigentlicher Hüter der Nichtverbreitung von Mas-
setzt erstens eine zügige Umsetzung der vereinbar- senvernichtungswaffen voll wahrnehmen.
ten Abrüstungsmaßnahmen voraus. Wir haben Ruß- Meine Damen und Herren, Bill Gates, einer der
land und der Ukraine substantielle Abrüstungshilfe Pioniere des neuen Informationszeitalters, spricht
geleistet. Nach START II werden von den ursprüng- von der Welt der unbegrenzten Chancen. Tun wir al-
lich 22 000 Nukleargefechtsköpfen in den interkonti- les, damit wir nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
nentalen Raketenarsenalen beider Vertragspartner nicht in eine Welt der unbegrenzten Risiken kom-
nur noch etwa 6 500 übrigbleiben. men.
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Ein guter Erfolg (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
ist das!)
Dazu gehört, die Weiterverbreitung von Massen-
Die Abrüstungsverpflichtung in Art. VI des Nicht- vernichtungswaffen zu verhindern. Die Bundesregie-
verbreitungsvertrags muß weiter ernst genommen rung ihrerseits wird alles tun, um ihren Beitrag dafür
werden, schon damit wir dem Vorwurf begegnen zu leisten.
können, es gehe um die Verewigung einer Zweiklas-
sengesellschaft. Vielen Dank.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Bundesmi- wie des Abg. Gernot Erler [SPD] - Dr. Olaf
nister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Feldmann [F.D.P.]: Dazu haben wir sie ge
Erler? wählt!)

Dr. Klaus Kinkel (F.D.P.): Nein! Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich schließe die
(Lachen bei der SPD) Aussprache.

- Das Plenum nimmt ja auch auf mich - ich verstehe Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen
-
das - vor den Abstimmungen keine Rücksicht. auf den Drucksachen 13/398, 13/537 und 13/429 an
die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse vor-
(Uta Zapf [SPD]: Das ist allerdings richtig!) geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann
verfahren wir so.
Zweitens. Wir halten es für sehr wichtig, daß noch
vor Beginn der NVV-Konferenz in New York hin-
sichtlich der Sicherheitsgarantien für Nichtkernwaf- Ich rufe die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
fenstaaten eine zufriedenstellende Lösung gefunden ZP2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
wird.
Bestimmung des Verfahrens für die Berech-
(Zuruf von der SPD) nung der Stellenanteile
- Ich diskutiere nachher gerne mit Ihnen. - Drucksache 13/547 -
Drittens: Abschluß eines nuklearen Teststoppver- ZP3 Beratung des Antrags der Fraktionen der
trags möglichst noch 1995. CDU/CSU und F.D.P.
Viertens. Auch die Arbeiten an einem Verbot der Wahlverfahren von Gremien
Produktion von Spaltmaterial der Kernwaffen oder
anderer Kernsprengkörper müssen vorangetrieben - Drucksache 13/542 -
werden. Die Verabschiedung des Verhandlungsman-
Bevor wir zur Wahl der Mitglieder der Gremien
dats ist jetzt dringlich. kommen, müssen wir das Verfahren zur Berechnung
Fünftens. Wie ich in meiner Zehn-Punkte-Initiative der Stellenanteile beschließen. Dazu liegen ein An-
gefordert habe, sollen das aus der Abrüstung freiwer- trag der Fraktion der SPD sowie ein Antrag der Frak-
dende Kernmaterial sowie das Kernmaterial, das bis- tionen der CDU/CSU und der F.D.P. vor.
her in Nicht-NVV-Staaten nicht kontrolliert wurde,
Interfraktionell ist für die Aussprache eine Fünf-
den Sicherungsmaßnahmen der IAEO unterstellt
Minuten-Runde vereinbart worden. - Ich sehe und
werden.
höre auch dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) wir so.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1371

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth


Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster Dies ist beim Vermittlungsausschuß der Fall. Wenn
Joachim Hörster. wir dort das Verfahren St. Lague-Schepers anwen-
den, käme es zu einem Patt zwischen Regierung und
Opposition auf der Bundestagsbank. Daß es dieses
Joachim Hörster (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Patt nicht gibt, werden wir gleich bei der Abstim-
Meine Damen und Herren! Der Wähler hat bei den mung sicherstellen.
Bundestagswahlen am 16. Oktober des vergangenen (Beifall bei der CDU/CSU)
Jahres entschieden, daß die Koalition der Mitte von
CDU/CSU und F.D.P. Um dem Wählerwillen Rechnung zu tragen, ist es
erforderlich, das Zählverfahren auszusuchen, das die
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Mehrheitsverhältnisse widerspiegelt. Das ist das Ver-
DIE GRÜNEN]: Die Wählerinnen, was ist fahren nach d'Hondt. Dies ist der Grund dafür,
mit denen?) warum wir heute diese Geschäftsordnungsabstim-
mung durchführen.
in diesem Hause die Mehrheit hat.
Wir müssen im übrigen auch deswegen ein ande-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) res Zählverfahren wählen, weil wir bei diesem und
anderen Gremien nicht frei über die Zahl der Man-
Bei der Besetzung der Ausschüsse und Gremien date verfügen können. Wir haben bei den Fachaus-
des Deutschen Bundestages muß sich diese vom schüssen des Deutschen Bundestages - die Kollegen
Wähler getroffene Entscheidung widerspiegeln, d. h. Geschäftsführer wissen das - handverlesen die Aus-
Mehrheit muß Mehrheit bleiben. Dies ist ein verfas- schußgrößen festgelegt, damit auch das Zählverfah-
sungsrechtiches Gebot. ren St. Lague-Schepers immer zu den erforderlichen
Mehrheiten führt. Beim Vermittlungsausschuß, beim
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Postregulierungsrat und bei anderen Gremien kön-
nen wir dies nicht, weil hier die Zahlen gesetzlich
Bei der Umrechnung von 47,7 Millionen Zweitstim- feststehen wie auch beim Richterwahlausschuß oder
men in 672 Abgeordnetenmandate braucht man bei den Wahlmännern für das Bundesverfassungsge-
Zählverfahren ebenso wie bei der Umsetzung von richt. Für die letzten beiden Fälle schreibt das Gesetz
672 Abgeordnetenmandaten in 41, 32, 17 oder, wie das Zählverfahren d'Hondt vor.
beim Vermittlungsausschuß, 16 Ausschußsitze. Dies
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Be-
ist ganz einfach darin begründet: Wenn man die Zah-
gehren der Koalition in ihrem Antrag, das Zählver-
len in das Verhältnis setzte, könnte es passieren, daß
fahren anzuwenden, das in jedem Gremium des
auf eine Fraktion 9,3, auf eine andere 8,5 und auf
Deutschen Bundestages auf der Bank des Bundesta-
eine Gruppe vielleicht 0,8 Mandate entfielen. Das
ges die Mehrheit des Parlamentes, die der Wähler
würde wiederum ein Clearing-Verfahren erfordern,
gewollt hat, widerspiegelt, ist sachlich begründet,
wie denn nun mit den Restsummen zu verfahren
gerechtfertigt und entspricht einem verfassungs-
wäre. Deshalb braucht man Zählverfahren.
rechtlichen Gebot. Deswegen ist es für mich unver-
ständlich, daß die Sozialdemokraten diesem nicht
Diese Zählverfahren haben ausschließlich den
Zweck, die vom Wähler getroffenen Mehrheitsent- Rechnung tragen wollen.
scheidungen auch in den parlamentarischen Gre- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
mien umzusetzen. Kernpunkt ist nicht die Verein-
heitlichung der Zählverfahren, sondern daß dem Dies um so mehr, als sie selbst von der Anwendung
Wählerwillen bei der Umsetzung in den Gremien des Zählverfahrens überhaupt nicht betroffen sind
Rechnung getragen wird. und ausgerechnet denen, mit denen sie zumindest
nach den Erklärungen ihres Partei- und Fraktions-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vorsitzenden Scharping eigentlich gar nichts zu tun
haben möchten, zu einem Sitz verhelfen, indem sie
Deswegen hat bisher auch niemand daran Anstoß dem verfassungsrechtlichen Gebot nicht Rechnung
genommen, daß wir bei der Umsetzung der Wähler- tragen.
entscheidung bei der Bundestagswahl das Zählver-
fahren Hare-Niemeyer anwenden, aber bei den re- Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
gulären Ausschüssen des Deutschen Bundestages (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ein anderes Zählverfahren, nämlich das Verfahren
St. Lague-Schepers anwenden. Mit jedem dieser bei-
den Zählverfahren war gesichert, die Wählermei- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster
nung umzusetzen. Dr. Peter Struck.

Nun stellt sich bei einer Reihe von Gremien her-


Dr. Peter Struck (SPD): Frau Präsidentin! Meine
aus, daß das Verfahren St. Lague-Schepers nicht ge-
Damen und Herren! Dies war wieder eine typische
eignet ist, eine Zusammensetzung der Gremien so zu
Rede des Kollegen Hörster.
ermöglichen, daß die vom Wähler getroffene Mehr-
heitsentscheidung widergespiegelt wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

(Gernot Erler [SPD]: Weiß der Wähler das?) - Ich habe dies natürlich nicht positiv gemeint.
1372 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dr. Peter Struck


Herr Kollege Hörster, wir Sozialdemokraten ver- sitzt, gefällt oder nicht, an das Prinzip halten. Das ist
fahren nicht nach dem Prinzip, daß die Größenord- für mich Demokratie.
nung der Gremien danach bestimmt wird, ob es ei-
nem gefällt oder nicht. Wir verfahren nach dem Prin- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
zip, sie nach dem Wählerwillen zusammenzusetzen. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS)
(Beifall bei der SPD und der PDS)

Das ist übrigens auch am 24. November 1994 von Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster Wer-
allen Fraktionen des Deutschen Bundestages so be- ner Schulz.
schlossen worden. Es war eine konsequente Ent-
scheidung, dieses Berechnungsverfahren anzuwen- Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
den, das die kleinen Fraktionen bevorzugt, wenn- NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
gleich ich mir als Mitglied einer großen Fraktion vor- Die Vertretung und Mitwirkung der PDS im Vermitt-
stellen kann, ein anderes Verfahren anzuwenden. lungsausschuß - darum geht es ja vor allen Dingen -
Aber ich weiß, daß Sie in der Pflicht gegenüber den ist keine Frage des Zählverfahrens, sondern eine
ganz Kleinen sind. Wir waren auch einmal in solchen Frage des politischen Willens. Meine Fraktion will,
Pflichten, das möchte ich nicht verschweigen. daß die Gruppe der PDS volle parlamentarische
Rechte und volle Arbeitsmöglichkeiten erhält, d. h.
Ein Verfahren, das uns bevorzugt, würde mir schon auch Mitwirkung in allen Gremien, einschließlich
sehr gefallen. Allerdings haben wir etwas anderes Vermittlungsausschuß.
beschlossen. Dabei sollten wir dann gefälligst auch
bleiben. Eines darf nicht passieren, daß nämlich im- Die PDS ist in allen ostdeutschen Landtagen ver-
mer dann, wenn ein solches Zählverfahren zu einem treten. Das ist Fakt. Die PDS ist fast in Fraktions-
Ihnen politisch unliebsamen Ergebnis führt, Sie sich stärke im Bundestag vertreten. Auch das ist Fakt. Wir
ein anderes Verfahren ausdenken. So geht das nicht. sind der Meinung, daß man unverkrampft mit Fakten
umgehen sollte.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der PDS)
Sie setzen sich über schwere rechtliche Bedenken
hinweg. Denn es ist wichtig, daß die PDS dort dabei ist, wo
die schwierigen Probleme des Zusammenwachsens
Die CDU/CSU verliert einen Sitz im Vermittlungs- diskutiert und entschieden werden. Sie ist längst
ausschuß. Das ist genau der Grund, warum Sie sa- schon selbst ein Vermittlungsfall geworden.
gen: Jetzt müssen wir einmal anders rechnen, und
zwar so, daß wir unseren Sitz behalten. (Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
NEN)
Dabei ist es im Grunde völlig egal, ob Sie acht oder
Denn sie hat das Kunststück vollbracht, problemlos
sieben Bundestagsabgeordnete im Vermittlungsaus-
- aus der führenden Rolle in die Märtyrerrolle zu
schuß haben. Es ist verlorene Liebesmühe, darum zu
schlüpfen.
kämpfen; denn - das sage ich mit Stolz - die Wähler
in Bund und Ländern haben dafür gesorgt, daß die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
SPD - egal, ob die CDU/CSU acht oder sieben Mit- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
glieder in den Vermittlungsausschuß entsendet - dort SPD und der F.D.P.)
immer eine deutliche Mehrheit hat.
Wir sollten sie aus diesem Schmollwinkel herausho-
(Beifall bei der SPD) len, weil ihr sonst die Perspektive auf die Pflicht der
Wiedergutmachung verstellt wird.
Sie schaffen mit Ihrem Verfahren nur ein Kuddel-
muddel und ein Durcheinander. Aber das ist ja ohne- Die PDS schindet Mitleid heraus und findet damit
hin ein Kennzeichen Ihrer Regierungspolitik. Zustimmung. Ich glaube, wir sollten sie - das sage
ich an die Mehrheitsfraktionen der Koalition - in die
(Beifall bei der SPD - Lachen bei der CDU/ Pflicht der Mitarbeit nehmen; denn weder das Zähl-
CSU) verfahren nach St. Lague-Schepers noch nach
d'Hondt kann diesen Konflikt zwischen Widerspiege-
Wir sagen deshalb: Es muß bei einem einheitlichen lung der Mehrheitsverhältnisse und der Repräsen-
Verfahren bleiben. Diese Entscheidung ist nicht will- tanz aller politischen Kräfte im Parlament auflösen.
kürlich, sondern folgt einem Prinzip: Das Verfahren,
das beschlossen worden ist, muß gelten, selbst wenn Hier ist meine Frage an die PDS: Wo ist eigentlich
einem dann die Besetzung von Gremien politisch Ihr Antrag auf ein Grundmandat? Das wäre die Lö-
nicht genehm ist. sung des Konfliktes; diesen Antrag müssen Sie stel-
len.
Ich will Ihnen noch einen letzten Satz sagen, Herr
Kollege Hörster: Mir gefällt auch nicht, daß dann der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vertreter einer Gruppe in den Vermittlungsausschuß Wie man das macht, haben wir Ihnen bei der Wahl
käme. Aber ich bin dann schon der Auffassung: der Vizepräsidenten gezeigt.
Wenn man ein Prinzip hat, muß man sich ungeachtet
dessen, ob einem jemand, der in der Sitzung dabei- (Lachen bei der SPD)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1373
Werner Schulz (Berlin)
Ich glaube, Sie müssen sich noch stärker in die parla- richt stellt also klar fest: Die Mehrheit im Plenum
mentarische Arbeit knien. muß auch die Mehrheit in den Ausschüssen sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
sowie bei Abgeordneten der SPD) Zu dem gleichen Ergebnis kommt im übrigen ein
Gutachten der Bundestagsverwaltung, das insbeson-
dere auf eine Monographie zum Vermittlungsaus-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster der
schuß hinweist. Ein genaues Zitat möchte ich mir ver-
Kollege Jörg van Essen.
kneifen, da die Formulierung so juristisch ausgefal-
len ist, daß es erst einer Übersetzung ins Deutsche
Jörg van Essen (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine bedürfte. Aber der Gedanke, der dabei geäußert
Damen und Herren! Für die F.D.P. sind in dieser De- worden ist, ist einleuchtend: Zum Demokratieprin-
batte zwei Dinge festzuhalten: Erstens. Wir sind für zip gehört auch das Mehrheitsprinzip. Deshalb
eine politische Auseinandersetzung mit der PDS und kommt diese wissenschaftliche Arbeit zu dem Ergeb-
gegen alle Versuche, sie mit Tricks und dergleichen nis, daß der Bundestag nicht gezwungen werden
aus dem normalen politischen und parlamentari- kann, bei der Besetzung des politisch so bedeutsa-
schen Leben herauszuhalten. men Vermittlungsausschusses auf eine Abbildung
seiner Mehrheitsverhältnisse, hier also der Mehrheit
(Zuruf von von der SPD: Aber!) der Koalition, zu verzichten.

Ich habe mich deshalb in der Runde der parlamen- Daß das eine die Regel und das andere die Aus-
tarischen Geschäftsführer von Anfang an dafür ein- nahme ist, ergibt sich im übrigen auch aus der heuti-
gesetzt, daß auch die PDS im Gemeinsamen Aus- gen Gremienwahl. Lediglich drei Wahlen erfolgen
nach dem Wahlverfahren dort - wir haben im übri-
schuß nach Art. 53a des Grundgesetzes einen Sitz er-
halten wird, obwohl dieser Artikel des Grundgeset- gen schon Gremien nach diesem Wahlverfahren be-
zes ausdrücklich nur von Fraktionen spricht, die Ver- setzt -, aber sieben nach dem Verfahren St. Lague-
treter in das Notparlament entsenden. Schepers. Wir als F.D.P. werden sorgfältig darauf ach-
ten, daß es bei der Regel, also bei St. Lague-Schepers
Ich habe mich auch dafür eingesetzt, daß die PDS bleibt.
im Wahlprüfungsausschuß eine beratende Stimme Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem Vorschlag der
erhält, und zwar schon deshalb, weil der wichtigste Koalition.
Wahlprüfungsfall in besonderer Weise die PDS tan-
giert. Für das immer wieder aufgeführte Rührstück Herzlichen Dank.
„ungerechtfertigte Benachteiligung der PDS" fehlt
damit wirklich jede Grundlage. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzter hat der
Ich weise zweitens darauf hin, daß wir als kleine Abgeordnete Manfred Müller das Wort.
-
Fraktion uns immer in besonderer Weise dafür einge-
setzt haben und uns auch in Zukunft dafür einsetzen Manfred Müller (Berlin) (PDS): Frau Präsidentin!
werden, daß bei der Besetzung von Gremien das Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die bishe-
Verfahren nach St. Lague-Schepers zur Grundlage rige Debatte hat schon deutlich gemacht: Es geht
gemacht wird. Wir haben das im übrigen im Novem- überhaupt nicht um das Zählverfahren, sondern um
ber auch so beschlossen. die weitere Ausgrenzung der PDS.
Das wird in dem Antrag der Koalitionsfraktionen (Widerspruch bei der CDU/CSU, der F.D.P.,
bestätigt, in dem dieser Grundsatz noch einmal aus- der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
drücklich hervorgehoben wird. Aber wie Sie wissen, NEN - Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND
sagt eine alte Volksweisheit, daß Ausnahmen die Re- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, Herr Müller,
gel nicht widerlegen, sondern Ausnahmen die Regel nein! - Zuruf von der F.D.P.: Dann haben
bestätigen. Sie eben nicht zugehört!)
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist aber Lieber Kollege Schulz, dieses Haus hat bis heute
eine lange Kurve!) noch nicht über unseren Antrag entschieden, die Ge-
schäftsordnung dahin gehend zu ändern, daß auch
Hier gibt es einen guten Grund dafür. Das Bundes- wir den Fraktionsstatus erhalten. Diese Entschei-
verfassungsgericht hat im sogenannten Wüppesahl dung steht noch aus. Heute wird sich der Ältestenrat
Urteil - der Kollege Struck hat das wohl nicht gele- zum erstenmal damit befassen. Dann werden wir
sen; ich empfehle ihm die Lektüre - möglicherweise auch die Frage des Grundmandats
noch einmal neu diskutieren. Jetzt aber geht es
(Dr. Peter Struck [SPD]: Ich habe alles gele
darum, den Fraktionsstatus durchzusetzen.
sen!)
(Beifall bei der PDS)
die Gründe für unseren heutigen Antrag deutlich
herausgestellt. Es sagt, daß sich die politische Ge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Abgeordne-
wichtung innerhalb des Parlaments in den Ausschüs- ten der PDS werden dem Antrag der SPD zur An-
sen widerspiegeln muß. Das Bundesverfassungsge wendung des Zählverfahrens nach St. Lague-Sche-
1374 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Manfred Müller (Berlin)


pers für die folgenden Gremienwahlen zustimmen, widriger Willkürakt der Regierungskoalition. Sie ist
entspricht dieser doch unserem jüngsten Antrag, der durch nichts gerechtfertigt, schon gar nicht durch ei-
damals noch die Zustimmung der SPD-Fraktion fand. nen sachlichen Grund.
Dieses Zählverfahren wurde seit Beginn der
9. Wahlperiode regelmäßig für die auch heute zu (Beifall bei der PDS)
wählenden Gremien des Deutschen Bundestages an-
gewandt, und zwar gerade deswegen - der Kollege Auf Grund der realen Mehrheitsverhältnisse im Bun-
Struck hat es schon gesagt -, weil es für alle Parteien destag und erst recht im Bundesrat hat die CDU/
bei ihrer Berücksichtigung für die Gremienbeset- CSU-Fraktion überhaupt keinen Anspruch, in jedem
zung im Verhältnis ihrer Stärke zu den anderen im Ausschuß auch tatsächlich die Mehrheit zu haben.
Bundestag vertretenden Parteien die gerechteste Lö- Ein Patt in einigen Ausschüssen ist vielmehr gerade
sung darstellt. Dieses Verfahren vermeidet vor allem durch die knappen Mehrheitsverhältnisse im Parla-
die überproportionale Bevorteilung der großen Frak- ment begründet und gerechtfertigt.
tionen, d. h. insbesondere die der Regierungskoali-
tion, heute der CDU/CSU. Danke schön.

Eine Differenzierung der Zählwerte für die einzel- (Beifall bei der PDS)
nen Fraktionen oder Gruppen mag durchaus verfas-
sungsgemäß sein, wenn sie sich nicht vermeiden läßt
und auch sachlich gerechtfertigt ist. Das von der SPD Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich schließe die
beantragte Zählverfahren weist bei dieser Differen- Aussprache.
zierung die geringsten Nachteile und Abweichungen
gegenüber den anderen Zählverfahren, gerade auch Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den
gegenüber d'Hondt auf. Es hat sich jahrelang be- Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/547.
währt. Und jetzt will die Regierungskoalition auf die Es ist namentliche Abstimmung verlangt worden. Ich
Fälle von d'Hondt zurückgreifen, wo sie mit Sche- weise darauf hin, daß Sie nur die neuen Plastikkar-
pers keine Mehrheit in den heute zu wählenden Gre- ten der 13. Wahlperiode verwenden dürfen. Alle an-
mien mehr behält. Mit d'Hondt will sie sich den Sitz deren sind ungültig.
aneignen, den die Abgeordneten der PDS mit Sche-
pers im Vermittlungsausschuß und im Regulierungs- Außerdem möchte ich Sie vor der Eröffnung der
beirat erhalten würden. Dagegen sprechen wir uns Abstimmung dringend bitten, daß Sie nach der na-
aus. mentlichen Abstimmung nicht den Saal verlassen,
(Beifall bei der PDS) weil danach eine Reihe von weiteren Abstimmun-
gen, zu der volle Präsenz erforderlich ist, stattfin-
Die CDU/CSU will damit erreichen, daß die PDS den.
aus wichtigen Bundestagsgremien herausgehalten
wird, und würde damit gleichzeitig erreichen, daß sie Ich eröffne die Abstimmung. -
sich in den genannten Gremien eine überproportio-
nale Mehrheit aneignet, die ihr gar nicht zusteht. Im Ist noch jemand im Hause, der seine Stimme nicht
Vermittlungsausschuß würde sie eine Mehrheit von abgegeben hat? - Haben jetzt alle ihre Stimme abge-
neun zu sieben erhalten, eine weitaus deutlichere geben? Kann ich die Abstimmung schließen? - Damit
Mehrheit als sie sie im Bundestag hat. schließe ich den Abstimmungsvorgang und bitte die
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis
(Beifall bei Abgeordneten der PDS) zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen
Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Berücksichtigt man noch die höchst zweifelhaften
Überhangmandate der CDU/CSU, dann ist schon (Unterbrechung von 11.15 Uhr bis 11.24
gar nicht mehr einsichtig, wieso gerade diese Partei Uhr)
verlangt, in allen Ausschüssen eine deutliche Mehr-
heit zu haben, also zusätzlich zu ihren Mandaten im
Plenum überproportional beteiligt zu werden. Dabei Vizepräsident Hans Klein: Meine Kolleginnen und
ist es ihr völlig gleichgültig, ob und welche verfas- Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröff-
sungsmäßigen Rechte von Abgeordneten sie verletzt, net.
von Abgeordneten, die durch Millionen von Wähle-
rinnen und Wählern demokratisch legitimiert wur- Ich gebe das von den Schriftführerinnen und
den, ob dies nun einigen hier im Hause paßt oder Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
nicht. Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD
zur Berechnung der Stellenanteile auf Drucksache
Das Manöver der CDU/CSU-Fraktion ist ganz klar 13/547 bekannt. Abgegebene Stimmen: 651. Mit Ja
die Ausschaltung der PDS aus wichtigen Gremien haben gestimmt: 314. Mit Nein haben gestimmt:
und die Erringung zusätzlicher politischer Vorteile 336.
in diesen Gremien, die ihr sonst nicht zustehen wür-
den. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Für mich ist damit auch offenbar: Die Änderung Es gab 1 Enthaltung und keine ungültigen Stim-
des bisherigen Zählverfahrens ist ein verfassungs- men.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1375

Vizepräsident Hans Klein


Endgültiges Ergebnis Hanewinckel, Christel Neumann (Bramsche), Volker Tappe, Joachim
Hartenbach, Alfred Neumann (Gotha), Gerhard Tauss, Jörg
Abgegebene Stimmen: 650; Hasenfratz, Klaus Dr. Niehuis, Edith Dr. Teichmann, Bodo
davon: Dr. Hauchler, Ingomar Dr. Niese, Rolf Teuchner, Jella
Heistermann, Dieter Odendahl, Doris Dr. Thalheim, Gerald
ja: 314 Hemker, Reinhold Oesinghaus, Günter Thierse, Wolfgang
Hempelmann, Rolf Onur, Leyla Thieser, Dietmar
nein: 335
Dr. Hendricks, Barbara Opel, Manfred Thönnes, Franz
enthalten: 1 Heubaum, Monika Ostertag, Adolf Tröscher, Adelheid
Hiksch, Uwe Palis, Kurt Urbaniak, Hans-Eberhard
Hiller (Lübeck), Reinhold Papenroth, Albrecht Verheugen, Günter
Ja Hilsberg, Stephan Dr. Penner, Willfried Vogt (Pforzheim), Ute
Höfer, Gerd Dr. Pfaff, Martin Voigt (Frankfurt), Karsten D.
Hoffmann (Chemnitz), Jelena Pfannenstein, Georg Vosen, Josef
SPD Hofmann (Volkach), Frank Dr. Pick, Eckhart Wagner, Hans Georg
Holzhüter, Ingrid Poß, Joachim Dr. Wegner, Konstanze
Adler, B ri gitte Horn, Erwin Purps, Rudolf Weiermann, Wolfgang
Andres, Gerd Hovermann, Eike Maria Rappe (Hildesheim), Weis (Stendal), Reinhard
Antretter, Robert Anna Hermann Weisheit, Matthias
Bachmaier, Hermann Ibrügger, Lothar Rehbock-Zureich, Karin Weißgerber, Gunter
Bahr, Ernst Ilte, Wolfgang Renesse, Margot von Weisskirchen (Wiesloch),
Barnett, Doris Imhof, Barbara Rennebach, Renate Gert
Barthel, Klaus Irber, Brunhilde Reschke, Otto Welt, Jochen
Becker-Inglau, Ingrid Iwersen, Gabriele Reuter, Bernd Wester, Hildegard
Behrendt, Wolfgang Jäger, Renate Dr. Richter, Edelbert Westrich, Lydia
Bernrath, Hans Gottfried Janssen, Jann-Peter Rixe, Günter Wettig-Danielmeier, Inge
Bertl, Hans-Werner Janz, Ilse Robbe, Reinhold Dr. Wieczorek, Norbert
Bindig, Rudolf Dr. Jens, Uwe Rübenkönig, Gerhard Wieczorek (Duisburg),
Blunck, Lilo Jung (Düsseldorf), Volker Dr. Schäfer, Hansjörg Helmut
Börnsen (Ritterhude), Arne Kaspereit, Sabine Schaich-Walch, Gudrun Wieczorek-Zeul, Heidemarie
Brandt-Elsweier, Anni Kastner, Susanne Schanz, Dieter Wiefelspütz, Dieter
Braune, Tilo Kastning, Ernst Scharping, Rudolf Wittich, Berthold
Dr. Brecht, Eberhard Kemper, Hans-Peter Scheelen, Bernd Dr. Wodarg, Wolfgang
Büttner (Ingolstadt), Hans Kirschner, Klaus Dr. Scheer, Hermann Wohlleben, Verena
Bulmahn, Edelgard Klappert, Marianne Schild, Horst Wolf, Hanna
Burchardt, Ursula Klemmer, Siegrun Schily, Otto Wright, Heide
Bury, Hans Martin Klose, Hans-Ulrich Schloten, Dieter Zapf, Uta
Caspers-Merk, Marion Dr. Knaape, Hans-Hinrich Schluckebier, Günter Dr. Zöpel, Christoph
Catenhusen, Wolf-Michael Körper, Fritz Rudolf Schmidbauer (Nürnberg), Zumkley, Peter
Conradi, Peter Kolbow, Walter Horst
Dr. Däubler-Gmelin, Herta Kressl, Nicolette Schmidt (Aachen), Ursula
Deichmann, Christel Kröning, Volker Schmidt (Meschede), Dagmar BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Diller, Karl Krüger, Thomas Schmidt (Salzgitter), Wilhelm
Dr. Dobberthien, Marliese Kubatschka, Horst Schmidt-Zadel, Regina Altmann (Aurich), Gisela
Dreßen, Peter Dr. Küster, Uwe Schmitt. (Berg), Heinz Altmann (Pommelsbrunn),
Dreßler, Rudolf Kuhlwein, Eckart Dr. Schnell, Emil Elisabeth
Duve, Freimut Kunick, Konrad Schöler, Walter Beck (Bremen), Marieluise
Eich, Ludwig Kurzhals, Christine Schreiner, Ottmar Beck (Köln), Volker
Enders, Peter Labsch, Werner Schröter, Gisela Beer, Angelika
Erler, Gernot Lange, Brigitte Dr. Schubert, Mathias Berninger, Matthias
Ernstberger, Petra Larcher, Detlev von Schütz (Oldenburg), Dietmar Buntenbach, Annelie
Faße, Annette Lehn, Waltraud Schuhmann (Delitzsch), Dietert-Scheuer, Amke
Ferner, Elke Leidinger, Robert Richard Eichstädt-Bohlig, Franziska
Fischer (Homburg), Lothar Lennartz, Klaus Schulte (Hameln), Brigitte Dr. Eid, Uschi
Fograscher, Gabriele Dr. Leonhard, Elke Schultz (Everswinkel), Fischer (Berlin), Andrea
Follak, Iris Lörcher, Christa Reinhard Fischer (Frankfurt), Joseph
Formanski, Norbert Lohmann (Witten), Klaus Schultz (Köln), Volkmar Grießhaber, Rita
Freitag, Dagmar Lotz, Erika Dr. Schuster, R. Werner Häfner, Gerald
Fuchs (Köln), Anke Dr. Lucyga, Christine Dr. Schwall-Düren, Angelica Hermenau, Antje
Fuchs (Verl), Katrin Maaß (Herne), Dieter Schwanhold, Ernst Heyne, Kristin
Fuhrmann, Arne Mante, Winfried Schwanitz, Rolf Höfken-Deipenbrock, Ulrike
Ganseforth, Monika Marx, Dor le Seidenthal, Bodo Ilustedt, Michaele
Gansel, Norbert Mascher, Ulrike Seuster, Lisa Dr. Kiper, Manuel
Gilges, Konrad Matschie, Christoph Sielaff, Horst Dr. Köster-Loßack, Angelika
Gleicke, Iris Matthäus-Maier, Ingrid Simm, Erika Lemke, Steffi
Gloser, Ganter Mattischeck, Heide Singer, Johannes Dr. Lippelt, Helmut
Dr. Glotz, Peter Meckel, Markus Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid Metzger, Oswald
Graf (Friesoythe), Günter Mehl, Ulrike Dr. Sonntag-Wolgast, Müller (Köln), Kerstin
Graf (Rosenheim), Angelika Meißner, Herbert Cornelie Nachtwei, Winfried
Grasedieck, Dieter Mertens, Angelika Sorge, Wieland Nickels, Christa
Großmann, Achim Dr. Meyer (Ulm), Jurgen Spanier, Wolfgang Özdemir, Cem
Haack (Extertal), Mogg, Ursula Dr. Sperling, Dietrich Poppe, Gerd
Karl-Herm an n Mosdorf, Siegmar Spiller, Jörg-Otto Probst, Simone
Hacker, Hans-Joachim Müller (Düsseldorf), Michael Steen, Antje-Marie Dr. Rochlitz, Jürgen
Hagemann, Klaus Müller (Völklingen), Jutta Stiegler, Ludwig Saibold, Halo
Hampel, Manfred Müller (Zittau), Christian Dr. Struck, Peter Scheel, Christine
1376 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Vizepräsident Hans Klein


Schewe-Gerigk, Irmingard Bohl, Friedrich Janovsky, Georg Neumann (Bremen), Bernd
Schlauch, Rezzo Borchert, Jochen Jawurek, Helmut Nitsch, Johannes
Schmidt (Hitzhofen), Albert Bosbach, Wolfgang Dr. Jobst, Dionys Nolte, Claudia
Schmitt (Langenfeld), Brähmig, Klaus Dr.-Ing. Jork, Rainer Dr. Olderog, Rolf
Wolfgang Braun (Auerbach), Rudolf Dr. Jüttner, Egon Ost, Friedhelm
Schönberger, Ursula Breuer, Paul Jung (Limburg), Michael Oswald, Eduard
Schoppe, Waltraud Brudlewsky, Monika Junghanns, Ulrich Otto (Erfurt), Norbert
Schulz (Berlin), Werner Brunnhuber, Georg Dr. Kahl, Harald Dr. Päselt, Gerhard
Steenblock, Rainder Bühler (Bruchsal), Klaus Kalb, Bartholomäus Dr. Paziorek, Peter
Steindor, Marina Buwitt, Dankward Kampeter, Steffen Pesch, Hans-Wilhelm
Carstens (Emstek), Manfred Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Petzold, Ulrich
Sterzing, Christian
Carstensen (Nordstrand), Kanther, Manfred Pfeifer, Anton
Such, Manfred
Peter H. Karwatzki, Irmgard Pfeiffer, Angelika
Dr. Vollmer, Antje
Dehnel, Wolfgang Kauder, Volker Dr. Pfennig, Gero
Volmer, Ludger
Deittert, Hubert Keller, Peter Dr. Pflüger, Friedbert
Wilhelm (Amberg), Helmut Dempwolf, Gertrud Klaeden, Eckart von Philipp, Beatrix
Wolf-Mayer, Margareta Deft Albert Dr. Klaußner, Bernd Dr. Pinger, Winfried
Diemers, Renate Klein (München), Hans Pofalla, Ronald
Dietzel, Wilhelm Klinkert, Ulrich Dr. Pohler, Hermann
PDS Dörflinger, Werner Köhler (Hainspitz), Polenz, Ruprecht
Doss, Hansjürgen Hans-Ulrich Pretzlaff, Marlies
Bierstedt, Wolfgang Dr. Dregger, Alfred Königshofen, Norbert Dr. Probst, Albert
Bläss, Petra Eichhorn, Maria Dr. Kohl, Helmut Dr. Protzner, Bernd
Böttcher, Maritta Engelmann, Wolfgang Kolbe, M an fred Pützhofen, Dieter
Bulling-Schröter, Eva Eppelmann, Rainer Kors, Eva-Maria Rachel, Thomas
Graf von Einsiedel, Heinrich Eßmann, Heinz Dieter Koschyk, Hartmut Raidel, Hans
Dr. Elm, Ludwig Eylmann, Horst Koslowski, Manfred Dr. Ramsauer, Peter
Dr. Enkelmann, Dagmar Eymer, Anke Kossendey, Thomas Rau, Rolf
Dr. Fuchs, Ruth Falk, Ilse Krause (Dessau), Wolfgang Rauber, Helmut
Dr. Gysi, Gregor Dr. Faltlhauser, Kurt Krautscheid, Andreas Rauen, Peter Harald
Dr. Höll, Barbara Feilcke, Jochen Kriedner, Arnulf Regenspurger, Otto
Jelpke, Ulla Dr. Fell, Karl H. Kronberg, Heinz-Jürgen Reichard (Dresden), Christa
Dr. Knake-Werner, Heidi Fink, Ulf Dr.-Ing. Krüger, Paul Reichardt (Mannheim),
Köhne, Rolf Fischer (Hamburg), Dirk Krziskewitz, Reiner Klaus Dieter
Fischer (Unna), Leni Dr. Kues, Hermann Dr. Reinartz, Bertold
Kutzmutz, Rolf
Francke (Hamburg), Klaus Dr. Lamers (Heidelberg), Reinhardt, Erika
Lederer, Andrea
Frankenhauser, Herbert Karl A. Repnik, Hans-Peter
Lüth, Heidemarie
Dr. Friedrich, Gerhard Lamers; Karl Richter, Roland
Dr. Luft, Christa
Fri tz, Erich G. Dr. Lammert, Norbert Richwien, Roland
Dr. Maleuda, Günther
Fuchtel, Hans-Joachim Lamp, Helmut Dr. Rieder, Norbert
Müller (Berlin), Manfred Geiger, Michaela Laschet, Armin Dr. Riedl (München), Erich
Neuhäuser, Rosel Geis, Norbert Lattmann, Herbert Riegert, Klaus
Dr. Rössel, Uwe-Jens Dr. Geißler, Heiner Dr. Laufs, Paul Dr. Riesenhuber, Heinz
Schenk, Christina Glos, Michael Laumann, Karl Josef Rönsch (Wiesbaden),
Tippach, Steffen Glücklich, Wilma Lensing, Werner Hannelore
Warnick, Klaus-Jürgen Dr. Göhner, Reinhard Lenzer, Christian Röttgen, Norbert
Dr. Wolf, Winfried Götz, Peter Letzgus, Peter Ronsöhr, Heinrich-Wilhelm
Zwerenz, Gerhard Dr. Götzer, Wolfgang Limbach, Editha Dr. Rose, Klaus
Gres, Joachim Link (Diepholz), Walter Rossmanith, Kurt J.
Grill, Kurt-Dieter Lintner, Eduard Roth (Gießen), Adolf
Nein Gröbl, Wolfgang Dr. Lippold (Offenbach), Dr. Ruck, Christian
Gröhe, Hermann Klaus W. Rühe, Volker
CDU/CSU Grotz, Claus-Peter Dr. Lischewski, Manfred Dr. Rüttgers, Jürgen
Grund, Manfred Löwisch, Sigrun Sauer (Stuttgart), Roland
Adam, Ulrich Günther (Duisburg), Horst Lohmann (Lüdenscheid), Schätzle, Ortrun
Altmaier, Peter Frhr. von Hammerstein, Wolfgang Dr. Schäuble, Wolfgang
Augustin, Anneliese Carl-Detlev Louven, Julius Schauerte, Hartmut
Augustinowitz, Jürgen Haschke (Großhennersdorf), Lummer, Heinrich Schemken, Heinz
Austermann, Dietrich Gottfried Dr. Luther, Michael Scherhag, Karl-Heinz
Bargfrede, Heinz-Günter Hasselfeldt, Gerda Maaß (Wilhelmshaven), Erich Scheu, Gerhard
Basten, Franz Peter Haungs, Rainer Dr. Mahlo, Dietrich Schindler, Norbert
Hauser (Esslingen), Otto Marienfeld, Claire Schlee, Dietmar
Dr. Bauer, Wolf
Hauser (Rednitzhembach), Marschewski, Erwin Schmalz, Ulrich
Baumeister, Brigitte
Hansgeorg Marten, Günter Schmidbauer, Bernd
Belle, Meinrad
Hedrich, Klaus-Jürgen Dr. Mayer (Siegertsbrunn), Schmidt (Fürth), Christian
Dr. Bergmann-Pohl, Sabine
Heise, Manfred Martin Dr.-Ing. Schmidt
Bierling, Hans-Dirk Dr. Hellwig, Renate Meinl, Rudolf Horst (Halsbrücke), Joachim
Dr. Blank, Joseph-Theodor Hinsken, Ernst Dr. Meister, Michael Schmidt (Mülheim), Andreas
Blank, Renate Hintze, Peter Dr. Merkel, Angela Schmiedeberg, Hans-Otto
Dr. Blens, Heribert Hörster, Joachim Merz, Friedrich Schmitz (Baesweiler),
Bleser, Peter Hollerith, Josef Meyer (Winsen), Rudolf Hans Peter
Dr. Blüm, Norbert Dr. Hornhues, Karl-Heinz Michelbach, Hans Schmude, Michael von
Dr. Böhmer, Maria Hornung, Siegfried Michels, Meinolf Schnieber-Jastram, Birgit
Börnsen (Bönstrup), Hüppe, Hubert Dr. Müller, Gerd Dr. Schockenhoff, Andreas
Wolfgang Jacoby, Peter Müller (Kirchheim), Elmar Dr. Scholz, Rupert
Dr. Bötsch, Wolfgang Jaffke, Susanne Nelle, Engelbert Dr. Schuchardt, Erika
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1377
Vizepräsident Hans Klein
Schütze (Berlin), Diethard F.D.P Wir stimmen über den Antrag der Fraktionen der
Schulhoff, Wolfgang CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 13/542 ab.
Dr. Schulte Albowitz, Ina Wer stimmt für den Antrag? - Gegenprobe! - Enthal-
(Schwäbisch Gmünd), Dieter Dr. Babel, Gisela
Schulz (Leipzig), Gerhard
tungen? - Der Antrag ist angenommen.
Braun (Augsburg),
Schulze, Frederick Hildebrecht
Schwalbe, Clemens Bredehorn, Günther Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:
Dr. Schwarz-Schilling, van Essen, Jörg
Christian Dr. Feldmann, Olaf Wahlen zu Gremien
Sebastian, Wilhelm-Josef Frick, Gisela
Seehofer, Horst a) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu ent-
Friedhoff, Paul K.
Seibel, Wilfried sendenden Mitglieder des Ausschusses
Friedrich, Horst
Seiffert, Heinz-Georg Funke, Rainer nach Artikel 77 Abs. 2 des Grundgesetzes
Seiters, Rudolf Genscher, Hans-Dietrich (Vermittlungsausschuß)
Selle, Johannes Dr. Gerhardt, Wolfgang - Drucksachen 13/557, 13/570 -
Siebert, Bernd Günther (Plauen), Joachim
Sikora, Jürgen Dr. Guttmacher, Karlheinz b) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu ent-
Singhammer, Johannes Dr. Haussmann, Helmut sendenden Mitglieder des Schuldenaus-
Sothmann, Bärbel Heinrich, Ulrich schusses bei der Bundesschuldenverwal-
Späte, Margarete
Hirche, Walter tung gemäß § 6 Abs. 1 und 2 des Gesetzes
Spranger, Carl-Dieter
Dr. Hirsch, Burkhard über die Errichtung einer Schuldenverwal-
Steiger, Wolfgang
Homburger, Birgit
Steinbach, Erika tung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes
Dr. Hoyer, Werner
Dr. Freiherr von Stetten,
Irmer, Ulrich
und § 2 der Verordnung über die Bundes-
Wolfgang schuldenverwaltung
Dr. Kinkel, Klaus
Dr. Stoltenberg, Gerhard
Storni, Andreas
Kleinert (Hannover), Detlef - Drucksache 13/562 -
Kohn, Roland
Straubinger, Max
Dr. Kolb, Heinrich L. c) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu be-
Stübgen, Michael
Dr. Süssmuth, Rita Koppelin, Jürgen stimmenden Mitglieder des Kontrollaus-
Susset, Egon Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans schusses beim Bundesausgleichsamt ge-
Teiser, Michael Dr. Graf Lambsdorff, Otto mäß § 313 Abs. 1 und 2 des Lastenaus-
Dr. Tiemann, Susanne Lanfermann, Heinz gleichsgesetzes
Dr. Töpfer, Klaus Leutheusser-Schnarren-
berger, Sabine - Drucksachen 13/563, 13/572 -
Tröger, Gottfried
Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter Lühr, Uwe
Nolting, Günther Friedrich
d) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu ent-
Uldall, Gunnar
Dr. Ortleb, Rainer sendenden Mitglieder gemäß § 11 des Ge-
Vogt (Duren), Wolfgang
Dr. Waffenschmidt, Horst Peters, Lisa setzes über die Regulierung der Telekom-
Dr. Waigel, Theodor Dr. Rexrodt, Günter munikation und des Postwesens
Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Röhl, Klaus - Drucksachen 13/564, 13/573 -
Alois Schäfer (Mainz), Helmut
Dr. Warnke, Jürgen Schmalz-Jacobsen, Cornelia e) Wahl der vom Deutschen Bundestag vorzu-
Wetzel, Kerstin Dr. Schmidt-Jortzig, Edzard schlagenden Mitglieder des Programmbei-
Wilhelm (Mainz), Hans-Otto Dr. Schwaetzer, Irmgard rats der Deutschen Bundespost gemäß §§ 1
Willner, Gert Dr. Solms, Hermann Otto und 2 der Geschäftsordnung des Beirats
Wilz, Bernd Dr. Stadler, Max
zur Bestimmung der Anlässe für die Ausga-
Wimmer (Neuss), Willy Thiele, Carl-Ludwig
Wissmann, Matthias Dr. Thomae, Dieter
be von Sonderpostwertzeichen ohne Zu-
Wittmann (Tännesberg), Türk, Jürgen schlag der Deutschen Bundespost (Pro-
Simon Dr. Weng (Gerlingen), grammbeirat)
Wöhrl, Dagmar Wolfgang - Drucksache 13/565 -
Wonneberger, Michael
Wülfing, Elke f) Wahl der vom Deutschen Bundestag vorzu-
Würzbach, Peter Kurt Enthalten schlagenden Mitglieder des Kunstbeirats
Yzer, Cornelia
der Deutschen Bundespost gemäß §§ 1 und 2
Zeitlmann, Wolfgang BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zierer, Benno der Geschäftsordnung des Beirats für die
Zöller, Wolfgang Lengsfeld, Vera graphische Gestaltung der Postwertzeichen
der Deutschen Bundespost (Kunstbeirat)
Der Antrag ist damit abgelehnt. - Drucksache 13/566 -
(Unruhe) g) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu ent-
- Meine Damen und Herren, ich bitte um etwas sendenden Mitglieder des Kuratoriums der
Ruhe, damit wir die weiteren Abstimmungen vorneh- Stiftung „Haus der Geschichte der Bundes-
men können. republik Deutschland"
Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf: - Drucksachen 13/567, 13/574 -
Beratung des Antrags der Fraktionen der h) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu ent-
CDU/CSU und F.D.P. sendenden Mitglieder des Kuratoriums der
„Stiftung Archiv der Parteien und Massen-
Wahlverfahren von Gremien organisationen in der DDR"
- Drucksache 13/542 - - Drucksachen 13/568, 13/575 -
1378 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Vizepräsident Hans Klein


i) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu ent- Wir stimmen über den Wahlvorschlag der PDS auf
sendenden Mitglieder des Parlamentari- Drucksache 13/573 ab. Wer stimmt dafür? - Gegen-
schen Beirats der Stiftung für das Sorbische probe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist ab-
Volk gelehnt.
- Drucksache 13/569 - Wir stimmen jetzt über den gemeinsamen Wahl-
vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD,
j) Wahl der Mitglieder des Gemeinsamen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.
Ausschusses nach Artikel 53a des Grund- auf Drucksache 13/564 ab. Wer stimmt dafür? - Da-
gesetzes gegen? - Enthaltungen? - Der gemeinsame Wahlvor-
schlag ist angenommen.
- Drucksachen 13/558, 13/559, 13/560, 13/561,
13/571 - Wahl der Mitglieder des Kunstbeirats des Bundes-
ministeriums für Post und Telekommunikation. Wir
Wir kommen jetzt zur Wahl der Mitglieder und de- stimmen über den gemeinsamen Wahlvorschlag der
ren Stellvertreter im Vermittlungsausschuß. Dazu lie- Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksa-
gen ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Fraktionen che 13/566 ab. Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Ent-
der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE haltungen? - Der Wahlvorschlag ist angenommen.
GRÜNEN und der F.D.P. sowie ein Wahlvorschlag Wir kommen zum Kuratorium der Stiftung „Haus
der PDS vor. der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland".
Dazu liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Frak-
Wir stimmen zunächst über den Wahlvorschlag der tionen der CDU/CSU und der SPD sowie ein Wahl-
PDS auf Drucksache 13/570 ab. Wer stimmt für den vorschlag der PDS vor.
Wahlvorschlag der PDS? - Gegenprobe! - Enthaltun-
gen? - Der Wahlvorschlag ist abgelehnt. Wir stimmen zunächst über den Wahlvorschlag der
PDS auf Drucksache 13/574 ab. Wer stimmt für die-
Wir stimmen jetzt über den gemeinsamen Wahl- sen Vorschlag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der
vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, Wahlvorschlag ist abgelehnt.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. Jetzt stimmen wir über den Wahlvorschlag der
auf Drucksache 13/557 ab. Wer stimmt dafür? - Wer Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksa-
stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - che 13/567 ab. Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Ent-
Der Wahlvorschlag ist angenommen. Damit sind die haltungen? - Der Wahlvorschlag ist angenommen.
Mitglieder und deren Stellvertreter im Vermittlungs-
Wir kommen zu der Wahl der Mitglieder des Kura-
ausschuß gewählt.
toriums der Stiftung „Archiv der Parteien und Mas-
Wir kommen zur Wahl der Mitglieder des Schul- senorganisationen in der DDR". Auch hier liegt ein
denausschusses bei der Bundeschuldenverwaltung. gemeinsamer Wahlvorschlag der Fraktionen der
Dazu liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Frak- CDU/CSU und der SPD sowie ein Wahlvorschlag der
tionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 13/ PDS vor.
562 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Ge- Wer stimmt für den Wahlvorschlag der PDS auf
genprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist Drucksache 13/575? - Gegenprobe! - Enthaltungen?
angenommen. - Der Wahlvorschlag ist abgelehnt.
Dann stimmen wir über den gemeinsamen Wahl-
Wir kommen jetzt zur Wahl der Mitglieder des
vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
Kontrollauschusses beim Bundesausgleichsamt.
auf Drucksache 13/568 ab. Wer stimmt dafür? - Da-
Dazu liegen ein gemeinsamer Wahlvorschlag der
gegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist an-
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNIS-
genommen.
SES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie ein Wahl-
vorschlag der PDS vor. Wir wählen die Mitglieder des Parlamentarischen
Beirates der Stiftung für das Sorbische Volk. Es liegt
Wir stimmen zunächst über den Wahlvorschlag der ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Fraktionen der
PDS auf Drucksache 13/572 ab. Wer stimmt dafür? - CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 13/569 vor.
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt
- Der Wahlvorschlag ist abgelehnt. dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Wahl-
vorschlag ist angenommen *).
Wir stimmen über den gemeinsamen Wahlvor-
Wir kommen zur Wahl der Mitglieder des Gemein-
schlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des
samen Ausschusses nach Art. 53 a des Grundgeset-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. auf
zes. Dazu liegen getrennte Wahlvorschläge der Frak-
Drucksache 13/563 ab. Wer stimmt für diesen Wahl-
tionen der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/
vorschlag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der
DIE GRÜNEN, der F.D.P. sowie der PDS vor.
Wahlvorschlag ist angenommen.
Wir stimmen zunächst über den Wahlvorschlag der
Wir wählen jetzt die Mitglieder des Regulierungs- Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 13/558 ab.
rates beim Bundesminister für Post und Telekom- Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
munikation. Auch hierzu liegen ein gemeinsamer hält sich der Stimme? - Der Wahlvorschlag ist ange-
Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der nommen.
SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
F.D.P. sowie ein Wahlvorschlag der PDS vor. *) Korrektur auf Seite 1474.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1379
Vizepräsident Hans Klein
Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktion Wir werden die einzelnen Förderinstrumente ge-
der SPD auf Drucksache 13/559 ab. Wer stimmt da- nau durchleuchten und gegebenenfalls Konsequen-
für? - Dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvor- zen ergreifen. Ich komme darauf noch zu sprechen.
schlag ist angenommen.
Um es gleich an der richtigen Stelle zu sagen: Was
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Wahl- dazu von einigen sogenannten Sachkennern und von
vorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Presseorganen in die Welt gesetzt wird, ist in seiner
auf Drucksache 13/560. Wer stimmt für diesen Wahl- Verallgemeinerung und Übertreibung unverantwort-
vorschlag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der lich.
Wahlvorschlag ist angenommen.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so
Abstimmung über den Wahlvorschlag der Fraktion wie bei Abgeordneten der SPD)
der F.D.P. auf Drucksache 13/561. Wer stimmt dafür?
Die von ihnen genannten Zahlen in Milliardenhöhe
- Dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist
sind nicht zu belegen. Sie sollen schockieren. Einige
angenommen.
verfolgen damit offensichtlich das politische Ziel,
Wir kommen zum Wahlvorschlag der PDS auf Ressentiments bei den Bürgern in Ost und in West
Drucksache 13/571. Wer stimmt für diesen Vor- gleichermaßen zu erzeugen.
schlag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Vor-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
schlag ist abgelehnt.
Zuruf von der SPD: Räuber!)
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) So gibt es in einem Artikel eines Hamburger Ma-
Das, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, gazins dieser Woche ein Bild über ein Gewerbege-
bedeutet, daß wir die Wahl eines ordentlichen und biet in Radeburg mit der Unterschrift „Das Geld
eines stellvertretenden Mitglieds, für die die PDS fließt postwendend nach Westen zurück" . Die Stadt
kandidiert hatte, zu einem späteren Zeitpunkt erneut erklärt dazu jedoch:
durchführen müssen. Dies ist ein äußerst gelungenes Beispiel für die
schnelle Erschließung eines neuen Gewerbege-
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: biets mit Arbeitsplätzen, wie wir sie uns ge-
wünscht haben. Das Gewerbegebiet ist gut be-
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung legt, und die westdeutschen Gesellschaften, die
daran mitgewirkt haben, haben vorzüglich gear-
Hilfen für die neuen Bundesländer - Erfolg-
beitet.
reicher Aufbau Ost
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der PDS vor.
CDU/CSU)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind Meine Damen und Herren, in diesem Artikel
für die Aussprache im Anschluß an die Regierungser- „Baggern statt denken" steht geschrieben, daß auf
klärung zwei Stunden vorgesehen. - Dagegen
- erhebt Hinweis der Unternehmensberatung Kienbaum der
sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Vorschlag an das sächsische Innenministerium er-
Bevor ich dem Bundesminister Rexrodt das Wort ging, im Bereich Zivilschutz 44 Stellen und im Be-
gebe, bitte ich die Kollegen, die an dieser Debatte reich Landesgeheimschutz 65 Stellen zu sparen. In
nicht teilnehmen wollen oder können, den Saal mög- Wirklichkeit - so wird mir vermittelt - sei der Vor-
lichst rasch zu verlassen, damit wir in geordneter schlag ergangen, drei Stellen zu sparen. Allerdings
Weise weiterfahren können. sei es richtig, daß das Referat Zivilschutz die Nr. 44
im Organisationsspiegel des sächsischen Ministeri-
Zur Abgabe einer Regierungserklärung erteile ich ums habe, das Referat Geheimschutz die Nr. 65.
dem Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rex-
rodt, das Wort. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/
CSU)

Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Das sind die Recherchen, auf die man sich stützt, um
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und solche Artikel in die Welt zu setzen, meine Damen
und Herren.
Herren! In der Debatte über die Verwendung von
Fördergeldern in Ostdeutschland soll es keinen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Zweifel geben: Der Steuerzahler in Ost und West hat
Anspruch darauf, daß allen Vorwürfen über Miß- Lassen Sie mich noch eines fragen: Was ist denn
brauch und Fehlverwendungen konsequent nachge- Fehlleitung von Mitteln? Was ist denn Mißbrauch?
gangen wird. Wo es darum geht, daß öffentliche Geldquellen ange-
zapft werden sollen, daß der Staat geschröpft werden
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) soll, wo sich Menschen persönlich bereichern wollen,
dort muß mit ganzer Härte und ohne Wenn und Aber
Dies gilt für die Bundesregierung und ihre Förder-
durchgegriffen werden.
programme; dies gilt auch für die Länder und die
Kommunen, die im Zuge unseres föderalen Systems Aber - um nur einige Beispiele zu nennen - kann
einen sehr gewichtigen Teil der Förderentscheidun- denn von einer Fehlleitung öffentlicher Mittel ge-
gen selbst treffen. sprochen werden, wenn ein neues Gewerbegebiet,
1380 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt


dessen Belegung auf fünf Jahre angesetzt war, nun Schauen Sie sich doch die Berichte der Rech-
nicht innerhalb von fünf Jahren, sondern erst in acht nungshöfe in den alten Bundesländern an! Das
Jahren vollständig belegt wird? Ist das eine Fehllei- „Handelsblatt" hat - gestern war es wohl - konkrete
tung öffentlicher Mittel, ja oder nein? Die Frage stellt Einzelfälle von falscher Förderpraxis in Westdeutsch-
sich doch. land aufgeführt.
Ist es eine Fehlleitung öffentlicher Mittel, wenn (Zuruf von der SPD: Transrapid!)
man eine Kläranlage zunächst einmal größer auslegt,
als sie im gegenwärtigen Zeitpunkt ausgelastet wird? Entscheidend ist, daß alles getan wird, um die Zahl
solcher Fälle möglichst gering zu halten. Hier wird
(Unruhe bei der SPD) oft auf die unzureichende Verwaltung und auf noch
Ich will Ihnen einmal sagen, meine Damen und nicht voll funktionsfähige Finanzämter verwiesen.
Herren: Ich bestreite nicht, daß es da und dort Fehl- Dies war auch für die Zeit 1991/92 sicherlich teil-
entscheidungen gegeben hat. Aber wenn man an ei- weise richtig und auch nicht anders möglich. In den
nem Industriestandort, der ursprünglich große Be- neuen Bundesländern hat man nicht 40 Jahre lang
deutung hatte, eine Kläranlage aufbauen würde, die Erfahrungen mit unserem Rechtssystem sammeln
kleiner ist und im Moment so ausgelegt ist, daß sie können. Aber hier hat sich Entscheidendes getan.
gerade der Bevölkerungszahl entspricht, dann wür- Die Qualität des Verwaltungshandelns in den neuen
den Sie sich als erste hinstellen und sagen, man habe Bundesländern ist nachhaltig besser geworden. Sie
den Industriestandort XY von vornherein aufgege- muß noch weiter erhöht werden.
ben, indem man die Anlagen so wie beschrieben aus-
Ich möchte an dieser Stelle auch den vielen Bür-
gerichtet habe.
germeistern, den Mitarbeitern von Arbeitsämtern
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) und von Landesregierungen meine ausdrückliche
Anerkennung und meinen Dank für das Engage-
Meine Damen und Herren, ich rede hier nicht dem ment, das sie in ganz überwiegender Mehrheit in
Mißbrauch das Wort, und ich bagatellisiere auch gar den neuen Bundesländern gezeigt haben, ausspre-
nicht. Das müßte eigentlich klar sein. Wogegen ich chen.
mich wende, ist die unverantwortliche Übertreibung.
Lassen Sie die Tatsachen sprechen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Tatsache ist, daß mit GA-Mitteln geförderte Flä- Ich möchte ebenfalls darauf hinweisen, daß wir
chen Mitte 1994 im Durchschnitt zu 70 bis 80 % mit diese Unzulänglichkeiten zu Beginn über alle Par-
Gewerbebetrieben belegt waren. Es gibt andere Bei- teien hinweg als nicht änderbar akzeptiert haben.
spiele mehr. Ich möchte daran erinnern, daß 1991 5,1 Milliarden
DM und 1993 1,5 Milliarden DM pauschal an die Ge-
Es ist nun einmal so: Wo es Subventionen gibt, gibt
meinden der neuen Länder gegeben wurden, um
es leider auch Subventionsmißbrauch. Diese bedau-
schnell sichtbare Zeichen für den Aufschwung Ost
erliche Erscheinung des Subventionsmißbrauchs
zu setzen. Dies war unter dem Stichwort „Unbüro-
darf uns nun nicht dazu bringen, die Hände in den
kratisch helfen und neue Anstöße geben" eine For-
Schoß zu legen.
derung aller Parteien.
Ich sage aber mit Deutlichkeit: Dies ist, so wie es
jetzt aufgemacht wird, kein spezielles Ostthema. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU sowie Zur Illustration lassen Sie mich aus einem einver-
bei Abgeordneten der SPD) nehmlichen Beschluß des Haushaltsausschusses des
Deutschen Bundestages vom November 1992 zitie-
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die frühen ren:
Phasen der Berlin-Förderung. Ich erinnere an die Un-
kalkulierbarkeit von Großprojekten in der alten Bun- Vor diesem Hintergrund sind alle Entscheidungs-
desrepublik, an das Klinikum Aachen, in das man träger in Bund, Ländern und Gemeinden aufge-
mit 600 Millionen DM Bausumme hineinging und fordert, auf der Grundlage des geltenden Rechts
das dann für 2,5 Milliarden DM abgerechnet wurde. schnell und kreativ zu entscheiden und vor allem
Ich erinnere an das Berliner ICC. Ich erinnere an Ver- Ermessensspielräume bestmöglich zugunsten
kehrs- und Kulturbauten überall in der alten Bundes- der Bürger auszuschöpfen. Die unbestreitbaren
republik. Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern
sollten von den vorgesetzten Behörden und Prü-
(Michael Glos [CDU/CSU]: Der Bundestag!) fungsgremien unter Wahrung ihrer jeweiligen
- Das auch, das ist richtig! Aufträge, ihrer Eigenverantwortung und ihrer
Unabhängigkeit bei der Beurteilung von Einzel-
Natürlich, meine Damen und Herren, gibt es Mit- fällen berücksichtigt werden.
telverwendungen, bei denen sich der Bürger fragt,
ob die Verengung einer Fahrbahn oder die aufwen- Das war ein einvernehmlicher Beschluß des Haus-
dige Pflasterung von Plätzen und Wegen auch wirk- haltsausschusses des Deutschen Bundestages vom
lich notwendig waren. Dies gibt es im Osten und im November 1992.
Westen, meine Damen und Herren.
(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Guter Aus-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schuß!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Borm, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1381
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
Meine Damen und Herren: „Die unbestreitbaren knapp die Hälfte der westdeutschen. Ein großer Teil
Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern sollten des Sozialprodukts, das in den neuen Ländern ver-
von den vorgesetzten Behörden und Gremien ge- braucht wird, wird nicht dort erarbeitet, sondern be-
prüft werden." So muß das bleiben. steht aus Transfers aus dem Westen.
Wie dieses Thema „Umgang mit Fördermitteln" Diese Tatsachen sprechen eine eindeutige Sprache
jetzt hochgespielt wird, hat mit der Realität nichts zu und besonderes Sorgenkind in diesem Zusammen-
tun. Das wirft Gräben zwischen Ost und West auf. hang ist nach wie vor die Industrie. Das Ifo-Institut
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sagt zwar, daß wir inzwischen die Wende von der De-
industrialisierung zur Reindustrialisierung über-
Das wollen wir nicht. Die Präsidenten der Landes- schritten haben, der Industrieabsatz ist aber noch
rechnungshöfe in Ostdeutschland haben Gott sei viel zu gering. Der Industrieanteil an der Wertschöp-
Dank diesen Spuk inzwischen endgültig beendet. fung macht in den neuen Ländern 19 aus, in West-
Sie distanzieren sich eindeutig von den genannten deutschland sind es 27 %.
Zahlen und stellen fest, daß ihre Prüfungen ergeben
haben, daß die öffentlichen Mittel auch in den An- Das eindeutige Ziel muß sein, daß die neuen Län-
fangsjahren weit überwiegend sinnvoll und zu- der aus eigener Kraft ihr Einkommen und ihre Inve-
kunftsorientiert eingesetzt worden sind. stitionen verdienen.

Meine Damen und Herren, ich werde Anfang März (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
dem Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages CDU/CSU)
einen vollständigen Bericht über diesen Fragenkreis
vorlegen. Ich habe die Bundesressorts sowie die Wirt- Bisher beträgt die Lücke 200 Milliarden DM. Diese
schafts- und Finanzminister der neuen Länder aufge- Lücke muß geschlossen werden.
fordert, mir für ihre Zuständigkeitsbereiche Erkennt-
nisse über Fehlverhalten und über Vorkehrungen Die Bundesregierung hat daher im Rahmen des
gegen Mißbräuche mitzuteilen. Ich werde mich mit .Jahreswirtschaftsberichts 1995 ein mittelfristiges
den Bundesressorts, den Ländern, Gemeinden und Förderkonzept bis 1998 beschlossen, um den Inve-
allen Vergabestellen zusammensetzen, um zu prü- storen sichere Rahmenbedingungen zu geben. Diese
fen, ob es bessere Kontrollmöglichkeiten gibt. In be- Rahmenbedingungen müssen heute bekannt sein,
zug auf jedes einzelne Förderinstrument werden wir wir müssen sie heute festlegen, weil Investitionen
uns überlegen, ob wir bessere Kontrollmöglichkeiten mittelfristig in die Zukunft hinein getätigt werden.
einführen können.
Dabei sind wir nach der Maxime vorgegangen,
(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr gut!) dort zu konzentrieren und Fördertatbestände zu kür-
zen, wo dies möglich erscheint, und dort weiter zu
Aber, meine Damen und Herren, eine Frage fördern, wo dies notwendig ist. Die fünfprozentige
möchte ich hier denn doch noch aufwerfen: Wird Investitionszulage wird bis 1998 verlängert, aber auf
denn in der deutschen Öffentlichkeit nicht erkannt, die Industrie beschränkt. Die zehnprozentige Mittel-
wie zwiespältig diese Diskussion geführt und wie sie standszulage wird weitergeführt. Die Sonderab-
emotional geschürt wurde? Vor wenigen Wochen war schreibungsmöglichkeiten für betriebliche Anlage-
es noch an der Tagesordnung, die Bürokratie und die güter, wie Maschinen, und für selbstgenutzte Be-
Banken zu geißeln, weil sie umständlich, bürokra- triebsgebäude, wie Fabrikhallen, werden bis 1998
tisch, kleinkariert, risikoscheu und an den Bedürfnis- weitergeführt. Dagegen werden Sonderabschreibun-
sen der Investoren vorbei Verhinderungspolitik be- gen für den Neubau von Wohnungen und für nicht
trieben hätten. Das war vor wenigen Wochen das selbstgenutzte Betriebsgebäude ab 1997 drastisch
Thema. gesenkt. Damit wird Verlustzuweisungsmodellen ein
Heute ist das Gegenteil angesagt. Zuwenig würde Riegel vorgeschoben.
geprüft, zuwenig hinterfragt, zuwenig kontrolliert.
Verlängert wird die Aussetzung der Vermögen-
Jene, die sich damals an der Zögerlichkeit der Verga-
steuer. Die Gewerbekapitalsteuer soll ab 1996 in
bestellen hochgezogen haben, sind heute die Laute-
ganz Deutschland abgeschafft werden. Die Förde-
sten, wenn es darum geht, deren angebliche Blauäu-
rung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Ver-
gigkeit zu verdammen.
besserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" wird
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) fortgesetzt, es erfolgt aber eine stärkere Konzentra-
tion auf besonders strukturschwache Gebiete und
Ich sage hier klar: Diese Debatte ist nicht zufällig eine noch stärkere Differenzierung der Fördersätze
gerade jetzt angefacht worden, wo es um die Fortfüh- durch die Länder. Fortgesetzt werden auch das Ei-
rung der Hilfen für den Ausbau Ost geht und wo genkapitalhilfeprogramm und die ERP-Darlehens-
wichtige Entscheidungen im politischen Bereich in möglichkeiten.
Bundesländern anstehen. Wir müssen uns darüber
klar sein, daß wir zwar große Fortschritte bei der Ent- Wir müssen uns überlegen, wie Risikokapital in
wicklung in den neuen Bundesländern gemacht - stärkerem Umfang nach Ostdeutschland fließen
das zeigen die Wachstumsraten -, daß wir aber be- kann. Die Bundesregierung hat dazu zwei Maßnah-
stenfalls die Hälfte des Weges zur wirtschaftlichen men beschlossen. Die erste ist die steuerliche Förde-
Entwicklung der neuen Länder geschafft haben. Die rung von Verkaufserlösen von Beteiligungen, wenn
Produktivität je Kopf der Bevölkerung beträgt nur diese Erlöse umgehend in Beteiligungen oder beteili-
1382 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt


gungsähnlichen Darlehen bei mittelständischen Un- nen- und landespolitischen Überlegungen heraus.
ternehmen in den neuen Ländern angelegt werden. Dafür ist auch kein Grund gegeben.
Der § 6 b Einkommensteuergesetz wird dazu entspre-
chend geändert. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
CDU/CSU)
Die Förderung langfristigen Beteiligungskapitals Die Bundesregierung steht verantwortungsbe-
bis zu einem jährlichen Gesamtplafonds von 500 Mil- wußt, mit Augenmaß und Engagement zur Fortset-
lionen DM wird in Anlehnung an den § 16 des frühe- zung des Aufbaus im Osten. Ich bin fest davon über-
ren Berlinförderungsgesetzes geändert. zeugt, daß diese Debatte - eine nützliche und wich-
Mit diesen Maßnahmen - das wollte ich an dieser tige - vor unserer gemeinsamen Verpflichtung und
Stelle heute gesagt haben - haben wir eine klare mit- Verantwortung, mit Steuermitteln verantwortungsbe-
telfristige Ausrichtung unserer Förderung festgelegt. wußt umzugehen, geführt werden mußte.
Es gibt für mich keinen Anlaß, das angesichts der ak- Aber einen Keil zwischen Ost und West zu treiben,
tuellen Diskussion zu ändern. eine neue Kampagne zu entfachen, um den Men-
schen im Osten das Gefühl zu geben, daß sie Bittstel-
Was nach 1998 notwendig wird, hängt von den
ler sind, und den Menschen im Westen das Gefühl zu
weiteren Fortschritten beim Aufbau ab. Dazu bereits geben, daß mit ihrem Geld nur Fehlleitungen und
heute Festlegungen zu treffen ist verfrüht und nicht Mißbräuche stattfinden und daß im Osten nichts an-
Politik der Bundesregierung. deres stattfindet, als daß sich einige Leute dort per-
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, daß sönlich bereicherten, kann nicht in unserem gemein-
die derzeitige Debatte, die vielen Bürgern in Ost und samen Interesse liegen.
West jeweils anders unter die Haut geht, intensiv ge- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
führt wird. Aber sie muß auch mit kühlem Kopf ge- CDU/CSU)
führt werden. Niemand kann leugnen, daß wir mit
unserer Wirtschaftspolitik in den neuen Ländern auf Hier haben wir über die Parteien hinweg eine Ver-
dem richtigen Weg sind. antwortung. Deshalb setzen wir unsere Politik mit
Korrekturen und Konsequenzen fort. Sie ist aber im
Ich brauche hier nicht den Sachverständigenrat zu Prinzip auf die Fortsetzung des erfolgreichen Auf-
zitieren, die Zahlen sprechen für sich. Die Menschen baus in den neuen Ländern gerichtet.
im Osten Deutschlands empfinden das in ihrer über-
großen Mehrheit. Sie wissen, daß es vorwärts und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
aufwärts geht.
Vizepräsident Hans Klein: Ich eröffne die Ausspra-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) che und erteile dem Kollegen Otto Schily das Wort.
Die Menschen in Ost und West haben Anspruch dar-
auf, daß ihre Steuern und Abgaben zweckentspre- Otto Schily (SPD): Die Freude scheint allerseits zu
chend verwendet werden. Das sage ich ohne jeden sein, daß ich das Wort ergreife.
Abstrich. -
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kolle-
ten der CDU/CSU und der SPD)
gen! Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß der Bun-
Mißbräuche und Fehlleitungen sind abzustellen, desfinanzminister Waigel heute diese Debatte mei-
aber Panikmache oder ein neuer Keil zwischen Ost det.
und West - das kommt für die Bundesregierung nicht (Zurufe von der CDU/CSU: Er steht dort
in Frage. hinten!)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so - Jetzt kommt er. Na gut, dann ist er da. Wunderbar,
wie bei Abgeordneten der SPD) dann kann er es ja gleich hören.
Für die parteipolitischen Süppchenkocher taugt die- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sie haben die
ses Thema schon gar nicht Brille nicht auf! Es geht los!)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es hat mich schon ein wenig gewundert, daß der
Bundeswirtschaftsminister Rexrodt hier lauthals be-
angesichts der vielfältigen Verantwortlichkeiten in klagt, daß die gegenwärtige Debatte dazu benutzt
Bund, Ländern und Gemeinden, die parteipolitisch wird, die Fortführung der Fördermittel für die neuen
ganz verschiedenartig zusammengesetzt sind. Jeder Bundesländer in Frage zu stellen. Noch vor ein paar
trägt dort seine Verantwortung, und keiner hat An- Tagen war in der „Bild-Zeitung" nachzulesen, daß
laß, mit dem Finger auf den anderen zu zeigen. Herr Waigel es ist, der das tut. Also versuchen Sie
doch mal, den kurzen Draht zu Herrn Waigel zu be-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne nutzen, Herr Rexrodt! Das wäre vielleicht besser, als
ten der CDU/CSU) hier Fensterreden zu halten.
Ich füge ganz bewußt hinzu: Dieses Thema eignet (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
sich auch nicht für populistisches Anbiedern aus in ten der PDS)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1383
Otto Schily
Meine Damen und Herren Kollegen, in einer Zeit, Im übrigen kann jeder wissen, der sich der Mühe
in der die Abgabenlast auf Grund der verfehlten unterzieht, Berichte des Bundesrechnungshofes und
Steuer- und Finanzpolitik der Bundesregierung eine anderer Rechnungshöfe zu lesen, daß Verschwen-
Rekordmarke erreicht hat, muß es den verständli- dung von Steuergeldern in beträchtlichem Ausmaß
chen Zorn der Menschen hervorrufen, wenn sie aus beileibe nicht nur im Osten, sondern leider auch im
den Zeitungen erfahren, daß Steuergelder in Milliar- Westen Deutschlands an der Tagesordnung ist.
denhöhe verplempert und verschlampt werden.
Gestern ist in einem Ausschuß des Deutschen Bun-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) destages, im Ausschuß für Bildung, Wissenschaft,
Forschung, Technologie und Technikfolgenabschät-
Vielerorts scheint das Bewußtsein dafür verlorenge- zung, eine Passage des jüngsten Bundesrechnungs-
gangen zu sein, daß der Staat fremdes Geld verwal- hofberichts diskutiert worden. Darin beklagt der
tet, daß er wie ein verläßlicher Treuhänder mit dem Bundesrechnungshof, daß bei der Förderung der Ent-
Geld der Steuerzahler umzugehen hat. wicklung des Magnetschnellbahnsystems Transra-
pid Steuermittel in erheblichem Umfang verschwen-
(Zuruf von der F.D.P.: Das sagen Sie mal det wurden, etwa daß der privaten Betreibergesell-
Frau Hildebrandt! - Zuruf von der CDU/ schaft ein sogenannter kalkulatorischer Gewinn in
CSU: Pharisäer!) Höhe von 9,5 Millionen DM zugebilligt wurde, ob-
wohl die private Betreibergesellschaft kein unterneh-
Wenn dann der Eindruck entsteht, daß gerade bei merisches Risiko einzugehen hat.
den unteren und mittleren Einkommen rücksichtslos
Steuern und Abgaben bis aufs Blut herausgepreßt (Zurufe von der CDU/CSU)
werden,
Man sieht: Auch dort liegt leider sehr vieles im ar-
(Oh-Rufe von der CDU/CSU und der F.D.P.) gen, und wir sollten beide Augen offenhalten.
aber auf der anderen Seite Milliardenbeträge wie Ka- (Zuruf von der CDU/CSU: Aber beide!)
melle im Karneval unter die Leute gestreut werden,
ist der soziale Friede massiv gefährdet, meine Damen Schließlich sollte nicht übergangen werden, daß
und Herren. die Gefoppten und Hintergangenen bei vielen Fehl-
leitungen von Steuermitteln nicht nur die Steuerzah-
(Beifall bei der SPD - Zurufe von der CDU/ ler im Osten und Westen sind, sondern häufig die
CSU) Ostdeutschen in doppelter Weise. Überdimensio-
nierte Kläranlagen bedeuten nicht nur vergeudete
Ohne falsche Rücksichtnahmen müssen daher heute Steuergelder, sondern sie treffen die Ostdeutschen
die Fehler und Versäumnisse in der Finanzkontrolle zusätzlich hart, weil diese von den Kommunen für
diskutiert werden. entsprechend hohe Anschlußbeiträge in Anspruch
genommen werden. Ich denke, man muß auch das in
Vor einem ist allerdings in Übereinstimmung mit Augenschein nehmen.
dem Bundeswirtschaftsminister zu warnen:
Aber Verschwendung im Westen macht Ver-
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Banane!) schwendung im Osten keinen Deut besser. Ob es
nun 65 Milliarden DM sind, wie der „Spiegel"
Wer versucht, sich aus der politischen Verantwortung
schreibt, oder etwas weniger, ist nicht das Entschei-
zu mogeln, indem er für alles, was schiefgegangen
dende.
ist, die vermeintliche Leichtfertigkeit ostdeutscher
Landesregierungen und Kommunen haftbar macht, (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)
nach der Melodie „die Ostdeutschen verprassen un-
ser sauer verdientes Westgeld", vergiftet die Debatte Entscheidend ist, daß sich der Finanzminister um
und sucht sein Heil in schäbigen Ausflüchten. eine effiziente Ausgabenkontrolle überhaupt nicht
gekümmert hat.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD und der PDS - Zuruf
Deshalb scheint es mir notwendig zu sein, mit aller von der F.D.P.: Das stimmt doch gar nicht!)
Deutlichkeit festzustellen - es freut mich, daß da zwi-
schen Herrn Rexrodt und uns Übereinstimmung be- Herr Waigel war völlig desinteressiert, wohin die Mil-
steht -: Unsere ostdeutschen Landsleute verdienen lionen und Milliarden gewandert sind.
unsere Anerkennung für die beachtliche Aufbaulei-
stung, die sie in den vergangenen Jahren vollbracht (Zuruf von der F.D.P.: Das stimmt doch gar
haben, nicht! - Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ein
Unsinn! Völlig falsch! Das ist doch falsch!)
(Joachim Hörster [CDU/CSU]: Wegen der
Banane!) Nicht in einem einzigen Fall hat Herr Waigel ein
deutliches Signal gesetzt, daß die Vergeudung von
und sie verdienen Ermutigung und Solidarität auch Steuermitteln nicht hingenommen wird und die Kon-
für die Zukunft. trollen verschärft werden.

(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD)


1384 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Otto Schily
Herr Waigel, sagen Sie mir einen einzigen Fall einer fährte Herr Glos versucht, die Schuld auf den schwa-
Pressekonferenz, wo wir von Ihnen hören konnten: chen Schultern von Herrn Rexrodt abzuladen.
Diesen Fall nehme ich zum Anlaß verschärfter Kon-
trolle. Diesen Fall können Sie uns hier heute nicht (Michael Glos [CDU/CSU]: Ich? - Eduard
präsentieren. Oswald [CDU/CSU]: Das ist falsch!)

(Joachim Hörster [CDU/CSU]: Von der Herr Waigel seinerseits zeigt mit dem Finger auf die
Treuhand verstehen Sie nichts! - Zuruf von ostdeutschen Kommunen und Landesregierungen.
der F.D.P.: Das stimmt doch gar nicht!) Aber fragen Sie sich doch zunächst einmal selbst,
Herr Waigel: Was haben Sie getan, damit die Steuer-
Zu keinem Zeitpunkt fühlte sich Herr Waigel be- gelder nicht verpulvert wurden? Wo waren Ihre Vor-
müßigt, der Sache nachzugehen, auch bei spektaku- gaben für eine vernünftige und zielorientierte Struk-
lären Fällen nicht; beispielsweise wenn es darum tur- und Investitionspolitik?
ging, daß sich einige unbedarfte Personen mit Millio-
nensummen an den Liquidationen von Treuhandfir- (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Hören Sie
men bereicherten - doch auf! Ihnen ist doch gar nichts eingefal
len!)
(Zuruf von der F.D.P.: Die Debatte hatten
wir doch schon!) Haben Sie nicht mit Ihrem unübersichtlichen Wirr-
warr an Fördertöpfen dafür gesorgt, daß es nun zahl-
zehn Liquidatoren allein mit 120 Millionen DM. Das reiche Investitionsruinen gibt und geben wird?
erzeugt eine Stimmung. Statt dessen hat sich Herr
(Beifall bei der SPD und der PDS)
Waigel stets auf das Beschönigen, auf das Herunter-
spielen und das Beschwichtigen verlegt. Welche Sicherungsmaßnahmen haben Sie getroffen,
damit nicht unseriöse Geschäftemacher, vornehmlich
(Beifall bei der SPD - Joachim Hörster
aus dem Westen, Steuergelder in Millionen- und Mil-
[CDU/CSU]: Da haben Sie im Untersu
chungsausschuß völlig versagt, Herr liardenhöhe an sich brachten?
Schily!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
So entsteht eine Selbstbedienungsstimmung nach Was sollen denn die Lohnempfänger sagen, die
dem Motto: Wer will noch mal, wer hat noch nicht? jetzt einen sogenannten Solidaritätszuschlag auf
mindere und kleine Einkommen entrichten müssen,
Auch die Tatsache, daß der Bundesfinanzminister
wenn sie sehen, was da im Osten von einigen Herr-
die Treuhandanstalt weitgehend zu einer kontroll-
schaften aus dem Westen abgeholt worden ist?
freien Zone erklärt hat, gehört in dieses Szenario,
meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Warum, Herr Bundesfinanzminister - das ist einer
GRÜNEN und der PDS) Ihrer ärgsten Fehler -, haben Sie bei der Kontrolle
- und bei der Auswahl von Investoren nicht verstärkt
Allein der Umstand, daß die zivilrechtlichen Haf-
Belegschaften und Betriebsräte der ostdeutschen
tungsregeln praktisch außer Kraft gesetzt wurden
und zugleich versucht wurde, den strafrechtlichen
Betriebe hinzugezogen? Da hätten Sie lernen kön-
nen, wie man Kontrolle ausübt und wie man vorsorg-
Untreuetatbestand zu neutralisieren, beweist, daß
lich Maßnahmen trifft, damit die Dinge nicht aus
der Bundesfinanzminister mit einer Sorglosigkeit
dem Lot geraten.
sondergleichen der Verschwendung von Steuergel
dern Vorschub geleistet hat. Alle Warnungen hat er (Beifall bei der SPD und der PDS)
in den Wind geschlagen. Seine Unfähigkeit und
Schwäche, der Verschwendung von Steuergeldern Viele Millionen- und Milliardenschäden wären
entgegenzuwirken, wurde letztlich auch dadurch do- vermieden worden, wenn die Menschen im Osten
kumentiert, daß er alles darangesetzt hat, die parla- nicht zu Objekten der Politik degradiert worden wä-
mentarische Kontrolle des Finanzgebarens der Treu- ren, statt sie als Subjekte in die Entscheidungen ein-
handanstalt zu behindern und zu sabotieren. zubeziehen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und der PDS - Eduard (Beifall bei der SPD und der PDS - Wider
Oswald [CDU/CSU]: Völliger Unsinn! Völlig spruch bei der CDU/CSU)
falsch!)
Nein, Herr Bundesfinanzminister, es helfen keine
Es ist nicht erkennbar, daß irgend etwas aus dem Ablenkungsmanöver, es hilft kein Versteckspiel. Sie
Bundesfinanzministerium in die Wege geleitet ist, persönlich sind für dieses Debakel verantwortlich.
um z. B. die Informationswege zum Bundesrech- Daraus sollten Sie die richtigen Konsequenzen zie-
nungshof zu verkürzen, damit dessen Ratschläge hen. So schrieb die „Frankfurter Rundschau" in den
dann auch während eines Projekts Beachtung fin- letzten Tagen:
den. Nichts hat er getan, um bestimmte Zwänge der
Kameralistik zu mildern. Der Bundesfinanzminister kann mit seiner Philo-
sophie von Steuergerechtigkeit so gut wie nichts
Heute müht sich der Bundesfinanzminister, die zur Lösung des Problems beitragen, weil er selbst
Verantwortung von sich abzuschütteln. Sein Ge- Teil des Problems ist.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1385
Otto Schily
- Wie wahr! Schauen Sie in den Spiegel, Herr Bun- Entwicklung gilt für alle neuen Länder. Dies möchte
desfinanzminister Waigel, und Sie wissen die Ant- ich als gegenwärtiger Sprecher der ostdeutschen Mi-
wort. nisterpräsidenten ausdrücklich unterstreichen. Dabei
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE unterdrücke ich die Freude darüber, daß sie in Thü-
GRÜNEN und der PDS - Zuruf von der ringen am stärksten steigen - allerdings von einem
CDU/CSU: Welche Ausgabe?) besonders niedrigen Niveau -, natürlich nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Mini-
Der Rohbau der neuen Länder steht. Der Ausbau
sterpräsidenten des Freistaates Thüringen, Herrn
ist in vollem Gange. Wer etwas vom Bau versteht,
Dr. Bernhard Vogel, das Wort.
weiß, daß es eine Abweichung von 5 % beim Rohbau
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) geben kann. Dies muß beim Verputz korrigiert wer-
den.
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel (Thüringen): Die jungen Länder sind die Wachstumsregion Eu-
(von der CDU/CSU mit Beifall begrüßt) ropas. Sie sind die wachstumsstärkste Region in ganz
Europa. Dies ist nicht gerade ein schlagender Beleg
Vielen Dank für den Beifall für einen ostdeutschen dafür, daß wir alles falsch gemacht haben.
Ministerpräsidenten.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehr- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ten Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsmini-
Meine Damen und Herren, was wir bisher erreicht
ster hat mit klaren Argumenten belegt: Der Auf-
haben, ist das Ergebnis bemerkenswerter, unge-
schwung in den neuen Ländern ist in vollem Gange.
wöhnlicher und in dieser Form nie dagewesener indi-
Wir sind auf dem richtigen Weg. Ich bedanke mich
vidueller, gesellschaftlicher, politischer und wirt-
für Ihre Rede, Herr Bundeswirtschaftsminister.
schaftlicher Anstrengungen. Hier sind zunächst die
(Beifall bei der CDU/CSU und F.D.P.) Anstrengungen der Bevölkerung in der ehemaligen
Ich danke auch dem Abgeordneten Schily für die DDR zu nennen. Diese hatte nicht nur den Mut, auf
die Straßen zu gehen, sondern sie hat sich immer
Bemerkung, daß nicht alle Schuld auf den Osten ge-
wieder klar und mit großer Mehrheit zu demokrati-
schoben werden darf, auf die Bevölkerung im allge-
meinen, auf die Regierung im besonderen und auf schen Parteien bekannt. Es ist die Leistung vieler
Tausender in den Gemeinden, in den Ländern und
die Ministerpräsidenten im speziellen. Ich stimme Ih-
im Bund, in Politik, Wirtschaft und Verbänden, sich
nen vor allem darin zu, daß wir stets beide Augen of-
fenhalten sollen. zur Verfügung gestellt zu haben, zum Teil für Aufga-
ben, die sie nicht kannten und deren Dimensionen
Daß es auch Passagen in Ihrer Rede gab, Herr Ab- sie darum kaum abschätzen konnten. Das verdient
geordneter Schily, denen ich nicht zustimmen kann, Anerkennung.
wird Sie nicht wundern. Treuhand ist Treuhand, und
die finanzpolitische Verantwortung der-Landesregie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
rung ist die finanzpolitische Verantwortung der Lan- ordneten der F.D.P.)
desregierung. Ich glaube, es bringt nicht viel Nutzen,
wenn wir die kontroverse Treuhanddiskussion mit Aber ebenso verdient Dank die ungewöhnliche Soli-
der heute hier anstehenden Debatte durcheinander darität des Westens, die in diesem Ausmaß ebenfalls
mengen. zuvor nie dagewesen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
Zur Treuhand nur den einen Satz: Ich habe unter - ordneten der F.D.P.)
wie ich glaube - falschen Entscheidungen mehr ge- Meine Damen und Herren, neben den Bürgern
litten als andere. Aber ich gehöre auch zu denjeni- danke ich auch den Regierungen, zuvorderst der
gen, die anerkennen, daß über 2 000 Betriebe in vier Bundesregierung, insbesondere dem Bundeskanzler,
Jahren in einem Land zu privatisieren eine einmalige für den Mut beispielsweise zur Wirtschafts- und
Leistung ist und daß diese einmalige Leistung aner- Währungsunion vom 1. Juli 1990.
kannt werden muß.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Jahreswirtschaftsbericht, über den Sie hier vor Wie viele Kritiker haben abgeraten, und wie viele
einer Woche diskutiert haben, weist beachtliche Stei- Kritiker haben die Katastrophen in diesem Zusam-
gerungsraten des Bruttoinlandsprodukts in den jun- menhang vorausgesagt!
gen Ländern nach. Die Prognosen für 1995 sind gün-
stig. Die Steuereinnahmen steigen deutlich, was uns (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Vor allem der
ermutigt und den gebenden Ländern Geld spart. Je Schily!)
stärker die Steuereinnahmen bei uns steigen, um so
Ich bedanke mich für das Zustandekommen des
größer ist die Entlastung für die gebenden Länder.
Föderalen Konsolidierungsprogramms, das für die
Die Steuern, die auf das Land Thüringen entfallen, Finanzordnungen der neuen Länder von fundamen-
steigen um 16 %, und die Steuern in Thüringen, die taler Bedeutung und deswegen ein wichtiger Schritt
auf die Kommunen entfallen, steigen um 30 %. Diese zur Normalität ist.
1386 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel (Thüringen)


Und ich danke den Partnerländern. Was Nord- Sozialleistungen und ähnliches. Hier kann es keine
rhein-Westfalen in Brandenburg, was Niedersachsen Investitionsfehler geben, hier ist nach Gesetz verfah-
in Sachsen-Anhalt, was beispielsweise Rheinland ren worden, und hier steht eine Debatte, wie wir sie
Pfalz, Hessen und Bayern in Thüringen geleistet ha- gegenwärtig führen, überhaupt nicht zur Diskussion.
ben, verdient Dank und Anerkennung.
Effektiv hat ein Investitionstransfer in den Jahren
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so 1991 bis 1994 von ca. 150 Milliarden DM stattgefun-
wie bei Abgeordneten der SPD) den. Auch das ist eine gewaltige Menge. Aber von
150 Milliarden DM sind nicht 65 Milliarden DM in
Schließlich danke ich den ungezählten Helfern, die
den Sand gesetzt worden. Die Präsidenten der ost-
zum größten Teil aus Patriotismus kamen und zu-
deutschen Rechnungshöfe betonen gemeinsam, daß
nächst nicht gefragt haben, was ihnen der Staat gibt,
die Mittel - ich zitiere - „weit überwiegend sinnvoll
sondern die gefragt haben, was sie dem Staat geben
und zukunftsorientiert" eingesetzt worden seien. Die
können.
in die Diskussion geworfene Zahl von 65 Milliarden
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge DM wird von den Rechnungshofspräsidenten als „so
ordneten der F.D.P. - Zuruf von der SPD: nicht nachvollziehbar" bezeichnet.
Buschzulage!)
Der Chef der für die EFRE-Mittel zuständigen Ge-
In der Tat, meine Damen und Herren, haben wir neraldirektion der EU bestätigt beispielsweise den
Grund, stolz auf beides zu sein: auf die Leistungen Ländern Brandenburg und Thüringen eine gute Aus-
der Menschen im Osten, ohne die es nie eine Wieder- gabenpolitik in bezug auf die Fördermittel und äu-
vereinigung gegeben hätte, und auf die Leistungen ßert keine Beanstandungen.
der Menschen im Westen, ohne die wir nicht so weit
wären, wie wir im Aufbau sind. (Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!)

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich warne davor, die ersten Jahre nach der Wieder-
vereinigung mit normalen oder auch nur mit heuti-
Aber wenn man die Zeitungen aufschlägt: Von gen Maßstäben zu messen. Viele scheinen es nicht
Stolz und Dankbarkeit keine Spur! Kritik und Vor- mehr zu wissen: 1990 gab es weder Länder noch Lan-
würfe werden laut. desregierungen. Die alten Bezirksverwaltungsbehör-
(Jürgen Türk [F.D.P.]: Eine Schweinerei ist den waren, vor allem bei der Erstellung der Über-
das!) gangshaushalte und der Vergabe der Mittel, bis weit
in das Jahr 1991 hinein wirksam. Der erste Thüringer
Wenn ich auf diese Kritik und auf diese Vorwürfe Haushalt ist in der zweiten Hälfte des Jahres 1991
eingehe, so möchte ich zunächst eines klarstellen: verabschiedet worden. Auch als Regierungen gebil-
Ich will Fehler nicht leugnen oder verharmlosen. det waren, mußten die Verwaltungsapparate erst
Meine Damen und Herren, es wäre ein noch größe- mühsam aufgebaut werden. Was trotzdem alles funk-
res Wunder als die deutsche Einheit selbst, wenn in tioniert hat, ist beachtlich.
dieser Situation keine Fehler gemacht worden wä-
ren. (Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!)
-
(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Sehr rich Jedenfalls ist das, was funktioniert hat, viel erstaunli-
tig!) cher als das, was schiefgegangen ist.
Das möchte ich ausdrücklich sagen. Ich füge hinzu: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wo sie gemacht worden sind, muß ihnen nachgegan-
gen werden, und wo sie korrigiert werden können, Daß es zum Beispiel trotz gewaltiger wirtschaftli-
müssen sie korrigiert werden. Das ist entschieden cher Zusammenbrüche und elementarer gesell-
und eindeutig ganz klar vorab festzustellen. schaftlicher Umbrüche gelang, den sozialen Frieden
zu erhalten, ist eine Leistung, auf die alle Beteiligten
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stolz sein können.
Allerdings wende ich mich genauso entschieden (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
und eindeutig dagegen, daß Kritik verantwortungs-
los überzogen wird, daß maßlose Formulierungen Gelegentlich höre ich von erregten Debatten,
verwendet werden und daß Horrorzahlen hochge- wenn in einem alten Bundesland 100 000 Arbeits-
rechnet werden. plätze zur Disposition stehen. Wir sind froh, wenn die
ARD bei derartigen Sorgen in Ostdeutschland über-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haupt eine solche Meldung bringt.
Wenn das in dieser Weise geschieht, dann ist die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Frage erlaubt: Cui bono - wem nützt das? Und
Zuruf des Abg. Wolfgang Thierse [SPD] -
warum wird das in dieser Form und zu diesem Zeit-
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
punkt gemacht? DIE GRÜNEN]: Da sorgt doch der MDR
(Zuruf von der CDU/CSU: Das nützt der schon dafür! Keine Sorge, Herr Vogel! -
Hessenwahl!) Weitere Zurufe)
Der quantitativ größere Teil aller Transferleistun- - Beim ZDF - da haben Sie recht, Herr Kollege - hat
gen beruht auf gesetzlichen Grundlagen. Mehr als eine solche Meldung genauso große Schwierigkeiten
die Hälfte aller Transferleistungen betreffen Renten, durchzukommen. Da gibt es keinen Unterschied.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1387

Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel (Thüringen)


Der Bund hat nachdrücklich darauf gedrängt - ten, durch Fachleute prüfen zu lassen und um künf-
auch gegen unseren Rat -, die investiven Mittel, die tige Verantwortungsträger zu trainieren. Meine Da-
sogenannte kommunale Investitionspauschale, di- men und Herren, die deutsche Einheit wäre geschei-
rekt an die Gemeinden zu geben, und zwar an Kom- tert, wenn wir drei Jahre Vorbereitungspause einge-
munen, die zum erstenmal im Rahmen der neuge- legt hätten.
wonnenen kommunalen Selbstverwaltung mit die-
sem Instrument umgehen mußten. Von den Land- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
kreisen flossen zwei Drittel der Mittel an Schulen,
Berufsschulen und in den Straßenbau, ein Drittel in Sie kam buchstäblich von einer Stunde auf die an-
Krankenhäuser, Altenpflegeheime und den ÖPNV. dere, und niemand war auf die konkrete Situation
vorbereitet. Wer langfristige Vorbereitungen getrof-
In einem Bereich, bei Wasser und Abwasser, sind fen hätte, wäre in der ehemaligen DDR als Kriegstrei-
unbestritten in einigen Fällen Fehlinvestitionen getä- ber verleumdet und im Westen als kalter Krieger ver-
tigt worden. Aber, meine Damen und Herren, ich spottet worden.
nenne ein Beispiel: Die Kläranlage in Arnstadt, 1991
für 100 000 Einwohnergleichwerte geplant, vorsichts- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
halber nur für 80 000 gebaut, ist heute nur zu 65 % und der F.D.P.)
ausgelastet, aber nicht, weil falsch geplant wurde,
sondern weil Arnstadt mit über 20 % immer noch die Meine Damen und Herren, die Dimension des Um-
höchste Arbeitslosigkeit in ganz Thüringen hat, weil bruchs war gigantischer als vorherzusehen, und der
die meiste Altindustrie weggebrochen ist und weil zunächst ins Auge gefaßte Zeithorizont erwies sich in
sich die Neuansiedlungen nicht in dem Maße vollzo- der Tat als zu kurz. Viele oder sogar alle verlangten
gen haben, wie sie notwendig sind. Hätten wir mit gleiche Rechte in West und Ost, zu Recht und in der
einkalkulieren sollen, daß es bei weit mehr als 20 Situation 1989/90 auch verständlicherweise. Nur
Arbeitslosigkeit bleibt, oder war es von den Arnstäd- sollte sich bald herausstellen, daß viele Probleme im
tern nicht richtig, darauf zu setzen, daß auch in Arn- Osten mit Rechtsverordnungen aus dem Westen
stadt möglich wird, was anderswo bereits möglich nicht effizient zu lösen sind.
geworden ist, und die Arbeitslosigkeit auf ein norma-
les Durchschnittsmaß zunächst einmal zurückgeht? (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
Aber, meine Damen und Herren, nicht nur die Meine Damen und H erren, wenn ich etwa an die
Kommunen wurden bedrängt, auch die Länder wur- Bauvergabeordnung denke, dann frage ich mich
den immer wieder bedrängt, die bereitgestellten Mit- ernsthaft, ob das nützt oder ob das nicht zu Schwie-
tel doch zügiger abfließen zu lassen. Ich glaube, ich rigkeiten, wie sie diskutiert werden, mit beigetragen
habe im Bundeskanzleramt 15 Konferenzen über den hat.
Aufschwung Ost mitgemacht. Es gab nicht eine, wo
wir nicht angeklagt wurden, daß wir die Mittel nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
schneller ausreichen. In der Tat: Wir haben auch dar-
unter gelitten, daß die Zahl der Arbeitslosen stieg, Lassen Sie mich sehr freimütig hinzufügen: Ich
daß die marode Industrie zusammenbrach, daß nie- verstehe durchaus die Schwierigkeiten mancher
mand Arbeit fand und gleichzeitig die Genehmi- westlicher Ministerpräsidentenkollegen, den Bürge-
gungs- und Bewilligungsfristen immer länger wur- rinnen und Bürgern in ihren Ländern zu erklären,
den und folglich die bereitgestellten Mittel nicht ab- daß der Landeshaushalt und auch die kommunalen
flossen. I laushalte zurückgefahren werden müssen.
Meine Damen und Herren, ich habe über Jahre die
(Zuruf von der CDU/CSU: Vor allen Dingen
Bürgermeister und andere ausdrücklich bedrängt:
vor einer Wahl!)
Entscheiden Sie und treffen Sie lieber zehn Entschei-
dungen, von denen acht richtig und zwei falsch sind,
Ich verstehe die Umstellung, die sich beispielsweise
als keine Entscheidung!
in Oberfranken vollziehen m uß, wo man die staatlich
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) subventionierte Zonenrandförderung, an die man
sich über Jahre gewöhnt hat, nicht mehr bekommt
Ich habe Risikobereitschaft gefordert und habe und wo man sich mit ansehen muß, daß der Nachbar
mich gegen Bürokratisierung ausgesprochen. Neh- höhere Förderungen erhält. Meine Damen und Her-
men Sie es mir nicht übel: Ich habe die Absicht, das ren, mit Zonenrandförderung im Etat am 17. Juni
auch künftig so zu tun. über die Brüder und Schwestern in der DDR zu spre-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) chen, ist einfacher, als Solidarbeitrag zu zahlen. Das
ist auch mir bewußt.
Wenn wir wirklich eine Fehlerquote von 5 bis 10 %
einkalkulieren müßten - das will ich gar nicht aus- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
schließen -, dann sind immerhin 90 bis 95 % der Mit-
tel zweckentsprechend eingesetzt worden - ein be- Meine Damen und Herren, ich will nicht Rech-
achtlich hoher Prozentsatz! Beachtlich jedenfalls für nungshofberichte - das führt zu nichts - gegeneinan-
den, der weiß, was tatsächlich zu leisten war und was der aufrechnen.
alles bei laufendem Betrieb zu leisten war. Wir konn-
ten doch Ostdeutschland nicht für drei Jahre still- (Zurufe von der SPD: Aha! - Weiterer Zuruf
legen, um zunächst Pläne und Konzepte auszuarbei- von der SPD: Thüringen!)
1388 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel (Thüringen)


- Wieso Thüringen? Natürlich geht es auch um die Ich bin dem Herrn Bundespräsidenten Herzog
Thüringer Rechnungshofberichte, aber es geht mir sehr dankbar, daß er in diesen Tagen vor vorschnel-
jetzt vor allen Dingen um die westlichen. Würde ich len Urteilen gewarnt hat.
sie gegeneinander aufrechnen, dann müßte ich von
Kalkar und von dem einen oder anderen Flughafen (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
sprechen, Sagen Sie doch mal was zu Herrn Stoiber!)

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wer hat Ich darf ihn zitieren:


denn Kalkar befördert?) Unter Umständen wurden Prioritäten anders ge-
setzt, als das einem Rechnungshofsbeamten ein-
auch von anderen Beispielen, die genannt worden
leuchtet.
sind. Dann müßte ich sagen, daß bei uns in Erfurt der
Schürmann-Bau hier in Bonn auch nicht gerade als Er fährt fort:
Muster sinnvoller Investitionen gehandelt wird.
Das Ziel der raschen Angleichung der Lebensver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD - hältnisse erfordert Opfer, und der durch die Ge-
Weitere Zurufe) schichte privilegierte Westen muß daher um Ge-
duld und auch um Verständnis gebeten werden.
- Wer in den Wald hineinschreit, der muß damit rech-
nen, daß auch etwas herausschallt. Meine Damen und Herren, kurzfristig schadet die
Diskussion, die manche führen möchten, vor allem
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ den neuen Ländern, mittel- und langfristig aber
DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht hierher, schadet sie der ganzen Bundesrepublik Deutschland.
sondern dorthin, zur Regierungsbank!) Deswegen muß sie beendet werden.

Aber, meine Damen und Herren, ich will nicht ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so
genrechnen. Gerade weil ich das nicht tue, möchte wie bei Abgeordneten der SPD)
ich im Namen vieler, so glaube ich, aus den neuen
Ländern sagen: Hört auf, neue Gräben aufzureißen! Wir sind auf weitere großzügige Hilfe angewiesen,
so wie wir sie im Föderalen Konsolidierungspro-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so gramm mit Bund und Ländern einmütig vereinbart
wie bei Abgeordneten der SPD) haben. Dieses Föderale Konsolidierungsprogramm
schließt ausdrücklich den Solidaritätszuschlag mit
Es mag ja sein, daß wir manches falsch gemacht ha- ein, den wir übrigens nicht nur im Westen, sondern
ben. Wir versprechen: Bei der nächsten Wiederverei- natürlich auch im Osten bezahlen.
nigung machen wir das alles viel besser!
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/ und der F.D.P.)
CSU und der F.D.P.)
Der Solidarbeitrag ist im übrigen entgegen dem
-
Es mag sein, daß wir Fehler gemacht haben. Eines Entwurf der Regierungskoalition des Bundes, die
aber weiß ich sicher: Wer jetzt neue Gräben aufreißt, 3,5 %) vorsah, auf Drängen von Ländern wie Hessen
weiß nicht, was er tut. auf 7,5 % angesetzt worden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - (Zuruf von der CDU/CSU: Genauso ist es!)
Zuruf von der SPD: Sagen Sie das einmal Meine Damen und Herren, das hatte seinen Grund:
Herrn Stoiber!) Weil es der Gemeinschaft der Länder gelungen war,
einen höheren Anteil an der Mehrwertsteuer für die
Die immateriellen Schäden könnten weit größer sein
Länder zur Finanzierung des Programmes zu sichern,
als alle vorstellbaren materiellen Schäden, meine Da-
mußte sich der Bund durch einen Solidarzuschlag in
men und Herren.
Höhe von 7,5 % refinanzieren.
(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Richtig! (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)
Sagen Sie das dem Stoiber!)
Sonst wäre die Einigung seinerzeit nicht zustande
- Herr Kollege, ich sage das all denen, die Gräben gekommen.
aufreißen. Ich schaue dabei nicht nach links oder
rechts, da ich das Vergnügen habe, eine große Koali- Wir brauchen diese Hilfe, nicht weil wir unersätt-
tion zu führen. Darum kann ich sagen, was ich lich wären, sondern weil wir vom Tropf wegkommen
denke. wollen. Wir sind noch nicht am Ziel. Wer uns jetzt die
Hilfe versagt, der muß wissen, daß wir ihm um so län-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - ger auf der Tasche liegen werden. Wer populistisch
Wolfgang Thierse [SPD]: Sagen Sie das zurückschreckt und von Rückführung der Mittel
auch Herrn Stoiber!) spricht, muß vorsichtig sein, damit er nicht gefährdet,
was erfolgreich begonnen worden ist.
- Wissen Sie, zwischen hessischen und bayerischen
Ministerpräsidenten mache ich da keinen so wahn- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
sinnigen Unterschied. DIE GRÜNEN]: Wer hat das denn gesagt?)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1389
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel (Thüringen)
Meine Damen und Herren, noch immer liegt die Fi- Leider gibt es einige Fehler, die irreparabel sind. In
nanzkraft der jungen Länder bei einem knappen diese Rubrik muß auch die verschleppte Solidarität
Drittel der des Westens; die Produktivität beträgt im Zuge der deutschen Einheit eingestuft werden.
knapp 50 %. Wer den Solidarzuschlag vorschnell Es war nämlich Ihr Kanzler, der den Deutschen - mit
wieder einstellt, gefährdet den weiteren Aufbau. den Worten: die Ostdeutschen bekommen die D-
Mark, damit die Westdeutschen sie behalten können -
(Zuruf von der SPD: Richtig!) eingeredet hat, die deutsche Einheit sei im Grunde
Es muß schon Deutschland sein, wo man erst ge- genommen ohne Kosten zu machen.
meinsam die Wiedereinführung beschließt und be- (Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
reits vor der ersten Zahlung die Abschaffung be- NEN und bei der SPD - Ingrid Matthäus
schließen will. Maier [SPD]: Portokasse!)
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ja, das Jetzt wundert man sich über die Stimmungsmache
ist wahr!) im Land.
Ich sage ausdrücklich: Geben ist seliger denn neh- Ein Fehler ist z. B. auch, den Solidarzuschlag ein-
men. Zumindest für mein Land gilt: Wir wollen nicht zuführen und ihn damit zu begründen, daß er eigent-
auf Dauer ein nehmendes Land bleiben, sondern wir lich für den Golfkrieg gebraucht werde, um ihn dann
wollen so schnell wie möglich ein Geberland wer- gleich wieder abzuschafffen, um ihn dann wieder
den. einzuführen,
(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr gut!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Aber wir brauchen Hilfe, das auch erreichen zu kön-
nen. Auch haushälterisch ist es sehr viel zweckmäßi- wobei man den Leuten verschweigt, daß dieser Soli-
ger, uns zu helfen, dieses Ziel rasch zu erreichen und darbeitrag für längst ausgegebenes Geld gebraucht
nicht über die Jahre hinzuziehen. Ich bitte, daß es zu wird, damit der Schuldenberg abgetragen werden
einer Solidarität all derer kommt, die selbstverständ- kann, auf dem Theo Waigel im Moment sitzt. - Herr
lich - - Waigel ist leider verschwunden oder hat sich ir-
gendwo hier ins Plenum gesetzt. Aber ich akzeptiere,
daß er nicht die ganze Zeit zuhören kann. Er weiß
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schily, der
ohnehin, worüber wir hier reden; er kennt diese Miß-
Redner ist schon ein gutes Stück über die Zeit hin-
stände alle.
aus. Ich kann ihm nicht mehr anbieten, noch eine
Zwischenfrage anzunehmen. Es zählt ebenfalls zu den Fehlern, daß man mit den
„blühenden Landschaften" regelrecht das Gießkan-
nenprinzip eingeführt hat, indem man behauptet,
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel (Thüringen):
daß im Grunde genommen eine unterkapitalisierte
Der Redner bietet Herrn Schily nachher ein Ge-
Landschaft mit Fördermitteln überschwemmt werden
spräch an und schließt mit den Worten: Helfen Sie
- den Kern- muß, damit dort etwas entsteht.
bitte mit, daß wir diese Diskussion auf
punkt zurückführen, daß wir Fehler als Fehler erken- Ich sage Ihnen ganz klar: Sie haben das einkalku-
nen und zu korrigieren versuchen, daß wir uns aber liert, weil Sie sich gesagt haben: Wir müssen rein-
nicht wegen gemachter Fehler die Erfolge zerreden pumpen, was möglich ist, damit 1994 der Wahlerfolg
lassen, sondern daß wir die Erfolge fortsetzen. gesichert wird.
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der F.D.P.) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Sie haben Fördermittel hineingepumpt, die jede gut
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- funktionierende Westverwaltung nicht verlustfrei
lege Werner Schulz. hätte ausgeben können.
Es kommt hinzu, daß die ostdeutschen Verwaltun-
Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen noch nicht standen. Ich könnte Ihnen reihen-
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! weise aus unserer Kritik zum Einigungsvertrag zitie-
Herr Ministerpräsident Vogel, es ist zweifellos rich- ren. Es gab noch keine Verwaltungen. Sie hatten
tig, daß wir diese Diskussion möglichst schnell been- nicht den Mut, die westdeutschen Beamten, die nor-
den müssen, weil sie tatsächlich niemandem nützt malerweise dienstverpflichtet sind, in den Osten zu
und dem komplizierten Prozeß des Zusammenwach- schicken und zu sagen: Paßt auf, daß die Gelder rich-
sens eher schadet. Ich hoffe nur, daß Sie diese Er- tig verwendet werden usw.
kenntnis demnächst auch Ihrem Kollegen in Mün-
chen mitteilen werden. Denn es hört sich schon et- Es ist also eine Debatte zur Unzeit und im falschen
was verzwickt an, wenn sich Herr Stoiber aus Amigo Tonfall. Sie wird mit fragwürdigen, scheinheiligen
land in der obersten Tonlage der Betroffenheit wie Argumenten und falschen Zahlen geführt. Wir laufen
der Ehrenvorsitzende des Bundes der Steuerzahler Gefahr, daß der Prozeß der Vereinigung in eine Neid-
über Steuerverschwendung beschwert. kampagne ausartet, daß im Osten womöglich ein fi-
nanzielles Schlaraffenland ausgebrochen ist, in dem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die frischen Banknoten den Leuten nur so in die lee-
und bei der SPD) ren Taschen flattern.
1390 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Werner Schulz (Berlin)


Wir sprechen hier eigentlich, Herr Rexrodt, wenn Wir sind der Meinung, daß die Förderung für die
ich Ihren Redebeitrag richtig verstanden habe, über neuen Länder nicht beendet werden darf. Herr Glos,
die Verschwendung öffentlicher Gelder. Ich muß zumindest darin sind wir uns auch einig.
ehrlich sagen, es ist schon ein Skandal, welche Hal-
(Michael Glos [CDU/CSU]: Sie reden doch
tung Sie hierzu einnehmen. Sie sagen: Wo es Sub-
unter Ihrem Niveau!)
ventionen gibt, gibt es Mißbrauch. - Als seien Sie der
Peanuts-Beauftragte der Deutschen Bank und nicht Es verwundert mich schon, daß der Finanzminister,
etwa der deutsche Wirtschaftsminister, bevor ein Prüfungsbeleg überhaupt da ist, schon
weiß, daß die Förderung zurückgeschraubt werden
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ muß. Im Grunde genommen ist sie damit schon ad
DIE GRÜNEN und bei der SPD) acta gelegt. Ich glaube, wir müssen genau hinsehen,
was gebraucht wird und wo Mittel unzweckmäßig
als sei es irgendwie ein ehernes Naturgesetz der So-
verwendet worden sind. Wir müssen vor allen Din-
zialen Marktwirtschaft, daß die Subventionen so ne-
gen das Förderchaos entzerren, das Sie mit den
benbei irgendwo versickern. Das sind doch Um-
700 Einzelfördermaßnahmen angerichtet haben, bei
stände, an denen sich ganze Generationen von Wirt-
denen keiner mehr durchsieht und sich eigentlich
schaftsministern Ihrer Partei abgearbeitet haben; sie
nur noch die Wirtschaftsberater das Geld in die ei-
haben gesagt: Wir müssen alle Subventionen auf den
gene Tasche holen.
Prüfstand stellen, es muß eine Ziel- und Ergebnis-
kontrolle und eine Befristung von Subventionen ge-
ben. - Nun machen Sie mal, als daß Sie immerzu nur Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schulz, ge-
Altbekanntes feststellen! Das kann doch wirklich statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hin-
nicht wahr sein. sken?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sowie bei Abgeordneten der SPD) NEN): Ja.
Ich finde auch das Herangehen des Ministerpräsi-
denten Stolpe nicht in Ordnung, der nach dem Motto Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Schulz,
handelt: Ich werde prüfen lassen, ob ich den „Spie- wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der
gel" vor Gericht ziehen kann. - Ich glaube, er sollte bayerische Ministerpräsident vorgestern im „Heute
einmal prüfen, ob die Vorwürfe stimmen, und nicht Journal" folgendes erklärt hat:
nebenbei eine offene Rechnung präsentieren.
Ich glaube, daß diese Zahlen
(Beifall des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] - von denen auch Sie eben gesprochen haben -
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
so nicht stimmen . . .
Bei Ihnen, Herr Vogel, hätte ich mir gewünscht,
Er fügt hinzu:
daß Sie über die fehlenden Berichte des Landesrech-
nungshofs von 1992 und 1993 reden, als - daß Sie sa- Ich muß im übrigen auch deutlich machen, es hat
gen: Ja Gott, das ist nun einmal so, da weiß ich nicht, keinen Sinn, jetzt in die Vergangenheit hineinzu-
ich bin zwar der Landesvater, aber was hat man da recherchieren, sondern wichtig ist, daß wir die
für Pflichten? Mittel zielgenauer und effizienter in der Zukunft
einsetzen . . .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) (Ernst Schwanhold [SPD]: Nachdem er die
Lunte gezündet hat, schüttet er einen Eimer
Ich glaube, Sie haben ,die Pflicht, das zu kontrollie- Wasser drauf!)
ren, Sie haben die Pflicht, daß Ihr Rechnungshof
Wenn bestimmte Mittel fehlgeleitet worden sind,
funktioniert, gut ausgestattet ist und sich nicht mit
dann darf das nicht dazu führen, daß hier jetzt ge-
Personalquerelen aufhält.
nerell Transferleistungen in Frage gestellt wer-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den. Das wäre verheerend für unsere Entwick-
und bei der SPD) lung.
Er fügt hinzu - ich greife das heraus -:
Vor allen Dingen stört uns das Doppelpaßspiel, das
aus Bayern kommt, daß der eine den Solidarbeitrag 60 Milliarden Fehlleitung halte ich für maßlos
einführt und sich der andere über dessen Erhebung übertrieben . . .
beklagt.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen und auch
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu würdigen, was er damit zu dieser Themenstellung
und bei der SPD) in der Öffentlichkeit gesagt hat?
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das sind Dinge, die diese mißliche Diskussion eher
anheizen.
Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Michael Glos [CDU/CSU]: Reden Sie doch NEN): Herr Kollege Hinsken, ich bin bereit, zur
keinen Unsinn!) Kenntnis zu nehmen, daß der bayerische Minister-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1391

Werner Schulz (Berlin)


präsident ein großes Eigenbedürfnis hat, daß nicht in der anderen Parteien, die sich auf der linken Seite
der Vergangenheit geforscht wird. befinden, dergestalt geäußert habe, daß ich entschie-
den zurückweise, daß der bayerische Ministerpräsi-
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ dent in dieser Angelegenheit als „Brandstifter be-
DIE GRÜNEN und bei der SPD) zeichnet wird?
Das kann ich sehr wohl bestätigen. Im übrigen erfüllt
(Lachen und Zurufe von der SPD und dem
es mich mit Freude, daß er zur Vernunft gekommen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Joseph Fi
ist und der Meinung ist, daß die Fördermittel weiter-
scher [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
gewährt werden sollen. Das ist der Abschluß auch
NEN]: Das ist ja unglaublich! Wo kommen
meiner Rede, weil ich nämlich - -
wir denn da hin?)

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schulz,


auch Kollege Schwanhold möchte gern eine Zwi- Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schenfrage stellen. NEN): Herr Kollege I Zinsken, ich muß ehrlich sagen:
Ich stehe hier etwas fassungslos am Rande; denn das
ist ja kein Doppelpaß, das ist schon ein gelungenes
Ernst Schwanhold (SPD): Herr Kollege Schulz, Dreierpaßspiel - wenn ich die Hilfestellung, die Ih-
würden Sie so weit gehen wie der Kollege Hinsken, nen der Herr Präsident gegeben hat, noch einbe-
der gestern im Wirtschaftsaussschuß den bayeri- ziehe -, mit dem kompletten Abschluß eines Eigen-
schen Ministerpräsidenten einen „Brandstifter" ge- tores.
nannt hat?
(Lachen und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE
(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND
GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)
NIS 90/DIE GRÜNEN - Joseph Fischer
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich möchte dennoch ganz gerne zum Ende meiner
Wie bitte? Das ist ja unglaublich!) Rede kommen. Ich meine, wir brauchen die Fortset-
- Er hat ihn in dieser Frage einen Brandstifter ge-
zung der Förderung, um die gewerbliche Wirtschaft
im Osten zu stärken, um dauerhafte Arbeitsplätze
nannt,
einzurichten, um die ökologische Erneuerung und
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aber Herr die Sanierung der Altlasten voranzubringen. Und
1Iinsken!) denken Sie vor allen Dingen an das Versprechen der
Angleichung der Lebensverhältnisse; das steht nach
ohne daß irgend jemand diesen Vorwurf an den wie vor aus. Nebenbei sind da noch einige kulturhi-
bayerischen Ministerpräsidenten erhoben hat. Wür- storische Denkmäler, die uns jetzt gemeinsam gehö-
den auch Sie mit Ihren Vorwürfen so weit gehen?
ren, in Ordnung zu bringen und und und .

Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
NEN): Offensichtlich ist sein Brandruf in München (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
angekommen. Der bayerische Ministerpräsident
- hat und bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sich offenbar sofort korrigiert, und Herr Hinsken hat der PDS)
uns heute informiert, daß das, was gestern gesagt
wurde, heute nicht mehr gilt.
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schulz, mir
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS
liegt schon daran, Ihnen noch einmal darzulegen,
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
daß es die Pflicht jedes amtierenden Präsidenten ist,
Ich bin zufrieden, daß das so ist. den Redner zu unterbrechen, wenn ein Kollege auf-
steht und sich zu Wort meldet, und zu fragen, ob er
die Frage zuläßt.
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schulz,
das ist für mich jetzt ein bißchen schwierig. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Ich habe sogar versucht, das noch ein bißchen ab-
DIE GRÜNEN]: Das kann ich mir denken!) zuschwächen; denn wir waren schon sehr weit gera-
- Nein, nein, rein geschäftsordnungsmäßig. Der Kol- ten.
lege Hinsken könnte sich noch einmal um eine Frage (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
bemühen. Da er dies tut, frage ich den Kollegen DIE GRÜNEN]: Aber wir wollen festhalten:
Schulz, ob er sie zuläßt. Es wird hier nicht gerügt, den bayerischen
Ministerpräsidenten als Brandstifter zu be
Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zeichnen!)
NEN): Bitte.
Daß es in diesem H ause höchst unüblich ist, eine Äu-
ßerung aus Ausschußsitzungen in einer Zwischen-
Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Schulz, frage gegen einen Kollegen zu verwenden, steht auf
sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das, einem anderen Blatt.
was der Kollege Schwanhold gesagt hat, nicht
stimmt, sondern daß ich mich auf Grund der Einlas- Ich erteile dem Kollegen Dr. Otto Graf Lambsdorff
sung verschiedener Kollegen seitens der SPD und das Wort.
1392 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Präsident! keit, die soziale Absicherung der von Arbeitslosigkeit
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! In der Betroffenen und der Rentner wären ohne westliche
„Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" vom Diens- Hilfe nicht machbar gewesen. Das wäre unzumutbar
tag sah man eine Karikatur, die zeigt, welcher für die betroffenen Menschen und ein Pulverfaß für
Sprengstoff in dieser Debatte liegen kann. Da sitzt uns alle geworden.
ein Ossi, der auf der Fiedel spielt. Der reiche Wessi
Herr Kollege Schily, ich muß sagen: Ich finde es,
wirft Markstücke in den vor ihm stehenden Hut, die
gelinde gesagt, reichlich geschmacklos, die Austei-
in ein Loch im Boden fallen.
lung von Subventionen und die Zurverfügungstel-
Da wird das Vorurteil geschürt, daß im Westen ge- lung von Fördermitteln in Ostdeutschland mit dem
schröpft wird, das Geld aber im Osten versickert. Das Vorgang des Werfens von Kamellen unter das Volk
ist falsch. Ostdeutschland ist der Wachstumspol in im Karneval zu vergleichen.
Europa. Seine Städte und Dörfer sind im Vergleich
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
zum Jahre 1990 kaum noch wiederzuerkennen.
Das ist - es tut mir leid - dieselbe Haltung gegenüber
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist richtig!)
den Menschen in Ostdeutschland, die Sie am Abend
Da wird das Vorurteil geschürt, daß Ostdeutsche des 2. Dezember 1990 mit der Banane vor der Fern-
nichts tun. Das ist falsch. Die Menschen in den sehkamera gezeigt haben.
neuen Bundesländern haben viele Klärten der Um-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
strukturierung zu tragen. Sie tragen sie geduldig.
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [F.D.P.]: Typi
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) che Arroganz! Menschenverachtung!)
Sie zahlen Steuern. Herr Ministerpräsident Vogel hat Meine Damen und Herren, in der kurzen Zeit nach
es zu Recht erwähnt: Sie zahlen auch den Solidarbei- der Wiedervereinigung war es im Interesse Gesamt-
trag, alles entsprechend ihrer Leistungskraft. deutschlands, den Aufbau der Infrastruktur mög-
lichst rasch voranzubringen, neue wettbewerbsfä-
Andererseits, meine Damen und Herren, warne ich hige Arbeitsplätze zu schaffen, zu zeigen, daß es jen-
davor, zu behaupten, daß es bei den Transfers nach seits von Zusammenbruch und Mißwirtschaft eine
Ostdeutschland keine Mitnahme, keine Fehlleitung, bessere Perspektive für die Menschen gibt. Ohne
keinen Mißbrauch und auch keine Kriminalität gege- Förderung der Kommunen gäbe es die Handwerks-
ben hat. Der Bundeswirtschaftsminister hat doch betriebe in den neuen Bundesländern nicht. Ich will
recht, Herr Schulz: Alle Erfahrung macht uns völlig gerne bestätigen, daß wir hier an dieser Stelle - ich
klar - wir laufen doch nicht blauäugig durch die Ge- für meine Fraktion - mehrfach vorgeschlagen haben:
gend -, daß Fehlleitung und Mißbrauch von Subven- Gebt ein paar weniger ABM-Mittel, und gebt ein biß-
tionen niemals voll vermeidbar sind. Deswegen ist chen mehr direkte Investitionsmittel in die Kommu-
das aber nicht etwa ein Naturgesetz der Sozialen nen, damit die Handwerksbetriebe Aufträge bekom-
Marktwirtschaft. Das Naturgesetz der Sozialen men und leben können!
Marktwirtschaft würde vielmehr heißen: Es gibt
keine Subventionen, wir brauchen keine. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
-s
(Beifall bei der F.D.P.) Wer damals auf den Aufbau einer leistungsfähigen
Bürokratie, der Rechnungshöfe und der Verwal-
Aber das können wir wohl nicht in Ostdeutschland tungsverfahren gewartet hätte, der hätte unvorstell-
anwenden. baren menschlichen und politischen Schaden in Kauf
Fehlleitung und Mißbrauch sind schon gar nicht genommen. Wir alle wußten, daß Fehlleitung und
voll vermeidbar, wenn Subventionen in einem sol- Mißbrauch von Geldern, wie sie auch im Westen vor-
chen Umfang, in einer solchen Höhe und unter sol- kommen, in der ersten Zeit nach der Wiedervereini-
chem Zeitdruck gewährt werden, wie wir es nach gung noch stärker auftreten würden. Wir haben sie
1990 und 1991 getan haben und tun mußten. Ich will in Kauf genommen. Es gab keine Blaupause für den
gar nicht die vielen Beispiele, die Herr Rexrodt er- Aufschwung Ost. Alte Kader, unerfahrene Ostdeut-
wähnt hat, wiederholen, was es auch für Mißbräuche sche, wohlmeinende West- und Ostdeutsche, Abzok-
ohne solchen Zeitdruck unter sogenannten normalen ker, all das war die Mischung des Jahres 1990 und
Umständen gegeben hat: von Europa über die Bun- folgende.
desrepublik und die Länderebene bis hin zu den Herr Schulz meinte, wir hätten westdeutsche Kon-
Kommunen. trolleure schicken sollen. Sie müßten eigentlich bes-
In einigen Bereichen ist sicher die falsche Mittel- ser wissen, Herr Schulz, wie die Atmosphäre war.
verwendung in den neuen Bundesländern sichtbar: Einfach Beamte schicken, unerbeten, unerwünscht
bei überdimensionierten Handelsflächen auf der grü- und ungefragt? In Brandenburg hieß es und heißt es
nen Wiese, bei riesigen Kläranlagen und bei leeren doch: Sie kommen aus NRW mit der Devise: NRW
Gewerbegebieten. Aber gibt es die nicht oft genug steht für „Nun regieren wir". Vorsicht!
auch in Westdeutschland? Ich will hier ausdrücklich bestätigen: Die F.D.P. hat
sich 1991 für mehr und schnellere Investitionen ein-
(Rolf Schwanitz [SPD]: Aber nicht so viele!)
gesetzt. Wir waren und wir sind für verkürzte Ge-
Das ist doch alles nur die halbe Wahrheit. Der Auf- nehmigungs- und Planungsverfahren. H err Minister-
schwung, den wir jetzt in Ostdeutschland beobach- präsident Vogel, Sie haben da völlig recht. Ich habe
ten, die ersten Ansätze zum Abbau der Arbeitslosig- mehrfach vorgeschlagen - auch von dieser Stelle im
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1393
Dr. Otto Graf Lambsdorff
I Deutschen Bundestag -, Angehörige des öffentlichen städten auf der anderen Seite überhaupt nichts zu
Dienstes von der Haftung für eventuelle fehlerhafte tun.
Investitions- und Vermögensentscheidungen - außer
im Fall des Vorsatzes - freizustellen. (Widerspruch bei der SPD und der PDS -
Wolfgang Thierse [SPD]: Das ist doch blan
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) ker Unsinn! Sie haben keine Ahnung von
den Realitäten in den ostdeutschen Städten!
- Gegenruf von der F.D.P.: Herr Thierse, sa
Haben wir nicht die Kommunen kritisiert, die man-
gen Sie das doch nicht wider besseres Wis
gels geeigneter Investitionsprojekte Fördermittel auf
Konten geparkt hatten? Herr Vogel hat erwähnt, daß sen!)
auch die Länder für das Nichtabrufen von Geld kriti- Meine Damen und Herren, die Verwaltungen in
siert worden sind. Alles, meine Damen und Herren, den Ländern und Kommunen in Ostdeutschland sind
doch wohl im Interesse der Beschleunigung der Inve- jetzt weitgehend aufgebaut. Die Verwaltungsverfah-
stitionstätigkeit, alles im Interesse neuer Arbeits- ren sind seit fünf Jahren eingeübt; die Rechnungs-
plätze! höfe arbeiten. Ministerpräsident Biedenkopf hat das
im Bundestag in der letzten Woche ausdrücklich be-
So verständlich die Probleme der korrekten Mittel- stätigt.
verwendung in der Zeit nach der deutschen Vereini-
gung waren, so falsch wäre es allerdings, Fehlleitung Jetzt muß man sich eine klare Übersicht darüber
und Mißbrauch von Geldern auch noch heute blanko verschaffen, was sich in den fünf neuen Bundeslän-
zu entschuldigen. dern ereignet hat. Dazu müssen der Bundesfinanzmi-
nister und auch der Bundeswirtschaftsminister nicht
gesondert aufgefordert werden; das versteht sich von
selbst.
Vizepräsident Hans Klein: Graf Lambsdorff, die
Kollegin Matthäus-Maier würde Ihnen gerne eine Man kann Entscheidungen natürlich nicht auf Zei-
Zwischenfrage stellen. tungsberichte gründen. Der Fokus unserer Debatte
sollte nicht darin liegen, daß wir Tango vor dem Spie-
gel tanzen.
Dr. O tt o Graf Lambsdorff (F.D.P.): Bitte sehr. (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. sowie
bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ingrid Matthäus Maier (SPD): Herr Kollege Lambs-


-
Bundesfinanzminister Waigel wird zusammen mit
dorff, da Sie mehrfach darauf hingewiesen haben, den neuen Bundesländern und den Rechnungshöfen
prüfen. Kriminalität wird von der Staatsanwaltschaft
was Sie gefordert hatten: Darf ich Sie darauf hinwei-
verfolgt werden. Fehlgeleitete und falsch verwen-
sen, und wollen Sie mir nicht ein bißchen recht ge-
dete Subventionsmittel müssen zurückgefordert wer-
ben, daß es gerade die F.D.P. und Sie ganz persönlich
- Bau von den.
waren, die zu dem überdimensionierten
Grüne-Wiese-Läden draußen vor den Städten mit Wichtiger ist es aber doch wohl, für die Zukunft die
beigetragen haben, indem Sie das Prinzip Rückgabe notwendigen Lehren zu ziehen. Systematisch falsche
vor Entschädigung mit der Folge durchgesetzt ha- Anreize - z. B. in der Honorarordnung für Architek-
ben, daß wegen langjähriger Auseinandersetzungen ten die Entlohnung nach der Größe des Projektes
in den Innenstädten die Einzelhändler zuwenig un- und nicht nach der Wirtschaftlichkeit - sollten doch
terstützt werden konnten, so daß sie nicht auf die wohl überdacht und wahrscheinlich beseitigt wer-
Beine kommen konnten? d en.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN wie bei Abgeordneten der SPD)
und der PDS - Zuruf von der F.D.P.: Ein Un
sinn ist das!) Die beste Art, den Mißbrauch öffentlicher Mittel
abzustellen, ist die Privatisierung öffentlicher Lei-
stungen.

Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Meine Damen (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
und Herren, es wäre mir nichts lieber, Frau
Matthäus, als Ihnen endlich mal ein wenig recht ge- Warum haben sich die neuen Bundesländer lange,
ben zu können - worum Sie mich gebeten haben. Ich zum Teil bis heute gewehrt, Wasserbereitung und
bin dazu leider nicht in der Lage. Abwasserbeseitigung, Müllabfuhr und Energiever-
sorgung Privaten zu überlassen?
(Zuruf von der SPD: Uneinsichtig!) Die in der Koalitionsvereinbarung festgelegte Ver-
besserung der Übersichtlichkeit und Vereinfachung
Das Thema „Rückgabe vor Entschädigung oder der Förderung für die neuen Bundesländer muß und
umgekehrt" hat mit der Frage der Ausdehnung von wird mit Nachdruck vorangebracht werden. Die För-
Flächen auf der grünen Wiese auf der einen Seite derung muß regional auf Problemgebiete konzen-
und mit der Frage der Gewerbeflächen in den Innen- triert werden.
1394 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dr. Otto Graf Lambsdorff


Ich habe in der letzten Woche im Bundestag in der Allen Steuerzahlern sind wir höhere Effektivität
Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht für die F.D.P.- beim Mitteleinsatz schuldig. Das hat der Bundeswirt-
Fraktion angeregt, die Transferleistungen in die schaftsminister richtig vorgetragen, und wer hier im
neuen Bundesländer degressiv zu gestalten. Die Lei- Hause wollte das bestreiten? Aber die heutige De-
stungen müssen fortgesetzt werden, aber sie müssen batte sollte doch nach Möglichkeit ein Beitrag dazu
im Laufe der Zeit auch schrittweise abnehmen. sein, daß Deutschland über alle Gräben hinweg,
auch wenn es um ärgerliche Probleme geht, weiter
Ministerpräsident Biedenkopf hat dazu gesagt: Die zusammenwächst und nicht weiter auseinanderdrif-
Mittel nehmen automatisch ab, wenn die Steuerkraft tet.
der neuen Bundesländer zunimmt. - Kann es aber
sein oder dabei bleiben, daß der Zuwendungsgeber Zum Wahlkampf, zur einseitigen Profilierung, zur
in vollem Umfang vom Verhalten des Zuwendungs- Schuldzuweisung, zur parteipolitischen Polemik ist
empfängers abhängt? Diese Forderung nach Degres- dieses Thema denkbar ungeeignet.
sion gilt nicht nur für Subventionen im Osten, son-
dern sie gilt auch für den Westen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
Zurufe von der SPD)
Meine Damen und Herren, die heutige Debatte
kann gefährlich sein, weil sie neue Gräben zwischen Die Vergangenheit aufklären, aus Fehlern lernen,
Ost und West aufreißen kann, weil sie den Steuer- die Zukunft besser gestalten - das sind in den Augen
zahler in Ost und West, der zu Recht mit großem Un- meiner Fraktion die nötigen Konsequenzen. Aber
mut die hohe steuerliche Belastung beklagt, in seiner den Erfolg des Wiedervereinigungsprozesses lassen
Staatsverdrossenheit stärken könnte, weil sie uns wir uns durch solche Ereignisse, durch solche Debat-
verleiten kann, mit neuer Kontrolle und noch mehr ten und durch solche Kritik nicht Wegreden.
Bürokratie statt mit grundlegender Vereinfachung Wir werden weiter beharrlich daran arbeiten, daß
und besserer Übersichtlichkeit und dadurch mit we- eines Tages keine Subventionen mehr notwendig
niger Staat zu antworten. sind, daß es den selbsttragenden Aufschwung in den
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) neuen Bundesländern gibt und daß unsere Lands-
leute in Ostdeutschland vom Tropf der Subventionen
Die heutige Debatte kann aber auch nützlich sein, wegkommen. Genau das wollen sie nämlich: Sie wol-
weil sie die Risiken aller staatlichen Fördermaßnah- len nicht von uns abhängig bleiben, sie arbeiten da-
men offenlegt, weil sie deutlich werden läßt, daß För- für, daß sie das schaffen. Dabei müssen und werden
derung einer Region immer die gewollte Benachteili- wir ihnen helfen.
gung anderer Regionen einschließt.
Ich bedanke mich.
(Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD])
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
- Herr Kollege Tauss, Sie sind ja neu hier - Ihre Zwi-
schenrufe sind auch neu. Aber ich muß schon sagen:
Sie sind so kleinkariert - auf Pepita kann man nicht Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat der
-

Schach spielen. Kollege Dr. Gregor Gysi (PDS).


-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Dr. Gregor Gysi (PDS): Herr Präsident! Meine Da-
Meine Damen und Herren, die heutige Debatte men und Herren! Die gegenwärtige Diskussion
kann auch nützlich sein, weil sie demonstriert - und macht strukturelle Mängel in der Wirtschafts- und Fi-
das hat Bedeutung über Deutschland hinaus -, wie nanzpolitik seit 1990 deutlich, übrigens Mängel, die
wichtig eine funktionierende Verwaltung für eine wir von Anfang an kritisiert haben. Einer dieser
funktionierende Marktwirtschaft ist. Das ist ein Pro- Punkte ist, daß die Einheit im wesentlichen immer als
blem der mittel- und osteuropäischen Staaten. eine finanzpolitische Aufgabe gesehen wurde, ob-
wohl ganz andere Aufgaben einen wesentlich hö-
(Vorsitz: Vizepräsident Hans-Ulrich Klose)
heren Stellenwert hätten haben müssen, insbeson-
Die Bundesregierung, aber auch die Regierungen dere die Wirtschafts-, Struktur- und Investitionspoli-
in den neuen Bundesländern sind gefordert, die Sub- tik.
ventionen zu überprüfen, sie zu straffen, ihre Effi-
Ich komme auf eine Kritik zurück, die, so glaube
zienz zu steigern. Ziehen wir doch über diesen Anlaß
ich, sogar von der F.D.P. geteilt wurde, nämlich daß
hinaus endlich die Konsequenz, daß staatliche Sub-
die Treuhandanstalt eigentlich dem Bundeswirt-
ventionen von vornherein zeitlich begrenzt und de-
schaftsminister hätte unterstellt werden müssen und
gressiv gestaltet werden! Wir werden sie sonst ohne
nicht dem Bundesfinanzminister, wenn man eine sol-
politische Kraftanstrengungen nie wieder los. Die
che Einrichtung als eine wirtschaftspolitische und
derzeitige Kohle-Diskussion ist ein Musterbeispiel
nicht als eine finanzpolitische Aufgabe begreift -
dafür.
Dinge, die wir noch heute ziemlich teuer bezahlen.
Solidarität und Hilfe zur Selbsthilfe sind für Ost-
Deshalb wundert mich auch eine Art Arbeitstei-
deutschland weiterhin nötig. Herr Ministerpräsident,
lung. Der Bundesfinanzminister zieht alle Kompeten-
die F.D.P.-Fraktion bestreitet das, was Sie dazu ge-
zen an sich, angefangen mit der Treuhandanstalt; er
sagt haben, mit keiner Silbe.
ist für alles zuständig, auch bei den Fördermitteln.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Und immer, wenn etwas schiefgeht - ob Bischoffe-
ten der CDU/CSU) r ode oder, wie jetzt, die Verwendung von Fördermit-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1395
Dr. Gregor Gysi
teln -, muß der Wirtschaftsminister versuchen, das zu Aber es geht übrigens nicht nur um den Großflug-
tragen. Ich verstehe gar nicht, Herr Rexrodt, warum hafen; er war auch noch für andere Projekte verant-
Sie sich das bieten lassen. Lassen Sie doch zu, daß wortlich, z. B. für die Rhein-Main-Donau AG. Was da
Herr Waigel endlich einmal die Verantwortung für an Milliarden verschlampt worden ist, ist ungeheuer-
das übernimmt, was er in dieser Republik so anrich- lich,
tet!
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben doch
(Beifall bei der PDS) keine Ahnung, wovon Sie sprechen! - Wei
terer Zuruf von der CDU/CSU: Sind Sie
Ich sage Ihnen, welche weiteren Mängel es gab. schon einmal mit dem Schiff gefahren?)
Sie sagen, das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung
allein schon, weil der Kanal bis heute nicht ausgela-
habe mit all dem nichts zu tun. Graf Lambsdorff, das
stet ist. An ihm wird immer weitergebaut und weiter-
können Sie doch nicht im Ernst meinen. Wenn eine
gebaut, und keiner fragt nach den Geldern.
Vielzahl von Grundstücken überhaupt nicht genutzt
werden kann, weil Rückgabeansprüche geltend ge- Deshalb sollte Herr von Waldenfels eigentlich nicht
macht werden, dann lenkt das natürlich Investitionen mit Steinen werfen. Er persönlich ist für diese Auf-
auf die außerhalb gelegenen Wiesen, wo so etwas gabe ungeeignet.
noch möglich ist. Das ist doch ganz klar. Sie haben
doch auch gewußt, daß das die Folge dieses Prinzips (Beifall bei der PDS)
ist. Nun erdreistet er sich noch - das muß ich einfach
einmal so sagen - und sagt, das Stärkste an all dem
(Beifall bei der PDS)
sei, daß die Gauner, die Verbrecher von gestern, die
Sie haben zugelassen, daß das Fachwissen in Ost- SED,
deutschland praktisch ungenutzt blieb, sowohl das (Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser:
von Fachleuten als auch das von Betriebsräten und in Richtig!)
vielen anderen Bereichen.
die PDS - das verwendet er übrigens alles unter dem
Ich sage Ihnen: Die Ostdeutschen haben von ei- Begriff „Kultur" - in den Ländern dort drüben noch
nem wirklich die Nase voll, nämlich davon, daß der in der ersten Reihe sitzen und die Gelder, die aus den
Wahlkampf im Westen regelmäßig dann, wenn Land- alten Ländern hinübertransferiert werden, praktisch
tagswahlen anstehen, auf ihre Kosten geführt wird. nach eigenem Gutdünken ausgeben. Dazu sage ich:
Das ist wirklich ein starkes Stück. Wenn die dortigen
(Beifall bei der PDS) Landesregierungen, die mit Ausnahme von Branden-
burg alle CDU-geführt sind, es immer noch nicht ge-
Das passiert jetzt jedesmal, ob in Hessen oder wo schafft haben, die PDS-Kader aus der ersten Reihe zu
auch immer eine Wahl ansteht. verdrängen, dann frage ich mich, was sie eigentlich
in den letzten fünf Jahren gemacht haben.
Natürlich war es ein großer Fehler, in erster Linie
zu privatisieren, statt zu sanieren. Wir -können alle (Beifall bei der PDS)
diese Diskussionen von neuem beleben. All das hat
auch mit der Verwendung der Fördermittel zu tun. Aber ich kann Sie beruhigen: Weder in den Regie-
rungen noch bei den hohen Beamten in den Ministe-
Ich frage mich: Wer hat denn eigentlich die Diskus- rien, noch in den Landesrechnungshöfen der neuen
sion ausgelöst? Ein Beitrag in der Zeitung? Mein Bundesländer finden Sie PDS-Mitglieder. Da ist in
Gott, es gab schon so viele Beiträge in den verschie- jeder Hinsicht aufgeräumt worden. Sie können uns ja
densten Nachrichtenmagazinen! Es waren doch ein- die ganze Vergangenheit anrechnen. Aber das, was
deutig die CSU und die bayerische Landesregierung, die von Ihnen gestellten Landesregierungen in den
die danach mit einem Donnerwetter loslegten, ganz letzten fünf Jahren getan haben, auch noch der PDS
eindeutig gegen Ostdeutschland gerichtet, um eine aufzuhalsen - das geht einfach ein Stück zu weit.
ganz bestimmte Stimmung zu schüren. Übernehmen Sie für die Politik, die Sie betreiben, die
Verantwortung! Das tut Herr von Waldenfels eindeu-
Sehen Sie sich doch einmal an, was der bayerische tig nicht.
Finanzminister Georg von Waldenfels dazu so alles
(Beifall hei der PDS - Zuruf von der CDU/
erklärt hat. Übrigens: Der redet von Verschwendung!
Das ist besonders bemerkenswert, weil er z. B. als CSU: Ohne die SED hätten wir blühende
Landschaften schon vor 30 Jahren gehabt!)
Aufsichtsratsvorsitzender der Flughafen München
GmbH in hohem Maße Verantwortung trug. Viel- - Das ist ja etwas ganz anderes. Es handelt sich nicht
leicht erinnert sich der eine oder andere daran, wie um eine Diskussion über die Vergangenheit. Er sagt
viele Milliarden dort schon dadurch verschlampt ja, jetzt würden wir angeblich diese Fördermittel aus-
worden sind, daß man erst nach dem Bau festgestellt geben. Das ist nun wirklich in jeder Hinsicht Blöd-
hat, daß der Anschluß an den öffentlichen Verkehr sinn ; das wissen auch Sie. Aber man kann es natür-
fehlt. lich immer wieder versuchen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Sprechen Sie Es steckt Methode dahinter - Graf Lambsdorff hat
doch einmal von den SED-Altschulden!) es zu Recht richtiggestellt -, in den alten Bundeslän-
dern immer so zu tun, als oh der Solidarzuschlag nur
- Ich komme darauf noch zurück. von den Bürgern in den alten Bundesländern aufge-
1396 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dr. Gregor Gysi


bracht würde. Ich behaupte: Die große Mehrheit der ich muß nur darauf hinweisen, daß der entspre-
Bevölkerung weiß gar nicht, daß auch die Menschen chende Antrag im Landtag mit den Stimmen von
in den neuen Bundesländern den Solidarzuschlag in CDU und SPD, die ja da in einer großen Koalition
Abhängigkeit von ihrem Einkommen aufbringen. Es sind, zurückgewiesen wurde.
wird immer so dargestellt, als sei das eine einseitige
Leistung, obwohl das überhaupt nicht stimmt. (Zuruf von der SPD)
- Das ist einfach so. Das kommt davon: Wenn man
Natürlich sind Fördermittel auch vergeudet wor-
sich in bestimmte Beziehungen begibt, kommt man
den, ganz sicherlich. Hier ist schon vieles, auch zur
eben nicht wieder heraus.
Vergeudung, gesagt worden. Das ist jetzt gar nicht
mein Thema. Mein Thema ist ein anderes: Es ist doch (Zurufe von der CDU/CSU: Sie sind ja noch
wahr, daß die meisten Fördermittel, die in den Osten drin! - Erzählen Sie mal etwas über Ihre Be
geflossen sind, wieder in den Westen zurückgekom- ziehungen!)
men sind. Das können Sie nicht im Ernst leugnen.
Welche Betriebe haben denn die Aufträge von Län- - Das ist doch wahr. Das gilt für alle und dann auch
dern und Kommunen bekommen? Das waren in aller für uns.
Regel westdeutsche Unternehmen. (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Herr
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wer bestreitet Gysi, Sie haben das Gegenteil meisterhaft
das?) bewiesen!)

- Lesen Sie doch einmal die Interviews; nie wird das Noch einen Punkt will ich ansprechen. Unsere Ab-
gesagt. Sie können es auch durch Unterlassen be- geordnetengruppe war ja relativ fleißig, was Kleine
streiten, indem Sie auf diese Tatsache nicht hinwei- Anfragen betrifft.
sen. (Zuruf von der CDU/CSU: Quantität vor
Ich sage Ihnen ein Beispiel. Die Kali und Salz AG Qualität!)
hat über eine Milliarde DM dafür bekommen, daß sie Gerade z. B. zu der Frage des Aufbaus der Steuerver-
Bischofferode und andere Gruben im Osten ge- waltung und dazu, wie das Ganze vor sich geht und
schlossen hat. So sind die Fördermittel auf dem Weg wie z. B. Fördermittel verwendet werden, haben wir
über den Osten nach Westen geflossen, immer wieder Kleine Anfragen an die Bundesregie-
rung gerichtet. Sie können ja einmal die entspre-
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne
chenden Antworten aus den Jahren 1994 und 1993
ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
nachlesen. Dann werden Sie feststellen, daß die Bun-
GRÜNEN)
desregierung immer der Auffassung war, daß im we-
und zwar ohne zu zögern. Dafür gibt es ganz viele sentlichen alles in Ordnung sei und wunderbar laufe.
Beispiele. Das heißt, sie ist natürlich ihrer Kontrollpflicht nicht
nachgekommen und hat trotz entsprechender Hin-
(Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat denn die weise darauf, daß es auch erhebliche Mängel gibt,
Betriebe kaputtgemacht?) nicht reagiert.
-
Das wissen auch Sie. Übrigens, die letzte Kleine Anfrage unserer
Gruppe zur Verwendung von Investitionszulagen
Was Thüringen betrifft - auch das ist schon ange-
stammt vom September 1993 und ist vom Finanzmi-
sprochen worden, Herr Ministerpräsident -, muß ich
nisterium im März 1994 dahin gehend beantwortet
das Folgende sagen: Ausschließlich unsere Fraktion
worden, daß nunmehr aber alles in Ordnung sei. Das
hat es abgelehnt, im Landtag über den Haushalt für
heißt, das Bundesfinanzministerium hat die Probleme
das Jahr 1995 zu entscheiden, wenn die Prüfberichte
permanent bagatellisiert.
des Landesrechnungshofes über die Verwendung
der Haushaltsmittel für die Jahre 1992 und 1993 - Ich finde, es ist ein starkes Stück, wenn sich die
von 1994 will ich gar nicht reden - nicht vorliegen. Bundesregierung dann hier hinstellt, die ganze Poli-
Die Fraktion ist sogar zum Bundesverfassungsgericht tik verteidigt, sagt, das dürfe man nicht machen, das
gegangen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich schütte Gräben auf - da ist ja überall etwas dran -,
zwar für nicht zuständig erklärt, hat aber in seinem und die CSU, die an dieser Bundesregierung betei-
Beschluß immerhin hervorgehoben, daß es stimmt, ligt ist, aus Bayern das größte Sperrfeuer in dieser
daß ein Abgeordneter über einen Haushalt eigentlich Richtung auch gegen die Ostdeutschen abschießt.
erst entscheiden kann, wenn er weiß, was in den Das ist einfach unaufrichtig, und das wird auch der
Vorjahren mit den Geldern passiert ist. Der Landes- Grund sein, weshalb sich der Bundesfinanzminister
rechnungshof ist bis heute außerstande, die Berichte hier nicht geäußert hat, denn er ist ja Vorsitzender
vorzulegen. dieser Partei.
(Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel (Zuruf des Abg. Joachim Poß [SPD])
[Thüringen]: Widerspruch!)
- Wissen Sie, Herr Thierse, Ihre Kenntnis der PDS
Das muß Mißtrauen schüren. scheint sehr begrenzt zu sein, wenn Sie sie mit der
CSU vergleichen.
Das führt dazu, Herr Ministerpräsident, daß man
einem solchen Haushalt natürlich nicht zustimmen (Zuruf von der SPD: Das war nicht Herr
kann. - Ich freue mich, daß Sie von der SPD nicken; Thierse!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1397
Dr. Gregor Gysi
- Sie waren das? Dann bitte ich um Entschuldigung, Ich glaube, I lerr Kollege Lambsdorff, daß Selbstge-
Herr Thierse. - Da muß ich Ihnen sagen: Wissen Sie, rechtigkeit da nicht am Platz ist. Es gibt eine Menge
wenn Sie sich an die frühere SED erinnerten und Ih- von Punkten, die man in Rückschau auf die Vergan-
nen dann bei Parteitagen Ähnlichkeiten mit der CSU genheit hier in Frage zu stellen hat.
auffielen, würde ich Ihnen ja zustimmen. Aber bei
der PDS ist das wirklich nicht mehr gegeben. (Beifall bei der SPD)

(Beifall bei Abgeordneten der PDS - Zuruf Ich erinnere beispielsweise an die immer noch im
des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.]) Bundesrat hängende Honorarordnung für Architek-
ten.
Lassen Sie mich als letztes darauf hinweisen, daß
es dringend erforderlich ist, daß wir die Fördermittel (Monika Ganseforth [SPD]: Die ist uralt!)
in den neuen Bundesländern künftig wirklich dafür
Die ostdeutschen Länder beklagen einvernehmlich
einsetzen, daß wir industrielle Kerne erhalten bzw.
und vehement, daß es keinen Sinn macht, die Hono-
dort, wo sie schon nicht mehr erhalten sind, auf-
rare der Architekten an die Investitionssumme des
bauen und daß wir Arbeitsplätze schaffen. Das
Objektes zu binden. Hier gibt es beim Bundeswirt-
Schlimme ist nämlich, daß die Fördermittel benutzt
schaftsminister keine Bewegung. Das ist ein aktuel-
worden sind, um eigentlich nur Aufträge an west-
les Problem, das auf dem Tisch liegt. Das ist kein Ver-
deutsche Unternehmen zu verteilen, und daß die ge-
gangenheitsproblem. Hier kann man sich nicht hin-
samten Struktur- und Wirtschaftsaufgaben in den
stellen und so tun, als habe man immer schon das
neuen Bundesländern damit nicht erfüllt worden
Richtige dazu gesagt und die Probleme schon immer
sind. Es ist sozusagen ein Doppeltransfer organisiert
richtig und exakt formuliert.
worden und kein wirklicher Aufbau im Osten. Sie
werden Dienstleistungseinrichtungen auf Dauer (Beifall bei der SPD - Ingrid Matthäus
nicht erhalten können, wenn Sie keine industriellen Maier [SPD]: Graf Lambsdorff, da hat er
Kerne haben. wirklich recht! Ändern Sie das mal!)

Eines geht nicht, meine Damen und Herren: Die


Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Kollege
-
Bundesregierung kann sich nicht auf die Position des
Gysi, Sie müssen zum Schluß kommen. Sie haben neutralen Beobachters zurückziehen, den Osten kri-
Ihre Zeit deutlich überschritten. tisieren und anschließend den Geldhahn zudrehen!
Es muß heute über Versäumnisse und Verantwort-
lichkeiten dieser Bundesregierung geredet werden.
Dr. Gregor Gysi (PDS): Sie können nicht leugnen,
Wer sich für die Erfolge der Einheit bejubeln läßt,
daß eine Vielzahl auch von Fördermitteln letztlich
muß auch für die dabei gemachten Fehler geradeste-
dazu benutzt wurde, mögliche künftige Konkurrenz
hen.
im Osten erst gar nicht aufkommen zu lassen oder
aber totzumachen. Das hat auch der Treuhand-Un- (Beifall bei der SPD)
tersuchungsausschuß festgestellt, und zu diesem Er-
gebnis müssen Sie sich verhalten. - Ich will drei Punkte nennen:

(Beifall bei der PDS) Erstens. Haben die Bundesregierung und die sie
tragende Koalition schon einmal über den Zusam-
menhang zwischen diesen Fehlentwicklungen im
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat
-
Osten und den offenen Vermögensfragen nachge-
jetzt der Kollege Rolf Schwanitz (SPD). dacht? Die Grundsatzentscheidung Rückgabe vor
Entschädigung hat nicht nur allgemein Rechtsunsi-
Rolf Schwanitz (SPD): Herr Präsident! Meine Da- cherheit und soziale Spannungen erzeugt. Sie ist
auch für diese Fehlentwicklungen in doppelter Hin-
men und Herren! Die im Lande gärende Debatte
sicht mitverantwortlich.
über die Verwendung von Steuergeldern und auch
über deren Verschwendung zum Aufbau Ost geht Frau Matthäus-Maier hat vollkommen recht: Zum
den Menschen im Osten und im Westen unter die einen wurden Investitionen in den Stadtkernen mas-
Haut. Es ist richtig, daß es in den ostdeutschen Län- siv behindert. Das Bauen auf der grünen Wiese, das
dern und Kommunen Versäumnisse gegeben hat. Investieren in Industrie- und Gewerbeparks vor den
Wie groß dieses Versagen war und welche finanziel- Städten mit enormen finanziellen Aufwendungen
len Auswirkungen das hatte, muß aufgedeckt wer- und erheblichen Auslastungsrisiken waren durch
den. diese Grundsatzentscheidung förmlich vorprogram-
miert.
Ich will an dieser Stelle Herrn Kollegen Schulz aus-
drücklich widersprechen. Ich glaube nicht, daß das (Beifall bei der SPD)
eine Debatte zur Unzeit ist. Vor dem Hintergrund,
daß es eine über Monate, vielleicht auch über Jahre, Zum anderen hat der Grundsatz Rückgabe vor Ent-
latent existierende Debatte zwischen den Ostdeut- schädigung natürlich etwas mit dem Personal zu tun.
schen und den Westdeutschen über die Gerechtig- Wer vom Bundesgesetzgeber verdonnert wird, über
keit und über die Berechtigung dieses Transfers gibt, viele Jahre hinweg, Bundes-, Landes- und Kommu-
ist es höchste Zeit, daß diese Debatte auch hier im nalämter zur Abwicklung von Alteigentümerinteres-
Parlament geführt wird. sen und -ansprüchen einzurichten - die überdies
1398 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Rolf Schwanitz
noch bis in das Jahr 2000 hinein damit zu tun haben Hier liegen Verantwortlichkeiten, bei denen nicht
werden -, dem fehlen die Leute für Planung, Verwal- nach Ostdeutschland gezeigt werden kann. Hier lie-
tung und Kontrolle. Daran hat es offensichtlich ge- gen die Verantwortlichkeiten dieser Bundesregie-
mangelt. rung.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Petra
Diejenigen, die diese Grundsatzentscheidung Bläss [PDS])
Rückgabe vor Entschädigung 1990 durchs Parlament
An dieser Stelle sei es mir gestattet, eine Anmer-
gedrückt haben, haben eine Mitschuld an den Miß-
kung zu einem heute morgen von Herrn Rexrodt
ständen, die heute diskutiert werden. Daß gerade
noch einmal erhobenen Vorwurf zu machen. Die Op-
auch die F.D.P., die im letzten Jahr noch stolz war,
position, so war zu hören, habe durch ihre starke For-
1990 das Grundprinzip der Restitution erkämpft zu
derung nach der kommunalen Investitionspauschale
haben, heute am lautesten danach schreit, die Gelder
gerade ein unsicheres Instrument bevorzugt, das be-
für den Osten zu sperren, belegt die unverantwortli-
sonders wenig von Bundes- oder Landesbehörden
che Demagogie, mit der hier agiert wird.
habe kontrolliert werden können. Ich halte diesen
(Beifall bei der SPD - Ingrid Matthäus Vorwurf für falsch. Zunächst wollen wir erst einmal
Maier [SPD]: Rohde, Landtag NRW!) abwarten, bis die Berichte des Bundeswirtschaftsmi-
nisters auf dem Tisch liegen. Wollen wir erst einmal
- Ja, setzen Sie sich doch bitte einmal mit Herrn sehen, über welche Instrumente tatsächlich der mei-
Rohde vom Landtag NRW in Verbindung, der würde ste Mißbrauch getrieben wurde und die größten
den Solidaritätszuschlag am liebsten rückwirkend Fehlinvestitionen gelaufen sind.
zum 1. Januar dieses Jahres rückgängig machen.
Zweite Bemerkung: Natürlich gibt es einen Zusam- Die Fehlentwicklungen vor Ort haben nach meiner
menhang zwischen den Fehlentwicklungen im Osten Meinung auch etwas mit dem allgemeinen Finanz-
und dem pauschalen Überstülpen des bundesdeut- status der ostdeutschen Kommunen zu tun. Wer den
schen Rechts- und Verwaltungssystems. Die kompli- Kommunen keine eigene Finanzausstattung gewährt
zierte Steuergesetzgebung und der Wirrwarr in den und sie gleichzeitig mit einer Vielzahl unterschied-
aufgelegten Förderungssystemen taten ein übriges. lichster Fördertöpfe und zum Teil zweifelhafter För-
derungsrichtlinien konfrontiert, wendet sich gegen
Experten sagen uns, daß es mehrere hundert ver- das eigenverantwortliche Entscheiden der Kommu-
schiedene Förderungsvarianten für Tätigkeiten in nen und erzeugt Strukturen, bei denen die Investitio-
Ostdeutschland gibt, zum Teil mit daumendicken nen nicht mehr nach der größten Dringlichkeit, son-
Anweisungen zur Umsetzung dieser Richtlinien. Wo dern nach der schnellsten Verfügbarkeit der Förder-
sind diese Vorschriften denn hergekommen? Haben mittel ausgerichtet werden.
die sich im luftleeren Raum entwickelt, ohne Zutun
der Bundesregierung? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten der PDS)
CDU/CSU und F.D.P. mögen doch bitte nicht so
tun, als ob dieser Förderungsdschungel- und die Ziel- Das produziert Handlungszwänge und Fehlent-
ungenauigkeit der einzelnen Ins tr umente erst seit wicklungen. Für diese kann ich nicht nur den Bür-
heute kritisch hinterfragt werden. germeister vor Ort, sondern muß ich auch diejenigen
(Beifall bei der SPD) verantwortlich machen, die windige Cleverneß stär-
ker gefördert haben als verantwortungsbewußtes
Seit Jahren liegen die kritischen Anmerkungen des Handeln. Auch diese Fragen gehören hier auf den
Sachverständigenrates auf dem Tisch. Seit Jahren Tisch, meine Damen und Herren.
wendet sich die SPD beispielsweise gegen das un
effiziente Instrument der 50prozentigen Sonderab- (Beifall bei der SPD)
schreibungen. Daß hier stets westdeutsche Spitzen-
verdiener enorme Steuervorteile einstreichen können Zum Schluß will ich eine dritte Bemerkung zur Art
und viele ostdeutsche Betriebe, da sie keinen Ge- und Weise der öffentlichen Diskussion selbst ma-
winn erwirtschaften, leer ausgehen, hat die Bundes- chen. Es ist klar: In besonderer Weise betroffen sind
regierung Jahr für Jahr ignoriert. die Ostdeutschen, denn sie haben von den Steuergel
dern, über deren Verschwendung wir in dieser Wo-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie che und in dieser Debatte reden, meist nichts gese-
der Abg. Margareta Wolf-Mayer [BÜND hen. Profitiert haben windige Investoren, unseriöse
NIS 90/DIE GRÜNEN]) Beratungsfirmen und einige Bauunternehmen, fast
Anstatt mit einer verstärkten Investitionszulage ausschließlich aus dem Westen. Finanziert wurden
auch für kleinere ostdeutsche Unternehmen etwas zu diese Vorgänge durch treuhänderisches Geld, durch
tun, ihnen bei ihrem Hauptproblem, nämlich der die Steuerzahler in West und Ost, wobei die Ostdeut-
Eigenkapitalschwäche, zu helfen, wurden enorme schen für diese Fehlentwicklungen künftig durch
steuerliche Anreize für gutbetuchte Westdeutsche kräftige Kommunalabgaben und Gebühren ein zwei-
gegeben, so daß der Sprung in überteuerte Objekte tes Mal bezahlen sollen.
und wirtschaftlich unsinnige Investitionen auch noch
Begleitet wird das Ganze von einer grundsätzli-
auf Kosten des Steuerzahlers vergoldet worden ist.
chen Diskussion über die weitere Akzeptanz der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Transfers für den Osten insgesamt. Das ist eine spal-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1399
Rolf Schwanitz
terische Diskussion, wie wir sie seit 1990 noch nicht Für dieses Klima, meine Damen und Herren, sind Sie
hatten, für die die Bundesregierung und die sie tra- mit dieser Strategie verantwortlich.
genden Fraktionen und Parteien ebenfalls mit ver-
antwortlich sind. (Beifall bei der SPD, sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Zuruf und der PDS)
von der CDU/CSU: Scheinheilig!)
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort zu ei-
Seit 1990 wird jede Leistung des Bundes für die ner Kurzintervention von zwei Minuten hat der Kol-
neuen Länder durch die Verlautbarungen der Bun- lege Stefan Heym (PDS).
desregierung und des Bundespresseamtes künstlich
hochgerechnet. Bei den Leistungen wird grundsätz-
lich von Bruttowerten ausgegangen, unabhängig da- Stefan Heym (PDS): Ich danke Ihnen, Herr Präsi-
von, ob die Ostdeutschen als Bundesbürger einen dent. - Ich finde, was mein Vorredner gesagt hat, ist
Rechtsanspruch auf die Leistungen haben. sehr, sehr gut. Ich kann es nur billigen und ihm ap-
plaudieren, und zwar aus folgendem Grund: Diese
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!) verschwundenen Millionen
(Dr. Paul Krüger [CDU/CSU]: Der PDS!)
Alles ist Transfer, und alles ist westdeutsche Wohltat.
Die Ostdeutschen werden dadurch im Blick des We- haben die Ossis in eine Rolle gedrängt, die sie gar
stens in eine kollektive Demutsverpflichtung ge- nicht ausfüllen können. Man macht ihnen den Vor-
drückt, die man anderen strukturschwachen Regio- wurf, sie hätten sich all dieses Geld genommen, und
nen Westdeutschlands nie abverlangen würde. nun säßen sie im Fett.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marga Ich will Ihnen etwas sagen: Wenn es so wäre, wäre
reta Wolf-Mayer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ das gar nicht einmal schlecht. Aber ich muß Ihnen
NEN] und des Abg. Stefan heym [PDS]) leider mitteilen: Die Ossis sind viel zu unerfahren,
um so etwas machen zu können.
Der gemeinschaftliche Unmut und der berechtigte (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Aber
Widerstand der Westdeutschen, die durch die Fehl- lernfähig!)
entscheidungen der Bundesregierung heute unter ei-
ner noch nie dagewesenen Abgabenlast zu leiden Die haben nicht einmal gewußt, was ein Konto ist;
haben, werden dadurch gleichzeitig geschickt von (Lachen bei der CDU/CSU)
der Bundesregierung weg auf die Ostdeutschen ge-
lenkt. Die Bundesregierung präsentiert sich dann als geschweige denn, wie man auf das eigene Konto die
Biedermann und wandelt die Aktuelle Stunde - von Gelder anderer Leute bringen kann.
uns in dieser Woche zum Thema „Haltung der Bun-
(Widerspruch bei der CDU/CSU - Zuruf von
desregierung zu den Meldungen über Milliardenver-
der CDU/CSU: Für Stefan Heym trifft das
schwendungen in den neuen Ländern" vorgeschla-
- nicht zu!)
gen - um zu einer Regierungserklärung unter dem
Motto „Hilfen für die neuen Bundesländer - Erfolg- Auf diese Weise haben sich andere Leute ihrer be-
reicher Aufbau Ost", während Stoiber und Rohde mächtigt und sie benutzt, um das Geld des Steuer-
von der F.D.P. aus Nordrhein-Westfalen mit ihrem zahlers sehr wohl auf das eigene Konto zu bringen.
Populismus gleichzeitig die westdeutschen Stammti- Aber die Konten, auf denen das Geld jetzt ist, befin-
sche bedienen. den sich im Westen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marga Das möchte ich Ihnen sagen, und ich empfehle Ih-
reta Wolf-Mayer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ nen auch die Lektüre von „Candide" von Voltaire.
NEN]) Schon da können Sie das Ganze nachlesen. Das war
schon damals aktuell.
Dieser strategische Ansatz, meine Damen und Her-
Ich danke Ihnen.
ren von der Koalition, verbunden mit Ihrer Verweige-
rung einer selbstkritischen Analyse des eigenen (Beifall bei der PDS - Zuruf von der SPD:
Handelns in den letzten Jahren, ist der Treibsatz der Gilt das auch für die SED-Konten? - Dr. Otto
Spaltung zwischen Ost und West, mit dem wir uns Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Seine Tantiemen
gegenwärtig auseinanderzusetzen haben. konten hat er jedenfalls beherrscht!)

Ein sächsischer Journalist hat vor wenigen Tagen


Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat
in der „Sächsischen Zeitung" geschrieben - ich zi-
jetzt der Kollege Dr. Paul Krüger (CDU/CSU).
tiere -:

Wie weit ist es jetzt noch bis zu jenem Tag, an Dr.-Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Herr Präsident!
dem Neuwagen mit Dresdener Kennzeichen auf Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor dem
westdeutschen Straßen sofort Unmut und bittere Hintergrund der insgesamt sehr guten Entwicklung
Vorwürfe hervorrufen - frei nach dem Motto: in den neuen Bundesländern mutet die heutige De-
Schau mal, Liese, da fahren unsere Steuern spa- batte zuweilen absurd, ja gespenstisch an. Ich
zieren! glaube, wir haben soeben zwei Zeugnisse dessen er-
1400 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dr.-Ing. Paul Krüger


lebt: Nachdem Herr Schwanitz in seiner Argumenta- Trotz mancher Fehler, die vorgekommen sind - nur
tion weit überzogen hat , hat Herr Heym ein Bild von wer nicht handelt, begeht keine Fehler -, sind die öf-
den Ostdeutschen gezeichnet, das ich so natürlich fentlichen Mittel zügig, sinnvoll und zukunftsorien-
nicht bestätigen kann. tiert eingesetzt worden. Dies sagen auch die Präsi-
denten der Landesrechnungshöfe.
Die Art und Weise, wie in den letzten Tagen mit
einseitigen Wertungen und Einschätzungen politi- Für den Erfolg sprechen - dies darf man in einer
sche Interessen vertreten wurden und wie durch das solchen Debatte auch einmal sagen - 7 000 km neue
Wecken von Neidkomplexen Wahlkampf getrieben und ausgebaute Straßen in den neuen Bundeslän-
wurde, erfüllt manchen von uns mit Betroffenheit dern, 3 000 km neue und ausgebaute Schienen, über
und Befremden und fordert unseren entschiedenen 5 Millionen moderne Telefon- und Kommunikations-
Widerspruch heraus. anschlüsse sowie der Aus- und Neubau von Brücken,
Flughäfen und Häfen. Dafür sprechen auch die vie-
Ich sehe mich, meine Damen und Herren, genau len neu errichteten und sanierten Wohnungen und
wie in meiner letzten Rede genötigt, Sie noch einmal die mehr als 400 000 Existenzgründungen der letzten
daran zu erinnern, was uns 40 Jahre DDR vor fünf Jahre, und zwar im wesentlichen von Bürgern aus
Jahren hinterlassen haben. Denken Sie an die verfal- den neuen Bundesländern, die damit eine Chance
lenen Häuser mit zum Teil erheblichen Mängeln und bekommen haben.
teilweise auch menschenunwürdigen Wohnungen,
an die schlechten und löcherigen Straßen, an ein un- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
zureichendes und zum großen Teil marodes Abwas-
sernetz. Daß wir mit unserer Politik erfolgreich waren, bele-
gen nicht nur diese Fakten, sondern auch die Äuße-
Übrigens hatten wir in Neubrandenburg, wo ich rungen vieler - auch internationaler - Gäste, die uns
lebe, eine ganz neue Kläranlage. Das war eine Aus- besuchen und angesichts der unmittelbaren Ein-
nahme im Osten. Die ist völlig überdimensioniert, drücke vor Ort gelegentlich von einem Wirtschafts-
weil, als wir die Wasseruhren einführten, der Wasser- wunder in den neuen Bundesländern gesprochen ha-
verbrauch auf ein Drittel zurückgegangen ist. Ich will ben.
damit nur deutlich machen, welche Veränderungen
sich auch hier in kurzer Zeit in der Planung ergeben Wir haben diese Politik gegen viele Widerstände in
haben. der Vergangenheit durchgesetzt und waren erfolg-
reich, ob dies nun die Opposition wahrhaben möchte
Wir hatten völlig unzureichende und veraltete Te- oder nicht. An Ihre Adresse, Herr Schily, muß ich sa-
lefonnetze. Man könnte die Kette über die maroden, gen: Man hat uns damals in erster Linie wegen unse-
zum großen Teil nicht wettbewerbsfähigen Industrie-
rer wirtschaftlichen Kompetenz und nicht wegen der
strukturen, das fast vollständige Fehlen eines Mittel- Bananen - was Sie den Menschen unterstellt haben -
stands, der von der alten DDR-Führung bewußt zer- gewählt.
stört wurde, und nicht zuletzt eine zum Teil zerstörte
und vergiftete Umwelt fortsetzen. Das alles sind be- Unser Erfolg wird auch durch den konjunkturellen
drückende Zeugnisse dafür, wohin der real existie-
Aufschwung, den wir erleben, und durch die enor-
rende Sozialismus führt, dem hier zum Teil das Wort men Wachstumsraten in den neuen Bundesländern
geredet wurde. belegt. Heute wurde schon gesagt, daß Ostdeutsch-
land die stärkste Wachstumsregion Europas und eine
Wir sollten uns gelegentlich erinnern: Die Wende
der stärksten Wachstumsregionen der Welt ist.
war doch in erster Linie eine Folge des wirtschaftli-
chen Zusammenbruchs der DDR. Wer in einer Phase,
Meine Damen und Herren, Beispiele für angebli-
in der die Menschen zu Hunderttausenden began-
che und wirkliche Verschwendung - das ist heute oft
nen, mit den Füßen abzustimmen, eine lange Denk-
genug gesagt worden -, die jetzt in den Medien zi-
pause eingelegt hat, ist zu Recht als untätig be-
tiert werden, sind mit Sicherheit nicht neu. Es gibt
schimpft worden. Es gab aber auch in anderen Par-
viele, die dies permanent verfolgt und zu bekämpfen
teien solche, die lieber gezögert und nicht gehandelt
versucht haben. Beispiele für Verschwendung gibt es
und die Wiedervereinigung hinausgeschoben hätten.
auch in den alten Bundesländern. Ich bitte all dieje-
Wir dagegen haben gehandelt. Es gab damals nigen, die sich jetzt besonders damit beschäftigen,
viele, die mitgeholfen haben, die ihr Engagement, Beispiele aus den neuen Bundesländern aufzuzäh-
ihre Ideen und ihren Idealismus einbrachten. Sie ha- len, einmal das Schwarzbuch des Bundes der Steuer-
ben mit ihrer Tatkraft erreicht, daß sich die Lebens- zahler zu lesen. Darin werden sie genügend Bei-
verhältnisse auch in dem Teil Deutschlands, in dem spiele finden.
ich lebe, erheblich verändert haben. Allen die hier
mitgewirkt haben, auch und besonders - ich sage An dieser Stelle drängt sich mir die Frage auf, wem
das bewußt - unseren Brüdern und Schwestern im diese Debatte eigentlich nützt und warum sie gerade
Westen unseres Vaterlandes, sei an dieser Stelle da- jetzt geführt wird. Die Debatte nützt sicherlich denje-
für noch einmal gedankt. nigen, deren Interesse an der Weiterführung der För-
derhilfen begrenzt ist. Sie nützt aber auch denjeni-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen, die eine Neiddebatte vom Zaun brechen und
damit derzeit ihr politisches Süppchen kochen. Sie
Ich danke ihnen insbesondere für ihre Solidarität. nützt gerade den politischen Gruppierungen, die im
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1401
Dr.-Ing. Paul Krüger
Bewußtsein der Öffentlichkeit am wenigsten mit den Fraktion - seit langer Zeit geführt wird, sowohl in
Aufbauleistungen in den neuen Bundesländern in den dafür zuständigen Arbeitsgruppen und Aus-
Verbindung gebracht werden. Das sind genau dieje- schüssen als auch in den Gruppen der ostdeutschen
nigen, die sich hier jetzt wehren. Bundestagsabgeordneten, die ich mit zu verantwor-
ten habe. Wir haben die Widerspiegelung dieser Dis-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kussion natürlich auch im Jahreswirtschaftsbericht
So beantwortet sich die Frage danach, warum wiedergefunden. Insofern ist das, was hier teilweise
diese Debatte gerade jetzt geführt wird. Es werden dargestellt wurde, einfach nicht wahr. Die Debatte ist
Neid und Mißgunst in allen Teilen Deutschlands ge- ganz bewußt kurz vor der Hessenwahl inszeniert
schürt, um auf die bevorstehende Landtagswahl in worden, um hier Wahlkampf zu führen.
Hessen Einfluß nehmen zu können.
Ich sagte bereits: Diese Diskussion erinnert mich in
fataler Weise an die Diskussion vor der Wiederver-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Kollege
-
einigung. Damals gab es Leute, die noch heute als
Krüger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- Ministerpräsidenten in der aktiven Politik stehen, die
gen Schily? die deutsche Wiedervereinigung ganz offen mit dem
(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Ja, bitte! Argument ablehnten, sie käme dem Westen zu teuer,
Zuruf von der CDU/CSU: Der Bananenfach während sie den Menschen im Osten sagten, daß
mann!) diese zuwenig bekämen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -


O tt o Schily (SPD): Wenn Ihnen nichts anderes Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Keine dolle
mehr einfällt, dann ist das schon ziemlich armselig. Rede!)
Herr Krüger, ist Ihnen eigentlich aufgefallen, daß
Heute führt man diese Diskussion in subtilerer Form.
der Bundesfinanzminister in diesen Tagen eine Rück-
Wiederum werden die Menschen für dumm verkauft
führung der Fördermittel gefordert hat?
- und wieder von denen, von denen jeder weiß, daß
sie sich weder für die Wiedervereinigung noch für
Dr. Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Das ist mir aufge-
- den Aufbau Ost in den entscheidenden Monaten ein-
fallen. Wir haben diese Rückführung in der Vergan- gesetzt haben.
genheit schon durchgeführt. Die neuen Länder ha-
ben in diesem Jahr - ich habe das gelegentlich auch (Beifall bei der CDU/CSU)
der Presse gesagt - im Zuge der gesamten Umstel-
lung der Finanztransferregelungen 28 Milliarden DM Hier berührt mich ganz unangenehm, Herr Schwa-
weniger zur Verfügung. Wir haben im Gegensatz zu nitz, die Lage, in der Sie sich als SPD-Abgeordneter
dem, was Herr Schwanitz sagte, maßgeblich dazu aus einem der neuen Bundesländer befinden müs-
beigetragen, daß die Fördermittel in Zukunft zielge- sen. Sie müssen nämlich im Westen im Sinne des
richteter eingesetzt werden. Ich komme darauf noch Wahlkampfs in Hessen Neid auf Kosten der neuen
zu sprechen. Bundesländer schüren.
-
Die ganze Diskussion, die hier geführt wird, erin- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
nert mich fatal an das, was sich im Vorfeld der Wie- Zurufe von der SPD: Das ist absoluter Un
dervereinigung abspielte. fug! Erzählen Sie doch nicht so ein Blech! -
Weitere Zurufe von der SPD)
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Kollege
-

Krüger, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des - Sie fühlen sich getroffen.
Kollegen Dr. Faltlhauser?
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wenn
Sie nicht die Wahrheit sagen, muß man
Dr. Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Ja, bitte, Herr
- doch wohl einmal reagieren können!)
Faltlhauser.
- Ich glaube, daß Ihre Reaktion beweist, daß ich hier
wohl doch ein Stückchen Wahrheit aufgedeckt habe.
Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Herr Kollege,
könnten Sie den Kollegen Schily darauf hinweisen, Meine Damen und Herren, wenn ich soeben ge-
daß man in den letzten Tagen das Ohr nicht unbe-
fragt habe, wem die Debatte nützt, dann kann man
dingt an Tageszeitungen haben mußte, um mitzube-
doch berechtigt auch fragen: Wem schadet sie? Sie
kommen, was der Finanzminister sagt, sondern daß
schadet allen Menschen in Deutschland - was schon
der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung
schlimm ist -, dieses undifferenzierte Gerede schadet
und andere offizielle Erklärungen der Bundesregie-
aber vor allem auch dem an Bedeutung gewinnen-
rung schon seit langem darauf hinweisen, daß die den wirtschaftlichen Standort Ostdeutschland. Da-
Förderung zielgerichteter gestaltet werden soll und mit schadet die Debatte uns allen, unserem ganzen
dementsprechend die Gesamtmittel der Förderung
Gemeinwohl. Wir sollten u. a. nicht vergessen, daß
herabgeführt werden müssen?
die beschleunigt steigende Nachfrage aus den neuen
Bundesländern das Wirtschaftswachstum in West-
Dr. Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Ich kann nur be-
- deutschland in ganz erheblichem Maße im letzten
stätigen, daß diese Diskussion - zumindest in meiner Jahr angeregt hat.
1402 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dr.-Ing. Paul Krüger


Trotzdem bleibt die Lösung der noch vorhandenen Diese Doppelstrategie der SPD ist nicht nur durch-
Probleme eine langfristige Aufgabe. Es ist viel er- sichtig, sondern sie ist auch gefährlich, weil sie neue
reicht worden, aber es ist noch ein langer Weg zu ge- Gräben in unserem Land zieht.
hen. Von einer Angleichung der Lebensverhältnisse,
(Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Die krie
wie sie im Einigungsvertrag gefordert wird, sind wir
gen doch nicht einmal ihre Leute zur Ab
noch zu weit entfernt.
stimmung! Seien Sie doch nicht so böse mit
Wohin diese Neiddiskussion, die hier angezettelt denen!)
wurde, führt, habe ich gestern in der „Bild" -Zeitung Ich kann Ihnen nur sagen, meine Damen und Herren
gelesen, die sich in diese Diskussion mit eingeschal- von der SPD: Wer jedem etwas bringen will, wird nie-
tet hat. Da entblödet sich jemand nicht, zu fordern: mandem etwas bringen; vielmehr werden bewußt
Stoppt sofort den Solidarzuschlag, sonst tragen die viele gegeneinander aufgebracht. Deshalb ist es gut,
Kühe im Osten bald goldene Ohrringe! sich daran zu erinnern, daß der Solidarzuschlag na-
türlich auch im Osten gezahlt wird. Er ist also nicht
(Zurufe von der SPD: Wer hat das denn ge
eine Wohltat des Westens, sondern dient gesamt-
sagt? - Das muß Herr Westerwelle gewesen
deutschen Aufgaben.
sein!)
Mit der Umstrukturierung der Finanzmodalitäten
Ich werfe Ihnen vor, daß Sie diese Neiddiskussion - ich sagte es bereits - haben wir die Förderung für
schüren. Sie haben selbst gesagt, daß Sie ursprüng- dieses Jahr reduziert. Vor diesem Hintergrund kann
lich eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema bean- man sagen, daß die Mittel für die neuen Länder eher
tragt haben, um die Diskussion in dieses Haus zu ho- zu knapp als zu reichlich bemessen sind. Deshalb
len. werden wir notwendige Förderungen konzentrieren.
Wir werden sie insbesondere auf den Bereich des
Leider sind die Probleme in den neuen Bundeslän-
produzierenden Gewerbes und auf die kleinen und
dern nicht so weit gelöst, daß wir in einem Schlaraf-
mittelständischen Unternehmen konzentrieren. Wir
fenland leben. Die Probleme sind noch enorm groß.
werden sie ferner auf die Erhöhung des Eigenkapi-
Sie kennen die statistisch erfaßten Zahlen der Ar-
tals und der Liquidität von Unternehmen konzentrie-
beitslosigkeit und die viel zuwenig ins Feld geführte
ren. Wir werden aber auch - so hoffe ich zumindest -
empfundene Arbeitslosigkeit der Menschen.
den Einzelhandel in den Innenstädten verstärkt för-
Der Anteil der neuen Länder am Bruttoinlands- dern können. Wir wollen natürlich vor allem errei-
produkt liegt bei etwas über 10 %. Wir haben ihn chen, daß die Schaffung selbstgenutzten Wohn-
sehr stark gesteigert. Aber er liegt, bezogen auf den eigentums durch Sanierung und Neubau stärker als
Durchschnitt der westlichen Länder, immer noch bei bisher gefördert wird. Hierbei gilt es besonders, den
nur etwa 50 %. Wir haben viele Defizite aufzuarbei- Menschen in den neuen Bundesländern durch An-
ten. Ich denke insbesondere an die marode Infra- reize Unterstützung zu geben, die Eigeninitiative
struktur, die wir übernommen haben. Ich könnte fort- dort zu belohnen und Eigentum zu fördern.
fahren, hier Defizite aufzuzählen: Defizite im produk- Besonderes Sorgenkind - ich möchte es an dieser
tiven Bereich, Defizite bei der Sanierung- von Wohn- Stelle noch einmal sagen - ist für mich - das wird ge-
raum, Defizite insbesondere auch bei der Bildung legentlich auch von der SPD so gesehen; hierin stim-
von Eigentum in den neuen Bundesländern. men wir sicherlich überein - die Industrieforschung
in den neuen Ländern. Ich glaube, wir müssen drin-
Entscheidend ist: Was wir jetzt nicht in die Wirt-
gend darüber nachdenken, hier insbesondere die in-
schaft investieren, wird uns auf lange Sicht nicht nur
direkte Förderung stärker in den Vordergrund zu
in Form von Sozialausgaben teuer zu stehen kom-
stellen. Die direkte Förderung, die der Bund hier mit
men, sondern könnte auch zu einer erneuten, ver-
derzeit über 60 % des Gesamtaufwands betreibt,
stärkten Abstimmung mit den Füßen führen.
reicht nicht aus. Wir müssen den Unternehmen selbst
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stärkere Anreize geben, hier aktiv zu werden und
sich ihre Zukunft zu sichern.
Deshalb geht es vorerst nicht ohne den Solidarzu-
Eine undifferenzierte Rückführung der Förderung in
schlag, von dem der SPD-Ministerpräsident Höppner
den neuen Ländern könnte für uns fatale Folgen ha-
sagt, daß er noch mindestens fünf Jahre lang gezahlt
ben. Ein schwaches Ostdeutschland, das ewig am Sub-
werden müsse, während SPD-Ministerpräsident Ei-
ventionstropf hängt, schafft dauerhafte Probleme für
chel angesichts seines Wahlkampfes lauthals über
uns alle. Ein starkes Ostdeutschland nutzt uns allen.
eine schleunige Beendigung des Solidarzuschlags
Wir sind bisher auf einem guten Weg, es aufzubauen.
schwadroniert.
Ich komme noch einmal auf den Beginn meiner
(Detlev von Larcher [SPD]: Stoiber!) Rede zurück: Die heutige Debatte ist im Kern be-
fremdlich. Sie hat aber ihre gute Seite, wenn aus ihr
Das zeigt ganz deutlich: In der SPD reden die einen
der Konsens erwächst, daß wir noch lange Zeit ge-
so und die anderen so. Jeder redet so, wie es seiner
meinsam am weiteren Aufbau unseres gemeinsamen
Meinung nach gut ankommt. Mit verantwortlicher
Vaterlandes arbeiten.
Politik hat das nichts zu tun.
Danke.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1403

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die ten. Die einen sagen, es war schon immer so, die an-
Kollegin Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- deren sagen, es geht auch anders. Es streiten eigent-
NEN). lich nur die Westdeutschen untereinander; tut mir
leid.
Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis jetzt
habe ich in dieser Debatte erlebt: Ängstlichkeit, Trotz Solange es in Westdeutschland so ist, daß mit zwei-
- ein Herr Waigel will nicht der Sündenbock sein, be- erlei Maß gemessen wird, solange durch Neiddebat-
nimmt sich wie ein trotziges Kind -, Nervosität - viel- ten vom dringend notwendigen gesamtdeutschen
leicht geht es an die eigenen Pfründe -, Aktionismus Strukturwandel abgelenkt wird, bleiben politische
- die Ausschüsse müssen sofort informiert werden, und wirtschaftliche Debatten vergiftet. Das läßt sich
weil es keiner vorher gewußt haben konnte. Es wird leider nicht ändern.
moralisiert; man spricht darüber, daß Ossis vielleicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nicht wissen, was ein Konto ist. - Wissen Sie, Herr sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Heym, ich war nicht so oft im Westen wie Sie. Viel- der F.D.P.)
leicht haben Sie sich nur mit Wessis unterhalten. Das
kann ich nicht beurteilen. Die in den fünf neuen Ländern erbrachten Aufbau-
leistungen, meine Damen und Herren, erforderten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sehr viele persönliche Opfer, und das ist auch noch
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und nicht zu Ende. Und jetzt gibt es eine Hypothek. Es
der F.D.P.) gibt eine Hypothek von praktizierter vierjähriger Po-
Es kommt zu Verbalattacken zwischen den MdBs. litik in diesem Lande. Die muß auch im alten Bundes-
Übrigens haben bisher nur Männer geredet, viel- gebiet abgeleistet werden, damit wir mittel- und
leicht lag es daran. Ich bitte Sie, meine lieben Kolle- langfristig zusammen ein stabiles Deutschland errei-
ginnen und Kollegen: Können wir uns nicht einmal chen können. Die von mir beobachtete allgemeine
zusammensetzen und darüber reden, was passiert Scheu vor diesem Strukturwandel, der in der gesam-
ist? ten BRD ansteht, stimmt mich äußerst bedenklich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser:
Sagen Sie doch „Bundesrepublik Deutsch
Meine Herren, Sie haben so wenig über den Dingen land" !)
gestanden. Sie haben sich hier aufgeführt, daß es be-
Wie oft habe ich bei uns gehört: Im Osten kann
schämend gewesen ist.
man wenigstens kreativ sein, da kann man etwas ma-
Herr Lambsdorff spricht vom Gesetz der reinen chen; im Westen ist alles so starr usw., man kommt
Marktwirtschaft. - Die Lehre hör' ich wohl. Wo ist die nicht vorwärts. Ich wäre froh gewesen, wenn das Ein-
F.D.P. beim Abbau der Subventionen für die west- zelmeinungen irgendwelcher Pioniere gewesen wä-
deutsche Steinkohle? Bei der Braunkohle - in drei ren. Jetzt stelle ich fest, daß das wirklich das Problem
Jahren ist die Zahl der Arbeitsplätze von
- ca. 100 000 ist. I -lier geht es doch gar nicht darum, wie das
auf ca. 8 000 verringert worden - hat sie die reine Förderinstrumentarium für Ostdeutschland in den
Lehre der Marktwirtschaft praktiziert. nächsten zehn Jahren aussehen soll. Hier geht es
doch darum, wie wir jetzt damit umgehen wollen und
(Beifall des Abg. Dr. Michael Luther [CDU/ wie wir miteinander weiter umgehen wollen.
CSU])
Wir haben jetzt eine Abrechnung der Kleinbürger
Es gibt eine Zumutbarkeitsgrenze in diesem Land. untereinander.
Die verläuft dort, wo früher die Mauer verlief. Die
Zumutbarkeitsgrenze heißt: Wir Ostdeutschen müs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sen das aushalten, weil wir nur dazugekommen sind, sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
aber den Westdeutschen können wir es nicht zumu-
Wir haben die Profilierungsneurose deutscher Parti-
ten. Jetzt bekommen wir sogar noch eins drauf. - Ich
kulargewalten. Und wir haben die Zukunftsangst -
bitte Sie! Sie haben Wasser gepredigt, jetzt wird hier
nicht nur der Wirtschaft - vor der wachsenden Potenz
im Wein ersoffen. Die fünf neuen Länder waren die
im Osten. Viele Deutsche in Ost und West werden
Nagelprobe auf die Tauglichkeit und Untauglichkeit
gar nicht mehr wissen, wie sie das noch menschlich
all der Dinge, die in dieser Republik bis zum Jahre
und intellektuell in den Griff bekommen sollen. Die
1989 entwickelt worden sind. Das war eine Super-
Wogen der Unsicherheit, die alle häßlicher, dümmer
chance. Es war eine Chance, in dieser Bundesrepu-
und kleiner machen, als sie eigentlich sind, schlagen
blik insgesamt endlich wieder zu neuen Wegen zu
über uns allen zusammen. Alles, was in der gesamt-
finden, aus 20jährigen Debatten herauszukommen.
deutschen Politik schiefläuft, braucht eine emotio-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nale Bündelung. Da bot sich z. B. auch der Solidarzu-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) schlag an.
Was ist passiert? Wer hat die fünf neuen Länder in Die Zeiten, meine Damen und Herren, werden
den letzten vier Jahren regiert? Jetzt streiten sich die nicht mehr besser. Die ruhigen Jahre sind vorbei. Die
real existierenden Westdeutschen mit den real exi- ganze Welt verändert sich. Europa wird nicht mehr
stierenden Zwischendeutschen. Inzwischen gibt es der Zivilisationsbeglücker der Welt sein, sondern die
auch eingewanderte ostdeutsche Ministerpräsiden- abendländische Zivilisation wird sich gefälligst in die
1404 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Antje Hermenau
anderen Kulturkreise dieser Welt einordnen müssen. rung stark reduziert wird, möglichst auf null, obwohl
Das ist die eigentliche Frage, die dahintersteht. Aber wir alle wissen - oder wissen müßten -, daß der deut-
niemand hat die Europäer - und damit die Deut- sche Steuerzahler um so schneller wieder vom Soli-
schen - auf diese dramatischen Veränderungen im darzuschlag, den übrigens auch die Ostdeutschen
nächsten Jahrhundert aufmerksam gemacht. Doch zahlen - das muß man hier wieder einmal sagen -,
sie finden statt. Sie bahnen sich ihren Weg, ob wir es entlastet wird, je eher der Aufschwung Ost sich sel-
wahrhaben wollen oder nicht. Die ersten Symptome ber trägt.
lösen bei unseren Hypochondern erst einmal die
Angst vor einem Krebsgeschwür aus. Sofort bricht Diese Kampagne so bezeichne ich das - ist durch-
-

man in Panik aus und es werden Beschimpfungen sichtig und schäbig, weil sie nicht aufklärt, sondern
laut. durch Verallgemeinerung von Einzelfällen verunsi-
chert.
Meine Damen und Herren, die Westdeutschen ha-
ben sich zum größten Teil mit einer Menge Geld vom (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
wirklichen Interesse an uns und den fünf neuen Län- ten der CDU/CSU)
dern freigekauft. Das ist eine Tatsache. Diesen Vor-
wurf muß sich der Westen auch gefallen lassen. Die Ich hätte wirklich geglaubt, daß wir mit der deut-
Bundesregierung hat es sich zu leicht gemacht: Hier, schen Einheit schon ein Stück weiter sind.
nehmt, aber haltet die Klappe!
Was will man erreichen, wenn man in einer Karika-
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Keine kluge tur der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung", Ver-
Rede!) breitungsgebiet Ruhrgebiet, suggeriert, daß der
Wir haben euch eigentlich nicht gewollt, nur ein biß- dumme Westdeutsche Mark für Mark in ein Faß
chen, aber nun seid ihr da! - Das konnte doch nicht ohne Boden wirft? - Ich sage Ihnen: Ich stehe dazu,
gutgehen. Ich hätte mir so gewünscht, wir hätten uns für eine Steigerung der Investitionszuschüsse, Zula-
heute zusammengesetzt und in Ruhe über alles ge- gen und Pauschalen gekämpft zu haben. Ich werde
sprochen, so wie dies gestern im Haushaltsausschuß auch weiterhin dafür kämpfen. Herr Stolpe sagt jetzt
geschah. Dazu aber war dieses Parlament nicht in laut „Bild"-Zeitung, daß ihm in der Anfangszeit das
der Lage. Geld geradezu aufgenötigt worden sei. Das ist natür-
lich Blödsinn. Es mußte und muß geklotzt werden!
Natürlich brauchen wir auch weiterhin Fördermög- Kleckern würde heißen: Dauersubventionen, Trans-
lichkeiten für die Eigenkapitalbildung, für die Exi- fer auf unbestimmte Zeit. Das wäre ein noch größeres
stenzgründung und für die Markteinführung - wahr- Übel.
scheinlich noch über eine ganze Dekade hinweg. Ich
frage mich, ob wir uns überhaupt noch in dem Rah- Es war richtig, daß Herr Möllemann als damaliger
men unseres Gemeinwesens bewegen. Sicherung Wirtschaftsminister den Aufschwung Ost eingeleitet
von Demokratie, Herstellung und Erhalt von sozialer und der jetzige Wirtschaftsminister, Herr Rexrodt,
Gerechtigkeit, Entwicklung einer stabilen, ökolo- diesen zunehmend erfolgreich fortgesetzt hat.
gisch verträglichen Wirtschaft - waren das nicht die
-
Eckpunkte, unter denen wir uns verständigen woll- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Diese
ten? Beschwörungsformeln helfen Ihnen auch
nicht!)
Ich erlebe jetzt, daß es einen deutlichen Realitäts-
verlust gibt, der sich kultiviert hat. Das ist natürlich Ich muß mich z. B. über Herrn von Waldenfels, sei-
sehr bequem, weil man sich darin gemütlich einrich- nes Zeichens Finanzminister von Bayern, schon wun-
ten kann. Die Politik geht auch hier - leider - lieber dern, der in einem TV-Interview in keiner Weise die
den Weg des kleineren Widerstandes. Herr Kohl hat aus der Luft gegriffenen 65 Milliarden DM anzwei-
damals damit angefangen, die gemeinsame Aufgabe felte, dafür aber die Installation von goldenen Was-
der Wiedervereinigung gewaltig und sträflich zu un- serhähnen in Thüringen beklagte, während die
terschätzen. Dazu kann ich leider wegen meiner ab- bayerischen Gemeinden haushaltsmäßig sehr zu-
gelaufenen Redezeit nicht mehr sagen. rückhaltend seien. - Herr von Waldenfels, das ist
Danke. pure Stimmungsmache! Wir wissen doch, daß sich
Bayern am wenigsten an das Sparprogramm von
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 1993 gehalten hat und statt des empfohlenen zurück-
haltenden Zuwachses von 3,5 % satte 7 % ausgewie-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat der
-
sen hat.
Kollege Jürgen Türk (F.D.P.).
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Jürgen Türk (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr Das war aber nicht nur in Bayern so.
geehrten Damen und Herren! Es ist Brunnenvergif-
tung, wenn im „Spiegel" von einem „Milliardengrab Daß Brandenburg laut Waldenfels keine wirt-
,Aufschwung Ost' " gesprochen und geschrieben schaftlichen Schwierigkeiten mehr hat, ist sehr
wird; das ist undifferenziert und einseitig. Die Ab- schmeichelhaft für die F.D.P. ; denn immerhin hatten
sicht aber ist erkennbar: West und Ost sollen gegen- wir dort einen liberalen Wirtschaftsminister, der übri-
einander ausgespielt, aufgehetzt werden. Es soll da- gens nicht mit der Gießkanne gefördert hat. Aber
für Stimmung gemacht werden, daß die Ost-Förde- daß dort, wie der bayerische Finanzminister schluß-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1405
Jürgen Turk
folgerte, keine Förderung mehr nötig sei, geht wohl Natürlich brauchen wir zur Ankurbelung des pro-
etwas an der Realität vorbei. Mit dem wirtschaftli- duzierenden Gewerbes die 50 %ige Sonderabschrei-
chen Aufschwung wird es schon noch ein Weilchen bung. Natürlich muß die Gießkannenförderung redu-
dauern. ziert und immer mehr auf Schwerpunktförderung
umgestellt werden. Dies wurde übrigens unter einem
Laut „Bayern 3"-TV will der Bundesfinanzminister liberalen Wirtschaftsminister in Brandenburg bereits
ebenfalls die Förderung reduzieren. Die Koalitions- praktiziert. Ich kann mir z. B. sehr gut die Einrich-
vereinbarung aber sagt aus - wir sollten sie auch tung von Sonderwirtschaftszonen sowohl im Osten
durchsetzen -, Herr Staatssekretär, daß die Förde- als auch im Westen vorstellen. Ausschlaggebend
rung fortgesetzt und vereinfacht werden soll. Wir wäre allein die Strukturschwäche. Lassen Sie uns das
sollten also nicht auf der Grundlage zweifelhafter als Pilotprojekt testen.
Zeitungsberichte pauschal reduzieren, sondern vor-
Eine weitere Möglichkeit ist die Einführung von
her den Bedarf errechnen. Vereinfachen und straffen
ist richtig. Bemessungskennziffern für Anlagen und Immobi-
lien der öffentlichen Hand als Prüfgrundlage auch
für die Rechnungshöfe. Ich bin überzeugt, daß wir in
Wir haben ein übersichtliches und damit einfach
Ost und West sowohl hinsichtlich der Größe als auch
anwendbares Förderinstrumentarium. Wir brauchen
das. Das ist der erste Schritt zu einer effizienteren des Standortes erheblich überbemessen. Das sind
Fördermittelverwendung. Diese brauchen wir im unsere eigentlichen Reserven.
Osten und im Westen. Wenn Herr von Waldenfels Bei dieser Gelegenheit müssen wir auch überle-
nur von einer Kontrolle im Osten spricht, so ergänze gen, wie wir schrittweise vom kameralistischen
ich: Diese Kontrolle brauchen wir auch im Westen; Haushaltssystem der Kommunen und Kreise weg-
denn auch hier gibt es vergoldete Türklinken an kommen. Es verleitet dazu, jeweils bis zum Jahres-
manchen Rathäusern. ende wertvolle Mittel „verbraten" zu müssen. Lö-
sung: Die Kommunen müssen wie Unternehmen ge-
Wir sollten aus der Not eine Tugend machen, also führt werden. Gott sei Dank gibt es da schon ganz
diese Chance nutzen und Verschwendung, die wir kleine Ansätze.
uns in der Tat nicht länger leisten dürfen, sowohl in
West als auch in Ost beseitigen; denn mit einseitigen Lassen Sie uns das gemeinsam in Bund, Ländern,
Schuldzuweisungen kommen wir nicht weiter. Wir Kommunen und Kreisen bald angehen, und zwar in
müssen also Verschwendung, zu hohe Steuern und ganz Deutschland. Lassen Sie uns nicht unsere Kraft
Abgaben sowie Subventionen in ganz Deutschland in gegenseitigen Beschimpfungen verschwenden,
auf den Prüfstand stellen. sondern für gute Ideen einsetzen.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Ich stelle folgendes zur Diskussion: Lassen wir den
drei Gs - den Gangstern, Gaunern und Ganoven - Wir sind gefordert. Wir sollten nicht - wie es im
durch bessere Übersichtlichkeit und Kontrollen im- „Spiegel" stand - „erst baggern, dann denken", son-
mer weniger Chancen. Lassen wir öffentliche Lei- dern wir sollten den Kopf sofort einsetzen.
stungen durch Private anbieten, wenn diese das effi-
Vielen Dank.
zienter können, und das können sie vielfach. Leider
hat das die Länderkammer im Haushaltsgrundsätze- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
gesetz verhindert. Leider haben wir das auch bei den
Abwasseranlagen nicht ganz geschafft. Ergebnis: Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat der
-

vielfach zu große Kläranlagen, die zuviel gekostet


Kollege Helmut Wieczorek (SPD).
haben und jetzt den Verbraucher über den umgeleg-
ten Kubikmeterpreis unzumutbar viel kosten, selbst
wenn sie in Zukunft noch etwas besser ausgelastet Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Herr Präsi-
würden. Diese Kläranlagen machen übrigens den dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich
größten Teil der sogenannten Verschwendung aus. wollte eigentlich die Einladung von Frau Hermenau
Hier wurde gerade auch in Brandenburg der Kon- aufnehmen, die eben gesagt hat: Können wir nicht
trollpflicht durch den Umweltminister nicht ausrei- darüber reden? Während der ersten Sätze, Frau Her-
chend nachgekommen. menau, war ich eigentlich noch sehr positiv gestimmt
und wollte Ihnen das Gespräch anbieten. Aber Sie
Die Gewerbegebiete betreffend ist die Auslastung sind leider immer mehr in die andere Richtung abge-
inzwischen größer als behauptet. Trotzdem muß die glitten, die Sie kritisiert haben. Ich glaube, Sie sollten
Förderung von der grünen Wiese auf sogenannte In- Ihren Beitrag noch einmal überdenken. Ich denke,
dustriebrachen umgeleitet werden. Fördermittel be- Sie haben von der anderen Seite gespalten und
nötigt man nicht, wenn man endlich bundes- und nichts dazu getan, um zu verbinden. Auch darüber
landeseigene Liegenschaften und Immobilien kapi- sollte man sich gelegentlich einmal unterhalten.
talschwachen Existenzgründern zu vergünstigten (Beifall bei der SPD)
Konditionen überläßt.
Meine Damen und Herren, ich bestätige ausdrück-
(Beifall des Abg. Uwe Lühr [F.D.P.]) lich die Festlegung des Haushaltsausschusses des
Deutschen Bundestages von 1992, in dem wir einen
Wichtig ist, daß hier Unternehmen entstehen, die Beschluß gefaßt haben, um die handelnden Personen
bald Steuern bringen werden. zu schützen. Wir haben damals, als wir über die För-
1406 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Helmut Wieczorek (Duisburg)


derung des deutschen Ostens gesprochen haben, überall herumgeistert. Herr Schröder aus Sachsen
festgestellt, daß die öffentliche Meinung, daß die Re- Anhalt will festgestellt haben, daß 10 % seiner Mittel
gierung, daß alle Parlamentarier in großem Maße fehleingesetzt sind. Er geht aber nicht von den
Druck auf die handelnden Personen ausübten. Wir 650 Milliarden DM aus, sondern nur von den investi-
merkten, daß dieser Druck an die Grenze dessen ven Maßnahmen. Deren Anteil beträgt höchstens
ging, was ein Beamter oder Angestellter im öffentli- 20 Daher brauchen wir über die Zahlen gar nicht
chen Dienst normalerweise ertragen kann. Wir ha- zu rätseln.
ben gesagt: Wir müssen sie mit Korsettstangen stüt-
Richtig ist, daß die Bevölkerung der Bundesrepu-
zen. Die Situation, die wir heute haben, haben wir
blik schlichtweg um rund 20 % zugenommen hat und
vor drei Jahren vorausgesehen. Wir haben vorausge-
daß sich damit der ganze Katalog eingeführter west-
sehen, daß wir durch Druck, Investitionen um jeden
deutscher Sozialleistungen auch auf die ostdeutsche
Preis zu schaffen, um nämlich ganz kurzfristig Er-
Bevölkerung erstreckt. Mit diesem Geld werden
folge vorweisen zu können, eine Situation bei den
keine Geschenke, sondern im wesentlichen Rechts-
Menschen herbeiführen würden, die sicherlich große
ansprüche der Bürger oder auch der Unternehmen
Gewissenskonflikte verursacht.
gegenüber dem Staat finanziert. Keine Geschenke,
Sie haben, Herr Bundeswirtschaftsminister, dazu sondern Rechtsansprüche: vom Wohngeld über das
beigetragen, daß ein Klima geschaffen wurde, das in Kindergeld und die Ausbildungsförderung bis hin zu
diesem Land einmalig war. Dieses Klima hat Men- den Personalkosten der in den neuen Ländern statio-
schen zum Handeln gebracht, die eigentlich etwas nierten Beamten und der Bundeswehr; vom sozialen
ganz anderes wollten. Sie hatten nämlich - das muß Wohnungsbau bis zur Gemeinschaftsaufgabe der
man hier doch sehr deutlich sagen - nach der Wie- Förderung der Wirtschaftsstruktur; die Zuschüsse zur
dervereinigung überhaupt kein schlüssiges Konzept Deutschen Reichsbahn ebenso wie die Haushaltszu-
für den Wiederaufbau der öffentlichen Infrastruktur schüsse zur Deutschen Bundesbahn; die Ansprüche
und der Wirtschaft in den neuen Ländern. der Rentenversicherung Ost ebenso wie die der Ren-
tenversicherung West; die Finanzierung millionenfa
(Uwe Lühr [F.D.P.]: Aber Sie hatten es!) cher Arbeitslosigkeit im Osten genauso wie im We-
Getreu dem Motto Ihres Wirtschaftsministers sten.
„Wirtschaften findet in der Wirtschaft statt" haben Meine Damen und Herren, hier wird nichts ver-
Sie auf die Selbstreinigungskräfte der Marktwirt- schleudert und vergeudet - was Mißbräuche im
schaft gesetzt; ich habe das hier zigmal beanstandet. Osten und im Westen in Einzelfällen natürlich nicht
Das war ein verhängnisvoller Fehler, wie sich jetzt ausschließt.
herausstellt.
(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aber sa
(Beifall bei der SPD)
gen Sie das einmal Herrn Schily!)
Wir Sozialdemokraten hatten seit 1990 immer wie-
Das sind im wesentlichen Maßnahmen zur Erfüllung
der einen umfassenden Aufbauplan für Ostdeutsch-
von Rechtsansprüchen, die klar und deutlich festge-
land eingefordert. Es mußte geplant und nicht her-
legt sind. Es sind eben nicht Geschenke von Waigel
umgewurstelt werden. Wir wollten die Mittel
- so effi-
oder Kohl.
zient wie möglich einsetzen. Wenn die Diskussion
um die Milliardenverschwendung im Osten, die wir (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Hat der
jetzt haben, heute soviel öffentliche Aufregung ver- Schily das begriffen?)
ursacht, wenn es so leicht ist, wie der „Spiegel" mit
Meine Damen und Herren, Sie haben mit dem
riesigen unzutreffenden Zahlen zu operieren, und
wenn beim einzelnen Bürger dann sehr schnell die Transfer in Höhe von 150 Milliarden DM auch noch
Wut über den unsozialen Solidarzuschlag von ein anderes Ziel verfolgt: Sie wollten den Bürgern
weismachen, daß die Leistungen für den Osten für
26 Milliarden DM im Jahr hochkocht, dann vor allem
aus einem Grund: Die Bundesregierung hat aus ei- die Schuldenexplosion des Bundes verantwortlich
gensüchtigen wahlpolitischen Gründen dem Bürger ist. Das ist falsch
nie deutlich gesagt und klargemacht, was es mit den (Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser:
150 Milliarden DM an Transferleistungen in die ost- Das geht auf Ihre Kosten!)
deutschen Länder wirklich auf sich hat. Sie haben
diese Leistungen als Geschenke der Bundesregie- - und das Schlimme ist: Sie wissen es -; denn nach
rung dargestellt, von Gnaden der CDU. Abzug der Steuereinnahmen aus dem Osten, nach
Abzug der Einsparungen des Bundes bei den frühe-
(Beifall bei der SPD) ren Kosten der deutschen Teilung und nach Abzug
der Steuer- und Abgabenerhöhungen von
Die entsolidarisierenden Folgen dieses falschen 116 Milliarden DM, die Sie den Menschen aus der
Arguments, meine Damen und Herren von der Koali- Tasche gezogen haben, verbleibt lediglich eine
tion, holen Sie heute ein. Deshalb gehen die in der Summe von 20 Milliarden DM pro Jahr, die über Kre-
Öffentlichkeit angestellten Fehlschlüsse auch auf Ihr dite finanziert werden müßte.
Konto. Noch im Wahlkampf vor einigen Monaten -
ich kann mich gut daran erinnern - gingen Sie mit Meine Damen und Herren, die Beispiele von Fehl-
der Aussage auf Stimmenfang, in den Jahren 1991 planungen und unwirtschaftlichem Verhalten in den
bis 1994 seien 650 Milliarden DM an Transferleistun- neuen Ländern beziehen sich fast ausschließlich auf
gen in den deutschen Osten geflossen. Daher kommt Investitionsausgaben. Das alles hat ein vergleichs-
überhaupt die Zahl von 650 Milliarden DM, die jetzt weise kleines Volumen. Die Sachinvestitionen in den
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1407

Helmut Wieczorek (Duisburg)


ostdeutschen Ländern und Gemeinden betragen pro den ersten Jahren nach der Wende praktisch jede
Jahr rund 25 Milliarden DM. Selbst wenn davon 10% Form der Kontrolle abgelehnt hat, weil sie fast panik-
problematisch sein sollten, wie das ein Landesrech- artig nach dem Prinzip der Gießkannenförderung
nungshofpräsident festgestellt hat, sind das nur operierte.
2,5 Milliarden DM. Auch dieser Betrag ist zu hoch.
Aber das Maß der Verschwendung muß an dieser Sie hatten den Menschen blühende Landschaften
Stelle noch nachgewiesen werden. Auch eine zu versprochen.
teure oder zu groß geplante Investition bleibt eine In-
(Hans-Ulrich Köhler [Hainspitz] [CDU/
vestition mit volkswirtschaftlichem Effekt.
CSU]: Und sie blühen!)
(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: So ist es!) Sie standen unter ungeheurem Erwartungsdruck.
Meine Damen und Herren, das Ergebnis war eine
Sie hätte im Einzelfall sicherlich besser und preiswer-
Flut von Förderprogrammen, ein seit Jahren beklag-
ter erfolgen können. Darüber muß man dann im ein-
ter Förderungswirrwarr, bei dem keiner mehr durch-
zelnen diskutieren, mit der Kommunalaufsicht in den
blickt. Lesen Sie doch einmal die Bundesrechnungs-
neuen Ländern und mit den Rechnungshöfen bei
hofberichte: Da wurde Ihnen der Spiegel doch schon
Bund und Ländern.
im vergangenen Jahr vorgehalten, daß Ihre viel zu
Die öffentlich diskutierten Fälle der kommunalen weit gefaßten Förderrichtlinien die Ursache für un-
Fehlplanung sind, um im Jargon der Deutschen Bank wirtschaftliches Verhalten im Einzelfall gewesen
zu bleiben, geradezu „Peanuts'' gegenüber dem, sind. Diese Fehler muß sich die Bundesregierung zu-
was die Bundesregierung mit ihrer Politik des Dahin- rechnen lassen; denn sie stellt die Richtlinien auf. Ich
wurstelns und der Konzeptionslosigkeit in den Sand nenne z. B. die volle Auszahlung von Fördermitteln
gesetzt hat. beim ersten Spatenstich statt nach Baufortschritt.
Was soll denn da eine Kommune machen, wenn sie
(Beifall bei der SPD) auf einen Schlag Gelder bekommt, die erst allmäh-
lich abfließen können? Da ist es doch gerade ökono-
Ihre Wirtschaftsförderung hatte nichts mil Arbeits-
misch sinnvoll, dieses Geld auf Festgeldkonten zu
förderung zu tun. Ihre steuerrechtlichen Förderungs-
parken, statt es anderweitig zu verwenden.
maßnahmen - mit Steuerausfällen von 12 Milliarden
DM - waren von Anfang an so konzipiert, daß die Was sollen Förderbestimmungen, die lapidar fest-
westdeutschen Steuerpflichtigen den größten Ge- stellen, gefördert werde die Infrastruktur? Wie soll
winn erhalten konnten. Ihre Megasonderabschrei- ein ostdeutscher Bürgermeister denn damit umge-
bungen führten dazu, daß vielfach in vollkommen hen, wenn er unter Infrastruktur etwas anderes ver-
unsinnige und überteuerte Projekte investiert wurde. steht als ein westdeutscher Journalist? Hier hätten
Sie zusammen mit den Ländern die Kommunen an
(Beifall hei der SPD - Ingrid Matthäus
die Hand nehmen müssen, um ihnen zu sagen, was
Maier [SPD]: Das war der Finanzminister!)
sinnvoll ist und was nicht.
Die operativen Mängel Ihrer Treuhandpolitik
- wa- (Beifall bei der SPD)
ren keine Einzelerscheinungen, sondern hatten Sy-
stem - und Sie wissen es -: Privatisierung hatte Vor- Oder nehmen wir die vielzitierte Finanzierung von
rang vor aktiver Sanierung. Die Lasten der ökonomi- Kläranlagen, ein beliebtes Beispiel in der öffentli-
schen Fehlentwicklung mußten durch die Arbeitslo- chen Diskussion. Die Politik der CDU auf Bundes-
senunterstützung ausgebügelt werden. ebene wie in den neuen Ländern

Jahrelang haben Sie das Verschuldungsproblem (Joachim Poß [SPD]: Die F.D.P. nicht verges
der ostdeutschen Wohnungswirtschaft verschleppt. sen!)
Dadurch haben Sie die Kreditfähigkeit der Woh-
nungsunternehmen blockiert, so daß dringend not- war von Anfang an darauf gerichtet, der privaten Fi-
wendige Maßnahmen zur Sanierung des Wohnungs- nanzierung von Kläranlagen über das sogenannte
bestandes und der Belebung der ostdeutschen Wirt- Betreibermodell Vorrang einzuräumen. Hier wurden
schaft verzögert wurden. viele Kommunen über den Tisch gezogen. Sie wur-
den über die Probleme privater Finanzierung im Ge-
(Beifall bei der SPD - Dr.-Ing. Paul Krüger gensatz zu denen bei einer kommunalen Haushalts-
[CDU/CSU]: Unsinn! Das stimmt doch gar finanzierung nicht hinreichend aufgeklärt. Hieraus
nicht!) resultieren dann exorbitant hohe Abwassergebüh-
ren, die den Bürgern unzumutbare Kosten auferlegen
- Sie wissen genau, daß das stimmt. Wenn Sie so rea- und die kommunale Finanzkraft weit übersteigen.
gieren, merkt man das.
Welcher Geist hier auf seiten der Bundesregierung
Auf diesen Politikfeldern im Verantwortungsbe- und der Koalition herrscht, macht eine Diskussion im
reich der Bundesregierung liegen die wirklichen Mil- haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages vom
liardengräber öffentlicher Gelder, nicht in Einzelfäl- November 1992 deutlich.
len fragwürdiger kommunaler Entscheidungen in
Ostdeutschland. Aber selbst dort sitzen Sie mit Ihrer
Verantwortung im Boot. Denn auch diese Fälle sind Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Kollege
-

die logische Konsequenz einer Bonner Politik, die in Wieczorek, achten Sie bitte auf die Zeit.
1408 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Aber gerne. - Die enormen Finanzleistungen - und vor allem
Da hat die Koalition einen Beschluß zum Verwal- deren Mißbrauch - heizen im Westen erneut Res-
tungshandeln in den neuen Bundesländern vorge- sentiments gegen den Osten auf. Der gesell-
schlagen. Darin heißt es: schaftliche Schaden, den Neid und Mißgunst im
geeinten Deutschland anrichten können, ist
Alle Entscheidungsträger in Bund, Ländern und kaum absehbar.
Gemeinden sind aufgefordert, auf der Grundlage
des geltendes Rechtes schnell und kreativ zu ent- So konnten wir in dieser Woche in einem Beitrag des
scheiden und vor allem Ermessensspielräume „Spiegel" lesen. Selten bin ich einem höheren Maß
bestmöglichst ... auszuschöpfen. an Heuchelei als in diesem Artikel begegnet. Über
viele Seiten hinweg wird hier nichts anderes getan,
So weit - so gut. Ich habe eben gesagt, das will ich
als Neid und Mißgunst zu schüren, um dann zu die-
deutlich unterstreichen. Aber dann sollte es weiter
sen Ressentiments zu kommen. Angeblich wurden
heißen - der Haushaltsausschuß hat diese weitere
65 Milliarden DM mißbraucht, nicht belegt - gegrif-
Passage nicht beschlossen -:
fene Zahlungen, eine Schätzung.
Aufgrund unbest re itbarer Schwierigkeiten in
den neuen Bundesländern darf die Fehlerhäufig- Meine sehr verehrten Damen und Herren, sowenig
keit höher sein als im alten Bundesgebiet. es Oskar Lafontaine 1990 im Bundestagswahlkampf
gelungen ist, mit einer Neid-, mit einer Mißgunst-
kampagne die Herzen und die Stimmen der Bürger
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Kollege
-
zu gewinnen, so wenig wird der „Spiegel" mit dieser
Wieczorek, Sie sind deutlich über der Zeit. Kampagne seine schwindende Auflagenhöhe bes-
sern.
Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Herr Präsi-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
dent, diese eine halbe Seite, dafür brauche ich noch
ordneten der F.D.P.)
etwas Zeit, weil sonst mein ganzer Vortrag nicht
mehr im Zusammenhang wäre. Phantasie statt Recherche. Ich glaube, es ist wichtig,
(Zuruf von der CDU/CSU: Das wäre nicht daß wir darauf hinweisen; denn wenn es noch eines
schlimm!) Beweises der Komplizenschaft zwischen „Spiegel"
und SPD bedurft hätte,

Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Ja.


- (Widerspruch bei der SPD)

dann hat Herr Schily diesen Beweis hier heute vor-


Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Eine Minute. mittag mit seinem Beitrag geliefert.
Diese Minute tut weh, ich gebe es ja gerne zu.
(Beifall bei der CDU/CSU - Detlev von Lar
Wir haben als Sozialdemokraten damals dieser Be- cher [SPD]: Das ist unglaublich!)
schlußfassung widersprochen, weil wir keinen Be-
schluß wollten, der unserer Auffassung -nach die Auf- Ich kann nur sagen, es war wohltuend, wie diffe-
forderung beinhaltete, gesetzeswidrig zu handeln. renziert Herr Wieczorek vorhin in vielen Fragen ar-
Wir wollten keinen Beschluß, der als Rechtfertigung gumentiert hat. Verehrter Herr Kollege Wieczorek,
für schludriges Arbeiten herangezogen werden sagen Sie all dies aber auch Ihrem Partei- und Frak-
kann. Dieser Satz ist dann auch gestrichen worden. tionsvorsitzenden! Er hat diese 65 Milliarden DM am
Aber er zeigt den Geist der Koalition, nämlich Ver- Dienstag geradezu begierig aufgegriffen und sprach
geudung und Fehlkalkulation billigend in Kauf zu davon, daß er diese Zahl nicht für unrealistisch halte.
nehmen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)
Herr Präsident, ich bedanke mich für Ihr Verständ-
nis. Er wußte natürlich auch gleich, wer die Verantwor-
tung dafür trägt. So führt man die Leute in die Irre, so
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord spaltet man, statt zu versöhnen.
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Sie haben Anlaß,
-
Ich bin Ministerpräsident Vogel dankbar, daß er in
Herr Kollege Wieczorek, sich bei dem Kollegen Türk seinem Beitrag die tatsächlichen Zuständigkeiten
zu bedanken; denn er hat seine Redezeit heute deut- und Verantwortlichkeiten aufgezeigt hat.
lich unterschritten und Ihnen auf diese Weise die
Möglichkeit gegeben, über zwei Minuten länger zu Herr Scharping sagte am Dienstag dieser Woche,
reden. die Fördermittel seien in beträchtlichem Umfang
wegbetoniert worden. Gleichzeitig fügte er aber
(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Her hinzu, die Notwendigkeit der Finanzierung des Auf-
vorragend!) baus in Ostdeutschland bleibe unverändert be-
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Peter Repnik. stehen. - Was will er nun? Sind sie zu Unrecht ausge-
geben worden, oder sollen wir weiter fördern?
Hans Peter Repnik (CDU/CSU): Herr Präsident!
- Herr Kollege Schily, auf Sie komme ich noch zu
Meine sehr verehrten Damen und Herren! sprechen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1409
Hans-Peter Repnik
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Dis- das dickste Steuer- und Abgabenerhöhungspaket al-
kussion in dieser Woche hat eine gefährliche Ten- ler Zeiten beschlossen. Wollen Sie das bestreiten?
denz bekommen. Wir reden in der Öffentlichkeit viel
darüber, wie wir die Glaubwürdigkeit der Politik und Wollen Sie außerdem dem interessierten Publikum
der Politiker gerade jungen Menschen gegenüber einmal sagen, warum Sie Ihre Beschlüsse zum
verbessern können. Aber der Vorsitzende der sozial- Grundfreibetrag und zum Familienlastenausgleich,
demokratischen Bundestagsfraktion und der Sozial- auf die wir seit Monaten warten, auf die Zeit nach
demokratischen Partei ist sich nicht zu schade, in die- der Hessenwahl verschoben haben?
ser Woche im Zusammenhang mit dieser Diskussion
(Beifall bei der SPD)
sogar zum Mittel der Verleumdung zu greifen.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was hat er
gesagt?) Hans Peter Repnik (CDU/CSU): Verehrte Frau Kol-
-

legin Matthäus-Maier, es wird Ihnen nicht gelingen,


Das war ein schlechter Beitrag, der die Verkommen- hier von der Ungeheuerlichkeit des Vorhalts Ihres
heit der politischen Diskussionskultur exemplarisch Parteivorsitzenden abzulenken, Theo Waigel würde
beleuchtet. im Zusammenhang mit dieser Diskussion lügen. Das
wird Ihnen nicht gelingen.
Ich werde ihn zitieren, Frau Kollegin Matthäus
Maier. Herr Scharping sagte am Dienstag dieser Wo- (Beifall bei der CDU/CSU)
che im Zusammenhang mit dieser Debatte, jeder
wisse, daß Waigel die Leute belüge. Ich sage noch einmal: Wir haben erstens ein klares
Konzept, das auch vorgelegt worden ist.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das weiß ja
auch jeder!) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das glaubt ja
nicht einmal einer von Ihnen!)
Weiter: Angesichts der Risiken von über 30 Mil-
liarden DM im Haushalt 1996 werde Waigel zumin- - Ich komme gleich ausführlich auf Ihre Frage zu
dest indirekte Steuererhöhungen vorschlagen. Statt sprechen. - Wir haben ein klares Konzept. Es steht
durch direkte Steuern - immer noch Scharping - im Jahreswirtschaftsbericht, und man kann es dort
könne die Belastung auch über eine Verschlechte- nachlesen. Wir haben nichts zu verbergen.
rung der Abschreibungsmöglichkeiten erhöht wer-
den. Nach der Wahl in Hessen werde die Wahrheit Zweitens. Wir sind in der Tat im Moment dabei, im
auf den Tisch kommen. Zusammenhang mit dem Familienleistungsaus-
gleich noch die Modalitäten auszuhandeln - ein zu-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich rate
gegebenermaßen schwieriges Thema. Aber auch
dem Herrn Kollegen Scharping, in den Jahreswirt-
hier haben wir klare Eckpunkte gesetzt. Der Finanz-
schaftsbericht zu schauen. Er hätte ihn lesen können.
minister hat deutlich gemacht: Wir nehmen beim Exi-
Wenn er keine Zeit dafür hat, hätte er hier letzte Wo-
stenzminimum genauso wie beim Kinderfreibetrag
che der Debatte zuhören können.
- den Spruch des Bundesverfassungsgerichts ernst.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Hat er doch!) Wir werden ihn umsetzen. Er hat die Größenordnun-
gen genannt: ungefähr 15 Milliarden DM für den Be-
Denn alles, was in diesem Zusammenhang geplant reich des Existenzminimums, ungefähr 6 Milliarden
ist, steht Wort für Wort - formuliert vom Wirtschafts- DM für den Familienleistungsausgleich. Auch hier
minister und vom Finanzminister - im Jahreswirt- haben wir in der Zeit vor der Wahl nichts zu verber-
schaftsbericht der Bundesregierung. gen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU)

Es geht nicht darum, daß wir etwas verstecken. Wir Auch hier haben wir eine klare Linie, wie bei der
haben nichts zu verbergen - im Gegensatz zur SPD. Wiedervereinigung. Wir wollten sie, wir haben sie,
und wir stehen zu den Konsequenzen.
Vizepräsident Hans Klein: Herr Repnik, Sie gestat- Frau Kollegin Matthäus-Maier, wir lassen nicht zu
s eine Zwischenfrage von Frau Kollegin Matthäu
ten - Kollege Krüger hat darauf hingewiesen -, daß die
Maier? SPD gerade jetzt wieder vor den Landtagswahlen in
liessen in dieser Frage ständig mit gespaltener
Hans Peter Repnik (CDU/CSU): Bitte, Frau Mat-
-
Zunge redet.
thäus-Maier.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ingrid Matthäus Maier (SPD): Wollen Sie bestrei-


-
Im Landtagswahlkampf von Sachsen-Anhalt hat
ten, Herr Kollege Repnik, daß das Wort „Steuerlüge" diese Bundesregierung nach Ihrem Vorhalt angeb-
erst Eingang in den deutschen Sprachraum gefun- lich zuwenig getan; jetzt haben wir Landtagswahlen
den hat - in Amerika gab es das schon -, nachdem in Hessen, und da haben wir nach Ihrer Meinung zu-
diese Bundesregierung vor der vorletzten Bundes- viel getan. Sie spalten schon wieder und erzeugen
tagswahl im Jahre 1990 gesagt hat: keine Steuerer- Neid. Dies wird Ihnen die Bevölkerung nicht abneh-
höhung für die deutsche Einheit!, und das jeden Tag men.
dreimal und in Anzeigen gedruckt? Danach hat sie (Beifall bei der CDU/CSU)
1410 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Hans-Peter Repnik
Ich bin sehr gespannt, wie Sie bei einer der näch- wenn Sie für eine einheitliche Investitionszulage ein-
sten Landtagswahlen reagieren werden, die wir in getreten sind. Der Herr Präsident möge mir erlauben,
der Bundesrepublik Deutschland haben, nämlich bei auch ihn zu zitieren. Er hat in seiner damaligen Ei-
der Berliner Wahl, wo Ost und West vereint sind, wie genschaft als Fraktionsvorsitzender der SPD gesagt:
Sie dort versuchen werden, die Menschen hinters Zukunftsprogramme für Ostdeutschland in der Höhe
Licht zu führen. Ich werde dies mit Interesse zur von 10 Milliarden DM pro Jahr für zehn Jahre sind
Kenntnis nehmen. erforderlich. - Ich sage: Jawohl, auch wir sind dafür.
Aber dies muß finanziert werden. Dies geht nun ein-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was mal nicht ohne den Solidaritätszuschlag. Es stünde
diese Art von Politik betrifft, so hat der Kollege Gysi der SPD gut an, wenn sie dazu stünde und der Bevöl-
heute morgen auf einen Schelmen anderthalbe ge- kerung, auch jetzt in Hessen, und ebenso dem hessi-
setzt. Herr Präsident, ich bedauere sehr, daß der Kol- schen Ministerpräsident Eichel sagen würde, daß es
lege Gysi heute früh von diesem Pult aus ungerügt der SPD-dominierte Bundesrat war - mit den Stim-
einen Vergleich zwischen der Partei, die an der de- men der SPD-Ministerpräsidenten -, der diesen Soli-
mokratischen Entwicklung in Deutschland einen daritätszuschlag doch mit beschlossen und ihn auf
maßgeblichen Anteil hat, nämlich der CSU, und der 7,5 % festgesetzt hat. Sagen Sie das doch; stehen Sie
PDS-Vorgängerin SED ziehen konnte - einer Partei, zu Ihrem Wort!
der wir Mord, Diktatur, Unfreiheit und die Mauer zu
verdanken haben. Wenn Herr Kollege Gysi da wäre, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
würde ich ihm zurufen: Schämen Sie sich, und ent- und der F.D.P.)
schuldigen Sie sich beim Vorsitzenden der CSU für
Herr Schily, Sie haben gesagt, der Bürger würde
diesen Vergleich!
ausgepreßt. Die letzte Aktion, der Solidaritätszu-
(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Barbara Höll schlag - ich sage es noch einmal -, ist mit Zustim-
[PDS]: Die PDS ist nicht die SED!) mung der SPD - Gott sei Dank hat sie sich hier in die
Verantwortung nehmen lassen - gemacht worden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe Nicht wir oder der Finanzminister - wie Sie es gesagt
mit großem Interesse die Worte gelesen, die der SPD- haben - mogeln sich aus der Verantwortung, sondern
Vorsitzende Rudolf Scharping seinen lieben Genos- Sie stehlen sich aus der Verantwortung, wenn Sie
sinnen und Genossen im „Vorwärts" vom Januar die- heute den Solidaritätszuschlag in Frage stellen.
ses Jahres geschrieben hat. Er schreibt dort:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
Verläßlicher Schutz der Schwachen und die Be- ordneten der F.D.P.)
wahrung des Zusammenhalts der Gesellschaft
durch Solidarität und Miteinander ist erforder- Ich möchte Sie noch an ein Weiteres erinnern, was
lich. Sie heute auch nicht mehr wissen wollen. Nicht nur
im Jahre 1992 haben Sie es gesagt, sondern auch im
Wer, meine sehr verehrten Damen und Herren, Wahlprogramm der SPD stand noch: Um die Investi-
wenn nicht unsere Landsleute in den neuen Län- tionen der Städte und Gemeinden in Ostdeutschland
dern, bedarf gerade dieses besonderen Schutzes! zu beschleunigen, soll den Kommunen für eine be-
- wenn nicht
Wer ist auf mehr Solidarität angewiesen, grenzte Zeit wieder eine Investitionspauschale be-
die Menschen in den neuen Bundesländern! reitgestellt werden. - Dies beklagen Sie heute;
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nein, bekla
Nun zu Ihren Äußerungen, Frau Matthäus-Maier, gen wir nicht! - Gegenruf von der CDU/
zum Solidaritätszuschlag. CSU: Doch! Doch!)

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was habe in Ihrem Wahlprogramm haben Sie es noch gefor-
ich denn gesagt?) dert.

- Sie haben gesagt, er sei ökonomisch unsinnig, er Sie wollten vor wenigen Wochen und Monaten,
solle abgeschafft werden. noch im Wahlkampf, einmal mehr eine Gießkanne,
ein Füllhorn über die Gerechten und die Ungerech-
(Widerspruch bei der SPD) ten in den neuen Ländern ausgießen. Wir haben
Kollege Scharping hat ähnliches gesagt. Wer solche ganz konkret aus vierjähriger Erfahrung unsere Kon-
Äußerungen in einer Zeit tut, in der wir auf die Soli- sequenzen gezogen.
darität aller Menschen in Deutschland angewiesen (Abg. Otto Schily [SPD] meldet sich zu einer
sind, um unseren Landsleuten im Osten gleichwer- Zwischenfrage)
tige Lebensverhältnisse zu geben, der vereint nicht,
der spaltet.
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Kollege
-

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Repnik.


Ich finde schon, Frau Kollegin Matthäus-Maier:
Stehen Sie doch zu Ihrem Wort! Es ist doch keine Hans Peter Repnik (CDU/CSU): Wenn ich den Ge-
-

Schande, wenn Sie 1992 gesagt haben, die Investi- danken noch zu Ende führen darf, dann gerne.
tionspauschale für die Kommunen in den neuen Bun-
Herr Schily, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, wir
desländern sei erforderlich,
müßten Konsequenzen ziehen. Wir haben diese Kon-
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Richtig!) sequnzgo.HrSchulvmBÜNDI90/
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1411

Hans-Peter Repnik
DIE GRÜNEN hat dies ebenfalls angeregt. Wir haben rem Konsumverhalten. Wir mußten doch so schnell
geprüft. All das, was der Wirtschaftsminister und der wie möglich so viel Geld, Leistungen, Beratungen,
Finanzminister jetzt im Hinblick auf die Anschlußför- Hilfe wie möglich in die neuen Länder bringen, um
derung für das Jahr 1997 und die folgenden Jahre diese Zuwanderung, diesen Strom an Menschen von
vorgeschlagen haben, ist ja ein Ergebnis gerade die- Ost nach West zu stoppen. Wir wissen doch auch,
ser Prüfung. Wir sind nicht erst jetzt dabei, die ent- daß es häufig die Besten waren, die zu uns gekom-
sprechenden Konsequenzen zu ziehen, sondern wir men sind, diejenigen, die mit Initiative ausgestattet
haben das bereits getan. waren, die Wagemutigen, die wir für den Aufbau im
Osten gebraucht hätten. Deshalb mußten wir so han-
Sie haben gesagt: Für diese Politik trägt der Fi- deln. Es gab doch, ehrlich gesagt, gar keine andere
nanzminister die Verantwortung. Alternative.
(Zuruf von der SPD: Richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wohl wahr. Er trägt sie. Ich kann nur sagen: Er tut In diesem Zusammenhang wird immer wieder das
gut daran, durch eine konsequente Spar- und Konso- Stichwort Solidarität strapaziert. Da frage ich mich
lidierungspolitik überhaupt erst den Gestaltungs- schon: Wo bleibt eigentlich die Solidarität mit den
spielraum im Haushalt zu eröffnen, den wir brau- Menschen, die vor Ort in den neuen Ländern tätig
chen, um die Herausforderungen in den neuen Län- sind - seien es Bürger aus den neuen Ländern oder
dern zu bewältigen. Dafür trägt er die Verantwor- Westdeutsche, die zur Hilfe hingegangen sind -,
tung; dafür sind wir ihm dankbar. wenn wir heute einen Maßstab der Prüfung anlegen,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge wie er sich in 40 Jahren einer geordneten Verwal-
ordneten der F.D.P.) tung im Westen entwickelt hat? Die Menschen dort
hatten doch gar keine Chance. Wir sollten sie nicht
so sehr kritisieren, sondern wir sollten diesen Men-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Kollege
-
schen unseren Dank abstatten für das, was sie in die-
Repnik, sind Sie jetzt bereit, die Zwischenfrage zuzu- ser Zeit geleistet haben.
lassen? - Bitte, Herr Schily.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der F.D.P.)
O tt o Schily (SPD): Herr Kollege Repnik, ist Ihnen
im Eifer des Gefechts einfach entgangen, daß der Unser Konzept Aufschwung Ost ist aufgegangen -
Kollege Schwanitz heute ausdrücklich die Investi- Graf Lambsdorff hat darauf hingewiesen -: 8,9 %
tionspauschale wieder als ein wichtiges Instrument Wirtschaftswachstum. Dies kam nicht von allein, wir
der Investitionsförderung zur Sprache gebracht hat? haben es entsprechend stimuliert.
Wie kommen Sie dazu, zu behaupten, wir wollten
uns von diesem Instrument distanzieren? Für die Zukunft ist für uns klar: Förderpräferenzen
zugunsten der neuen Länder sind in dem Maße abzu-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Ingrid bauen - und wir sind dabei, dies zu tun -, wie sich
Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!) die Standortnachteile in Ostdeutschland verringern.
- Ich darf nochmals an den Jahreswirtschaftsbericht er-
innern. Dort ist vorgegeben, daß die Förderungen ge-
Hans Peter Repnik (CDU/CSU): Vieles von dem,
-
strafft, deutlich degressiv ausgestaltet und schritt-
was der Kollege Schwanitz gesagt hat, kann ich nur
weise zurückgeführt werden sollen. Die notwendi-
unterstreichen. Es deckt sich mit unseren Erfahrun-
gen Hilfen werden auf die Bereiche Industrie, Mittel-
gen und unseren Beobachtungen. Deshalb lade ich
Sie ausdrücklich dazu ein - ich glaube, im Kollegen stand sowie Innovationen konzentriert.
Schwanitz haben wir einen guten Gesprächspartner -, Es liegt jetzt an uns allen, im Rahmen der parla-
gerade jetzt, bei der parlamentarischen Beratung des mentarischen Beratung all diese Vorschläge aufzu-
Jahreswirtschaftsberichts, diese Erfahrungen einzu- greifen, das Beste daraus zu machen - ein Ziel ei-
bringen und dafür zu sorgen, daß solche Mißstände gentlich, dem Sie, meine Damen und Herren von der
in der Zukunft nicht mehr passieren. Opposition, sich nicht verschließen dürften. Ich
möchte Sie herzlich dazu einladen. Im Sinne der Ein-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich
heit Deutschlands sollten wir endlich darauf verzich-
möchte jetzt noch auf das eingehen, was der Kollege
ten, dieses Thema in jedem Landtagswahlkampf zu
Wieczorek gesagt hat. Es wurde und wird der Ein-
mißbrauchen.
druck vermittelt, als ob die Bundesregierung, die
Landesregierungen in den neuen Bundesländern (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
und die Kommunen im Osten Deutschlands grund- Otto Schily [SPD]: Reine Heuchelei! - Wei
sätzlich überhaupt eine Alternative gehabt hätten. tere Zurufe von der SPD)
Wir hatten im Grunde keine Alternative. Wir erin-
nern uns daran: Seit dem Öffnen der Mauer bis zum
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort zu ei-
Wirksamwerden der Wirtschafts- und Währungs- -

ner Kurzintervention hat die Kollegin Frau Matthäus


union am 1. Juli 1990 sind über 350 000 Bürgerinnen
Maier.
und Bürger aus den neuen Bundesländern in den
Westen übergesiedelt, Menschen, die geglaubt ha-
ben, daß sie dort keine Überlebensperspektive hät- Ingrid Matthäus Maier (SPD): Herr Repnik, Sie ha-
ten, Menschen, die Anteil haben wollten am Wirt- ben versucht, den Eindruck zu erwecken, ich sei un-
schaftswunder, am Wirtschaftswachstum, an unse- glaubwürdig, weil ich, an unterschiedlichen Stellen,
1412 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Ingrid Matthäus-Maier
mit zwei Zungen spräche. Ich bin dafür - und das ha- Das zweite: Wir haben einen Bundesfinanzmini-
ben wir unter uns immer so gehalten -, daß wir hier ster, der seit zwei Jahren die Berichte des Rech-
streitig diskutieren, aber so etwas hat mir noch nie nungshofes zu den Abschreibungsbedingungen in
ein Kollege vorgeworfen, auch nicht aus Ihren Rei- den Wind geschlagen hat und die Treuhand agieren
hen. ließ. Der Rechnungshof hat seit Jahren gefragt:
Warum kontrolliert Herr Waigel die Treuhandanstalt
Erstens. Ich habe nicht die generelle Abschaffung nicht ausreichend?
des Solidaritätszuschlages gefordert. Was ich im hes-
sischen Wahlkampf, im nordrhein-westfälischen
Wahlkampf und auch seit drei Jahren im Deutschen Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Frau Matthäus
-

Bundestag für meine Partei und mit meiner Partei ge- Maier, Sie müssen jetzt zum Schluß kommen.
fordert habe, ist, daß der Solidaritätszuschlag erst ab
einer bestimmten Einkommensgrenze erhoben wer-
den sollte. Wir haben Sie immer aufgefordert: Neh- Ingrid Matthäus Maier (SPD): Recht hat er.
-

men Sie die Bezieher kleiner und mittlerer Einkom-


men aus dem Solidaritätszuschlag heraus! Dies aus (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
Gründen sozialer Gerechtigkeit und - seit etwa ei- ten der PDS)
nem Jahr absehbar - um die Konjunktur zu fördern.
Die Forschungsinstitute, die Kaufhäuser und die Ein-
zelhändler sagen Ihnen doch, daß die Bezieher klei- Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Kollege
-

ner und mittlerer Einkommen zuwenig Geld in der Repnik, Sie können erwidern.
Tasche haben, um einkaufen zu können. Deswegen
ist es auch ökonomisch ein Fehler, diese Menschen
mit dem Solidaritätszuschlag zu belasten. Hans Peter Repnik (CDU/CSU): Ich würde gern
-

auf zwei Argumente der Frau Kollegin Matthäus


(Beifall bei der SPD sowie der Abgeordne Maier eingehen.
ten Dr. Barbara Höll [PDS])
Frau Matthäus-Maier, ich habe, wenn Sie so wol-
Zweitens. Natürlich bin ich für die Investitionspau- len, die SPD und nicht nur Sie bezüglich der gespal-
schale für die ostdeutschen Gemeinden. Sie bringen tenen Zunge in Gesamthaft genommen.
mich doch nicht gegen Ostdeutschland in Stellung!
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Dann neh
Nebenbei gesagt: Wenn sich Herr Vogel, der Mi- men Sie es mir gegenüber zurück!)
nisterpräsident von Thüringen, dafür bedankt hat,
daß wir die Wirtschafts- und Währungsunion einge- Wir werden es nicht zulassen, daß die SPD nach
führt haben, darf ich Sie fragen: Welche Politiker ha- einem schwierigen Prozeß im Bundesrat und auch
ben denn hier zum erstenmal die Wirtschafts und -
hier dem Solidaritätszuschlag so, wie er jetzt exi-
Währungsunion mit Ostdeutschland ins Gespräch stiert, zustimmt - Sie haben sich mit Ihrer Meinung
gebracht? Wer hat denn gesagt, daß wir die D-Mark nicht durchgesetzt -, um anschließend vor der hessi-
nach Ostdeutschland bringen müssen? - schen Landtagswahl vom Ministerpräsidenten Eichel
zu hören, er müsse abgeschafft werden. Sie haben
(Zurufe von der CDU/CSU) ihn in der Sache erneut problematisiert.

Ich sage Ihnen, mir hat das Herz geblutet, als ich (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist die
gesehen habe, wie viele ökonomische Fehler Sie am Unwahrheit gegenüber Herrn Eichel!)
1. Juli 1990 gemacht haben. Sie haben die Wäh-
rungsunion gemacht, aber kein Programm Aufbau - Wir haben genügend Belege, daß sowohl Herr Ei-
Ost. Das kam Monate zu spät. Das sind die Fehler, chel als auch Ihr Parteivorsitzender Scharping ge-
die dazu beitragen, daß wir heute in Ostdeutschland rade jetzt, in dieser sensiblen Zeit, dieses Thema ge-
noch so viele Probleme haben. nutzt hat, um die Menschen bei uns einmal mehr hin-
ters Licht zu führen.
Und der letzte Punkt - und das hat Herr Schily
heute morgen gesagt -: Daß wir bei der Investitions- (Widerspruch bei der SPD)
förderung durchaus Verschwendung konstatieren
Das zweite, Frau Matthäus-Maier: Ihre Verdienste
müssen, in Ehren, die will ich gar nicht schmälern. Aber ich
-

möchte Sie daran erinnern, daß wir zum Datum 1. Juli


1990, beim Inkrafttreten der Wirtschafts- und Wäh-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Sie müssen zum
-
rungsunion als Bundesrepublik Deutschland noch
Schluß kommen!
kein Mandat für dieses Aufbauwerk Ost hatten. Wir
waren in der Vorbereitung.
Ingrid Matthäus Maier (SPD): - hat erstens mit Ost
-
(Otto Schily [SPD]: Sie haben doch hinein
und West nichts zu tun; denn es waren überwiegend
gewirkt!)
westdeutsche Abzocker, die davon profitiert haben,
daß überdimensionierte Kläranlagen gebaut worden - Bitte, verehrter Kollege Schily, wir haben mit der
sind. Wiedervereinigung das Mandat erhalten. Mit der
(Beifall bei der SPD) Wiedervereinigung haben wir die vorbereiteten Pro-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1413
Hans-Peter Repnik
gramme umgesetzt. Betreiben Sie hier bitte keine gelegt. Kern der politischen Entscheidungen der
Geschichtsklitterung. Staats- und Regierungschefs waren damals in Edin-
burgh die Festlegungen über die künftige Finanz-
(Beifall bei der CDU/CSU - Ingrid Matt
ausstattung der Gemeinschaft, die rechtlich mit dem
häus-Maier [SPD]: Sie hätten ja die Investi
vom Ministerrat am 31. Oktober 1994 verabschiede-
tionszulage machen können! - Wolfgang
ten EG-Eigenmittelbeschluß umgesetzt wurden. Bei
Weiermann [SPD]: Das ist ja etwas ganz
uns in der Bundesrepublik Deutschland müssen wir
Neues! - Weitere Zurufe von der SPD)
das durch ein Zustimmungsgesetz umsetzen. Es be-
darf auch der Zustimmung des Bundesrates.
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Ich habe jetzt
-

zwar noch eine Menge Zwischenrufe, aber keine Mit dem EG-Eigenmittelbeschluß wird ab 1995 die
Wortmeldung mehr. Deshalb schließe ich die Aus- Finanzausstattung der Gemeinschaft schrittweise
sprache. von derzeit 1,2 auf bis zu 1,27 % des Bruttosozial-
produkts der Gemeinschaft im Jahre 1999 erweitert.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag Kleine Zahlen, große Wirkung, kann ich nur sagen.
der PDS auf Drucksache 13/579 zur federführenden
Beratung an den Haushaltsausschuß und zur Mitbe- Gleichzeitig wird die Lastenverteilung bei der Auf-
ratung an den Finanzausschuß und an den Ausschuß bringung der Eigenmittel der Gemeinschaft zwi-
für Wirtschaft zu überweisen. Sind Sie damit einver- schen den Mitgliedstaaten verändert. Das Gewicht
standen? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. der sogenannten Mehrwertsteuer-Eigenmittel wird
verringert, und das Gewicht der Bruttosozialprodukt
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf: Eigenmittel wird dadurch erhöht.
Erste Beratung des von der Bundesregierung Die vom Bundeskabinett am 15. Juli 1994 verab-
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu schiedete Finanzplanung des Bundes berücksichtigt
dem Beschluß des Rates vom 31. Oktober bereits die möglichen finanziellen Auswirkungen des
1994 über das System der Eigenmittel der Eu- neuen EG-Eigenmittelbeschlusses; zwischen 400 Mil-
ropäischen Gemeinschaften lionen DM im Jahr 1995 und bis zu 2,6 Milliarden
DM im Jahr 1999 sind eingestellt.
- Drucksache 13/382 -
Überweisungsvorschlag: Meine Damen und Herren, lassen Sie mich vor
Haushaltsausschuß (federführend) dem Hintergrund der Stellungnahmen des Bundesta-
Finanzausschuß ges, die schon abgegeben wurden, kurz auf die zum
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Teil sehr kritische Diskussion in der Öffentlichkeit zu
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die unseren deutschen Brutto- und Nettoleistungen an
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe kei- die Europäischen Gemeinschaften eingehen. Die
nen Widerspruch. Dann ist das so akzeptiert. Bundesregierung hat die 1992 von der EG-Kommis-
sion vorgelegten Vorschläge für eine massive Erwei-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
terung der Finanzausstattung schon ab 1993 bis auf
mentarische Staatssekretär Kurt Faltlhauser. Bitte.
- 1,37 % des Gemeinschaftsbruttosozialprodukts sowie
die Forderungen des Europäischen Parlaments und
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- einzelner Mitgliedstaaten nach darüber hinausge-
desminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine Da- henden Sätzen - der Vorschlag lautete 1,4 % - strikt
men und Herren! Es gibt eine Brücke zwischen dem abgelehnt.
Thema, das wir gerade debattiert haben, und dem
Thema, das jetzt in der Debatte ansteht: Durch die Erstens. Wir haben durchgesetzt, daß die Anhe-
Vergabe von Mitteln, durch den Streit um die Grö- bung des Eigenmittelplafonds erst mit einer Verzöge-
ßenordnung und die Verwendung der Mittel darf rung von zwei Jahren, statt 1993 erst ab 1. Januar
kein Graben zwischen den Deutschen aufgebrochen 1995, einsetzen soll.
werden. Das war gerade unser Thema.
Zweitens. Wir haben durchgesetzt, daß sich der
Beim jetzigen Thema geht es darum, daß durch die Umfang der notwendigen Eigenmittelerhöhung von
Verteilung der Mittel und die Größenordnung der 1,27 % des Bruttosozialprodukts auf nahezu ein Drit-
Mittel im Zuge der Vereinigung Europas keine tel der Forderungen verringert.
neuen Gräben aufgerissen werden dürfen. Der Streit,
der um die Mittel der EG teilweise in den Hinterzim- Drittens. Wir haben durchgesetzt, daß nur eine
mern geführt wird, ist nicht gerade geeignet, die In- schrittweise Anhebung dieses Plafonds im Zeitraum
tegration Europas voranzubringen. von 1995 bis 1999 erfolgt.
Der vorliegende Entwurf der Bundesregierung für Des weiteren haben wir darauf hingewirkt, daß
ein Zustimmungsgesetz hat eine Vorgeschichte. Er sich die Beitragsleistung künftig stärker als bisher
geht zurück auf die Verhandlungen zum sogenann- am Bruttosozialprodukt der einzelnen Mitgliedstaa-
ten Delors-Paket II und auf die Entscheidungen des ten orientiert und so eine bessere Beitragsgerechtig-
Europäischen Rates vom 11. und 12. Dezember 1992 keit bewirkt.
in Edinburgh.
Nun eine Kommentierung zu den Bruttoleistungen
Auf dieser Tagung haben die Staats- und Regie- und zu den Nettoleistungen. Zu den Bruttoleistun-
rungschefs für einen mittelfristigen Zeitraum bis gen können wir nur sagen, daß die Beschlüsse von
1999 Rahmen und Perspektive der EG-Finanzen fest- Edinburgh und die unter deutscher Präsidentschaft
1414 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser


erzielte Einigung auf den neuen EG-Eigenmittelbe- Lassen Sie mich eine Schlußbemerkung machen:
schluß im Oktober 1994 gute Kompromisse sind, die Die hohe Nettobelastung ist, wie wir beobachten
die Interessen der Bundesrepublik Deutschland wah- können, in unserem Land zum Teil als Instrument
ren. mißbraucht worden, um den europäischen Eini-
gungsprozeß insgesamt zu torpedieren. Wir müssen
Problematisch sind tatsächlich die Nettopositio- Versuche dieser Art vehement zurückweisen.
nen. Hier ist die Bundesregierung mit dem Bundesrat
der Auffassung, daß die Lastenverteilung in der Eu- (Detlev von Larcher [SPD]: Wen meinen
ropäischen Union verbessert werden muß. Auch die Sie?)
Bundesregierung hält die gegenwärtigen Lastenver-
- Ach, da gibt es kleine neue Parteien, die kommen
teilungen in der Union für unausgewogen und für
und wieder verschwinden, die das insbesondere zu
den weiteren Integrationsprozeß nicht förderlich.
ihrem Thema gemacht haben. Sie wissen, wen ich
meine.
Ich möchte Ihnen hier eine beeindruckende Farb-
übersicht zeigen, die der Bundesfinanzminister in Die politische Stabilität Deutschlands - ich glaube,
den letzten Monaten in alle Verhandlungen mit- da sind wir uns in diesem Hause einig - ist nur auf
nimmt. Das Grüne stellt diejenigen dar, die etwas be- der Basis der Europäischen Union möglich, und dies
kommen, und das Rote ist die Nettoposition, das, was hat auch im finanziellen Bereich seinen Preis. Wir
man bezahlt. Das ganz Lange, das weit nach unten müssen den Preis nur kontrollieren und in einem ver-
geht, ist der Anteil an der Nettoposition, den die Bun- tretbaren Maße halten. Wir müssen sicherstellen, daß
desrepublik Deutschland bezahlt. Ich entnehme den die finanziellen Belastungen so gestaltet bleiben, daß
Mitteilungen des Finanzministers, daß seine euro- nicht antieuropäische Brandstifter leicht entzündba-
päischen Kollegen und auch die europäischen Regie- res Material vorfinden, um auf diese Weise in unse-
rungschefs von dieser Darstellung jeweils sehr beein- rem Land zu agitieren. Wir wollen auch auf dem Ge-
druckt sind, Ich hoffe, daß dieser Eindruck auch biet der finanziellen Ausstattung weiterhin eine so-
nachhaltig wirkt, lide Grundlage geben, damit der europäische Eini-
gungsprozeß fortgeführt werden kann.
(Beifall der Abg. Ingrid Matthäus-Maier
[SPDJ) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

nämlich dann, wenn wir das entsprechend neu ge-


stalten müssen. Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat der
-

Kollege Hans Georg Wagner.


Kurz- und mittelfristig sind zur Bewältigung dieser
Situation ein strikter Kurs der Haushaltsdisziplin
auch auf Gemeinschaftsebene und eine konsequente Hans Georg Wagner (SPD): Herr Präsident! Meine
Anwendung des Subsidiaritätsprinzips erforderlich. sehr verehrten Damen und Herren! Herr Staatssekre-
Des weiteren tritt die Bundesregierung in jedem Ein- tär, wir stimmen sicher völlig überein mit Ihren letz-
zelfall für eine sehr kritische Prüfung neuer Pro- ten Ausführungen: Wir dürfen es nicht zulassen, daß
gramme ein. Wir haben z. B. unter zum Teil erhebli- in Europa wieder Biedermeier zu Brandstiftern wer-
cher Kritik von außen durchgesetzt, daß neue Pro- den. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, daß wir - in-
gramme nicht aufgelegt werden. Wir treten auch für tegriert in die Europäische Union - mit den anderen
ein erheblich verringertes Volumen bei neuen Aus- Mitgliedsstaaten zusammen versuchen, das geeinte,
gabeprogrammen ein. friedliche Europa aufzubauen. Dazu sind natürlich
auch finanzielle Voraussetzungen erforderlich, die
Außerdem drängen wir auf eine laufende Überprü- dieses Gesetz regeln soll.
fung bestehender Programme, damit neue Aufgaben
Die Beschlüsse vom 31. Oktober 1994 haben Sie
auch durch Umschichtungen finanziert werden kön-
genannt. Ich sage, daß wir Sozialdemokraten dem
nen. Dies hat regelmäßig, wie Sie wissen, natürlich
Gesetzentwurf zwar auch zustimmen werden, in den
die Auseinandersetzung mit den Ländern insbeson-
entsprechenden Beratungen der Ausschüsse aber
dere im südlichen Bereich Europas, zur Folge.
natürlich das eine oder andere noch einmal vertiefen
werden.
Die Bundesregierung wird jedoch getroffene politi-
sche und rechtliche Vereinbarungen nicht in Frage Wir haben bereits vor gut einem Jahr im Vorfeld
stellen. Manchmal gibt es in Länderparlamenten die der Entscheidung des Ministerrates der Europäi-
rosige Vorstellung, so etwas sei möglich. Das wird schen Union im Finanzausschuß, im Haushaltsaus-
die Bundesregierung aber nicht tun und auch nicht schuß, im Unterausschuß „Europäische Union" und
in Frage stellen. Wir sind und bleiben ein vertrags- im EG-Ausschuß ausgiebig über dieses Thema dis-
treuer Partner. kutiert, und zwar um der Bundesregierung Rücken-
deckung und grünes Licht zu geben, damit sie im Mi-
Bei der vor 1999 vorgesehenen Überprüfung der nisterrat entsprechend agieren kann.
Gemeinschaftsfinanzen wird die Bundesregierung
mit Blick auf neue Herausforderungen für eine um- Sie haben vorhin freundlicherweise die rot-grüne
fassende Neuordnung auf der Einnahmen- und Aus- Tafel gezeigt, die Theo Waigel immer bei sich hat.
gabenseite eintreten. Das ist angesichts der Grafik, Vielleicht sollten Sie einmal zum gewohnten
die ich Ihnen soeben gezeigt habe, sicher notwendig. Schwarzweißbild zurückkehren. Ich habe den Ein-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1415
Hans Georg Wagner
druck, daß der eine oder andere Finanzminister in Allerdings muß an dieser Stelle auf die wichtige
der Europäischen Union an Farbenblindheit leidet und positive Rolle der europäischen Strukturmittel
und wir deshalb immer noch der größte Nettozahler für den wirtschaftlichen Um- und Aufbau in den
in die Kasse der Europäischen Union sind. neuen Ländern hingewiesen werden. Die Integration
Europas ist nicht nur eine finanzielle Sache. Dennoch
Herr Staatssekretär, Sie führen zu Recht an, daß
kann es nicht hingenommen werden, daß wir 70 %
wir rund 70 % des Nettofinanztransfers der Europä-
der Nettoressourcentransfers bezahlen. Dies tut auf
ischen Union zahlen. Dies ist sehr viel Geld. Wir durf-
Dauer nicht gut.
ten eigentlich erwarten, daß die Bundesregierung in
den Verhandlungen zu diesem Eigenmittelprogramm Ich möchte an dieser Stelle nicht in den Streit zwi-
bei den anderen Mitgliedsstaaten ein größeres Ver- schen Bundesregierung und Bundesrat eingreifen,
ständnis für die Schwierigkeiten der Bundesrepu- ob die Bundesländer zum Aufbringen des deutschen
blik Deutschland zu Beginn der 90er Jahre geweckt Anteils heranzuziehen sind oder nicht. Dies muß in
und man mehr Rücksicht auf die Belange der Bun- den nächsten Monaten ausdiskutiert werden, wenn
desrepublik Deutschland genommen hätte. die Gesetzesberatungen stattfinden, so daß wir im
Bundestag eine einvernehmliche Regelung für die
Einige kritische Anmerkungen sind erlaubt. Wir
Finanzierung unter Einschluß der Überlegungen der
teilen die Besorgnis des Bundesrates in manchen
Bundesländer beschließen können. Hier muß die
Punkten, weil nach unserer Einschätzung die
Bundesregierung mit den Ländern entsprechend re-
schwierige wirtschaftliche Situation der Bundesrepu-
den.
blik Deutschland in den Gremien der Europäischen
Union nicht ausreichend genug vorgetragen worden Vor einigen Tagen - das haben Sie, Herr Staatsse-
ist. Wir sind immerhin der größte Nettozahler der Eu- kretär, angedeutet - ist der Bericht des Europäischen
ropäischen Union. Dies ist eine Verpflichtung, die wir Rechnungshofes für das Haushaltsjahr 1993 mit ei-
gern übernommen haben. Wir erwarten aber auch nem deutschen Teil erschienen. In den neuen Län-
das Verständnis unserer Partner. dern wurde genau darauf geachtet - ich möchte dies
nicht vertiefen -, was mit den Strukturmitteln der Eu-
In den Jahren von 1990 bis 1992, also in der
ropäischen Union geschehen ist. Der Bericht enthält
schwierigen Phase der Anfangsfinanzierung der
eine Fülle von Verstößen gegen das Haushaltsrecht
deutschen Einheit - wir haben vorhin eine lange De-
der Europäischen Union.
batte über dieses Thema geführt -, sind die Nettoein-
zahlungen der Bundesrepublik Deutschland von Aber auch im Gesamtbericht des Europäischen
11 Milliarden DM auf 22 Milliarden DM - das ist eine Rechnungshofes kommen alle Länder der Europä-
Verdoppelung - angestiegen. ischen Gemeinschaft bei den Ausgaben nicht gut
weg. Deshalb ist zu fordern, daß der Europäische
Nunmehr muß die Bundesrepublik Deutschland in Rechnungshof mit stärkeren Rechten versehen wird.
den Jahren von 1995 bis 1999, also während des Ver-
tragszeitraumes, 7,1 Milliarden DM mehr aufwen- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
den, als sie bisher eingezahlt hat. Ganz konkret müs- GRÜNEN und der PDS)
sen wir 1995 400 Millionen DM mehr zahlen als in
Wir haben schon des öfteren mit Herrn Friedmann
den vergleichbaren Vorjahren. 1999 müssen wir
reden können. In Italien hat ja die Rechnungsprü-
2,6 Milliarden DM pro Jahr mehr einzahlen.
fung einen ganz anderen Stellenwert als in Deutsch-
Mit diesem Gesetzentwurf werden die Zahlungen land und in Frankreich wiederum einen anderen als
der Bundesrepublik Deutschland bei voller Aus- in Spanien.
schöpfung des jeweiligen Unterplafonds zu Lasten
Auch wenn unsere bürokratischen Hemmnisse
des Bundes vermutlich wie folgt aussehen: 1995
und Einengungen nicht so stark sein sollten, wie sie
35,1 Milliarden DM, 1996 38 Milliarden DM, 1997
sind, wäre es doch gut, wenn die Rechte des Europä-
41,3 Milliarden DM, 1998 44,8 Milliarden DM und
ischen Rechnungshofes auch in den anderen Mit-
1999 schon saftige 48,2 Milliarden DM. Dies ist eine
gliedsländern eine Stärkung erfahren könnten. Wir
imposante Zahl.
sollten auch bei dieser Frage in der Diskussion blei-
Wir fordern angesichts dieser Entwicklung und im ben.
Hinblick auf die von uns allen gewünschte europä-
Die vier Kriterien, die im Vertrag von Maastricht
ische Einheit, daß die Bundesregierung alle geeigne-
niedergelegt sind und die auch gestern in der Befra-
ten Maßnahmen ergreift, um in der Europäischen
gung der Bundesregierung wegen des Konvergenz-
Union durchzusetzen, daß der deutsche Nettobeitrag
berichtes, den die Bundesregierung gestern morgen
wieder auf die Höhe gesenkt wird, die im Verhältnis
verabschiedet hat, eine Rolle gespielt haben, müssen
zu den Leistungen der anderen Mitgliedsländer als
auch an den Haushalt der Europäischen Union ange-
angemessen zu bezeichnen wäre.
legt werden.
Unser Nettobeitrag muß möglichst bald auf ein
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr genau!)
normales Maß zurückgeführt werden. Wenn die übri-
gen Mitgliedsländer stärker auf unsere Schwäche Man kann nicht verlangen, daß wir nationale Haus-
Rücksicht genommen hätten, hätte man über das halte in ein Sparkorsett hineinzuzwängen versuchen,
eine oder andere sicherlich anders diskutieren kön- wenn man sich in den Gremien der Europäischen
nen. Unsere Ressourcen wären heute sicher größer, Union nicht darum schert, daß auch dort Sparmaß-
wenn wir hier nicht so viel hätten aufwenden müs- nahmen in erheblichem Umfange eingeleitet werden
sen. müssen.
1416 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Hans Georg Wagner


Ich denke an die - man kann sie bezeichnen, wie Uwe Lühr (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr ver-
man will - stattfindende Diskussion über die Bezah- ehrten Damen und Herren! Wir sind schon spät dran
lung der Beamten, die bei den europäischen Institu- mit der Neuordnung der Lastenverteilung bei der
tionen im Regelfall doppelt so hoch ist wie in den Aufbringung der Eigenmittel der Gemeinschaft zwi-
Mitgliedsländern selbst. In Washington werden die- schen den Mitgliedsstaaten, die bereits der Europä-
selben Gehälter gezahlt wie in Kalifornien. Wir ha- ische Rat vom 11./12. Dezember 1992 in Edinburgh
ben jetzt sozusagen die Vereinigten Staaten von Eu- im Grundsatz verhandelt hatte.
ropa, die Europäische Union. Da muß es auch so sein,
Der Beschluß des Ministerrates vom 31. Oktober
daß jemand, der nach Brüssel, nach Luxemburg oder
1994 soll der Europäischen Union die Mittel sichern,
nach Straßburg geht, die gleichen Konditionen hat,
die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben in den Jahren
wie er sie vorfindet, wenn er in Bonn, Berlin oder in
1995 bis 1999 braucht. Der Gesetzentwurf ist daher
sonst irgendeiner Hauptstadt in den europäischen
von erheblicher europapolitischer Bedeutung und ei-
Ländern lebt.
gentlich einer intensiveren Auseinandersetzung
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne wert, als dies in der vorgegebenen Zeit möglich ist.
ten der PDS) Obwohl spät, werden wir doch nicht die letzten
Meine Damen und Herren, ich meine, daß uns un- sein, die den Eigenmittelbeschluß ratifizieren. Zwar
sere Zustimmung leichter fällt, wenn wir wissen, daß haben einige Partnerstaaten die Verfahren bereits
sich die Bundesregierung und der Bundesrat alsbald abgeschlossen, andere werden sie noch im Laufe die-
einig werden - denn nach Art. 23 des Grundgesetzes ses Monats abschließen, aber einige Ratifikationsver-
sind Rechte der Länder mit betroffen, weil hoheitli- fahren werden sich wohl noch bis zum Mai hinzie-
che Aufgaben an die Europäische Union abgegeben hen.
werden -, daß die Haushaltsdisziplin auch bei der (Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard
Europäischen Union bis hin zur Überprüfung der Ge- Hirsch)
hälter der dort Beschäftigten greift.
Der Entwurf setzt die Maßnahmen der Finanzbe-
Ein wichtiger Punkt, den wir unter Freunden eben- schlüsse des Europäischen Rates um und reduziert
falls offen ansprechen sollten, ist die Sonderrolle den Anteil der mehrwertsteuerbezogenen Mittel zu-
Englands. Es ist nicht hinzunehmen, daß England gunsten des auf das Bruttosozialprodukt bezogenen
auf Dauer bei der Finanzierung der Europäischen Anteils. Durch diese Anpassung an die Leistungsfä-
Union eine Sonderrolle spielt. higkeit der einzelnen Mitgliedsländer wird eine grö-
(Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser: ßere Beitragsgerechtigkeit erreicht. Die Beiträge, die
Das ist wohl wahr!) wir dann an die Gemeinschaft abführen müssen, ent-
sprechen dann im großen und ganzen unserem stati-
Wenn alle Partner sein wollen, dann sollen sie auf stischen Anteil am Bruttosozialprodukt der Union.
Grund ihres Könnens, ihres Bruttosozialprodukts
Wir stellen auch mit Erleichterung fest, daß die völ-
oder wie auch immer an der Finanzierung der Aufga-
lig überzogenen finanziellen Forderungen der Korn-
ben der Europäischen Union beteiligt werden. Das
mission und des Europäischen Parlaments nicht er-
gilt auch für unsere englischen Freunde,- von denen
füllt wurden.
wir gerne sehen, daß sie bei uns in der Europäischen
Union mitmachen, auch wenn sie selbst damit die Die vom Bundesrat in seiner Stellungnahme einge-
größten Probleme haben. führte Kritik an der Nettozahlerposition der Bundes-
republik und die darüber geäußerte Besorgnis sind
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Dann sollen
mehr als berechtigt. Sie treffen aber nicht den Kern
sie aber auch ordentlich bezahlen!)
dieses Gesetzentwurfs, der sich nur mit der Einnah-
- Dann sollen sie auch ordentlich bezahlen, natür- meseite des Haushalts der Europäischen Gemein-
lich. Das betrifft die Disziplin auf der Einnahmen- schaft beschäftigt. Die Nettozahlerposition ergibt
seite, nicht nur auf der Ausgabenseite beim Haus- sich erst bei der Berücksichtigung der dürftigen
halt. Rückflüsse in die Bundesrepublik.

Wenn insgesamt die erhöhten Zahlungen der Bun- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!)
desrepublik Deutschland zu einem sinnvollen und Ein Industrieland wie Deutschland hat eben nur ei-
vor allem wirksamen Einsatz der Haushaltsmittel in -
nen marginalen Anteil an den Transfers der Agrar
der gesamten Europäischen Union führen, geben wir und Strukturhilfefonds der Gemeinschaft. Natürlich
dazu unsere Zustimmung. In der Beratung dieses Ge- kann eine Lastenverteilung, bei der ein Mitglieds-
setzentwurfs werden wir das eine oder andere noch staat rund 70 % des gesamten Nettotransfers tragen
vortragen. Aber insgesamt bewerten wir die Sache soll, weder im Interesse der EU liegen, noch ist sie
positiv. der Bundesrepublik zumutbar, insbesondere nicht in
Schönen Dank. einer Zeit, in der sie ohnehin durch die Anstrengun-
gen zur Deutschen Einigung besonderen Belastun-
(Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei gen ausgesetzt ist.
Abgeordneten der CDU/CSU)
Es ist auch selbstverständlich, daß der Gemein-
schaftshaushalt nicht von den Konsolidierungsbemü-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat der
- hungen der Mitgliedsstaaten ausgenommen werden
Kollege Uwe Lühr. kann. Wir gehen daher davon aus, daß die Bundesre-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1417
Uwe Lühr
gierung - wie angekündigt - noch stärker als bisher Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
auf eine sparsame, kontrollierte Haushaltsführung, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ja
die strikte Beachtung des Subsidiaritätsprinzips und bereits angesprochen worden: Deutschland ist der
eine entsprechende Überprüfung der Planungen hin- größte Nettozahler in der Europäischen Union.
wirken wird. Eine grundlegende Veränderung der 1995, also in diesem Jahr, werden von unserer Seite
Finanzverpflichtungen des Bundes wird vor 1999 al- 44 Milliarden DM in den Haushalt der Europäischen
ler Voraussicht nach nicht zu erreichen sein. Union fließen. Es kommen noch andere internatio-
nale Verpflichtungen hinzu, die im Prinzip zur Netto-
Bei der dann anstehenden Überprüfung der Ge- belastung zu addieren wären.
meinschaftsfinanzen werden Einnahmen und Ausga-
ben der Gemeinschaft grundsätzlich neu geordnet Dies tun wir ja nicht, weil wir irgend etwas zu ver-
werden müssen. Es muß in Zukunft eine ausgewoge- schenken hätten, sondern dies tun wir, weil wir der
nere Lastenverteilung in der Union geben, wenn die Auffassung sind, daß der Integrationsprozeß der Eu-
Union eine Zukunft haben soll. Dafür muß der Bei- ropäischen Union unsere Hoffnung auf ein demokra-
tragsschlüssel neu berechnet werden. Nach dem Bei- tisches, friedliches und vor allem auf die Menschen-
tritt der neuen Mitgliedsländer ist dies ohnehin erfor- rechte achtendes Europa ist.
derlich. Bei der Maastricht-Folgekonferenz im Jahr
1996 werden die institutionelle Reform sowie die zu Es ist grundsätzlich nichts daran auszusetzen, daß
künftigen Aufgaben der EU ganz oben auf der Ta- wir entsprechend unserer Wirtschaftskraft, die wir
gesordnung stehen. Diese Themen stehen mit der Gott sei Dank haben - im Vergleich zu den anderen
Frage der EU-Finanzen in unmittelbarem Zusam- Mitgliedsstaaten -, zu den supranationalen Auf-
menhang. gaben der Europäischen Union mit herangezogen
Für uns Liberale ist sowohl für die Reform der Ge- werden. Auf der anderen Seite ist es jedoch so, daß
meinschaftsorgane als auch für die Festlegung neuer unsere Bürger und Bürgerinnen durchaus einen An-
gemeinschaftlicher Aufgabenbereiche das Prinzip spruch auf eine Antwort zu der Frage haben, wie die
der Subsidiarität oberste Richtschnur. Alle Bereiche, Bundesregierung - die Leistungsfähigkeit der deut-
in denen die Gemeinschaft heute tätig ist, müssen schen Wirtschaft, die Aufbauleistung für die neuen
auf ihre Zweckmäßigkeit und Effizienz hin kritisch Bundesländer, angebliche Belastung usw. sind ja be-
überprüft werden. Da darf es keinerlei Tabus geben. kannt - trotz dieser Belastung, die immer wieder in
Ich denke z. B. an die In fl ation der Fördertöpfe in der den Vordergrund gestellt wird, die Nettozahlungen
Union, die zu Unüberschaubarkeit, hohem bürokrati- an die Europäische Union von 1990 bis 1994 prak-
schen Aufwand und damit häufig zu recht wenig Ef- tisch verdoppeln kann. Das ist eine Frage, die sich
fizienz einzelner Programme geführt hat. Es gibt draußen stellt und beantwortet werden müßte.
mittlerweile Beispiele dafür, daß Kreisverwaltungen
hochdotierte Stellen ausschreiben und Mitarbeiter Es ist auch klar, daß 30 % des europäischen Haus-
nach Brüssel entsenden, nur um die Mittel aus Brüs- halts von Deutschland finanziert werden. Davon flie-
sel voll ausschöpfen zu können. ßen - und das ist überraschend - aus dem drastisch
erhöhten Strukturtopf, den wir haben, gerade einmal
-
Deshalb muß bei der Frage der zukünftigen Fi- 7 % an Fördermitteln in die neuen Bundesländer.
nanzausstattung der Gemeinschaft vorher die bishe- Mehr ist es gar nicht, was die neuen Bundesländer
rige Ausgabenpraxis der Gemeinschaft genau unter zur Verfügung gestellt bekommen. Dadurch entsteht
die Lupe genommen werden. Wenn die Gemein- oft in der Öffentlichkeit eine Diskussion, wo man
schaft nicht den Mut aufbringt, ihre Ausgaben kon- glaubt, daß das, was zurückfließt, hauptsächlich in
sequent zu reformieren, dann wird der Ruf aus Brüs- die neuen Länder fließen würde. Aber dies ist eben
sel nach Einnahmeverbesserungen schließlich in der falsch.
Forderung nach EU-Steuern münden. Ich gehe da-
von aus, daß es in diesem Hohen Haus keine große Wir hatten vorhin erst die Debatte darüber geführt,
Mehrheit gibt, die eine solche Neugestaltung der wie es sein kann, daß in den ostdeutschen Bundes-
Einnahmen der Union vor Augen hat. ländern Milliarden an Steuermitteln und Finanzhil-
fen verschwendet wurden. Es wurden Beispiele ge-
Worüber wir aber auch einmal nachdenken müs- nannt. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch
sen, ist die Beteiligung der Bundesländer. Vor allem noch sagen, daß auch die Verschwendung in den
nach der Neufassung des Artikels 23 GG, der den westdeutschen Bundesländern eklatant ist.
Bundesländern jetzt verstärkte Mitspracherechte in
Europaangelegenheiten einräumt, ist auch die finan- Wir haben den neuesten ORH-Bericht aus Bayern
zielle Mitverantwortung zu regeln. Es ist ein ganz vorliegen. Da gehen aus zwei Beispielen Dinge her-
gängiges Prinzip, das derjenige, der bestellt, auch vor, die man nicht hinnehmen kann. So hat z. B. die
bezahlt. Daher muß derjenige, der mitbestellt, auch Nichtbearbeitung von Erbschaft- und Schenkung-
mitbezahlen. steuerfällen bei den Finanzämtern auf Grund
schlechter Stellenbesetzung - nicht für die Beamten
Schönen Dank.
gesehen, sondern quantitativ; es sind so wenig Be-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) amtinnen und Beamte da - zu Einnahmeausfällen
von 800 Millionen DM allein im Lande Bayern ge-
führt. Das ist nicht nachvollziehbar. Wenn man dann
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun mitbekommt, daß das Land beispielsweise auch Reit-
der Abgeordneten Christine Scheel das Wort. turniere und Pferdezucht mit Millionenbeträgen sub-
1418 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Christine Scheel
ventioniert, muß man sich schon einmal ans Hirn sicht über Betrugsfälle und Unregelmäßigkeiten bei
greifen. der Erhebung von Eigenmittelanteilen aus Mehr-
wertsteuer, Zöllen, Abgaben etc. zu geben, wenn sie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diese dem eigenen Parlament im Hinblick auf die
In der Europäischen Union wird immer wieder Subventionskontrolle nicht geben kann. Hier sind
Klage darüber geführt, daß Transferleistungen in den Unregelmäßigkeiten und Betrügereien bei der Ver-
Mitgliedstaaten verschwendet werden oder, schlim- gabe öffentlicher Fördermittel anscheinend nicht be-
mer noch - es wird immer mehr und öfter angespro- kannt. Diese Angaben fordern wir ein. Wenn sie von
chen -, betrügerischen Zwecken dienen. Die Bun- anderen eingefordert werden, sollten wir uns an die
desregierung tut sich locker hervor mit der Forde- eigene Nase fassen und dies auch für uns tun.
rung nach schärferen Kontrollen und Sanktionen,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
aber nicht im Hinblick auf die Bundesregierung
und bei der PDS sowie bei Abgeordneten
selbst, sondern im Hinblick auf Sanktionen für Län-
der SPD)
der wie Griechenland, Italien oder Spanien.
Wir meinen, daß sie hier Auskunft darüber geben
muß, wie die wenigen europäischen Transferleistun- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der
gen, die nach Deutschland zurückfließen, hier ver- Abgeordneten Dr. Barbara Höll das Wort.
wandt werden, wie sie sinnvoll eingesetzt werden
und wie sie vor allem kontrolliert werden. Wir den-
Dr. Barbara Höll (PDS): Herr Präsident! Meine Da-
ken auch, daß die Bürger und Bürgerinnen einen An-
men und Herren! Nur scheinbar geht es heute um
spruch darauf haben, daß es unsere nationalen Ge-
die Frage, ob die reiche Bundesrepublik von 1995 bis
setze wenigstens ermöglichen, europäische Gelder
1999 über 7 Milliarden DM zusätzlich an die EU ab-
entsprechend ihrer Zielsetzung einzusetzen.
führen soll. Auch im Zentrum der heutigen Debatte
Ich möchte Ihnen nur einmal ein Beispiel für das steht wieder einmal die Klage über den angeblichen
Kuddelmuddel nennen, was wir in diesem Bereich Zahlmeister in Europa, die Bundesrepublik Deutsch-
haben. Denn die Mittel des europäischen Sozial- land - und das, obwohl sich die Europäische Kom-
fonds sollen vorrangig für eine europäische Arbeits- mission und der Rechnungshof in Luxemburg unter
marktpolitik zum Abbau von Arbeitslosigkeit einge- Hinweis auf die komplizierte Umverteilung der Fi-
setzt werden. Das ist kein Geheimnis. Ergänzt wer- nanzen unter den EU-Ländern weigern, Tabellen
den diese Leistungen aus den Gemeinschaftsinitiati- und Statistiken über die umstrittene Frage nach den
ven. Wir müssen uns fragen, was mit den Antragstel- Nettozahlern und -empfängern herauszugeben.
lern passiert. Hier ist festzustellen, daß es das deut-
sche Arbeitsförderungsgesetz verbietet, daß bei- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das stimmt
spielsweise Teilnehmer an Bildungsmaßnahmen doch überhaupt nicht!)
Praktika im europäischen Ausland absolvieren oder Doch wenn es ums Geld geht, dann ist nicht nur bei
daß Fremdsprachenunterricht finanziell unterstützt Herrn Waigel „Schluß mit lustig".
wird, und transnationale Kooperationen und Aktio-
nen werden unglaublich erschwert. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, daß
Da stellt sich zu Recht die Frage: Wie soll denn in der Europäer Waigel schon einmal jede Zurückhal-
Deutschland die auch von der Bundesregierung viel- tung hat vermissen lassen und in begrüßenswerter
fach unterstützte Zielsetzung verwirklicht werden, Offenheit gefordert hat, die Europäische Zentral-
daß Arbeitslose ihre beruflichen Chancen auf dem bank müsse nach Frankfurt kommen
europäischen Arbeitsmarkt wahrnehmen können, (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Wo hätten Sie
wenn die Voraussetzungen, die ich vorab genannt sie denn gerne gehabt?)
habe, in der Realität einfach nicht vorliegen? Das ist
ein Unding. Das müßten wir einmal überdenken. oder es werde, so der Bundesfinanzminister unter
Einen letzten Punkt noch: Wenn die Europäische Hinweis auf die ansonsten von ihm so bejubelte
Union nun eine eigene Steuer erhalten soll, müssen Währungsunion wörtlich, aus der ganzen Veranstal-
die haushaltspolitischen und gesetzgeberischen tung nichts. Das war natürlich kein massiver nationa-
Kompetenzen des Europäischen Parlaments vorher listischer Erpressungsversuch durch ein Mitglied der
dringend gestärkt werden. Ansonsten, so glaube ich, Bundesregierung, sondern lediglich ein kollegialer
kann dies nicht sinnvoll sein. Auf keinen Fall darf ein Rat aus Bonn.
weiterer Abbau der nationalen Kompetenzen und Ich glaube, wir sollten uns heute nicht auf eine ab-
des Subsidiaritätsprinzips ohne eine Demokratisie- strakte Debatte über bundesdeutsche Zahlungsver-
rung der Europäischen Union stattfinden. pflichtungen gegenüber der EU einlassen. Wir soll-
(Beifall des Abg. Gerd Poppe [BÜNDNIS 90/ ten auch nicht an einigen technischen Details des
DIE GRÜNEN] und der Abg. Dr. Barbara Gesetzentwurfs Kritik üben oder vielleicht marginale
Höll [PDS]) Verbesserungsvorschläge machen.
Herr Präsident, ich komme zum Schluß: Aus aktu- Aus Sicht der demokratischen Sozialisten und So-
ellem Anlaß möchte ich fragen, warum die Bundesre- zialistinnen steht das Gesamtprojekt namens EU auf
gierung auf Grund ihrer eigenen Durchführungsver- dem Prüfstand. Da geben wir uns nicht der Illusion
ordnung zur Finanzierung der Europäischen Union hin, daß sich EU und Binnenmarkt vielleicht darin er-
in der Lage ist, der Kommission monatlich eine Über- schöpfen, daß jetzt Mozzarella billiger zu kaufen ist
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1419
Dr. Barbara Höll
oder der französische Wein im Supermarkt im Son- Doch nicht nur aus inhaltlichen, sondern auch aus
derangebot zu haben ist. Wir fragen nüchtern und formalen Gründen werden wir diesen Gesetzentwurf
realistisch, welche Interessen mit der als EWG ge- ablehnen. Das Europäische Parlament spielt im Zu-
gründeten EU bedient werden. sammenhang mit der Aufstellung und Verabschie-
dung des EG-Haushalts eine Rolle wie unter den Be-
Fakt ist: dingungen des aufgeklärten Absolutismus.
Auch von einer soliden Finanzverfassung der EU
Aus der dynamischen Wirtschafts- und Handels- sind wir noch Lichtjahre entfernt. Es gibt noch immer
macht, die wir schon sind, muß eine politische kein organisiertes und gerechtes System des Finanz-
Großmacht hervorgehen. ausgleichs zwischen den wirtschaftsstarken und wirt-
schaftsschwachen Mitgliedsstaaten. Das Gesamt-
So definierte es der ehemalige Kommissionspräsi- kunstwerk namens EU hängt gewissermaßen am
dent Delors in einem ,,Spiegel"-Interview bereits im Subventionstropf der einzelnen Mitgliedsstaaten.
Jahre 1991.
Wir befinden uns in einer Phase der beschleunig-
Diese, wie es in der Diplomatensprache so ver- ten Kapitalkonzentration, die in Kombination mit
harmlosend heißt, gewachsene internationale Ver- niedrigen Wachstumsraten und insgesamt rückläufi-
antwortung hat sich nicht nur in über 100 Quasi-Bot- ger Produktion auch in den Mitgliedsstaaten der
schaften der EU niedergeschlagen, sondern vor al- Union die Massenarbeitslosigkeit zu einem Dauerzu-
lem auch in einem explosionsartigen Anstieg der stand werden ließ.
Ausgaben für die Außenpolitik: Von 1988 bis 1992 Im Dezember 1993 soll der griechische Europami-
haben sich diese auf mehr als 10,4 Milliarden DM nister folgendes gesagt haben.
verdoppelt.

Von Anfang an war die Sicherung der Rohstoff- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin,
quellen und Absatzmärkte das Ziel der EWG. Der eu- Sie müssen zum Ende kommen, weil Ihre Redezeit
ropäische Wohlstand sollte und soll noch immer auf abgelaufen ist.
Kosten der sogenannten Dritten Welt ausgebaut und
notfalls auch mit Waffen verteidigt werden. Dr. Barbara Höll (PDS): Ich möchte mit diesem Satz
schließen. Ich zitiere:
Aus dem Haushalt der EU werden u. a. die Mittel
aufgebracht, um das sogenannte Drei-Säulen-Mo- Das wiedervereinigte Deutschland ist ein Riese
dell der Europäischen Union zu stützen. Die Außen- mit bestialischer Kraft und dem Hirn eines Kin-
und Sicherheitspolitik sowie die koordinierte Innen- des.
und Justizpolitik stehen bei der unterschiedlichen fi- Ich würde mir wünschen, daß Sie den Versuch un-
nanziellen Bedienung der drei Säulen eindeutig im ternähmen, zu beweisen, daß in den Hirnen der Re-
Mittelpunkt. gierung und Ihrer Koalition mehr ist. Tun Sie etwas
für die Schwerpunkte in Europa, für die Angleichung
Wir lehnen dies ab, weil es hier in erster Linie um der Sozialstandards auf höchstem Niveau und für die
den Ausbau der Festung Europa geht. Denn hinter Demokratisierung, damit sich dieser Kontinent tat-
der in Maastricht vereinbarten verbesserten Zusam- sächlich weiterentwickeln kann!
menarbeit im Bereich Justiz und Polizei verbirgt
sich unserer Auffassung nach nichts anderes als die Ich danke Ihnen.
Vereinheitlichung und Verbesserung der Asyl- und
(Beifall bei der PDS)
Abschottungspolitik gegenüber den Flüchtlingen aus
Osteuropa und der sogenannten Dritten Welt. Dazu
soll nicht nur die militärische Sicherung der EG-Au- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem
ßengrenzen beitragen, sondern vor allem das Vorha- Kollegen Wilfried Seibel das Wort.
ben, einen Großteil der Flüchtlinge durch Maßnah-
men wie Visumspflicht oder Grenzbeamte in den
Wilfried Seibel (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr
Herkunftsländern erst gar nicht an die Grenzen der
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
EU herankommen zu lassen.
Nach der Verfolgung der Rede der Vorrednerin ist
man zuweilen geneigt, daran zu zweifeln, daß die ei-
Ein solches Europa verdient aus Sicht der PDS gene Wahrnehmungsfähigkeit noch mit der Realität
keine müde Mark. Wir lehnen es ab, für die Fortset- einhergeht.
zung und Verbesserung der Abschottung dieses rei-
chen Kontinents der Kolonialmächte gegenüber den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
von ihnen ausgebeuteten Staaten auch nur einen
Ich habe mich dafür entschieden, das zu glauben.
Pfennig zu bewilligen.
Unsere innerstaatliche deutsche Haushaltsent-
(Beifall bei der PDS) wicklung ist - sie wird dies auch in den nächsten Jah-
ren bleiben - durch Anstrengungen um Haushalts-
Wir lehnen es ferner ab, für die Verfolgung und Ab- konsolidierungen auf allen staatlichen Ebenen -
schiebung von Flüchtlingen Haushaltsmittel bereit- beim Bund, bei den Ländern und bei den Gemein-
zustellen. den - gekennzeichnet. Sicherlich gibt es aktuelle
1420 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Wilfried Seibel
Aufgaben, die gelegentlich die Ausweitung der be- Im Durchschnitt der letzten Jahre erhöhten sich die
reitgestellten Mittel verlangen. Das Einsparpotential Transfers an den EG-Haushalt um ca. 12 % per an-
der öffentlichen Ausgaben ist jedoch noch längst num. Das geht zu Lasten der Steuereinnahmen des
nicht erschöpft. Bundes. Die Rückflüsse steigen in erheblich geringe-
rem Umfang.
Das Gerede vom schlanken Staat macht die Runde; Nun darf sich die Diskussion um die Höhe der
aber bis heute ist das nur ein Fummeln am Gürtel. Es deutschen Beteiligung am Haushalt der Gemein-
ist allenfalls mal probiert worden, was passiert, wenn schaft nicht auf eine isolierte Betrachtung der Haus-
man den Gürtel für kurze Zeit ein Loch enger haltstitel beschränken. Der europäische Binnen-
schnallt. Drei Löcher enger geschnallt haben wir ihn markt hat in Deutschland erhebliche positive wirt-
alle noch nicht, obwohl wir das eigentlich müßten. schaftliche und soziale Wirkungen. Von der Ausfuhr
in die EU hängt jeder vierte deutsche Arbeitsplatz
Die Anstrengungen um Einsparungen haben ihren ab. Die Bedeutung des Binnenmarktes für den natio-
Hauptgrund darin, daß wir um der Stabilität unserer nalen Arbeitsmarkt und damit für den sozialen Frie-
D-Mark willen die staatliche Verschuldung nicht den darf auf gar keinen Fall unterschätzt werden.
vorantreiben können. Der Staat darf nicht länger als
größter Nachfrager für Darlehnsmittel auftreten. Für Auch im stets wichtiger werdenden Bereich der ge-
das aktuelle Haushaltsjahr 1995 kann der Anteil der meinschaftlichen Außenpolitik ist Deutschland indi-
Neuverschuldung wahrscheinlich auf einen Wert von rekter Nutznießer der Gemeinschaft. Die erreichte
ca. 60 Milliarden DM zurückgeführt werden. Aber es Gleichstellung der neuen Bundesländer mit den an-
bleibt noch immer eine Verschuldung, d. h., wir ge- deren Ziel-1-Gebieten wird in den nächsten Jahren
ben noch immer rund 15 % mehr aus, als wir pro Jahr zu Rückflüssen der europäischen Strukturförderung
einnehmen. in Höhe von rund 28 Milliarden DM führen. 1992 be-
trugen die Nettozahlungen der EG an Ostdeutsch-
Der Haushaltsausschuß, der in diesen Tagen den land nur 1,5 Milliarden DM.
Haushalt für 1995 in Einzeletats berät, ist gegenüber Obwohl eine Gesamtbetrachtung weniger negativ
der Regierungsvorlage bemüht, weitere 5 Milliarden ausfällt, sind Neuorientierungen unserer zukünftigen
DM oder 1 % einzusparen. Sie alle wissen, mit wel- Beteiligung am Haushalt der Gemeinschaft unbe-
cher Begleitmusik das geschieht. dingt notwendig. Die traditionellen Eigenmittel, die
derzeit rund ein Viertel der Gesamteinnahmen er-
Ganz anders verläuft die Entwicklung beim Haus- bringen, werden mittelfristig sinken. Infolge der
halt der Europäischen Gemeinschaft. Hier hat insbe- Neuregelung der Mehrwertsteuer-Eigenmittel wird
sondere nach dem Vertrag von Maastricht durch die die Bruttosozialproduktabgabe deutlich an Gewicht
Hinzunahme neuer Aufgaben eine deutliche Aus- gewinnen. Mit der notwendigen und von uns auch
weitung des Haushaltsvolumens stattgefunden. gewünschten Erweiterung der EU nach Osten wer-
den Länder der Gemeinschaft beitreten, deren Brut-
Zur Veranschaulichung möchte ich ausführen, wo- tosozialprodukt auf einem sehr niedrigen Niveau
her die Eigenmittel der EU kommen oder, anders liegt. Die verstärkte Ausrichtung der Eigenmittelfi-
ausgedrückt, aus welchen Quellen sie fließen. Der nanzierung an diesen volkswirtschaftlichen Kenn-
EG-Haushalt wurde ursprünglich aus Zöllen, Agrar- größen muß für das nächste Jahrzehnt korrigiert wer-
abschöpfungen und durch Zahlungen, die sich am den. Unsere Nettozahlerposition würde sich, wenn
Mehrwertsteueraufkommen orientierten, finanziert. das so bleiben würde, erheblich verstärken, und das
Um den zusätzlichen Aufgaben durch den Beitritt - das muß man offen aussprechen - können wir uns
weiterer Länder gerecht werden zu können, wurde nicht leisten.
der. Mehrwertsteuer-Eigenmittelplafond ab dem
(Beifall des Abg. Joachim Gres [CDU/CSU])
1. Januar 1986 von 1 % auf 1,4 % erhöht. Nach dem
sogenannten Delors-I-Paket aus dem Jahre 1987 ist Durch die Wiedervereinigung hat sich unser Brutto-
der Anteil der Mehrwertsteuer-Eigenmittel zurück- sozialprodukt zwar zunächst verringert, mit dem
gefahren worden, indem als vierte Finanzierungs- wirtschaftlichen Aufschwung, der kräftig im Gange
quelle der Gemeinschaft die am Bruttosozialprodukt ist, ist aber ein Anstieg in der Zukunft zu erwarten.
bemessenen Eigenmittel eingeführt wurden.
Neben einer notwendigen Neuordnung wird es
künftig noch mehr als bisher darauf ankommen,
Das hat für Deutschland dazu geführt, daß sich un-
strikte Haushaltsdisziplin auf Gemeinschaftsebene
sere Zahlungen an die Europäische Gemeinschaft in
zu üben oder einzufordern. Von erheblicher Bedeu-
den Jahren von 1987 bis 1994 um 21 Milliarden DM
tung ist die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips,
auf 42 Milliarden DM mehr als verdoppelt haben. Mit
d. h., es ist in jedem wesentlichen Einzelfall zu prü-
dem Delors-II-Paket und dem Beschluß des Europä- fen, ob eine Aufgabe überhaupt von der Gemein-
ischen Rates wird sich eine nochmalige Steigerung schaft wahrgenommen und finanziert werden muß.
der deutschen Zahlungen für die Eigenmittel der EG Wir müssen gleichzeitig die Bemühungen intensivie-
ergeben. Heute zahlen wir 44 Milliarden DM. In nur
ren, den Rückfluß von Gemeinschaftsmitteln nach
fünf Jahren werden es auf Grund der heutigen Plan- Deutschland zu verstärken.
zahlen voraussichtlich 58 Milliarden DM oder sogar
mehr sein. Diese Zunahme wird im wesentlichen im Besondere Aufmerksamkeit verdient die Tatsache,
Bereich der Bruttosozialprodukt-Eigenmittel stattfin- daß neben der Ausweitung des EG-Gesamthaushalts
den. auch eine starke Zunahme der Darlehnstätigkeit zu
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1421

Wilfried Seibel
verzeichnen ist. So wurden im Jahr 1994 Kredite mit Die höchste Kunst darin hat die CSU entwickelt. Wir
einem Gesamtvolumen von mehr als 39 Milliarden konnten das bei dem Thema erleben, das heute vor-
DM vergeben. Hauptdarlehnsgeber ist die Europä- mittag anstand: Erst hat Herr Stoiber die Stimmung
ische Investitionsbank, deren Kredite die Strukturför- populistisch angeheizt und von angeblichem Miß-
derung aus dem EG-Haushalt ergänzen sollen. Die brauch in Ostdeutschland geredet, und dann spielt
Finanzdisziplin auf Gemeinschaftsebene darf nicht Herr Waigel, der CSU-Vorsitzende, den Staatsmann
durch die Schaffung neuer bzw. die Ausweitung be- und versucht, alles herunterzuspielen.
stehender Nebenhaushalte unterlaufen werden. Di-
Bei diesem Thema geht es genauso zu. Erinnern
rekt oder indirekt subventionierte Kredite können
Sie sich nur an den Europawahlkampf. Da durfte
zudem die nationale Geldpolitik in ihrer Wirksamkeit
Herr Stoiber im Trachtenjopperl die Vorurteile gegen
beschränken.
Europa anheizen, während der CSU-Vorsitzende,
Unter Beachtung dieser Vorgaben sichert der vor- Herr Waigel, in Bonn den Staatsmann im grauen An-
liegende Gesetzentwurf den Haushalt der EU und zug spielte.
damit die effektive Aufgabenerfüllung der Europä- (Wilfried Seibel [CDU/CSU]: Das macht
ischen Gemeinschaft. Im Interesse der nationalen jetzt Herr Eichel mit der deutschen Wieder
Staatsfinanzen und nicht zuletzt der europapoliti- vereinigung!)
schen Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung muß
mittelfristig eine grundlegende Erneuerung des ge- Im Juni 1994 z. B. sprach Ministerpräsident Stoiber
meinschaftlichen Finanzierungssystems erarbeitet von einer zu hohen Nettozahlung Deutschlands an
werden. Dies ist eine Hauptaufgabe der Folgekonfe- Europa.
renz 1996. (Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser:
Sagen wir doch auch!)
CDU und CSU unterstützen den vorliegenden Ge-
setzentwurf, weil er unter den gegebenen Bedingun- - Moment, ich komme schon noch auf Ihr Brutto-
gen die verabredete Politik der Europäischen Ge- Netto-Spiel. - Er knüpfte damit an seine populisti-
meinschaft finanziert und für unseren nationalen schen Äußerungen im Europawahlkampf an. Zum
Haushalt dennoch eine, wenn auch stark steigende, Beispiel sagte er am 23. November 1993:
berechenbare Größe bleibt.
Und da haben unsere Bürgerinnen und Bürger
Starke Steigerungen der europäischen Ausgaben, häufig das Gefühl, daß sie mehr zur Leistung für
garniert mit Pressemeldungen über Verschwendung Europa herangezogen werden als andere.
und Betrügereien bei gleichzeitig großen Einspa- Das war im Bayern-TV.
rungsanstrengungen im nationalen Haushalt, verlan-
gen von uns Politikern einen Spagat, den wir auf In einem Interview in der ARD sagte er
Dauer nicht aushalten und der dem Bürger auch (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was, der war
nicht mehr zu vermitteln ist. Deshalb müssen wir viel in der ARD? - Lilo Blunck [SPD]: Nein!)
mehr als bisher alle Ausgaben Europas in der Phase
-
des Entstehens stärker überprüfen, auf die sparsame - ja, auch ich wundere mich, Frau Kollegin, aber
Bewirtschaftung der Mittel Wert legen und, wenn auch das passiert -:
nötig, auch ein Nein in Richtung Brüssel sagen.
Nur, man darf nicht immer nur sagen: Deutsch-
Ich bin sicher, dies wird von den anderen europä- land profitiert alleine von Europa. Deswegen
ischen Staaten nicht als Kraftmeierei der Deutschen müssen wir auch mehr hineinzahlen in die euro-
verstanden, sondern unterstützt und verstärkt die päische Kasse, als wir wieder herausbekommen.
Konvergenzbemühungen aller europäischen Staaten, Von Europa profitieren auch die anderen Natio-
für die eine Erkenntnis aus der gemeinsamen Zusam- nen. Zum Beispiel wird natürlich die Frage zu
menarbeit in Europa unerläßlich bleibt: Jede Politik stellen sein: Können wir gleichzeitig 130 bis
verliert ihre Wirksamkeit, wenn es nicht gelingt, im 150 Milliarden DM in den Finanzausgleich zu-
gemeinsamen europäischen Markt auf der Basis sta- gunsten der neuen Länder geben, können wir
biler Währungsverhältnisse gemeinsam zu wirtschaf- 80 Milliarden DM nach Osteuropa geben, wo wir
ten und den Wohlstand und das Eigentum zu meh- die Hauptlast tragen, können wir auch weiterhin
ren. eine gewaltige Steigerung unserer Leistungen in
die europäische Kasse machen?
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Im gleichen Interview sagte er weiter - es geht um
die Europäische Gemeinschaft -:
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat Und ich meine - ich kann nicht vertiefen in der
der Abgeordnete von Larcher. Form -, daß ich immer noch mehr Geld in die eu-
ropäische Kasse liefere . . ., das ist mit der deut-
schen Bevölkerung auf Dauer nicht zu machen.
Detlev von Larcher (SPD): Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Mich fasziniert in diesem Zu- Der Finanzausschuß hat sich mit diesem Thema,
sammenhang die gewollte Schizophrenie der Bun- was wir heute behandeln, in der Vorbereitung der
desregierung und der sie tragenden Parteien. Tagung in Edinburgh vielfach befaßt, z. B. am
11. März 1992, am 23. September 1992, am
(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Na, na! 29. Oktober und am 9. Dezember 1992. Wir haben im
1422 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Detlev von Larcher


Finanzausschuß diskutiert und die Bundesregierung In der Gegenäußerung der Bundesregierung zur
in bezug auf die EG-Finanzierung immer gemein- Stellungnahme des Bundesrates wird folgender Aus-
schaftlich zu einer sehr restriktiven Haltung in den weg versucht: Beschließt das Gesetz - das hören wir
Delors-II-Verhandlungen aufgefordert. Dann verhan- heute -, das zu einer Steigerung der deutschen Bei-
delt die Bundesregierung und stimmt einem Abkom- träge führt, die unser Kollege Wagner genannt hat!
men zu. Geichzeitig erhebt sich wieder ein Lamento Wir, die Bundesregierung, werden stärker als bisher
- wie gesagt, mit verteilten Rollen -: Stoiber im - warum haben Sie das nicht schon immer getan? -
Trachtenjackerl, Waigel im Anzug in Bonn. darauf achten, daß in der EU eine sparsame Haus-
haltsführung vorgenommen wird. Wir werden darauf
(Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlha user: achten, daß das Subsidiaritätsprinzip strikt eingehal-
AberwihanBydocgrkei ten wird. Wir werden auch darauf achten, daß der
Wahlen! Was wollen Sie denn?) Haushalt der Gemeinschaften nicht von den Konsoli-
- Trotzdem macht Herr Stoiber das. Heute war es in dierungsanstrengungen der Mitgliedstaaten ausge-
Vertretung von Herrn Waigel der Staatssekretär. nommen werden kann usw. Künftig - man höre und
staune - werden wir auf angemessene Rückflüsse
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Europawahl!) nach Deutschland achten. Ganz langfristig verfolgen
wir sogar eine grundsätzliche Neuordnung von Ein-
Das war schon immer so. Deswegen war z. B. in
nahmen und Ausgaben.
der ,,Zeit" vom 21. Februar 1992 zu lesen:
(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)
Da stimmen die Staats- und Regierungschefs in
Maastricht nach langem Tauziehen einem Ver- Also frage ich: Wie stimmt Ihr kurzfristiges Han-
tragswerk zu, dessen finanzielle Folgen jedem deln mit dem Ziel überein? Das widerspricht sich
klar sein müssen: höhere Ausgaben für die Ge- doch.
meinschaft. Das folgt aus einer gemeinsamen
Außenpolitik genauso wie aus der Gründung (Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser:
eines Kohäsionsfonds zugunsten der weniger Das werden wir Ihnen erklären!)
wohlhabenden EG-Länder. Über Sinn und Ich finde, Sie sollten entweder zu dem stehen, was
Zweck beider Beschlüsse kann man lange strei- Sie ausgehandelt haben, oder hier am Pult gestehen:
ten. Aber wer ihnen wie die Bundesregierung zu- Wir haben einen Fehler gemacht. Wir haben schlecht
stimmt, kann nicht den Überraschten spielen, verhandelt. Aber, bitte, beschließt das Gesetz; denn
wenn die Rechnung präsentiert wird. wenn ihr es ablehnt, gibt es Krach in der EU.
(Beifall bei der SPD) Ich meine, es ist auch kein Ausweg, Herr Staatsse-
Was soll also die deutsche Entrüstung darüber, kretär, wenn Sie heute Ihre Brutto-Netto-Spiele ma-
daß die Brüsseler Finanzplanung für die nächsten chen. Sie sollten eigentlich wissen, daß das sehr ge-
Jahre höhere Bonner Beiträge vorsieht? fährlich ist.

In der Gegenäußerung der Bundesregierung zur


Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr von Lar-
Stellungnahme des Bundesrates können - wir lesen,
-

cher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen


daß die Bundesregierung sagt, die Lastenverteilung
Seibel?
in der Europäischen Union sei unausgewogen und
problematisch. Sie sagt, es sei nicht hinnehmbar,
daß 70 % des gesamten Nettoressourcentransfers Detlev von Larcher (SPD): Gerne. Aber ich bin ei-
Deutschland alleine trage. Man drückt das vorneh- gentlich schon fertig.
mer mit der Wendung „ein Mitgliedstaat" aus. Das
sei weder im Interesse der Gemeinschaft noch dem
Wilfried Seibel (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege
Mitgliedstaat zumutbar.
von Larcher, da Sie die Frage zugelassen haben, ver-
Also was ist nun? Wenn es unzumutbar ist, warum längert das Ihre Möglichkeit, etwas darzustellen.
legen Sie uns heute einen Gesetzentwurf zur Zustim- Sind Sie in der Lage, kurzfristig und vielleicht auch
mung vor? Sie wollen Regierung und Opposition mittelfristig, bereit und geneigt, in die Abwägung Ih-
gleichzeitig sein.
rer Argumente, die Sie gerade vorgetragen haben,
(Zuruf von der CDU/CSU: Die Opposition einzubeziehen, daß sich dieser Mittelbeschluß Euro-
fällt doch aus im Bundestag!) pas in einer ganz konkreten Situation in Europa voll-
zogen hat, die durch die Wiedervereinigung
Sie schließen Abkommen und kritisieren sie gleich- Deutschlands geprägt war? Sind Sie der Auffassung,
zeitig. Alles andere als glaubwürdige Politik, nenne daß für den Prozeß der Wiedervereinigung Deutsch-
ich das. lands die Europäische Gemeinschaft, wenn denn
Sie wollen dem Volk mit populistischen Reden ge- schon nicht materiell, doch wohl ideell einen großen
fallen, die die Vorurteile gegenüber Europa verstär- Beitrag geleistet hat und daß es uns Deutschen in
ken, und gleichzeitig setzen Sie die finanzielle Bela- dieser für unser Land glücklichen Phase nicht gut an-
stung in Europa mit fest. Stehen Sie doch zu Ihrer ei- steht, mit Groschen aufzurechnen? Diese konkrete
genen Politik! Situation wird sich verstetigen, wird sich normalisie-
ren. Deswegen wird es in mittelfristiger Perspektive
(Lilo Blunck [SPD]: Da haben die Schwierig möglich sein, die Dinge anders zu gewichten als
keiten!) heute.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1423

Detlev von Larcher (SPD): Herr Kollege Seibel, ich Detlev von Larcher (SPD): Herr Kollege, sehen Sie
finde, eigentlich wäre eine andere Konsequenz aus es nicht als Aufgabe der Opposition an, die Verant-
Ihrer Rede richtig gewesen: Auf Grund des histori- wortung da hinzuschieben, wo sie hingehört?
schen Zusammenhangs, den Sie angesprochen ha-
ben, hätte man doch erwarten können, daß die Bun-
desregierung darauf aufmerksam macht, wie hoch Friedrich Merz (CDU/CSU): Herr von Larcher, ich
die Belastung, die die deutsche Einheit mit sich würde es begrüßen, wenn Sie Ihre Rolle als Opposi-
bringt, für die Bundesrepublik sein wird. tion manchmal ernster nähmen, als Sie es tun. Aber
der richtige Oppositionsführer ist gar nicht da.
Die europäischen Partner hätten gebeten werden
können, auf diese hohe Belastung Rücksicht zu neh-
men. Man hätte vielleicht ein anderes Verhandlungs- Detlev von Larcher (SPD): Aber wenn wir es tun,
ergebnis erzielen können. dann beklagen Sie sich.

Im Finanzausschuß - Sie waren dabei - haben wir


das doch gemeinsam von der Bundesregierung ver- Friedrich Merz (CDU/CSU): Also, Herr von Lar-
langt. Es ist nicht so, daß das zwischen uns kontro- cher, es gibt auch Themen - und die Europapolitik in
vers gewesen wäre. Wir haben das Ergebnis heute der Bundesrepublik Deutschland hat über vier Jahr-
auf dem Tisch. Ich will Sie da nicht rauslassen; zehnte dazugehört -, wo es eines großen Konsenses
der großen Parteien in Deutschland bedarf.
(Beifall bei der SPD)
(Detlev von Larcher [SPD]: Den habe ich
denn Sie sagen, wir müssen dieses beschließen, weil doch sogar betont!)
es vernünftig ist und weil es zur Integration Europas
beiträgt, rennen aber gleichzeitig im Land herum Ich bedauere, daß Sie den mit Ihrer Rede heute auf-
und schüren die Stimmung gegen Europa, reden gekündigt haben.
stets vom Zahlmeister Europa. Das taten z. B. Herr
Stoiber, aber auch andere Mitglieder der Regierungs- Meine Damen und Herren, die Finanzbeziehun-
parteien. Genau darum geht es mir. Dann kann man gen der Bundesrepublik Deutschland zur Europäi-
nicht sagen: Jetzt beschließen wir dieses Gesetz. schen Union gehören ohne Zweifel zu den politisch
sensiblen Themen in unserem Land. Wenn der Bun-
Die Verhandlungen haben lange genug gedauert. desrat und der Bundestag jetzt aufgefordert sind,
Wir sind in einer ganz anderen Situation. Uns wird dem Beschluß von Edinburgh aus dem Jahre 1992
das Gesetz zur Zustimmung empfohlen, aber gleich- und dem Ratsbeschluß vom Oktober 1994 zuzustim-
zeitig wird gesagt: Was es uns bringt, das können wir men, und wenn damit Zahlungsverpflichtungen des
eigentlich nicht tragen. Jetzt wird ein Trick ange- Bundes zugunsten des europäischen Haushaltes wei-
wandt, wie wir es vielleicht doch tragen können: ter gesteigert werden, dann erfordert dieser Schritt
Man sagt, es gehe gar nicht um die Erhöhung der des Gesetzgebers ohne Zweifel eine besondere Be-
Bruttozahlungen, sondern es gehe darum, daß wir gründung.
durch den Rückfluß den Nettobetrag senken- könn-
ten. Das ist doch wirklich eine Ausrede. Es ist an dieser Stelle schon darauf hingewiesen
worden: Die Bruttobeiträge der Bundesrepublik
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Deutschland werden in den nächsten Jahren von
ten der PDS) rund 35 Milliarden DM auf etwas über 48 Milliarden
DM im Jahr steigen. Insbesondere in der Bemessung
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem unseres Finanzbeitrages nach dem Maßstab des
Abgeordneten Friedrich Merz das Wort. Bruttosozialproduktes kommt ein objektiver Maßstab
bei der Finanzierung des Unionshaushaltes zum Aus-
druck. Wir sind mit 80 Millionen Einwohnern und der
Friedrich Merz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft ohne
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege von Zweifel eines der leistungsfähigsten, vielleicht das
Larcher, Sie haben - ich bedauere das - in diese De- leistungsfähigste Land der Europäischen Union.
batte einen, wie ich finde, unnötig scharfen Ton hin-
eingebracht, der dem Thema nicht angemessen ist. Frau Kollegin Scheel, ich freue mich darüber, daß
Wenn Sie die Vorwürfe in Richtung Union machen, die GRÜNEN wenigstens in diesem Zusammenhang
dann können wir sagen: Wir sind doch nun wirklich bereit sind, die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirt-
die letzten, die sich Vorwürfe machen lassen müssen, schaft anzuerkennen.
nicht aktiv für die europäische Integration einzutre-
ten. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, die Frage der Beitrags-
gerechtigkeit darf nicht nur auf der Einnahmenseite
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege diskutiert werden. Auf der Einnahmenseite - ich bin
Merz, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn gern bereit, dies zuzugestehen - ist der britische Bei-
von Larcher? tragsrabatt ohne Zweifel ein besonderes Ärgernis.
Dieses Ärgernis hätte vermieden werden können,
wenn im Jahr 1988 eine Befristung dieser Sonderre-
Friedrich Merz (CDU/CSU): Bitte schön. gelung für Großbritannien beschlossen worden wäre.
1424 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Friedrich Merz
Aber nach dem Haushaltsvolumen der Europäi- schlag, aber er will sorgfältig begründet und in unser
schen Union ist die Frage weit bedeutsamer, zu wel- Steuersystem eingepaßt werden.
chen Zwecken die Europäische Union ihre Haus-
haltsmittel einsetzt. Wer auf Dauer zu einer gerech- (Detlev von Larcher [SPD]: Aber es geht um
ten Verteilung der Ausgaben kommen will, kommt Ihre Regierung!)
um eine grundlegende Reform der Agrarpolitik auf Entscheidend für mich, meine Damen und Herren,
lange Sicht nicht herum. Wir werden sie ohnehin ma- ist nicht, daß wir dieses Thema der Eigenmittelaus-
chen müssen, spätestens dann, wenn Staaten aus stattung der Europäischen Union allein unter buch-
Mitteleuropa und Osteuropa beitreten. halterischen Aspekten beurteilen. Vor dem Hinter-
grund der vollkommen veränderten geopolitischen
Wer heute hier steht und den Betrug beklagt, dem
Lage in Deutschland, in Europa und in der Welt müs-
will ich sagen: Man müßte schon an der Intelligenz
sen wir uns Rechenschaft darüber ablegen, welche
der Beteiligten zweifeln, wenn in einem solchen Sy-
Aufgaben die Europäische Union für uns alle in Zu-
stem der Staatswirtschaft Betrug und Mißbrauch
kunft wahrnehmen soll.
nicht an der Tagesordnung wären.
Für mich gehört dazu an erster Stelle die dauer-
Aber, meine Damen und Herren, die Ursache für hafte Sicherung von Frieden und Freiheit in Europa.
die von unseren Bürgern zu Recht als problematisch Diesen Auftrag kann die Europäische Union aber nur
empfundene Nettozahlerposition liegt auf der Aus-
erfüllen, wenn wir bereits 1996 einen weiteren muti-
gabenseite und nicht auf der Einnahmenseite. Las- gen Schritt hin zu einer gemeinsamen Außen- und
sen Sie mich in diesem Zusammenhang auch sagen: Sicherheitspolitik unternehmen. Wir stehen heute
Es gehört schon zu den wenig wahrgenommenen vor der Frage, ob wir die Grundentscheidungen der
Fakten, daß der Bund für die Einnahmen zuständig Gründerjahre der Europäischen Gemeinschaften im
ist, aber die Länder in der Bundesrepublik Deutsch- Sinne einer vertieften Integration weiter akzeptieren
land zu einem großen Teil von den Ausgaben der Eu- und fortentwickeln oder ob wir unter der Überschrift
ropäischen Union profitieren, weil es Aufgaben der der intergouvernementalen Zusammenarbeit in die
Länder sind, die eigentlich mit diesen Ausgaben be- Zeiten des Nationalismus zurückfallen.
dacht werden.
Bei aller berechtigten Kritik an Subventionsmenta-
Ich will an dieser Stelle - sozusagen in Klammern - lität und Fehlleitung von Haushaltsmitteln in Europa
auch darauf hinweisen, daß wir nicht erwarten dür- sollte uns das Zustimmungsgesetz zu den Beschlüs-
fen, daß das gesamte System der Haushaltsfinanzie- sen von Edinburgh Veranlassung geben, auf diesen
rung in der Europäischen Union jemals große Zu- existentiellen Zusammenhang unserer Europapolitik
stimmung finden wird, wenn wir es dabei belassen, erneut hinzuweisen.
daß der überwiegende Teil des Haushalts im Wege
einer Umlage finanziert wird. Herzlichen Dank.

Jeder Kommunalpolitiker in unserem Land weiß, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
daß Umlagehaushalte übergeordneter Gebietskör-
perschaften ein ständiges Ärgernis auf- der Seite der Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
Zahlungspflichtigen sind. Die Begünstigten finden Merz, das war zwar nicht Ihre erste parlamentarische
dabei ihrerseits bei den Bürgern keine Akzeptanz, Rede, aber Ihre erste Rede in diesem Hause. Dazu
weil eine unmittelbare Beziehung zwischen den möchte ich Ihnen gratulieren.
steuerpflichtigen Bürgern auf der einen und den für
die Ausgaben politisch verantwortlichen Institutio- (Beifall)
nen auf der anderen Seite fehlt.
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich
Wir müssen deshalb bei der Beschlußfassung über schließe die Aussprache.
die Eigenmittelausstattung der Europäischen Union
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetz-
beim nächstenmal, also nach 1999, schon darüber
entwurfs auf Drucksache 13/382 an die in der Tag es-
sprechen, ob nicht eine Gemeinschaftsteuer das bes-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es an-
sere Instrument darstellt, um Einnahmen- und Aus-
dere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es
gabenverantwortung herzustellen.
so beschlossen.
(Detlev von Larcher [SPD]: Das haben Sie Meine Kolleginnen und Kollegen, ich habe in einer
bis jetzt strikt abgelehnt!) Sitzung der letzten Woche dem Kollegen Carstensen
- Nein, Herr von Larcher. Ich persönlich bin als Mit- einen Ordnungsruf erteilt. Er hat sich bei den Betrof-
glied des Europäischen Parlaments an einem solchen fenen entschuldigt und mich gebeten, das dem Ple-
Beschluß beteiligt gewesen, num mitzuteilen. Damit ist die Sache erledigt.

(Detlev von Larcher [SPD]: Ich meine nicht Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 und die
Sie persönlich!) Zusatzpunkte 6 bis 8 auf:
an einer Vorlage, die aber sorgsam darauf bedacht 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten
ist, daß die Abgabenbelastung der Bürger in der Eu- Dr. Ingomar Hauchler, Hans Büttner (Ingol-
ropäischen Union durch ein solches System nicht stadt), Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter
steigt. Ich habe Sympathie für einen solchen Vor und der Fraktion der SPD
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1425
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Weltgipfel für soziale Entwicklung vom 6. bis Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Präsident!
12. März 1995 in Kopenhagen Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vom 6. bis
11. März 1995 findet in Kopenhagen der Weltsozial-
- Drucksache 13/421 - gipfel statt, an dem nach bisherigen Erkenntnissen
Überweisungsvorschlag: über 115 Staats- und Regierungschefs teilnehmen
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) werden - eine Veranstaltung, die allerdings in der
Finanzausschuß Bundesrepublik bisher weitgehend unter Ausschluß
Ausschuß für Wirtschaft der Öffentlichkeit und ohne ihre Beteiligung vorbe-
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
reitet worden ist. Ich sage das mit großem Bedauern.
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich ein Me-
Haushaltsausschuß dium, die Wochenzeitung „Die Zeit", hervorheben,
die die Bedeutung dieser Konferenz richtig einzu-
ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten der schätzen vermag.
PDS
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
Weltgipfel für soziale Entwicklung vom 6. bis
12. März 1995 in Kopenhagen Betrachtet man nämlich die bisher bereits erarbeite-
ten Papiere, den vorbereiteten Entwurf der Erklä-
- Drucksache 13/535 — rung der Regierungschefs und auch die weitgehend
Überweisungsvorschlag: abgestimmten Papiere für das Aktionsprogramm,
dann kann man, glaube ich, bereits jetzt mit Fug und
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend)
Finanzausschuß
Recht sagen: Dieser Weltsozialgipfel bietet die
Ausschuß für Wirtschaft Chance, nationale und internationale Finanz- und
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- Wirtschaftspolitik wieder vom Kopf auf die Füße zu
lung stellen und damit den Monetarismus als Ideologie
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuß
endgültig zu Grabe zu tragen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Angelika Köster-Loßack, Dr. Uschi Eid, Sehr geehrte Damen und Herren, statt Wohlstand,
Wolfgang Schmitt, weiterer Abgeordneter und soziale Sicherheit und damit qualitatives Wachstum
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu ermöglichen, hat nämlich diese Wirtschaftsideolo-
gie in den vergangenen beiden Dekaden wesentlich
Weltsozialgipfel dazu beigetragen, daß weltweit Armut zugenommen
- Drucksache 13/539 hat, daß Arbeitslosigkeit angestiegen ist und natio-
nale und internationale Beziehungen destabilisiert
—Überwisungvorschlag: wurden.
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend)
Finanzausschuß Die für die Gipfelkonferenz vorliegenden Doku-
Ausschuß für Wirtschaft mente lassen hoffen, daß die Mehrheit der Staats-
- und Entwick-
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Regierungschefs erkennt oder bereits erkannt
lung
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
hat: Wirtschaft findet weder alleine in der Wirtschaft
Haushaltsausschuß statt, noch hat sie ausschließlich der Kapitalvermeh-
rung zu dienen. Vielmehr ist ihre Aufgabe die Ver-
ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten besserung der Lebensbedingungen der Menschen
Dr. Winfried Pinger, Wolfgang Vogt (Düren) bei weitestgehender Schonung der Umwelt.
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-
geordneten Roland Kohn, Dr. Irmgard (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
Schwaetzer und der Fraktion der F.D.P. ten der PDS)
Die Kopenhagener Konferenz bietet die Chance,
Weltgipfel für soziale Entwicklung vom 6. bis
Wirtschafts- und Finanzpolitik auf internationaler
12. März 1995 in Kopenhagen
und nationaler Ebene dort wiederaufzunehmen, wo
- Drucksache 13/556 — sie der Monetarismus unterbrochen hat, nämlich bei
den Ergebnissen des Club of Rome.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Finanzausschuß PDS)
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- Sehr verehrte Kolleginnen, sehr verehrte Kollegen,
lung dies gilt, wenn man sich den Entwurf der Deklara-
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union tion anschaut, im einzelnen bereits für die Grund-
Haushaltsausschuß
sätze, die dort niedergeschrieben sind und bei denen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind man sich gelegentlich wundern muß, ob die Bundes-
für die gemeinsame Aussprache anderthalb Stunden regierung mit Absicht das, was sie hier als einen akti-
vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Wider- ven Beitrag für eine Politik für die Menschen mitzu-
spruch. Dann ist so beschlossen. tragen gedenkt, der Öffentlichkeit vorenthalten will,
weil es in die nationale Auseinandersetzung nicht
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster ganz hineinpaßt. In dem Entwurf steht - ich darf das
der Abgeordnete Hans Büttner. einmal kurz zitieren -: Wir als Staats- und Regie-
1426 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Hans Büttner (Ingolstadt)


rungschefs erkennen an, daß unsere Gesellschaften ten können, wenn wir sehen, was sich im Zuge der
wesentlich mehr auf die materiellen und geistigen internationalen Entwicklung hier abspielt. Wir wer-
Bedürfnisse der Menschen eingehen müssen. Ferner den es nicht durchstehen, dieses Prinzip sozusagen
steht dort, daß die Regierungschefs anerkennen, daß für alle Zeiten so hochzuhalten, wenn wir bedenken,
die soziale Entwicklung ein zentraler Punkt für die daß das über 400 eigenständige Staaten in Afrika
Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen und ih- und wer weiß wie viele noch in Europa zum Ergebnis
rer Wünsche in der gesamten Welt ist und daß soziale haben kann.
Gerechtigkeit und soziale Entwicklung Vorausset-
zung dafür sind, daß Menschen und Gesellschaften Man wird also gut daran tun, hier etwas vorsichti-
friedlich leben können. ger vorzugehen, vielleicht in der Richtung, das
Selbstbestimmungsrecht in kulturellen und ethni-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne schen Fragen zu betonen, aber in wirtschaftlichen,
ten der PDS) sozialen und auch staatlichen Fragen doch in etwas
Manchmal hat man ja den Eindruck, die Sozial- größere Zusammenhänge einzubinden. Wir tun gut
lasten seien zu hoch und man könne für sie nur auf- daran, da etwas vorsichtiger, statt mit ideologischem
kommen, wenn genügend Mittel erwirtschaftet wor- Kampfgeschrei heranzugehen.
den seien. Hier erklären die Regierungschefs etwas
anderes. Sie sagen nämlich: Die soziale Entwicklung Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu
ist Voraussetzung dafür, daß sich die Produktivkräfte dem Aktionsprogramm machen. Es ist ebenso wie
der Menschen voll entfalten können. die Erklärung der Regierungschefs nicht nur eine
Aufforderung, entwicklungspolitisch für die Armen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der in dieser Welt etwas zu tun, sondern ein deutlicher
PDS) Appell, das Auseinanderdriften der Entwicklungen
zwischen arm und reich in den Staaten überall auf
Sie sagen aber auch, daß das wiederum zu wirt-
der Welt einzudämmen und sich klarzumachen, daß
schaftlicher Entwicklung führe, daß beides voneinan-
man, wenn man hier durch nationale Politiken nicht
der abhängig sei. Es wäre schön, wenn wir am
frühzeitig gegensteuert, von einem solchen Un-
Schluß dieser Konferenz in Kopenhagen so weit kä-
gleichgewicht in der Entwicklung eingeholt wird.
men, daß wir uns auch im nationalen und internatio-
nalen Bereich darüber klar sind, daß es ohne soziale
Ich möchte die Bundesregierung deswegen nach-
Entwicklung und ohne soziale Standards keine dau-
drücklich auffordern, dem Gedanken näherzutreten
erhafte wirtschaftliche Entwicklung gibt und umge-
- und das ist bisher noch nicht genügend geschehen -
kehrt.
bei der Frage der Kontrolle und des Einsatzes inter-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne nationaler Finanzmärkte das Problem der Windfall
ten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ Profits und der Finanzspekulation stärker auch unter
DIE GRÜNEN und der PDS) die Beobachtung der internationalen Organisationen
zu stellen.
Allerdings - und lassen Sie mich das auch deutlich
sagen - sind einige Punkte noch etwas offen,
- sowohl Ich sage das deswegen, weil wir nur dann glaub-
was die Erklärung der Regierungschefs als auch was haft über die Verschuldung und Entschuldung der
das Aktionsprogramm angeht. Deswegen haben wir Länder der Dritten Welt werden reden können, wenn
in unserem Antrag einiges dazu aufgeführt. Ich wir uns gleichzeitig bewußt machen, daß wir selbst
werde die speziellen entwicklungspolitischen Teile durch einen Kapitaltransfer aus diesen Ländern, be-
hier nicht vorwegnehmen. Darüber werden meine dingt durch staatliche Strukturen und anderes mehr,
Kolleginnen noch im Detail reden. dazu beitragen, daß Entwicklung und Investitionen
Aber lassen Sie mich einige grundsätzliche Fragen dort behindert werden. Dies kann man nur beeinflus-
aufnehmen und der Regierung mit auf den Weg ge- sen, wenn man sich deutlicher bewußt wird, daß un-
ben, sich weiter so zu verhalten, wie sie das bisher, sere internationalen Finanzmärkte nicht in Ordnung
vielleicht etwas versteckt, aber, wie ich finde, gar sind, daß man hier auch einen anderen Ansatz finden
nicht so schlecht im Zusammenspiel innerhalb der muß,
Europäischen Union getan hat. Es ist durchaus posi-
tiv, daß wir in dieser Frage gemeinsam auftreten und Der Gedanke, der hier im Aktionsprogramm aufge-
unsere alte Forderung nach einer einheitlichen EU- nommen worden ist, sollte meines Erachtens nach-
Außenpolitik und nach einer einheitlichen EU-Wirt- drücklich unterstützt werden. Ich halte es auch für
schafts- und Finanzpolitik auch realisieren. Das ist notwendig - ich möchte die Regierung auch dabei
durchaus ein positiver Schritt. unterstützen -, daß die Regierung dazu beiträgt, bei
der Frage der Entschuldung etwas vorsichtiger zu
Man sollte allerdings auch überdenken, ob das - operieren.
wie ich meine und wie auch aus dem Antrag der Ko-
alition deutlich wird - etwas einseitige und überzo- Ich bin ein Vertreter von Entschuldung. Man kann
gene Abheben auf das Selbstbestimmungsrecht der aber nicht ernsthaft verlangen, daß unsere Steuergel-
Völker im internationalen Kontext auf die Dauer so der verwendet werden, um die Profite von irgend-
durchgehalten werden kann. Ich sage das mil aller welchen Diktatoren in irgendwelchen Ländern zu
Vorsicht, weil ich voll zu diesem Selbstbestimmungs- steigern. Das muß man aber dort in den Griff bekom-
recht der Völker stehe. Aber man muß wissen, daß men, wo es von uns beeinflußbar ist. Das ist die Ge-
wir das nicht als permanentes Prinzip aufrechterhal- staltung und Organisation der internationalen Fi-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1427
Hans Büttner (Ingolstadt)
nanzmärkte und der internationalen Finanzpolitik. Sie haben uns jetzt die Gelegenheit gegeben,
Hier haben wir über Bretton Woods, den Internatio- schon vor dem Gipfel diesen Dank auszusprechen.
nalen Währungsfonds, die Weltbank, WTO und an- Wir werden es nach Kopenhagen natürlich noch ein-
dere Stellen Einfluß. mal tun.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Lassen Sie mich zum Schluß zwei Aspekte anfüh- Dieser Weltsozialgipfel Anfang März in Kopenha-
ren. Der Initiator dieses Weltwirtschaftsgipfels, der gen ist eine echte Premiere. Erstmals werden sich die
frühere Präsidentenberater Chiles, Mexikos sowie Regierungs- und Staatschefs mit der sozialen Ent-
Venezuelas und jetzige Botschafter Chiles bei den wicklung der Völker und Staaten beschäftigen. Die
Vereinten Nationen, Juan Somavia, hat in einem In- CDU/CSU begrüßt es ausdrücklich, daß der Bundes-
terview mit der „Zeit" erklärt, er hätte einen Traum, kanzler an diesem Gipfel teilnehmen wird.
daß nämlich die Vereinten Nationen nach diesem
Weltwirtschaftsgipfel und ihrer Arbeit dort einen Für uns ist wichtig, daß dieser Gipfel für soziale
Friedensnobelpreis erhalten könnten, und zwar nicht Entwicklung nicht die alten Schlachtrufe der Nord-
für den Einsatz ihrer Blauhelme, sondern weil sie es Süd-Auseinandersetzung aufgreift und die Welt wei-
gewagt haben, nach einem Konzept menschlicher Si- ter in zwei oder drei Teile teilt. Unsere Sicht der
cherheit zu suchen. Dinge ist es vielmehr, daß die Förderung der produk-
tiven Beschäftigung, die Integration benachteiligter
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Gruppen, die Bekämpfung der Armut eine Heraus-
Das ist in der Tat ein neuer Schritt in der Ge- forderung für alle ist und alle verpflichtet. Die Indu-
schichte, national und international. Wir müssen uns strieländer - da stimmen wir überein -, die Entwick-
darauf konzentrieren. lungsländer und die Staaten, die sich im Übergang
von der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft befin-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne den, sind gleichermaßen und gemeinsam betroffen.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Regierungschefs haben in ihrer Erklärung fest- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
gestellt - damit will ich schließen -: Zum ersten Mal Sachgerechte Antworten auf diese Probleme sind
in der Geschichte auf Einladung der Vereinten Natio- existentiell für Millionen von Menschen. Ich nehme
nen versammeln wir Regierungschefs und Staats- an, daß wir heute in dieser Debatte keine großen
oberhäupter uns, um die herausragende Bedeutung Auseinandersetzungen haben, aber sachgerechte
der sozialen Entwicklung und des menschlichen Antworten - ich möchte das mit Blick auf den Antrag
Wohlbefindens für alle anzuerkennen und diesen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sagen - wird nur
Zielen die höchste Bedeutung sowohl jetzt als auch derjenige finden, der nicht von so irrigen Behauptun-
im 21. Jahrhundert zu geben. gen ausgeht wie der, wir hätten in der Bundesrepu-
Die Bundesregierung möchte ich auffordern, diese blik Deutschland bei der Sozialhilfe das Bedarfsdek-
Zielsetzung in Kopenhagen nachdrücklich zu unter- kungsprinzip aufgegeben. So findet man nicht die
-
stützen und in ihre nationale Politik umzusetzen. sachgerechten Antworten auf Fragen, die für die
Eine weltweit gültige Sozialordnung aufzubauen, Menschen existentiell sind. Deshalb sollten sich - das
dient dem Frieden allemal besser, als durch Armeen ist mein Wort an die sozialdemokratische Fraktion -
die Trümmer wegräumen zu lassen. die Staats- und Regierungschefs nicht durch Ihre An-
träge verleiten lassen, in Kopenhagen institutionelle
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Fragen der Reform der Vereinten Nationen aufzu-
Hier sollte Deutschland seine neue Rolle in der Welt greifen, denn das könnte sehr leicht von den sozialen
suchen. Fragen ablenken, um die es in Kopenhagen gehen
muß, meine Damen und Herren.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Die Länder, die sich im Übergang von planwirt-
und der PDS) schaftlichen Systemen zu Marktwirtschaften befin-
den, wie die Entwicklungsländer, können ihre Pro-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem bleme nicht ohne eigene Anstrengung, aber auch
Abgeordneten Wolfgang Vogt das Wort. nicht ohne die aktive Hilfe der Industrieländer lösen.
Das ist heute allen politisch Verantwortlichen klar.
Der Weltgipfel ist Ausdruck der Bereitschaft, diese
Wolfgang Vogt (Düren) (CDU/CSU): Herr Präsi- Probleme als globale Probleme zu begreifen und sie
dent! Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege in gemeinsamen solidarischen Anstrengungen an-
Büttner, ich möchte mich zunächst bei Ihnen und der zugehen.
SPD-Fraktion dafür bedanken, daß Sie als erste Frak-
tion zu diesem Thema im Deutschen Bundestag ei- Für eine sozialstaatliche und marktwirtschaftlich
nen Antrag eingebracht haben. Wir, die CDU/CSU, orientierte Demokratie wie die Bundesrepublik
hatten eigentlich vor, der Bundesregierung erst nach Deutschland ist ein Weltsozialgipfel nach den vielen
dem Weltsozialgipfel für ihren engagierten und kon- in erster Linie wirtschaftlich ausgerichteten Gipfel-
struktiven Beitrag bei der Vorbereitung dieses Gip- veranstaltungen der G 7 von besonderer Bedeutung.
fels Dank zu sagen. Denn Soziale Marktwirtschaft heißt für uns: Wirt-
1428 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Wolfgang Vogt (Düren)


schaftliche und soziale Entwicklung sowie der Die CDU/CSU erwartet, daß der Weltgipfel für so-
Schutz der Umwelt müssen Hand in Hand gehen; ziale Entwicklung Zeichen praktischer Solidarität
wirtschaftliche und soziale Entwicklungen bedingen setzt. Ich hoffe, daß die Bundesregierung alsbald
und ergänzen sich gegenseitig. nach der Konferenz dem Deutschen Bundestag von
einer guten Gipfelkonferenz in Kopenhagen berich-
Wir wissen, daß auf internationalen Konferenzen ten kann.
Fortschritte nur erreicht werden, wenn möglichst
viele Länder für einen Konsens gewonnen werden. Vielen Dank.
Wir meinen aber auch, daß die Europäische Union, in (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und
deren Rahmen wir uns artikulieren, weiter energisch der SPD)
darauf bestehen muß, daß die Entwicklungsländer
auch ihre eigene Verantwortung für die soziale Ent-
wicklung akzeptieren und ihr eigenes Potential opti- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat
mal ausschöpfen. nun die Abgeordnete Angelika Köster Loßack.-

Arm sein heißt nicht unfähig sein, Korruption zu


Dr. Angelika Köster Loßack (BÜNDNIS 90/DIE
bekämpfen, exzessive Militärausgaben zu verhin-
-

GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Her-


dern und krasse Verteilungsungerechtigkeiten zu
ren! Am Ende dieses von Völkermord, Weltkriegen,
beseitigen.
Hungersnöten, Vertreibungen und weltweiten Um-
weltzerstörungen gekennzeichneten Jahrhunderts
(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD:
steht zum ersten Mal die soziale Frage auf der Tages-
Sehr richtig!)
ordnung einer UNO-Konferenz.
Gute Regierungspraxis ist angesagt. Die Respektie- Viele Hoffnungen knüpfen sich an die vor dem
rung der fundamentalen Arbeitnehmerrechte, also Gipfel in Kopenhagen gegebenen Versprechungen,
keine Zwangsarbeit, keine Kinderarbeit, gewerk- den sozialen Fragen den gleichen Stellenwert einzu-
schaftliche Rechte, Tarifautonomie, sollte angemahnt räumen wie bisher den wirtschaftlichen.
und auch durchgesetzt werden.
Betrachten wir die berechtigten Forderungen nach
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so gerechter Einkommensverteilung, nach selbstbe-
wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ stimmten Lebensentwürfen und nach einer den Men-
DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS) schen dienenden Entwicklung, so müssen wir fest-
stellen, daß gewaltige Anstrengungen notwendig
Mit Hilfsprogrammen wie dem Kinderarbeitspro- sein werden, um auch nur die ersten Schritte auf die-
gramm der Internationalen Arbeitsorganisation, das sem Weg zu gehen.
von der Bundesregierung initiiert wurde und zu we-
sentlichen Teilen von ihr finanziert wird, können wir Leider ist zu befürchten, daß sich der Gipfel in Ko-
penhagen einreihen wird in die Serie von Gipfeln,
diese Politik weiter stützen.
die außer folgenlosen Absichtserklärungen nichts
- bringen. Wir wünschen uns daher, heute von der
(Zuruf von der SPD: Und im GATT !)
Bundesregierung zu hören, welche konkreten Maß-
Der Weltgipfel für soziale Entwicklung muß nahmen sie ergreifen will, um die in Kopenhagen for-
schließlich deutlich machen, daß überall auf der Welt mulierten Ziele zu verwirklichen.
die Ausbildung das größte beschäftigungspolitische Während die Regierung ständig die Eigenverant-
Entwicklungspotential darstellt. Ohne Aus- und Fort- wortung der Entwicklungsländer betont, stellt sie das
bildung gibt es keine Innovation. Der Weg aus der Wohlstandsmodell der Industriegesellschaft nicht in
aktuellen weltweiten Beschäftigungskrise führt da- Frage. Wir aber wissen längst, daß die globalen Kri-
her nur über eine systematische und praxisnahe Aus- sen von den von den Industrieländern in einem lan-
bildung. Deshalb ist Bildung neben der Bekämpfung gen historischen Prozeß geschaffenen internationa-
der Armut und dem Schutz der Umwelt ein Schwer- len Strukturen mitverursacht werden. Klimaverände-
punkt der deutschen Entwicklungspolitik, und dies rungen, die viele Regionen in der Welt versteppen
völlig zu Recht. lassen, ungerechte Weltmarktstrukturen, die den
Entwicklungsländern keine faire Chance geben, am
Meine Damen und Herren, wir mahnen die Re- internationalen Handel teilzunehmen, Rüstungsex-
spektierung der Menschenrechte mit Nachdruck an. porte, von denen nur die Lieferländer profitieren,
Die Europäische Union muß auf der universellen Gel- sind die Hauptursachen von Unterentwicklung, Ver-
tung der Menschenrechte auch bei der Gestaltung armung und von weltweiten Migrationsprozessen.
der sozialen Entwicklung beharren. Es ist abwegig Dazu schweigt die Bundesregierung.
zu meinen, demokratische Rechte und rechtsstaatli-
che Verfahren würden eine schnelle Entwicklung be- Sie schweigt auch dazu, daß das propagierte Wohl-
hindern. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Ohne standsmodell „Bundesrepublik Deutschland" auch
ein solides demokratisches Fundament, ohne wirt- national immer mehr in Frage gestellt wird. Neben
schaftliche Freiheit, ohne gewerkschaftliche Rechte der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundla-
und ohne ein Stück soziale Gerechtigkeit gibt es kei- gen zerbröckelt in diesen Zeiten zunehmender Ar-
nen wirtschaftlichen Fortschritt, der zu Wohlstand mut der soziale Konsens und damit die Grundlage
und zugleich zu sozialer Sicherheit führt. der zivilen Gesellschaft auch bei uns.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1429

Dr. Angelika Köster-Loßack


Die Angst vor dem Verlust des Erwerbsarbeitsplat- Wirtschaft und Gesellschaft schreiben traditionelle
zes und die kulturelle und psychische Verunsiche- Unterwerfungsmuster fort. Sie eröffnen keine Alter-
rung nach dem Ende der überschaubar in Blöcke ge- nativen zur langfristigen Entwicklung von Lebens-
teilten Welt führen zu einem Wiederaufleben längst chancen für die sozial ausgegrenzten Menschen in
totgesagter Herrenmenschenideologien. Für den den Ländern des Südens, aber auch des Nordens.
Zerfall sozialer Sicherheiten und politischer Gewiß-
heiten werden auch bei uns wieder Sündenböcke ge- Internationale Organisationen kritisieren zu Recht
sucht und verantwortlich gemacht. die deutsche Entwicklungszusammenarbeit im Be-
reich der Grundbedürfnisbefriedigung für arme Be-
In Deutschland und in den meisten Ländern Euro- völkerungsschichten. Der Anteil des Entwicklungs-
pas sind dies Migrantinnen und Migranten, Asylsu- haushalts der Bundesrepublik Deutschland, der für
chende und Bürgerkriegsflüchtlinge sowie auch eth- die Prioritäten menschlicher Entwicklung wie
nische Minderheiten, wie z. B. die Roma, die schon Grundbildung, Basisgesundheitsdienste, Frischwas-
seit Jahrhunderten in unserer Mitte leben. ser- und Sanitäreinrichtungen ausgegeben wird, be-
Von den Industrieländern werden heute trotz aller trägt nach UNICEF- und OECD-Angaben etwa 5 %
Beteuerungen, sich intensiv um die Entwicklung al im Vergleich zu 23 % bei Neuseeland, 15 % bei
ler Länder zu kümmern, ganze Länder und ein gan- Schweden und 13 % bei Norwegen.
zer Kontinent als hoffnungslose Fälle abgeschrieben.
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Vor allem trifft dies die afrikanischen Bürgerkriegs-
Das muß sich ändern!)
länder. Während privates Kapital immer stärker in
nur wenige Länder des Südens fließt, vor allem nach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN begrüßt deshalb die
Asien und hier speziell in die Volksrepublik China, 20/20-Initiative, die Deutschland dazu verpflichten
verlieren besonders die Länder Schwarzafrikas im- würde, 20 % seiner Entwicklungsausgaben für die
mer mehr an Beachtung. soziale Grundversorgung bereitzustellen. Weil dies
Private Investitionen werden dort kaum getätigt. von den Entwicklungsländern zum Teil eine massive
Auch bei der Entwicklungshilfe werden sie immer Umstrukturierung ihrer Ausgaben erfordern würde,
stärker vernachlässigt. sollte diese sinnvolle Zusammenarbeit mit den Län-
dern aufgenommen werden, die dies freiwillig tun
(Zuruf von der SPD: Das ist leider wahr!) wollen.
Ihnen wird so jede Chance einer eigenen wirtschaft-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das kommt nicht
lichen und sozialen Entwicklung genommen.
in Frage!)
Es müssen endlich wirksame Maßnahmen zur Ent-
schuldung der ärmsten Staaten umgesetzt werden. Statt dessen hat die Bundesregierung beim 20/20-
Dazu gehört nicht nur die Streichung der bilateralen Konzept ein .Junktim verfügt. Sie stimmt dem Kon-
Schuldenverpflichtungen gegenüber der Bundesre- zept nur dann zu, wenn dies auch alle Entwicklungs-
publik, sondern auch der Einsatz der Bundesregie- länder machen. Dies wird dazu führen, daß auf die-
rung, damit diesen Ländern auch die Schulden bei sem Gebiet wieder nichts passiert, obwohl dieses
- Konzept nur eine Umschichtung der Entwicklungs-
den multilateralen Institutionen wie Weltbank und
Weltwährungsfonds erlassen oder zumindest deut- hilfegelder und keine Erhöhung beinhaltet.
lich reduziert werden. Dazu müssen die internationa-
len Institutionen demokratisiert und transparent ge- Im Gegensatz zu allen vollmundigen Erklärungen
macht werden, sie müssen der Öffentlichkeit und ist der Anteil am Bruttosozialprodukt, der für die
dem Parlament gegenüber Rechenschaft ablegen. Entwicklungszusammenarbeit der Bundesrepublik
ausgegeben wird, stetig gesunken. Er betrug 1993
Wenn soziale Gerechtigkeit in und zwischen den nur noch 0,36 % des Bruttosozialprodukts und wird
Nationen die Voraussetzung für Frieden und Sicher- bei einem für 1995 prognostizierten Wirtschafts-
heit ist, wie dies in der geplanten Schlußerklärung wachstum um 5 % nominal voraussichtlich weiter sin-
von Kopenhagen vorgegeben ist, müssen wir auch in ken. Dies sind Angaben der Bundesregierung selbst.
der Außen-, der Außenwirtschafts-, der Entwick-
lungs- und der Kulturpolitik die soziale Frage vorran- (Zuruf von der SPD: 0,31!)
gig behandeln.
Für die Finanzierung der sozialen Grundsicherung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wären aber nach jüngsten Berechnungen des United
Grundlegendes Umdenken ist notwendig, wenn Nations Development Program, des United Nations
auf nationaler und internationaler Ebene der Zugang Population Fund und von UNICEF etwa 30 bis
zu Ressourcen, Beschäftigung und sozialer Sicher- 40 Milliarden US-Dollar notwendig. Hier stellt sich
heit, zur Anerkennung individueller und kultureller die Frage, wie das finanziert werden soll.
Integrität gewährleistet werden soll.
Angesichts der Kürzungen im Haushalt 1995 und
Besonders Frauen und Kindern wird die Befriedi- der beschlossenen Kürzungen bei der multilateralen
gung ihrer sozialen Grundbedürfnisse verweigert. Entwicklungshilfe im Rahmen des Europäischen Ent-
Ihre Bürger- und Menschenrechte werden weltweit wicklungsfonds frage ich die Bundesregierung, wie
in besonderer Weise beschnitten. Die Kainsmale des denn die von ihr ratifizierten internationalen Abkom-
kolonialen Erbes müssen auf allen Seiten erkannt men unter diesen Umständen umgesetzt werden sol-
und überwunden werden. Patriarchale Strukturen in len.
1430 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dr. Angelika Köster-Loßack


Wir fordern erstens eine Unterstützung der 20/20- Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Kollege
Initiative auf Basis konkreter Vereinbarungen mit Vogt, Ihre Ausführungen habe ich mit Interesse zur
den Staaten, die dies wünschen, zweitens weitrei- Kenntnis genommen, auch Ihre Ausführungen zur
chende bilaterale und multilaterale Entschuldungs- Bewahrung der Menschenrechte; das unterstreiche
maßnahmen über die bisherigen Maßnahmen hin- ich schon. Aber hielten Sie es nicht für sinnvoll und
aus, drittens, das 0,7-Prozent-Ziel - also den Anteil notwendig, daß wir an dieser Stelle gemeinsam die
von 0,7 % des Sozialprodukts für die Entwicklungs- Bundesregierung auffordern, nicht länger die Forde-
zusammenarbeit auszugeben -, das Bundeskanzler rung, die auch aus den Ländern der Dritten Welt
Kohl noch in Rio verkündet hat, bis zum Jahre 2000 kommt und die meines Erachtens auch gerecht ist,
schrittweise zu verwirklichen. abzulehnen, das Recht auf Entwicklung und Teil-
habe an wirtschaftlichen Prozessen gleichberechtigt
Über die Finanzierungsfrage hinaus fordern wir neben die Menschenrechte zu stellen? Ich glaube,
die Bundesregierung auf, in der Entwicklungszu- man kann beides nicht voneinander trennen,
sammenarbeit zukünftig vorrangig die Weiterent-
wicklung bestehender oder die Einführung neuer Bisher ist nach den mir vorliegenden Informatio-
Systeme der sozialen Sicherheit zu fördern. nen aus den diversen Vorbereitungsgesprächen be-
kannt, daß die Bundesregierung diese Forderung,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eine Alternativlösung zu Punkt 15b des Aktionspro-
gramms, ablehnt. Ich würde es begrüßen, wenn Sie
Demokratisierungsprozesse sind die Grundlage
das mit unterstützten und wir das gemeinsam der
für wirksame, selbsttragende soziale Entwicklung.
Bundesregierung mit auf den Weg geben könnten.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die Stärkung
der Zivilgesellschaft in allen Partnerländern mit Mit-
teln der Demokratisierungshilfe zu unterstützen. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Vogt, Sie
können darauf antworten. Bitte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vor allem die Nichtregierungsorganisationen in den


Wolfgang Vogt (Dünen) (CDU/CSU): Herr Kollege
Entwicklungsländern bedürfen einer weit stärkeren
Büttner, ich glaube, daß das Recht jeder einzelnen
Unterstützung als bisher. Aber noch nicht einmal im
Person auf Entwicklung unbestritten ist. Davon ist
eigenen Land orientiert sich die Bundesregierung
die Frage zu unterscheiden, ob Kollektive gegenüber
bisher an diesem Postulat. Zur Vorbereitung des
anderen Kollektiven das Recht auf Entwicklung ein-
Weltsozialgipfels hat die Regierung kein nationales
fordern können. Sie wissen, es ist - wenn ich mich
Vorbereitungskomitee unter Beteiligung von Nicht-
recht erinnere - auf der Wiener Menschenrechtskon-
regierungsorganisationen berufen, wie es von den
ferenz die Position bekräftigt worden: Recht auf Ent-
Vereinten Nationen vorgeschlagen wurde. Das ist be-
wicklung der Person, aber kein Anspruch von Kol-
schämend kurzsichtig. Wir fordern die Bundesregie-
lektiven auf Entwicklung. Das ist die Position, die
rung auf, jährlich einen Bericht über die Maßnahmen
wir weiter einnehmen.
zu veröffentlichen, die die in Kopenhagen gesetzten
Ziele umsetzen sollen. (Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der
-
SPD: Das ist aber sehr bedauerlich! - Ge
Die sozialen Entwicklungen in Nord und Süd sind
genruf von der CDU/CSU: Das war doch
untrennbar miteinander verbunden. Die Zerstörung
einvernehmlich!)
traditioneller sozialer Netze und menschlicher Soli-
darität - auch in unserem Land - muß aufgehalten
werden, um dem Ansteigen nationaler und interna- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat
tionaler Konfliktpotentiale entgegenzuwirken. In vie- nun der Kollege Roland Kohn.
len Ländern ist es leider schon zu spät, wie wir das in
den letzten Monaten und Jahren miterleben mußten.
Aber solange die politisch Verantwortlichen sich der Roland Kohn (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr
Verpflichtung zum Handeln entziehen, ist die Würde verehrten Damen, meine Herren! Man schätzt, daß in
des Menschen antastbar. jedem Jahr mehr als 15 Millionen Menschen auf der
Erde Hungers sterben. Mehr als eine Milliarde Men-
Ich danke Ihnen. schen leben laut UNO in bitterer Armut. 120 Mil-
lionen sind als arbeitslos registriert, und rund
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
750 Millionen Menschen haben keinen festen Ar-
und der SPD sowie bei Abgeordneten der
beitsplatz. Millionen sind auf der Flucht vor Hunger,
PDS)
Umweltzerstörung, Bürgerkrieg und Krieg.

Diese nackten Zahlen beschreiben die Wirklichkeit


Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Köster
zwar ziemlich exakt, aber nicht anschaulich; denn
Loßack, wenn ich das richtig sehe, war das Ihre erste
hinter jeder einzelnen dieser Zahlen steht ein
Rede in diesem Haus. Dazu möchte ich Ihnen herz-
Mensch mit seinen Hoffnungen und Träumen, mit
lich gratulieren.
seinen Sorgen und Nöten, mit seinen Gefühlen, sei-
(Beifall im ganzen Hause) nem Glauben und seinem Anspruch auf ein men-
schenwürdiges Leben. Für ihn sind diese Zahlen
Zu einer Kurzintervention zu der Rede von Herrn keine statistischen Größen. Für ihn sind Hunger, Ar-
Vogt erteile ich dem Kollegen Büttner das Wort. mut und Arbeitslosigkeit bitter erlittene Realität. Am
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1431
Roland Kohn
schlimmsten ist die Hoffnungslosigkeit, sich je durch Erstens. Ein politisch brisantes Thema wird auch
eigene Anstrengungen aus dieser Lage zu befreien. auf diesem Gipfel die Frage nach der Eigenverant-
Es folgt die Resignation, dann das apathische Sich wortung der Entwicklungsländer sein.
Dreinschicken.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Für die allermeisten unserer Mitbürger hier in Es kann einfach nicht so sein, daß sich Entwicklungs-
Deutschland ist diese Lage einfach unvorstellbar. länder hinter der zweifellos bestehenden Verantwor-
Deshalb haben auch viele Schwierigkeiten damit, zu tung der internationalen Staatengemeinschaft ver-
verstehen, daß es Länder gibt, die mit solchen Situa- stecken. Wir müssen immer wieder darauf hinwei-
tionen völlig überfordert sind und einfach nicht in sen, daß sie zunächst einmal selbst in der Pflicht sind,
der Lage sind, allein und aus eigener Kraft mit sol- eigene Anstrengungen zu unternehmen, um die Le-
chen dramatischen Situationen fertig zu werden. bensbedingungen ihrer Bürger zu verbessern. Ich
werde nicht müde werden, diese Verantwortung der
Auch in unserem Lande gibt es ungelöste soziale Eliten in den Entwicklungsländern immer wieder an-
Probleme, die wir angehen müssen. Aber wir sollten zumahnen.
angesichts dessen, was in vielen Ländern auf dieser
Welt erschreckende Wirklichkeit ist, dabei bitte nicht (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
den rechten Maßstab verlieren. Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Sehr
gut! Sehr richtig!)
Vor diesem Hintergrund sehe ich den Weltgipfel In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf das
für soziale Entwicklung in Kopenhagen als eine 20/20-Konzept eingehen, das im Vorfeld von Kopen-
Chance, über diese Probleme zu sprechen und ge- hagen eine Rolle gespielt hat. Ich muß das unseren
meinsam mit den betroffenen Ländern Lösungsan- Zuhörern kurz erklären: Nach diesem Konzept sollen
sätze zu erarbeiten. Industrieländer und Entwick- sich die Entwicklungsländer verpflichten, 20 % ihrer
lungsländer müssen sich gemeinsam Gedanken dar- Staatsausgaben für menschlich prioritäre Bereiche
über machen, auf welchen Wegen und mit welchen aufzuwenden. Hierzu zählen in erster Linie: Förde-
Instrumenten das Ziel, also die Bekämpfung der Ar- rung der Allgemeinbildung, Gesundheitsfürsorge,
mut, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die För- Ernährung, Wasserversorgung, Verbesserung der Fa-
derung der sozialen Integration benachteiligter milienplanung usw. Im Gegenzug sollen sich dann
Gruppen, erreicht werden kann. die Geberländer verpflichten, 20 % ihrer Hilfeleistun-
gen ebenfalls für solche Zwecke zur Verfügung zu
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) stellen.

Nun kann man trefflich darüber streiten, was Groß- Ich will nicht verhehlen, daß mir solch rein quanti-
konferenzen dieser Art letzten Endes bewirken. tative Ansätze Bauchschmerzen bereiten. Es kann
Ohne Zweifel ist hier ein gewisses Maß an Skepsis nicht allein auf die Höhe staatlicher Ausgaben für so-
angebracht. ziale Bereiche in Relation zu anderen Aufgaben an-
kommen. Entscheidend ist doch die Sinnhaftigkeit
-
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) des Konzeptes für solche Ausgaben, ob also die Gel-
der tatsächlich bei den bedürftigen Menschen an-
Aber ich sage: Wenn eine solche Konferenz dazu kommen und eine langfristig positive Entwicklung
führt, daß Verantwortliche nachdenklich werden, ermöglichen.
daß Einsichten wachsen und daß sich schließlich da (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
und dort auf der Welt die Lebenschancen von Men-
schen ein klein wenig verbessern, dann bezeichne Ich bin trotzdem bereit, über ein solches Konzept zu
ich eine solche Konferenz bereits als einen Erfolg. diskutieren, wenn man damit bewirken kann, daß
auch die Entwicklungsländer selbst ihrer Verantwor-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) tung nachkommen und eigene Anstrengungen zur
Förderung der sozialen Entwicklung unternehmen.
Ich denke, dieser Gipfel sollte nicht damit enden,
Zweitens. Absolut nicht hinnehmbar ist es, daß es
daß über ein ganzes Bündel von Lösungen diskutiert
Staaten gibt, die einen Teil ihrer Ressourcen, die
worden ist und schließlich vollmundig große Absich-
dringend für den Aufbau menschenwürdiger gesell-
ten verkündet werden. Vielmehr sollte er sich als Be-
schaftlicher Strukturen gebraucht würden, für
ginn eines Prozesses verstehen, in dessen Verlauf
machtgeilen Rüstungswahnsinn verschwenden.
realistische und praktikable Vorschläge dafür erar-
beitet werden, wie die für die Erreichung der ge- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
nannten Ziele notwendigen inneren Rahmenbedin-
gungen in den Entwicklungsländern geschaffen wer- Ich bleibe dabei: Staaten, die Gelder für ein eigenes
den können, die es diesen Staaten dann ermögli- ABC-Waffenprogramm ausgehen oder sich auf an-
chen, die Lebensbedingungen ihrer Menschen er- dere Weise solche Waffen zu beschaffen versuchen,
träglicher zu gestalten. dürfen keinen Pfennig deutsche Entwicklungshilfe
bekommen.
Ich möchte heute auf einige wenige Aspekte hin- (Beifall bei der F.D.P.)
weisen, die aus der Sicht der Liberalen auf dem Welt-
gipfel für soziale Entwicklung eine besondere Rolle Drittens. Ich begrüße ausdrücklich, daß in dem An-
spielen sollten: trag der Koalitionsfraktionen das Prinzip der Unteil-
1432 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Roland Kohn
barkeit der Menschenrechte als eine unabdingbare keinen Umständen akzeptiert werden können, wie
Voraussetzung für die soziale Entwicklung der Völ- Zwangsarbeit, wie Ausbeutung von Kindern als ex-
ker und Staaten eine solch starke Berücksichtigung trem billige Arbeitskräfte. Dagegen muß mit aller
gefunden hat. Wir dürfen nicht zulassen, daß es un- Kraft vorgegangen werden. Ich kann mich allerdings
ter Hinweis auf kulturelle und historische Gegeben- manchmal nicht des Eindrucks erwehren, daß es bei
heiten zu einer Abkehr von diesem Prinzip der Un- uns Interessenvertreter gibt, die solche Probleme
teilbarkeit kommt. mißbrauchen, um unerwünschte Konkurrenz vom
heimischen Markt fernzuhalten.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
ten der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
Eine kulturelle Relativierung der Menschenrechte Also: Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen
werden wir Liberalen auf keinen Fall akzeptieren. müssen bekämpft werden, aber niedrigere Arbeits-
kosten als Wettbewerbsargument müssen möglich
(Zuruf von der CDU/CSU: Wir auch nicht!) bleiben. Andernfalls zerstören wir einen der wenigen
Viertens. Für mich steht die Notwendigkeit im Vor- Wettbewerbsvorteile von Entwicklungsländern.
dergrund, stabile institutionelle Rahmenbedingun- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
gen für die Errichtung sozialer Sicherungssysteme
zu schaffen. Hierbei kann es natürlich nicht darum Wichtig ist meiner Fraktion vor allem die Forde-
gehen, soziale Systeme, wie sie sich bei uns in den rung, daß möglichst viele Staaten den Übereinkom-
westlichen Industriestaaten herausgebildet haben, men zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung
einfach in die Entwicklungsländer zu exportieren; der Frau sowie über die Rechte des Kindes beitreten.
dies um so weniger, da endlich bei uns selbst die Dis- Unser Außenminister Klaus Kinkel hat im Zusam-
kussion über den notwendigen Umbau unserer eige- menhang mit der Ratifizierung des von der Ge-
nen Sozialsysteme in Gang gekommen ist, um sie zu- neralversammlung der Vereinten Nationen am
kunftsfest zu machen. Es ist vielmehr notwendig, die 20. November 1989 verabschiedeten Übereinkom-
Entwicklungsländer zu beraten und ihnen Hilfestel- mens über die Rechte des Kindes gesagt - ich zitiere -:
lungen anzubieten, wie Grundstrukturen solcher Sy- „Kinder sind kleine Menschen, die große Rechte
steme unter den in ihrem Land jeweils herrschenden brauchen." Deshalb trete ich und tritt meine Fraktion
Bedingungen aufgebaut werden können. Auch hier für die Ächtung von Kinderarbeit ein, die ja eher
sind wiederum die Eliten in den Entwicklungslän- einer Form von Sklaverei gleichkommt.
dern gefordert, sich Gedanken über die Möglichkei- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so
ten solcher sozialen Sicherungssysteme zu machen. wie bei Abgeordneten der SPD)
Mir scheint, dies ist eine wesentliche Voraussetzung Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, wir
dafür, daß ökonomische, soziale und politische Sta- fordern die Bundesregierung auf, den Deutschen
bilität mit den entsprechend positiven Folgen auch Bundestag nach Abschluß des Weltgipfels für soziale
für die Begrenzung des Bevölkerungswachstums ge- Entwicklung in Kopenhagen zeitnah über dessen Er-
schaffen werden kann. gebnisse und Beschlüsse zu unterrichten. Dann wol-
Lassen Sie mich auf einen wichtigen Punkt hinwei- len wir gemeinsam überlegen, welche Konsequen-
sen. Es muß gelingen, leistungsfähige -und leistungs- zen sich daraus für unsere zukünftige Politik erge-
bereite Mittelschichten in den Entwicklungsländern ben.
hervorzubringen. (Abg. Dr. Winfried Wolf [PDS] meldet sich
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) zu einer Zwischenfrage)
Wir müssen nämlich wissen, daß solche Mittelschich- Die Bundestagsfraktion der Freien Demokraten
ten eine notwendige Voraussetzung für wirtschaftli- wird sich an diesen Beratungen aktiv und engagiert
chen Erfolg, für gesellschaftlichen Fortschritt und für beteiligen.
politische Stabilität sind. Soziale Marktwirtschaft, of-
Vielen Dank.
fene Gesellschaft, Demokratie, Rechtsstaat bedürfen
solcher Mittelschichten, denn sonst funktionierten (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
solche Konzepte nicht.
Fünftens. Es wird niemanden überraschen, daß Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
sich ein Liberaler vehement für Marktwirtschaft in Wolf, da Sie ohnehin als nächster das Wort haben, er-
sozialer Verantwortung einsetzt. Richtige ordnungs- übrigt sich Ihre Frage. Sie können das, was Sie fra-
politische Entscheidungen setzen erst die marktwirt- gen möchten, innerhalb Ihrer Rede äußern.
schaftlichen Kräfte frei. Erst auf diesem Wege ver-
dient eine Gesellschaft das Geld, um den wirklich Sie haben das Wort.
Bedürftigen zu helfen und tragfähige soziale Struktu-
ren aufzubauen. Ich bekenne mich dazu: In einer Dr. Winfried Wolf (PDS): Werte Kolleginnen und
Volkswirtschaft muß erst erwirtschaftet werden, was Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Am
dann den Armen zugute kommen soll. 14. Februar 1995 hat die Vorsitzende des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung, die Kollegin Ul-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) rike Mascher, einen Brief an die Frau Präsidentin
Ich möchte auch noch ein Wort zu dem nicht einfa- Rita Süssmuth gerichtet. Sie hatte damit eine im
chen Thema des sogenannten Sozialdumping sagen. Grunde unangenehme Aufgabe wahrzunehmen, die
Selbstverständlich gibt es Bedingungen, die unter sie jedoch mit einer gewissen Grandezza bewältigt
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1433

Dr. Winfried Wolf


hat. In diesem Ausschuß war erst Anfang 1995 ent- nicht berücksichtigt und dem Gipfel damit nicht die
deckt worden, daß der Weltsozialgipfel auch etwas entsprechende Bedeutung zugemessen hat.
mit diesem Ausschuß zu tun haben könnte.
(Beifall bei der PDS)
Weltsozialgipfel - das müßte als „ein Treffen auf
Lesen Sie bitte das, was die Bundesregierung in
Weltebene, um über soziale Ordnungen, Unordnun-
Vorbereitung dieses Gipfels als „Nationalen Beitrag
gen und Verwerfungen zu debattieren" übersetzt
der Bundesrepublik Deutschland" vorgelegt hat!
werden. Diese Definition läßt es bereits erstaunlich
Darin, Herr Kollege Pinger, heißt es u. a.:
erscheinen, daß in diesem Bundestagsausschuß erst
so spät der begründete Verdacht aufkam, daß hiermit In der Sozialhilfe wird es
auch die eigene Hausnummer angesprochen sein
könnte. - in der Bundesrepublik Deutschland -

Nun ließe sich in Kopenhagen mit Schillers Wal- ... vor allen Dingen auf strukturelle Änderungen
lenstein sagen: Spät kämmt Ihr - Doch Ihr kömmt! ankommen, mit denen Fehlentwicklungen korri-
Aber der Inhalt des Briefs hat einen anderen Charak- giert werden können. In der Notwendigkeit der
ter. Dort heißt es: Ausgabenbegrenzung sollte auch eine Chance
zu sozialgerechtem Umbau gesehen werden.
Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, in
dessen fachlichen Zuständigkeitsbereich dieser So der Text der Bundesregierung zum Weltsozialgip-
Gipfel fällt, hatte zunächst überlegt, mit einer De- fel in Kopenhagen.
legation des Ausschusses an dieser Veranstal- Das zweite Zitat aus demselben Text:
tung
Im Laufe der Jahre konnte - in Deutschland - die
- in Kopenhagen - gesellschaftliche Stellung der Frau insbesondere
teilzunehmen. Aus terminlichen Gründen war es durch ihre eigene Erwerbstätigkeit verbessert
nicht möglich, eine Delegation des Ausschusses werden.
zu bilden. Allerdings beabsichtigt das Mitglied Solche Feststellungen sind überheblich, unzutref-
des Ausschusses, die Kollegin Petra Bläss, nach fend und zynisch. Damit wird den Vertreterinnen
Kopenhagen zu reisen. Ich bitte Sie, die Dienst- und Vertretern der Dritten Welt angedeutet: Unser
reise der Kollegin Bläss zu genehmigen. Haus ist in Ordnung; nehmt euch dieses als Beispiel!
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Just dies ist die Unwahrheit. Zunächst: Wir, die Er-
DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) ste Welt, produzierten nicht nur seit Jahrhunderten
die Gegenwart der Verelendung und Verarmung der
Werte Kolleginnen und Kollegen, angesichts der
Dritten Welt, sondern wir tun dies heute weiterhin.
Gesamtumstände - unzureichende Vorbereitung,
mangelnde Präsenz, Nichtbildung einer nationalen Ein Beispiel: Jährlich schweben in Thailand rund
Vorbereitungsgruppe unter Einschluß der Nichtre- 250 000 Deutsche als Touristen ein, 70 % davon sind
gierungsorganisationen und hektische - Aktivitäten Männer. Laut Schätzungen des Bonner Familienmi-
um fünf vor zwölf - läßt sich fragen: Mangelt es der nisteriums muß davon ausgegangen werden, daß da-
Regierungskoalition an der erforderlichen Ernsthaf- von wiederum 70 oder rund 100 000 Männer pro
tigkeit, diesen Weltsozialgipfel umfassend zu würdi- Jahr als Sextouristen ins Land kommen; Sex mit Kin
gen? - Das ist keine billige Polemik. dern inklusive. Thailand ist nur ein Beispiel und nur
eine Form von vielen dieser Art von Weltsozialunord-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Wolf, ge- nung.
statten Sie eine Zwischenfrage? Doch auch unser Haus, der Sozialstandort
Deutschland, ist von wenig sozialer Ordnung ge-
Dr. Winfried Wolf (PDS): Selbstverständlich. prägt. Ich zitiere:
Etwa 150 000 Obdachlose leben zur Zeit in
Dr. Winfried Pinger (CDU/CSU): Herr Kollege, ist Deutschland auf der Straße. Weitere 800 000
Ihnen bekannt, daß der Weltsozialgipfel in Kopen- Menschen in Notunterkünften . Die hohe und
hagen vom 6. bis zum 12. März stattfindet? Und ist immer noch steigende Zahl der Sozialhilfeemp-
Ihnen bekannt, daß das eine Sitzungswoche des fänger ist ... ein Indiz für ... die Zunahme von
Deutschen Bundestages ist und es deshalb für Kolle- Armut im strengen Sinn.
gen schwierig ist, zu diesem Zeitpunkt in Kopen- Ich bringe damit die Kirche in das Hohe Haus; es
hagen zu sein? handelt sich um Auszüge aus dem Text der evangeli-
schen und der katholischen Kirche, veröffentlicht di-
Dr. Winfried Wolf (PDS): Genau dies, werter Kol- rekt nach der jüngsten Bundestagswahl.
lege von der CDU, könnte ein Beispiel für langfri- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Daß
stige Planung sein. Die Tagung des Weltsozialgipfels gerade Sie das zitieren, ist natürlich ganz
ist, soweit ich weiß, vor einem Dreivierteljahr auf die- interessant!)
sen Zeitraum festgelegt worden. Wenn danach für
denselben Zeitraum eine Sitzungswoche angesetzt - Eine solide katholische Ausbildung habe auch ich
worden ist, heißt das, daß man die frühere Planung erfahren.
1434 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dr. Winfried Wolf


Wie, so ist zu fragen, kann die Bundesregierung Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Gipfel
von einer „verbesserten gesellschaftlichen Stellung ernst zu nehmen hieße, daß die Bundesrepublik
der Frau" sprechen angesichts der Tatsache, daß in Deutschland zumindest diejenigen internationalen
den neuen Bundesländern ehemals 90 % der Frauen Konventionen ratifiziert, die zu unterzeichnen sie
berufstätig waren, es heute nur noch 39 % sind und sich bisher weigert, wie es die GRÜNEN in ihrem
die Erwerbslosenquote der Frauen doppelt so hoch Antrag sehr detailliert aufgezeigt haben, Konventio-
ist wie die der Männer? nen, Herr Kohn, die gerade den Schutz von Kindern
betreffen und bei denen die Bundesrepublik
Ein Zitat aus dem jüngsten „Hessischen Frauenre- Deutschland nicht bereit ist, sie in nationales Recht
port": umzusetzen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Schon wieder Es hieße, zu akzeptieren, daß den Nichtregierungs-
Hessen!) organisationen auf diesem Gipfel eine entscheidende
Im Jahr 1992 gab es im Bundesland Hessen Rolle zukommt und diese als gesellschaftliche Ge-
375 000 Ein-Personen-Haushalte, die mit weni- genstruktur anerkannt werden, damit der Gipfel
ger als 1 800 DM im Monat auskommen mußten. nicht zu dem verkommt, was die stellvertretende
Die große Mehrheit von ihnen - 72 % - haben ei- DGB-Vorsitzende Engelen-Kefer befürchtet: ein Ak-
nen weiblichen Haushaltsvorstand. klamationsorgan der Reichen und Satten.

Das will sagen: Erstens gibt es Armut in Deutsch- Diesen Gipfel ernst zu nehmen hieße, sich jetzt
land; zweitens nimmt diese zu; drittens betrifft ein noch einen Ruck zu geben und den Anteil der Ent-
Großteil dieser Armut Frauen. Zu ergänzen wäre wicklungshilfe am neuen Bundeshaushalt auf die
viertens: All dies findet zu einem Zeitpunkt statt, zu tausendfach versprochenen 0,7 % des Bruttosozial-
dem die Besserverdienenden zunehmend besser ver- produkts anzuheben und ihn damit zugegebenerma-
dienen und relativ immer weniger an Steuerleistung ßen mehr als zu verdoppeln und zugleich die Ent-
erbringen. wicklungshilfe derart umzustrukturieren, daß darin
die geforderten 20 % für die „human priorities", die
(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Ach! Ha Herr Kohn richtig charakterisiert hat, enthalten sind.
ben Sie einen Taschenrechner?)
Den Weltsozialgipfel in Kopenhagen ernst nehmen
So hat, Herr Kollege Kohn, die Oberfinanzdirek- heißt schließlich, einen nationalen Maßnahmenkata-
tion Freiburg vor kurzem festgestellt, daß allein im log zur Umsetzung der Forderungen dieses Gipfels
Zeitraum 1990 bis 1993 dem Staat mehr als festzulegen, der mindestens zwei Prämissen haben
100 Milliarden DM Steuerverluste auf Grund des sollte: Erstens. Es müßte eine volle Kontroll- und
Transfers großer Vermögen nach Luxemburg ent- Überwachungskompetenz unter Einbeziehung von
standen. Nichtregierungsorganisationen bei der Umsetzung
Fürwahr, bei der Vorbereitung auf den Gipfel in dieser Maßnahmen geben. Zweitens. Es darf nicht
Kopenhagen sind seitens der Bundesregierung über- die bisher praktizierte Rollenzuschiebung an die
hebliche Töne gegenüber dem Rest der Welt nicht Nichtregierungsorganisationen geben, die aktuell
angebracht. - nur darauf hinausläuft, daß mit diesen die Lücken in
der nationalen Sozial- und Entwicklungspolitik über-
tüncht werden.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Dr. Wolf,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fre- Doch - zum Schluß - sind in dieser Richtung sei-
derick Schulze? tens der Bundesregierung keine Schritte, nicht ein-
mal Gesten erkennbar. Gestern informierte uns, die
Mitglieder des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
Dr. Winfried Wolf (PDS): Selbstverständlich.
sammenarbeit und Entwicklung, Minister Spranger
darüber, daß im Rahmen der Haushaltsberatungen
Frederick Schulze (CDU/CSU): Herr Kollege, kann der Etat für wirtschaftliche Zusammenarbeit ein wei-
es sein, daß Sie noch nicht mitgekriegt haben, daß teres Mal gekürzt worden ist. Das ist exakt entgegen-
der frühkapitalistische Klassenkampf eigentlich vor- gesetzt der Geste, die wir und die Initiatoren des
bei ist? Predigen Sie ihn immer noch? Weltsozialgipfels in Kopenhagen bei der Bundesre-
gierung einklagen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Danke schön.
Dr. Winfried Wolf (PDS): Werter Kollege, ich habe (Beifall bei der PDS)
in meiner ersten Bundestagsrede gesagt, daß es mei-
ner Ansicht nach gute Gründe dafür gibt, daß die Sy-
steme im Osten, die ich niemals als sozialistisch be- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Abgeord-
zeichnet habe, zusammengebrochen sind und daß neter Wolf, ich möchte Sie nur darauf aufmerksam
der Kapitalismus übriggeblieben ist. Ich stelle aber machen, daß die Sitzungswochen dieses Hauses vom
fest, daß es gerade in der Zeit seit der Wende 1989/90 Ältestenrat im allgemeinen Einvernehmen bestimmt
tatsächlich neue und in stärkerem Maß manchester- werden und daß ich von keiner Seite den Wunsch ge-
kapitalismusartige Züge in diese unsere Gesellschaft hört habe, die Woche des Gipfels in Kopenhagen sit-
Einkehr halten. zungsfrei zu halten.
(Beifall bei der PDS) (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1435

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch


Ich erteile nunmehr dem Bundesminister Norbert In diesem Zusammenhang, Herr Wolf, gestatte ich
Blüm das Wort. gern Ihre Frage, wenn es der Präsident erlaubt; aber
dann wollte ich gerne zu der eigentlichen Problema-
tik zurückkehren.
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und
Sozialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Ich hatte eigentlich nicht vor, unter dem Vor- Dr. Winfried Wolf (PDS): Herr Blüm, ist Ihnen ge-
wand des Weltsozialgipfels innenpolitische Debatten wahr, daß ich im Zusammenhang mit dem übrigge-
zu führen. Ich will aber ein paar Sachen klarstellen. bliebenen weltweiten Kapitalismus von einer Wie-
dereinkehr von manchesterkapitalismusartigen
Herr Kollege Wolf, wenn Sie im Zusammenhang Strukturen gesprochen habe und daß ich wohl in der
mit unserer Bundesrepublik von Manchesterkapita- Lage bin, zu erkennen, daß es eine große Differenz
lismus reden, dann wissen Sie offenbar nicht, was zwischen Dritter, Zweiter und Erster Welt gibt? Aber
Manchesterkapitalismus ist. Ein Sozialstaat, in dem diese Tendenz können Sie so, glaube ich, kaum be-
ein Drittel des Sozialprodukts für soziale Aufgaben streiten.
ausgegeben werden, hat mit dem Manchesterkapita-
lismus so viel zu tun wie ich mit einer Weltraumfähre.
Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der
Sozialordnung: Ich will klarstellen, daß das, was wir
F.D.P.)
in dieser Bundesrepublik Deutschland an Sozialstaat
Manchesterkapitalismus ist Ellenbogenkapitalismus gemeinsam errichtet haben - dies ist das Verdienst
ohne Verantwortung. nicht nur einer Regierung, sondern auch von Ge-
werkschaften und Arbeitgebern -, ein Beitrag ist,
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ mehr Gerechtigkeit und mehr Wohlstand in die Ge-
DIE GRÜNEN]: Norbert Blüm auf der äuße sellschaft zu bringen, und meilenweit vom Manche-
ren Umlaufbahn!) sterkapitalismus entfernt ist. Das sollten wir uns von
niemand in Frage stellen lassen.
- Sie kämen noch nicht einmal hoch.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU
und der F.D.P. - Joseph Fischer [Frankfurt] Sie würden die Arbeit von Gewerkschaften, Regie-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Manchmal rung, Parteien geradezu mißachten, wenn Sie be-
wie eine Rakete!) streiten würden, daß wir uns einen Sozialstaat ge-
baut haben, wie es kaum einen zweiten in der
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister Welt gibt.
Blüm, der Herr Abgeordnete Wolf möchte eine Frage (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
stellen. und der F.D.P.)
- Aber das ist heute nicht unser Thema. Denn ich
Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und
fürchte, sonst führen wir im angesicht des Elends der
Sozialordnung: Ich möchte das im Zusammenhang
Welt eine Debatte, die Wahlkampfcharakter hat.
darstellen. Ich bin noch nicht ganz fertig. Wenn Sie
damit einverstanden sind, etwas später. (Roland Kohn [F.D.P.]: Richtig!)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Heute führen wir eine Debatte darüber, wie wir die
DIE GRÜNEN]: Der ging sofort hoch, wie Not in der Welt lindern, wie wir mehr Ordnung, mehr
Sie sagen! - Uwe Lühr [F.D.P.]: Als Blind Gerechtigkeit bekommen.
gänger!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Damit auch das klar ist: Ich stelle unseren Sozial-
staat nicht als einen Sozialstaat ohne große Probleme Versuchen Sie doch nicht, bei jedem Thema Ihre
dar. Aber gemessen am Elend der Welt leben Sie, ich kleinliche Parteipolitik unterzubringen! Ich finde, wir
und alle geradezu auf einer Insel des Wohlstandes in haben angesichts der Herausforderungen dieser
einem Weltmeer des Elends. Erde mehr Gemeinsamkeiten, als im Tageskampf der
Sozialpolitik in diesem Saal zum Vorschein kommt.
(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und
Wenn wir uns auf sie konzentrieren, hilft das der
der SPD - Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]:
Bonner Käseglocke!) Welt mehr.

Herr Kollege Wolf, Sie nehmen unsere deutsche Man kann die Zahlen, die Herr Kohn genannt hat,
Sozialhilfe als Armutsindiz. Gemessen an dem, was nicht oft genug in Erinnerung rufen. Mit ihm sage
wir hier diskutieren, ist ein Sozialhilfeeinkommen in ich: Die Zahlen lenken eigentlich von der existentiel-
Deutschland geradezu ein Spitzeneinkommen in der len Frage, die dahinter steht, ab, weil sie nur Statistik
Dritten Welt. Ich bezeichne die Sozialhilfezahlen sind. Trotzdem: Eine Milliarde Menschen haben we-
nicht als Ausweis von Armut, sondern als Beweis be- niger als einen Dollar pro Tag zur Verfügung. Jähr-
kämpfter Armut. Sozialhilfe bekämpft Armut. lich verhungern 15 Millionen Menschen. Das ist der
Krieg, der täglich stattfindet. 110 Millionen Men-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schen weltweit sind auf der Flucht. Die Vereinten
1436 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Bundesminister Dr. Norbert Blüm


Nationen zählen 23 Millionen Flüchtlinge, zehnmal maßnahmen Sie als verantwortlicher Minister nach
mehr als vor 25 Jahren. Die Heimatlosigkeit hat zu- Kopenhagen fahren.
genommen. Eine besondere Variation des „Fort-
schritts" heißt Vertreibung.
Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und
120 Millionen Menschen der 2,8 Milliarden Men- Sozialordnung: Wir haben uns an der Vorbereitung
schen im arbeitsfähigen Alter sind arbeitslos. Ich des Gipfels einschließlich des Aktionsprogramms be-
fände es gut, wenn der Bundestag nicht in kleinli- teiligt. Ich denke, der wahre Wert des Gipfels bemißt
chen parteipolitischen Hickhack zurückfiele, sich nicht an den Papieren, mit denen wir nach Ko-
penhagen fahren, sondern an dem, was nach Kopen-
(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr hagen in den einzelnen Ländern passiert.
richtig!)
(Beifall des Abg. Hans- Joachim Fuchtel'
sondern wir, die entwickelten Industrienationen, ge- [CDU/CSU])
meinsame Anstrengungen zur Entwicklung der Welt
leisten würden, um einen Dialog zwischen den Ent- Das scheint mir wichtiger zu sein als diese Papier-
wicklungsländern und den entwickelten Industriena- gläubigkeit. Eine Handvoll konkreter Maßnahmen
tionen in Gang zu bringen. wäre mir lieber als ein Sack voll Erklärungen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn die Bombe des Hungers explodiert, dann So sind wir Sozialpolitiker. Es geht weniger um die
werden die Folgen schlimmer sein als die jeder hohe Ideologie. Wir haben keinen weiteren Ideolo-
Atombombenexplosion. Wenn wir uns um die Ent- giebedarf in der Welt. Wir haben einen Bedarf an
wicklung der Welt kümmern, wenn wir Solidarität konkreter Hilfe.
einsetzen, dann nicht nur aus Barmherzigkeit und Auch das will ich sagen: Das schlägt sich nicht nur
Gerechtigkeit - obwohl das als Motivation bereits in den Prozentzahlen der Entwicklungshilfe nieder.
ausreicht -, sondern auch zur Selbsterhaltung. Es Diese Monetarisierung jeden Denkens halte ich ge-
wird wohl niemand glauben, daß der Friede der Welt radezu für ein Hindernis der Weltentwicklung. Denn
auf Dauer gesichert ist, wenn 20 % der Erdbevölke- es ist nichts gewonnen mit repräsentativen Regie-
rung von 80 % der Erdengüter leben und 80 % der rungsgebäuden und großen Flughäfen. Die Entwick-
Erdbevölkerung mit 20 % der Ressourcen auskom- lung der Massen, das ist die Herausforderung. Das ist
men müssen. Damit es jeder weiß: Das ist Kriegsge- auch eine mentale Frage. Das setzt ein Programm
fahr. Es gibt keinen Zaun, hinter den wir uns zurück- „Hilfe zur Selbsthilfe" voraus. Das hat nicht nur et-
ziehen können. was mit Geld zu tun.
Deshalb begrüße ich die Anstrengungen der Ver- Kollege Büttner, auch eine andere Verengung
einten Nationen - die sich auch im Weltsozialgipfel scheint mir stattzufinden. Sie fragen: Was trägt der
niederschlagen -: den Weltkindergipfel, die Umwelt- Staat zum gesellschaftlichen Prozeß bei? Das scheint
konferenz, die Menschenrechtskonferenz, die Welt- mir eine alte Staatsgläubigkeit zu sein. Der gesell-
bevölkerungskonferenz. Das sind Beiträge - zur Welt- schaftliche Prozeß hängt nicht nur von den staatli-
innenpolitik. Ich will selbstkritisch bekennen - zum chen Autoritäten ab, sondern auch von den gesell-
Teil exerzieren wir es heute vor -, daß unsere Diskus- schaftlichen Kräften, die nicht staatlicher Natur sind.
sionen manchmal etwas provinziell sind. Wir haben
manchmal gar nicht kapiert, daß wir geradezu die (Beifall bei der CDU/CSU)
gemeinsame Besatzung einer Weltraumfähre sind.
Umweltprobleme lassen sich doch national gar nicht Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister
mehr lösen. Dies gilt selbst für Fragen der Beschäf- Blüm, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn
tigung. Ich bezweifle, daß es noch Nationalökonomie Dreßen?
im klassischen Sinne gibt. Wir sind in eine Weltwirt-
schaft einbezogen: Die Finanzströme sind interna-
tional, die Kapitalströme sind international. Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und
Sozialordnung: Ja.
Insofern ist dieser Weltsozialgipfel die Gelegenheit
zum Dialog, allerdings auch zur Selbstbesinnung, um
Peter Dreßen (SPD): Herr Minister, ich gebe Ihnen
aus nationalen Befangenheiten herauszutreten.
ja recht: Fünf Taten wären auch mir lieber als eine
Tonne Papier Erklärungen. Nur, die Frage des Kolle-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister gen Schuster war: Was sind diese fünf Taten? Mit
Blüm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- welchen Taten gehen Sie denn dort hinein? Erklären
ordneten Schuster? Sie doch einmal die Taten! Das ist das, was uns inter-
essiert.
Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
Sozialordnung: Bitte schön. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dr. R. Werner Schuster (SPD): Herr Minister, in der Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und
Diagnose stimmen wir überein. Ich habe aber nicht Sozialordnung: In der Tat: Kampf gegen Ausgren-
ganz verstanden, mit welchen konkreten Therapie- zung, Kampf gegen Armut, Kampf gegen Diskrimi-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1437
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
nierung der Frau, breite Qualifizierung, das sind sehr lich. Dafür muß ein Weltbewußtsein geschaffen wer-
konkrete Vorhaben. Keineswegs in allen Ländern den. Insofern ist der Weltsozialgipfel ein Teil der
der Welt ist es selbstverständlich, daß es ein Recht Weltinnenpolitik, die aus meiner Sicht nicht mit
auf Bildung für alle und nicht nur für die Oberschich- Paragraphen, sondern im Denken beginnt.
ten gibt. Das scheint mir eine ganz konkrete For-
derung für den Weltsozialgipfel zu sein. Ich möchte noch auf einen Irrtum hinweisen. Es ist
keineswegs so, daß wir die Nichtregierungsorganisa-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tionen nicht beteiligt hätten. Sie waren an der Vorbe-
reitung in New York beteiligt; und sie werden auch
Im übrigen haben wir uns diesen Forderungen
unserer Delegation angehören. Wir reisen nicht in
nicht erst auf dem Weltsozialgipfel zugewandt. Ich
der Form „Regierung pur" nach Kopenhagen, son-
mache darauf aufmerksam, daß zum erstenmal auf
dern wir reisen mit den vom NRO-Forum ausgewähl-
dem Treffen der G 7 im letzten Jahr die Frage der
ten und delegierten Teilnehmern der Nichtregie-
Qualifizierung ein Thema der Weltwirtschaftspolitik
rungsorganisationen.
war und daß wir uns dort diesen sozialen Fragen zu-
gewandt haben. Ich glaube, daß sie eine wichtige Rolle spielen. Bei-
Herr Kohn, wenn wir uns darauf verständigen spielsweise wird unser Programm gegen Kinderar-
könnten: Erst muß das, was verteilt wird, erwirtschaf- beit - getragen von der Internationalen Arbeitsorga-
tet werden. Das ist natürlich nicht in einem engen, nisation, finanziert von der Bundesrepublik - wesent-
monokausalen Sinne zu verstehen. Die Sozialpolitik lich durch Nichtregierungsorganisationen gestützt.
ist nicht sozusagen der Reparaturwagen hinter der In der Marktwirtschaft gibt es Sanktionen für alle,
Wirtschaftspolitik, sondern eine integrierte Sozialpo- keine Resolutionen, sondern Sanktionen. Teppiche,
litik unterstützt den wirtschaftlichen Wachstumspro- die von Kindern produziert werden, sollten in
zeß. Deutschland keinen Käufer finden.
Ich will etwas, was unstrittig ist, noch einmal klar-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
stellen, nämlich daß wir nicht die veraltete Vorstel-
ordneten der F.D.P., der SPD und des
lung haben sollten: Als erstes wird Wirtschaft betrie-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ben, und dann sehen wir einmal, was für Sozialpoli-
tik übrig ist. Bereits in dem wirtschaftspolitischen Dafür gibt es die marktwirtschaftlichen Sanktionen:
Ansatz „Vorbeugen ist besser als Heilen" sind so- Teppiche, die nicht durch Kinderarbeit entstehen,
ziale Überlegungen enthalten. Sonst hätten wir ja werden durch Nichtregierungsorganisationen - -
kein Arbeitsrecht, sonst hätten wir keine sozialen
Rechte, die integriert sind. (Peter Dreßen [SPD]: Wie soll man wissen,
ob der Teppich von einem Kind geschaffen
Das scheint mir das Modell für die Welt zu sein, ist?)
wobei ich - damit wir uns gemeinsam von jeder
Überheblichkeit befreien - sagen möchte: Es geht - Das haben wir sichergestellt, indem unabhängige
nicht um Patentrezepte, die wir exportieren. Die Kul- Organisationen einschließlich Nichtregierungsorga-
-
turen dieser Erde sind höchst unterschiedlich. Aber nisationen dafür den Ausweis schaffen.
richtig ist, daß es Grunderfahrungen gibt, die sehr
wohl weltweite Bedeutung haben, beispielsweise die Das halte ich für ganz konkret: So wehrlos ist der
Grunderfahrung, daß es ein Menschenrecht des ein- Konsument nicht gegen Ausbeutung. Er kann nicht
zelnen gibt, daß es nicht durch kollektive Rechte ein- nur mit Worten, sondern ganz konkret seinen Beitrag
geebnet werden kann und daß der Mensch als Indivi- dazu leisten, daß Kinderarbeit auf der Erde ver-
duum Teilhaberechte an der sozialen Entwicklung schwindet.
hat. Das ist das, was der Kollege Vogt klarstellen
wollte. Kollektive sind nicht die Träger von Grund- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister
rechten. Das ist immer der einzelne. Blüm, gestatten Sie eine Abschlußfrage?
Es ist ganz selbstverständlich, daß zu diesen Men-
schenrechten auch soziale Rechte gehören. Es geht
Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und
auch darum, Grundrechte nutzen zu können. Schon
Sozialordnung: Bitte, eine Abschlußfrage.
Anatole France hat darauf aufmerksam gemacht: Un-
ter den Brücken von Paris gibt es für den König wie (Zuruf von der CDU/CSU: Aber auf dem
für den Bettler das Recht, zu schlafen. Nur, der eine Teppich bleiben!)
muß es, und der andere muß es nicht. - Insofern sind
Rechtsstaat und Sozialstaat aus meiner Sicht gar kein
Gegensatz. Es geht auch um die Chancen zur Teil- Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Herr Minister
habe an den rechtstaatlichen Garantien. Blüm, Sie haben eben davon gesprochen, Sie hätten
diese Regeln zur Abschaffung der Kinderarbeit in
Ich will noch einmal klarstellen, daß diese Men- der Teppichindustrie geschaffen. Sind Sie bereit, zur
schenrechte, diese elementaren Grundrechte, nicht Kenntnis zu nehmen, daß es die Organisationen
nach Rassen, Kontingenten oder Ideologien unterteilt „Brot für die Welt" und „terre des hommes" gewesen
werden können, sondern daß es einen Grundbestand sind, die diese Regeln hier in Deutschland verbreitet
von Rechten gibt, die jedem Menschen ohne Rück- haben
sicht auf seine Hautfarbe und Religion zustehen.
Diese Grundrechte sind keineswegs selbstverständ- (Beifall bei der SPD)
1438 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Wilhelm Schmidt (Salzgitter)


und die Sie gedrängt haben, dieses hier in Deutsch- auch, daß Veränderungen bei UN-Institutionen
land umzusetzen, nachdem Sie jahrelang dagegen wichtig wären, wenn es an die Umsetzung unserer
gewesen sind? Forderungen ginge.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und
Sozialordnung: Wir können jetzt einen kleinlichen Da wären wir sicherlich einer Meinung: z. B. in be-
Streit über sozialen Patentschutz anfangen. zug auf die Stärkung des VN-Ausschusses für wirt-
schaftliche, soziale und kulturelle Arbeit. Dieser Aus-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schuß könnte eine hervorragende Kontrollorganisa-
tion für das sein, was wir hier national und internatio-
Ich beteilige mich nicht daran. Ich stelle nur fest, daß
nal in diesem Bereich mit unseren Geldern oder mit
wir über die Internationale Arbeitsorganisation ge-
den internationalen Geldern leisten.
nau diese Unternehmen überhaupt erst in die Lage
versetzt haben, eine Organisation aufzubauen, und Ich möchte meine Rede mit einem Zitat aus der
zwar mit vielen Millionen DM. Präambel der 1919 gegründeten Internationalen Ar-
beitsorganisation, der ILO, beginnen. Dort steht:
Aber ich finde es ein bißchen kleinkariert, jetzt zu
„Der Weltfrieden kann auf Dauer nur auf soziale Ge-
fragen, wer von uns zweien der bessere Mensch ist.
rechtigkeit aufgebaut werden." Man muß bedenken,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge daß diese Erkenntnis nach einem Weltkrieg formu-
ordneten der F.D.P.) liert wurde und daß diese These meines Erachtens
heute, 75 Jahre später, nach wie vor uneingeschränkt
Wenn Sie die Krone haben wollen: Sie sind der bes- gültig ist. Und man sollte daran denken, daß - wie
sere Mensch - und wir haben bezahlt. heute schon häufig zitiert - eine Milliarde Menschen
in bitterster Armut leben, daß 120 Millionen arbeits-
(Abg. Gabriele Fograscher [SPD] meldet
los sind, daß 700 Millionen Menschen unterbeschäf-
sich zu einer Zwischenfrage)
tigt sind und weitere 20 Millionen sich auf der Flucht
- Noch eine Frage? vor Hunger, Umweltzerstörung und Krieg befinden,

(Brigitte Adler [SPD]: Wie haben Sie sich im (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Voll
GATT verhalten?) mer)

Der chilenische UN-Botschafter Juan Somavia hat


Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Moment! Ich diese Entwicklung unlängst so zusammengefaßt:
lasse keine Fragen mehr zu. Herr Minister Blüm, Ihre „Die Bedrohung durch die Atombombe ist längst ab-
Redezeit ist abgelaufen. gelöst worden durch die Wirklichkeit einer sozialen
Bombe." Ich habe bisher keine krassere Formulie-
rung gehört oder gelesen, die die außerordentliche
Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sprengkraft dieses Problems so verdeutlicht.
Sozialordnung: Das bedauere ich sehr. Aber viel-
-
leicht gibt es eine andere Gelegenheit für ein Ge- Mit der Wirklichkeit dieser „sozialen Bombe" wird
spräch miteinander. sich nun der erste Weltsozialgipfel in Kopenhagen
beschäftigen. Zunehmende Armut, ungelöste Be-
Herr Präsident, ich bedanke mich. schäftigungsprobleme und wachsende soziale Krisen
Ich wünsche mir trotz des Streits, der in der Natur - Herr Dr. Blüm, ich sage: auch bei uns - haben
parlamentarischer Auseinandersetzung liegt, daß wir spürbare Konsequenzen für Demokratie und politi-
diesen Weltsozialgipfel gemeinsam unterstützen, sche Stabilität. Es wird nun entscheidend darauf an-
zwar nicht mit der Erwartung, daß wir die Welt zum kommen, daß sich unsere Bundesregierung vehe-
zweiten Mal erschaffen, aber in der Hoffnung, daß ment dafür einsetzt, daß nicht nur Absprachen ge-
wir sie vielleicht ein Stückchen vorwärtsbringen. troffen werden, sondern auch verbindliche Zeit- und
Handlungspläne beschlossen werden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
ordneten der F.D.P. - Dr. R. Werner Schuster (Beifall bei der SPD und der PDS - Zuruf
[SPD]: Ich empfehle dem Herrn Minister von der SPD: Da hört er weg!)
Nachhilfe! Das war ja schlimm!)
Diese müssen natürlich anschließend auf nationa-
ler wie internationaler Ebene auch umgesetzt wer-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat den. Ich gebe meinen Vorrednern recht, daß es dann
die Kollegin Ingrid Becker-Inglau. unsere Aufgabe hier im Parlament ist, zu kontrollie-
ren, ob und wie diese Empfehlungen oder Be-
schlüsse oder Erklärungen umgesetzt werden; denn
Ingrid Becker Inglau (SPD): Herr Präsident! Liebe
-
nur so haben wir überhaupt eine Chance, diese „so-
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst mei- ziale Bombe" zu entschärfen.
nen Dank an Herrn Vogt richten, der uns das Erstge-
burtsrecht dieser Anträge zugestanden hat. Auch Deshalb darf der Weltsozialgipfel meines Erach-
möchte ich ihn beruhigen, daß wir mit unserem An- tens nicht zu einer Tagung der Arbeitsminister zu so-
trag nicht davon ablenken wollen, daß die sozialen zialen Sicherungssystemen verarmen. Ich hätte es
Fragen in den Vordergrund gehören. Ich glaube aber schon sehr gern gesehen, wenn unsere wirtschaft-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1439

Ingrid Becker-Inglau
liche Zusammenarbeit dort den gleichen Stellenwert und daß auch die Entwicklungsländer dafür Geld in
- nicht untergeordnet - erhalten hätte. gleichem Verhältnis aus ihrem eigenen Etat einset-
zen. Ich denke, das ist auch eine Verpflichtung zur
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Selbsthilfe.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen, daß
Ich darf aber auch sagen: Dieser Gipfel sollte nicht diese Regelung, wenn sie richtig angewandt wird,
zu einem Nord-Süd-Gipfel entarten, bei dem ledig- keine neuen Geldmittel für die Umsetzung erfordert.
lich über die Höhe von Transferleistungen gestritten Vielmehr kommen die Mittel durch eine Umstruktu-
wird. Zweck und Ziel dieses Treffens sollte die wirt- rierung bei den Haushaltsprioritäten zusammen.
schaftliche und soziale Neuordnung unserer einen, Diese Umstrukturierung hätte dann sogar zur Folge,
kleinen, nah und eng zusammengerückten Welt sein. daß jährlich zwischen 30 und 40 Milliarden Dollar für
Denn eines ist uns allen inzwischen klar: Globale Zu- elementare Entwicklungsprojekte frei würden. Dies
kunftssicherung ist auch immer unsere eigene Zu- kann doch nur im Sinne unserer entwicklungspoliti-
kunftssicherung. schen Anstrengungen sein.
(Beifall bei der SPD - Dr. R. Werner Schu
Deswegen möchte ich noch einmal bekräftigen:
ster [SPD]: Bloß wollen muß man müssen!)
Weg von Militär- und Rüstungsausgaben bei uns, in
den Entwicklungsländern und in unseren Partnerlän- - So ist es.
dern, hin zu einer Welt, in der mit sozialen marktwirt-
schaftlichen Instrumenten nachhaltige - darauf lege Wir hoffen, daß sich die Bundesregierung derart
ich besonderen Wert - sozial, wirtschaftlich und öko- als Partner beim Gipfel erweist, daß sie dieses Regel-
logisch orientierte Entwicklung verwirklicht wird. werk schon auf EU-Ebene umsetzen kann.
Ich möchte noch ein Lob anbringen. Wie bei jedem
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Kopenhagen
großen Gipfel haben auch bei der Vorbereitung die-
muß auch gewährleistet werden, daß die dort gefaß-
ses Treffens in Kopenhagen viele Institutionen und
ten Beschlüsse und Empfehlungen nicht hinter die
Organisationen mitgewirkt. Einen besonderen Dank
Ergebnisse der anderen UN-Konferenzen - für Um-
möchte ich an die NROs richten, und einen ganz be-
welt in Rio 1992, für Menschenrechte in Wien 1993
sonderen Dank an die Organisationsbereitschaft der
und für Bevölkerung in Kairo 1994 - zurückfallen.
Friedrich-Ebert-Stiftung,
Ebenso sollten wir auch noch einmal daran erin- (Beifall bei der SPD)
nern, daß die bereits 1966 in dem UN-Pakt über wirt-
schaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte die ein Forum eingerichtet hat, von dem maßgebli-
und die in den ILO-Konventionen festgehaltenen che und wertvolle Anstöße an die Bundesregierung
rechtsverbindlichen Regelungen nicht ausgehöhlt ausgegangen sind. Vielleicht war es der Dank von
werden dürfen; denn das könnten wir nicht vertre- seiten der Bundesregierung, daß sie die NROs einge-
ten. laden hat, mit fünf Mitgliedern beim Weltsozialgipfel
dabeizusein.
-
Nicht zuletzt ist ebenfalls sicherzustellen, daß
Eines muß man den NROs zugestehen: Erst sie ha-
keine Beschlüsse gefaßt werden, die gegen das
ben dafür gesorgt, daß der Weltsozialgipfel in der Öf-
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der
fentlichkeit aus der Bedeutungslosigkeit herausge-
Diskriminierung der Frau von 1979 verstoßen. Die-
kommen ist und einen besonderen Stellenwert in der
ser Punkt ist auch deshalb von Bedeutung, weil wir,
öffentlichen Diskussion erhalten hat. Die Tatsache,
meine Fraktion und ich, von diesem Weltsozialgipfel
daß eine solche Vielzahl von Menschen nach Kopen-
auch wichtige Impulse für die Weltfrauenkonferenz
hagen reisen wird, berechtigt mich zu der Hoffnung,
in Peking erwarten.
daß es viele Multiplikatoren geben wird, die das, was
Ich will an dieser Stelle die Bundesregierung bei- in Kopenhagen beschlossen und erklärt wird, ver-
spielhaft an ihr 1992 in Rio gegebenes Versprechen breiten. Ich denke, daß damit die soziale Entwick-
erinnern, wo sie mitbeschlossen hat, die finanziellen lung in dieser Welt einen Aufschwung nehmen wird.
Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit auf ei-
nen Anteil von 0,7 % des Bruttosozialprodukts zu er- Vizepräsident Dr. Antje Vollmer: Sie müssen zum
höhen. Es wäre ein Fortschritt gewesen, wenn unsere Schluß kommen.
Regierung an ihrer eigenen Zielvorgabe bei den
Haushaltsberatungen 1995 festgehalten hätte.
Ingrid Becker-Inglau (SPD): In diesem Sinne hoffe
Man ist einen anderen Weg gegangen. Es stehen ich auf eine erfolgreiche Konferenz und wünsche de-
jetzt 0,03 % weniger als im letzten Jahr zur Verfü- nen, die dort hinfahren, eine gute Beratung. Ich
gung. Ich hoffe, daß es diesbezüglich in Kopenhagen hoffe, daß man sich auf gute Ziele festlegt. Wir im
klare Aussagen mit einer eindeutigen zeitlichen Ziel- Parlament werden sie dann anschließend umsetzen
vorgabe geben wird. Wir erwarten von der Bundesre- und ihre Einhaltung kontrollieren können.
gierung auch eine klare, nachprüfbare Aussage zum Vielen Dank.
20/20-Vertrag, den die UNDP entwickelt hat. Dieser
Vertrag sieht vor, daß sich die internationalen Geber- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
länder verpflichten, jeweils 20 % der Entwicklungs- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN,
hilfe für die soziale Grundversorgung aufzuwenden der F.D.P. und der PDS)
1440 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Gewalt. Es sind hier von Ihnen und von Herrn Blüm
jetzt die Abgeordnete Birgit Schnieber Jastram.
- heute mehrfach sehr eindrucksvolle Zahlen genannt
worden. Jeden Tag sterben in Lateinamerika 3 000
Kinder an den Folgen des Elends, und jeder zweite
Birgit Schnieber Jastram (CDU/CSU): Frau Präsi-
- Einwohner des Subkontinents lebt unterhalb der Ar-
dentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin- mutsgrenze.
nen und Kollegen! Ich freue mich, daß es in diesem
Hause eine große Einigkeit in dieser Frage gibt, und Es ist - und so steht es auch in dem vorliegenden
ich habe auch den Eindruck gewonnen, daß der Entwurf der Schlußerklärung von Kopenhagen - ein
Wunsch, hier gemeinsame Anstrengungen zu unter- moralisches, ein soziales, ein politisches und ein wirt-
nehmen, sehr groß ist. schaftliches Gebot der Menschheit, diesen Ärmsten
zu helfen. Die Bundesregierung - und darüber bin
Die entscheidende Herausforderung dieses Welt- ich froh - wird die Verpflichtung wahrnehmen, sich
sozialgipfels ist das Thema der globalen Bekämp- im Rahmen der internationalen Staatengemeinschaft
fung von Armut; denn Armut macht nicht nur entschieden für die soziale, die wirtschaftliche und
stumm, Armut ist auch stumm, und deshalb ist es auch die ökologische Entwicklung der Dritten und
höchste Zeit, daß ihr in Kopenhagen eine Stimme ge- der Vierten Welt zu engagieren.
geben wird, und zwar eine möglichst laute, möglichst
eindringliche Stimme, wie ich hoffe.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so ordneten der F.D.P.)
wie bei Abgeordneten der SPD)
Im Mittelpunkt dieses Weltgipfels werden ohne
In diesem Zusammenhang, Frau Becker, möchte Zweifel und zu Recht die wirklich dramatischen Zu-
ich nur eines sagen. stände in den ärmsten Regionen der Erde stehen. Ein
Blick dorthin, über die Grenzen Deutschlands und
(Ingrid Becker-Inglau [SPD]: Becker-Inglau! der EU hinaus - und wir tun gut daran, wirklich ein-
Mein Mann würde sich beschweren!) mal über diese Grenzen hinauszublicken -, sollte für
manche, die leichtfertig das Bild von der drohenden
- Frau Becker-Inglau. Ich will nicht, daß Ihr Mann Verelendung in unserem Land beschwören - und das
sich beschwert. ist hier heute auch wieder von einigen Seiten pas-
siert -, Anlaß zur Besinnung und zur vorsichtigeren
Ich wollte Ihnen in diesem Zusammenhang gerne Wortwahl, was unsere eigene Situation betrifft, sein.
eines sagen: Ich glaube, wir sollten unsere Erwartun-
gen nicht so hochschrauben, daß wir anfangen, von
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
einem Zeitplan zu reden, sondern ich glaube, daß wir
ordneten der F.D.P.)
froh sein können, wenn diese Veranstaltung in Ko-
penhagen genutzt wird, eine ganz große Problematik
deutlich zu machen. Herr Minister Blüm hat das, Die positive Bilanz sozialer Sicherheit, die wir ge-
denke ich, so drastisch geschildert, daß- wir es uns genüber den meisten Ländern, auch sogenannten
gut merken sollten. Wohlstandsstaaten, aufweisen können - und in die-
sem Zusammenhang von einem Zerbröckeln zu spre-
(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. R. Werner chen ist schon eine Katastrophe -, darf und wird uns
Schuster [SPD]: „Außer Spesen nichts ge allerdings auch nicht veranlassen, im eigenen Land
wesen" ist zuwenig!) in Selbstgefälligkeit zu verfallen. Denn auch in
Deutschland, einer der reichsten Nationen der Welt,
- Seien Sie nicht so unbescheiden! gibt es unbestritten Armut, und diejenigen, die von
Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit betroffen sind,
Wer sich Berichte und Zahlen aus Afrika, aus Ost- tröstet in der Tat der Vergleich mit den Ärmsten der
asien, aus Lateinamerika vor Augen hält, der wird Welt wenig.
rasch erkennen, daß Armut dort und Armut, wie wir
sie in Deutschland kennen, zwei gänzlich unter- Lassen Sie mich an Hand von zwei ausgewählten
schiedliche Phänomene sind. Verpflichtungen der vorgesehenen Schlußerklärung
kurz auf besonders brennende Problemfelder einge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - hen, und zwar in den Entwicklungsländern und auch
Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Richtig!) bei uns: auf die soziale Integration und auf die Situa-
tion der Frauen.
Das hat auch Norbert Blüm deutlich gemacht.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das Mit der sozialen Integration befaßt sich die vierte
befriedigt die Armen in Deutschland aber Verpflichtung. Ziel der Bemühungen soll es sein,
überhaupt nicht!) eine Gesellschaft für alle zu schaffen. Verurteilt wird
hier jede Art von Diskriminierung, von Intoleranz
- Da haben Sie recht. - Armut in den unterentwik- und von Gewalt. Gleichzeitig ist diese Verpflichtung
kelten Regionen dieser Erde bedeutet nicht nur eine ein Aufruf zur Gewährung von Chancengleichheit,
menschenunwürdige Existenz, sondern Krankheit ein Aufruf - und da sind auch wir angesprochen - zu
und Tod, und zwar massenhaften Tod durch Unterer- Solidarität, zu Toleranz und zu demokratischer Betei-
nährung, durch Epidemien, durch Drogen und durch ligung.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1441

Birgit Schnieber-Jastram
Wir sollten diesen Punkt der Schlußerklärung gut Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Ich wäre
durchlesen. Der Katalog der hierzu angeratenen Um- gerne noch auf die Rolle der Frau eingegangen. Das
setzungsmaßnahmen erscheint wirklich nur auf den wird ein Kollege besorgen.
ersten Blick etwas übertrieben. Alle 81 Einzelpunkte,
Ich danke Ihnen.
auch die umfangreichen Erläuterungen, haben ihre
Berechtigung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so
wie bei Abgeordneten der SPD)
Ich wiederhole, was Wolfgang Vogt bereits gesagt
hat und möchte ein gravierendes Beispiel nennen:
Die Verweigerung von Bildung und Qualifikation, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das war Ihre er-
egal ob Geschlecht, Rasse, fehlende finanzielle Mit- ste Rede, Frau Kollegin, wie mir gesagt wurde. Ich
tel oder eine Behinderung der Grund sind, wider- hätte Ihnen gerne mehr Zeit gegeben. Das konnte
spricht entschieden dem Grundsatz der sozialen Inte- ich aber nicht. Herzlichen Glückwunsch.
gration (Beifall)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Das Wort hat jetzt der Staatssekretär Hedrich.
ordneten der F.D.P. und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Klaus-Jürgen Hedrich, Parl. Staatssekretär beim
und versperrt unzähligen Menschen den Zugang in Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit
eine bessere Zukunft. und Entwicklung: Frau Präsidentin! Meine sehr ver-
ehrten Kolleginnen und Kollegen! Wirtschaftliche
Allein diese exemplarische Praxis der Diskriminie- und soziale Entwicklung sind zwei Seiten der glei-
rung zeigt, welche Defizite es an sozialer Integration chen Medaille. Das wird die zentrale Aussage des
in vielen Teilen der Welt gibt. Ich sage das ohne Weltgipfels für soziale Entwicklung sein.
Überheblichkeit; denn mir ist klar, daß es auch bei Die Bundesregierung hat, ausgehend von ihren ei-
uns Maßnahmen geben muß, um die Integration Be- genen entwicklungspolitischen Erfahrungen und
nachteiligter zu gewährleisten. Ich sage Ihnen aber Prioritäten, die Entwürfe der beabsichtigten Gipfel-
gleichzeitig: Wir werden mit dieser Aufgabe nie fer- beschlüsse intensiv mitgestaltet. Ich möchte an die-
tig werden. ser Stelle nur zwei Beispiele nennen:
Wer von sozialer Integration redet, muß auch auf Erstens. Die politischen, die wirtschaftlichen und
das Thema Ausländer eingehen. Ich will nicht in Ab- die sozialen Rahmenbedingungen sind von zentraler
rede stellen, daß in diesem Bereich in Deutschland Bedeutung. Hierfür ist die Regierung eines jeden
durchaus noch Anstrengungen notwendig sind. Das Landes selbst verantwortlich. Alle Politikbereiche,
gilt nicht nur für die Unterbindung ausländerfeindli- auch die Wirtschafts-, die Haushalts-, die Steuer- und
cher Gewalttaten, die bei fast allen Deutschen nur die Strukturpolitik müssen armutsmindernd gestaltet
Scham, Empörung und Wut hervorgerufen haben. werden, also der sozialen Entwicklung dienen.
-
Jedes dieser Verbrechen ist eines zuviel. Wir dür- Auch Strukturanpassungsprogramme müssen von
fen und werden nicht zulassen, daß feige Brandstifter Anfang an auf dieses Ziel ausgerichtet sein. Darin
und Mörder den guten Ruf, den das demokratische sind sich die Gipfelteilnehmer mit der Weltbank ei-
Deutschland in den vergangenen 50 Jahren im Aus- nig.
land erworben hat, besudeln.
(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Das ist nicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) richtig!)
Die Achtung der politischen, bürgerlichen, wirt-
schaftlichen, sozialen und kulturellen Menschen-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ihre Redezeit ist rechte einschließlich der Gleichberechtigung von
leider zu Ende, Frau Kollegin. Mann und Frau, die Beteiligung aller Bevölkerungs-
schichten am politischen Prozeß und die Entwick-
lungsorientierung staatlichen Handelns sind ent-
Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Aber auch
scheidende Voraussetzungen für soziale Entwick-
im alltäglichen Bereich stellt die Bezeichnung „aus-
lung.
ländischer Mitbürger" allzu oft nur eine Worthülse
dar. Dennoch ist festzustellen, daß das weitgehend Armut - darauf ist hingewiesen worden - bedeutet
problemfreie, oft sogar selbstverständliche und har- nicht nur materielle Not, sondern auch Ausgeschlos-
monische Zusammenleben zwischen Deutschen und sensein von Entscheidungen, fehlende Möglichkei-
ihren ausländischen Nachbarn eher den Regelfall bil- ten einer eigenverantwortlichen Lebensgestaltung,
det als die Ausnahme. Verletzung der menschlichen Würde und Freiheit.
Deshalb ist die Beteiligung der Menschen an Ent-
Es bleiben natürlich viele Fragen offen. Ich erin- scheidungen, die sie selbst betreffen, von elementa-
nere nur an die Diskussion über die doppelte Staats- rer Bedeutung.
bürgerschaft.
Ich bin der Frau Kollegin Schnieber-Jastram sehr
dankbar, daß sie auf die Verwendung des Wortes Ar-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ihre Redezeit ist mut hingewiesen hat. Wir hatten Ende letzten Jahres
vorbei. ein Gespräch mit den Vertretern der Kirchen. Herr
1442 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Parl. Staatssekretär Klaus-Jürgen Hedrich


Wolf, dabei kam natürlich auch das Dokument zur herzustellen, nicht verweigern. Hier liegt eine be-
Sprache, das Sie erwähnt haben. Glücklicherweise - stimmte Verantwortung auch beim Parlament selbst.
oder wie immer Sie es formulieren wollen - war ge-
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So
rade der evangelische Bischof Löwe von einem län-
geren Besuch auf den Philippinen zurückgekehrt. Er leicht ist das!)
sagte, wir müßten vorsichtig sein, bei der Beschrei- Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch
bung innenpolitischer Verhältnisse so ohne weiteres unsere Bevölkerung weiß: Ungelöste globale Fragen,
das Wort Armut zu verwenden, weil es der Beschrei- Umweltzerstörung, Überbevölkerung, Ausbreitung
bung der Verhältnisse in den Ländern der sogenann- von Krankheiten, weltweite Wanderungs- und Mi-
ten Dritten Welt nicht gerecht werde. Armut auf den grationsprobleme haben unmittelbare Auswirkun-
Philippinen sei etwas völlig anderes als möglicher- gen auf unsere Lebenswirklichkeit in Deutschland.
weise vorhandene soziale Defizite bei uns. Daß dieses Bewußtsein in unserer Bevölkerung vor-
handen ist, ermutigt uns, weiter an der Lösung glo-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - baler Herausforderungen zu arbeiten, auch wenn
Zuruf des Abg. Dr. R. Werner Schuster dies manchmal materiellen Verzicht und Aufrütteln
[SPD]) aus Behaglichkeit bedeutet.
Zweitens. Soziale Entwicklung bedeutet nicht nur Herzlichen Dank.
die Förderung der sogenannten sozialen Sektoren.
Vorrangig in der Armutsbekämpfung ist die Förde- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
rung der produktiven Kräfte der Menschen,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) jetzt die Kollegin Gabriele Fograscher.
damit sie selbst ihre Lage verbessern können. Armut
ist übrigens auch die Vergeudung von volkswirt- Gabriele Fograscher (SPD): Frau Präsidentin!
schaftlichem Potential und die mangelnde Nutzung Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Tages-
wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. ordnung des Weltsozialgipfels in Kopenhagen be-
rührt so ziemlich alle Probleme, die auch nach dem
(Brigitte Adler [SPD]: Sehr richtig!) Ende des Kalten Krieges die Welt immer noch pla-
gen. Die sozialen Probleme wie Armut und Arbeitslo-
Die vorgesehenen Beschlüsse des Weltgipfels für sigkeit bedrohen das Leben jedes einzelnen Men-
soziale Entwicklung bestätigen und bestärken uns in schen, aber auch die Sicherheit und das Zusammen-
der bisherigen entwicklungspolitischen Schwer- leben der Nationen.
punktsetzung und den Kriterien für unsere Zusam-
menarbeit. Ich nenne hier noch einmal die Wahrung Armut und Arbeitslosigkeit sind nicht nur Pro-
der Menschenrechte, Soziale Marktwirtschaft und Ei- bleme der Entwicklungsländer, sondern auch die rei-
genverantwortung unserer Partnerländer. chen Industriestaaten des Nordens sind zunehmend
davon betroffen. Immer leiden die schwächsten Mit-
Kollege Büttner, möglicherweise liegt zum Recht glieder der Gesellschaft unter menschenunwürdigen
auf Entwicklung ein Mißverständnis vor. Insbeson- Verhältnissen. Die Schwächsten, das sind die Kinder.
dere die Staaten des Nordens, aber nicht nur die, ha-
ben sich auf der Menschenrechtskonferenz in Wien Seit 1989 wurde die UN-Kinderkonvention von
geweigert, diese Formulierung aufzugreifen, weil etwa 150 Staaten unterzeichnet. Doch an der Lage
eine Reihe von Entwicklungsländern hinter dem Be- der Kinder hat sich dadurch nichts verbessert. Es
griff Recht auf Entwicklung etwas anderes verber- nützt nichts, solche Übereinkommen zu unterzeich-
gen. Sie wollen das Recht auf Entwicklung in Form nen und Konferenzen zu veranstalten, wenn ihnen
von Kollektivansprüchen gleichwertig neben das keine Taten folgen.
Recht des einzelnen auf seine persönliche Entfal- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
tung, die Entfaltung von Menschenrechten stellen. DIE GRÜNEN)
Sie sagen deshalb des öfteren: Wenn es notwendig
ist, muß das Individualrecht, das Recht auf Pressefrei- Lassen Sie mich einige Beispiele herausgreifen, die
heit und dergleichen, hinter dem Recht auf kollektive die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf-
Entwicklung zurückstehen. Dies kann doch wohl im zeigen: Das Recht der Kinder auf Schul- und Berufs-
gemeinsamen Interesse dieses Hauses nicht gemeint ausbildung ist in Art. 28 der Kinderkonvention ver-
sein. ankert. Es war und ist erklärtes Ziel der UNICEF, daß
mindestens 80 aller Jungen und Mädchen in den
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ländern der Dritten Welt bis zum Jahre 2000 eine
Grundschulausbildung erhalten können.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zum Stich-
wort 0,7 % machen. Ich habe nie einen Hehl daraus Das Ziel von UNICEF wird aber nicht erreicht wer-
gemacht - ich tue es auch heute nicht -, daß ich es den, denn in vielen Regionen ist der Grundschulbe-
bedauere, daß wir diesem Ziel nicht näherkommen. such rückläufig oder stagnierend. In Afrika beispiels-
Ich darf als Staatssekretär im Ministerium für wirt- weise sank die Einschulungsrate seit 1980 von 79 %
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sagen: auf 67 %. Das hat auch mit dem großen Komplex der
Unser Ministerium würde sich Entschlüssen des Par- Kinderarbeit, zu dem ich jetzt kommen werde, zu
laments, eine entsprechende Haushaltskomponente tun.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1443
Gabriele Fograscher
Der Schutz der Kinder vor Ausbeutung und somit Heimen aus und landen auf der Straße. Nach Aussa-
das Verbot der Kinderarbeit sind immer noch nicht gen des Deutschen Kinderschutzbundes gibt es auch
hinreichend berücksichtigt und sind nicht ausrei- in Ballungsgebieten der deutschen Großstädte eine
chend in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrun- ständig wachsende Zahl von Straßenkindern.
gen. Die Zahl der Kinder, die arbeiten gehen müssen,
liegt zwischen 100 und 200 Millionen. Hier, meine ich, könnten wir in einen Dialog mit
den Staaten treten, die schon entsprechende Projekte
Die Arbeitsverhältnisse sind in den meisten Fällen durchgeführt und Erkenntnisse aus ihnen gewonnen
durch Gewalt bestimmt. Die Kinder verfügen über haben, wie solchen Kindern zu helfen ist.
keine schriftlichen Arbeitsverträge und entbehren
jeglichen Rechts- und Versicherungsschutzes. Kinder Ich fordere die Bundesregierung als Teilnehmer
arbeiten länger als Erwachsene, unter denselben Ge- am Weltsozialgipfel auf: Bilden Sie eine Lobby für
sundheits- und Unfallrisiken, tragen aber bleibende die Zukunft der Kinder dieser Welt!
Schäden davon, weil die unfertigen Körper weniger
Ein weiteres möchte ich der Delegation der Bun-
aushalten.
desregierung mit auf den Weg geben: Seit der Welt-
Da genügt es nicht, Herr Kohn, nur eine Ächtung bevölkerungskonferenz in Kairo ist deutlich, daß
der Kinderarbeit anzumahnen. Da muß man eben, Frauen eine Schlüsselstellung haben. Soll sich in den
wie vorhin schon angesprochen wurde, konkrete Punkten der Bevölkerungsentwicklung, Gesund-
Maßnahmen ergreifen, heitsvorsorge, Ernährungssituation und Kindersterb-
lichkeit etwas verbessern, führt der Weg nur über
(Zuruf von der CDU/CSU: Tun wir doch!) eine Verbesserung der Situation der Frau. Soziale
um z. B. den Verbraucher darüber aufzuklären, wie Entwicklung und Fortschritt sind nur möglich, wenn
preisgünstige Teppiche entstehen. Frauen vorrangig in die Entwicklungszusammenar-
beit einbezogen und gefördert werden. Nur wenn
(Beifall bei der SPD und der PDS) Frauen Zugang zur Ausbildung und zu eigenständi-
Die Schwierigkeiten bei der Einführung dieses Tep- ger Existenzsicherung haben, nur wenn Mädchen
pichsiegels sind ja von Ihnen vorhin geschildert wor- über ihre Rolle als Frau und Mutter aufgeklärt und
darauf vorbereitet werden, läßt sich der Teufelskreis
den.
von Armut und Überbevölkerung durchbrechen.
Die Bundesregierung hat vom Deutschen Bundes-
tag den Auftrag bekommen, bis Dezember 1994 (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
einen Bericht zur erfolgreichen Bekämpfung der Kin- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
derarbeit vorzulegen. Dieser ist bis zum heutigen und der PDS)
Tage noch nicht vorgelegt worden. Wir haben keinen Anlaß, die sozialen Probleme in
Kinder haben ein Recht auf besonderen Schutz Entwicklungsländern anzuprangern und den Län-
und auf körperliche und seelische Unversehrtheit. dern der Dritten Welt mit Besserwisserei entgegenzu-
Eine besonders krasse Form der Kinderarbeit ist die treten, solange wir die Augen vor sozialen Proble-
Kinderprostitution. Zwar verbietet Art.- 34 der Kin- men im eigenen Land verschließen.
derkonvention der UN den sexuellen Mißbrauch von
Zum Problem der Armut wurde hier schon einiges
Kindern, aber die Armut und das Elend, in dem die
gesagt. Es gibt eine Definition von Armut. Diese be-
Kinder und ihre Familien aufwachsen, treiben die
zieht sich auf das Teilhabenkönnen am gesellschaft-
Kinder immer wieder auf die Straße.
lichen Leben. Die Kirchen, Wohlfahrtsverbände und
Das Leben dort besteht aus Elend und Demüti- Gewerkschaften haben Armut definiert und gesagt,
gung. Die Gefahr der HIV-Infektion, schwerer Ver- daß es Armut in dem reichen Land Deutschland gibt.
letzungen und des Drogenkonsums ist groß. Solange Die Bundesregierung sollte mit gutem Beispiel vor-
die Ursachen für die Kinderprostitution bestehen angehen und endlich einen nationalen Armutsbe-
bleiben, sich die Kunden von diesem sexuellen Miß- richt erstellen.
brauch nicht abwenden und die Regierungen aller
Staaten hier nicht massiv eingreifen, wird die Aus- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
beutung von jungen Mädchen und auch Jungen be- GRÜNEN und der PDS)
stehen bleiben. Der Weltsozialgipfel macht nur Sinn, wenn sich je-
Nach der jetzigen Gesetzeslage ist es möglich, Tä- des Land - auch wir - daran begibt, die sozialen Auf-
ter im Ausland bei uns nach deutschem Recht anzu- gaben als wesentliche Aufgaben zu erkennen, sie zu
klagen. Was hier noch fehlt, ist der konsequente Voll- benennen, Konzepte zur Lösung zu erarbeiten und
zug dieses Gesetzes. diese dann auch umzusetzen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord GRÜNEN und der PDS sowie hei Abgeord
neten der CDU/CSU) neten der CDU/CSU)

Auch das Problem der Straßenkinder wurde schon


angesprochen. 80 bis 100 Millionen verlassene Kin- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich gratuliere
der fristen ihr Dasein auf der Straße. Doch nicht nur auch Ihnen. Wir haben heute eine Reihe von Erst-
in sogenannten Entwicklungsländern verlassen Kin- lingsreden.
der und Jugendliche ihre Familien oder reißen aus (Beifall)
1444 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer


Dies trifft auch auf den Abgeordneten Andreas Zum zweiten bin ich sehr skeptisch, ob sich ein
Krautscheid zu, dem ich nun das Wort erteile. derartig starres, schablonenhaftes Raster überhaupt
von Fall zu Fall auf die Bedürfnisse der einzelnen
(Beifall bei der CDU/CSU) Länder übertragen läßt. Grundsätzlich gilt auch hier:
Quantität geht nicht vor Qualität. Man kann erfolg-
Andreas Krautscheid (CDU/CSU): Frau Präsiden- reiche Entwicklungsarbeit nicht an erreichten Pro-
tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe zentzahlen ablesen. Wir wollen in erster Linie die ei-
Kolleginnen und Kollegen! Uns wie auch allen ande- genen schöpferischen und produktiven Kräfte der
ren Nationen wird immer deutlicher vor Augen ge- Menschen fördern, um nicht bei einer rein betreuen-
führt, daß der internationale Frieden nicht mehr nur den Grundbedürfnisbefriedigung stehenzubleiben.
durch militärische Bedrohungspotentiale und die vie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
len politischen und ethnischen Konflikte bedroht
wird, sondern zunehmend auch durch soziale Krisen- Lassen Sie mich noch auf einige Punkte des SPD-
situationen. Die Stärkung der sozialen Entwicklung Antrags eingehen. Die Sozialdemokraten fordern
ist deshalb wesentliche Voraussetzung nicht nur für beispielsweise, die Planung, Durchführung und die
stabile zwischenstaatliche Ordnungen, sondern auch Ergebnisse aller Weltbankprojekte auf Nachhaltig-
für eine friedensfördernde Entwicklung in den ein- keit, Umweltverträglichkeit und Sozialverträglich-
zelnen Staaten selbst. keit zu überprüfen. Mir scheint dies die Gefahr in
sich zu bergen, daß statt einer effektiven Einzelfall-
Dabei sind wir uns sehr wohl bewußt, daß eine prüfung, wie sie etwa das Inspection Panel jetzt
Verbesserung der sozialen Entwicklungschancen durchführt, eine komplizierte, umfangreiche neue
nicht ohne eine Veränderung der Konsum- und Pro- Bürokratie geschaffen wird. Andererseits fordern Sie
duktionsmethoden in den Industrieländern möglich in jeder Diskussion über die Weltbank eine Bekämp-
sein wird. Hier nenne ich die Stichworte Protektionis- fung der bürokratischen Hemmnisse bei der Welt-
mus und verantwortungsvoller Umgang mit den öko- bank. Wir würden uns freuen, wenn Sie die einzel-
logischen Ressourcen. nen Anträge einmal sinnvoll aufeinander abstimmen
würden.
(Zuruf des Abg. Dr. R. Werner Schuster
[SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU - Joseph Fischer
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Vorrangig, Herr Kollege Schuster, müssen wir jedoch Sehr polemisch pointiert!)
aus den oft negativen Erfahrungen multilateraler
Entwicklungspolitik lernen, Für völlig unrealistisch halte ich auch die Forde-
rung, die internationalen Finanz- und Handels-
(Beifall bei der CDU/CSU) ströme vom Wirtschafts- und Sozialrat, ECOSOC, auf
die gewünschten sozialen und ökologischen Zielset-
um die zum Einsatz gebrachten Mittel, etwa zur zungen hin überwachen zu lassen. Meine Damen
Armutsbekämpfung, effektiver einzusetzen. Denn und Herren, man schätzt, daß allein zwischen den
wenn die Strukturen in den Entwicklungsländern Börsen Frankfurt, Tokio, New York und London pro
nicht stärker auf eine soziale Entwicklung hin orien- Tag etwa 1 000 Milliarden Dollar bewegt werden.
tiert werden, nützen auch Verhaltensänderungen der Wie eine Behörde mit etwas über 50 Mitgliedern wie
Industriestaaten nichts. ECOSOC derartige Dinge überwachen soll, ist mir
(Beifall bei der CDU/CSU) absolut schleierhaft. Gleiches gilt für die von Ihnen
gewünschte Überwachung der Tätigkeit transnatio-
Wir vertrauen im Rahmen der multilateralen Ent- naler Konzerne. Wie das gehen soll, sagen Sie uns
wicklungshilfe auf die bewährten Kriterien, die in leider nicht. Das klingt alles sehr beeindruckend,
den letzten Jahren unserer bilateralen Entwicklungs- aber leider bleiben Sie uns die Antwort auf die Frage
hilfe zum Erfolg verholfen haben. Dies bedeutet für schuldig, mit welchen Instrumenten und mit welchen
uns vor allem eine Armutsbekämpfung durch Hilfe Kompetenzen das funktionieren soll.
zur Selbsthilfe. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf den DIE GRÜNEN]: Das ist einfacher, als man
UNDP-Vorschlag „20:20" eingehen, den der Kollege glaubt! Man geht einfach rein ins Netz!)
Kohn vorhin schon sehr deutlich inhaltlich struktu- - Für Sie vielleicht, Herr Fischer. -
riert hat. Ich stehe diesem Vorschlag noch zurückhal-
tend gegenüber. Die Tendenz und der Impetus des (Zuruf von der SPD: Fischer geht ins Netz!)
Vorschlags sind insoweit richtig, als dadurch be- Wenn ich mir den SPD-Antrag angucke, finde ich
zweckt werden soll, daß sich die Regierungen der sehr interessant, was Sie uns nicht sagen. Bei der
Entwicklungsländer verstärkt für die eigene Armuts- Frage, welches Wirtschaftssystem Sie in Entwick-
bekämpfung verantwortlich fühlen. Im Vorfeld des lungsländern präferieren, drücken Sie sich ständig
Weltsozialgipfels haben allerdings eine Reihe von um den Begriff „Marktwirtschaft" herum. Ich finde
Entwicklungsländern dieses Modell abgelehnt, weil sehr interessant, daß in dem Antrag der GRÜNEN
sie hierin einen zu starken Eingriff in die eigene Bud- von dem Ziel einer „solidarischen Marktwirtschaft,
getgestaltung sehen. Hier begegnet uns sehr schnell die von Maßnahmen des sozialen und ökologischen
der Vorwurf des monetären Neokolonialismus. Diese Ausgleichs begleitet wird", die Rede ist.
Bedenken müssen wir erst noch argumentativ aus-
räumen. (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1445
Andreas Krautscheid
Der Begriff „Marktwirtschaft" taucht in keiner Zeile beimißt. Ich hoffe sehr, daß in Kopenhagen über die
des Antrags der SPD auf. bereits bekannten Eckpositionen hinaus weitere
Fortschritte möglich sein werden. Wir sind zu diesen
Schritten bereit.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so
Duve? wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)

Andreas Krautscheid (CDU/CSU): Herr Duve,


selbstverständlich. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Auch hier: Gra-
tulation zur Newcomer-Rede!

Freimut Duve (SPD): Herr Kollege, gehört es jetzt (Beifall)


zur schwarz-grünen Regel, daß Sie alle Papiere der Ich schließe damit die Aussprache.
Sozialdemokratie auf jene Selbstverständlichkeit hin
untersuchen, die sich in dem Ausdruck „Marktwirt- Es wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksa-
schaft" für die entwicklungspolitische Position der chen 13/556, 13/421, 13/539 und 13/535 an die in der
Sozialdemokraten seit Jahrzehnten manifestiert? Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Andreas Krautscheid (CDU/CSU): Herr Kollege
Duve, man hat mir als Newcomer empfohlen, auch
zwischen den Zeilen genau hinzuschauen. Mir ist Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie die Zu-
aufgefallen, daß Sie in Ihrem Antrag alle Kriterien, satzpunkte 12 und 13 auf:
die das BMZ festlegt, übernehmen, aber bei dem Be- 13. Überweisung im vereinfachten Verfahren
griff „Marktwirtschaft" lediglich von effizienter Wirt-
schaftsordnung reden. Wenn Sie darunter auch eine Beratung des Antrags des Bundesministeriums
schöne Planwirtschaft verstehen, dann sagen Sie das, der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2
aber bleiben Sie bitte nicht zwischen den Zeilen hän- der Bundeshaushaltsordnung in die Veräuße-
gen! rung einer Teilfläche der bundeseigenen
(Beifall bei der CDU/CSU) ehemaligen US-Wohnsiedlung Pattonville
(Gemarkungen Kornwestheim und Remseck)
Wir sind überzeugt, daß die soziale und ökologi- an den Zweckverband Pattonville/Sonnen-
sche Marktwirtschaft für die Entwicklungsländer den bergsiedlung
gewünschten Ausgleich zwischen fairem Leistungs-
wettbewerb, sozialer Absicherung und Schonung - Drucksache 13/393 —

ökologischer Ressourcen bewirken kann. Die Ent- Überweisungsvorschlag:


wicklungsländer sind für solche Anregungen und Er- Haushaltsausschuß
fahrungen bei ihrer Suche nach dem richtigen
- Weg
zwischen gescheiterten sozialistischen Planmodellen ZP12 Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
und rigidem Manchester-Kapitalismus dankbar. Sie CSU, SPD, F.D.P. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
erwarten mit Recht, daß wir ihnen bei der Errichtung NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
einer sozialverträglichen und ökologischen Wirt- zur Änderung der Vorschriften über parla-
schaftsordnung helfen. mentarische Gremien
- Drucksache 13/543 —
Allerdings gilt auch hier: Soziale Transferleistun-
gen als solche bringen in der Regel noch keine Ent- Überweisungsvorschlag:
wicklung. Wir hätten uns gewünscht, daß die SPD Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord-
die Neuorientierung der Entwicklungspolitik - weg nung
von einer rein betreuenden Bedürfnisbefriedigung ZP13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ma-
hin zu einer mehr an den aktiven schöpferischen rieluise Beck (Bremen), Annelie Buntenbach,
Kräften der Bevölkerung orientierten Politik - mit Andrea Fischer (Berlin) und der Fraktion
nachvollzieht. Wir setzen weiterhin auf die selbsthil- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
feorientierte Armutsbekämpfung, die die produkti-
ven Kräfte der Bevölkerung nutzen möchte. Aktionsprogramm Arbeitspolitik
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - - Drucksache 13/578 -
Zuruf von der SPD: Schwacher Beifall!) Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend)
Die Bundesrepublik Deutschland hat allen Grund, Finanzausschuß
selbstbewußt und kooperationsbereit in Kopenhagen Ausschuß für Wirtschaft
aufzutreten. Unser Beitrag zur Verbesserung der so- Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
zialen Entwicklung kann sich allemal sehen lassen. Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technolo-
Wir werden in Kopenhagen durch den Bundeskanz-
gie und Technikfolgenabschätzung
ler sowie durch Fachminister prominent vertreten
sein. Auch dies macht deutlich, welche Bedeutung Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
die Bundesrepublik der Konferenz und ihren Zielen ten Verfahren ohne Debatte.
1446 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer


Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen g) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti-
an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse tionsausschusses (2. Ausschuß)
zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? -
Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Sammelübersicht 12 zu Petitionen
- Drucksache 13/426 -
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14a bis 14h auf:
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti-
Abschließende Beratungen ohne Aussprache tionsausschusses (2. Ausschuß)

a) Zweite und dritte Beratung des von den Sammelübersicht 13 zu Petitionen


Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- - Drucksache 13/427 -
derung des Asylverfahrensgesetzes
Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorla-
- Drucksache 13/240 - gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
(Erste Beratung 15. Sitzung)
Tagesordnungspunkt 14a: Abstimmung über den
Beschlußempfehlung und Bericht des In- von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. ein-
nenausschusses (4. Ausschuß) gebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Asyl-
verfahrensgesetzes auf Drucksache 13/240. Der In-
- Drucksache 13/544 - nenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/544, den
Berichterstattung: Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte
Abgeordnete Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
Cern Özdemir len, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Erika Steinbach Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
Dr. Burkhard Hirsch in zweiter Beratung angenommen.

b) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ Wir kommen zur


CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P. dritten Beratung

Beteiligung einer Delegation des Deut- und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die
schen Bundestages an der VN-Konferenz dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-
in Berlin vom 23. März bis 7. April 1995 ben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? -
Damit ist der Gesetzentwurf bei einigen Stimment-
- Drucksache 13/540 - haltungen mit großer Mehrheit angenommen.
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Tagesordnungspunkt 14 b: Abstimmung über den
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft
- Antrag der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNIS-
(9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bun- SES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. zur Beteiligung
desregierung einer Delegation des Deutschen Bundestages an der
Aufhebbare Fünfunddreißigste Verord- UN-Konferenz in Berlin auf Drucksache 13/540. Wer
nung zur Änderung der Außenwirtschafts- stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Stimm-
verordnung enthaltungen? - Ich stelle große Einmütigkeit im Ple-
num fest. Der Antrag ist damit angenommen.
- Drucksachen 13/23, 13/428 -
Tagesordnungspunkt 14c: Abstimmung über die
Berichterstattung:
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
Abgeordneter Erich Fritz
zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung auf
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Drucksachen 13/23 und 13/428. - Wer stimmt für
tionsausschusses (2. Ausschuß) diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimm-
enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung
Sammelübersicht 9 zu Petitionen bei einigen Stimmenthaltungen angenommen.
- Drucksache 13/334 - Tagesordnungspunkte 14d bis 14h: Abstimmung
über die Beschlußempfehlungen des Petitionsaus-
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti-
schusses auf Drucksachen 13/334 und 13/424 bis 13/
tionsausschusses (2. Ausschuß)
427. Das sind die Sammelübersichten 9 bis 13. Wer
Sammelübersicht 10 zu Petitionen stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Gegen-
probe! - Stimmenthaltungen? -
- Drucksache 13/424 -
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- DIE GRÜNEN]: Wir beantragen Wiederho
tionsausschusses (2. Ausschuß) lung der Abstimmung!)
Sammelübersicht 11 zu Petitionen
- Es wird um Wiederholung der Abstimmung gebe
- Drucksache 13/425 - ten. Ich wiederhole die Abstimmung: Wer stimmt für
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1447
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
diese Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe! - Ich gebe jetzt das Ergebnis der Abstimmung be-
Stimmenthaltungen? - Es sieht ganz so aus, als sei kannt. Mit Ja haben gestimmt: 272 Abgeordnete. Mit
das abgelehnt worden. Nein haben gestimmt: 217 Abgeordnete.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 489 Abgeordnete waren anwesend. Damit war das
PDS - Zuruf: Durchzählen!) Haus beschlußfähig. Die Beschlußempfehlungen
- Dann müssen wir durchzählen. sind damit angenommen.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tages-
DIE GRÜNEN]: Das war eindeutig! - Abg. ordnung um die Beratung des Antrages der Fraktion
Brigitte Baumeister [CDU/CSU] und Abg. der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE
Clemens Schwalbe [CDU/CSU] begeben GRÜNEN und der F.D.P. zur Solidarität mit Salman
sich zum Präsidium) Rushdie und zu einem Appell gegen die Einschrän-
kung der Meinungsfreiheit zu erweitern. Über diesen
- Die CDU/CSU-Fraktion verlangt Zählung der Sti Antrag soll jetzt gleich ohne Aussprache abgestimmt
men. Wir machen deswegen einen Hammelsprung. werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Ich bitte Sie also, den Saal zu verlassen. - Wenn alle Fall. Dann ist das so beschlossen.
Mitglieder des Hauses draußen sind, bitte ich, die
Türen zu schließen. Sind die Schriftführer anwesend? Ich rufe folgenden Zusatzpunkt auf:
(Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Nein, Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/
noch nicht!) CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
Können wir einmal klären, ob die notwendigen F.D.P.
Schriftführer anwesend sind? - Ich frage noch ein- Solidarität mit Salman Rushdie und Appell
mal, ob die Schriftführer inzwischen eingetroffen gegen die Einschränkung von Meinungsfrei-
sind. heit
(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Nein!) - Drucksache 13/586 -
- Es sind einige andere Mitglieder des Hauses da, die Wir kommen damit zur Abstimmung über den in-
das machen könnten. - terfraktionellen Antrag. Wer stimmt dafür? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Der Antrag zur Solidarität
Mir sind folgende Schriftführer benannt worden,
mit Salman Rushdie und zu einem Appell gegen die
die jetzt den Zähldienst an den Türen übernehmen:
Einschränkung der Meinungsfreiheit ist bei großer
der Abgeordnete Dr. Max Stadler, der Abgeordnete
Beteiligung einstimmig in diesem Haus angenom-
Roland Kohn, die Abgeordnete Elisabeth Altmann
men worden. Ich danke Ihnen.
und die Abgeordnete Steffi Lemke. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, an die Türen zu (Beifall im ganzen Hause)
gehen. Sobald sie an den Türen sind, beginnt die Ab- Der Abgeordnete Gerhard Zwerenz hat um das
m-
stimmung. - Sobald ich das Zeichen habe, daß die Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung erbeten.
Schriftführerinnen und Schriftführer an den Türen
sind, beginnt die Abstimmung. -
Gerhard Zwerenz (PDS): Frau Präsidentin! Meine
(Zuruf: Alles okay! Sie können anfangen!) Damen und Herren! Dem interfraktionellen Antrag
- Dann eröffne ich die Abstimmung. - zur Solidarität mit Salman Rushdie stimme ich nur im
Sinne eines Minimums zu. Ich erkläre zugleich
Hat jemand noch nicht an der Abstimmung teil- meine Unzufriedenheit mit dem geradezu unanstän-
nehmen können? Können die Schriftführer mir bitte dig zurückhaltenden Antragstext, der weit hinter al-
ein Zeichen geben, ob die Abstimmung abgeschlos- lem zurückbleibt, was unser Schriftstellerverband in
sen ist? - Die Türen werden geschlossen. der IG Medien und unsere beiden deutschen PEN-
Zentren sowie viele Bürgerinitiativen längst aus-
Ich bitte die Schriftführer, umgehend zu mir zu drücklich gefordert haben.
kommen und das Ergebnis mitzuteilen.
(Beifall bei der PDS)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will etwas
vorweg sagen. Es ist ein etwas ungewöhnlicher Vor- Sechs Jahre religiös-staatlicher Morddrohung ge-
gang, daß wir jetzt ein so volles Haus haben. gen Salman Rushdie sind genug. Die Gruppe der
PDS fordert deshalb, dem Iran ausdrücklich einen
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Termin von nicht länger als drei Monaten zu setzen.
GRÜNEN und der PDS) Ist der Mordauftrag bis dahin nicht offiziell zurückge-
Das hat einen großen Nutzen. Ich möchte Sie bitten, nommen, wird der Deutsche Bundestag die Bundes-
gleich, nachdem ich das Ergebnis der Abstimmung regierung auffordern, die diplomatischen, politischen
bekanntgegeben habe, wenn es Ihnen möglich ist, und wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran abzubre-
hierzubleiben, weil wir über den Antrag zu Salman chen, wie es im interfraktionellen Antrag leider ohne
Rushdie abstimmen. Dafür hat es sich sicherlich ge- Terminierung angedroht wird.
lohnt, daß wir hier so viele sind. Ich danke Ihnen.
(Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der PDS)
1448 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Abgeord- bosnischen Flüchtlingen, die inzwischen ihren Le-
neter Zwerenz, eine Erklärung zur Abstimmung kön- bensunterhalt im Bundesgebiet ohne Inanspruch-
nen Sie nicht im Namen Ihrer Fraktion, sondern nur nahme von Sozialhilfe bestreiten können, eine Auf-
für sich persönlich abgeben. Ich nehme das in die- enthaltsbefugnis nach § 32 des Ausländergesetzes
sem Sinne zu Protokoll. erteilt werden. Entsprechende Vorschläge in der In-
nenministerkonferenz wird die Bundesregierung un-
(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das ist doch keine terstützen.
Fraktion, Frau Präsidentin!)
Nach Auffassung der Bundesregierung sollte
Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien eine
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Aufenthaltsbefugnis erteilt werden, wenn sowohl die
Fragestunde freiwillige Ausreise als auch eine Abschiebung aus
Gründen unmöglich sind, die die Flüchtlinge nicht
- Drucksache 13/470 - zu vertreten haben, und wenn nicht damit zu rech-
nen ist, daß das Ausreise- und Abschiebungshinder-
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministe- nis in absehbarer Zeit entfällt.
riums des Innern auf. Zur Beantwortung steht Herr
Parlamentarischer Staatssekretär Lintner bereit. Nach dem derzeitigen Sachstand kommen nur die
Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina für die Er-
Ich rufe die Frage 45 des Abgeordneten Dr. Max teilung einer Aufenthaltsbefugnis in Betracht.
Stadler auf:
Ist die Bundesregierung bereit, eine Härtefallregelung für
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gibt es Zusatz-
traumatisierte, in Behandlung befindliche Flüchtlinge und älte-
re, in Kroatien alleinstehende Menschen, die in der Bundesrepu- fragen? - Nein, das ist ausreichend beantwortet.
blik Deutschland durch enge Angehörige versorgt sind, gegen-
über den Innenministern der Länder zu unterstützen, und liegen Dann rufe ich Frage 47 des Abgeordneten
ihr Erkenntnisse darüber vor, wie viele Personen eine solche Re- Dr. Edzard Schmidt-Jortzig auf:
gelung betreffen würde?
Wie beurteilt die Bundesregierung die Sicherheitslage in
Bitte, Herr Staatssekretär. Kroatien für den Fall, daß dort das Mandat der VN-Schutztrup-
pen nicht über den 31. März 1995 hinaus verlängert wird und die
serbisch besetzten Gebiete Kroatiens noch nicht zurückgegeben
worden sind, und können die hier lebenden Flüchtlinge aus
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Kroatien davon ausgehen, daß ihre Rückschiebung ausgesetzt
minister des Innern: Frau Präsidentin, die Antwort wird, falls es zu erneuten Kriegshandlungen kommt bzw. diese
lautet wie folgt: Die Ständige Konferenz der Innenmi- ernsthaft zu befürchten sind?
nister und -senatoren der Länder hat sich 1993/1994
Bitte, Herr Staatssekretär.
mehrfach mit der Rückführung der kroatischen
Kriegsflüchtlinge und der Notwendigkeit einer Här-
tefallregelung befaßt. Der bislang endgültige Be- Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
schluß vom 9. Februar 1994 enthält keine Regelun- minister des Innern: Die Bundesregierung hält es
gen über den Verbleib bestimmter Kriegsflüchtlinge nicht für angezeigt, Vermutungen über die künftige
in Härtefällen. Sicherheitslage in Kroatien zu äußern. Ob eine et-
waige Änderung der Sicherheitslage in Kroatien es
Die Bundesregierung sieht keine Notwendigkeit, erfordert, die Rückführung kroatischer Kriegsflücht-
das Thema von sich aus erneut aufzugreifen. Der linge auszusetzen, werden gegebenenfalls die Län-
Bundesregierung liegen auch keine Erkenntnisse
der zu entscheiden haben, denen nach Art. 83 des
über die Zahl der Personen vor, die für eine etwaige Grundgesetzes die Ausführung der ausländerrechtli-
Härtefallregelung in Betracht kämen. chen Bestimmungen im Bundesgebiet als eigene An-
gelegenheit obliegt.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich rufe Frage 46
des Abgeordneten Dr. Max Stadler auf: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gibt es Zusatz-
Wird die Bundesregierung sich angesichts der langen Aufent- fragen? - Eine Zusatzfrage des Abgeordneten
haltsdauer vieler bosnischer Flüchtlinge auf der nächsten Innen- Schmidt.
ministerkonferenz dafür einsetzen, daß diesen bis zur Umset-
zung des für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge vorgesehenen
§ 32a Ausländergesetz eine Aufenthaltsbefugnis nach § 32 Albe rt Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
AuslG erteilt wird, und teilt die Bundesregierung die Ansicht, GRÜNEN): Meine Frage, verehrte Frau Präsidentin,
daß Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die im Be-
sitz einer Duldung sind, nach Einzelfallprüfung regelmäßig eine ist folgende: Kann es Sinn der Vereinbarung der Län-
Aufenthaltsbefugnis erteilt werden sollte, sofern sie sich seit derinnenminister vom 9. Februar 1994 gewesen sein,
mindestens zwei Jahren in der Bundesrepublik Deutschland daß nunmehr auch Kriegsflüchtlinge aus Bosnien mit
aufhalten? einem zweiten, zusätzlichen kroatischen Paß mit der
Bitte, Herr Staatssekretär. Ausreise in ihre Heimat bedroht werden, in die sie
nicht zurückkehren können, weil dort Kriegsgebiet
ist, oder aber nach Kroatien, wo sie nicht zu Hause
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- sind, wo sie allenfalls in einem Flüchtlingslager unter
minister des Innern: Herr Kollege Dr. Stadler, die erbärmlichen Verhältnissen Aufnahme finden könn-
Frage 46 beantworte ich wie folgt: Nach Auffassung- ten? Ist dies die ratio legis der Länderinnenminister-
der Bundesregierung sollte jedenfalls denjenigen vereinbarung vom 9. Februar 1994?
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1449

Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- In diesem Bedarfsplan ist die A 6 zwischen Am-
minister des Innern: Frau Präsidentin, ich darf darauf berg-Ost und Waidhaus in den vordringlichen Be-
hinweisen, daß sich diese Frage auf die Frage 45 be- darf eingestellt - ebenso wie viele Bundesautobahn-
zieht, die eigentlich längst abgehandelt ist. Ich bin projekte in den neuen Ländern.
aber gern bereit, trotzdem zu antworten.
Ich darf Sie, Kollege Schmidt, darauf verweisen, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Haben Sie eine
daß es sich um Staatsangehörige von Kroatien han- Zusatzfrage, oder möchten Sie die nächste Frage be-
delt und eine Differenzierung unter Staatsangehöri- antwortet haben?
gen nach der Problemlage, wie wir sie hier vorliegen
haben, nicht angezeigt erscheint.
Georg Pfannenstein (SPD): Ja, ich habe eine Zu-
satzfrage. Herr Staatssekretär, in welchem Zeitraum
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Keine weiteren ist die Finanzierung vorgesehen? Gibt es eine Mög-
Zusatzfragen? - Sie, Herr Abgeordneter Schmidt, ha- lichkeit, die Finanzierung bzw. die Realisierung des
ben leider keine zweite Zusatzfrage. Bauvorhabens vorzuziehen?
Damit schließe ich den Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums des Innern. Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun-
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers desminister für Verkehr: Herr Kollege, Sie gehen da-
und des Bundeskanzleramtes auf. Zur Beantwortung mit zu Ihrer nächsten Frage über. Darf ich das so zur
steht Herr Staatsminister Bernd Schmidbauer bereit. Kenntnis nehmen?

Wir kommen zu den Fragen 5 und 6 des Abgeord-


neten Freimut Duve. Er war soeben hier, hat aber um Georg Pfannenstein (SPD): Nein, das betrifft noch
schriftliche Beantwortung gebeten. die erste Frage.

Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.


Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es ist als Zusatz-
frage zu Frage 9 gedacht.
Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes-
kanzler: Frau Präsidentin, ich möchte nur sagen, daß
es ein Vorgang ist, den ich nicht für gut befinde, Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun-
wenn kurz vor der entsprechenden Behandlung der desminister für Verkehr: Wir haben die Finanzierung
Frage um schriftliche Beantwortung gebeten wird, des Bereichs östlich der Autobahn 93, also zwischen
zumal es um eine Äußerung von Herrn Duve in einer A 93 und der Grenze zur Republik Tschechien, für
öffentlichen Bundestagsdebatte geht. Aber ich die Teile Pfreimd bis östlich Wernberg-Köblitz in den
nehme es zur Kenntnis. jetzt laufenden Fünfjahresplan voll eingestellt. Glei-
ches gilt für den Teil westlich Waidhaus.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da-
mit den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir kommen zur
des Bundeskanzleramtes und danke Ihnen, Herr Frage 10 des Abgeordneten Pfannenstein:
Staatsminister, daß Sie gekommen sind.
Kann die Bundesregierung Auskunft darüber geben, wann
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- definitiv mit dem Planfeststellungsbeschluß für die Teilstücke
nisteriums für Verkehr. Zur Beantwortung steht der Amberg-Ost-Autobahnkreuz Pfreimd bzw. Autobahnkreuz
Pfreimd-Woppenhof (Umgehung Wernberg-Köblitz) gerechnet
Parlamentarische Staatssekretär Johannes Nitsch be- werden kann?
reit.
Ich rufe die Frage 9 des Abgeordneten Georg Pfan-
Johannes Nitsch, Par]. Staatssekretär beim Bun-
nenstein auf:
desminister für Verkehr: Zu dieser Frage gebe ich fol-
Kann die Bundesregierung erklären, warum der Ausbau der gende Antwort: Die Einleitung des Planfeststel-
BAB 6 zwischen Amberg-Ost, Pfreimd und Waidhaus nicht die lungsverfahrens für den Bereich Wernberg-Köblitz
gleiche Prioritätsstufe erhalten hat wie die Autobahnbauvorha-
ist noch für das Jahr 1995 vorgesehen. Es wird ange-
ben in den neuen Bundesländern, obwohl es sich zumindest bei
dem Teilstück zwischen Amberg-Ost und Autobahnkreuz strebt, vorziehbare Planfeststellungsbeschlüsse für
Pfreimd um einen wichtigen Lückenschluß in der Ost-West-Ver- die Abschnitte Amberg-Ost bis Pfreimd und Pfreimd
kehrsverbindung handelt und die Anwohner der Ortsdurchfahr- bis östlich Wernberg-Köblitz etwa bis Sommer 1997
ten Hirschau, Schnaittenhach und Wernberg-Köblitz derzeit un-
ter unzumutbarem Durchgangsverkehr mit großen Sicherheits-
zu erlangen. Die dann noch verbleibende Lücke zwi-
risiken zu leiden haben? schen Woppenhof und Lohma wird voraussichtlich
1998 planfestgestellt.
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es gibt keine


Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun- weiteren Zusatzfragen.
desminister für Verkehr: Die Festlegung der Dring-
lichkeitsstufe trifft der Deutsche Bundestag mit dem Bei der Frage 11 des Abgeordneten Horst Ku-
Fernstraßenausbaugesetz bzw. dem Bedarfsplan für batschka ist um schriftliche Antwort gebeten wor-
Bundesfernstraßen als Anlage zu diesem Gesetz. den. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
1450 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer


Wir kommen damit zur Frage 12 der Abgeordneten Wir kommen dann zur Frage 14 der Abgeordneten
Uta Zapf: Dr. Angelica Schwall-Düren:
Hält der Bundesminister für Verkehr im Rahmen der Zulässig- Wie ist der aktuelle Stand des Verfahrens beim Bau der Bun-
keit zur Anordnung eines Lkw-Nachtfahrverbotes aus Lärm- desstraße „B 70 n" im Bereich Neuenkirchen/Wettringen/Mete-
schutzgründen es nach wie vor für sachgerecht, eine Minderung len - speziell ire Hinblick auf einen konkreten Termin für den
des Mittelungspegels von mindestens 3 dB (A) gemäß Nummer 4.1 Baubeginn?
der Lärmschutz-Richtlinien StV vom 6. November 1981 zu for-
dern? Bitte, Herr Staatssekretär.
Bitte, Herr Staatssekretär.
Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister für Verkehr: Sehr geehrte Frau Präsiden-
Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun- tin! Ich möchte die Antwort in drei Teile aufgliedern,
desminister für Verkehr: Sehr geehrte Frau Präsiden- damit wir uns gut verstehen.
tin! Die Lärmschutz-Richtlinien Straßenverkehr for-
dern eine Minderung des Mittelungspegels um min- Für die Umgehung Neuenkirchen wurde der Plan-
destens 3 dB (A), weil bei den charakteristisch im feststellungsbeschluß am 8. Oktober 1993 erlassen.
Straßenfernverkehr auftretenden Frequenzen und Mit Datum vom 20. Dezember 1994 wurde das zu-
den praktisch vorkommenden Pegelbereichen im ständige Ministerium für Stadtentwicklung und Ver-
Straßenverkehr Pegelunterschiede unter 3 dB (A) kehr des Landes Nordrhein-Westfalen aufgefordert,
kaum wahrgenomen werden. Neue Erkenntnisse, den sofortigen Vollzug anzuordnen und die erforder-
die eine Verringerung der erforderlichen Lärmmin- lichen Mittel für den Bau der Ortsumgehung im Rah-
derung von 3 dB (A) rechtfertigen, liegen nicht vor. men der zugewiesenen Mittel für 1995 und die Folge-
jahre bereitzustellen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zusatzfrage? - Zweiter Teil, Umgehung Wettringen: Für die Um-
Bitte. gehung Wettringen hat der dritte Behördenbeteili-
gungstermin im Rahmen der Umweltverträglichkeits-
Uta Zapf (SPD): Herr Staatssekretär, ist die Bundes- studie stattgefunden. Auf Grund des noch nicht so
regierung nicht der Meinung, daß ein Minderungs- weit vorangeschrittenen Planungsstandes kann hier
wert von 3 dB (A) überholt ist, insbesondere auf in- ein konkreter Termin für den Baubeginn noch nicht
nerörtlichen Straßen und in bezug auf Lärmemis- angegeben werden.
sionen, die dort entstehen, weil dies ein ursprünglich Dritte Teilantwort, Umgehung Metelen: Das Plan-
auf Autobahnen angewandter Senkungswert ist? Ist feststellungsverfahren wurde im Juli 1990 eingelei-
die Bundesregierung nicht der Meinung, daß zumin- tet. Zur Berücksichtigung der Anregungen und Be-
dest für innerörtliche Straßen dieser Wert gesenkt denken der Bürger während der ersten Offenlegung
werden müßte? wurden Deckblätter gefertigt, die erneut offengelegt
wurden. Derzeit werden die Stellungnahmen zu den
Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun- Einwendungen erarbeitet, die voraussichtlich im
desminister für Verkehr: Ich kann hierbei auf meine April diesen Jahres an die Anhörungsbehörde wei-
Antwort zurückgreifen. Ich habe ausgeführt, daß in tergeleitet werden. Ein konkreter Termin für den
diesem Frequenz- und Pegelbereich, der im Straßen- Baubeginn kann auch bei diesen Maßnahmen im
verkehr üblich ist, eine geringere Pegelschwelle als Moment nicht angegeben werden.
3 dB (A) keine praktischen Ergebnisse zeigt.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Haben Sie eine
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zusatzfrage? -
Zusatzfrage? - Bitte.
Bitte.
Dr. Angelica Schwall Düren (SPD): Herr Staatsse-
-

Uta Zapf (SPD): Ist die Bundesregierung der Mei- kretär, sind Sie auf Grund der langjährigen Erfahrun-
nung, daß einzelne innerörtliche Lärmereignisse an- gen in der Lage, annähernd den Beginn des Baus an-
ders zu bewerten sind, oder beharrt die Bundesregie- zugeben?
rung darauf, daß hier eine einheitliche Beurteilungs-
praxis eingehalten wird und diese sich auch auf Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun-
Nachtfahrverbote für Lkws erstrecken sollte? desminister für Verkehr: Für welchen Teilabschnitt,
bitte?
Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister für Verkehr: Auch in diesem Fall ist die Dr. Angelica Schwall Düren (SPD): Ich teile das
-

Bundesregierung der Meinung, daß die Einzelschall- dann auch noch einmal auf den Bereich Wettringen,
ereignisse Bestandteil des Mittelungswertes sind und wo das Verfahren ja noch am weitesten zurück ist,
damit in die Ausführungen, die ich als Antwort gege- und den Bereich Metelen auf.
ben habe, einbezogen wurden.
Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir kommen da- desminister für Verkehr: Hier darf ich auf meine
mit zur Frage 13. Hier ist um schriftliche Antwort ge- dritte Teilantwort verweisen. Dort hatten wir im
beten worden. Die Antwort wird als Anlage abge- Jahre 1990 das Planfeststellungsverfahren und sind
druckt. heute noch nicht beim Baubeginn. Ich kann auf
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1451

Parl. Staatssekretär Johannes Nltsch


Grund der Erfahrungen beim besten Willen nicht Personennahverkehrs. Damit trifft meine Antwort
voraussagen, welche Einwendungen in der Offenle- Ihre Frage.
gung kommen und wie diese dann erledigt werden.
Peter Dreßen (SPD): Ich nehme zur Kenntnis, daß
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Keine weiteren Sie feststellen, daß es tatsächlich in den kommunalen
Zusatzfragen. Sektor übergeht.

Für die Fragen 15, 16, 17 und 18 ist um schriftliche Können Sie mir dann sagen, Herr Staatssekretär,
Beantwortung gebeten worden. Die Antworten wer- welche Kosten auf die einzelnen Kommunen durch
den als Anlagen abgedruckt. Übernahme der Schienenwege usw. zukommen und
ob wir - man hört, daß zum Teil Überforderungen
Ich rufe die Frage 19 des Abgeordneten Peter Dre- durch die Bahn AG stattfinden - im Parlament noch
ßen auf: Möglichkeiten haben, darauf Einfluß zu nehmen?
Welche Privatisierungs- und Regionalisierungstendenzen hat
die Bundesregierung im Hinblick auf die Elztalbahn, die Bahn Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun-
von Freiburg nach Breisach, die Bahn Biberach Z. a. H., die
Bahn Hausach nach Freudenstadt sowie die Bahn Titisee nach
desminister für Verkehr: Ich habe Ihnen die Mittel
Seebrück im einzelnen, und welche finanziellen Konditionen genannt, die der Bund dem Land Baden-Württem-
sind ggf. für die Betreiber vor Ort im einzelnen vorgesehen? berg für die Jahre 1996 und 1997 zur Verfügung
stellt, um diese Aufgabenverteilung im Land und in
Bitte, Herr Staatssekretär. den Kommunen erträglich zu gestalten.

Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
desminister für Verkehr: Sehr geehrter Herr Kollege, frage des Abgeordneten Wolf.
die Übertragung der Verantwortung für den Schie-
nenpersonennahverkehr der Deutschen Bahn AG
auf die Länder zum 1. Januar 1996 bedeutet, daß die Dr. Winfried Wolf (PDS): Herr Staatssekretär, Sie
derzeit noch unterschiedlichen Zuständigkeiten im haben als Antwort auf die Frage des Kollegen Dre-
gesamten öffentlichen Personennahverkehr durch ßen gesagt, daß bei der Bahn mit der Privatisierung
Landesrecht auf regionaler Ebene zusammengefaßt alles besser, schöner und grüner werden soll. Sie ha-
werden. Die Länder bereiten hierfür derzeit Landes- ben auf die Frage, ob die Strecken von Stillegungen
ÖPNV-Gesetze vor. Es wird erwartet, daß durch die bedroht sind, konkret nicht geantwortet.
Planung, Organisation und Finanzierung der öffent- Ist Ihnen bekannt, daß gerade in Baden-Württem-
lichen Personennahverkehrsbedienung aus einer berg auf Grund der Tatsache, daß die Deutsche Bahn
Hand vor Ort der SPNV insgesamt wirtschaftlicher, - ihre Preise für die Nutzung der Trassen verzehn
AG
leistungsfähiger, kundennäher und attraktiver ge- oder versiebenfachen will, zwei Linien direkt von
staltet werden kann als heute. Schließung bedroht sind? Das betrifft die Karlsruher
Der Bund hat dem Land Baden-Württemberg für Stadtwerke, die die Regionalbahn um Karlsruhe
das Jahr 1996 insgesamt 894,69 Millionen DM sowie herum betreibt, und es betrifft die Bodensee-Ober-
für das Jahr 1997 insgesamt 1 278,88 Millionen DM schwaben-Bahn von Friedrichshafen nach Ravens-
zur Verfügung gestellt. Das Land Baden-Württem- burg. Beide Gesellschaften sagen, bei diesen Tras-
berg entscheidet in eigener Verantwortung über die senpreisen müßten sie den Schienenverkehr einstel-
in seinem Bereich liegenden Eisenbahnstrecken, die len. Bisher hat der Bund 100 % Eigentum der Bahn
der Sicherstellung einer ausreichenden Verkehrsbe- AG, deshalb müssen Sie darauf anworten.
dienung im öffentlichen Personennahverkehr die-
nen. Einzelheiten der Ausgestaltung des SPNV sind Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
vom Land Baden-Württemberg und von den nach minister für Verkehr: Ich kann Ihnen in diesem Mo-
Landesrecht bestimmten Aufgabenträgern für die ment nicht sagen, welche Forderungen die Deutsche
Durchführung von Schienenpersonennahverkehr mit Bahn AG für die Benutzung der Wege erhoben hat. Ich
der DB AG zu vereinbaren. Die Bundesregierung habe Ihnen die allgemeine Situation dargestellt, die im
nimmt hierauf keinen Einfluß. Schienenpersonennahverkehr ab 1996 gilt.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Vielleicht wäre
frage? - Bitte. das eine neue Frage wert.
Wir kommen jetzt zur Frage 20 des Abgeordneten
Peter Dreßen (SPD): Das habe ich eigentlich nicht Dreßen:
gefragt, Herr Staatssekretär, sondern ich wollte wis- Welche konzeptionellen Vorstellungen wird die Bundesregie-
sen - und das können Sie sicherlich auch sagen -, ob rung anläßlich der geplanten Vorlage der endgültigen Fassung
es Überlegungen gibt, diese Strecken unter Umstän- des Verkehrsprotokolls der Alpenkonvention, das nach dem Wil-
den zu privatisieren. len der Unterzeichnerstaaten im ersten Halbjahr 1995 vorliegen
soll, in die Verhandlungen einbringen, um eine möglichst um-
weltfreundliche Verkehrsabwicklung durch den vorrangigen
Einsatz des kombinierten Verkehrs und den Umstieg von der
Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun- Straße auf die Schiene zu fördern, und welche Priorität wird da-
desminister für Verkehr: Die von Ihnen genannten bei dem Ausbau der viergleisigen Rheintalschiene zwischen Of-
Strecken gehören zu dem Bereich des öffentlichen fenburg und Basel zugewiesen?
1452 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun- Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister für Verkehr: Sehr geehrter Herr Kollege, desminister für Verkehr: Ich sichere Ihnen zu, daß
nach den Vorstellungen der Bundesregierung sollen Sie dazu eine schriftliche Antwort bekommen.
die Belastungen und Risiken im Bereich des inner
alpinen und alpenquerenden Verkehrs auf ein Maß
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
gesenkt werden, das für Menschen, Tiere und Pflan-
frage.
zen sowie deren Lebensräume erträglich ist. Seitens
der Bundesregierung wird dem Handlungsbedarf im
Schienen- und im öffentlichen Verkehr Priorität ein- Elke Ferner (SPD): Sehr geehrter Herr Staatssekre-
geräumt. tär, Sie haben in der Antwort auf die Frage des Kolle-
gen Dreßen gesagt, die Bundesregierung betreibe
Güterverkehr soll auf mittlere und lange Distanzen
eine Schienenvorrangpolitik. Wie können Sie uns
auf der Schiene abgewickelt werden. In Art. 2 Ziffer 2
dann erklären, daß erstens im Haushaltsansatz 1995
ist daher konkret folgende Formulierung im Ver-
ein deutliches Prä für die Straßeninvestitionen zu
kehrsprotokoll vorgesehen:
verzeichnen ist - ungefähr 2 Milliarden DM mehr für
Ebenso unerläßlich wie neue Bahninfrastruktu- Straßeninvestitionen -, und was hält die Bundesre-
ren ist die Entwicklung des Kombinierten Ver- gierung von der Tatsache, daß die Koalition im Haus-
kehrs für den inneralpinen und alpenquerenden haltsausschuß den Ansatz für die Schieneninfrastruk-
Güterverkehr. Die Vertragsparteien verpflichten tur um 649 Millionen DM gekürzt hat und davon wie-
sich darauf hinzuarbeiten, daß die Bahnen sich derum 250 Millionen DM dem Straßenbautitel zuge-
organisatorisch vermehrt auf den Kombinierten schlagen hat?
Verkehr ausrichten, Terminals erstellen und Vor-
und Nachläufe verbessert werden, um den Wech-
Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun-
sel von Straße, Schiene und Häfen möglichst na-
desminister für Verkehr: Sehr geehrte Kollegin, ich
he an Quelle und Ziel zu ermöglichen.
darf erwähnen, daß sich meine Antwort auf eine
Aus diesem Grund kommt dem Ausbau der Frage zur Alpenkonvention bezog. Meine Ausfüh-
Strecke Karlsruhe-Offenburg-Basel eine besondere rungen bezogen sich auf die Querung der Alpen.
Bedeutung zu. Die Strecke Karlsruhe-Müllheim ist
bereits im vordringlichen Bedarf eingeordnet. Der
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es liegen keine
südliche Teil Müllheim-Basel ist unter den „länder-
weiteren Fragen zum Geschäftsbereich des Bundes-
übergreifenden Projekten" enthalten, für deren Aus-
ministeriums für Verkehr vor. Ich danke dem Parla-
bau eine Vereinbarung mit dem betroffenen Nach-
mentarischen Staatssekretär Johannes Nitsch dafür,
barland erforderlich ist. Derzeit ist dieser Teil der
daß er gekommen ist.
Strecke Untersuchungsgegenstand einer bilateralen
Arbeitsgruppe. Ich komme zum Geschäftsbereich des Auswärti-
gen Amtes. Zur Beantwortung steht Herr Staatsmini-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz- ster Dr. Werner Hoyer bereit.
frage, Herr Dreßen. -
Wir kommen zur Frage 25 der Abgeordneten Elke
Ferner.
Peter Dreßen (SPD): Herr Staatssekretär, können
Wo sollen die durch die Bundesrepublik Deutschland geför-
Sie mir sagen, bis wann Sie mit dem Planfeststel- derten türkischen Fregatten eingesetzt werden, und wo könnten
lungsverfahren beginnen? dabei deutsche Interessen berührt sein?

Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun- Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
desminister für Verkehr: Das kann ich Ihnen schrift- Amt: Frau Präsidentin! Frau Kollegin Ferner! Die
lich geben. Im Moment habe ich dazu keine Unterla- Entscheidung über den Einsatz türkischer Fregatten
gen. obliegt im Grundsatz der türkischen Regierung. In ei-
ner vertraglichen Vereinbarung zwischen der Bun-
Peter Dreßen (SPD): Ich möchte Ihnen nur mittei- desrepublik Deutschland und der Türkei über die fi-
len, daß man vor Ort hört, daß man damit erst im nanzielle Unterstützung des Baus von zwei Fregat-
Jahre 2002 oder später beginnen will. Ich halte es für ten wird deren ausschließliche Verwendung in Über-
eine Katastrophe, wenn jetzt nicht mit dem Planfest- einstimmung mit Art. 5 des Nordatlantikpaktvertra-
stellungsverfahren begonnen wird. Ich hoffe, Sie ha- ges vereinbart werden.
ben Verständnis dafür, daß das jetzt gemacht werden Ich schlage vor, daß ich die Fragen, die sich auf das
muß; denn Sie wissen, das dauert seine Zeit. deutsche Interesse an dem Vorhaben beziehen, ge-
meinsam mit der folgenden Frage beantworte, wenn
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nun machen Sie Sie damit einverstanden sind.
noch eine Frage aus Ihrer Ermahnung!
(Heiterkeit) Elke Ferner (SPD): Ja.

Peter Dreßen (SPD): Ich nehme an, Sie sind meiner Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gut. Sie können
Meinung? dann Zusatzfragen stellen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1453
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wir kommen also zunächst zur Frage 26 des Abge- Uwe Hiksch (SPD): Ich habe eine Zusatzfrage zur
ordneten Hiksch: Frage 25 der Abgeordneten Ferner.
Trifft es zu, daß die Bundesregierung den Bau von zwei Können Sie bestätigen, daß selbst dann, wenn Ver-
MEKO(Mehrzweck-Kombination)-Fregatten für die Türkei auf träge geschlossen werden, nach denen diese beiden
deutschen Werften mit einer Summe von 150 Mio. DM subven-
tionieren will, und womit wird dieses Vorhaben begründet? MEKO-Fregatten für gewisse Dinge nicht eingesetzt
werden dürfen, dadurch natürlich andere Waffen frei
werden, die dann genau für das eingesetzt werden
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen könnten, wofür die zwei Fregatten eben nicht einge-
Amt: Herr Kollege Hiksch, Bundeskanzler Dr. Kohl setzt werden dürfen? Dadurch werden faktisch trotz-
hat der türkischen Premierministerin Ciller am dem Waffen in ein Spannungsgebiet im Mittelmeer
20. September 1993 eine finanzielle Unterstützung geliefert.
für den Bau von zwei MEKO-Fregatten in Höhe von
150 Millionen DM zugesagt. Die Finanzierungshilfe (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das sind dann die
soll in drei Raten ab dem Jahr 1996 erfolgen. Die För- Fregatten für den Landeinsatz!)
derung des Baus der Fregatten erfolgt vor dem Hin-
tergrund des deutschen Interesses an einer sicher- Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
heitspolitischen Stützung der Türkei in einer von In- Amt: Das ist eine Überlegung, die man theoretisch
stabilitäten gezeichneten Region. sicherlich nachvollziehen kann; gleichwohl ist sie
Mit der Finanzierungshilfe wird das umfangreiche durchaus etwas um die Ecke gedacht. Es ist unbe-
Programm des Fregattenbaus eines deutschen Fir-. streitbar, daß Mittel, die auf diese Weise freigesetzt
menkonsortiums mit der türkischen Regierung unter- werden könnten, für andere Zwecke verwendet wer-
stützt. Das Vorhaben ist auch für die deutsche Werft- den könnten. Das ist völlig richtig.
industrie von großer Bedeutung, die durch diese Auf-
Aber das ist natürlich auch Teil einer Überlegung,
träge ihre Auslastung deutlich verbessern kann. die hinter einer solchen Zusammenarbeit steht. Dies
Das Vorhaben der Förderung der MEKO-Fregatten geschieht ja im Hinblick auf einen wichtigen Partner
wird von der türkischen Regierung als Ausdruck und der NATO, einen Mitgliedsstaat der NATO, mit dem
auch als Prüfstein der deutschen Bereitschaft zu ei- wir enge Beziehungen auch als Europäische Union
ner partnerschaftlichen Kooperation über den sicher- haben wollen.
heitspolitischen Bereich hinaus angesehen.
Wir sind an einer Entwicklung der Türkei in Rich-
(Uta Zapf [SPD]: Das ist nicht zu fassen!) tung Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlich -
keit, an einer Entwicklung der Türkei in Richtung hin
auf die Europäische Union interessiert. Wir hoffen,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zunächst eine
daß wir damit auch einen Beitrag leisten, um deutlich
Zusatzfrage der Abgeordneten Ferner. Bitte.
zu machen, wie wir an der Türkei und der Zusam-
menarbeit mit ihr interessiert sind.
Elke Ferner (SPD): Sie haben im Prinzip gesagt, es
sei Sache des Empfängerlandes, in dem Fall der Tür-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Hiksch hat
kei, wo die Fregatten eingesetzt werden. Ist Ihnen
noch eine Zusatzfrage. Diese Zusatzfrage bezieht
denn bekannt, Herr Staatsminister, daß gerade bei
sich aber nicht mehr auf Frage 25 der Kollegin Fer-
den Spannungen zwischen den NATO-Partnern
ner, sondern auf seine eigene Frage 26. Bitte, Herr
Griechenland und Türkei natürlich auch die Anzahl
der Fregatten, die das jeweilige Land hat, eine sehr Hiksch.
große Rolle spielt? Wie sehen Sie in dem Zusammen-
hang die Befürchtungen von Griechenland hinsicht- Uwe Hiksch (SPD): Können Sie mir, sehr geehrter
lich dieser Aktion? Herr Staatsminister, wenn Sie davon sprechen, daß
es Instabilitäten in der Region gibt, bestätigen, daß
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen diese Instabilitäten vor allem von der aggressiven
Amt: Das ist selbstverständlich ein Gesichtspunkt, Politik der Türkei ausgehen, d. h. die Türkei maßgeb-
der immer zu berücksichtigen ist. Es gibt noch wei- lich daran schuld ist, daß Instabilitäten in dieser Re-
tere Fragen, die genau hierauf abzielen und die ich gion entstanden sind?
auch entsprechend beantworten werde.
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Es ist klar, daß eine Gleichgewichtsüberlegung,
Amt: Nein.
was militärische Potentiale angeht, im Hinblick auf
zwei Partner, die beide dem Nordatlantikvertrag an-
gehören, etwas merkwürdig wäre. Dennoch ist es für Uwe Hiksch (SPD): Eine weitere Zusatzfrage zu
uns wichtig, in dem Vertrag, in dem die Mitfinanzie- meiner Frage: Können Sie mir begründen, warum die
rung durch die Bundesrepublik Deutschland gere- Lieferung von Kriegswaffen dazu beitragen soll, In-
gelt wird, sicherzustellen, daß der Einsatz dieser Fre- stabilitäten in einer Region zu befrieden und abzu-
gatten nur im Rahmen der Vorschriften des Nord- stellen?
atlantikvertrages in Frage kommt.
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Der Kollege Amt: Die Türkei ist ein wichtiger Partner, der ein
Hiksch hat eine Zusatzfrage. Recht auf Schutz seiner eigenen Landesgrenzen und
1454 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Staatsminister Dr. Werner Hoyer


seiner territorialen Interessen hat. In den Zusammen- man zu bestimmten Kooperationen bereit ist, und
hang einer Region, die in der Tat von erheblichen In- zwar auch zu solchen Kooperationen, die dazu bei-
stabilitäten gekennzeichnet ist - damit meine ich tragen, daß das Sicherheitsbedürfnis dieses Landes
jetzt nicht das Verhältnis Griechenlands zur Türkei -, befriedigt wird.
gehört diese Frage. Eine Waffenkooperation kann
sicherlich eine Verbesserung der Sicherheitslage der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
Türkei nach sich ziehen. frage des Abgeordneten Voigt.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz- Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Herr Staatsmi-
frage der Abgeordneten Zapf. nister, Sie haben vorhin die sicherheitspolitischen Be-
dürfnisse angesprochen. Ist Ihnen vielleicht in Erin-
Uta Zapf (SPD): Herr Staatsminister, ist die Finan- nerung, daß verschiedentlich Vertreter des Auswärti-
zierung der Fregatten mit dem Beschluß und der Zu- gen Amtes, darunter auch mehrere Staatsminister, im
sage der Bundesregierung vereinbar, keine Militär- Auswärtigen Ausschuß erwähnt haben, daß nach
hilfe und keine Rüstungshilfe mehr an die Türkei zu 1989 in dieser Region eine sicherheitspolitische Ver-
gewähren, und haben Sie noch in Erinnerung, in änderung in der Weise eingetreten ist, daß Rüstungs-
welchem Zusammenhang damals die Diskussion ge- lieferungen verschiedener Art an die Türkei und
führt und diese Zusage der Bundesregierung gege- auch an Griechenland nicht mehr zu rechtfertigen
ben worden ist, und haben Sie vielleicht auch noch sind, und daß deshalb, wenn diese Analyse zutrifft,
in Erinnerung, daß damals die Zusage des ordnungs- von Ihrer hehren sicherheitspolitischen Begründung
gemäßen Einsatzes von Waffen nicht in dem Sinne wenig, nämlich nur noch die nackten bloßen Wirt-
eingehalten worden ist, wie Sie uns das jetzt versi- schaftsinteressen der Rüstungsindustrie übrigblei-
chert haben? ben?

Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Das ist ein ganz besonders wichtiger Punkt, mit Amt: Die Bewertung der maritimen Situation in der
dem wir uns - auch in diesem Hause - strittig ausein- Türkei und der Umgebung der Türkei erfährt sicher-
andergesetzt haben. Allerdings ist bei der Verwen- lich hin und wieder eine Aktualisierung. Wenn die
dung von Fregatten die Möglichkeit nicht so ohne Türkei zu dem Ergebnis käme, im Rahmen ihrer
weiteres gegeben, daß wir hier in einen internen NATO-Verpflichtung über eine Ergänzung ihrer
Streit geraten. Flotte nachzudenken, ist dies ein Punkt, über den wir
sicherlich gemeinsam und partnerschaftlich mit der
(Uta Zapf [SPD]: Sie haben meine Frage Türkei diskutieren würden.
nicht ganz beantwortet!)
- Der Zusammenhang mit der Rüstungshilfe, die be- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
endet worden ist, ist nicht gegeben. Es gehört nicht frage des Abgeordneten Kuhlwein.
in dieses Programm hinein. Wir geben diese Waffen
nicht ab, wie wir seinerzeit die Rüstungshilfe bedient Ecka rt Kuhlwein (SPD): Herr Staatsminister, trifft
haben, sondern hier handelt es sich um einen Auf- es zu, daß das Auswärtige Amt nicht besonders
trag der türkischen Regierung an ein deutsches glücklich darüber war, daß diese Rüstungshilfe an
Werftenkonsortium, das mit einer Finanzierungshilfe die Türkei über die Bezuschussung von Fregatten im
der Bundesrepublik unterstützt wird. Haushalt des Auswärtigen Amtes etatisiert war und
daß nach Wegen gesucht wurde und noch wird,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz- diese Rüstungshilfe in einem anderen Etat unterzu-
frage des Abgeordneten Lippelt. bringen, und warum ist dies so?

Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Herr Staatsminister, können Sie meinem Verständnis Amt: Herr Kollege Kuhlwein, Sie erfreuen natürlich
aufhelfen? Sie haben soeben gesagt, daß es ja unser das Herz des zuständigen Staatsministers, wenn Sie
politisches Ziel sei, die Demokratisierung der Türkei als der zuständige Berichterstatter darauf hinweisen,
zu fördern. Jetzt frage ich einmal ganz unabhängig daß die Etatisierung dieses Postens - ob im Einzel-
von der Frage, in welchem Programm nun die Kredit- plan des Auswärtigen Amtes, des Wirtschaftsmini-
hilfe hier steht: Wie soll ich verstehen, daß durch die sters oder im Einzelplan 60 - bisher noch nicht fest-
Lieferung von Rüstungsgütern in ein Land, das sich steht, so daß Sie darüber im Rahmen der Haushalts-
in einem Bürgerkrieg befindet, die Demokratie ge- beratungen noch zu entscheiden haben.
fördert wird?
Eckart Kuhlwein (SPD): Warum wollen Sie es wo-
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen anders etatisieren?
Amt: Die Demokratie wird nicht durch die Lieferung
von Rüstungsgütern gefördert, sondern dadurch, daß Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
wir diesem Land klarmachen, daß wir daran interes- Amt: Dies ist nicht nur eine außenpolitische, sondern
siert sind, dieses Land in der Gemeinschaft freier de- eine gesamtpolitische Angelegenheit. Solche Pro-
mokratischer Völker zu haben. Dies setzt voraus, daß jekte gehören dann, wenn sie finanzielle Fragen be-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1455

Staatsminister Dr. Werner Hoyer


treffen, nicht notwendigerweise in den Etat des Aus- schenrechten usw. dadurch näher kommen, daß wir
wärtigen Amtes. Dies ist eine Frage der haushaltspo- die Türkei möglichst weit in unsere westliche Ge-
litischen Gestaltung. Hier ist der Phantasie des Haus- meinschaft einbinden, können wir zu einer solchen
haltsausschusses keine Grenze gesetzt. Lieferung auch nicht von vornherein nein sagen.
Wenn man umgekehrt der Auffassung ist - wie Sie
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz- es wahrscheinlich sind -, daß eine solche Koopera-
frage der Abgeordneten Skarpelis-Sperk. tion auf militärischem Gebiet im Hinblick auf die Er-
reichung des Zieles eher schädlich ist, kommt man
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Herr Staatsmini- zu einem anderen Ergebnis. Aber ich glaube, diese
ster, Sie haben von einer Hilfe für ein deutsches Grundsatzentscheidung muß jeder von uns für sich
Werftenkonsortium gesprochen. Darf ich Sie darauf treffen.
aufmerksam machen, daß dies nach Art. 22, 23 des Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß wir
EU-Vertrages als Werftenhilfe notifizierungspflichtig sehr viel tun sollten, daß uns sehr daran gelegen sein
in Brüssel wäre? Darf ich Sie auch auf das aufmerk- sollte, die Türkei dazu zu bringen, zum einen sich
sam machen, was mir gestern Herr Staatssekretär dieser Gemeinschaft freier Völker zugehörig zu füh-
Kolb auf meine Frage geantwortet hat, nämlich daß len und zum anderen auch die Standards zu erfüllen,
dies seines Wissens nach das Bundeswirtschaftsmini- die zur Rechtsstaatlichkeit, zu den Menschenrechten
sterium nicht plane, sondern daß es sich hier um eine und zur Demokratie gehören.
Hilfe nach Art. 223 ff., nämlich um eine reine Militär-
hilfe handele? Ich rege an, daß diese Frage innerhalb
der Bundesregierung geklärt wird, und frage Sie, wie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
Sie persönlich dazu stehen. frage des Abgeordneten Gernot Erler.

Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Gernot Erler (SPD): Herr Staatsminister, ausge-
Amt: Die Anregung ist angekommen. hend von einer Gemeinsamkeit in der Einschätzung,
daß es die Aufgabe des Auswärtigen Amtes ist, nicht
(Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/CSU nur die Interessen eines so wichtigen Partners wie
- Uta Zapf [SPD]: Ist das alles, was Sie dazu der Türkei, sondern auch das internationale Anse-
zu sagen haben?) hen der Bundesrepublik Deutschland im Auge zu
- Sehr verehrte Frau Kollegin Zapf, das ist in der Tat haben, stelle ich Ihnen folgende Frage:
alles, was ich dazu sagen kann, weil ich die Antwort Wir haben gemeinsam die Erfahrungen gemacht,
des Kollegen Kolb gerade durch die Kollegin Skarpe- daß die Waffenlieferungen an die Türkei dazu ge-
lis-Sperk zum ersten Mal gehört habe. Ich werde die führt haben, daß teilweise in Eilreisen Vertreter von
Abstimmung innerhalb der Bundesregierung sicher- deutschen Ministerien nach Ankara fahren mußten,
lich noch vornehmen. um sich schriftlich und mündlich Zusagen über die
(Uta Zapf [SPD]: Darüber wird noch zu dis Weiterverwendung und den korrekten vertragsge-
kutieren sein!) mäßen Einsatz dieser Waffen einzuholen. Diese Er-
- fahrungen haben dazu geführt, daß Bürgerrechtsor-
ganisationen mit weltweiter Aufmerksamkeit Bild-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das waren drei material und Beweise für Verstöße gegen diese Zusa-
Fragen, verpackt in eine, und eine sehr kurze Ant- gen beigebracht haben, die dann das Auswärtige
wort. Sie können leider keine zweite Frage stellen, Amt als nicht beweiskräftig bezeichnen mußte. Wie
Frau Kollegin Skarpelis-Sperk. Vielleicht finden Sie verträgt sich das alles mit dem Ziel, dabei auch das
jemand anderen, der die Frage für Sie stellt. Ansehen der Bundesrepublik Deutschland und nicht
Eine Zusatzfrage der Kollegin Amke Dietert nur die Interessen des Bündnispartners im Auge zu
Scheuer. haben?

Amke Dietert-Scheuer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
NEN): Bezüglich der Förderung von Demokratie und Amt: Wir können an dieser Stelle nicht die gesamte
Menschenrechten frage ich Sie, ob Sie in Ihre Über- Debatte über die Beweiskraft des damals vorgeleg-
legungen auch die Frage einbezogen haben, ob es ten Materials aufgreifen. Das müßte man in anderer
nicht zur Förderung von Demokratie und Menschen- Form tun.
rechten sinnvoller sein könnte, keine Waffen an die (Zuruf von der SPD: Das haben Sie schon
Türkei zu liefern, um so einen stärkeren Druck für damals nicht gemacht!)
eine Verbesserung der Situation ausüben zu können.
Entscheidend ist, daß im Hinblick auf die Waffen-
systeme, um die es hier geht, nach Auffassung der
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Bundesregierung klare Vereinbarungen getroffen
Amt: Hier stellt sich die grundsätzliche Frage, wie
werden können, die es ausschließen, daß hier Miß-
man zur Waffenhilfe, zur militärischen Zusammenar-
brauch betrieben wird.
beit und zur Zusammenarbeit mit der Türkei als
Bündnispartner steht. Wenn wir insgesamt der Auf-
fassung sind, daß wir dem von uns allen angestreb- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich habe jetzt
ten Ziel der Demokratisierung, Wahrung von Men- folgendes Problem: Formal sind alle Zusatzfragen zur
1456 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer


Frage 26 des Abgeordneten Hiksch gestellt worden. zu sorgen, daß der politische Dialog durch möglichst
Aber ich glaube, wir sind schon in den Bereich der intensive Einbeziehung dieser beiden Partner voran-
Frage 27 gekommen. Ist das richtig? - Das meint der gebracht wird. Wir tun das auf den verschiedensten
Abgeordnete nicht. Ebenen, nicht zuletzt im Hinblick auf die Assoziati-
onsfrage bzw. die Umsetzung der Zollunion.
Dann rufe ich die Frage 27 des Abgeordneten Uwe
Hiksch auf: Die Verhandlungen mit unseren Partnern in Athen,
in Nikosia und auch in Ankara in der Frage der Voll-
Sind der Bundesregierung Befürchtungen bekannt, daß ange-
sichts der Tatsache, daß die türkische Marine bisher schon endung der Zollunion sind ein typisches Beispiel da-
16 Fregatten besitzt, die griechische Marine aber nur neun Fre- für, wie die Bundesrepublik mit absolut unmilitäri-
gatten und zwei weitere bis 1996 im Bau hat, es durch die Liefe- schen Mitteln einen Beitrag dazu leisten will, daß sol-
rung von zwei Fregatten an die türkische Marine zu einer weite- che Rhetorik möglichst aufhört.
ren Verschärfung des militärischen Ungleichgewichts im östli-
chen Mittelmeer zu Lasten des NATO-Partners Griechenland
kommen könnte? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
frage der Abgeordneten Buntenbach.
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Nach den offiziellen Angaben zur Streitkräfte- Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
planung besitzt Griechenland derzeit sechs Zerstörer NEN): Herr Staatsminister, ich habe vorhin mit gro-
und acht Fregatten. Die Türkei verfügt derzeit über ßem Interesse zur Kenntnis genommen, daß Sie of-
16 Fregatten und fünf Zerstörer. fensichtlich davon ausgehen, daß ein Ungleichge-
Im Verhältnis zwischen zwei Partnerstaaten der At- wicht nicht mehr existieren kann, seit der kalte Krieg
lantischen Allianz sollte nach Auffassung der Bun- vorbei ist. Habe ich Sie da richtig verstanden?
desregierung nicht von einem „Ungleichgewicht im
östlichen Mittelmeer" gesprochen werden. Dieser Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Begriff aus Zeiten der Konfrontation zweier Bündnis- Amt: Nein, Sie haben mich absolut falsch verstan-
systeme ist zur Kennzeichnung des Verhältnisses den. Ich habe nur gesagt, daß Gleichgewichtsüberle-
zweier Staaten, die an der gemeinsamen Verteidi- gungen im Hinblick auf das Verhältnis zweier
gungsplanung der Allianz mitwirken, nicht ange- NATO-Partner von uns nicht für sehr sinnvoll gehal-
messen. Entsprechende Befürchtungen über eine ten werden.
Verschärfung des Ungleichgewichts sind dement-
sprechend nicht bekannt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
frage der Abgeordneten Skarpelis Sperk.
-

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-


frage, bitte. Dr. Sigrid Skarpelis Sperk (SPD): Herr Staatsmini-
-

ster, sind Sie in der Lage, den Unterschied in der


Uwe Hiksch (SPD): Sehr geehrter Herr Staatsmi- Rhetorik zweier Regierungen darin zu erkennen, daß
nister, können Sie mir bestätigen, daß von seiten der die eine Seite offene Kriegsdrohungen, und zwar
türkischen Regierung zwischenzeitlich mehrere mindestens vier, nämlich durch die Ministerpräsiden-
Male offene Kriegsdrohungen an den NATO-Partner tin, den Außenminister und den Kriegsminister, aus-
Griechenland geschickt wurden, u. a. durch die Mi- gestoßen hat und daß dem von der anderen Seite
nisterpräsidentin und den Außenminister, und daß keine Kriegsdrohungen gefolgt sind, und wären Sie
deshalb nicht davon gesprochen werden kann, daß bereit, zumindest eine leise Beunruhigung gegen-
es da keine Konfliktsituationen mehr gehe? über den Kriegsdrohungen zu äußern, oder betrach-
ten Sie das alles als gleichrangig?

Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen


Amt: Ich kann Ihnen bestätigen, daß die Bundesre- Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Die Bundesregierung und auch ich persönlich
gierung hinsichtlich der bisweilen von beiden
NATO-Partnern gewählten Rhetorik besorgt ist. sind da durchaus zur Differenzierung fähig. Die
Frage, die sich daraus ergibt, ist, in welcher Form
man darauf einwirkt, daß zwischen NATO-Partnern
Uwe Hiksch (SPD): Zweite Zusatzfrage: Können und Nationen, die beide ein möglichst enges Verhält-
Sie mir zusätzlich erklären, warum Sie vorhin als er- nis zur Europäischen Union haben wollen, in dem ei-
stes ausgeführt haben, daß militärische Aufrüstung nen Fall als bereits dazugehöriges Mitglied, in dem
dazu beitragen wird, unseren NATO-Partner Grie- anderen Fall als Staat, der Mitglied werden will,
chenland zu beruhigen? Vielmehr wird das Gegen- keine derartigen Drohungen ausgestoßen werden.
teil bewirkt, d. h. die griechische Regierung wird be- Das beste Instrument, um darauf Einfluß zu nehmen,
unruhigt, so daß die Bundesregierung - ich will mich ist ein beharrlicher, kontinuierlicher Dialog mit bei-
zurückhaltend ausdrücken - eben nicht friedenser- den Seiten und auch der Versuch, durch Einbindung
haltende Maßnahmen im Mittelmeer fördert. in die politische Zusammenarbeit, z. B. der Europäi-
schen Union, z. B. der NATO, dafür zu sorgen, daß
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen hier nicht ein neuer Konflikt geschürt wird.
Amt: Ich glaube, die geäußerte Besorgnis über die
Rhetorik, die dort gegenwärtig hin und wieder zu be- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
obachten ist, unterstreicht die Notwendigkeit, dafür frage des Abgeordneten Lippelt.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1457

Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Amke Dietert Scheuer: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
-

Herr Staatsminister, habe ich Sie vorhin richtig ver- NEN): Ich habe mit Interesse Ihre Besorgnisse über
standen, daß es sich bei dem Marineaufmarsch in der die Spannungssituation in der Ägäis zwischen Grie-
Ägäis um einen Freundschaftsbesuch handelte, bei chenland und der Türkei zu Kenntnis genommen.
dem von griechischer Seite ein Faß Retsina und von Nur drängt sich mir die Frage auf, ob es nicht viel-
türkischer Seite ein Faß Samos überreicht wurde? leicht ein sinnvollerer Weg wäre, beiden Seiten keine
Waffen zu liefern, um Spannungen nicht weiter zu
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen verschärfen, sondern zu beseitigen.
Amt: Ich habe akustisch nicht verstanden, was Sie
gesagt haben. Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Diese Frage habe ich bereits vorhin beantwor-
Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tet.
Ich habe gefragt, ob ich Sie vorhin richtig verstanden
habe, daß es sich bei dem jüngsten Schiffsaufmarsch
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
in der Ägäis, den wir ja von den Fernsehbildern her
frage des Abgeordneten Erler.
noch sehr deutlich in Erinnerung haben, in Wirklich-
keit um einen vorher vereinbarten Freundschaftsbe-
such im Rahmen der NATO-Allianz handelte, bei Gernot Erler (SPD): Herr Staatsminister, Sie haben
dem die eine Seite ein Fäßchen Samos und die an- vorhin dargelegt, daß Sie über eine Störung des
dere Seite ein Fäßchen Retsina überreichte. Gleichgewichts durch die Lieferung der MEKO-Fre-
gatten an die Türkei nicht besorgt sind. Welche Re-
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen aktion hat die griechische Regierung inzwischen ge-
Amt: Herr Kollege, wir beobachten diese Vorgänge, genüber der deutschen gezeigt? Teilt sie die Unbe-
die recht wenig mit freundschaftlichen Besuchen zu sorgtheit, die Sie hier zum Ausdruck gebracht ha-
tun haben, mit allergrößter Sorge. Die Frage ist ledig- ben?
lich - darauf läuft die ganze Debatte hinaus -: Kom-
men wir im Hinblick auf die Sicherung einer friedli- Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
chen Entwicklung in dieser Region weiter, indem wir Amt: Nein. Griechenland nimmt natürlich eine Maß-
es riskieren, daß wir einen Partner verprellen und ab-
nahme, die zugunsten der Türkei läuft, und zwar völ-
stoßen, oder kommen wir dadurch weiter, daß wir lig unabhängig davon, auf welchem Gebiet, ob auf
uns darum bemühen, ihn möglichst einzubinden? dem Gebiet der militärischen Hilfe oder sonstigen
Diese Frage bleibt so bestehen. Man kann sie unter- Wirtschaftshilfe, stets zum Anlaß, die Aufmerksam-
schiedlich beantworten. Die Bundesregierung hat keit darauf zu richten, ob hier möglicherweise eine
hierzu eine klare Antwort gegeben.
ungleiche Behandlung beider NATO-Partner gege-
ben ist.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz-
frage des Abgeordneten Kuhlwein. - Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich rufe die
Frage 28 der Abgeordneten Renate Rennebach auf:
Ecka rt Kuhlwein (SPD): Herr Staatsminister, da Sie
davor warnen, einen der beiden betroffenen Partner HatdieBunsrg chvetaliZusrngde
türkischen Seite sichergestellt, daß die MEKO(Mehrzweck-
abzustoßen oder zu verprellen, frage ich Sie: Können Kombination)-Fregatten nicht zur Sicherung der Versorgung der
Sie sich vorstellen, daß sich Griechenland durch die türkischen Besatzungstruppen auf Zypern eingesetzt werden,
von der Bundesrepublik subventionierte Lieferung um zu verhindern, daß UNO-Resolutionen unterlaufen werden?
von Fregatten an die Türkei verprellt fühlen könnte,
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
und würden Sie daraus schlußfolgern, daß dann in
einer späteren Phase auch Griechenland zwei durch
die Bundesrepublik subventionierte Fregatten gelie- Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
fert bekommen müßte? Amt: Frau Kollegin, im Entwurf zum Bundeshaus-
(Zuruf von der F.D.P.: Haben die doch haltsplan 1995 - ich betone, im Entwurf, denn der
schon!) Haushaltsplan ist noch nicht verabschiedet - ist im
Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes eine Ver-
pflichtungsermächtigung für die Jahre 1996, 1997
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen und 1998 über insgesamt 150 Millionen DM als Fi-
Amt: Als leidgeprüfter Vertreter der Bundesrepublik nanzierungshilfe zum Bau von MEKO-Fregatten
Deutschland im Allgemeinen Rat der Europäischen eingestellt.
Union könnte ich Ihnen jetzt einen Vortrag über das
Problem der Ausbalancierung der jeweiligen Hilfen (Vorsitz: Vizepräsident Hans-Ulrich Klose)
an Griechenland und die Türkei halten. Keine der
beiden Seiten kann in irgendeiner Weise das Gefühl Eine vertragliche Vereinbarung zwischen der Bun-
desrepublik und der Türkei wurde hierüber bislang
haben, zu kurz zu kommen.
nicht abgeschlossen. Wie ich bereits in der Antwort
auf die allererste Frage gesagt habe, ist die Regie-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zusatz rung entschlossen, mit der Türkei eine entspre-
frage der Abgeordneten Amke Dietert Scheuer.
- chende Vereinbarung zu schließen.
1458 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Eine Zusatz- Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Jetzt eine Zu-
-

frage, bitte. satzfrage des Abgeordneten Erler.

Renate Rennebach (SPD): Herr Staatsminister, Sie Gernot Erler (SPD): Herr Staatsminister, in bezug
haben vorhin von der Freundschaft zur Türkei und auf den von Ihnen noch zu schließenden Vertrag
darüber gesprochen, daß diese Schiffe die Freund- möchte ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, für die Bun-
schaft zur Türkei bekräftigen sollen. Wäre es nicht im desregierung die Zusage an das Hohe Haus zu ge-
Sinne der Freundschaft zwischen der Türkei und ben, daß, bevor eine endgültige Entscheidung fällt,
Deutschland sinnvoller, die Freundschaft dahin ge- dieser Vertrag dem zuständigen Fachausschuß zur
hend zu lenken, daß die Türkei UNO-Resolutionen Beratung vorgelegt wird.
im Zusammenhang mit Zypern nicht unterläuft? Ha-
ben Sie die Absicht, dies noch vertraglich zu verein-
baren? Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Sie wissen, daß sich die Bundesregierung -
speziell auch das Haus, in dem ich tätig bin - um ein
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Optimum an Information des Parlaments und seiner
Amt: Wir sind der Auffassung, daß der Zypern-Pro- Ausschüsse bemüht. In welchem Zeittakt das Parla-
zeß dringend vorangebracht werden muß und daß ment und seine Ausschüsse zu informieren sind oder
alle Hindernisse, die auf dem Weg zu einer friedli- einbezogen werden sollen, müßte man einmal in al-
chen Lösung liegen, gemeinschaftlich aus dem Weg ler Ruhe besprechen.
geräumt werden müssen. Das ist völlig unstrittig, ins-
besondere weil - das hat der Allgemeine Rat der Eu- Ich möchte diese Frage jetzt nicht „nagelfest" be-
ropäischen Union in der vorletzten Woche noch ein- antworten. Natürlich muß die Zustimmung des Parla-
mal festgehalten - wir von einem Gesamtzypern aus- ments eingeholt werden, aber wann und in welchem
gehen, wenn wir die Perspektive der Mitgliedschaft Stadium der Verhandlungen, möchte ich jetzt hier
Zyperns in der Europäischen Union diskutieren. Von nicht festlegen.
daher ist es selbstverständlich, daß wir in der vertrag-
lichen Vereinbarung mit der Türkei darauf achten
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Abgeordne-
werden, daß, wie ich bereits in der Antwort auf die
-

ter Kuhlwein.
Kollegin Ferner gesagt habe, nur ein Einsatz dieser
Fregatten im Sinne des NATO-Vertrages zulässig
sein darf.
Eckart Kuhlwein (SPD): Herr Staatsminister, ist Ih-
nen bekannt, daß es in der Republik Zypern erhebli-
che Sorgen gibt, die Türkei könnte wie 1974 in völ-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Jetzt eine Zu-
-
kerrechtswidriger Weise weitere Teile der Insel be-
satzfrage des Abgeordneten Uwe Hiksch.
setzen, und wie beurteilen Sie in diesem Zusammen-
hang das Sicherheitsbedürfnis der Republik Zypern?
Uwe Hiksch (SPD): Sehr geehrter Herr Staatsmini-
ster, können Sie bestätigen, daß die Türkei trotz in- Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
ternationaler Zusagen mehrmals diese Vereinbarun- Amt: Herr Kollege, Sie haben an der Beantwortung
gen nicht eingehalten und beispielsweise NVA-Pan-
der vorangegangenen Fragen bemerkt, daß ich dem
zer in terroristischer Weise gegen die kurdische Min- Zypern-Problem besondere Aufmerksamkeit widme.
derheit im eigenen Land eingesetzt hat? Von daher muß ich vorsichtig antworten, daß ich die
bei Ihnen anklingende Besorgnis nicht teile, daß ich
da aber sehr sensibel bin. Wenn Sie konkrete An-
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen haltspunkte haben, die das substantiieren, bin ich
Amt: Wir haben uns bereits vorhin darüber unterhal- sehr daran interessiert, sie zu hören; denn die Frage
ten, daß die Frage der Wertung der diesbezüglichen des Fortschritts beim Zypern-Problem ist im Hinblick
Belege Gegenstand langwieriger Debatten im Deut- auf die Aufnahme von Verhandlungen über den Bei-
schen Bundestag gewesen ist und hierüber im Deut- tritt Zyperns zur Europäischen Union von außeror-
schen Bundestag nach wie vor kein Einvernehmen dentlicher Bedeutung.
besteht und die Bewertung der Einsätze, insbeson-
dere auch der aus dem Potential der NVA gelieferten Wie eng diese Frage wiederum mit vielen anderen
Waffen, unterschiedlich ist. Fragen der Vertiefung und Erweiterung der Europä-
ischen Union zusammenhängt, ist allen bekannt. Da-
her bitte ich Sie um Verständnis dafür, daß ich hier
Uwe Hiksch (SPD): Herr Staatsminister, ich habe sehr vorsichtig antworte.
gefragt, ob Sie das bestätigen können.

Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Keine weiteren


-

Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Zusatzfragen.


Amt: Ich habe mir erlaubt, diese Frage etwas diffe-
renzierter zu beantworten und nicht auf Ja oder Nein Die Fragen 29 und 30 werden schriftlich beantwor-
einzugehen. tet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1459
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Ich rufe jetzt die Frage 31 der Abgeordneten Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Zweite Zusatz-
-

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk auf: frage.


Wie beurteilt die Bundesregierung die politische Lage in der
Ägäis angesichts der wiederholten Kriegsdrohungen türkischer
Dr. Sigrid Skarpelis Sperk (SPD): Erstens. Herr
-
Regierungsmitglieder, darunter der Premierministerin Ciller,
des Verteidigungsministers Golhan und des damaligen Außen- Staatsminister, ich darf Sie erinnern, daß ich von ein-
ministers Soysal gegenüber dem EU-Mitglied Griechenland, seitigen Rüstungshilfen gesprochen habe.
und hält sie angesichts solcher wiederholter Äußerungen eine
einseitige Förderung türkischer Rüstungsvorhaben für geeignet, Zweitens. Ich möchte Sie fragen, ob Sie meinen,
zum Abbau der Spannungen im östlichen Mittelmeer beizutra- daß die Republik Griechenland und die Republik Zy-
gen?
pern Ihre Einschätzung der Sicherheitslage teilen.
Herr Staatsminister.
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Ich habe bereits vorhin auf eine Ihrer Zusatzfra-
Amt: Die politische Lage in der Ägäis ist angesichts gen gesagt, daß die griechische Seite über manches,
der nicht gelösten, z. T. historisch bedingten Pro- was an Rhetorik - entschuldigen Sie noch einmal die-
bleme im bilateralen Verhältnis zwischen Griechen- sen Begriff - aus Ankara herüberkommt, besorgt ist.
land und der Türkei immer wieder Belastungen un- Das ist auch verständlich.
terworfen. Die Bundesregierung geht davon aus, daß
sich die weitere Heranführung der Türkei an die Eu-
ropäische Union auch positiv auf das griechisch-tür- Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Zusatzfrage des
-

kische Verhältnis auswirken wird. Sie fordert beide Abgeordneten Erler.


NATO-Partner mit Nachdruck auf, ihre bilateralen
Probleme auf friedlichem Wege zu lösen. Gernot Erler (SPD): Herr Staatsminister, Sie haben
Zu den Hintergründen der geplanten Unterstüt- jetzt zweimal gesagt, daß die griechische Seite be-
zung für den Bau von zwei MEKO Fregatten wurde
-
sorgt ist. Können Sie dem Hohen Haus etwas ge-
bei der Beantwortung der vorangegangenen Fragen nauer sagen, in welcher Weise die griechische Regie-
ausführlich Stellung genommen. Der Haushaltsaus- rung auf die Nachrichten über die Lieferung der
schuß wird im übrigen auf seine ausdrückliche Bitte MEKO-Fregatten reagiert hat? Hat sie demarchiert,
hin einen schriftlichen Bericht des Auswärtigen Am- ist sie in Bonn vorstellig geworden, und was hat sie
tes zu diesem Vorhaben erhalten, der in den näch- da gesagt?
sten Tagen fertiggestellt werden dürfte.
Ich möchte es zunächst dabei belassen und um Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Verständnis bitten, daß ich mich heute angesichts Amt: Nein, ich kann Ihnen die Abläufe der letzten
der Frageserie etwas häufiger wiederhole, als mir das Zeit jetzt nicht im einzelnen darstellen, da es um ein
normalerweise recht ist. Projekt geht, das jetzt schon fast zwei Jahre läuft. Ich
bin aber gerne bereit, Ihnen darüber einen ausführli-
chen Bericht zu erstatten.
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Zusatzfrage? -
-

Bitte.
Gernot Erler (SPD): Danke schön.
Dr. Sigrid Skarpelis Sperk (SPD): Herr Staatsmi-
-

nister, würden Sie unter diesen Umständen bestäti- Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Jetzt rufe ich die
-

gen - Sie haben ja selbst zumindest eine Rhetorik Frage 32 des Abgeordneten Eckart Kuhlwein auf:
zwischen den zwei Nationen eingeräumt; ich meine,
„Rhetorik" ist da verniedlichend -, daß eine einsei- Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß der politischen
und sozialen Stabilisierung der Türkei mit Finanzhilfen für den
tige Rüstungshilfe die Spannungen in dieser Region, Ausbau der Infrastruktur mehr gedient wäre als mit der Förde-
veranlaßt durch die Bundesrepublik Deutschland, rung von Rüstungsvorhaben?
eher erhöht als vermindert?
Herr Staatsminister.
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Nein. Auch kann von einer Einseitigkeit unserer Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
Zusammenarbeit überhaupt keine Rede sein. Wir be- Amt: Herr Kollege Kuhlwein, die Bundesregierung
mühen uns um ein ausgesprochen ausbalanciertes Ver- unterstützt den Ausbau der Infrastruktur der Türkei
hältnis in der Zusammenarbeit mit beiden Ländern. Ich mit einer Vielzahl von Projekten, die zur politischen
halte das im Hinblick auf unsere jeweiligen bilateralen und sozialen Stabilisierung beitragen. Die Rüstungs-
Interessen, im Hinblick auf die Stabilität der Region und hilfeprogramme der Bundesregierung für die Türkei
die Sicherheit der beiden Länder und auch im Hinblick sind bis auf Restlieferungen der Materialhilfe abge-
auf das Verhältnis dieser beiden Länder zur NATO und schlossen. Im übrigen, denke ich, beantwortet das,
zur Europäischen Union für außerordentlich wichtig. was ich zu den vorangegangenen Fragen gesagt
habe, Ihre Frage mit.
Man darf nicht exakt in jeder Schublade immer
gleich die Balance suchen, sondern muß die Balance
in der Zusammenarbeit über das gesamte Spektrum Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Erste Zusatz-
-

der Kooperationsmöglichkeiten hinweg suchen. frage.


1460 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Ecka rt Kuhlwein (SPD): Herr Staatsminister, mei- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für
nen nicht auch Sie, daß mit dem Ende des kalten diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe
Krieges Rüstungshilfe in den Bereichen, die an der keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlos-
Südostflanke der NATO der Sicherheit dienen soll- sen.
ten, ein Ende haben sollte, wie das auch die Bundes-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
regierung beschlossen hat, und daß statt dessen
gin Andrea Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN).
zivile Hilfen geleistet werden müßten? Und wäre es
in dem Zusammenhang nicht sinnvoller, die
150 Millionen DM dafür aufzuwenden? Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Ich bin jetzt hier in einem so trauten Kreise, daß ich
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen meine Rede fast zu Protokoll geben könnte.
Amt: Herr Kollege, das ist immer die Abwägungs-
frage, insbesondere dann, wenn man sich nicht deut- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Wir waren schon
lich klarmacht, daß die Zusammenarbeit der Bundes- sehr viel weniger! - Zuruf von der SPD: Wir
republik Deutschland mit den betroffenen Ländern, sind doch noch einige, Frau Kollegin!)
in dem Fall mit der Türkei, natürlich ein ganzes
- Dann wollen wir es doch noch mit der Diskussion
Spektrum von Politikfeldern abdeckt, z. B. das
versuchen.
Thema Infrastruktur, z. B. das Thema Bildungszu-
sammenarbeit und vieles andere. Selbstverständlich Die Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen ist
wünschen wir uns, daß wir alle in einer Situation wä- ein herausragendes Ziel der neuen Versicherung. So
ren, auch im Nahen und Mittleren Osten und auch steht es sogar in der Einleitung des zweiten Paragra-
im Mittelmeerraum, in der militärische Vorsorge phen des Gesetzes. Bloß wird dieses hehre Ziel im
nicht mehr erforderlich wäre. Es geht um die Frage, einzelnen oft genug nicht verfolgt. Nach unserer Auf-
ob es legitim ist, auch im Hinblick auf die militäri- fassung zeigt sich bei einer ganzen Reihe von Be-
sche Sicherheit Zusammenarbeit zu organisieren, stimmungen dieses Gesetzes, daß es von einem ver-
und da sagt die Bundesregierung ja. engten Begriff von Pflegebedürftigkeit geprägt ist.
Wir Bündnisgrünen legen deswegen heute einen
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Zweite Zusatz-
- Gesetzentwurf vor, mit dem in einigen sehr wesentli-
frage. chen Punkten das Selbstbestimmungsrecht von Be-
hinderten gewahrt und gefördert werden soll.
Ecka rt Kuhlwein (SPD): Ich will die Frage präzisie- Da ist zunächst der in unseren Augen ganz offen-
ren. Glaubt die Bundesregierung, Herr Staatsmini- sichtliche Skandal, daß Leistungen der Pflegeversi-
ster, daß die inneren Spannungen in der Türkei mit cherung bei Auslandsaufenthalten nicht gewährt
einem Mangel an Waffen bei der türkischen Armee werden dürfen, auch nicht bei nur vorübergehendem
zusammenhängen oder nicht vielmehr u. a. und ins- Aufenthalt. Im Klartext heißt das, daß Behinderten
besondere mit sozialen und ethnischen Problemen? Reisen über die deutsche Grenze nicht möglich sind.
Ich finde, daß das von einer ziemlich großen Igno-
ranz gegenüber den Lebensumständen von behin-
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen derten Pflegebedürftigen zeugt; denn das verlangt
Amt: Ich glaube, da sind wir uns einig. von ihnen, daß sie ihre Pflegekräfte in der Zeit eines
Auslandsaufenthaltes selber bezahlen. Ich kann
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Meine Damen
-
nicht erkennen, daß das den Behinderten, die anson-
und Herren, an dieser Stelle muß ich die Fragestunde sten dafür der Leistungen bedürfen, einfach möglich
beenden. Es tut mir sehr leid; aber wir haben die Zeit ist.
erreicht. Da gibt es keine Verlängerung. Ich danke Nach meiner Kenntnis haben die Krankenkassen
Ihnen. inzwischen erkannt, daß diese Regelung außerdem
(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Wir ha- noch einen ausgesprochen hohen Kontrollaufwand
ben uns angeschlagen über die Runden ge- erfordern würde, der dann wiederum neue Kosten
rettet! - Gegenruf des Staatsministers verursachen würde. Deswegen haben sie kluger-
Dr. Werner Hoyer: Das hätte ich gemerkt!) weise eine großzügige Auslegung dieser Bestim-
mung vorgeschlagen. Sie berufen sich dabei auf den
§ 18 Abs. 3 SGB V und wählen eine in meinen Augen
Wir fahren in der Tagesordnung fort. Ich rufe den recht kühne Konstruktion, um das zu rechtfertigen.
Tagesordnungspunkt 6 auf: Ich frage Sie jetzt, warum sich die Kassen und die
Erste Beratung des von der Fraktion BÜND- Pflegebedürftigen bei diesem Vorgang im rechts-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs freien Raum bewegen sollen? Ich glaube, daß wir
eines Gesetzes zur Ergänzung des Pflege-Ver- Rechtssicherheit schaffen könnten, indem wir diese
sicherungsgesetzes (PflegeVErgG) Regelung einfach streichen.
- Drucksache 13/99 — Mit den beiden anderen Änderungsvorschlägen,
Überweisungsvorschlag:
die dieser Gesetzentwurf enthält, wollen wir Bestim-
mungen des Pflege-Versicherungsgesetzes korrigie-
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend)
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ren, die in unseren Augen ebenfalls die Ansprüche
Ausschuß für Gesundheit von Behinderten an eine eigenverantwortliche Ge-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1461
Andrea Fischer (Berlin)
staltung ihres Lebens nicht ausreichend berücksich- Von noch größerer Bedeutung ist häufig die sozial-
tigen. Dabei rede ich zunächst davon, daß Behin- pädagogische Kompetenz. Verlangt man von diesen
derte auch als Arbeitgeber auftreten, ein Umstand, Diensten, um jeden Preis eine Pflegefachkraft einzu-
der im bestehenden Gesetz nicht vorgesehen ist. Da- stellen, so wird dieser Preis sehr hoch sein, denn er
bei gibt es nach unseren Informationen ausgespro- paßt nicht zur Form der dort geleisteten Arbeit, und
chen viele - nicht alle, aber eine beträchtliche Zahl - er wird die Kosten für diese Dienste unnötig in die
Behinderte, die Arbeitgeber ihrer eigenen Pflege- Höhe treiben.
kräfte sind. Nach Angaben des Verbandes der behin-
derten Arbeitgeber sind es ungefähr 1 Million Pflege- Mißverstehen Sie uns nicht. Wir messen der Be-
stunden, die im Jahr in Form dieser, sagen wir ein- rufsqualifikation der professionellen Pflegekräfte
mal: kleinen Pflegebetriebe geleistet werden. Bis- eine große Bedeutung bei. Wir werden sicherlich
lang haben die Sozialämter die Kosten für diese Art noch reichlich über ein Ausbildungskonzept für die
von Pflege von Behinderten übernommen und damit Pflegeberufe zu diskutieren haben. Aber bei unse-
dieses Arbeitgebermodell finanziert. rem Vorschlag geht es um einen wohldefinierten Be-
reich der Selbsthilfe, den wir durch zu hohe Stan-
Alle diese Möglichkeiten einer selbstbestimmten dards nicht austrocknen dürfen.
Beschäftigung von Pflegekräften gibt es also längst.
Sie finden statt, und sie haben bislang Finanzierung Sie wissen, daß wir Bündnisgrünen ganz grundle-
durch die bestehenden Träger gefunden. Ich meine, gend andere Vorstellungen von einer bedarfsgerech-
daß wir im Pflege-Versicherungsgesetz die Möglich- ten Absicherung des Pflegerisikos haben, als sie sich
keiten einer selbstorganisierten Betreuung durch bei dem mühsamen Geschäft, überhaupt eine solida-
ausgewählte Personen des Vertrauens eben nicht rische Pflegeabsicherung zu erreichen, schließlich
durch zu anspruchsvolle Bestimmungen einschrän- durchgesetzt haben. In diesem Prozeß blieben viele
ken, sondern dieses Engagement im Gegenteil unter- Debatten über die Qualität der Pflege auf der
stützen sollten. Strecke. Aber es ist ja nicht zu spät.
Viele Behinderte haben in den letzten Jahren Kon- Nehmen Sie unsere Vorschläge als ein Angebot,
sequenzen daraus gezogen, daß sich Art und Um- offenkundige Versäumnisse zu berichtigen! Dann
fang der Betreuung häufig mehr an den Organisati- können wir einen Beitrag zu einer wirklich moder-
onsplänen der ambulanten Pflegedienste und am nen Sozialpolitik leisten, die von mündigen Bürgerin-
Selbstverständnis der Pflegekräfte orientieren als an nen und Bürgern ausgeht. Die Menschen können
den Bedürfnissen der Betroffenen selbst. Sie wollen und wollen ihre Geschicke in die eigenen Hände
es nicht länger hinnehmen, daß ihnen eine Anpas- nehmen. Die Aufgabe der Politikerinnen und Politi-
sung an die Versorgungsstrukturen abverlangt ker ist es, sie daran nicht zu hindern, sondern sie im
wurde, sondern sie fordern, wie ich finde, zu Recht, Gegenteil dabei zu unterstützen, wo immer es geht.
daß sich umgekehrt die Strukturen ihren Bedürfnis-
sen anzupassen hätten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und bei der PDS sowie der Abg. Renate
Rennebach [SPD])
Um die Verfügung über den eigenen- Alltag wie-
derzuerlangen, haben Behinderte ihre Pflegekräfte
vielfach selbst angestellt oder sich zusammengetan, Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat
-

um eigene selbstorganisierte Pflegebetriebe aufzu- jetzt der Kollege Julius Louven (CDU/CSU-Fraktion).
bauen. In ihrer Arbeitgeberrolle haben sie dabei ein
Maß an Selbstbestimmung gewonnen, das diese Ge-
sellschaft für ihre behinderten Mitglieder ausgespro- Julius Louven (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
chen selten vorsieht. Sie wurden von Objekten der sehr verehrten Damen und Herren! Seit dem 1. Ja-
Fürsorglichkeit zu Subjekten eigenen Handelns. nuar ist das im vorigen Jahr beschlossene Pflege
Versicherungsgesetz in Kraft, zunächst mit der Bei-
(Julius Louven [CDU/CSU]: Na, na, Frau
tragspflicht, ab 1. April mit der Leistungsgewährung.
Kollegin!)
Das Pflege-Versicherungsgesetz stellt in seiner bis- Noch vor Inkrafttreten des Pflege-Versicherungs-
herigen Form diese Eigeninitiative nicht sicher. Es gesetzes legten Sie, meine Damen und Herren vom
sieht einen Arbeitgeberstatus für Behinderte nicht BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ihren Gesetzentwurf
vor, sondern verweist sie auf die Inanspruchnahme zur Ergänzung der Pflegeversicherung vor und argu-
der Dienste, die durch die Wohlfahrtsverbände be- mentieren, daß einige besonders mißlungene Vor-
reitgestellt werden. Pflegebedürftige aber müssen schriften korrigiert werden müßten.
die Möglichkeit erhalten, selber als Arbeitgeber Ver-
träge mit den Pflegekassen abzuschließen; sonst Nun schließe ich nicht aus, daß wir, wenn die er-
bricht diese Form der Pflegeorganisation zusammen. sten Erfahrungen mit der Pflegeversicherung vorlie-
gen, einmal Änderungen des Gesetzes beschließen
Dazu gehört auch, daß die Kriterien für die Leitung müssen. Bei einer so schwierigen Gesetzesmaterie
von selbstorganisierten Pflegebetrieben nicht über- wäre dies überhaupt nichts Ungewöhnliches.
mäßig hoch angesetzt werden. Gerade dann, wenn
Behinderte ihre Pflegekräfte anleiten, sind sie Spe- Keinesfalls kann ich jedoch akzeptieren, daß jetzt
zialisten in eigener Sache. In diesen Eigenbetrieben „besonders mißlungene Vorschriften" korrigiert wer-
geht es nicht nur um fachpflegerische Kompetenz. den müßten. Nein, meine Damen und Herren, miß-
1462 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Julius Louven
lungen ist allenfalls Ihr Versuch, die Pflegeversiche- An Stelle der Sachleistung kann ein Pflegegeld ge-
rung schlechtzureden. währt werden. Es wird zweckgebunden mit der Ab-
sicht gewährt, dem Pflegebedürftigen die Finanzie-
(Gerd Andres [SPD]: Na, na, Julius! - Kon rung einer selbstbeschafften Pflegekraft zu ermögli-
rad Gilges [SPD]: Nicht nur die Regierung chen. Dieses Pflegegeld dient also letztlich ebenfalls
ist mißlungen, auch das Gesetz!) der Erbringung von Sachleistungen. Die Geldleistun-
gen haben in diesem System lediglich eine Surrogat-
- Sie haben dem Gesetz doch zugestimmt, Herr Gil-
funktion. Ob Pflegebedürftige das Pflegegeld für die
ges.
Beschaffung von Sachleistungen verwenden, kann
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Trotzdem, das ist ja im Ausland ebenfalls nicht überprüft werden.
eine Tatsache! - Konrad Gilges [SPD]: Wir
sind ja Christenmenschen, wir begehen Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
schon einmal Sünden!) schon Verständnis dafür, daß die sogenannten
Grenzgänger und daß Rentner, die ihren Wohnsitz
Wir haben uns im Pflege-Versicherungsgesetz be- ins Ausland verlagern, Leistungen der Pflegeversi-
wußt gegen einen dauerhaften Leistungsexport ins cherung auch im Ausland dauerhaft in Anspruch
Ausland entschieden. Dabei liegt die Betonung auf nehmen möchten. Ich denke jedoch, daß ich Ihnen
„dauerhaft". Falsch ist daher, Frau Kollegin, Ihre Be- dargelegt habe, warum dies nicht geht. Wer mehr
hauptung, künftig könnten Pflegebedürftige keine Leistungen haben will, Frau Kollegin, muß dann
Auslandsreisen unternehmen, weil sie andernfalls auch sagen, wie wir diese Leistungen finanzieren.
ihre Leistungsansprüche aus der Pflegeversicherung
verlieren würden. Richtig ist, daß auch dann Leistun- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
gen der Pflegeversicherung in Anspruch genommen Gerd Andres [SPD]: Aber die Grenzgänger
werden können, wenn der Pflegebedürftige alleine zahlen doch Beiträge!)
oder mit Betreuungsperson eine Auslandsreise von
üblicher Dauer unternimmt. Die Pflegekassen wer- Ihrer weiteren Forderung, Pflegesachleistungen in
den in der Praxis in diesem Sinne verfahren. Von da- geeigneten Fällen auch durch eigene Pflegebetriebe
her sollten Sie hier nicht von „Skandal" reden. der Pflegebedürftigen erbringen zu können, kann ich
ebenfalls nicht zustimmen. Diese Forderung orien-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tiert sich am sogenannten Arbeitgebermodell der
Leistungsgewährung. Sie haben dies dargestellt.
Wir wollten und wollen jedoch keinen dauerhaften
Dies wird von der Sozialhilfe in Sonderfällen für
Leistungsexport. Für diese im Gesetzgebungsverfah-
schwerstbehinderte Rollstuhlfahrer akzeptiert. Hier-
ren getroffene politische Grundentscheidung gibt es
bei treten die Pflegebedürftigen als Arbeitgeber auf.
gute Gründe. Wir haben uns bemüht, das finanzielle
Risiko in der Pflegeversicherung so gering wie mög- Ich sehe jedoch keine Notwendigkeit, dieses Modell
in die Pflegeversicherung zu übernehmen; denn die
lich zu halten. Deshalb galt es, Mitnahmeeffekte und
Mißbrauch nicht zuzulassen, um die Finanzierung Kosten hierfür sind erheblich. Sie haben im Einzelfall
bis zu 20 000 DM betragen.
der Pflegeversicherung nicht zu gefährden.
- Wir ha-
ben darüber hinaus immer wieder zum Ausdruck ge-
Schließlich, meine Damen und Herren von der
bracht, daß die Pflegeversicherung keine Rundum-
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, for-
versicherung ist, sondern eine Grundversorgung mit
dern Sie, die Notwendigkeit der ständigen Verant-
Eigenverantwortung sein soll. Eine einnahmeorien-
wortung einer ausgebildeten Pflegefachkraft für am-
tierte Ausgabenpolitik ist daher im Gesetz festge-
bulante Pflegeeinrichtungen zu ergänzen durch die
schrieben.
Möglichkeit der Verwendung anderer geeigneter
Das bedeutet natürlich nicht, wie teilweise auch Fachkräfte. Auch diese Forderung ist sachlich nicht
behauptet wird, daß Preissteigerungen im Pflegebe- geboten und führt zu finanziellen Mehrbelastungen.
reich notwendigerweise rückläufige Leistungen zur
Folge hätten. Da die Einnahmen der Pflegeversiche- Wir haben uns bewußt für eine Pflegeversicherung
rung auch bei einem konstanten Beitragssatz auf entschieden, die die Sicherstellung der Grundpflege
Grund von Lohnerhöhungen und der Erhöhung der und der hauswirtschaftlichen Versorgung verfolgt.
Beitragsbemessungsgrenze zunehmen, können Wir haben uns gegen eine Pflegeversicherung ent-
Mehreinnahmen auch Leistungserhöhungen möglich schieden, die allumfassende Hilfestellungen bietet,
machen. Wichtig war, einer Kosten und Beitragsex-
-

plosion vorzubeugen. Dies war auch der Grund da- (Beifall der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.])
für, keinen dauerhaften Leistungsexport ins Ausland
zuzulassen. z. B. auch die soziale und berufliche Eingliederung
Behinderter umfaßt. Dies soll nicht Aufgabe der Pfle-
Eine Ausgabenkontrolle im Ausland ist so gut wie geversicherung sein. Bei der Eingliederungshilfe
unmöglich. Grundsätzlich erbringt die Pflegeversi- steht nicht die Grundpflege und hauswirtschaftliche
cherung Sachleistungen. Zur Sicherstellung der Qua- Versorgung, sondern die berufliche und soziale Ein-
lität der Sachleistungen müssen die Pflegeeinrich- gliederung von Behinderten im Vordergrund. Hierfür
tungen mit den Pflegekassen einen Versorgungsver- wendet die Sozialhilfe derzeit etwa 12 Milliarden DM
trag abschließen, was mit ausländischen Leistungs- auf. Selbst eine Verlagerung nur von Teilbeträgen in
anbietern in aller Welt ja wohl unmöglich ist, Frau die Pflegeversicherung würde den finanziellen Rah-
Kollegin. men sprengen. Mit der Pflegeversicherung entlasten
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1463
Julius Louven
wir die Sozialhilfe bereits jetzt mit einem zweistelli- Mit der Veränderung der Beihilferichtlinien wur-
gen Milliardenbetrag. Wer die Sozialhilfe noch stär- den bessere Regelungen für Beamte getroffen, als sie
ker entlasten will, sollte sagen, wie dies finanziert für Sozialversicherte gelten.
werden soll.
(Konrad Gilges [SPD]: Ja!)
Ich sehe, meine Damen und Herren, derzeit keinen
Dies alles sind Belege dafür, wie man Vertrauen ver-
Anlaß, Korrekturen zu beschließen. Eine noch stär-
spielen oder mißbrauchen kann.
kere Belastung von Arbeitgebern und Arbeitneh-
mern kann mit uns nicht in Frage kommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es bleibt abzuwarten, wie sich die Diskussion um
die Pflegeversicherung nach Inkrafttreten der ersten
Im Gegenteil: Ich habe bereits bei der Einbringung
Leistungsstufe bei den Betroffenen auswirkt. Alle
des Haushaltsentwurfs für das Jahr 1995 an dieser
Verantwortlichen müssen mithelfen, daß die prakti-
Stelle ausgeführt, daß wir unsere ganze Kraft darauf
sche Umsetzung der Pflegeversicherung nicht zu
verwenden wollen, in den kommenden Jahren die
weiteren politischen Enttäuschungen bei der Bevöl-
Belastungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern
kerung führt.
zugunsten der Sicherung und Schaffung von Arbeits-
plätzen zu verringern. Ich erinnere daran, daß es nur mit einem politi-
schen Kraftakt möglich war, die Pflegeversicherung
Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Her-
überhaupt zu verabschieden.
ren vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bleibt mir nur,
abschließend für meine Fraktion zu erklären, daß wir (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das ist wahr!)
Ihren Wünschen nicht entsprechen können. Ihren
Gesetzentwurf lehnen wir ab. Alle Beteiligten wissen, daß sie nicht mit dem An-
spruch realisiert wurde, umfassend alle politischen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gesellschaftlichen, finanziellen und menschlichen
Probleme lösen zu können,
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat der
-
(Julius Louven [CDU/CSU]: Jetzt ist es wie
Kollege Gerd Andres, SPD-Fraktion. der richtig!)
die im Zusammenhang mit der Pflege bestehen.
Gerd Andres (SPD): Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Wenige Wochen nach (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Jetzt ist es wieder
Inkrafttreten des Pflege-Versicherungsgesetzes und in Ordnung!)
wenige Wochen vor dem Wirksamwerden der Lei-
stungen im ambulanten Bereich diskutieren wir im Die Absicht, eine Pflegeversicherung als Sozialver-
Deutschen Bundestag erneut das Thema Pflege. Es sicherung zu realisieren, war von zwei Zielen be-
scheint so, als sei nicht nur das Zustandekommen der stimmt: erstens die ambulante Versorgung Pflegebe-
Pflegeversicherung von langwierigen politischen dürftiger zu verbessern und eine deutliche Entla-
Auseinandersetzungen begleitet gewesen; nein, stung Pflegebedürftiger und ihrer Angehörigen zu
-
auch der weitere Lebensweg dieses Gesetzes bleibt erreichen und zweitens zu gewährleisten, daß bei
heftig umstritten. stationärer Versorgung alle Menschen so abgesi-
chert sind, daß sie gegen das Lebensrisiko Pflege in
Wir befinden uns in einer Phase, in der wir mit der seinen pflegebedingten Kostenteilen versichert sind.
Umsetzung des Pflege Versicherungsgesetzes be-
- Damit sollte vor allen Dingen erreicht werden, daß
faßt sind. Schon dabei ist es zu Wortbrüchen gekom- die Sozialhilfe nicht weiter als Regelsicherungssy-
men. Der Bundesarbeitsminister hat mit seinen Richt- stem für das Lebensrisiko Pflege herhalten muß. Daß
linien die Pflegeeinheit entgegen seinen Zusagen in sie bei allen unterschiedlichen politischen Vorstel-
der Verrichtungszeit mit 90 Minuten definiert. lungen in ihrem Be- und Entlastungsteil gesellschaft-
lich mittelfristig kalkulierbar bleiben muß, war den
(Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Absolut
Beteiligten klar.
unwahr!)
Der hier heute in erster Lesung anstehende Ge-
Allerorten hört man, daß weitere Versuche unter-
setzentwurf wird diesen Ansprüchen, die ich eben
nommen werden sollen, die versprochenen Leistun-
bewußt so formuliert habe, meiner Auffassung nach
gen nach unten zu drücken.
nicht gerecht.
(Konrad Gilges [SPD]: Richtig! - Dr. Uwe
In der Zielsetzung formuliert die Fraktion BÜND-
Küster [SPD]: Das ist ja interessant!)
NIS 90/DIE GRÜNEN, daß die besonders mißlunge-
Wortbrüche gibt es auch bei der Kompensationsrege- nen Vorschriften des Sozialgesetzbuches XI - Pflege-
lung, bei der beispielsweise das Land Sachsen entge- versicherung - noch vor Inkrafttreten der ersten Lei-
gen vorheriger Vereinbarung im Kreis der Minister- stungsstufe korrigiert werden müßten, ohne daß man
präsidenten den Arbeitnehmern die alleinige Bei- die festgelegten Grundstrukturen der Pflegeleistun-
tragslast für die Pflegeversicherung aufbürdet. gen kurzfristig ändern könnte. Bei der Aufzählung
dessen, was die besonders mißlungenen Vorschriften
(Konrad Gilges [SPD]: Sehr richtig! - Julius des SGB XI sind, stößt man dann doch auf wenig
Louven [CDU/CSU]: Aber das läßt das Ge Substanz für diese drastische Bewertung.
setz doch zu, Herr Kollege! - Konrad Gilges
[SPD]: Das ist doch eine Sauerei!) (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: So ist es!)
1464 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Gerd Andres
Der Gesetzentwurf verlangt erstens, das Ruhen der einzelnen Sozialhilfeträgern im Rahmen von Arbeit-
Leistung bei Auslandsaufenthalten aufzuheben. Be- gebermodellen erbracht werden, bis in Größenord-
gründet wird diese geforderte Änderung damit, daß nungen von 10 000, 12 000, in der Spitze bis zu
diese Bestimmung des Pflege-Versicherungsgesetzes 20 000 DM gehen.
auch bei vorübergehenden Auslandsaufenthalten,
z. B. Urlaub oder Dienstreisen, Leistungen an Pflege- Das Argument, daß durch eine rechtliche Ände-
bedürftige unterbreche und dieses Gesetz damit zu rung der einzelne Behinderte in die Lage versetzt
einem Ausreiseverbot für Behinderte führe. würde, statt der niedrigeren Pflegegeldleistung die
höhere Sachleistung in Anspruch nehmen zu kön-
Schaut man sich die Gesetzesbegründung der nen, macht vor dem Hintergrund dieser Summen kei-
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN etwas genauer nen Sinn.
an, so stellt man aber fest, daß mit ihrem Formulie-
rungsvorschlag nicht dieser Tatbestand geheilt wird, (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
sondern daß gefordert wird, diese Gesetzesvorschrift Selbst wenn der Härtefall für Sachleistungen von
zu streichen. Sie hat allerdings den Sinn, einen dau- 3 750 DM in Anspruch genommen werden könnte,
erhaften Leistungsbezug im Ausland auszuschließen. ist der einzelne Betroffene nach wie vor auf die er-
Jeder, der die Geschichte des Pflege-Versicherungs- gänzende Aufstockung durch die Sozialhilfe ange-
gesetzes kennt, weiß, daß die Lösung dieser Proble- wiesen. An diesem Beispiel werden auch die Pro-
matik wichtige Vorbedingung für die Pflegeversiche- bleme der Abgrenzung zwischen den Leistungen,
rung überhaupt war. die nach dem Pflege-Versicherungsgesetz erbracht
Im übrigen ruht - nach übereinstimmender Inter- werden, und den Leistungen nach dem Bundesso-
pretation der Krankenkassen und beispielsweise zialhilfegesetz offensichtlich.
auch der Pflegekonferenz - der Leistungsanspruch Zusätzlich muß das Argument angeführt werden,
nicht bei einem vorübergehenden Auslandsaufent- daß in den Beratungen des Pflege-Versicherungsge-
halt. Als vorübergehend gilt in analoger Anwendung setzes ausdrücklich festgehalten wurde, daß es bei
des § 18 Abs. 3 SGB V ein Zeitraum von längstens bisher Betroffenen keine Schlechterstellung durch
sechs Wochen im Kalenderjahr. die Einführung des Pflege-Versicherungsgesetzes
Die zweite Veränderungsabsicht bezieht sich dar- geben dürfe. Aus den Diskussionen, die in den Ge-
auf, Pflegesachleistungen durch einen eigenen Pfle- setzesberatungen und mit Behindertenverbänden so-
gebetrieb des Pflegebedürftigen zu erhalten. In der wie Gruppen von Behinderten geführt wurden, weiß
Begründung zum Gesetzentwurf wird richtig davon ich allerdings, daß dieser Tatbestand im kommenden
ausgegangen, daß wir solche Modelle schon kennen, Beratungsverfahren im Ausschuß für Arbeit und So-
die auch in Fachkreisen unter den Stichworten „Ar- zialordnung noch einmal ausführlich erörtert und ge-
beitgebermodell" oder „Pflegeassistenzmodell" dis- prüft werden sollte.
kutiert werden. Die dritte Änderung, die vorgeschlagen wird, be-
Bei der Inanspruchnahme von Pflegesachleistun- zieht sich darauf, daß die Definition des Begriffs
gen besteht die Voraussetzung, daß die Sachleistung Pflegefachkraft ausgeweitet und ergänzt wird. Pfle-
durch eine zugelassene Pflegeeinrichtung erbracht geeinrichtungen erfüllen die Voraussetzung zur Zu-
wird. § 77 des Pflege-Versicherungsgesetzes sieht lassung nur dann, wenn die Leistungen nach dem
vor, daß die häusliche Pflege auch von Einzelperso- Pflege-Versicherungsgesetz unter ständiger Verant-
nen geleistet werden kann. Zur Gewährung der wortung einer ausgebildeten Pflegekraft erbracht
häuslichen Pflege können die Pflegekassen Verträge werden. Dies ist § 72 in Verbindung mit § 71 Sozial-
mit geeigneten einzelnen Pflegekräften schließen, so gesetzbuch XI.
daß dieser Weg in der Begründung auch zutreffend In der Begründung des Gesetzentwurfs wird be-
angeführt ist. sonders angeführt, daß bereits heute Pflegesachlei-
Für mich ergibt sich in dieser Frage die schwierige stungen nach § 55 Sozialgesetzbuch V erbracht wer-
Abgrenzung zwischen bisher bestehenden Arbeitge- den, hei denen die Voraussetzung der Leitung durch
bermodellen und Assistenzverträgen sowie der gro- eine pflegerische Fachkraft nicht gegeben ist.
ßen Zahl der künftig zu regelnden Fälle bei der Ein- Sowohl die Spitzenverbände der Krankenkassen
führung der Leistung im ambulanten Bereich, wie auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der über-
Bekanntermaßen ist die Sachleistung, die in der örtlichen Träger der Sozialhilfe, die Bundesvereini-
ambulanten Versorgung gewährt wird, in ihrem ma- gung der kommunalen Spitzenverbände und die
teriellen Wert höher als die Geldleistung. Wo ist bei Vereinigung der Träger von Pflegeeinrichtungen auf
einer solchen Regelung der Unterschied zwischen ei- Bundesebene haben Vorschläge entwickelt, die die
ner selbst beschafften Pflegehilfe, die als Familienan- fachlichen Voraussetzungen für verantwortliche
gehöriger, Lebenspartner, Freund oder Bekannter Pflegekräfte definieren. Sie schlagen beispielsweise
die Pflege versieht und für die Pflege Geld erhält, vor, Heilerziehungspflegerinnen oder Heilerzie-
und einem Arbeitgebermodell zu sehen? hungspfleger in die Gruppe der verantwortlichen
Pflegekräfte mit einzubeziehen. Auch die Länder tei-
Die gesamte Systematik der Abgrenzung zwischen len diese Position. Unter Beachtung von notwendi-
Geld- und Sachleistung wird damit problematisch. gen Qualitätsstandards und eines sicherlich starken
Wir alle wissen aus der Diskussion zum Thema Pfle- Bedarfs an Pflegekräften sollte diese Auffassung in
geversicherung, daß die Leistungen, die bisher von der Ausschußberatung sorgsam diskutiert werden.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1465
- Gerd Andres
Zusammenfassend möchte ich für die SPD-Frak- - Ja, und ich führe jetzt der deutschen Öffentlichkeit
tion als Bewertung folgendes festhalten. Alle drei vor, wie inflationär mit Wörtern wie „Wortbruch",
Punkte, die im Gesetzentwurf angesprochen sind, „Vertrauensbruch" - das ist ein weiterer Hammer -
machen möglicherweise eine Gesetzesänderung umgegangen wird. Ist das seriös? Es steht im Gesetz
überhaupt nicht notwendig. Die Frage des Auslands- nichts von 60 Minuten. In den Richtlinienentwürfen
aufenthalts ist meiner Auffassung nach schon ge- der Krankenkassen gab es diese 60 Minuten. Dar-
klärt. Die Frage der Pflegefachkräfte und ihrer Defi- über haben wir diskutiert. Wir haben uns auf einen
nition sollte in Gesprächen mit dem BMA und den Wert von 90 Minuten geeinigt, der im Blick auf die
betroffenen Verbänden weiter erörtert und einer Re- nächsthöhere Pflegestufe nicht aus der Luft gegriffen
gelung zugeführt werden. Den Positionen der Bun- ist.
despflegekonferenz ist möglicherweise nichts hinzu-
zufügen; ich weiß, daß das dort erörtert worden ist. Ich komme immer wieder auf das Wort „Vertrau-
ensbruch" zurück. Verwenden Sie es ein bißchen
Das Problem des Arbeitgebermodells ist gegen- sparsamer!
wärtig so geregelt, daß bestehende Verträge weiter-
geführt werden können. Ausnahmen sind bereits (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Sehr
jetzt durch das Gesetz vorgesehen. Es stellt sich aber wahr!)
die prinzipielle Abgrenzungsproblematik für alle
Pflegebedürftigen, da mit einer solchen Arbeitgeber- Da bin ich empfindlich.
konstruktion die klare Trennung zwischen Sach- und
Wie kamen die 90 Minuten zustande? Die nächst-
Geldleistung im Gesetz insgesamt in Frage gestellt
höhere Pflegestufe, die der Schwerpflegebedürfti-
wird.
gen, ist vom Bundessozialgericht mit einem Zeitbe-
Bevor wir dazu eine abschließende Position bezie- darf von drei Stunden versehen worden. Die Geldlei-
hen, werden wir in den Ausschußberatungen ent- stungen in der Stufe, um die es hier geht, sind halb
sprechende fachliche Prüfungen vornehmen und so hoch. Das ist mehr als ein Grund, sich für diese 90
Diskussionen führen. Minuten zu entscheiden.

Herzlichen Dank. Ich füge hinzu: Wir befinden uns in der Anlauf-
phase der Pflegeversicherung. Ich empfehle uns,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne diese neue Versicherung vorsichtig einzuführen, Er-
ten der F.D.P.) fahrungen zu sammeln.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Genau das!)


Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Bundesmi-
nister, habe ich es richtig verstanden, daß Sie jetzt Sollte die Vorsicht unbegründet sein, ist es besser,
schon in die Debatte gehen wollen? - Dann haben wenn wir die Regelungen in einem zweiten Schritt
Sie das Wort. anpassen, als wenn wir jetzt mit 60 Minuten begin-
nen und uns dann auf 90 Minuten korrigieren müs-
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und sen.
- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Sozialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! In der Tat wollte ich jetzt nicht reden. Aber
mich haben die Worte „Wortbruch" und „Vertrau- Wo, Kollege Andres, ist der Wortbruch? Auf die
ensbruch" gereizt. Antwort lege ich Wert. Ich möchte hier einmal vor-
führen, wie leicht es mit den großen Worten ist und
(Gerd Andres [SPD]: Ja, Vertrauensbruch! - wie schwer es ist, sie zu beweisen. Wo ist der Wort-
Konrad Gilges [SPD]: Ja, korrekt!) bruch?
Lieber Kollege Andres, wollen wir die Einführung Ich will noch etwas hinzufügen. Die ersten Anträge
der Pflegeversicherung wirklich mit diesem Pulver- zeigen, daß sich unsere Schätzungen in Übereinstim-
dampf von Agitation begleiten? Wollen Sie das wirk- mung mit der Realität des jetzigen Antragseingangs
lich? Wollen Sie zu einer Verwirrung beitragen, die befinden. Das ist eine Beruhigung.
nur Unsicherheit erzeugt?
Eine weitere erfreuliche Mitteilung möchte ich
Ich will einmal prüfen, worauf Sie sich stützen. Ich noch machen. Es zeigt sich - jedenfalls nach den Be-
frage Sie: Wo im Gesetz steht, daß 60 Minuten bei richten der in der Pflegekonferenz vertretenen Orga-
der Pflegestufe 1 der tägliche Pflegebedarf ist? nisationen -, daß jetzt schon die Anträge auf statio-
näre Pflege zugunsten der ambulanten zurückgehen.
(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Nirgends!)
Das war
Wo steht das? Wo ist Wortbruch begangen worden?
Wo? (Julius Louven [CDU/CSU]: Unser Ziel!)
(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Nirgends!) u. a. Sinn des Gesetzes, und zwar nicht, weil wir
Das können Sie ja mit einem Zwischenruf beantwor- keine stationäre Pflege mehr bräuchten. Sie brau-
ten. - Sie brauchen gar nicht zu suchen. chen wir. Aber wir wollten gerade durch den Ausbau
der ambulanten Pflege die Chancen dafür erhöhen,
(Gerd Andres [SPD]: Ich suche mir das daß jeder so lange wie möglich zu Hause bleiben
Rede-und-Antwort-Spiel schon aus!) kann.
1466 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Bundesminister Dr. Norbert Blüm


Ich komme zu den Beamten. Das haben wir hier - Ich habe ja, was Sachsen anbelangt, ausdrücklich
schon einmal diskutiert. Soll ich das noch einmal wie- gesagt, daß ich alle Länder bitte, ihre Zusagen zu
derholen? Wenn bisher Aufwendungen bis 5 400 DM den Investitionen zu halten. Nur, in Gesetzesform hat
beihilfefähig waren und von der Beihilfe für die sich als erstes Land Hessen nicht an die Absprache
Pflege eingesetzt wurden und das jetzt in der ersten gehalten.
Stufe auf Geldleistungen von 400 DM zurückgeführt
wird, dann finde ich, daß das eine erstaunliche An- Jetzt zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/
passungsleistung im Beamtenrecht ist, zumal die Be- DIE GRÜNEN: Ich will darauf hinweisen, daß Sach-
amten zum ersten Mal jetzt für etwas, was sie bisher leistungen nicht exportiert werden und daß Geldlei-
als Beihilfe umsonst bekamen, stungen - wie der Kollege Louven schon gesagt hat -
nur ein Surrogat sind. Ich glaube, das liegt auch in
(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: So ist es!) der Logik der Sache. Wir müssen ja bei den Sachlei-
Beiträge zahlen müssen und noch eine Kompensation stungen auch den Qualitätsstandard sicherstellen.
erbringen müssen. Lassen Sie doch endlich einmal Sie können den Qualitätsstandard für eine Sachlei-
diesen armseligen Kampf zwischen Beamten und stung in Portugal oder anderen Ländern nicht sicher-
übrigen Arbeitnehmern beiseite! Ich bin mit Ihnen stellen. Das spricht nicht gegen Portugal, aber im
der Meinung, daß es um Gleichbehandlung geht. Das deutschen Sozialrecht werden Sachleistungen nicht
wird nie bis zur sechsten Stelle hinter dem Komma rei- exportiert. Das ist in der Krankenversicherung ge-
chen. Dafür sind die entsprechenden Regelungen von nauso.
zu unterschiedlicher Struktur. Aber denjenigen, der
Was den Urlaub anbetrifft, so ist schon gesagt wor-
eine solche Anpassungsveränderung leistet, sollten
den, daß Klarheit darüber besteht - das unterliegt ja
Sie nicht mit dem Wort „Wortbruch" belegen.
nicht diesem generellen Exportverbot -, daß bei Ur-
Bei dem nächsten Punkt wird es spannend, Herr laubsreisen die Leistungen der Pflegeversicherung
Kollege Andres. Wenn ich Ihre Aufmerksamkeit noch natürlich auch im Ausland zur Verfügung stehen.
einmal bekommen könnte. Das ist aber etwas anderes als eine dauerhafte Lei-
stung ins Ausland.
(Konrad Gilges [SPD]: Sie! Die Beamten
können ja nichts dafür!) Ich denke, daß wir mit dieser Regelung überhaupt
- Soll ich das noch einmal erzählen? Wollen Sie die kein Neuland betreten, sondern nur das regeln, was
Debatte noch einmal geführt haben? Soll ich noch im Krankenversicherungsrecht schon von eh und je
einmal sagen, welche Umstellungen wir zustande ge- gilt. Bei der Rentenversicherung geht es um etwas
bracht haben? anderes. Da wird ein Einkommen verzehrt. Hier wer-
den Geldleistungen für eine bestimmte Unterstüt-
Wenn Sie, Herr Kollege Andres, schon auf das Ein- zungsleistung an Pflegebedürftige gewährt. Da muß
halten von Versprechungen abstellen, dann bitte ich die Qualität sichergestellt werden, und diese Quali-
Sie, sich einmal das hessische Gesetz für die Investi- tätssicherung ist sowohl bei den Geld- wie bei den
tionsförderung zur Pflege anzusehen. In der dualen Sachleistungen im Inland sichergestellt. Im Ausland
Finanzierung war vereinbart, daß mindestens die kann das nicht sichergestellt werden.
Hälfte der Ersparnisse, die die Pflegeversicherung
-
bei der Sozialhilfe ermöglicht, für Investitionen zur Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß man
Verfügung gestellt wird. Stimmt es oder stimmt es dann aus ganz Europa hierherkommen und mit ge-
nicht, daß die Vereinbarung lautete, daß die Länder ringen Beiträgen anschließend die Pflegeleistungen
die Gelder für die Investitionen zur Verfügung stel- in die ganze Welt exportieren könnte, ohne daß si-
len wollten? chergestellt werden könnte, daß diese Pflegeleistun-
gen dann auch wirklich den Pflegebedürftigen ir-
(Julius Louven [CDU/CSU]: Das ist der gendwo in der Welt zugute kommen.
Wortbruch!)
Was drittens das Arbeitgebermodell anbelangt, so
Ich sehe bei allen Ländern keine große Bereitschaft
schließe ich mich dem Kollegen Andres an. Wo er
dazu. Aber das erste Gesetz, das dazu vorliegt,
recht hat, hat er recht. Das ist ein ganz anderes Sy-
kommt aus Hessen. Es stammt vom Dezember. Dort
stem. Das, was hier vorgeschlagen wird, wäre im
steht: Investitionen nach Kassenlage. Das ist ein klas-
Grunde das System Kostenerstattung. Das ist nicht
sischer Widerspruch. Wenn Sie schon mit so großen
mehr das System, in dem zwischen Vertragspartnern
Worten wie „Wortbruch" um sich hauen, dann sage
eine Sachleistung vereinbart wird.
ich Ihnen die Adressen. Ich gehe mit diesem Wort
nicht so leichtfertig um. Wenn Sie dieses Wort ver- Bitte schön.
wenden wollen, dann heften wir es der hessischen
Landesregierung an, die eine klassische Zusage (Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE
nicht eingehalten hat. GRÜNEN]: Herr Präsident, gestatten Sie
eine Zwischenfrage?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Versuchen Sie erst einmal vor der eigenen Tür zu Herr Präsident?
kehren, bevor Sie hier mit dem großen Hammer um
(Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE
sich hauen!
GRÜNEN]: Der Präsident ist gerade unauf
(Konrad Gilges [SPD]: Was ist denn mit merksam! Ich danke Ihnen, daß Sie mir die
Sachsen?) Zwischenfrage gestatten!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1467

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich bitte um - Es wird doch gar nicht bestritten. Es wird von den
Nachsicht. Hier gibt es jetzt ein paar Probleme mit Pflegekassen gewährt.
der Rednerreihenfolge. Aber Sie haben das Wort zu
einer Zwischenfrage. Wenn Sie jetzt noch eine Diskussion darüber
haben wollen, wo was geregelt werden soll, können
Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir die gern führen. Es verändert aber die faktische
NEN): Ich habe eine Frage. Sie sind jetzt eigentlich Lage überhaupt nicht. Es werden Leistungen im
schon weiter, aber ich bitte noch einmal zu der Frage Urlaub gewährt. Das ist doch die wichtigste Nach-
des Ruhens der Leistungen bei Auslandsaufenthalt richt. Das ist das, was die Pflegebedürftigen interes-
zurückkommen zu dürfen. siert.

Sie sagen, daß im Pflegeversicherungsgesetz bei (Zuruf von der F.D.P.: Ja, es wird alles ver
vorübergehendem Auslandsaufenthalt de facto ana- bürokratisiert!)
log zum Krankenversicherungsgesetz verfahren
wird. Warum besteht dann nach Ihrer Meinung ein
Regelungsbedarf im Rahmen des § 18 des SGB V, der Vielleicht sollte ich meinen Beitrag abkürzen: Bei
diesen Leistungsbezug auch bei vorübergehendem dem Arbeitgebermodell handelt es sich in der Tat um
Auslandsaufenthalt vorsieht, und warum besteht die- ein anderes Modell. Sie würden dann auf ein Kosten-
ser Regelungsbedarf im SGB XI, bei der Pflegeversi- erstattungsprinzip umsteigen. Sie könnten praktisch
cherung, nicht explizit im Rahmen des Gesetzes, son nicht mehr zwischen Sach- und Geldleistungen un-
dern funktioniert über Vereinbarungen der Versiche- terscheiden.
rungsträger?
Den Behinderten kommen diese Leistungen auch
zugute. Sie werden Pflegegeld erhalten. Die mit dem
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und
Arbeitgebermodell angesprochenen Pflegebedürfti-
Sozialordnung: Das ist doch ganz unstrittig. Es ent-
gen haben einen Anspruch auf Pflegegeld. Die Pfle-
spricht dem gesunden Menschenverstand, daß je-
geversicherung kann aber nicht an die Stelle des von
mand, der sich vorübergehend zu einem Urlaub ins
der Eingliederungshilfe finanzierten Arbeitgebermo-
Ausland begibt, anders zu behandeln ist als jemand,
dells treten.
der seine Pflegeleistungen ins Ausland mitnimmt, so
daß Pflegeleistungen an einen Wohnort exportiert
werden. Der Urlaubsort ist doch nicht der Wohnort. Die Pflegeversicherung kann überhaupt nicht alles
Ich bitte Sie, da müssen Sie nicht in die höhere Philo- leisten, was von ihr verlangt wird. Sie kann nicht die
sophie der Sozialpolitik einsteigen. Es ist etwas ande- Sozialhilfe mit ihren Eingliederungshilfen völlig er-
res, ob jemand an einen Urlaubsort reist und dort vier setzen oder die ganze Behindertenpolitik bezahlen.
Wochen mit einem Pflegebedürftigen, den er mit- Sie hat auch nicht die Kraft, die ganze Rehabilitation
nimmt, bleibt oder ob jemand Pflegeleistungen aus zu finanzieren. Die Pflegeversicherung ist ein wichti-
Deutschland irgendwo im fernen Ausland beziehen ger Fortschritt für die Pflegebedürftigen, aber sie hat
will, was überhaupt nicht mehr kontrollierbar
- wäre, nie beansprucht, alle Fragen des Sozialstaates zu
was auch im Sinne des Gesetzes überhaupt nicht lösen.
mehr zu überwachen wäre.
(Beifall des Abg. Julius Louven [CDU/CSU])
(Beifall der Abg. Birgit Homburger [F.D.P.])

Meine Bitte ist wirklich: Strengt euch doch an, daß


Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Gestatten Sie
-
die Einführungsphase mit weniger Verunsicherungs-
noch eine Zwischenfrage? kampagnen versehen wird, daß eher Vertrauenswer-
bung gemacht wird;
Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und
Sozialordnung: Wenn das gewünscht wird, gern. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr wahr!)

Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- denn ich fürchte, die Pflegebedürftigen verstehen
NEN): Ich freue mich, von Ihnen zu hören, daß Sie das ganze Hickhack nicht. Jetzt wird schon über die
das für völlig unstreitig halten. Meine Frage richtete Leistungen der Pflegeversicherungen geurteilt, sie
sich aber darauf: Die Ausnahme des vorübergehen- werden schon schlechtgemacht, bevor sie überhaupt
den Aufenthaltes ist im SGB V ausdrücklich geregelt. beim ersten angekommen sind. Da sehe ich doch den
Warum behaupten Sie, daß man das nicht analog im bösen Willen.
SGB XI regeln müßte?
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der F.D.P. - Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: So
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und
ist es!)
Sozialordnung: Wenn Sie beim Pflegegesetz keine
anderen Sorgen haben als die Frage, was wann wo
und wie geregelt ist, dann kann ich Sie beruhigen. Das Geld ist noch nicht angekommen, da wird
schon gesagt, es sei zu wenig, und es sei falsch orga-
(Zuruf von der SPD: O Gott!) nisiert. Wer guten Willen hat, der muß diesem Gesetz
1468 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Bundesminister Dr. Norbert Blüm


eine Chance geben und eher dazu beitragen, daß es soll radikal zurechtgestutzt, möglichst beseitigt wer-
bei den Versicherten ankommt; denn es ist ein neues den.
Gesetz, es braucht noch viel Aufklärung, es braucht
viel Beratung und viel Unterstützung. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das ist doch nicht
wahr!)
(Gerd Andres [SPD]: Wir kommen darauf
zurück!) Insofern ist der Streit zwischen den überörtlichen
Sozialhilfeträgern und den Pflegekassen ein von der
Darum bitte ich. Laßt doch bitte die großen Kano- Bundesregierung vorprogrammierter Streit mit dem
nen mit „Wortbruch" und ähnlichen demagogischen Ziel, gewachsene Konzepte der Behindertenhilfe in
Übungen beiseite, vor allem, wenn man seine Vor- Frage zu stellen.
würfe nicht begründen kann! Darum bitte ich, nicht
meinetwegen, sondern der Pflegeversicherung we- (Zuruf von der SPD: Das ist doch nicht
gen. wahr!)

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Eingliederungsmaßnahmen sind ohne integrierte
Pflegebestandteile nicht durchführbar, und nur im
Einzelfall ist eine organisatorische und damit finan-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat
-
zielle Trennung von „klassischer" Leistung der Ein-
jetzt die Kollegin Petra Bläss.
gliederungshilfe und von pflegerischer Leistung
möglich.
Petra Bläss (PDS): Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Herr Minister Blüm, Sie haben Probleme Wenn nun aber die Sozialhilfeträger, wie im Positi-
damit, daß wir das Pflege-Versicherungsgesetz im onspapier der überörtlichen Träger der Sozialhilfe
Vorfeld des Leistungsbezugs kritisieren. Es geht uns nachzulesen ist, sich weigern, die Kosten für die Ein-
doch nicht darum, das Gesetz an sich zu verbannen, gliederungshilfe wie bisher zu übernehmen, dann ist
sondern Fehler, die im Verlauf von Gesetzesberatun- das nicht nur der Versuch, die Kosten auf Beitrags-
gen, noch dazu, wenn sie so schnell durchgeführt zahlerinnen und -zahler zu verlagern, sondern auch
werden, auftreten können, noch rechtzeitig zu korri- Ergebnis einer Politik des Abbaus sozialer Rechte
gieren. Bei der Kritik unsererseits geht es in keinem und Leistungen.
Fall darum, die eigentlich Betroffenen zu verunsi-
Zu den durch die Pflegeversicherung offenbar zu
chern.
beseitigenden Strukturen scheint auch die individu-
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne elle Schwerbehindertenbetreuung zu gehören. Hier
ten der SPD) stehnozialpädgcusarbeith
Aufgaben im Vordergrund, wird Assistenz und Hilfe
Das Jahrhundertwerk Pflegeversicherung ist ins geleistet. Betroffene übernehmen die fachliche An-
Gerede gekommen und zeigt Risse. Was sich von An- leitung der Pflegekräfte, organisieren ihre Pflege
fang an andeutete, wird jetzt zunehmend deutlich. selbst. Das stärkt natürlich ihr Selbstbewußtsein und
Die Pflegeversicherung ist weit davon entfernt, eine ihre Unabhängigkeit. Genau das scheint wohl nicht
- Gesetz ist
adäquate Pflegeabsicherung zu sein. Das gewollt zu sein.
ein Stückwerk, und gewachsene Strukturen in der
Pflegeinfrastruktur sind gefährdet. Doch damit nicht genug. Mit der Pflegeversiche-
rung sollen anscheinend behinderte Menschen von
Die eigentlich Betroffenen werden unzureichend
ihrem Arbeitsplatz, so sie überhaupt noch einen ha-
in die Entscheidungen einbezogen. Das betrifft ins-
ben, vertrieben werden. Oder wie soll man sonst das
besondere die mangelnde Berücksichtigung des
Schreiben vom November 1994 vom Bundesministe-
Selbstbestimmungsrechts jüngerer Behinderter.
rium für Arbeit und Sozialordnung interpretieren?
Trotz oder gerade wegen unserer grundsätzlichen Darin heißt es:
Kritik am Pflegeversicherungsmodell unterstützt die
Soweit der Personenkreis voll berufstätig ist, sind
PDS den Versuch der Bündnisgrünen, einige beson-
zumindest Zweifel am Hilfebedarf im Sinne des
ders gravierende Mängel des Gesetzes im Sinne der
Pflegeversicherungsgesetzes angebracht.
Betroffenen auszuräumen. Aus den vielen nicht oder
ungenau geregelten Fragen möchte ich vor allem die Ich denke, das ist sehr beschämend, gerade auch an-
ungenaue Abgrenzung der Leistungen der Einglie- gesichts der mehr als 180 000 arbeitslos gemeldeten
derungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz von Schwerbehinderten.
den Leistungen nach dem Pflege-Versicherungsge-
setz herausgreifen. Manche behaupten kühn, daß (Julius Louven [CDU/CSU]: Das ist doch
der Gesetzgeber schlampig, gewissermaßen unter Quatsch, was Sie da erzählen!)
Zeitdruck gearbeitet habe und dieses Manko über-
sah. Doch augenscheinlich hat das die Regierung be- - Das ist kein Quatsch. Wir haben im Ausschuß ge
absichtigt: Das gesamte historisch gewachsene und stern erst die Zahlen gehört.
erkämpfte Hilfesystem, insbesondere zur Sicherung
Die überall auftretenden Unsicherheiten im Zu-
eines selbständigen und selbstbestimmten Lebens
sammenhang mit der Pflegeversicherung - wir und
behinderter Menschen,
sicher auch Sie erhalten täglich Anrufe und Briefe -
(Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat Ihnen wären bei klareren Aussagen der Bundesregierung
das aufgeschrieben?) vermeidbar. Auch die notwendigen Verordnungen
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1469
Petra Bläss
sind entweder zu spät oder noch gar nicht vorhan- stammt aus dem Dezember des vergangenen Jahres,
den. bevor das Pflegegesetz in Kraft getreten ist und die
Leistungen gezahlt wurden.
(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Die PDS hätte das
alles besser hinbekommen!) (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Hellseherisch!)
Hinzu kommt, daß derzeit niemand konkret weiß, Das Schiff wird also zur Reparatur gebracht, noch
wie die Leistungen dieser Versicherung ab 1. April ehe es vom Stapel läuft.
an alle Hilfebedürftigen erbracht werden sollen. Seit
Januar 1995 sollen von 500 000 Anträgen 125 000 be- Nun könnte das noch Sinn machen, wenn Ihre Än-
arbeitet worden sein. Und täglich werden neue An- derungsanträge sich auf Punkte bezögen, die das
träge gestellt. Gesetz nicht geregelt oder ersichtlich falsch geregelt
hätte. Das ist aber, wie ich gleich erklären werde,
Nach Auffassung von Vertreterinnen des Medizini- nicht der Fall. Ihre Absicht wird daher zutreffender
schen Dienstes der Spitzenverbände der Kranken- weise nicht im Versuch liegen, das Pflegegesetz zu
kassen wird bis zum 1. April nur ein Teil der Begut- ändern, sondern lediglich darin, die Diskussion neu
achtungsaufträge erledigt sein. Es ist also fast sicher, zu entfachen.
daß nicht alle Menschen, die auf Hilfe und Pflege an-
gewiesen sind, die ihnen zustehenden Leistungen Es ist ein Jammer, daß wir im Gesetzgebungsver-
auch zum 1. April erhalten werden. fahren kein Institut wie die Rechtskraft eines Urteils
oder die Erschwernisse wie bei der Wiederaufnahme
(Julius Louven [CDU/CSU]: Die hätten doch eines Verfahrens kennen. Es gibt keinen Schutz vor
die Anträge früher stellen können!) solchen Anträgen und der Ermüdung, die ihre Be-
- So zeitig war das Gesetz nun auch nicht da, Herr handlung verursacht.
Kollege Louven. Sie wollen das Ruhen der Leistungen der Pflege-
(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Na, na!) versicherung bei Auslandsaufenthalten aufheben.
Für das Ruhen bei Auslandsaufenthalten - so kann
Die PDS wird, ausgehend von Hinweisen und Stel- man in Ihrem Entwurf nachlesen - gebe es keinen
lungnahmen sowie Protesten der Behinderten- und sachlichen Grund, und Art. 2 Grundgesetz wird her-
Betroffenenverbände, eigene Novellierungsvor- angezogen.
schläge einbringen. Sie betreffen insbesondere die
Aufnahme der Leistung Kommunikation in den Lei- Sie wissen ganz genau, daß die Reisefreiheit der
stungskatalog der Pflegeversicherung, die Aufwer- Pflegebedürftigen nicht eingeschränkt wird. Eine
tung von Prävention und Rehabilitation in der Pflege Auslandsreise des pflegebedürftigen Menschen al-
sowie die reale Gleichstellung der familiären, häusli- lein oder mit seiner Pflegeperson ist durch die Vor-
chen Pflege mit der Fremd- bzw. professionellen schrift nicht ausgeschlossen, wenn es sich um eine
Hilfe. Auslandsreise von üblicher Dauer, d. h. 6 Wochen
pro Kalenderjahr, oder einen kurzfristigen Auslands-
Nach wie vor halten wir jedoch eine steuerfinan- aufenthalt handelt. Zwar können in diesen Fällen im
zierte Lösung des Dauerbrenners Pflegeabsicherung Ausland keine Pflegesachleistungen erbracht wer-
für die gerechteste und beste Lösung.- Nur bei einer den, die Gewährung von Pflegegeld ist aber auch für
steuerfinanzierten Lösung werden Einkommen und diesen Zeitraum möglich. Es ist sichergestellt, daß
Vermögen aller Bürgerinnen und Bürger angemes- die Pflegekassen auch in diesem Sinne in der Praxis
sen in die Finanzierung einbezogen. Das wäre dann verfahren werden. Eine Änderung des § 34 Abs. 1
im Ansatz wirklich solidarisch. Nr. 1 SGB XI ist daher im Moment nicht angezeigt.
(Beifall bei Abgeordneten der PDS) Für das Ruhen bei Auslandsaufenthalt gibt es gute
Gründe: Auch bei der umlagefinanzierten Pflegever-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Frau Kollegin,
- sicherung muß es bei dem Grundsatz bleiben, daß
Sie müssen zum Schluß kommen. Sachleistungen nicht exportiert werden können. Pfle-
geleistungen im Ausland können nur dann erbracht
Petra Bläss (PDS): Noch einen Satz: Wir werden werden, wenn in dem jeweiligen Land eine gleich-
nicht lockerlassen, schrittweise eine bedarfsdek- wertige Versicherung besteht. Das ist derzeit allen-
kende, die Selbstbestimmung und Eigenverantwor- falls in Holland möglich. Pflegesachleistungen nach
tung der Betroffenen stärkende Regelung einzufor- dem Pflege-Versicherungsgesetz können ohnehin
dern. nur im Inland von entsprechenden Vertragspartnern
der Pflegekassen erbracht werden. Nur hier gibt es
(Beifall bei der PDS - Julius Louven [CDU/ die notwendige Qualitätskontrolle. Ebensowenig ist
CSU]: Donnerwetter! Wir kriegen es mit der die für die Anspruchsbegründung notwendige Kon-
Angst zu tun!) trolle der Pflegebedürftigkeit durch den medizini-
schen Dienst gewährleistet.
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat
-
Meine Damen und Herren, diese Punkte sind in
jetzt die Kollegin Dr. Gisela Babel. Ausschußsitzungen diverse Male sehr eingehend be-
raten und bewußt so entschieden worden. Sie wol-
Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Da- len, daß Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI auch
men und Herren! Der Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/ durch eigene Pflegebetriebe der Pflegebedürftigen
DIE GRÜNEN, über den wir heute diskutieren, erbracht werden können. Das wäre nun wirklich eine
1470 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dr. Gisela Babel


Systemänderung. Damit würde die Trennwand zwi- bleiben muß. Bei jeder Novelle und bei jedem neuen
schen Pflegegeld und Pflegesachleistungen aufgeho- Gesetz bestehen enorme Anfangsschwierigkeiten.
ben werden. Es könnte sich ja jeder Pflegebedürftige Alle sind sich einig im Jammern. Wir waren uns aber
selbst zu einem Pflegebetrieb ernennen und dann alle darüber einig, daß es eine große Leistung dieses
statt der Geldleistung, die wir ja aus gutem Grund Gesetzes ist, den Familien die Möglichkeit der Inan-
begrenzt haben, eine Pflegesachleistung beanspru- spruchnahme eines ambulanten Pflegedienstes zu
chen. Das wäre eine völlige Umkrempelung in dieser geben.
Frage und insofern in unseren Augen kein Weg.
Daher finde ich den Appell von Norbert Blüm be-
Wir haben die Möglichkeit der Inanspruchnahme rechtigt, der uns ans Herz gelegt hat, dafür zu wer-
von Pflegegeld. Beim Pflegegeld ist der Behinderte ben und darauf zu vertrauen. Jeder bekommt ab Ja-
durchaus ein Arbeitgeber, nämlich dann, wenn er ei- nuar einen halben Prozentpunkt von seinen Bezügen
nen Vertrag abschließt und entsprechende Leistun- abgezogen.
gen dafür bekommt. Das ist mit Absicht so erfolgt. (Zuruf von der SPD)
Ich sage Ihnen: Aber die Gruppe der Personen, die Jeder zahlt von dem von ihm erworbenen Geld in die
Ihnen hier vorschwebt, nämlich die Behinderten, Pflegekasse, um dies zu finanzieren. Die Erwerbstäti-
wird im Grunde weder durch die Sachleistung - gen verdienen für ihre Leistung Respekt. Wir sollten
2 800 DM im Schwerstfall - noch durch das Pflege- nicht ständig rummäkeln und sagen, daß dies zuwe-
geld hinlänglich finanziert. Es handelt sich hier um nig und nicht angemessen sei. Vielmehr sollten wir
einen völlig anderen Tatbestand. feststellen, daß es richtig ist, daß die Pflegekasse jetzt
in die Lage versetzt wird, diese durchgreifenden am-
Wir wissen, daß es Fälle gibt, in denen 20 000 DM bulanten Hilfen zu leisten.
im Monat notwendig sind, um die nötige Finanzie-
rung sicherzustellen. Dieses hat die Pflegeversiche- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
rung nie ganz finanzieren können noch wollen, son-
dern wir haben hier ganz bewußt eine Begrenzung, Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort zu ei-
-

einen schmalen Korridor der Kostenübernahme vor- ner Kurzintervention hat der Kollege Gerd Andres.
gesehen. Dabei bleibt es. Das heißt aber nicht, daß
die Betroffenen nicht in der Weise Hilfe bekommen
können, wie die Finanzierung auch derzeit geregelt Gerd Andres (SPD): Meine sehr verehrten Damen
ist. und Herren! Der Bundesarbeitsminister hat mich in
seiner Rede aufgefordert, mit dem Wort Wortbruch
Ich finde, es ist ein gutes Zeichen für unseren So- vorsichtiger umzugehen. Er war dann so geschickt
zialstaat, wenn wir in einer Größenordnung von und schlitzohrig, es gleich der Hessischen Landesre-
20 000 DM Hilfe finanzieren. An dieser Stelle könnte gierung anzuhängen.
man ruhig einmal sagen: Anerkennung für den So-
zialstaat Deutschland. Ich habe von mehreren Wortbrüchen gesprochen
und werde diese begründen und ausdrücklich wie-
Als dritten Punkt, meine Damen und Herren, wol- derholen. Ich halte es für einen Wortbruch, daß die
len Sie, daß wir von der Vorstellung abgehen, daß Landesregierung von Sachsen entgegen den Zusa-
eine solche ambulante Pflegedienstleistung eine aus- gen in der Ministerpräsidentenrunde den Arbeitge-
gebildete Pflegekraft als Leitung bekommt. Ich finde beranteil nicht wie die anderen Länder kompensiert,
es vernünftig und richtig, daß wir bei dein Grundsatz sondern den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
bleiben: Die Leitung einer solchen Pflegedienstein- den vollen Beitrag aufbürdet.
richtung sollte bei einer ausgebildeten Pflegekraft
liegen. Das sollte die Regel sein. Ich halte es auch für (Beifall bei der SPD)
richtig, daß wir dies jetzt so starten. Ich halte es für einen Wortbruch, daß die Bundesre-
Aber ich könnte mir denken, daß wir bei der Frage gierung bei der Anpassung der Beihilferichtlinien
der Leitung unter Umständen Ausnahmen oder an- Zeitsätze aufgeschrieben hat, während sie für die So-
dere Entscheidungen treffen könnten, wenn Erfah- zialversicherungspflichtigen die Sätze an Geldbeträ-
rungen mit Kräften vorliegen, die zwar ebenfalls päd- gen festgemacht hat. Dies halte ich für einen Wort-
agogische Hilfe anbieten, die wir aber nicht finanzie- bruch, wenn vorher gesagt wurde, daß beide gleich-
ren. Wir werden vielleicht über diese Frage noch ein- behandelt werden sollten. Daran ändert sich auch
mal sachliche Diskussionen im Ausschuß führen kön- nichts, Herr Bundesarbeitsminister, wenn Sie sagen,
nen. Da könnte ich mir flexible Entscheidungen zu- dies begründe sich auf Grund des Verhältnisses zu
mindest vorstellen. den alten Beihilferichtlinien. Dies hat damit über-
haupt nichts zu tun. Dies ist ein Wortbruch.
Wichtig ist, festzuhalten, daß es uns bei den Be-
stimmungen darum ging, bezüglich der Sachleistun- Ich halte es für einen Wortbruch, Herr Bundesar-
gen eine qualitätsvolle und von ausgebildeten Kräf- beitsminister, daß Sie die Verrichtungszeiten in Ih-
ten geleistete Pflege zu gewährleisten. Dies wollen rem Richtlinienentwurf auf 90 Minuten festgelegt ha-
wir auch neben Geldleistungen, mit denen wir eine ben. Mir ist so klar wie Ihnen - danach brauchen Sie
nicht zu fragen -, daß die 60 bzw. 90 Minuten nicht
Laienhilfe honorieren können, beibehalten.
im Gesetz stehen. Aber wir sind in der gesamten
Zum Schluß möchte ich noch sagen: Die Pflegever- Pflegedebatte, in der gesamten Diskussion über den
sicherung stand möglicherweise zu Beginn unter kei- Gesetzentwurf immer von einer Einheit von
nem guten Stern, was jedoch nicht heißt, daß dies so 60 Minuten ausgegangen.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1471
Gerd Andres
Vielleicht haben wir bei nächsten Debatten noch Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und
Gelegenheit, über das eine oder andere zu reden. Ihr Sozialordnung: Nein, wir machen ja hier kein Ver-
Problem ist jetzt, daß Sie Angst haben, daß der ge- wirrspiel. Erst wird der Kollege Andres richtigge-
setzlich vorgesehene Rahmen durch die Beitragsein- stellt.
nahmen nicht finanziert werden kann. Ihre Begrün-
dung lautete: Wir führen dies jetzt erst einmal so ein, Weiterhin stelle ich fest, daß der Kollege Andres
und wenn es besser läuft, können wir es nachbes- zugeben mußte, daß an keiner Stelle im Gesetz
sern. Der Punkt ist, daß in der öffentlichen Debatte „60 Minuten" stand, sondern daß lediglich im Rah-
von etwas anderem ausgegangen worden ist. men der Richtlinie über die Alternative 60 oder
90 Minuten diskutiert wurde. Seit wann ist eine Dis-
Ich füge hinzu, Herr Bundesarbeitsminister, daß kussion ein Wortbruch?
wir möglicherweise in anderem Zusammenhang
noch einmal auf die Wortwahl zurückkommen, näm- Weder findet sich im Gesetz das Verbot für die
lich wenn man die eine oder andere Frage, die man Sachsen, so zu handeln, wie sie handeln, noch befin-
so hört, aufgreift oder weitere Beratungen zu mögli- det sich im Gesetz eine Angabe von 60 Minuten. Ich
chen Pflegestufen la, I b, I c oder II a usw. durchführt. stelle fest, daß der Vorwurf „Wortbruch" ein großer
Rohrkrepierer des Kollegen Andres war. Insofern hat.
(Beifall bei der SPD) sich die Debatte jetzt schon gelohnt.

Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Bundesmi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
-

nister.
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat
-

Dr. Norbert Blüm , Bundesminister für Arbeit und jetzt die Kollegin Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU-Frak-
Sozialordnung: Ich bedanke mich für den Beitrag des tion).
Kollegen Andres, denn er konnte an keiner einzigen
Stelle seinen schweren Vorwurf beweisen.
Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Herr Präsident!
Was Sachsen macht, ist nach dem Gesetz aus- Meine Damen und Herren! Herr Kollege Andres,
drücklich als Alternative möglich Hartnäckigkeit macht Äußerungen nicht besser und
auch nicht wahrer; das haben Sie eben erfahren.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich denke auch, daß hier zu Verunsicherungen bei-
Etwas ganz anderes ist, wie ich dies bewerte. Die-
getragen wird - was Sie deutlich getan haben -,
ses Gesetz ist nicht allein von der CDU/CSU, son-
wenn falsche Hoffnungen genährt werden und wenn
dern auch mit der Stimme des Kollegen Andres be-
in vieler Weise unbegründete Erwartungen zusätz-
schlossen worden. Wenn er diese Alternative hätte
lich gestützt werden.
ablehnen wollen, hätte er gegen das Gesetz stimmen
müssen. (Zuruf von der SPD: Wer hat das denn ge
Zweiter Punkt: Es sind bei der ambulanten Pflege macht?)
-
nicht Beträge, sondern es sind Zeitansätze festge- Das trägt nicht dazu bei, daß wir zu einer wirklich
setzt worden. Die Zeitansätze stimmen ungefähr mit stetigen und von der Bevölkerung angenommenen
den heutigen Beträgen der Pflegeversicherung über- Umsetzung der Pflegeversicherung kommen.
ein. Im übrigen werden Verträge abgeschlossen, wo-
bei diese Verträge auch den Geldfaktor im Griff ha- (Beifall bei der CDU/CSU)
ben.
.Jetzt kommt es darauf an, daß wir alle Kräfte bün-
Aus diesem relativ minimalen Unterschied Wort- deln, um die Pflegeversicherung umzusetzen.
bruch herzuleiten - -
(Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Richtig!)
(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Minimal?
Das sind zehn Einsätze mehr im Monat!) Wenn wir den Skeptikern und den ewigen Beden-
kenträgern gefolgt wären, dann hätten wir heute
- Das ist ein minimaler Unterschied, wenn ich be-
noch keine Pflegeversicherung. Deshalb müssen wir
denke, daß für die Beamten bisher 5 400 DM für die
wirklich voranschreiten.
ambulante Pflege beihilfefähig sind und daß die
Geldleistung in der ersten Stufe jetzt im Extremfall Ich halte es für grundfalsch, liebe Frau Kollegin Fi-
auf 400 DM heruntergeht. scher, wenn wir jetzt mitten in der ersten Umset-
Wenn Sie bestreiten, daß das eine gewaltige An- zungsphase Änderungen an der Pflegeversicherung
passung ist, und wenn Sie das als Wortbruch be- vornehmen.
zeichnen, dann sind Sie wirklich sehr großzügig mit
(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Da war
dem Aussprechen von Beleidigungen.
die F.D.P. schuld an dem langen Gemäkel!)
(Abg. Frank Hofmann [Volkach] [SPD) mel
det sich zu einer Zwischenfrage) Es kann kein Prinzip von Politik sein, jeden Tag mit
einer neuen Überraschung und mit einem neuen An-
liegen aufzuwarten. Gerade in dieser ersten Phase
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Minister,
- der Pflegeversicherung ist es wichtig, daß wir dem
gestatten Sie eine Zwischenfrage? Grundsatz der Verläßlichkeit und der Kontinuität fol-
1472 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dr. Maria Böhmer


gen. Denn wie sollte sonst vor Ort wirklich geplant Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zu der
werden? derzeitigen Umsetzung in den Ländern. Hier müssen
(Beifall bei der CDU/CSU) wir in der Tat große Sorge haben. Der Bundesarbeits-
minister hat soeben darauf hingewiesen, daß Hessen
Wir sollten uns in der heutigen Debatte nicht nur seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Ich muß
mit den Vorschlägen auseinandersetzen, die vom leider feststellen, daß Hessen kein Einzelfall ist.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aufgebracht worden
(Zuruf von der SPD: Woher nehmen Sie das
sind; denn sie stellen keine tragfähige Alternative zu
denn? - Weitere Zurufe von der SPD)
den im Gesetz vorgesehen Regelungen dar. Das ist
mehrfach erläutert worden, und ich will die Erläute- In Rheinland-Pfalz haben wir die Situation,
rungen nicht wiederholen. Wir werden auch im Aus-
schuß noch einmal darüber sprechen. (Zuruf von der SPD: Sagen Sie mal was zu
Ihrem Stall!)
Ich glaube, es hat sich sowohl in Ihr Gedächtnis daß die SPD-geführte Landesregierung erst jetzt ei-
eingeprägt, daß Urlaubsaufenthalte möglich sind, als nen Gesetzentwurf vorgelegt hat, den sie im Schnell-
auch, daß das Arbeitgebermodell sehr wohl von den gang durch das Parlament peitschen will. Dieser Ge-
Sozialhilfeträgern finanziert wird. setzentwurf ähnelt sehr dem hessischen Gesetz;
denn einerseits weckt er Hoffnungen, und auf der
Ich möchte jetzt einige andere Punkte aus der Um-
setzungsphase aufgreifen, die mir sehr wichtig er- anderen Seite werden Versprechungen nicht erfüllt.
scheinen: Es wurde eben Kritik daran geübt, daß erst Das bedeutet, daß - genau wie im hessischen Gesetz -
ein Finanzierungsvorbehalt besteht. Das schafft in
125 000 Anträge bearbeitet worden seien. Ich halte
das für eine stolze Zahl, zu der wir inzwischen ge- der Tat die eigentliche Unsicherheit bei der Umset-
zung des Pflegeversicherungsgesetzes.
kommen sind. Das bedeutet für viele, die ab 1. April
Leistungen erwarten dürfen, eine große Sicherheit. (Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der
SPD: Das betrifft aber alle Länder!)
Ich möchte all denjenigen danken, die sich derzeit
vor Ort mit aller Kraft dafür einsetzen und tagtäglich - Dann schauen Sie doch einmal nach Bayern. Da
Aufklärungsarbeit leisten, auch denen, die bei den werden Sie deutliche Unterschiede sehen. Ein Blick
Pflegekassen harte Arbeit leisten, damit die Men- in Gesetzentwürfe hilft manchmal. Etwas so pauschal
schen ab 1. April ihre Leistungen erhalten. zu sagen führt in keiner Weise weiter.

(Beifall bei der CDU/CSU) Es zeichnet sich darüber hinaus ab - das sage ich
auch vor dem Hintergrund des Gesetzentwurfes in
Es scheint mir aber auch wichtig, eines noch ein- Rheinland-Pfalz -, daß versucht wird, die bewährte
mal in den Blick zu rücken: Aufgrund der zahlrei- Struktur der Sozialstationen in diesem Land auszu-
chen Gespräche mit den Betroffenen - so geht es si- hebeln. Heiner Geißler hat die Sozialstationen dort
cherlich vielen von uns - merken wir, daß nach wie vor Jahren eingeführt. Viele andere sind diesem Bei-
vor Schwierigkeiten bestehen, wenn es um die Ab- spiel gefolgt. Der Gesetzentwurf für Rheinland-Pfalz
grenzung geht: Was bedeutet Eingliederungshilfe, sieht die Schaffung sogenannter ambulanter Hilfe-
und was bedeutet eigentlich Abdeckung des Pflege- zentren vor. Im Hinblick auf die Finanzierung ist
risikos? Ich denke, wir müssen hier sehr deutlich an auch an der Stelle nur eine Nullinie zu erwarten. So
den Kriterien festhalten, die im Gesetz genannt sind. kommen wir mit Sicherheit nicht weiter. Die Länder
Wir müssen an den klaren Abgrenzungen der Ein- müssen an dieser Stelle endlich ihre Pflicht erfüllen.
gliederungshilfen festhalten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Natürlich kann es bei Behinderten zu einem Ne- Meine Damen und Herren, bei einem so komple-
beneinander der Leistungen der Eingliederungshilfe xen Gesetz wie dem über die Pflegeversicherung
und der Pflegeversicherung kommen. Das wider- versteht es sich von selbst, daß nicht jedes Detail im
spricht sich aber nicht. Sie wissen aber genausogut voraus perfekt durchgeplant werden kann. Aber so-
wie ich, daß nicht jeder Behinderte zugleich auch fort von Veränderungen zu sprechen - das betone ich
pflegebedürftig ist; denn derzeit gibt es in unserem noch einmal -, halte ich für falsch. Ich halte es aller-
Land 6,5 Millionen Menschen mit einer Behinderung dings für notwendig, daß wir uns, wenn wir einige
von mindestens 50 %, aber nur 1,6 Millionen Perso- Erfahrung gesammelt haben, dann zusammensetzen,
nen sind erheblich, schwer- oder schwerstpflegebe- wenn wir merken, daß es sich hier nicht nur um Ein-
dürftig. Das macht doch deutlich, daß die Fälle nicht zelfälle handelt, sondern daß es auch ein Stück weit
immer deckungsgleich sind und daß allein schon von an bestimmten Strukturen liegt. Dann müssen wir
daher ein differenziertes Vorgehen notwendig ist. sehr gründlich darüber sprechen, ob einzelne Rege-
lungen noch einmal zu überprüfen sind und ob mög-
Ein differenziertes Vorgehen ist aber auf Grund licherweise eine bessere Regelung gefunden werden
der Unterschiede bei den Leistungen und auf Grund kann. Wir sollten aber jetzt wirklich alle Kraft daran
der unterschiedlichen Träger notwendig. Eine klare setzen, denjenigen, die ab 1. April die entsprechen-
Abgrenzung ist im Interesse der Pflegeversicherung, den Leistungen erwarten dürfen, mit der Umsetzung
vor allem aber im Interesse der Pflegebedürftigen nö- des Pflegeversicherungsgesetzes zu helfen und zü-
tig, wenn wir die Möglichkeiten für die Zukunft so gig voranzukommen.
erhalten wollen, wie sie im Gesetz festgelegt worden
sind. (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1473

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die nister oder das Bundesarbeitsministerium in aller Re-
Kollegin Ulrike Mascher. gel eine restriktive Auslegung der Pflegeversiche-
rung verfolgt. Das geht dann zu Lasten der Betroffe-
Ulrike Mascher (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- nen.
ginnen! Liebe Kollegen! Ich habe ein bißchen ge- (Beifall bei der SPD und der PDS - Gerd
schmunzelt, als der begnadete Demagoge Norbert Andres [SPD]: Deshalb auch die 90 Minuten,
Blüm einen anderen Kollegen einen Demagogen ge- Herr Minister!)
scholten hat. Das ist in diesem Fall vielleicht eine
hohe Anerkennung. Ich vermute, dahinter steckt der Versuch, den Fi-
nanzbedarf im Rahmen der Deckelung der Pflegever-
Ich habe mich auch ein wenig gewundert, als hier sicherung zu halten. Angesichts der Horrorberichte
aus dem hessischen Gesetz zitiert worden ist. Mir über mögliche Kostenentwicklungen ist dieses Be-
liegt der Gesetzentwurf aus Bayern vor. Auch hier mühen ja vielleicht durchaus ehrenwert, solange -
heißt es: Der Staat beteiligt sich nach Maßgabe der ich sage ausdrücklich: solange - es nicht dazu führt,
im Staatshaushalt bereitgestellten Mittel an der Fi- daß Pflegebedürftige, für die die Pflegeversicherung
nanzierung usw. eigentlich einmal gedacht war, von Leistungen aus-
(Zuruf von der SPD) gegrenzt werden.

Auch hier ist es so, daß es diese Einschränkungen (Beifall bei der SPD und der PDS)
gibt. Leider gibt es nicht mehr so sehr viele CDU/ Ich gestehe dem Bundesarbeitsminister durchaus
CSU-regierte Länder, so daß es nicht so viele Bei- zu, daß his zum 1. April eine Reihe von Abstimmun-
spiele gibt. Es gibt mehr sozialdemokratisch regierte gen, Interpretationen und notwendigen Abgrenzun-
Länder. gen, z. B. zur Sozialhilfe, zur Krankenversicherung,
(Karl Josef Laumann [CDU/CSU]: Das wird zur Eingliederungshilfe, auch noch zugunsten der
sich Sonntagabend ändern!) Betroffenen erfolgen werden. Hätte ich diese Erwar-
tung nicht, hätte die SPD diese Erwartung nicht, so
Ich glaube, sie sind sich alle einig, daß sie knappe würde heute nicht nur ein Antrag der GRÜNEN mit
Kassen haben. drei klärungsbedürftigen Punkten vorliegen, son-
(Karl Josef Laumann [CDU/CSU]: Das wird dern ein sehr viel längerer Katalog von Fragen. Aber
sich Sonntagabend ändern!) wir werden sehr genau prüfen, ob der Arbeitsmini-
ster, das Arbeitsministerium, unseren Erwartungen
Ich denke, daß wir nach der schwierigen Mehr- nachkommt.
heitsfindung für eine gesetzliche Pflegeversicherung
und nach dem Hin und Her um die Kompensations- Der vorliegende Antrag der GRÜNEN betrifft eine
leistung für die Arbeitgeber jetzt darangehen sollten, Gruppe von Behinderten, die trotz einer oft erhebli-
darauf zu achten, wie das Gesetz umgesetzt wird. chen Behinderung mit großen Anstrengungen ein
Werden die Erwartungen, auch die Erwartungen, die selbstbestimmtes Leben erreicht haben. Sie sind teil-
durch die schönen, bunten Broschüren des Bundes- weise
- berufstätig, haben aber einen großen Hilfe
arbeitsministers besonders hoch gestimmt - sind, der oder Assistenzbedarf. Ich denke, es wäre für die Poli-
Pflegebedürftigen erfüllt? Gibt es wirklich eine Ver- tik beschämend, wenn es nicht gelänge, ihre Lebens-
besserung, eine Erleichterung der Lebenslage Pfle- form, ihre hart erkämpfte Selbstbestimmung auch
gebedürftiger und ihrer Angehörigen? mit den Regelungen der Pflegeversicherung in Ein-
klang zu bringen.
Ich verfolge mit Sorge die widersprüchlichen Mel-
dungen in der Presse. Einmal kritisiert der Minister (Beifall bei der SPD, der PDS sowie bei Ab
die niedrige Ablehnungsquote bei der Festlegung geordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ
der Pflegestufen durch den Medizinischen Dienst in NEN)
der „Süddeutschen Zeitung" - vielleicht war es ja Deshalb sollten wir im Ausschuß sehr sorgfältig bera-
falsch -, um kurz darauf dem Medizinischen Dienst ten, um eine Lösung zu finden, falls dies im Rahmen
wieder sein Vertrauen auszusprechen. Was ist denn des Pflegeversicherungsgesetzes notwendig ist.
hier nur los? Aus vielen Gesprächen mit Wohlfahrts-
verbänden, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Erstens. Das Ruhen der Leistungen bei einem Aus-
ambulanten Einrichtungen, mit Betroffenen, mit Fa- landsaufenthalt darf sicher nicht dazu führen, daß
milienangehörigen von Betroffenen weiß ich - und pflege- oder betreuungsbedürftige Menschen per
ich denke, es geht allen Abgeordneten, die hier sit- Gesetz vom Urlaub im Ausland oder auch von einem
zen, nicht anders -, daß es eine ganz große Unsicher berufsbedingten Auslandsaufenthalt ausgeschlossen
heit gibt, werden. In der Praxis scheint schon eine Regelung
gefunden worden zu sein. Ich wünsche mir aber, daß
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Betroffenen das, was sie angeht, im Gesetz fin-
wie die bisher gewachsenen Strukturen in die neue den, nicht erst in Ausführungsbestimmungen.
Systematik der Pflegeversicherung eingebaut wer-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie
den können. Und wenn frau sich dann als pflichtbe-
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wußte Abgeordnete aufmacht und versucht, die Fra-
gen zu klären, dann stelle ich fest: Es gibt einfach Zweitens. Es gibt eine Reihe von ambulanten Pfle-
noch viele ungeklärte Abgrenzungsprobleme. Ich gediensten, die im Rahmen der individuellen
habe leider den Eindruck, daß der Bundesarbeitsmi Schwerbehindertenbetreuung ganz spezielle, nicht
1474 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Ulrike Mascher
nur fachpflegerische Dienste im engen Kontakt mit Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt auf-
Betroffenen aufgebaut haben. Ich erwarte, daß diese rufe, geht es darum, eine Korrektur vorzunehmen.
spezifischen Angebote nicht in einem Abstimmungs- Bei der Wahl der vom Deutschen Bundestag zu ent-
marathon zwischen den Spitzenverbänden der Kran- sendenden Mitglieder des Parlamentarischen Beirats
kenkassen und den kommunalen Spitzenverbänden, der Stiftung für das sorbische Volk, Drucksache 13/
aber auch zwischen dem Bundesarbeits- und dem 569, sind irrtümlich der Abgeordnete Gottfried
Bundesgesundheitsminister durch den Rost fallen. Haschke (Großhennersdorf) als ordentliches Mitglied
und der Abgeordnete Ulrich Klinkert als stellvertre-
Drittens. Es geht auch darum, eine Möglichkeit zu
tendes Mitglied benannt worden. Die Fraktion der
finden, die am spezifischen Hilfebedarf von Pflege-
CDU/CSU teilt uns mit, daß es richtig heißen muß:
bedürftigen ausgerichtete besondere Organisations-
Abgeordneter Ulrich Klinkert als ordentliches Mit-
form, bei der Pflegebedürftige als Arbeitgeber ihrer
glied, Abgeordneter Gottfried Haschke als stellver-
Pflegekräfte auftreten, die diese Pflege nicht als An-
tretendes Mitglied.
gehörige, sondern als Erwerbstätige leisten, nicht zu
zerschlagen. Sie hat sich in vielen Fällen bewährt. Ich gehe davon aus, daß es sich um eine schlichte
Ich hoffe auf eine Klärung, eine Abgrenzung, eine Richtigstellung handelt. Darf ich davon ausgehen,
verbindliche Regelung darüber, was die Sozialhilfe, daß auch Sie das so sehen? -
die Pflegeversicherung, die Krankenversicherung,
die Krankenkassen leisten. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Aber die Geschäftsordnung sieht das nicht
Im Moment besteht natürlich die Gefahr, daß so-
vor!)
wohl die Sozialhilfeträger wie auch die Pflege- und
Krankenkassen versuchen, die Lasten auf den je- Ich höre keinen Widerspruch. Dann haben wir das so
weils anderen abzuschieben. Ich ganz persönlich beschlossen.
kann es nicht ertragen, wenn die Pflegebedürftigen
hier auf Prozesse verwiesen werden, indem ihnen (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
gesagt wird: Klagt erst einmal! Ich glaube nicht, daß die Geschäftsordnung
das vorsieht!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN -- Peter Dreßen [SPD] zu der - Das läßt sie zu. Mit gutem Willen ist fast alles mög-
CDU/CSU und der F.D.P. gewandt: Da soll lich,
ten Sie mitklatschen! Das ist doch etwas,
was wir alle nicht wollen!)
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 7 auf:
Ich hoffe sehr, daß die von uns gemeinsam müh-
sam genug und mit schmerzlichen Einbußen er- Beratung des Antrags der Fraktionen der
reichte gesetzliche Absicherung des Pflegerisikos CDU/CSU und F.D.P.
nicht zu einer Dampfwalze wird, die einzelnen Grup-
pen ihre mühevoll aufgebauten Versorgungsstruktu- Situation des deutschen Hotel- und Gaststät-
ren zerstört. tengewerbes
-
Ich bin gern bereit, um Vertrauen für die Pflegever- - Drucksache 13/541 —
sicherung zu werben. Dann aber müßte ich das Ver-
Überweisungsvorschlag:
trauen haben, daß Regelungen vor allen Dingen mit
Blick auf die Betroffenen, nicht mit Blick auf die fi- Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus (federfüh-
nanzielle Situation, gefunden werden. So wichtig die rend)
Finanzausschuß
Finanzen sind: Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Aha!) Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Bei der Pflegeversicherung geht es um die Pflegebe- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die
dürftigen und deren Angehörige, die in einer ganz Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe kei-
schwierigen Lage sind und die wir als erste berück- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
sichtigen sollten.
Danke. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kolle-
gen Dr. Rolf Olderog, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
PDS) Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir erle-
ben heute dank unse re s Antrages eine Premiere. Oft
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Die Aussprache
-
hat der Bundestag über Landwirtschaft, über Kohle,
ist damit geschlossen.
Stahl und Autoproduktion debattiert, aber noch nie
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Ge- speziell über das Hotel- und Gaststättenwesen. Wir
setzentwurfs auf Drucksache 13/99 an die in der Ta- halten es daher für geboten, daß der Bundestag jetzt
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es auch einmal die großen Leistungen und die vielen
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der tüchtigen Persönlichkeiten des Gastgewerbes ange-
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. messen würdigt und daß endlich auch dessen Pro-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1475
Dr. Rolf Olderog
bleme und dessen Perspektiven auf die Tagesord- lem zu einem positiven Bild von Deutschland und
nung des Parlaments kommen. den Deutschen in der Welt bei.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Richtig! Das war Das gilt es auszubauen!)
höchste Zeit!) Anerkennung verdient das Gastgewerbe auch für
Die Zahlen für die wirtschaftliche Bedeutung des seinen Beitrag zum Aufbau Ost. Das Gewerbe hat
Gewerbes sind eindrucksvoll: Umsatz: 100 Milliarden nicht nur mit überdurchschnittlichem Erfolg dazu
DM, Beschäftigte: 1 Million, Auszubildende: 61 000, beigetragen; das Wirtschaftsministe rium hat es sogar
Anteil an der Wertschöpfung: 1,4 %. als „Hoffnungsträger" für den Aufbau Ost bezeich-
net.
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Beeindruk
Seit 1991 haben wir bei Gästen und Übernachtun-
kende Zahlen!)
gen zweistellige Zuwachsraten - ein hervorragendes
1 Million Beschäftigte - eine imponierende Zahl. Ergebnis. Hier präsentieren wir im Osten einen Wirt-
Das ist die Größenordnung der Automobilindustrie. schaftsbereich, in dem die Steuerzahlergelder nicht
Aber während dort die Arbeitsplätze wegrationali- verschwendet, sondern sinnvoll und erfolgreich ein-
siert oder exportiert werden und schon heute man- gesetzt wurden.
che davon reden, daß in Deutschland zukünftig nur Dann, wenn die meisten nach Feierabend sowie an
noch Blaupausenproduktion stattfinden soll, wach- Sonn- und Feiertagen ihre Freizeit genießen, noch
sen die Arbeitsplätze im Gastgewerbe, sind sie selbst für andere mit ganzem persönlichen Einsatz und
in schwierigen Zeiten vergleichsweise stabil und stets freundlich und hilfsbereit tätig zu sein, verdient
kaum durch Abwanderung bedroht. Anerkennung. Deswegen möchte ich im Namen mei-
Ich halte es für einen schweren Fehler, beim ner Fraktion den im Gastgewerbe Tätigen von Her-
Thema Arbeitsplätze nur über Industriepolitik zu re- zen danken.
den und nicht die großen Chancen im Dienstlei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
stungssektor zu sehen. Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Die F.D.P.
schließt sich an!)
Zentral ist der Beitrag des Gastgewerbes zu Le-
bensqualität und Lebensfreude. Reisen, Essen, Trin- Die mittelständische Branche hat eine Fülle von
ken und miteinander Fröhlichsein gehört natürlich Problemen. 85 % der Betriebe sind Klein- und Mittel-
dazu. betriebe mit fünf und weniger Beschäftigten. Von al-
len Seiten sieht sich das Gewerbe bedrängt und be-
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: droht, z. B. durch spezielle Steuern, drastische Ge-
Sehr richtig!) bührenerhöhungen, Schwarzgastronomie und desin-
Das Gastgewerbe bietet Orte des menschlichen Ge- teressierte Banken.
sprächs und Miteinanders, Orte, an denen Menschen (Horst Kubatschka [SPD]: Waigel, ran!)
einander kennenlernen und verstehenlernen.
- Dabei ist die finanzielle Situation der Betriebe alles
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Wie im Ple andere als rosig. Der Kollege Schmalz wird dazu
num!) sprechen.
Gasthäuser, Restaurants, Biergärten und auch Knei- Hinzu kommt: Das Gastgewerbe ist mit einem tief-
pen sind ebenso wie Hotels und Gasthöfe prägende greifenden Strukturwandel konfrontiert und sieht
Elemente deutscher Lebenskultur. sich auch international in hartem Wettbewerb. Sie
kennen die Zeichen des Strukturwandels: Fast food,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Systemgastronomie, Ketten, Franchising, neue Fi-
Susanne Kastner [SPD]: Sagen Sie doch mal nanzierungswege, kooperative Konzepte, um einige
was zum Antrag!) Stichworte zu nennen.
Im deutschen Gastgewerbe sind 180 000 ausländi- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Auch der DE
sche Arbeitnehmer und 56 000 ausländische Hote- HOGA-Präsident steht für Systemgastrono
liers und Gastwirte tätig. Ausländer helfen und stüt- mie!)
zen nicht nur das Gewerbe, nein, sie machen es auch
interessanter und vielfältiger, sie sind mit ihrer Arbeit Die Lebenskräfte dieses mittelständischen Gewerbes
und ihrer Kultur für unser Land und für uns alle in so zu stärken, daß es den großen Herausforderungen
Deutschland eine wirkliche Bereicherung. gewachsen bleibt, daß es nicht resigniert, sondern er-
mutigt wird, ist eine Aufgabe der Wirtschaftspolitik.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so
wie bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt]
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) [SPD])
Der Erhalt vieler selbständiger Existenzen ist für uns
Noch ein Letztes zur Bedeutung des Gastgewer- aber vor allem ein wichtiges Gebot der Gesellschafts-
bes: Gastlichkeit ist die Visitenkarte unseres Landes politik.
in aller Welt. Vielfalt, Gastfreundschaft und Toleranz
steigern nicht nur die Attraktivität des Reise- und Ur- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
laubslandes Deutschland, sondern sie tragen vor al- und der F.D.P.)
1476 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dr. Rolf Olderog


Meine Damen und Herren, der Deutsche Hotel- (Beifall bei der SPD - Dr. Olaf Feldmann
und Gaststättenverband hat ein gutes Beispiel für öf- [F.D.P.]: Das ist aber falsch! Sie sind so nett
fentliches Verantwortungsbewußtsein gegeben. Der und fangen so negativ an!)
Verband hat 40 ökologisch anspruchsvolle Kriterien
für den umweltfreundlichen Betrieb, eine Art Güte- Diese Vorgehensweise entspricht offensichtlich der
zeichen, entwickelt. Als Anwälte eines sanften Tou- nicht selten opportun selbstzufriedenen Eigenart der
rismus danken wir dem DEHOGA für diese Pionier- Regierungskoalition und hat sogar den Beige-
leistung auf dem Gebiet des Umweltschutzes. schmack fatalistischer Sofapolitik.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Heiterkeit und Beifall bei der SPD - Beifall
und der F.D.P.) bei Abgeordneten der PDS)

Die Bundesregierung hat in der Antwort auf un- Nicht nur die Tatsache, daß hier auf zwei Seiten ge-
sere Große Anfrage einen eindrucksvollen Überblick nau zehnmal von „weiterhin unterstützen", „fortset-
über das Gastgewerbe vorgelegt. Dafür, lieber Herr zen" und „Regelungen beibehalten" die Rede ist,
Solveen, Ihnen und Ihrer Mannschaft ein herzliches läßt das von dem Bürger im Land erwartete konstruk-
Dankeschön! tive politische Engagement sowie eine wirklich kriti-
sche Reflexion bisheriger Entscheidungen und Maß-
(Dr. Willfried Penner [SPD]: Dankenswerter nahmen vermissen.
weise!)
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Regie-
Von der Politik muß, lieber Willfried, jetzt etwas rungskoalition, es ist doch nicht so, als gäbe es kei-
Weiteres hinzukommen: Das Gastgewerbe muß spü- nen Handlungs- und Entscheidungsbedarf. Wie sieht
ren, daß die Politik ihm nach besten Kräften zur Seite denn bisher die Unterstützung mittelständischer und
steht. kleiner Betriebe in der Praxis aus? Wie steht es denn
um die tatsächlichen Möglichkeiten des Hotel- und
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Sehr richtig!) Gaststättengewerbes - vor allem in den neuen Bun-
desländern -, sich dem raschen Strukturwandel an-
Wenn die finanziellen Mittel des Staates knapp sind,
zupassen? Wie stellt sich denn die Situation des öf-
dann ist es um so wichtiger, dem Gewerbe Orientie-
fentlichen Personenverkehrs vor allem in ländlichen
rung, Perspektiven und Leitbilder zu bieten. Wir
Gebieten dar?
müssen den Unternehmern Mut machen, die Heraus-
forderungen der Zeit anzunehmen und zu neuen Zie- Entscheidende Schwachstellen der derzeitigen Si-
len zu streben. Betriebe und Unternehmer, die dies tuation, die angepackt werden müssen, sind z. B. fol-
tun, die mutig Risiken übernehmen und verantwor- gende:
tungsbewußt investieren, die dies im Interesse auch
ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tun und die Erstens. Die Förderung von Neugründungen und
dies auch tun, damit unsere Bürger abends und an weiteren Investitionen im Hotel- und Gaststättenge-
Sonn- und Feiertagen Dienstleistungen entgegen- werbe verläuft meist recht bürokratisch und in nicht
nehmen können, haben die Unterstützung durch die zufriedenstellendem Umfang. Das, was vor mehreren
Politik verdient. - Jahren investiert wurde, macht sich erst heute in ei-
ner gestärkten Position am Markt bemerkbar. Den-
Wir Tourismuspolitiker werden tun, was wir tun noch dämpfen die langwierigen Genehmigungsver-
können. fahren und die restriktive Vergabe von Krediten und
Fördermitteln die Investitionsplanungen.
Herzlichen Dank.
(Susanne Kastner [SPD]: Die weiß, was sie
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so redet! - Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Wo sie
wie des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt] recht hat, hat sie recht!)
[SPD])
Ich komme aus einem neuen Bundesland und weiß
daher, wovon ich spreche, wenn ich hier auf die Pro-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat die
-
bleme der ungeklärten Eigentumsverhältnisse ein-
Kollegin Iris Follak, SPD-Fraktion. gehe. Wie soll Wettbewerbsfähigkeit zustande kom-
men? Ein Hotelier, der bemüht ist, in seinen Betrieb
Iris Follak (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! zu investieren, wird dies so lange nicht tun, bis die
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der zur Beratung Besitzverhältnisse geklärt sind.
stehende Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und (Beifall des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt]
der F.D.P. zur Situation des deutschen Hotel- und [SPD])
Gaststättengewerbes, den Sie heute dem Deutschen
Bundestag vorlegen, ist beachtlich. Ich bin tief beein- Der von der Bundesregierung positiv bewertete Pri-
druckt, vatisierungsprozeß ist daher noch lange nicht abge-
schlossen.
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das ist gut so!)
(Beifall bei der SPD)
aber nicht wegen des Inhaltes, sondern weil Sie es ge-
schafft haben, einen Antrag auf die Tagesordnung zu Die unattraktiven Objekte in strukturschwachen Ge-
setzen, den Sie in Ihren eigenen Fraktionsgremien zu bieten, die noch keinen Käufer gefunden haben, sind
diesem Zeitpunkt noch nicht einmal behandelt hatten. nur ein Beispiel dafür.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1477
Iris Follak
Das Modell „Einkommenssicherung durch Dorf- und die damit verbundene Ernennung zur „fahrrad-
tourismus", welches vor zwei Jahren von den Mini- freundlichen Stadt" können doch wohl nicht alles
sterien für Wirtschaft und für Landwirtschaft einge- sein, was wir für den ökologischen Grundsatz des
richtet wurde, zeigt, auf welche Art und Weise Unter- Fremdenverkehrs veranlassen wollen.
nehmensberater der alten Bundeslänger häufig die
Unerfahrenheit der oft jungen Betriebsbesitzer und (Beifall bei der SPD - Dr. Olaf Feldmann
der Verwaltungen in Ostdeutschland dazu nutzten, [F.D.P.]: Das sollen mal die Privaten ma
um mit möglichst wenig Zeitaufwand möglichst gro- hen!)
ßen Profit zu erlangen. Warum, frage ich Sie, werte Gerade in den fünf neuen Ländern haben wir jetzt
Kolleginnen und Kollegen, mußten Beratungsver- die Chance, im Spannungsfeld zwischen Natur-
träge mit bestimmten westlichen Unternehmen abge- schutz und Tourismus guten, zukunftstauglichen Lö-
schlossen werden, die ein Drittel der gesamten För- sungen näherzukommen. Hier erwähne ich nur die
dersumme in Anspruch genommen haben? Diese zahlreichen Campingplätze, die in der Nähe von
Gelder hätten doch wirklich effektiver eingesetzt noch zu errichtenden Naturparks, Nationalparks und
werden können. Naturschutzgebieten entstehen.
(Beifall bei der SPD und der PDS) Viertens. In diesem Zusammenhang muß auch die
Situation des öffentlichen Personenverkehrs gese-
Zweitens. Die Frage der Strukturverbesserung hen werden. Mehr als die Hälfte des Autoverkehrs
betrifft vor allem die neuen Länder. Die Schaffung
entfällt auf Freizeit- und Urlaubsfahrten. Die Ten-
und Sicherung leistungsfähiger touristischer Struktu- denz ist steigend. Um diese Entwicklung zu stoppen,
ren muß nach wie vor eines der Hauptanliegen des ist ein Ausbau der öffentlichen Verkehrsverbindun-
Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus gen und -anbindungen unerläßlich.
sein.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Halo
(Franz Peter Basten [CDU/CSU]: Wo sie Saibold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
recht hat, hat sie recht!)
Sie aber, meine Damen und Herren der Regierungs-
Hier ist besonders der dringend notwendige Ausbau parteien, haben es zu verantworten, daß die Maßnah-
infrastruktureller Maßnahmen unumgänglich. men nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsge-
setz Ende 1994 ausgelaufen sind.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Olaf
Feldmann [F.D.P.]) (Beifall bei der SPD - Dr. Wolfgang Weng
[Gerlingen] [F.D.P.]: Das sehen Sie etwas zu
Da, wie im Folgenden noch erläutert wird, bisher zu- eng, Frau Kollegin!)
dem das öffentliche Verkehrssystem unzureichend
erweitert wurde, beeinflussen diese Mißstände nicht Besonders in den ländlichen Regionen, z. B. in de-
nur indirekt, sondern auch direkt die weitere Investi-nen der neuen Länder oder des Rheinlandes, wo oft
tionsbereitschaft der gastronomischen Betriebe. mit selbstlosem Engagement Strukturverbesserun-
gen und Service in Hotels und Gaststätten vorange-
- immer noch trieben werden, verschlechtern sich jedoch zuse-
-c
Ein weiterer Punkt ist sicherlich das
nicht ausreichend vorhandene Kommunikationssy- hends die Angebote des öffentlichen Personenver-
stem. Telefon- und Faxanschlüsse sind noch lange kehrs. Schienen- und Buslinien fallen immer häufi-
nicht lückenlos vorhanden. Somit sind viele Betriebe ger dem Rotstift zum Opfer.
nicht in der Lage, Reservierungen und Buchungen
professionell und unkompliziert abzuwickeln. Hier Was nützen die größten Investitionen eines Hote-
ist dringend Abhilfe zu schaffen. liers oder Gastronomen, wenn sein Hotel, die Restau-
ration nicht in das öffentliche Verkehrssystem inte-
(Susanne Kastner [SPD]: Dazu hat Herr O
l griert ist, der potentielle Gast also gar nicht in der
derog nichts gesagt!) Lage ist, mit Hilfe von Bussen und Bahnen diese Ört-
lichkeiten zu erreichen?
Drittens. Die Bestrebungen der Firmen nach um-
weltorientierter Geschäftsorganisation und -praxis, Abschließend: Durch all das wird deutlich, daß es
welche als ein Ziel in den Bericht der Bundesregie- einerseits in der Natur unserer Aufgabenbereiche in
rung über die Entwicklung des Tourismus eingegan- Fremdenverkehr und Tourismus liegt, daß gerade
gen sind, sind meistens nur vorn persönlichen Enga- hier Kooperation mit den Kolleginnen und Kollegen -
gement und Idealismus des einzelnen abhängig. Die vor allem der Ministerien für Wirtschaft, Umwelt,
Sicherung der Umweltqualität als wichtigstes Kapi- Verkehr sowie Post und Telekommunikation - so un-
tal des Fremdenverkehrs und Tourismus bedeutet abdingbar wie in kaum einem anderen Ressort ist
gleichzeitig die Schaffung eines hohen Qualitätsstan- und erheblich intensiviert werden muß, und daß an-
dards in der Tourismusbranche. dererseits ständig nach neuen Möglichkeiten zu su-
chen ist, um unkompliziert und gegebenenfalls auch
Bei den Umweltgütezeichen läßt der „Grüne Kof- kurzfristig wirklich praxisorientierte, interdisziplinär
fer" schon lange auf sich warten. Die Errichtung ei- angelegte Problemlösungen, falls erforderlich auch
ner geringen Anzahl von Radfahrwegen individuell, zu realisieren.
(Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Aber das ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nicht Sache des Staates!) DIE GRÜNEN)
1478 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Iris Follak
Dazu fordere ich Sie, liebe Kolleginnen und Kolle- sicherung, die wir gerade in der vorhergehenden
gen aller Parteien, in dieser Legislaturperiode auf. Runde debattiert haben - als Lohnnebenkosten im-
Denn nicht zuletzt sind wir es, die dem prosperieren- mer wieder auf die Lohnkosten aufgeschlagen wer-
den Wirtschaftsfaktor des Hotel- und Gaststättenge- den.
werbes Rechnung tragen sollten.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Danke. ten der CDU/CSU)
(Beifall im ganzen Hause)
Dadurch wird Arbeit in Deutschland unbezahlbar.
Arbeit gibt es genug in Deutschland
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich danke Ihnen,
Frau Kollegin Follack, für Ihre erste Bundestagsrede. (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Im Gast
stättengewerbe!)
Ich erteile jetzt dem Kollegen Dr. Olaf Feldmann,
F.D.P.-Fraktion, das Wort. - und auch woanders -, aber sie muß bezahlbar sein.
Wenn wir sie zu teuer machen, brauchen wir uns
nicht zu wundern, wenn wir hier keine neuen Ar-
Dr. Olaf Feldmann (F.D.P.): Herr Präsident! Meine beitsplätze schaffen können.
sehr verehrten Damen und Herren! Wir feiern heute
zwei Premieren. Die erste Premiere ist, daß die Kolle- Die Schwarzgastronomie ist eine weitere Zusatz-
gin Follack heute im Plenum des Deutschen Bundes- belastung für den gastronomischen Mittelstand. Ich
tages ihre Jungfernrede gehalten hat. Frau Kollegin weiß, ich fasse hier ein heißes Eisen an. Während die
Follack, dazu möchte ich Ihnen im Namen der F.D.P. kleinbetrieblich und mittelständisch strukturierte
herzlich gratulieren, obwohl Sie zum falschen Ergeb- Gas tronomie mit immer neuen Auflagen und büro-
nis gekommen sind. kratischen Regelungen belastet wird - von der
Raumhöhe über die Toilettenausstattung bis hin zur
(Beifall bei der F.D.P. - Lachen bei der SPD) Sperrzeit; der DEHOGA spricht von fast 200 Ge-
Heute debattieren wir erstmals im Bundestag die setzen, Verordnungen und Erlassen, die zum Betrieb
Situation und die Perspektiven des deutschen Hotel- einer kleinen Kneipe notwendig sind -, geht es in der
und Gaststättengewerbes. Das ist unsere zweite Pre- Freizeitgastronomie locker und leger zu: keine Aufla-
miere. Als arbeitsplatzintensive Dienstleistungsbran- gen, keine Kontrollen. Nach dem Motto „Feste feiern
che hat das Gastgewerbe einen besonders hohen ohne Zwang und ohne Kosten" blüht die Schwarzga-
Stellenwert, gerade heute, wo Rentabilität fast aus- stronomie.
schließlich über Arbeitsplatzabbau erreicht werden Ich habe nichts gegen den vom Gesetzgeber in § 12
soll. Das Gastgewerbe ist eine tragende Säule des Gaststättengesetz vorgesehenen „besonderen An-
Tourismus. laß", z. B. das zehnjährige Jubiläum, von mir aus
Vor knapp drei Wochen haben wir uns hier mit auch das Jahresfest. Aber es muß ein „besonderer
dem Tourismusbericht der Bundesregierung befaßt. Anlaß" für die Gestattung vorliegen. Es darf eben
Das sind Zeichen, daß Parlament und Regierung die nicht nur um den Verkauf von Speisen und Geträn-
enorm gestiegene Bedeutung dieser Wachstums-
- ken zur Aufbesserung der Vereinskasse gehen.
branche erkannt haben. Die von der Bundesregie- Die total verlotterte Gestattungspraxis vor Ort
-

rung vorgelegten Zahlen - Wirtschafts- und Beschäf- meist politisch gedeckt - ist mehr als nur ein Ärger-
tigungszahlen - sind beeindruckend. Der Kollege Ol- nis.
derog hat bereits auf die 1 Million Arbeitnehmer und
auf die 100 Milliarden DM Umsatz hingewiesen. Sie (Susanne Kastner [SPD]: Sie beleidigen die
belegen die große wirtschaftliche und beschäfti- bayerische Verwaltung!)
gungspolitische Bedeutung der Branche.
- Ich bin selber im Gemeinderat, ich weiß, wovon ich
Trotzdem bedarf es einer differenzierten Betrach- spreche.
tung. Auch das Gastgewerbe hat mit Problemen zu
kämpfen. Es muß seine arbeitsplatzintensive Dienst- Das Vollzugsdefizit im Rahmen des § 12 Gaststät-
leistung in einem Hochlohnland erbringen und kann tengesetz grenzt an Rechtsbruch.
kaum oder nur bedingt rationalisieren.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege
Während die Autoindustrie, Herr Kollege und Be-
Feldmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab-
triebsratsvorsitzender Janssen, ihre Produktion aus
geordneten Büttner, Ingolstadt?
Kostengründen ins nahe Ausland verlagert, kann das
überwiegend mittelständisch strukturierte Gastge-
werbe seine arbeitsplatzintensive und teure Dienst- Dr. Olaf Feldmann (F.D.P.): Selbstverständlich,
leistung nur im Hochlohnland Deutschland erbrin- wenn ich, um diesen Punkt abzuschließen, noch ei-
gen. Es kann nicht auswandern. Es ist standortge- nen Satz sagen darf: Der Gesetzgeber sollte meines
bunden. Es erhält und schafft Arbeitsplätze hier in Erachtens den „besonderen Anlaß" klar definieren.
Deutschland. Das ist der große Unterschied. Dies er-
gibt, Herr Kollege Weng, seinen besonderen Stellen- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Mach mal einen Entwurf!)
wert. Gerade deswegen muß die Politik dem stärker
Rechnung tragen. Es kann z. B. auf Dauer nicht gut-
gehen, wenn die gesamten Sozialleistungen - von Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Kollege
der Renten - über die Kranken- bis hin zur Pflegever- Feldmann, darf ich Sie als Vertreter einer Partei, die
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1479
Hans Büttner (Ingolstadt)
sich sonst in allen Feldern gegen jegliche Regulie- Die F.D.P. begrüßt die Fortführung der mittelstän-
rung wendet, fragen, ob es nicht der sinnvollere Weg dischen Förderprogramme vom ERP bis zum Eigen-
wäre, die Qualifikationsvoraussetzung, die Ausbil- kapitalhilfeprogramm.
dung und die Weiterbildung von Gastronomen zur (Susanne Kastner [SPD]: Das tun auch wir!)
Auflage zu machen, statt hier über mehr regulative
Maßnahmen den Wettbewerb einzuschränken? - Es freut mich, Frau Kollegin Kastner. Wir hatten uns
schon anläßlich der Debatte über den Tourismusbe-
richt darauf geeinigt, daß das Eigenkapitalhilfepro-
Dr. Olaf Feldmann (F.D.P.): Herr Kollege Büttner, gramm fortgesetzt werden muß.
bei der Deregulierung, die Sie ansprechen, ziehen
wir am gleichen Strang in der gleichen Richtung; (Susanne Kastner [SPD]: Richtig!)
ebenso, Herr Kollege Büttner, wenn Sie Qualifika- Ebenso wichtig sind aber Existenzfestigungspro-
tionsmaßnahmen anmahnen. In diesem Bereich tut gramme und eine Verbesserung der Förderung der
die Bundesregierung viel. Aber wir können ja ge- Unternehmerberatung.
meinsam noch mehr dazu fordern. Vielleicht gibt der
Staatssekretär als Mittelstandsbeauftragter der Bun- Die F.D.P. ist für den Erhalt der Sozialversiche-
desregierung nachher dazu eine entsprechende Er- rungsfreiheit und der Steuerpauschalierung für ge-
klärung ab. Ich danke Ihnen für diese hilfreiche In- ringfügig Beschäftigte.
tervention. (Beifall bei der F.D.P.)
Lieber Wolfgang Weng, der DEHOGA hat einen Die F.D.P. wird auch weiterhin für den Erhalt der
entsprechenden Vorschlag zur besseren und klare- abgabenfreien Zuschläge für Sonntags-, Feiertags-
ren Definition des § 12 Gaststättengesetz vorgelegt. und Nachtarbeit kämpfen. Diese Zuschläge sind An-
Um nicht mißverstanden zu werden, Herr Kollege, erkennung und Anreiz für Leistungen zu atypischen
möchte ich hinzufügen: Das Ehrenamt ist gesell- Arbeitszeiten.
schaftlich gewünscht und verdient hohen Respekt; (Susanne Kastner [SPD]: Die hat die Regie
darin sind wir uns hoffentlich einig. Die Politik muß rung doch gekürzt!)
aber Prioritäten setzen. Es muß zwischen dem ehren-
amtlichen Engagement und der unternehmerischen - Haben wir nicht!
Tätigkeit, die Arbeitsplätze sichert und Steuern er-
Dies sollten wir als Politiker ausdrücklich anerken-
wirtschaftet, unterschieden werden.
nen.
Die Politik ist aufgefordert zu helfen, das bisherige Für das Protokoll: Beifall von allen Seiten des Hau-
Gegeneinander von gewerblicher Gastronomie und ses!
Vereinsgastronomie in ein konstruktives Miteinander
umzuwandeln. (Beifall bei der F.D.P. - Lachen bei der SPD)
Die F.D.P. ist für eine Flexibilisierung der Arbeits-
Wir brauchen Rahmenbedingungen für Modelle zeit wie auch für eine Liberalisierung der Laden-
der Kooperation zwischen Gastgewerbe und Verei- schlußzeiten.
-
nen, um den existenzbedrohenden Wettbewerbsver-
zerrungen ein Ende zu setzen. Im harten Wettbe- Zum Schluß darf ich für die F.D.P. das freiwillige
werb braucht das Gastgewerbe unternehmerische Umweltengagement des Gastgewerbes begrüßen.
Handlungsfreiheit, also die von Ihnen angespro- Vor allem das 40-Punkte-Programm des Gastgewer-
chene Deregulierung. Diese wird durch immer neue bes für eine umweltfreundliche Betriebsführung ist
Belastungen ständig weiter eingeengt. Der behördli- beispielhaft. Hier wird gezeigt, daß sich Umwelt-
chen Regelungswut muß Einhalt geboten werden. schutz auch betriebswirtschaftlich rechnet. Nicht nur
Gebote und Verbote, sondern auch marktwirtschaftli-
Vielleicht beachten Sie einen weiteren Punkt: Die che Anreize fördern umweltfreundliches Verhalten.
absolute Gewerbefreiheit - z. B. kein Sachkunde-
nachweis, kein Meisterbrief - führt zu einer sehr ho- Das Gastgewerbe ruft nicht nach mehr Subventio-
hen Fluktuation: Über 20 % - das sind fast 40 000 Be- nen, aber es braucht faire Rahmenbedingungen.
triebe - schließen jährlich. Das sind Zahlen, die uns Nach den zustimmenden Zurufen der SPD gehe ich
alarmieren müssen. davon aus, daß auch die Politiker der SPD - wie
selbstverständlich auch die der Koalition - dazu bei-
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Regulie tragen werden, gute Rahmenbedingungen für das
ren Sie doch mal!) Gastgewerbe zu schaffen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Die unter Abschreibungs- und Steueraspekten auf-
gelegten Hotel- und Immobilienfonds drohen die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
traditionellen mittelständischen Familienhotels zu
erdrücken; auch sie verzerren den Wettbewerb. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat
die Abgeordnete Halo Saibold.
( Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch)

Die Stadthotellerie leidet unter einer schranken- Halo Saibold (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr
losen Kapazitätsausweitung und kommt deswegen geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
nicht mehr auf ihre Kosten. Herren! Nachdem Sie, Herr Olderog, heute sehr vie-
1480 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Halo Saibold
len Gruppen usw. gedankt haben, möchte ich nicht tigten, sondern auch besonders nachteilig bei Krank-
versäumen, auch Ihnen einmal zu danken, weil Sie heit, Arbeitslosigkeit und im Alter aus. Es sei hier
doch einige Tatsachen richtig dargestellt haben. auch daran erinnert, daß wieder einmal vorrangig
Frauen durch diese ungeschützten Arbeitsverhält-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nisse betroffen sind.
Das Hotel- und Gaststättengewerbe ist nicht nur
eine wichtige Säule für den Fremdenverkehr, son- Eine Frage an Herrn Dr. Olderog und insbesondere
dern ist zu einem fast unverzichtbaren Bestandteil an Herrn Dr. Feldmann: Haben Sie und Ihre Fraktio-
des täglichen Lebens vieler Menschen, insbesondere nen schon einmal die Chancen der Ökosteuern ge-
in der Freizeit, geworden. Es ist mehr als nur ein Teil rade für diesen arbeitsintensiven Bereich überdacht?
der Wirtschaft; es ist ein Teil unserer Kultur. Wer geht Wenn man Energie und Rohstoffe verteuerte
nicht gern in einen Biergarten, in eine Kneipe oder in
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Die F.D.P. will
eine Weinstube?
keine neuen Steuern!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. - und damit unter Umständen die Lohnnebenkosten
Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wirtschaft senken könnte, dann wäre das gerade für den von
findet in der Wirtschaft statt!) Ihnen so hochgehaltenen Bereich sehr vorteilhaft.

Immer mehr Menschen schätzen ein gepflegtes Es- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Wir wollen
sen an einem angenehmen Ort der Begegnung. In keine neuen Steuern!)
keinem anderen Sektor spiegelt sich so deutlich die
Wirklichkeit unserer multikulturellen Gesellschaft - Eine Reform bedeutet immer eine Umschichtung;
wie in diesem Bereich. das kann ich Ihnen aber ein anderes Mal erklären.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Darüber kann
und bei der F.D.P.) man ja einmal reden!)
Das Flair eines Lokals oder eines Hotels hängt je- Wenn das Hotel- und Gaststättengewerbe in sei-
doch sehr stark von den dort Beschäftigten ab. nen Umweltschutzbemühungen unterstützt werden
Freundlichkeit und Gastlichkeit werden manchmal soll, dann reicht es nicht aus, eine Hochglanzbro-
vermißt, und nicht nur, wenn Kinder am Tisch sitzen. schüre mit fünfstelligen Beträgen durch die Bundes-
Gerade ausländischen Besuchern und Besucherin- regierung finanzieren zu lassen. Die Einsicht in die
nen fällt dies besonders unangenehm auf. Hier kann Rentabilität ökologischen Wirtschaftens ist bei vielen
die Politik zwar nicht direkt eingreifen; aber die Rah- Betreibern und Betreiberinnen längst vorhanden. Es
menbedingungen könnten einen positiven Einfluß müssen endlich Markteinführungsprogramme auf
nehmen. den Tisch, die dem Gewerbe die Möglichkeit geben,
(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Wie im Bundestag!) seine Umweltschutzgedanken auch praktisch umzu-
setzen. Dazu gehört die Förderung eines ökologisch
Die Beschäftigungsverhältnisse sind vielfach
- saiso- verantwortlichen Energieeinsatzes, wie z. B. die
nal und zeitlich begrenzt. Unzureichend bezahlte Kraft-Wärme-Koppelung.
- Wir brauchen ein 100 000
Vollerwerbsarbeitsplätze, miserable Unterbringung Dächer-Programm zur Nutzung der Sonnenenergie
und kaum zumutbare Arbeitsspitzen führen oft ge- und vieles mehr. Finanzielle Hilfestellungen zur Er-
nug zu Unzufriedenheit, zu Motivationsverlust und richtung eines zweiten Wasserkreislaufes oder zum
damit auch zu einer hohen Fluktuation. Erreichen eines Niedrigenergiehaus-Standards wä-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren ein wesentlicher Beitrag zur Ökologisierung des
sowie bei Abgeordneten der SPD - Ulrich Gewerbes.
Irmer [F.D.P.]: Wie im Bundestag!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
- Da ist die Fluktuation ja nicht so groß, wenn ich Sie sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
anschaue, Herr Irmer. SPD und der F.D.P.)
Die Praxis der von Ihnen gewünschten kurzfristi- Durch solche Maßnahmen würde nicht nur die Mit-
gen geringfügigen Beschäftigungen disqualifiziert welt geschont, sondern es würden Arbeitsplätze ge-
das Berufsbild im Hotel- und Gaststättenbereich, schaffen und Einkommen gesichert, was sich sicher-
(Beifall des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt] lich wiederum zum Vorteil des Hotel- und Gaststät-
tengewerbes auswirken würde.
[SPD])
so daß auf Grund unzureichender Arbeitsplatznach- Wenn in Ihrem Antrag wenige Zeilen weiter gefor-
frage dann vielfach ein Arbeitskräftemangel beklagt dert wird, daß die kommunalen Abgaben, wie z. B.
wird - eine Entwicklung, die Sie mit Ihrer Politik för- die Verpackungssteuer, abzulehnen sind, konterka-
dern. rieren Sie Ihre eigenen Forderungen nach betriebli-
chem Umweltschutz, es sei denn, Sie bezeichnen
Wir setzen uns dafür ein, daß die Sozialversiche- McDonald's als einen umweltfreundlichen Betrieb.
rungsfreiheit geringfügig Beschäftigter aufgehoben
wird, weil damit u. a. Vollzeitarbeitsplätze vernichtet (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Sie werden
werden. Zudem wirken sich diese Beschäftigungs- sicherlich zustimmen, daß man eine sorgfäl
verhältnisse nicht nur auf die Stimmung der Beschäf- tige Öko-Bilanz erstellen muß!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1481
Halo Saibold
Wenn ich schon beim Fast food angekommen bin, Dabei stieß ich auf die Tatsache, daß dieses subven-
möchte ich noch darauf hinweisen, daß die Förde- tionierte Restaurant ausgerechnet an einen amerika-
rung der Vermarktung von frischen Produkten aus nischen Konzern verpachtet ist. Da dies wohl noch
ökologischem Anbau eine Voraussetzung dafür immer so ist, denke ich, könnten Sie Ihre Mittel-
wäre, eine bessere Qualität der Angebotspalette zu standsfreundlichkeit unter Beweis stellen und für
erreichen. Veränderung sorgen.
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das ist ein sehr Ich danke für die Aufmerksamkeit.
guter Vorschlag, den wir teilweise bereits (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
umgesetzt haben!) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
- Sehr schön. Das ist sehr erfreulich. SPD, der F.D.P. und der PDS)

Ihre Forderung nach günstigeren Freizeitmöglich- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat
keiten für Familien finde ich natürlich unterstützens- der Abgeordnete Dr. Rössel.
wert. Aber wie soll dies denn in der Praxis aussehen?
Soll die Bundesregierung die Spielplätze finanzie-
ren? Oder wollen Sie spezielle Steuervergünstigun- Dr. Uwe-Jens Rudi Rössel (PDS): Herr Präsident!
gen, die dann doch wieder nur Einrichtungen wie Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der
z. B. Damp 2000 zugute kommen? Das kann es ja Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU- und
wohl nicht sein. der F.D.P.-Fraktion über Situation und Perspektive
des Gastgewerbes in Deutschland stellte die Bundes-
Eine kleine Maßnahme, die für Familien und Ju- regierung fest, daß dieses in seiner wirtschaftlichen
gendliche äußerst sinnvoll wäre, nämlich ein alkohol- Bedeutung noch vor solchen Sektoren wie der Land-
freies Getränk billiger anzubieten als alkoholische und Forstwirtschaft oder dem Bergbau rangiert.
Getränke, stieß auf erbitterten Widerstand der F.D.P..
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Die Große An
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Auf freiwilliger frage ist in der letzten Legislaturperiode un
Basis! Wir wollen es freiwillig!) tergegangen!)
- Ja. - Dagegen habe ich nichts.
Auch ein verstärkter Nichtraucherschutz findet bei Eine Million Beschäftigte im Hotel- und Gaststät-
Ihnen kein Gehör. Gott sei Dank machen viele Hotels tengewerbe, darunter ca. 300 000 ausländische
und Gaststätten hier bereits verantwortungsbewußt Bürgerinnen und Bürger, erwirtschaften nach Aus-
mit und tragen diesen Bedürfnissen von sich aus kunft des Deutschen Hotel- und Gaststättenverban-
Rechnung. des 1995 einen Umsatz von voraussichtlich
106 Milliarden DM.
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Auf freiwilliger
Basis! Selbstverständlich freiwillig! Ich bin (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das ist die Aus
Nichtraucher!) kunft der Bundesregierung!)
- Das ist in der Tat beeindruckend.
Es ist ein Trugschluß, wenn Sie meinen, daß die
Senkung der Gewerbeertragsteuer dem Hotel- und 88,4 % der insgesamt 209 000 Gaststättenbetriebe
Gaststättengewerbe zugute käme. liegen in einer Umsatzgröße unter 500 000 DM jähr-
lich, sind also Klein- und Kleinstunternehmer. Allein
(Susanne Kastner [SPD]: Das ist ein
schon wegen dieser geringen Umsätze steht so man-
Quatsch! - Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Wer
cher dieser Gastwirte oder Hoteliers ständig am Rand
hat denn das gesagt?)
der Existenz.
- Das steht in Ihrem Antrag. Diese Maßnahme be- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: So ist es!)
günstigt lediglich den Großbetrieb und nicht den
Mittelstand. Zudem müßte dann ehrlicherweise an- Es gibt wohl kaum eine andere Branche, in der der
gemerkt werden, daß Sie im Gegenzug eine Mehr- Konkurrenzkampf zwischen den Unternehmen so
wertsteuererhöhung planen. unmittelbar und so stetig auf die Beschäftigten wirkt
wie im Gastgewerbe.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch
falsch!) Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband
machte uns darauf aufmerksam, daß das Gastge-
Das ist ein wenig verbraucherfreundlicher Schritt, werbe selbst in Rezessionszeiten kontinuierlich über-
der letztendlich auch zu Lasten des Gastgewerbes durchschnittlich viele Lehrlinge ausbildet. Seit Jah-
gehen würde. ren sind es konstant um 60 000.
Zum Schluß habe ich noch eine Anregung für die (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr lobenswert!)
Koalitionsparteien. In der elften Legislaturperiode
habe ich des öfteren versucht, neben Veränderungen - Jawohl. - Nach Einschätzung der Gewerkschaft
auf dem Speiseplan der Kantine auch im Bundestags- Nahrung - Genuß - Gaststätten ist dies vor allem
restaurant Vollwertkost einzuführen. auch zum Ausgleich der überdurchschnittlichen
Fluktuation in dieser Branche notwendig. Unbe-
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das gibt es zahlte oder unterbezahlte Überstunden, ein hoher
doch heute!) Anteil von geringfügig Beschäftigten ohne Sozialver-
1482 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dr. Uwe-Jens Rudi Rössel


sicherung sowie ein nach wie vor bedeutender Anteil auf dem Gebiet der Gaststätten- und Hotelkultur ge-
von Schwarzarbeit schaffen vielerorts Arbeitsverhält- tan hat, ist überwiegend ein kultureller und touristi-
nisse, die in anderen Branchen schon seit längerem scher Gewinn. Viele ostdeutsche Unternehmen ste-
weitgehend überwunden sind. hen jedoch nach wie vor - darüber wurde gespro-
chen - besonderen Schwierigkeiten gegenüber. Un-
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Auch im Gast
geklärte Eigentumsverhältnisse behindern in so
gewerbe gelten Tarifverträge, Herr Kol
mancher Gemeinde langfristige Investitionen gerade
lege!) in dieser Branche.
- Nicht überall!
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja nicht
Es ist klar, daß Gaststätten und Hotels ihre Hoch- wahr!)
druckzeiten genau dann haben, wenn andere sich er-
holen wollen. Das ist ihr Schicksal. Aber kann es Rasant steigende Gewerbemieten sowie kommunale
dennoch sein - so fragen wir -, daß eine Frau, die Gebühren, vor allem die vielerorts zu beklagende
Jahrzehnte als „Aushilfe" in einer Gaststätte tätig Explosion der Abwasserpreise, wirken kostentrei-
war, keinen Rentenanspruch erhält, weil sie die bend. Die Leidtragenden sind wir alle: die Gäste, die
Grenze von monatlich 580 DM Einkommen nicht Nutzerinnen und Nutzer in Restaurants und Hotels.
überschritten hat? Wir meinen, solche sozialen Unge- (Zuruf von der CDU/CSU: So ein Schwach
rechtigkeiten müssen rasch der Vergangenheit ange- sinn!)
hören.
Die Koalition fordert in ihrem Antrag die Abschaf-
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne fung der Gewerbekapitalsteuer und die weitere Sen-
ten der SPD) kung der Gewerbeertragsteuer. Die Großunterneh-
Hier ist die Bundesregierung unmittelbar gefordert. men lassen grüßen! Von adäquater Kompensation
der dann fehlenden Einnahmen für die Kommunen
In kaum einem anderen Bereich gibt es so viele Ar- ist aber auch in diesem Antrag keine Rede. Wir mei-
beitskräfte, die nur stundenweise arbeiten, wie im nen, die finanziellen Grundlagen kommunaler
Gaststättengewerbe. Das ist möglicherweise be- Selbstverwaltung dürfen nicht einer weiteren Unter-
triebswirtschaftlich sinnvoll und darüber hinaus auch nehmensteuerentlastung geopfert werden. Deshalb
von so mancher Arbeitnehmerin, so manchem Ar- lehnen wir diese Vorschläge im Antrag entschieden
beitnehmer gewünscht. Branchentypisch ist aller- ab.
dings leider auch, daß diese Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer meistens nicht einmal als geringfügig (Beifall bei der PDS - Dr. Olaf Feldmann
Beschäftigte gelten. Diese „Aushilfen" erhalten so- [F.D.P.]: Was habt ihr denn Besseres?)
mit weder Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall noch
Anteile an Jahresleistungen wie Weihnachts- und - Wir haben Vorschläge unterbreitet. Bereits in der
Urlaubsgeld. letzten Legislaturperiode haben wir einen Antrag zur
Kommunalfinanzreform eingebracht.
Damit - so meinen wir - sollte endlich Schluß sein.
Geringfügig Beschäftigte und Aushilfen - müssen in Die Antragsteller beklagen, eine Reihe von büro-
den Schutz der regulären Sozialversicherung kom- kratischen Regelungen erschwerten dem Gastge-
men. Das ist unsere Forderung. werbe das flexible Agieren. In der Tat, es ist schwer
nachvollziehbar, wenn beispielsweise ein Thai-Re-
(Beifall bei der PDS - Zuruf von der CDU/ staurant nur zwei Spezialitätenköche aus Nicht-EG-
CSU: Das ist ja selbstverständlich!) Staaten einstellen darf. Auf der anderen Seite kann
- Es ist vielerorts keine Praxis. aber jeder Schlosser oder Studienabbrecher einen
gastronomischen Betrieb eröffnen. Fehlende be-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das Bild, das Sie triebswirtschaftliche Kenntnisse sind allerdings nicht
zeichnen, ist falsch!) nur Hauptgrund für Insolvenzen, sondern oft auch
für haarsträubende Arbeitsbedingungen von Be-
Ein unrühmliches Kapitel ist - so meinen wir - schäftigten.
auch das bereits angesprochene Problem der
Schwarzarbeit. Ohne jegliche soziale Absicherung
wird mancherorts unter Tarif in Stunden- und Voll- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
zeitjobs geschuftet. Von entsprechenden Arbeitgebe- Sie müssen trotzdem zum Schluß Ihrer Rede kom-
rinnen und Arbeitgebern wird - das zeigen auch Un- men.
tersuchungen der Gewerkschaft - nicht nur die so-
ziale Lage der betroffenen Menschen ausgenutzt,
sondern auch die Gesellschaft geprellt. Hier paaren Dr. Uwe Jens Rudi Rössel (PDS): Dem sollte die
-

sich mancherorts Hinterziehung von Arbeitgeberan- Bundesregierung mit gesetzlichen Regelungen Rech-
teilen für die Sozialversicherung mit Steuerhinterzie- nung tragen. Dazu machen wir Vorschläge.
hung. Wir meinen, auch hier liegt ein weites Betäti- Ich danke für die Aufmerksamkeit.
gungsfeld für die Bundesregierung.
(Beifall bei der PDS)
Bei allen konträren Auffassungen, meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren, über die Entwicklung in
den neuen Bundesländern sind sich wohl alle politi- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun
schen Strömungen einig: Was sich seit der Wende dem Kollegen Michael Jung das Wort.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1483

Michael Jung (Limburg) (CDU/CSU): Herr Präsi- Deshalb müssen wir uns die Frage stellen, wie wir
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kol- das gemeinsam ändern können. Ein Bereich, der
legen! Ich möchte gerne einige Schwerpunkte bei hierbei eine Rolle spielt, ist sicher die Frage der
der Debatte über dieses Thema bilden. Strukturierung der Deutschen Zentrale für Touris-
mus. Sie ist von uns gemeinsam beauftragt und im
Erster Schwerpunkt: Mittelstand. Wir haben ei- wesentlichen finanziert.
gentlich übereinstimmend über die Fraktionsgren- (Susanne Kastner [SPD]: Was hat das mit
zen hinweg gehört, daß das Gewerbe, über das wir der Gas tr onomie zu tun?)
heute abend diskutieren, mittelständisch geprägt ist.
85 % der Betriebe dieses Gewerbes haben bis zu fünf - Frau Kollegin, das ist ganz einfach. Wir sind uns
Beschäftigte. Die Frage, die wir uns in der Tat stellen doch darüber einig, daß Nachfrage nach Hotel- und
müssen - das sage ich als Mitglied der Regierungsko- Gastronomieleistungen von denjenigen, die nach
alition auch selbstkritisch -, lautet, ob wir überall Deutschland kommen, um hier Urlaub zu machen,
das, was für den Mittelstand und sein Überleben not- ausgelöst wird. Sie wissen von einer ganzen Reihe
wendig ist und gewesen wäre, auch getan haben. von Feriengebieten, daß dort der Rückgang der Zahl
ausländischer Touristen automatisch zu Nachfrage-
Von einigen Rednern ist schon so manches an Defi- rückgängen und damit in einigen Bereichen, die
ziten aufgezählt worden. Es ist von bürokratischen überwiegend von ausländischen Touristen leben, zu
Hemmnissen gesprochen worden, von den Schwie- Problemen in der mittelständischen Struktur führt.
rigkeiten, Arbeitsplätze zu besetzen, von ungünsti-
Das ist ganz einfach. Das mag vielleicht nicht für
gen Arbeitsbedingungen, die auch mit den Arbeits-
Unterfranken gelten, aber für andere Bereiche unse-
zeiten zusammenhängen. Dort wird zu Zeiten gear-
rer geographischen Landschaft sehr wohl.
beitet, wo andere gern ihre Freizeit genießen: abends
und am Wochenende. (Susanne Kastner [SPD]: Haben Sie schon
etwas von Würzburg gehört?)
Es gibt auch eine Reihe von finanziellen Proble-
men, Schwierigkeiten der Finanzierung, Fragen der - Da ich gebürtiger Würzburger bin, Frau Kollegin,
Kreditbedingungen und anderes mehr. Ich glaube, ist mir die Struktur dort sehr bekannt.
daß einer der Schwerpunkte unserer Politik in der Ich glaube, daß es eine der wichtigen Aufgaben für
Zukunft sein muß, hier mittelstandsfreundliche Kom- uns ist, zu überlegen, wie das Reiseland Deutschland
ponenten einzuführen und im Rahmen unserer Mög- ein positiveres Image im Ausland bekommen kann
lichkeiten dafür zu sorgen, daß die Strukturen, die und wie wir dafür sorgen können, daß sich dadurch
wir für sinnvoll und vernünftig halten, auch in Zu- das Zahlungsbilanzdefizit, das wir alle kennen, ver-
kunft bestehen. ringert.

(Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben ein Zahlungsbilanzdefizit von 70 Mil-
liarden DM, davon allein 50 Milliarden DM aus dem
Reiseverkehr. Die Bundesbürger geben 67 Milliarden
Meine Damen und Herren, auch da- haben wir in
DM bei Auslandsreisen aus. Wir erzielen nur
der Politik das eine oder andere gemacht, das eine
17 Milliarden DM Einnahmen durch Reisen von Aus-
Belastung darstellt. Wir müssen uns daher die Frage
ländern nach Deutschland.
stellen, ob das alles in jeder Facette so notwendig ist,
von den Fragebögen bis zu den Statistiken und vie- Das macht doch deutlich, daß das ein Feld der Be-
lerlei bürokratischen Hemmnissen bei Baugenehmi- tätigung für uns sein muß. Dafür ist die Deutsche
gungsverfahren, Erweiterungen und anderem mehr. Zentrale für Tourismus das Instrumentarium.

Wir müssen den Mittelstand als tragende Säule un- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wo ma
seres Systems nicht nur im wirtschaftlichen, sondern chen Sie Urlaub?)
auch im gesellschaftspolitischen Bereich besonders - Wissen Sie, ich habe einen so schönen Wahlkreis,
stützen, weil wir aus anderen Feldern der Politik wis- in den ich Sie gerne einmal einlade, Rheingau-Tau-
sen, daß leider auch durch unsere Entscheidungen nus-Limburg, daß ich einen Urlaub woanders gar
die Mittelstandskomponenten nicht mehr die tragen- nicht nötig habe.
den Komponenten sind, sondern sich andere Struktu-
ren ergeben haben. Wir wollen eine solche Entwick- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so
lung in diesem Bereich nicht haben. wie der Abg. Lisa Peters [F.D.P.])
Meine Damen und Herren, wir müssen dafür sor-
Das zweite, das ich erwähnen möchte, ist die Tat-
gen, daß die Auslandswerbung verstärkt wird. Da
sache, die uns allen zur Besorgnis Anlaß gibt, daß wir
sind wir auch nicht mit allem zufrieden und einver-
eine immer geringere Anzahl von ausländischen
standen, was bei der DZT geleistet wird. Wir brau-
Touristen in Deutschland haben. Wir hatten hier ei-
chen neue Strukturen, wir brauchen zusätzliche Gel-
nen Rückgang von über 10 % in den vergangenen
der von Anbietern in diesem Bereich, um im Ausland
Monaten und Jahren.
sinnvoll und positiv werben zu können.

(Susanne Kastner [SPD]: Das liegt nicht an (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Schon wieder
der Gastronomie!) neue Strukturen!)
1484 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Michael Jung (Limburg)


Ein weiterer Punkt, den ich angesichts der Kürze stört, die nach Deutschland kommen. Eines der Er-
der Redezeit nur streifen will, ist die Frage des Infor- gebnisse dieser Befragung war, daß viele aus ande-
mations- und Reservierungssystems. Für jemanden, ren Ländern, die andere Strukturen haben, es nicht
der heute irgendwo Urlaub machen will, ist es einfa- nachvollziehen können, daß in Deutschland hinsicht-
cher, eine Auslandsreise mit einem Hotelaufenthalt lich des Einkaufens ein so starres Gesetz gilt. Das ist
im Ausland zu buchen und sich zu informieren, als einer der Punkte gewesen, die Ausländer überrascht
dies in Deutschland zu tun. Diese Entwicklung müs- haben und die auch dazu geführt haben, daß gesagt
sen wir dringend ändern, wenn wir international wird, hier müßte sich etwas tun.
konkurrenzfähig bleiben wollen, weil über die elek-
tronischen Buchungs- und Informationssysteme in Aber in der Politik müssen Sie mit anderen Feldern
Zukunft noch mehr Entscheidungen als bisher ge- abwägen. Auch ich war früher dafür, dies zu ändern,
troffen werden, auch bezüglich der Frage, wo man und hielt es für schön, wie im Ausland abends oder
seinen Urlaub verbringt. Deswegen ist dies auch eine samstags und sonntags noch einkaufen zu können.
wichtige Frage für uns. Aber es gibt jetzt zwei Bereiche, die mich davon ab-
halten, dies für die Patentlösung zu halten. Wir wer-
Es sollte auch in diesem Bereich eigentlich die Zeit den genau das, was ich für wichtig erachte, nämlich
der Kleinstaaterei vorbei sein. Wir brauchen ein ein- mittelständische Strukturen, damit beseitigen, und
heitliches zentrales und kompatibles System in wir werden große Einheiten fördern.
Deutschland, damit auch hier die Nachfrage befrie-
digt werden kann. Das ist eine wichtige Aufgabe. (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei
Abgeordneten der CDU/CSU und des
(Beifall beider CDU/CSU und der F.D.P. so BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
wie bei Abgeordneten der SPD und der
PDS) Das zweite Argument, Herr Kollege, ist - das sage
ich auch als Abgeordneter eines ländlichen Raums -:
Ich will kurz ein weiteres Stichwort nennen: Revi- Wir werden - das sehen Sie schon heute an den lan-
talisierung von Innenstädten. Wir haben in der Ver- gen Donnerstagen - die großen zentralen Städte stär-
gangenheit eine Verödung von Innenstädten beob- ken und das flache Land weiter vernachlässigen.
achten müssen, und zwar auf Grund vieler Um- Deswegen kann dies nicht das Patentrezept sein.
stände: zu hoher Mieten, der Flucht zu Kaufhäusern
auf der grünen Wiese, in manchen Bereichen auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
wegen autofeindlicher Innenstadtpolitik. ten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN und der PDS - Zurufe von
(Susanne Kastner [SPD]: Ach, du lieber der SPD)
Gott! Jetzt geht das los!)
Meine Damen und Herren, ich wollte abschließend
Ich glaube, daß es eine wichtige Aufgabe ist, gerade noch einen Bereich erwähnen, weil er hier mehrfach
für Fremdenverkehr und Tourismus, dafür zu sorgen, in Redebeiträgen eine Rolle gespielt hat, und zwar
daß auch in den Innenstädten ein erfolgreiches Wir- die Frage, ob eventuell die Sozialversicherungsfrei-
ken des Gastgewerbes möglich ist und daß unsere heit für geringfügig Beschäftigte abgeschafft werden
Innenstädte kommunikative Elemente- der Gesell- soll. Ich halte dies für falsch. Wenn Sie dies tun, wird
schaft sind und als solche wiederbelebt werden. es das Gastgewerbe schädigen. Gerade die Unter-
nehmer in Hotellerie und Gastronomie sind auf flexi-
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Vielleicht
ble Arbeitseinsätze angewiesen. Deswegen glaube
muß man mal über die Bodenpreise nach
ich, daß für die Bewältigung von Nachfragespitzen
denken!)
nach wie vor die sozialversicherungsfreie Tätigkeit
im Gastgewerbe ein wichtiger Bestandteil ist. Deswe-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, gen kann ich mich den Forderungen, dies abzuschaf-
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ir- fen, nicht anschließen. Ich glaube, daß wir dies brau-
mer? chen, auch unter den anderen übergeordneten
Aspekten des Mittelstandsschutzes, den ich eben ge-
Michael Jung (Limburg) (CDU/CSU): Bitte sehr. nannt habe.
Ich möchte abschließend sagen, daß wir in dem
Ulrich Irmer (F.D.P.): Herr Kollege, Sie haben viel- wichtigen Feld der Gaststätten- und Hotelpolitik wei-
fältige Gründe für die Verödung der Innenstädte an- terhin auch im Ausschuß, der bisher sehr einver-
gesprochen. Würden Sie mir zustimmen, daß einer nehmlich zusammenarbeitet, diese Probleme anpak-
der gravierendsten Gründe für dieses beklagens- ken werden, auch wenn wir sie nicht alle einver-
werte Phänomen das antiquierte Ladenschlußgesetz nehmlich lösen werden. Wir werden jedenfalls von
ist? der Politik aus alles tun, um dort die Arbeitsplätze zu
sichern, zu erhalten, und - damit schließt sich der
(Lachen bei der SPD - Wolf-Michael Caten Kreis zur Kollegin Saibold - dafür sorgen, daß es wei-
husen [SPD]: Wir dachten schon, die F.D.P. terhin die Vielfalt von Gaststätten und Hotels gibt,
redet über Bodenpreise!) die wir alle gemeinsam gerne frequentieren.
Danke.
Michael Jung (Limburg) (CDU/CSU): Das ist ein
sehr schwieriges Thema. Wir haben uns neulich mit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so
der Frage beschäftigt, was ausländische Touristen wie bei Abgeordneten der SPD)
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Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun blik Deutschland verzeichnet für den Umsatz des
das Wort der Abgeordneten Brunhilde Irber. Gastgewerbes eine Stagnation seit 1984.
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Die Rezession
Brunhilde Irber (SPD): Herr Präsident! Meine sehr bleibt nicht folgenlos!)
verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen Die Zahl der Übernachtungen im Beherbergungs-
und Kollegen! Inhaltlich ist der vorgelegte Antrag ein
gewerbe ist in den letzten 24 Monaten deutlich rück-
reiner Schaufensterantrag. läufig. Sie haben vollkommen recht, wenn Sie schrei-
(Beifall bei der SPD - Dr. Olaf Feldmann ben, daß sich die kleineren und mittleren Betriebe ei-
[F.D.P.]: Aber, aber! So fängt man doch nem immer härteren internationalen Wettbewerb
keine Jungfernrede an!) ausgesetzt sehen. Auch dies zeigt die Statistik.

Er läßt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen: Die Anzahl der Betriebe im Bundesgebiet ist von
Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit et- 45 846 im Jahr 1992 zurückgegangen auf 44 612 in
was für das deutsche Hotel- und Gaststättengewerbe 1993. Trotz des Rückgangs der Zahl der geöffneten
getan, Betriebe ist die Zahl der angebotenen Betten leicht
angestiegen von 1 787 000 auf 1 795 000. Das heißt:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Es gibt eine stetige Entwicklung hin zu größeren Be-
Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Sehr richtig! Das trieben, also eine Entwicklung zur Konzentration des
ist doch schon etwas!) Angebots.
und der Deutsche Bundestag fordert sie nun auf, das (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das ist leider
weiterhin zu tun. richtig!)

Aber ich will mich ernsthaft mit Ihrer Vorlage aus- Liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu finden wir
einandersetzen. Meine sehr verehrten Damen und aber in Ihrem Antrag überhaupt keine Hinweise und
Herren der Regierungskoalition, Sie listen 13 For- auch keine Handlungsvorschläge für die Bundesre-
derungen auf, gierung.

(Zuruf von der CDU/CSU: 12!) (Beifall bei der SPD - Dr. Olaf Feldmann
[F.D.P.]: Wir können doch nicht alles regeln!)
die wir hier beschließen sollen. Nach keiner einzigen
Hingegen finden wir nur die Festschreibung be-
Forderung soll der Handlungsrahmen, den die Bun-
stehender Schieflagen.
desregierung bislang nutzt, erweitert oder verändert
werden. Dies ist ein Antrag, der vollständig die be- Aber ich will mich mit Ihren Forderungen im Detail
stehende Politik der Bundesregierung gutheißt. auseinandersetzen. Als erstes fordern Sie, die Bun-
Warum also überhaupt solch ein Antrag? desregierung möge den Förderungskatalog beibe-
halten. Dies hätten Sie sich sparen können, wenn Sie
(Beifall bei der SPD - Susanne Kastner das Eigenkapitalhilfeprogramm, das zum Jahres-
[SPD]: Luftnummer!) ende auslaufen wird, verlängert hätten.
-
Ich glaube, dieser Antrag verfolgt den alleinigen (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das wird ja ge
Zweck, alle künftigen Anträge der Opposition von macht!)
vornherein auf ein Abstellgleis zu schieben.
In Ihren Koalitionsvereinbarungen haben Sie sich
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Sie brauchen ja ja auch schon darauf verständigt. Dann machen Sie
nur unseren zu unterstützen, dann ist alles das doch! Die Betroffenen brauchen die Sicherheit.
klar!) Verschieben Sie also die Verlängerung nicht auf den
letzten Drücker!
Wenn wir in Zukunft zur besonderen Situation des
Hotel- und Gaststättengewerbes einen Antrag vorle- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Machen wir
gen wollen, so wird man ihn formal auf Grund dieses doch auch!)
beschlossenen Antrags abweisen können.
Oder bezweifeln Sie doch noch den Sinn der Sache?
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Wir haben vor (Beifall bei der SPD - Dr. Olaf Feldmann
her viele gemeinesame Anträge gemacht!) [F.D.P.]: Der Staatssekretär wird Ihnen die
Wenn dieser Antrag also genauso wie vorgelegt Antwort geben!)
verabschiedet wird, dann ist das Thema für unsere Gemäß der vierten Forderung soll die Einführung
weiteren Beratungen erschöpft, und das fände ich eines Reservierungssystems für die mittelständische
natürlich schade. Hotellerie unterstützt werden. Hilfreicher wäre es ge-
(Beifall bei der SPD) wesen, wenn Sie hier dargestellt hätten, wie dieses
Reservierungssystem aussehen soll, damit es in die
Aber ist es denn wirklich so, daß eine Änderung heutige Landschaft paßt.
der Politik der Bundesregierung nicht notwendig
(Beifall bei der SPD)
wäre? Ein Blick in die Statistik ist hilfreich und hätte
auch Ihnen, Herr Dr. Olderog, aufgezeigt, daß es auf Dann hätten Sie auch die Bundesregierung auffor-
keinen Fall so weitergehen darf wie bislang prakti- dern können, gezielt an den bisherigen Schwach-
ziert. Das Statistische Jahrbuch für die Bundesrepu- punkten tätig zu werden.
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Brunhilde Irber
Als nächstes fordern Sie die Bundesregierung auf, Oder ist es der eingetragene Verein: die Feuerwehr,
auch weiterhin wirkungsvoll - das mögen Sie beson- der Schützenverein?
ders: weiterhin wirkungsvoll -
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Frau Kollegin,
(Heiterkeit bei der SPD) es hat etwas mit § 12 Gaststättengesetz zu
tun!)
die mittelständischen Gaststättenbetriebe bei der
Auslandswerbung durch die Deutsche Zentrale für - Das weiß ich. Ich habe schon hinter und vor der
Tourismus zu unterstützen. Die DZT ist ein eingetra- Theke gestanden, als Vereinsvorsitzende und als
gener Verein, also ein Zuwendungsempfänger. Die Wirtin. Ich weiß schon, wovon ich rede. -
Forderung soll dann doch wohl eher heißen, die Bun- (Beifall bei der SPD und der PDS sowie des
desregierung solle die DZT weiterhin großzügig fi- Abg. Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.])
nanzieren, ohne auf ihre Zielsetzung maßgeblich
Einfluß zu haben. Oder meinen Sie den Verein, der steuerlich als ge-
meinnützig anerkannt ist und am Rande seiner Mit-
(Zuruf von der SPD: Der Verdacht liegt gliederversammlung zur Finanzierung seines ge-
nahe!) meinnützigen Zweckes Getränke verkauft? Wollen
Sie hier die Gemeinnützigkeit aushebeln und diesen
Gleich im nächsten Satz, fordern Sie dann aber, daß
Bereich für die Steuerabschöpfung erfassen? Sagen
sich das Gewerbe selbst finanziell stärker an der
Sie das den Vereinen so?
Werbung beteiligen soll. Soll also dann die Bundesre-
gierung ihre Unterstützung in dem Maße zurückfah- Des weiteren wollen Sie die Sozialversicherungs-
ren, in dem sich das Gewerbe finanziell selbst betei- freiheit für geringfügig Beschäftigte erhalten. Ha-
ligt? ben Sie sich einmal Gedanken darüber gemacht, daß
Sie mit der Propagierung dieser Sozialversicherungs-
Als nächstes regen Sie eine zentrale Stelle zur freiheit die zukünftigen Sozialfälle im Alter schaffen?
Koordinierung der verschiedenen Werbeaktivitäten
an, also noch eine Organisation, die auch wieder (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Geld kosten würde. GRÜNEN und der PDS)
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Es geht nur um Vor allem wird dadurch die Altersarmut von Frauen
die Koordinierung!) von morgen vorprogrammiert.

Dieser Punkt in Ihrem Forderungskatalog ist in sich (Beifall bei der SPD)
nicht schlüssig. Ich könnte Ihnen Beispiele en masse aus Niederbay-
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Aber es ist gut, ern nennen. Was Sie dort in viereinhalb dürftigen
daß Sie das so genau gelesen haben!) Zeilen beschrieben haben, trifft das Problem in kei-
ner Weise.
Dann kommt es aber ganz dick: Die Fremdenver-
kehrsdebatte als Vehikel für eine Unternehmen- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Keiner will den
steuerreform und für die Forderung nach Abschaf- Mißbrauch!)
fung der Gewerbekapitalsteuer zu benutzen, das ist Wir sind für die generelle Einführung der Versiche-
nicht recht ernst zu nehmen. rungspflicht. Wenn diese Regelung allgemein gültig
ist, bestehen auch für das Gastgewerbe keine Wett-
(Beifall bei der SPD und der PDS) bewerbsnachteile.
Wenn Sie gegen kommunale Abgaben wettern, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
frage ich mich: Kennen Sie denn das Kasseler Urteil GRÜNEN und der PDS)
nicht? In einem Antrag der Union und der F.D.P. im
Zusammenhang mit dem Wettbewerb den Begriff Was soll denn Ihre sibyllinische Formulierung in
„fair" zu finden eröffnet für mich ein völlig neues der nächsten Forderung, die vorhandenen Regelun-
Politikfeeling. Der unlautere Wettbewerb ist gesetz- gen des Arbeitsförderungsgesetzes zu nutzen? - In
lich erfaßt. Treten Sie denn neuerdings für eine den Fällen eines prekären Arbeitskräftemangels,
Erweiterung der Menschenrechtsdebatte auf den wenn Arbeitgeber also händeringend nach Mitarbei-
wirtschaftlichen Wettbewerb ein? tern suchen, wollen Sie die Arbeitsförderungsgesetze
heranziehen? Sie meinen doch wohl: Die Zumutbar-
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der keitsregelung bei Arbeitslosen soll überprüft wer-
PDS) den. Was haben Sie hier für Geschichten vor? Einen
deftigen bayerischen Ausdruck dafür ersparen Sie
Im nächsten Punkt fordern Sie, die Schwarzgastro- mir bitte an dieser Stelle. Schreiben Sie deutlich und
nomie wirkungsvoll einzudämmen. Wie das gesche- verständlich in Ihren Antrag, was Sie überhaupt wol-
hen soll, schreiben Sie in Ihrem Antrag aber nicht. len.
Und überhaupt: Was ist in Ihrem Sprachgebrauch
Schwarzgastronomie? Meinen Sie damit die CSU- Ihr vorletzter Punkt, Deregulierung, ist in Ord-
Gastronomie in Bayern? nung.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dein (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Wenigstens ein
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Lichtblick!)
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Brunhilde Irber
Abbau von Bürokratie ist immer gut. Hier stellt sich terstützung der DEHOGA in ihrem eifrigen Bestre-
aber wieder die Frage: Welche Regelungen wollen ben, umweltfreundlichen Betrieben Hilfe zu gewäh-
Sie denn einschränken oder aufheben, und was soll ren.
an deren Stelle treten? Hierzu finden sich leider in
Ihrer Vorlage keine Hinweise. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Olaf Feld
Zu guter Letzt: das Subsidiaritätsprinzip. Auch mann [F.D.P.] - Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]:
das ist immer gut, vor allem, wenn es so allgemein Da sind wir uns wieder einig!)
gehalten ist wie in Ihrem Antrag.
Außerdem frage ich Sie: Wie sieht eine Steuerhar-
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dem monisierung zugunsten des mittelständischen Ge-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) werbes aus? Wie werden die Steuerausfälle kompen-
siert, die durch Abschaffung der Gewerbekapital-
Welcher Regelungsvorgang der Europäischen Union steuer und durch Absenkung der Gewerbeertrag-
stößt denn auf Ihr Mißfallen? Welche Regelung steuer entstehen?
könnte denn besser auf regionaler oder lokaler
Ebene individuell entschieden werden? (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Kommunale
Steuerreform!)
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Zum Beispiel Wie wollen Sie die gewünschte gemeinnützige
bei der Pauschalreisegesetzgebung!) Schwarzmarktgastronomie von der unerwünschten
wirkungsvoll trennen, ohne die Vereine und die Dorf-
Ihre Forderung enthält lediglich dieselbe Aussage,
gastronomie gegenseitig auszuspielen?
die die Bundesregierung bereits in der Antwort auf
die Große Anfrage, Drucksache 12/8489, gemacht Wenn Sie dann noch eine Deregulierungsverord-
hat. Also, auch hier nichts Neues. nung vorlegen können, dann macht die Diskussion
um Ihren Antrag Sinn. Wenn Sie diese Fragen nicht
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Sie wol- beantworten können, dann ziehen Sie doch bitte Ih-
len also diesen Antrag ernsthaft in das Beratungsver- ren Antrag zurück; denn er bringt dem Hotel- und
fahren des Fremdenverkehrsausschusses einbringen. Gaststättengewerbe so überhaupt nichts.
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: So ist es!) (Beifall bei der SPD)

Ich denke, das geht so nicht. Dafür haben Sie noch


eine Reihe von Hausaufgaben zu erledigen. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin,
Sie müssen aber trotzdem zum Schluß kommen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS - Dr. Olaf Feldmann
[F.D.P.]: Deswegen geht er ja in die Aus Brunhilde Irber (SPD): Ich komme zum Schluß: Das
schüsse!) Gastgewerbe verdient eine wahrlich bessere Be-
- handlung als das, was Sie hier vorhaben. Ersparen
Erstens. Welche der Bundesregierung zur Verfü- Sie uns im Ausschuß eine längere Debatte darüber
gung stehenden Instrumente wollen Sie wie einset- damit es nicht heißt: Außer Spesen nichts gewesen!
zen bzw. wie ändern, um die Zukunft des Hotel- und
Gaststättengewerbes langfristig zu sichern? Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Zweitens. Welche verfassungsrechtlichen Kompe-
tenzen muß die Bundesregierung erhalten, um Ihren GRÜNEN und der PDS sowie des Abg.
Forderungskatalog wirklich erfüllen zu können? Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.] - Dr. Olaf Feld
mann [F.D.P.]: Beifall, weil es Ihre erste
Drittens. Wie ist ein Reservierungssystem anzule- Rede war!)
gen, um damit die mittelständische Hotellerie zu un-
terstützen? Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin
Irber, das war Ihre Premiere in diesem Hause. Dazu
Viertens. Welche Veränderungen wollen Sie im
möchte ich Ihnen herzlich gratulieren.
Auslandsmarketing vornehmen, um die mittelständi-
schen Betriebe zu unterstützen? Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Ulrich
Schmalz.
Fünftens. Wie wollen Sie die 40 Kriterien des Deut-
schen Hotel- und Gaststättenverbandes für einen
umweltfreundlichen Betrieb umsetzen? Ulrich Schmalz (CDU/CSU): Verehrter Herr Präsi-
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das machen Kollegin Irber hat sicherlich eine bemerkenswerte
doch die Betriebe, Frau Kollegin!) Rede gehalten. Ich fand Sie sehr sympathisch, Sie ha-
ben so nett gelacht, Sie passen eigentlich viel besser
Welche Instrumente braucht die Bundesregierung, in die CDU-Fraktion.
um hierbei hilfreich zu sein? - Aber Sie haben es doch
im Antrag drin! - Wir fordern eine deutliche Un (Beifall bei der CDU/CSU)
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Ulrich Schmalz
Ausgezeichnet war Ihre intensive Befassung mit nomie und in der Hotellerie eine Qualifizierungsof-
dem Antrag der Koalitionsfraktionen. Das heißt, die- fensive; denn nur wirkliche Unternehmer - nicht
ser Antrag muß substantiell eine erhebliche Bedeu- Leute, die nur eine Kneipe führen - sind auch in der
tung haben; sonst hätten Sie sich nicht so ausführlich Lage, sich nach den Usancen des Marktes, des Wett-
mit ihm befaßt. bewerbs zu bewegen. Das heißt, wir brauchen prä-
ventiv eine Qualifizierungsoffensive.
(Zuruf von der SPD: Das müssen wir ja!)
Wir brauchen aber auch eine Nachqualifizierungs-
Meine Damen und Herren, wer einmal einem Auf- offensive; denn auch in dieser Branche gelten Ge-
sichtsrat einer lokalen Bank angehört hat, der weiß, setzmäßigkeiten. Nicht: Die Großen fressen die Klei-
daß es kaum eine Branche gibt wie das Hotel- und nen, sondern: Die Langsamen werden von den
Gaststättengewerbe, in der eine so grausige Bilanz Schnellen gefressen. Das heißt, nur derjenige, der
vorherrscht. Das Eigenkapital in der Hotellerie, in
wirklich Unternehmer ist, hat in dieser Branche eine
der Gastronomie steht in vielen Fällen auf der fal- Chance.
schen Seite. Wir haben einmal das Wort „Minus-
wachstum" gehabt. Hier ist es das „Minuskapital", Wir erleben eine ganz beachtliche Veränderung
das die Branche kennzeichnet. der Strukturen. Wir erleben - wie in fast allen Bran-
chen - eine Segmentierung der Märkte, in der Ga-
Das führt natürlich auch dazu, daß die Banken bei
stronomie am konsequentesten von der Systemga-
Kreditgewährungen eine ungewöhnliche Zurückhal-
stronomie angewandt. Denken Sie an die Abteilung
tung an den Tag legen. - Ich will hier keine Kritik an
„Burger". Dort setzt man auf standardisierte Pro-
den Banken üben; denn die Banken sind Treuhänder
dukte und auf konsequentes Marketing. Das gleiche
von Kundeneinlagen. - Bilanzen werden bekanntlich
gilt für die Ketten der Hotellerie. Auch dort gibt es
herangezogen, wenn Kredite gewährt werden. Wenn
eine Standardisierung der Produkte, Marketing und
die Bilanzen eben ausweisen, daß es keine Ertrags-
Verkaufssteuerung.
kraft, sondern ein „Minuskapital" gibt, dann fördert
das nicht die Bonität. Das führt am Ende zu mangeln- In der privaten Hotellerie gibt es Ansätze von Ko-
der Investitionsfähigkeit. Es gibt eine Statistik, die operation. Denken Sie an „Romantik-Hotels", „Ring
zeigt, daß die Gastronomen am unteren Ende der Hotels". Aber das beschränkt sich im wesentlichen
Einkommensskala liegen. auf Marketingmaßnahmen. Ich glaube deshalb, daß
es richtig und gut ist, wenn wir auch mit materieller
Es gibt noch eine interessante und betrübliche
Unterstützung dazu kämen, daß im Rahmen dieser
Feststellung, nämlich daß die Gastronomen der Be-
Hotelkooperationen ständig Betriebsvergleiche
rufsstand mit der geringsten Lebenserwartung sind.
möglich sind, daß sich die Hotels mit Instrumenten
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Weil sie zuviel wie bei DER-Data, also bei den Reisebüros, bei de-
schaffen!) nen es monatlich Betriebsvergleiche gibt, der Selbst-
kontrolle stellen können, daß sie feststellen können,
- In der Tat, Herr Kollege Feldmann. Sie haben ja - wo Abweichungen sind und wo ein Gegensteuern
das zeichnet Sie aus - auf dem Gebiet der Gastrono- notwendig ist.
mie durchaus beachtliche Kompetenz. -
Wir brauchen auch ein besseres Binnenmarketing.
Wir haben es in der Gastronomie mit einer hohen Jede geschlossene Gaststätte ist ein Stück Kulturver-
Fluktuation zu tun. Wir haben ein hohes Maß an Be- lust.
triebsaufgaben. Das führt zu mangelnder Kontinuität
in der Leistung. Es macht keinen Sinn, sich daran zu (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Richtig!)
berauschen, daß in diesem Bereich eine Million Be-
Ich glaube auch, daß wir an die Gemeinden appellie-
schäftigte tätig sind. Vielmehr müssen wir hier und
ren müssen, etwas weniger im Bereich der Para-Ga-
heute die Situation ungeschminkt beschreiben;
stronomie zu investieren. Ich glaube, es macht kei-
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Sehr richtig!) nen Sinn, daß wir auf der einen Seite das Sterben
von Gaststätten beklagen und daß die Gemeinden
denn nur dann, wenn wir uns wirklich realistisch und auf der anderen Seite Bürgerhäuser und Dorfgemein-
ungeschminkt mit der Situation beschäftigen, sind schaftshäuser errichten und damit mit ungleichen
wir in der Lage, auch die richtigen Therapien anzu- Mitteln zum Wettbewerber für die dörfliche Gastro-
wenden, die zu einer Gesundung beitragen können. nomie werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: So ein
Der sehr sympathische und von mir hochgeschätzte Quatsch!)
Kollege Heiner Geißler würde in solchen Fällen im Binnenmarketing heißt auch, die Gaststätte wieder
Zweifel dazu raten, ein Gaststättensicherungsgesetz als Kommunikationsstätte zu sehen. Stammtisch,
zu verabschieden und anschließend einen Gaststät- liebe Freunde, hat auch eine Sozialfunktion. Wer
tenbedarfsplan aufzustellen. wollte das leugnen?
In der Wirtschaft haben wir in der Regel andere (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so
Möglichkeiten, Ursachenforschung zu betreiben. Ur- wie bei Abgeordneten der SPD)
sache Nummer eins ist aus meiner Sicht die Tatsache,
daß der Zugang zum Gewerbe ohne besonderen Meine Damen und Herren, Urlaub ist kein saiso-
Qualifizierungsnachweis möglich ist. Deshalb ist nales Produkt mehr. Die Zeiten, in denen zwei-, drei-
meine erste Forderung: Wir brauchen in der Gastro- mal im Jahr Urlaub genommen wurde, sind vorbei.
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Ulrich Schmalz
Urlaub erstreckt sich heute über das ganze Jahr. Das Ulrich Schmalz (CDU/CSU): Ich möchte dies in al-
heißt, wir haben Urlaubsansprüche, die über das ler Kürze tun, Herr Präsident, weil an der Bundesre-
ganze Jahr befriedigt werden. Das bedeutet, daß wir gierung nicht sehr langatmig Kritik geübt werden
in der Infrastruktur auch Maßnahmen ergreifen müs- kann. - In den letzten vier Jahren, in denen es erst-
sen, damit eine Saisonverlängerung stattfindet, da- mals einen Vollausschuß Fremdenverkehr im Bun-
mit die Betriebe ganzjährig - ungeachtet der Wetter- destag gegeben hat, war der Bundeswirtschaftsmi-
situation - Urlaub anbieten können. nister nicht einmal in diesem Ausschuß.
Lassen Sie mich noch wenige Sätze zu der heute (Beifall bei der SPD)
mehrfach erwähnten Tatsache sagen, daß wir einen
Bei aller Wertschätzung für unseren Kollegen und
real sinkenden Ausländerreiseanteil haben. Es ist
Parlamentarischen Staatssekretär Kolb, der jetzt
schon gesagt worden: 63 Milliarden DM für Aus-
landsurlaub, 17 Milliarden aus dem Incoming. Das noch eine besondere Erhöhung erfahren hat, weil er
zum Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung
heißt, wir haben ein beträchtliches Leistungsbilanz-
ernannt worden ist: Eine Branche mit 1 Million Be-
defizit, das im wesentlichen aus dieser Differenz
schäftigten und 100 Milliarden Umsatz verdient es,
herrührt. Es ist schon ein kleines Wunder, daß die D-
daß der Bundeswirtschaftsminister diesem Ausschuß
Mark immer noch so stabil ist.
auch einmal persönlich seine Aufwartung macht.
Ich möchte noch eine andere Anregung geben. Wir
Vielen Dank.
haben über die DZT gesprochen. Die deutsche Wirt-
schaft errichtet zur Zeit in einer ganzen Reihe von (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so
Ländern, in einer ganzen Reihe von Städten soge- wie bei Abgeordneten der SPD)
nannte Deutsche Häuser. Denken Sie an Shanghai,
denken Sie an Singapur, an Japan. Ich glaube, daß
es Sinn macht, wenn in den Deutschen Häusern auch Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun erteile ich
eine Filiale der DZT ihren Sitz hat, um ein gebündel- dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundes-
tes Leistungsangebot zu erbringen. minister für Wirtschaft, unserem Kollegen Kolb, das
Wort.
Meine Damen und Herren, Deutschland sollte in
seiner Werbung auch seine Events einbringen, seine
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun-
Möglichkeiten, die sich aus unserer Geschichte, aus
desminister für Wirtschaft: Herr Präsident! Liebe Kol-
unserem kulturellen Angebot ergeben. Denken Sie
leginnen und Kollegen! Ich muß Ihnen zu Beginn
daran, daß 1999 Goethes 250. Geburtstag ist. Warum
meiner Rede sagen, daß die Kollegen von der Koali-
können wir uns nicht entschließen, unsere Dichter,
tion ihren eigenen Antrag umfassend gewürdigt ha-
unsere Denker auch ein bißchen im positiven Sinne
ben. Daher braucht es nur wenig Zeit, dieses jetzt
für Werbung für Deutschland einzuspannen? Das
aus der Sicht der Bundesregierung zu tun.
sind Werbeträger! Ein Goethe-Jahr in Deutschland
könnte für uns eine beträchtliche Verbesserung der (Zuruf von der F.D.P.: Der Antrag spricht für
Reiseströme, gerade auch aus dem Ausland, bringen. sich selbst!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der-F.D.P.) Ich bitte um Nachsicht, wenn ich mich, auch mit
Blick auf die fortgeschrittene Tages- und Debatten-
Wir brauchen auch, meine Damen und Herren,
zeit, kurzfassen muß.
eine europäische Initiative - ich rede in voller Kennt-
nis der Probleme -, nicht eine Mär Europas mit Blick Frau Kollegin Irber, das Kompliment möchte ich Ih-
auf Fremdenverkehrsmaßnahmen. Ich glaube, daß es nen doch noch machen: Ihr Vortrag war wirklich er-
Sinn macht, daß wir uns in Europa so etwas wie die frischend, auch wenn ich ihm inhaltlich in weiten
PATA zulegen. Das ist eine Organisation, die im pazi- Teilen nicht zustimme. Aber richtig war Ihr Satz: Die
fischen Raum Urlaub begünstigt veranstaltet. Europa Bundesregierung hat etwas für die Branche getan. -
partizipiert zur Zeit unterschiedlich an den weltwei- Das kann ich nur voll und ganz unterstreichen.
ten Reiseströmen. Deshalb macht es Sinn, auch ein-
mal darüber nachzudenken. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wir brauchen insge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Tatsache, daß
samt mehr Bewußtsein für die ökonomische Bedeu- sich der Deutsche Bundestag heute ausführlich mit
tung dieser Branche. Diese Branche hat auch im ge- der Situation im deutschen Hotel- und Gaststerbege-
samtwirtschaftlichen Maßstab eine erhebliche Be- werbe
deutung. (Große Heiterkeit)
Lassen Sie mich an dieser Stelle - das ist für ein - Entschuldigung, Gaststättengewerbe - befaßt, be-
Mitglied der Koalitionsfraktionen sicherlich ein un- weist den hohen Stellenwert, den das Parlament die-
gewöhnlicher Vorgang - auch ein Wort der Kritik an ser Schlüsselbranche des Fremdenverkehrs in
die Bundesregierung sagen, meine Damen und Her- Deutschland zu Recht beimißt. Ich denke, daß sicher-
ren. lich auch - -
(Fortgesetzte Heiterkeit)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Trotzdem, Herr
Kollege, müssen Sie mit Ihrer Rede nun zum Schluß - Ich bitte um Auszeit, Herr Präsident. Das Parlament
kommen. ist nicht ernst genug.
1490 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Kapazitäten sind stark angestiegen, und die Nach-
hier gilt der alte Satz: Ein guter Redner findet sein frage schrumpft, nicht zuletzt auch deshalb, weil die
Publikum. Nachfrage des Auslandes in den vergangenen Jah-
ren enorm abgenommen hat.
(Heiterkeit)
(Marion Caspers-Merk [SPD]: Warum wohl?
- Susanne Kastner [SPD]: Müssen wir doch
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- noch einmal mit der DZT sprechen?)
desminister für Wirtschaft: Das ist sicherlich richtig,
Herr Präsident. Wenn aber der Redner zum Lachen Als Ergebnis dieser Entwicklung befindet sich diese
gebracht wird, Branche wie auch andere Wirtschaftssektoren in ei-
nem tiefgreifenden Strukturwandel. Ich bin aber si-
(Erneute Heiterkeit) cher, daß der sich vollziehende Strukturwandel ins-
ist das natürlich sehr schwer. gesamt zu höherer Leistungs- und damit auch Wett-
bewerbsfähigkeit des deutschen Hotel- und Gaststät-
tengewerbes führen wird. Immer mehr Betriebe
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Da haben Sie schließen sich in Marketingkooperationen und Hotel-
schon recht. ketten zusammen, um das eigene Angebot transpa-
renter vermarkten zu können.

Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- (Susanne Kastner [SPD]: Das ist dann der
desminister für Wirtschaft: Ich meine, daß die wirt- Mittelstand!)
schaftliche Bedeutung dieser Branche hier zu Recht
gewürdigt wird. Ich muß ganz deutlich sagen, Frau Kollegin: Nach
meinem Verständnis und auch dem der Bundesregie-
Ich möchte, weil dies heute abend noch nicht ge- rung sollte man keine Schutzzäune um überholte,
schehen ist, in dieser Debatte feststellen, daß der Ge- nicht mehr wettbewerbsfähige Strukturen ziehen.
schäftsverlauf im deutschen Hotel- und Gaststätten- Das wäre sicherlich auch für die Branche nicht gut.
gewerbe zunehmend positiv wird. Nach einer Um- Es geht vielmehr darum, daß wir dem Hotel- und
frage des Deutschen Industrie- und Handelstages bei Gaststättengewerbe bei der Bewältigung des Struk-
mehr als 4 000 Unternehmen gehen derzeit mehr als turwandels helfen. Das wollen wir sehr gerne tun.
drei Viertel der Unternehmen davon aus, daß der Ge-
schäftsverlauf vom Frühjahr an zumindest gleichblei- (Susanne Kastner [SPD]: Wenn Sie noch sa
ben oder sich sogar noch verbessern wird. Für diese en, wie, sind wir zu Gesprächen bereit!)
realistische Einschätzung spricht auch die Tatsache, Zu den Förderungen zähle ich in erster Linie die
daß mehr als 70 % der Betriebe Investitionen in die Zuschüsse im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe
Zukunft planen. „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur",
Auf die wirtschaftliche Bedeutung, die 1 Million das Eigenkapitalhilfeprogramm
--g
Beschäftigten und die 100 Milliarden Umsatz, ist hier
(Susanne Kastner [SPD]: Das haben Sie
schon hingewiesen worden. Ich möchte nur noch be-
schon einmal gesagt! - Marion Caspers
tonen, daß gerade auch in den neuen Ländern spür-
Merk [SPD]: Das wird durch Wiederholen
bare Hilfen von Bund und Ländern dafür sorgen, daß nicht mehr!)
das Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe einen
vorderen Platz beim wirtschaftlichen Aufbau ein- und die zinsgünstigen ERP-Darlehen. - Zahlen habe
nimmt. So wurden u. a. im Rahmen des Eigenkapital- ich hier schon genannt. - Dazu zähle ich weiter die
hilfeprogramms 1994 über 1 800 Unternehmen des Unterstützung im Rahmen der Deutschen Zentrale
Gastgewerbes mit 411 Millionen DM gefördert. Das für Tourismus, woran sich der Bund nach wie vor - er
sind immerhin 13,5 % der gesamten Kreditmittel; da- wird das auch in Zukunft tun - mit erheblichen Beträ-
mit ist dies ein deutlich über dem Anteil der Branche gen beteiligt.
am Bruttoinlandsprodukt liegender Prozentsatz.
(Susanne Kastner [SPD]: Da gucken wir
(Zuruf der Abg. Susanne Kastner [SPD] - noch einmal genau hin!)
Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Jetzt sagen Sie
der Frau Kastner auch noch, daß das Eigen Daß sich aber auch die Wirtschaft selbst, die Unter-
kapitalhilfeprogramm fortgesetzt wird!) nehmen der Branche, in Zukunft stärker engagieren
soll und muß, als das bisher der Fall gewesen ist, ist
- Frau Kollegin, ich glaube, wir haben uns darüber sicher keine unzulässige Bitte, kein unzulässiger
schon unterhalten. Ich bin in der Not, hier nur noch Hinweis.
zwei Minuten zur Verfügung zu haben. Es würde si-
cherlich mehr Zeit erfordern, darüber zu debattieren. Schließlich möchte ich noch sagen, daß ein flä-
Das werden wir in der nächsten Ausschußsitzung chendeckendes, einheitliches, vom Ausland her zu-
nachholen. gängliches Reservierungs- und Informationssystem
für Beherbergungsbetriebe auf der Tagesordnung
Ich möchte der Kollegin Irber insofern beipflichten, steht.
als sie zu Recht gesagt hat, daß die Branche unter ei-
nem verschärften Wettbewerbsdruck steht: Die Er- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Vorsicht vor
gebnisse stagnieren. Die Erlöse sind rückläufig. Die Dauersubventionen!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1491
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb
Wir, das Bundesministerium für Wirtschaft, haben Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
mit der touristischen Informationsnorm wesentliche Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwar
Vorarbeit geleistet. Ich bin zuversichtlich, daß mit steht die Fastnacht vor der Tür und damit auch die
German Soft in Kürze ein entsprechendes System zur Zeit der Kostümierung.
Verfügung stehen wird.
(Unruhe bei der SPD)
Es gäbe eine ganze Menge zu sagen zu vielen
Punkten, die im Koalitionsantrag richtig erwähnt
worden sind: z. B. die Revitalisierung der Innen- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Einen Augen-
städte und die Beibehaltung der Sozialversiche- blick, Herr Kollege! - Meine Kolleginnen und Kolle-
rungsfreiheit für geringfügig Beschäftigte, die wir gen von der SPD-Fraktion, ich bitte wirklich, die Ge-
richtig finden, damit den Klein- und Mittelbetrieben spräche nach draußen zu verlagern. Wir sind bereits
des Gastgewerbes die Möglichkeit zur Bewältigung beim nächsten Punkt der Tagesordnung. Wenn Sie
von Saison- und Auftragsspitzen erhalten bleibt. weiter stören, unterbreche ich die Sitzung.
Wir sind auch dafür - das möchte ich noch sagen, Herr Kollege, Sie haben das Wort.
bevor ich schließe -, daß es keine Tourismuskompe-
tenz in der europäischen Kommission geben soll.
Wir werden dies mit Blick auf das Subsidiaritätsprin- Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zip auch im nächsten Jahr auf der dann stattfinden- Trotz Fastnacht haben Sie es hier nicht mit einem A n
den Regierungskonferenz zur Revision des Vertrages -tragzun,deschwitmgrüneMäl-
von Maastricht deutlich machen. chen. Wenn die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN bei allen umweltrelevanten Entscheidungen im
Damit ist meine Redezeit leider abgelaufen. Ich Kabinett ein Vetorecht für die Ministerin für Um-
hätte gerne noch mehr zum Antrag gesagt. Ich be- welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit einfordert,
danke mich aber für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe, dann wollen wir weniger der Koalition einen Gefal-
daß Sie mein Versprecher von vorhin nicht zu sehr len tun als dazu beitragen, daß Umwelt- und Natur-
belustigt hat. schutz konsequent umgesetzt werden, praktisch als
Vielen Dank. überparteiliche Staatsaufgabe.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Bisher jedenfalls hat die Bundesregierung die Ein-
Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Vielen Dank für sicht vermissen lassen, daß die drängenden Umwelt-
den fröhlichen Beitrag! - Ulrich Irmer probleme auf allen Ebenen eine zentrale Herausfor-
[F.D.P.]: Wir freuen uns auf das nächste derung des Staates darstellen, ohne deren Bewälti-
Mal!) gung auch der Fortbestand des demokratischen Ge-
meinwesens einer modernen Gesellschaft gefährdet
ist. Trotzdem hat das Parlament in der letzten Legis-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe laturperiode - entgegen den Empfehlungen des
damit die Aussprache. Sachverständigenrates für Umweltfragen - eine
Staatszielbestimmung nur in Form eines bloßen Ge-
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
setzgebungsauftrags in das Grundgesetz aufgenom-
auf Drucksache 13/541 an die in der Tagesordnung
men. Art. 20a über den Schutz der natürlichen Le-
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe
bensgrundlagen sieht zwar die hohe Verantwortung,
keine weiteren Vorschläge. Ich sehe und höre keinen
für die künftigen Generationen die natürlichen Le-
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
bensgrundlagen zu schützen, dies jedoch nur nach
Maßgabe von Gesetz und Recht durch die Verwal-
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: tung und Rechtsprechung. Der Sachverständigenrat
sprach daher im letzten Umweltgutachten zu Recht
Beratung des Antrags des Abgeordneten von einer entscheidenden Schwächung der Staats-
Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion BÜND- zielbestimmung, die der fundamentalen Bedeutung
NIS 90/DIE GRÜNEN
des Umweltschutzes im Sinne einer dauerhaft um-
Widerspruchsrecht für die Bundesministerin weltgerechten Entwicklung nicht gerecht wird.
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit Heute - und dann später im Ausschuß - haben Sie
die seltene Gelegenheit, „im Rahmen der verfas-
- Drucksache 13/352 sungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung" -
—Überwisungvorschlag: wie es im Grundgesetz heißt - die Bundesregierung
aufzufordern, die fundamentale Bedeutung des Um-
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
weltschutzes in der Geschäftsordnung der Bundesre-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für gierung festzuschreiben, und zwar durch ein Wider-
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wo- spruchsrecht, das in Ausübung und Umfang dem des
bei die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zehn Finanzministers für Entscheidungen innerhalb des
Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Wi- Kabinetts entspricht. Denn was würde mehr von öko-
derspruch. Dann werden wir so verfahren. logischer Reife zeugen als eine Orientierung an ei-
nem dauerhaften, vorsorgenden Umweltschutz durch
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Ab- eine umweltpolitische Richtlinienkompetenz für die
geordnete Dr. Jürgen Rochlitz. Umweltministerin?
1492 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dr. Jürgen Rochlitz


Sie, Frau Merkel, und alle künftigen Umweltmi- In der Tat ist es schon lange unverantwortlich, daß
nister müssen gegenüber der Konkurrenz der ande- die Weichen für einen dritten Weg der Energieversor-
ren Bundesressorts endlich energisch und offensiv gung über die regenerativen Quellen von den ande-
auftreten können und wollen. ren Ressorts immer wieder blockiert wurden und
werden
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wer blok
Es kann nicht angehen, daß Entscheidungen der Res- kiert denn da?)
sorts wie Verkehr, Wirtschaft oder Landwirtschaft
dazu führen, daß nur mehr nachsorgender Umwelt- und vom Umweltministerium dann erst gar nicht
schutz möglich ist. Es kann ebensowenig angehen, mehr freigekämpft werden.
daß der Umwelthaushalt zukünftig weiterhin Jahr für Wir wollen erreichen, daß die Umweltministerin
Jahr im nichtnuklearen Teil gekürzt wird. In Anbe- künftig mehr Verantwortung übernehmen muß, in-
tracht der jährlichen Umweltschäden in Höhe von bis dem sie die Chance bekommt, z. B. die gigantischen
zu 300 Milliarden DM stellt der Haushalt der Bundes- Straßenbauversiegelungen auf Grund des Bundes-
ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- verkehrswegeplans per Vetorecht zu stoppen. Sie
cherheit mit 1,3 Milliarden DM nicht mehr als eine muß zu einer Mutter Courage des Umweltschutzes
vernachlässigbare Größe auf Portokassenniveau dar. werden,
(Birgit Homburger [F.D.P.]: Umweltpolitik (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
findet aber nicht im Haushalt statt, sondern
in anderen Gesetzen!) die aufbauend auf Erfolgserlebnissen durch das Veto
zu ganz neuen Gestaltungsmöglichkeiten der Um-
Dies ist nichts anderes als ein Zeichen der Gering- weltpolitik findet, nämlich zu einem Höchstmaß an
schätzung dauerhaft umweltgerechter Politik im ganzheitlicher Vorsorgepolitik. Stellen Sie sich eine
Bundeskabinett. Umweltministerin vor, die per Vetorecht gegenüber
dem Landwirtschaftsminister die Landwirtschafts-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - klausel im neuen Naturschutzgesetz ersatzlos strei-
Dietmar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Das ist chen lassen kann. Selbstverständlich möchten wir
eine Frage der Gesinnung!) der Umweltministerin zu wirklichen Erfolgserlebnis-
Diese Geringschätzung gilt es endlich aufzubre- sen verhelfen,
chen, denn sie ist es doch, die uns seit Bestehen die- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wer glaubt
ses Ministeriums die umweltpolitischen Defizite auf denn das?)
der ganzen Linie gebracht hat, Defizite wie unge-
bremstes Waldsterben, ungebremste Einträge von z. B. wenn Sie das Flugbenzin besteuern lassen will.
schädlichen Stoffen in Luft und Grundwasser durch
Verkehr und Landwirtschaft und weiterhin - nur bei- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
spielhaft - eine nicht einmal im Ansatz gelöste Ab- gestatten Sie eine Zwischenfrage?
fallproblematik mit immer noch steigenden Abfall-
mengen und fehlenden Kreisläufen. -
Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Lisa Peters [F.D.P.]: Das stimmt doch nicht! Einen Moment. Einen Satz noch, dann sehr gerne. -
- Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Der hat Es wäre ein glanzvoller Tag für die deutsche Umwelt-
die ganzen Fortschritte der Umweltpolitik politik geworden, wenn im Falle der Kerosinbesteue-
überhaupt nicht zur Kenntnis genommen!) rung des Umweltministers Vetorecht den Kanzler
hätte ausbremsen können.
Was wäre an Stelle vollmundiger Bekundungen
des Kanzlers über den Stellenwert der Umweltpolitik (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zur Stärkung dauerhaft umweltgerechter Entwick-
Bitte schön.
lung geeigneter als eine Stärkung der Position der
Umweltministerin am Kabinettstisch? Diese Stär-
kung von Frau Merkel am Kabinettstisch soll keines- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Irmer.
wegs bedeuten, daß sie von uns z. B. Flankenschutz
in der Frage der Verantwortbarkeit der Atomenergie Ulrich Irmer (F.D.P.): Herr Kollege, würden Sie mir
oder bei ihren leidigen Weisungen und Weisungs- zugeben, daß es neben dem Umweltschutz auch
rechten nach dem Atomgesetz bekommt. Es trennen noch andere sehr wesentliche Politikbereiche gibt?
uns Welten, wenn die Umweltministerin wie neulich Ich nenne einmal die Volksgesundheit oder die Er-
in der „Frankfurter Rundschau" diktiert: nährung.
Die Kernenergie ist eine verantwortbare Energie, (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wäre es dann nicht folgerichtig, Herr Kollege, daß
Sie für jeden Bundesminister, der ein derart wichti-
die wir jedoch nicht weiterbetreiben können, ges Ressort vertritt, ein Vetorecht fordern würden,
- Sie hören gleich auf zu klatschen, meine Damen mit der Folge, daß in einer Bundesregierung dann
und Herren von der CDU/CSU - nur noch Leute säßen, die sich mit Vetorechten ge-
genseitig blockieren könnten, und würden Sie es
wenn die Entsorgungsfrage weiter blockiert wird. nicht für die vernünftigere und die zwangsläufigere
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1493
Ulrich Irmer
Alternative halten, daß ein Bundesminister, der sich türlicher Lebenszusammenhänge durch anthropo-
mit ganz wesentlichen seiner Anliegen in der Regie- gene Einwirkungen oder Veränderungen anzuneh-
rung nicht durchsetzen kann, dann, statt ein Veto- men oder auch nur zu vermuten sind, sollte das Nein
recht auszuüben, den Rücktritt einreicht? der Umweltministerin wirksam werden.

Atomrechtliche Weisungen, Frau Merkel, an Nie-


Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dersachsen oder Hessen würden sich dann von selbst
Herr Kollege, ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, verbieten. Dann wären wir endlich am dringend nöti-
daß Sie ausgerechnet den Bereich des Gesundheits- gen Wendepunkt, der uns herausführt aus der auch
schutzes und der Nahrung angesprochen haben. In von Sachverständigen für Umweltfragen beklagten
der Tat dokumentieren Sie mit dieser Zwischenfrage, Gegenreformation in der Umweltpolitik, für die an-
daß dieser Bereich letztendlich mit dem Umwelt- dernfalls das Umweltministerium zum Negativsym-
schutz verquickt ist. bol wird.
(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Für die anderen Sa
Meine Damen und Herren, stärken Sie mit Ihrer
chen haben Sie kein Verständnis?)
Zustimmung die Umweltministerin. Sie hat es bitter
Der Umweltschutz ist nämlich eine Querschnittsauf- nötig. Die Stärkung gilt dabei der Umweltpolitik in
gabe und reicht gerade auch in den Gesundheits- ihrer Gesamtheit. Geben Sie mit dieser Entscheidung
schutz hinein. Er ist dem Gesundheitsschutz und der Umweltpolitik in ihrer Gesamtheit das dringend
auch der Nahrungsmittelproduktion übergeordnet. notwendige Gewicht. Ihre Entscheidung hätte dann
durchaus eine vergleichbare Bedeutung wie seiner-
(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Diese Ar zeit diejenige zur Einrichtung eines Umweltministeri-
gumente sprechen doch gegen das Veto ums.
recht!)
Wer wie Frau Merkel kürzlich richtigerweise for-
Insofern ist mit dem Vetorecht im Bereich des Um-
dert, es dürfe nicht mehr von der Substanz des Natur-
weltschutzes genau das abgedeckt, was Sie mir jetzt
kapitals gelebt werden, sondern nur noch von dessen
unterstellen wollen, daß nämlich noch woanders Ve-
Zinsen, der sollte auch einsehen können, daß dann
torechte eingeführt werden sollen.
eine umweltpolitische Richtlinienkompetenz so un-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) verzichtbar ist wie ein Leitzins. Nur so wird das Um-
weltministerium seiner Verantwortung für den ihm
anvertrauten Tresor, das Naturkapital, wirklich ge-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
recht.
gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? - Bitte
schön. Ich bitte Sie, sich im Ausschuß in diesem Sinne zu
verhalten.
Ulrich Klinkert (CDU/CSU): Herr Kollege, in wel-
chen Bundesländern, wo die Grünen mit an der Re- Ich danke für die Aufmerksamkeit.
gierung sind, haben sie ein solches Vetorecht bereits
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
beantragt und durchgesetzt? - und der PDS)

Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):


Herr Staatssekretär, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der
diese Frage stellen. Sie wissen genauso gut wie ich, Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Re-
daß wir in den Parlamenten bisher nirgendwo 51 % aktorsicherheit, Dr. Angela Merkel, das Wort.
der Sitze haben.
(Halo Saibold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Schwacher NEN]: Jetzt bin ich aber gespannt!)
Koalitionspartner! - Birgit Homburger
[F.D.P.]: Sie haben in Hessen den Umwelt
minister gestellt!) Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident!
Wenn Sie Ihre Politik so fortsetzen, gelingt uns das Meine Damen und Herren! Zu dem Antrag der GRÜ-
vielleicht einmal. NEN möchte ich fünf kurze Bemerkungen machen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Fischer, Ihr Fraktionschef, wird doch wohl
Dann sehen wir auch zu, daß dort diese Vetorechte nicht deshalb fehlen und hier nicht sprechen, weil er
eingeführt werden. uns vorenthalten will, welche Bemühungen er unter-
nommen hat, um zu ähnlichen Rechten zu kommen
Noch einmal: Wir wollen mit dem vorgeschlagenen wie die, die Sie heute für mich fordern?
Vetorecht dem Aspekt der Vorsorge eine Gasse
durch den Dschungel der Kabinettsentscheidungen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
bahnen. Vorsorge als politisches Leitbild für die deut-
sche Umweltpolitik bedarf nämlich dringend einer Zunächst möchte ich darauf hinweisen, daß Sie
stärkeren Ausprägung. Sobald Gefahren und unver- sich mit Ihrem Antrag in den Bereich des Selbstorga-
tretbare Risiken für die menschliche Gesundheit wie nisationsrechts der Bundesregierung begeben. Wir
auch für den Erhalt oder die Wiederherstellung na- machen unsere Geschäftsordnung selbst und neh-
1494 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Bundesminister Dr. Angela Merkel


men Tips gerne entgegen. Diesen werden wir aus- Halo Saibold (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau
schlagen müssen. Ministerin, es ist Ihnen doch sicherlich bekannt, daß
die Muttermilch seit Jahren unheimlich verseucht ist
(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sehr
und daß sie, wenn sie Kuhmilch wäre, eigentlich
gut formuliert!)
nicht mehr zu verkaufen wäre. Ich möchte Sie fra-
Denn wir haben bereits - darauf möchte ich noch ein- gen: Wo ist Ihre Kompromißfähigkeit, wenn Sie sich
mal aufmerksam machen - in § 40 Abs. 2 Nr. 3 unse- Ihrer Verantwortung gegenüber den Kindern bewußt
rer Gemeinsamen Geschäftsordnung festgehalten, sind?
daß in allen Vorlagen anzugeben ist, ob und welche
Auswirkungen durch die konkreten Projekte auf die
Umwelt zu erwarten sind. Es ist für uns also eine Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit: Mir bleibt etwas
Selbstverständlichkeit, Umweltpolitik bei jeder politi-
schen Entscheidung mit zu berücksichtigen. verschlossen, wo der Zusammenhang zwischen dem
Antrag Ihrer Fraktion und Ihrer Frage ist. Ich ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mute: Das ist eine Sache, die den Gesundheitsmini-
Wir sind eine Regierung, die sich als ein Kollegial ster genauso beschäftigen müßte wie mich. Die Ver-
organ versteht, d. h. wir sprechen miteinander, wir antwortlichkeit besteht natürlich im Hinblick auf jeg-
debattieren miteinander, und wir versuchen, für die liche Verschmutzungen. Es ist hier von meinem Vor-
verschiedenen Politikbereiche ein verständnisvolles redner davon gesprochen worden, daß wir das Land
Verhältnis zu entwickeln. seien, in dem Verschmutzungen sozusagen grassie-
ren. Da kann man doch nur sagen: Wenn Sie sich in
(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: So Europa und in der Welt einmal umschauen, dann
muß es sein!) werden Sie feststellen, daß wir eine führende Stel-
In der vergangenen Legislaturpe ri ode war ich Frau- lung in vielen Bereichen des Umweltschutzes haben.
enministerin. Da ist für mich genau dasselbe gefor- Dort, wo es noch sein muß, werde ich mich weiter da-
dert worden. Ich habe es damals nicht gewollt, und für einsetzen, daß dies erreicht wird.
ich bin froh, daß ich heute nicht dauernd das Veto
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
der Frauenministerin erwarten muß, wenn ich um-
weltpolitische Dinge beschließe, wobei das Umge- Abschließend möchte ich lediglich darauf hinwei-
kehrte genauso gilt. sen, daß aus Ihrem Antrag auch ein bestimmtes Ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ständnis von Demokratie spricht. Ich kann Ihnen sa-
gen, daß ich der Meinung bin: Der Umweltschutz ist
Weiterhin möchte ich sagen, daß der Antrag von in dieser Regierungskoalition stark genug, um sich
einem bestimmten Politikverständnis zeugt, das ich um Mehrheiten zu bemühen. Wir brauchen kein Ve-
nicht teile. Für mich muß Umweltpolitik auch den torecht. Wir haben die Kraft, uns unsere Mehrheiten
Kompromiß und die Auseinandersetzung suchen und zu beschaffen. Dies werden wir in dieser Legislatur-
nicht dauernd die Konfrontation. periode auch tun.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Herzlichen Dank.
und der F.D.P.) -
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wenn Sie Umweltpolitik lediglich als Konfrontation
mit allem und jedem begreifen, dann kommen Sie
genauso weit, wie Sie bisher gekommen sind. Sie Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat
werden nämlich nicht in die Lage kommen, Dinge nun der Abgeordnete Dietmar Schütz.
wirklich durchzusetzen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dietmar Schütz (Oldenburg) (SPD): Herr Präsident!
Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Rochlitz, Sie
Ich muß Ihnen sagen: Ich bin in der Tat sehr froh,
haben es gerade gehört: Ihre sympathische Forde-
daß es mir bei Politikerinnen wie Frau Griefahn mög-
rung, die Umweltministerin zu stärken, wird von ihr
lich ist, Weisungen zu erteilen, weil sie nämlich ein
so beantwortet, daß sie den Auftrag, Umweltent-
ganz anderes Politikverständnis hat und sich dem,
scheidungen zu berücksichtigen, schon hat. Was da-
was Recht und Gesetz im Lande ist, nicht beugen
bei herausgekommen ist, haben wir alle gemerkt,
will. Da brauchen wir leider eine Weisung.
nämlich gar nichts.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Ich würde sie lieber nicht in Anspruch nehmen. GRÜNEN und der PDS)
Wir haben, so muß ich gestehen, vor zwei Peri-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Minister, oden, also vor acht Jahren in der 11. Wahlperiode,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sai- schon einmal diesen Anspruch als Sozialdemokraten
bold? zusammen mit Ihnen gestellt und haben damals zum
Ausdruck gebracht, daß wir im Zusammenhang mit
Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Umwelt, den UVP-Richtlinien, also den Prüfungen im Hin-
Naturschutz und Reaktorsicherheit: Ja, eine. blick auf die umweltgerechten Leitlinien, den Bun-
destag auffordern, bei Entscheidungen der Bundes-
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der regierung über Vorhaben des Bundes mit erhebli-
F.D.P.) chen Umweltauswirkungen dem Bundesminister für
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1495
Dietmar Schütz (Oldenburg)
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in Wir müssen uns ansehen, wie die Konflikte zwi-
Anlehnung, wie auch Sie das gesagt haben, an schen Umweltministerium und anderen Ministerien
§ 26 GOBReg das Recht einzuräumen, Widerspruch in der Vergangenheit bewältigt worden sind. Ich
zu erheben. habe zwei Beispiele vor Augen. Eine Sache habe ich
selber mit verfolgt: Wir haben vor anderthalb Jahren
Die damalige Bundesregierung hat das abgelehnt, zwischen Verkehrsminister und Umweltminister eine
und sie wird das auch heute wieder ablehnen. Das Einvernehmenssituation betreffend die Befahrensre-
wissen wir wohl. gelung gehabt. Jetzt kommen sie zu einem Kompro-
(Ulrich Klinkert [CDU/CSU]: Wie macht das miß; ich weiß das. Aber wie lange hat es gedauert,
die niedersächsische Regierung?) bis die beiden sich einig wurden? Wie lange hat das
Hin und Her gedauert, obwohl wir einen gemeinsa-
Wir haben diese Forderung gleichwohl nicht wieder- men, einstimmig gefaßten Beschluß, daß die beiden
holt. Auch die GRÜNEN haben sie in der vorigen Pe- sich, verdammt noch mal, einigen sollten, hatten?
riode nicht wiederholt. Daraus sieht man, daß diese Schon bei diesem Ins trument, hinter dem wir poli-
Initiative zweifellos eine Initiative mit großem Sym- tisch praktisch alle standen, hat das eine so lange
bolgehalt ist, aber eben nur mit symbolischem Ge- Zeit gedauert.
halt. Auf einer ganz grundsätzlichen Ebene geht es
Ihnen, glaube ich, darum, zu diskutieren, wieweit Jetzt betrachten Sie das zweite Beispiel, bei dem
der Stellenwert der Umweltpolitik im Kabinett zu er- wir noch gar kein Ergebnis haben. Sie, Herr Rochlitz,
höhen ist und Umweltpolitik von uns ernstgenom- haben auch schon darauf hingewiesen. In der Frage
men wird. Sie wollen die Macht des Umweltministers des Bundesnaturschutzgesetzes und in der Ausein-
auf dem Wege über ein solches formales Instrument andersetzung mit dem Landwirtschaftsminister und
stärken. der Landwirtschaftsklausel haben wir noch immer
keine Regelung. Ich glaube auch nicht, daß wir sie
Ich stimme Ihnen zu, daß der Schutz der Lebens-
durch ein Vetorecht im Kabinett erreichen würden.
grundlagen und der natürlichen Umwelt eine solche
Es liegt daran, daß Umweltminister nicht beißen, daß
Schutzmacht verdient. Nur erhöhen wir den Stellen-
wert der Umwelt nicht dadurch, daß wir eine symbo- sie nicht herangehen und daß sie möglicherweise
nicht für etwas einstehen.
lische Absicherung in der Geschäftsordnung der
Bundesregierung schaffen. Wir müssen vielmehr in
(Beifall bei der SPD)
den Köpfen der Bürger Klarheit darüber schaffen,
wie wichtig die richtige umweltpolitische Weichen-
Dann brauchen sie auch kein besonderes Instrument.
stellung für die nächste Zukunft ist.
Wenn sie von sich aus nicht kämpfen, dann brauchen
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der wir ihnen auch nichts zu geben.
F.D.P.)
(Zuruf von der CDU/CSU: Ist Hessen ge
Wenn wir das schon nicht in der Verfassung durch- meint?)
setzen, brauchen wir das in der Geschäftsordnung
erst recht nicht zu machen. - Ich meine jetzt die Bundesregierung. Ich meine die
-
Wir haben, so muß ich gestehen, das Vetorecht, Konflikte, die wir vor Augen haben. Sie müssen nicht
das wir 1988 haben wollten, deshalb nicht weiter ver- immer Wahlkampf betreiben.
folgt, weil wir meinen, daß wir ein solches scharfes
Recht wie das des Vetos einem Minister, der davon (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
sowieso keinen Gebrauch macht, gar nicht geben
sollten. Die Gestaltungsgeschichte des Bundesnatur-
schutzgesetzes zeigt uns, daß dieses Instrument ei-
(Beifall der Abg. Monika Ganseforth [SPD]) gentlich nur von dem eingesetzt werden kann, der
beißen will. Papiertiger beißen nicht; sie brüllen
Nach meiner Kenntnis ist in der Geschichte des
Vetorechts, das der Finanzminister hat - ich habe nicht einmal. Das reicht uns nicht.
mich bei Finanzexperten erkundigt -, vom Vetorecht
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
faktisch nie Gebrauch gemacht worden, weil alles ei-
gentlich nur im Vorfeld besprochen worden ist. Die-
Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgendeine
ses Widerspruchsrecht ist nur eine Drohung, ist nur
Trasse, daß irgendeine Straße, daß irgendeine Was-
eine „fleet in being", ein Schwert in der Scheide. Es
serstraße, die wir nicht haben wollen, durch ein Veto-
ist aber nie richtig angewandt worden.
recht von den Umweltministern verhindert wird. Des-
Dieses Instrument ist eigentlich auch nur in einer wegen sollten wir ein solches Instrument nicht mit
Einzelregierung denkbar. In einer Koalitionsregie- der hohen Aura versehen.
rung ist es nach meinem Verständnis gar nicht denk-
bar, weil nämlich alle Entscheidungen schon in der Herr Rochlitz, Sie denken, daß wir dadurch eine
Koalitionsvorrunde fallen. Oder können Sie sich vor- solche Bundesregierung, wie Sie sie selber kennen,
stellen, daß Herr Waigel, nachdem alles abgekaspert zum Springen bringen. Doch sie bleibt immer stehen
ist, im Kabinett plötzlich sagt: Aber nun nehme ich und tut es nicht. Deswegen bin ich sehr skeptisch, ob
mein Vetorecht in Anspruch? - Das wird mit der Um- wir die Umweltminister durch dieses Vetorecht, das
weltministerin genauso sein. Ich glaube, dieses In- kein gestaltendes Element in der Politik ist, zum Bei-
strument läuft leer. ßen bringen können. Wir werden das im Ausschuß
1496 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Dietmar Schütz (Oldenburg)


diskutieren. Ich bin skeptisch, ob sie springen und Sie verkennen in Ihrem Antrag auch, daß kluge
beißen. Ich bin ziemlich sicher: Sie tun es nicht. Umweltpolitik um einen Ausgleich mit sozialen und
Danke sehr. wirtschaftlichen Interessen bemüht sein muß. Dar-
(Beifall bei der SPD) über hilft ein Veto eben nicht hinweg. Sie fordern
hier ein Blockadeinstrument. Das führt nicht zum In-
teressenausgleich, sondern zur Konfrontation. Damit
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat schaden Sie den Interessen der Umwelt und nützen
nun die Kollegin Birgit Homburger. ihnen nicht.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Birgit Homburger (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Vor allen Dingen an Sie, Wenn Sie selbst Ihren Antrag ernst nehmen wür-
Herr Kollege Rochlitz, möchte ich mich zunächst ein- den, dann hätten Sie dieses Instrument ja dort, wo
mal wenden. Wenn man sich Ihre Rede anhört, Sie schon einmal in einer Landesregierung gesessen
könnte man wirklich meinen, in den vergangenen haben, vorsorglich einführen und ausprobieren kön-
Jahren sei es hier in der Bundesrepublik im Bereich nen. Dann hätte man wenigstens auf Erfahrungen
des Umweltschutzes nur viel schlechter und viel zurückgreifen können.
schlimmer geworden, und es habe sich überhaupt (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
nichts getan.
Ich möchte Sie daher fragen: Woher kommt denn Um es kurz und knapp zusammenzufassen: Der
die Spitzenstellung der Bundesrepublik Deutsch- Antrag ist genauso einfallslos wie alt. Er ist ein Fossil
land im Umweltschutz? aus der grünen Mottenkiste. Wenn wir über irgend
etwas diskutieren wollen, dann würde ich Ihnen
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
empfehlen, einmal die neuen Entwicklungen in
ten der CDU/CSU)
Großbritannien anzuschauen. Darüber zu diskutie-
Wie ist es eigentlich mit der Luftbelastung - bei- ren bin ich bereit; aber das hier bringt uns in keiner
spielsweise bei Staub und Schwefeldioxid -, die ge- Weise weiter.
genüber den 70er Jahren um zwei Drittel bzw. drei
Viertel zurückgegangen ist? Wie ist es mit der Abfall- Danke.
vermeidung und -verwertung, die greift? Man
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
braucht beispielsweise jetzt geplante Sondermüllver-
brennungsanlagen nicht mehr zu bauen, weil man
darauf verzichten kann. Wie ist es damit, daß wir als Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun erteile ich
erstes Land aus der FCKW-Produktion und -verwen- das Wort dem Abgeordneten Meinrad Belle.
dung zum Ende letzten Jahres ausgestiegen sind?
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Meinrad Belle (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
Wie ist es eigentlich mit den Erfolgen im Gewässer- sehr geehrten Damen und Herren! Wer mit offenen
schutz - beispielsweise beim Rhein -, die sich sehen Augen durch unsere Lande, durch unsere Bundesre-
-
lassen können? Ist das alles eigentlich nichts? publik Deutschland geht, und zwar in Ost und West,
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) der sieht, daß wir in Deutschland eine Spitzenposi-
tion haben. Das wird überall eindeutig bestätigt.
Daher kann ich nur sagen: Man kann zwar immer Man hat manchmal das Gefühl, daß die Kollegen von
noch Fortschritte fordern, man kann zwar immer den GRÜNEN und auch von der SPD gelegentlich
noch Verbesserungen wollen - das wollen wir alle, von unterschiedlichen Ländern reden. Da trifft das
wir wollen weiterkommen im Umweltschutz -, aber alte Bibelwort zu: Sehen und doch nicht sehen, hören
man kann sich doch nicht hierherstellen und sagen, und doch nicht verstehen.
man habe die letzten paar Jahre in dieser Republik
nicht mitbekommen. Denn, meine Damen und Herren, die Umweltpoli-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) tik dieser Regierungskoalition war und ist überaus
erfolgreich, trotz schwieriger wirtschaftlicher Ver-
Ich möchte jetzt noch einige Worte zu dem Antrag hältnisse.
sagen. Sicherlich haben Sie recht, wenn Sie meinen,
Umweltschutz sei eine Querschnittsaufgabe. Das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sehe ich auch so. Die Bemühungen um Umwelt-
schutz sind um so erfolgreicher, je öfter und je früher In der vergangenen Legislaturperiode wurden wich-
er in allen Politikbereichen Berücksichtigung findet. tige Vorhaben realisiert. Stichworte wie Kreislauf-
wirtschaftsgesetz, Umsetzung der Baseler Konven-
Es ist also auch wichtig, daß wir umweltpolitische tion, Umweltstatistikgesetz, Umweltinformationsge-
Überlegungen in alle Prozesse der politischen Ent- setz usw. belegen dies eindrucksvoll.
wicklung und Entscheidungsfindung integrieren.
Aber genau dazu taugt der vorliegende Antrag der Besonders hervorzuheben ist, daß es durch eine
GRÜNEN nicht. Ihr Antrag setzt am Ende des Ent- Vielzahl von Umweltschutzsofortmaßnahmen von
scheidungsprozesses an und will ein Vetorecht für Bund und Ländern gelungen ist, einen Großteil der
die Umweltministerin. Sie verkennen dabei, daß ökologischen Verheerungen in den neuen Bundes-
schon heute in allen relevanten Kabinettsvorlagen ländern zu beseitigen oder wenigstens erheblich zu
neben den Kosten auch die Auswirkungen auf die mildern. Wer die heutige ökologische Situation in
Umwelt dargestellt werden müssen. den anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1497

Meinrad Belle
kennt, weiß: Dies ist eine gewaltige Leistung von ein- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Es spricht nun
maliger historischer Bedeutung. Dafür gebührt den der Abgeordnete Rolf Köhne.
verantwortlichen Ministern, Klaus Töpfer und Angela
Merkel, unser aller Dank. Rolf Köhne (PDS): Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Wir müssen nicht nur mit den uns
Wir werden mit diesen umweltpolitischen Anstren-
anvertrauten Steuergeldern sparsam umgehen, son-
gungen auch in Zukunft nicht nachlassen. Das be-
dern auch mit der außermenschlichen Natur, den
weist doch auch der Haushalt des Umweltministeri -
vorgefundenen Rohstoffen und der Energie. Diese
ums - den Sie offenbar noch gar nicht gelesen haben,
Erkenntnis setzt sich ja glücklicherweise immer mehr
Herr Rochlitz -, der in diesem Jahr um deutlich mehr
durch. Es ist deshalb logisch, daß nicht nur der Fi-
als 6 % ansteigt und damit angesichts einer Steige-
nanzminister das Recht hat, zu sagen, was geht oder
rungsrate für den Gesamthaushalt von lediglich
was nicht geht, sondern auch die Umweltministerin.
0,9 % überproportional angehoben wird. Dieser
Haushalt ist eine ausgezeichnete Grundlage für un- Wir versprechen uns in dieser Legislaturperiode je-
sere nächsten Vorhaben. Dazu gehören z. B. die Ver- doch überhaupt nichts davon. Erst gestern kommen-
wirklichung der ehrgeizigen nationalen Klimaschutz- tierte die „Stuttgarter Zeitung" die 100-Tage-Bilanz
politik, die Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz, unserer Umweltministerin mit der Überschrift: „Die
die Schaffung des Bodenschutzgesetzes usw. ersten hundert Tage im Schatten des Kanzlers", und
das „Handelsblatt" schrieb: „Das Beispiel Flugben-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zin zeigt: Wer aktiv Umweltpolitik gestalten will, den
Meine Damen und Herren, diese Bilanz zeigt: Das bestraft der Kanzler mit einer Abmahnung."
Bundesumweltministerium ist ein starkes Ressort, Letzte Woche überraschte uns Frau Merkel mit ih-
rem Vorstoß zur Privatisierung der atomaren Endla-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ger. Sie will also nicht einmal gestalten; sie will den
in dessen Händen die Umweltpolitik wahrlich gut Einfluß von Bund, Ländern und insbesondere den
aufgehoben ist. Es ist erfolgreich, ohne über das von Betroffenen zugunsten der Profitinteressen der Ener-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nunmehr geforderte Wi- giekonzerne auf Null bringen.
derspruchsrecht im Kabinett zu verfügen. (Birgit Homburger [F.D.P.]: Billiger Quatsch!)
Auch für mich als Innenpolitiker - als Innenpoliti- - Ja natürlich.
ker spreche ich heute abend, Herr Rochlitz - ist die
Umweltpolitik im weitesten Sinne wirklich eine Auf- Allein um die Sicherung dieser Interessen wird es
gabe von besonderer, grundsätzlicher, herausragen- ihr auch bei den Energiekonsensgesprächen gehen.
der Bedeutung. Aber - das wollen wir doch nicht ver- Unsere Schlußfolgerung ist deshalb: Wichtiger als
kennen - daneben gibt es weitere äußerst wichtige ein Vetorecht der Umweltministerin ist ein Ein-
Bereiche, die unsere Bundesregierung im Rahmen spruchs- und Widerstandsrecht all derer, die sich für
ihrer Gesamtverantwortung nicht unberücksichtigt Umweltschutz engagieren und betroffen sind.
lassen kann. Stichworte wie „Sicherheit", „Woh-
nen", „Arbeitsplatz" mögen genügen. - Mit Recht (Birgit Homburger [F.D.P.]: Bei jeder Ent
würden andere Ressorts ähnliche Widerspruchs- scheidung des Kabinetts?)
rechte einfordern. Dies kann doch nicht im Sinne Nach der neuerlichen Castor-Weisung von Frau
einer ersprießlichen und auch sachgerechten, wir- Merkel wird es ohnehin Widerstand geben. Die Men-
kungsvollen Zusammenarbeit innerhalb des Kabi- schen in Niedersachsen wollen diese Zwischenlage-
netts sein. rung auf unbestimmte Zeit in einer Leichtmetallhalle
nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Zuruf von der CDU/CSU: Die Mehrheit
Auch aus diesem Grunde ist der Antrag von BÜND- schon!)
NIS 90/DIE GRÜNEN abzulehnen.
Frau Merkel, Gedankenspiele über eine Neuauf-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, theoretische Stil- lage eines Wiederaufbereitungsprojektes sind Spiele
übungen und Geschäftsordnungsakrobatik sind mit dem Feuer.
keine tauglichen Instrumente einer überzeugenden
Politik. Abgesehen davon kann es auch nicht Sache Abschließend möchte ich deshalb sagen: Wir ver-
des Parlaments sein, geschweige denn - ich sage trauen mehr auf die Aktivitäten von zahlreichen Bür-
dies ein bißchen augenzwinkernd, Herr Rochlitz; es gerinitiativen, die auch mehr Sachverstand aufwei-
ist demnächst Karneval - einer kleinen Oppositions- sen können, als auf ein Vetorecht der Umweltmi-
fraktion, der Regierung vorzuschreiben, wie sie sich nisterin.
zu organisieren hat. Das macht die Regierung schon Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
selber. Sie ist groß und schlau genug dazu.
(Beifall bei der PDS - Dr. Peter Paziorek
Wir lehnen daher den Antrag der Fraktion BÜND- [CDU/CSU]: Das habt ihr in eurer Zeit auch
NIS 90/DIE GRÜNEN entschieden ab. gemacht! Das ist der Stil eurer Partei!)
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich sehe und
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) höre nicht, daß es noch weitere Wortmeldungen gibt.
1498 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch


Ich schließe damit die Aussprache. Es wird die Über- bracht werden sollen, bleibt allerdings abzuwarten.
weisung der Vorlage auf Drucksache 13/352 an die in Der „Nationale Sicherheitsrat" bekräftigte jedenfalls
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- nur wenige Tage später, daß er den Kampf gegen se-
schlagen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. paratistische Bestrebungen weiter verstärken wolle.
Dann ist das so beschlossen.
Anfang Februar diesen Jahres wurde die einzige
Informationsquelle über die systematischen Men-
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 und Zusatzpunkt 10
schenrechtsverletzungen in der Türkei und den kur-
auf:
dischen Gebieten, „Özgür Ülke", verboten. Ermor-
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla dete Journalistinnen und Journalisten, Folter, Ge-
Jelpke, Steffen Tippach und der weiteren Ab- fängnisstrafen und Bombenanschläge pflasterten
geordneten der PDS den Weg dieser prokurdischen Zeitung.

Stopp der Militär- und Wirtschaftshilfe an die Meine Damen und Herren, trotz alledem will die
Türkei sowie Vermittlung für eine politische Bundesregierung planmäßig weiter Waffen in die
Lösung in Kurdistan/Türkei Türkei liefern. Verteidigungsminister Rühe berich-
tete im Januar 1995 vor dem Verteidigungsausschuß,
- Drucksache 13/212 -
daß derzeit Rüstungsgüter im Wert von 52 Millionen
Überweisungsvorschlag: DM geliefert werden. Darunter befinden sich
Auswärtiger Ausschuß (federführend] 39 Bergpanzer, 70 Brückenlegepanzer, Ersatzteile für
Verteidigungsausschuß Kampfpanzer, Flugzeuge und anderes mehr. Es han-
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
delt sich hierbei um die erste Rate von noch offenen
ZP10 Beratung des Antrags der Abgeordneten An- 118,7 Millionen DM aus dem Materialhilfeabkom-
gelika Beer und der Fraktion BÜNDNIS 90/ men mit der Türkei.
DIE GRÜNEN
Insgesamt hat die Bundesregierung Waffen für
Politik der Bundesregierung gegenüber der 1,5 Milliarden DM zugesagt. Beispielsweise sollen
Türkei auf Grund einer Zusage des Bundeskanzlers vom
Sommer 1993 in diesem Jahr auch 150 Millionen DM
- Drucksache 13/538 -
zum Bau von Fregatten für die Türkei vom Bundestag
Überweisungsvorschlag: bewilligt werden - ein lukrativer Auftrag für Thys-
Auswärtiger Ausschuß (federführend) sen, Rheinstahl und die Hamburger Werft Blohm &
Verteidigungsausschuß Voss, wie überhaupt die deutsche Rüstungsindustrie
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
kräftig am Krieg der türkischen Regierung gegen die
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die kurdische Bevölkerung verdient. Etwa 700 deutsche
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und Rüstungsbetriebe produzieren heute militärisches
höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Material auf türkischem Boden.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abge- Der schmutzige Krieg in den kurdischen Gebieten
ordnete Ulla Jelpke. - hat 2 000 Dörfer zerstört, über 3 Millionen Menschen
vertrieben und über 20 000 Menschen das Leben ge-
kostet. Hören Sie, die Sie zu meiner Rechten sitzen,
Ulla Jelpke (PDS): Herr Präsident! Meine Damen endlich auf, diesen Krieg weiter zu unterstützen und
und Herren! Nach jüngsten Berichten von Amnesty zu finanzieren!
International und dem Sonderberichterstatter der
UN-Menschenrechtskommission in Genf hat sich die (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne
Menschenrechtssituation in der Türkei dramatisch ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
verschlechtert. Das Verschwindenlassen von Men-
schen durch Sicherheitskräfte sei an der Tagesord- Zu Recht schreibt der kurdische Bundesverband
nung. Allein im vergangenen Jahr sind fast „Komkar":
400 Menschen politischen Morden seitens der Si- Mit über 70 Milliarden Dollar Auslandsverschul-
cherheitskräfte zum Opfer gefallen. Das sind zwan- dung, mit über 150prozentiger Inflationsrate, mit
zigmal mehr als 1991. Das Ausmaß der Folter ist er- einer Kriegsausgabe, die die Hälfte des Haushal-
schreckend. Auch würden die Foltermethoden weiter tes ausmacht, kann der türkische Staat diesen
perfektioniert, um keine Spuren z. B. bei Elektro- schmutzigen Krieg nicht mehr finanzieren.
schocks, Todesdrohungen, sexuellem Mißbrauch und
ähnlichem zu hinterlassen. Kritisiert wird in dem Be- Nehmen Sie endlich solche Menschen in der Tür-
richt auch die nahezu uneingeschränkte Straffreiheit kei ernst wie den Sprecher des mächtigen Arbeitge-
für Armee und Polizei. Amnesty appelliert an die Re- berverbandes „Tüsiad" und Vorsitzenden der neuge-
gierungen aller Länder, kein Kriegsgerät mehr an die gründeten türkischen Partei „Bewegung für neue
Türkei zu liefern. Demokratie", Cern Boyner, der mir übrigens anson-
sten politisch nicht besonders nahesteht. Im Rahmen
Natürlich ist mir bekannt, daß die türkische Mi- eines Auftritts in Diyarbakir sagte er:
nisterpräsidentin Ciller und der Parlamentspräsident
Cindoruk auf Grund wachsender Kritik an der Men- Die Politik der Leugnung der kurdischen Identi-
schenrechtssituation in der Türkei Reformen ange- tät ist am Ende. Die Türkei muß beginnen, über
kündigt haben. Ob und wie diese sogenannten De- die kurdische Frage zu reden. Zur Zeit reden wir
mokratisierungsprozesse tatsächlich auf den Weg ge- mit Waffen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1499

Ulla Jelpke
In einem heutigen „taz"-Interview mit Boyner ist funktion an, die die Türkei lange Jahrzehnte im Rah-
zu lesen, man habe es „sich zur Angewohnheit ge- men des NATO-Verbundes gespielt hat. Ich knüpfe
macht, die kurdische Frage nur unter dem PKK-Ge- an zweierlei Fragen an, die wichtig sind.
sichtspunkt zu sehen. Diese fehlerhafte Optik bringt
falsche Reflexe hervor." Der Ausnahmezustand Erstens. Wie und auf welche Weise können die Le-
müsse seiner Ansicht nach aufgehoben werden, die bensumstände aller in der Türkei wohnenden Men-
paramilitärischen Dorfschützer, die vom Staat für den schen verbessert werden, wie kann insbesondere der
Kampf gegen die PKK bezahlt würden, müßten abge- Konflikt mit den Kurden gelöst und damit verhindert
schafft werden, und den Kurden müsse man das werden, daß die Türkei an diesem Dauerproblem in-
volle Organisationsrecht einräumen. Das denke ich nerlich zerfällt und sich selbst destabilisiert bzw. sich
auch. aus der Partnerschaft mit Europa ausgrenzt?

Zweitens. Wie können wir Europäer unseren Inter-


Nehmen Sie endlich wahr, daß mehr als 20 kurdi-
essen am besten gegenüber und mit der Türkei die-
sche Organisationen und Parteien - einschließlich
nen?
der PKK - die türkische Regierung wiederholt zu
Friedensverhandlungen aufgerufen haben. Setzen Lassen Sie mich zur ersten Frage kommen. Es be-
Sie sich endlich für einen Dialog ein. Die einseitige steht überhaupt kein Zweifel, daß es Menschen-
und parteiliche Politik, die die Bundesregierung in rechtsverletzungen in der Türkei gibt. Es besteht
den vergangenen Jahren betrieben hat und noch be- auch kein Zweifel, daß wir diese Menschenrechtsver-
treibt, wird den Konflikt nur weiter verschärfen. Nur letzungen in keiner Weise billigen können. Das be-
Friedensverhandlungen können den unmenschli- trifft Einschränkungen der Pressefreiheit genauso
chen Krieg beenden. wie Drangsalierungen von demokratisch gewählten
Abgeordneten oder Folter.
Danke.
Es ist drittens unbestritten, daß die Ansicht, der
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne Kurdenkonflikt lasse sich mit militärischen Mitteln,
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) etwa nach dem System Grosny, lösen, hier so falsch
ist wie in Tschetschenien. Nach den Prinzipien der
OSZE und des Europarats - beides Organisationen,
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat denen die Türkei angehört - muß die Autonomie der
der Abgeordnete Christian Schmidt. Kurden in der Türkei sichergestellt werden. Das ist
kein Gnadenakt, sondern ein Anspruch. Repression
kann dieses Problem nicht lösen. Repression wird
Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herr Präsi- den Konflikt, so befürchte ich, internationalisieren.
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Wir haben in Deutschland schon einen Vorge-
Anlaß für die heutige Debatte am späten Abend, der schmack darauf erhalten.
Antrag der PDS auf Drucksache 13/212, wird den
Problemstellungen in der Türkei in keiner Weise ge- Hierzu noch eine Bemerkung: Ich bestreite, daß
recht. die Minderheit gewalttätiger Kurden, die bei uns
- Autobahnen blockieren, Gebäude besetzen und Ge-
(Dr. Karl Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Das walt gegen Menschen ausüben, für die Mehrheit der
ist wahr!) f ri edliebenden kurdischen Mitbürger in Deutschland
sprechen kann.
Allenfalls bietet er die Gelegenheit, in den parlamen-
tarischen Dialog über die Zukunft unserer Beziehun- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
gen zur Türkei einzutreten.
Hier ist noch eine weitere Bemerkung zu machen:
Bahri Yilmaz, vielen in diesem Hause bekannter Frau Jelpke, Herr Gysi und Genossen behaupten in
Professor an der Universität in Ankara, hat jüngst in der Begründung ihres Antrags, daß die PKK eine Be-
einer Analyse vier besonders wichtige Themen als freiungsbewegung sei, die die Interessen eines in je-
bestimmend für die Zukunft der türkischen Innen- der Hinsicht unterdrückten Volkes vertrete. Selbst
und Außenpolitik bezeichnet. Dies seien zum einen wenn man - was ich auch bestreite - die PKK nach
die Beziehungen zur EU, die Krise der türkischen den theoretischen Rastern als Freiheitsbewegung an-
Wirtschaft, die wachsende Stärkung der islamisti- sehen könnte, genügt für uns die Außerung hinsicht-
schen Bewegung und der Terror der PKK. Wenn man lich der Bundesrepublik Deutschland, die von der
den Begriff des Terrors der PKK um die Frage nach PKK bzw. ihrem politischen Arm als „Staatsfeind
der Lösung des Kurdenkonflikts erweitert, so ist Nr. 2" bezeichnet wird, um sie ganz explizit als in der
diese Aufzählung wohl vollständig und zutreffend. Praxis - wir wissen das auch durch ihre Taten - terro-
ristisch zu definieren.
Angesichts dieser vier Krisen ist auf jeden Fall eine
Antwort der Europäischen Union nicht weiterfüh- Im übrigen schadet diese kommunistische PKK -
rend: die Antwort der Isolation, die Antwort des Arbeiterpartei ist mit Sicherheit nicht das richtige
Bannstrahls auf dieses Land. Wenn ich das sage, Wort; Kommunisten haben immer nur vorgegeben,
knüpfe ich nicht an historische Sentimentalitäten an, für die Arbeiter dazusein, sie haben sie aber immer
als die mancher die traditionell guten deutsch-türki- mißbraucht - den Interessen der kurdischen Bürger
schen Beziehungen ansehen könnte. Ich knüpfe in der Türkei ganz entschieden. Sie gefährden in
auch nicht nur an die sicherheitspolitische Flanken- Deutschland die innere Sicherheit - ich nenne nur
1500 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Christian Schmidt (Fürth)


das Wort „Schutzgelderpressung" - und terrorisieren Es wird weder den Menschenrechten in der Türkei
in den von ihnen beherrschten Gebieten die Bevölke- noch gar der Stabilität der Region und der Stabilität
rung, der keine Wahl bleibt, ob sie kämpfen will oder ganz Europas guttun, wenn der Fundamentalismus
nicht. Nährboden in der Türkei findet. Die Türkei hat für
uns zentrale strategische Bedeutung. Das meine ich
Nicht nur Programmatik, sondern auch Fakten ma- nicht nur sicherheitspolitisch, sondern eben weit dar-
chen diese Organisation zur einer terroristischen über hinausgehend.
Vereinigung.
Ein Abgleiten wird nicht geschehen, wenn wir uns
Unsere Aufgabe muß es sein, die Entscheidungs- ernsthaft um eine wirtschaftliche Integration in die
träger in der Türkei für die Überzeugung zu gewin- Europäische Union bemühen. Hier liegt eine Bring
nen, daß sie mit anderen Mitteln als dem Ausradie- schuld der Europäer vor. Wir müssen gerade heute
ren ganzer Dörfer den Wurzeln des Konflikts beikom- auch einen Appell an unsere griechischen EU-Part-
men können und müssen. Ich weise auf den Satz des ner richten, die Zollunion mit der Türkei nicht aufs
oben zitierten Professors Yilmaz hin, der an uns im neue zu blockieren. Hier wird mit dem Feuer ge-
Westen den Hinweis richtet, daß unsere Meinung, spielt, und hier ist Solidarität zwischen den europäi-
eine politische Lösung sei der einzige Weg - wir ha- schen EU-Partnern dringend notwendig.
ben uns angewöhnt, das zu sagen -, die Tatsachen
nicht ganz realitätsgetreu wiedergebe. Er führt aus Wir können der Türkei den Weg in eine Integra-
und begründet, daß das Hauptproblem des betroffe- tion, die ihr angemessen ist, den Weg in die Europäi-
nen Gebietes überwiegend wirtschaftlicher und sche Union hinein oder an sie heran nicht verwehren.
struktureller Art ist. Hohe Bevölkerungszuwächse, Wir würden dabei unseren eigenen Interessen wider-
hohe Arbeitslosigkeit, feudalistische soziokulturelle sprechen. Gerade wenn die entscheidenden Schritte
Verhältnisse und Ausfälle in der wirtschaftlichen Lei- gegenwärtig getan worden sind, wenn das Eis in
stungsfähigkeit der Region durch den abgebroche- London gebrochen worden ist, ist es fatal, wenn wir
nen Verkehr zwischen der Türkei und dem Irak bzw. via Athen andere Signale nach Ankara schicken wür-
der Golfregion sind für ihn wesentliche Faktoren, bei den und müßten.
denen Änderungen ansetzen können und müssen.
Ich stimme ihm zu. Wir dürfen die Brücken zur Türkei nicht abbre-
chen, sondern müssen gemeinsam mit den Türken
Dies wird sicherlich nicht in kurzen Zeiträumen zu nach Wegen für eine Verbesserung der Lage suchen.
bewerkstelligen sein. Dennoch muß dieser Weg ver- Das heißt, daß wir auch in Zukunft den Dialog fort-
sucht werden. Wie anders als mit einer engen wirt- setzen werden und die Türkei auf einem schwieri-
schaftlichen Kooperation mit der Türkei soll dies ge- gen, aber sicher letztendlich erfolgreichen Weg zu ei-
schehen? So richtig es war, die Militärhilfe volumen- nem verläßlichen Partner Europas, wie sie es bisher
mäßig zu reduzieren bzw. bis auf einzelne Projekte gewesen ist, machen werden.
auslaufen zu lassen, so richtig ist es, daß sich die Eu-
Ich bedanke mich.
ropäische Union der wirtschaftlichen Situation in der
Türkei annimmt. Die Wirtschaftsk ri se in - der Türkei (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
mit einer Inflationsrate von über 125 % gibt nicht nur
dem Konflikt in Südostanatolien Nahrung. Sie läßt
auch ein Anwachsen des religiös orientierten islami- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun
schen Fundamentalismus befürchten. dem Kollegen Rudolf Bindig das Wort.

Damit bin ich bei der zweiten Frage, nämlich der


nach unserer Interessenlage. Die Türkei als laizi- Rudolf Bindig (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kol-
stisch ausgerichteter westlicher Staat, fest in der ke- leginnen und Kollegen! Die andauernden schweren
malistischen Tradition stehend, hat trotz mancher Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und die
nicht realisierter hochfliegender Vorstellungen in notwendigen Folgerungen daraus für unsere Türkei-
den letzten Jahren - ich erinnere an die Schwarz- politik haben wir hier wiederholt beraten. Vor knapp
meerkonferenz, an die Bindung der Turk-Völker an einem Jahr haben wir in einer gemeinsamen Ent-
die Türkei - nach wie vor eine Schlüsselstellung ge- schließung zur Eskalation der Gewalt in Südostana-
genüber den kaukasischen und zentralasiatischen tolien, also den Kurdengebieten in der Türkei, Stel-
Republiken. Sicherlich ist nicht alles auf die Frage lung bezogen.
Teheran oder Ankara zu reduzieren. Dennoch wird
gerade an diesen beiden Städtenamen deutlich, wie Wir haben erklärt, daß wir die Politik der türki-
wichtig es ist, daß wir die Türkei nicht aus dem west- schen Regierung für aussichtslos halten, die PKK
lichen Verbund und aus der westlichen Orientierung ausschließlich mit militärischer Gewalt bezwingen zu
herausgleiten lassen. wollen, und wir haben die terroristischen Gewaltakte
der PKK gegen Türken und Kurden, gegen Touristen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge sowie gegen türkische und deutsche Einrichtungen
ordneten der F.D.P.) in der Bundesrepublik Deutschland verurteilt. Wir
haben die gemeinsame Ansicht vertreten, daß eine
Oder kann sich jemand vorstellen, daß unter einer Eskalation der Gewalt das Problem nicht lösen kann,
fundamentalistisch-islamistischen Staatsausrichtung und die Überzeugung geäußert, daß die Ursachen
die Menschenrechte in der Türkei besser geschützt der Gewalt in der seit Jahren ungelösten Kurden-
wären, als sie es gegenwärtig sind? frage liegen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1501
Rudolf Bindig
Schließlich haben wir die türkische Große Natio- Die PKK schadet mit ihren Gewaltakten der kurdi-
nalversammlung und die türkische Regierung drin- schen Bevölkerung und stärkt diejenigen politischen
gend aufgefordert, unverzüglich einen konstruktiven Kräfte in der Türkei, welche auf der Regierungsseite
Dialog mit allen demokratischen Kurdenorganisatio- glauben, die Kurdenfrage mit Gewalt lösen zu kön-
nen aufzunehmen, die für eine friedliche Erlangung nen.
der legitimen Rechte der Kurden eintreten.
Zwischen diesen beiden Fronten haben es die
All dies gilt es heute zu bekräftigen. Aber wir müs- Kräfte schwer, die den politisch einzigen Weg friedli-
sen feststellen, daß nichts davon geschieht. Statt des- cher Lösungsansätze gehen wollen. Die Verhaftung
sen verschärft sich die Lage in der Türkei weiter. und Verurteilung kurdischer Abgeordneter ist des-
Kriegerische Gewaltakte gegen Zivilpersonen in den halb so verhängnisvoll, weil damit Ansätze unter-
von Kurden bewohnten Gebieten der Türkei, Folter, drückt werden, in der Türkei zu einem politischen
politische Morde und das „Verschwindenlassen" von Dialog über die Kurdenfrage zu kommen.
Zivilisten nehmen zu. Obwohl vielfältig belegt wor-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
den ist, daß die Sicherheitskräfte der Türkei schwer-
GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)
ste Menschenrechtsverletzungen begehen, leugnet
die türkische Regierung die Tatsachen. Die politische Lage in der Türkei wird noch da-
durch erschwert, daß der laizistische Staat und seine
Das UN-Komitee gegen Folter hat die Existenz sy- politische Ordnung durch den vordringenden islami-
stematischer Folter in der Türkei durch türkische Si- schen Fundamentalismus angegriffen und gefährdet
cherheitskräfte ebenso festgestellt wie das europäi- werden. Der türkische Staat wird sich in seinem jetzi-
sche Komitee zum Schutz vor Folter. gen Selbstverständnis und seinen Institutionen nur
erfolgreich behaupten können, wenn er bei der Ab-
In diesen Tagen wurden erneut zwei Berichte mit wehr der ihn attackierenden Gefahren nicht die
erschütterndem Inhalt vorgelegt: Der Sonderbericht- Grundsätze und Werte mißachtet, auf denen er auf-
erstatter der UN-Menschenrechtskommission zum gebaut ist. Ein pluralistischer und demokratischer
Schutz vor Folter wirft der Türkei ein langes Sünden- Staat läßt sich nicht durch Folter, Verschwindenlas-
register vor. Gefoltert werde insbesondere in Istan- sen und politische Morde verteidigen.
bul, Ankara und im Südosten des Landes. Oft wür-
den Gefangene mißhandelt, die auf Grund der Anti- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Terror-Gesetze festgenommen worden seien. Die Fol- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
termethoden in der Türkei hinterließen keine oder CDU/CSU und der F.D.P.)
nur wenig Spuren, so das Abspritzen mit kaltem
Wasser, das Aufhängen an den Armen, Elektro- Terror der PKK und der vordringende Fundamen-
schocks, Todesdrohungen, sexueller Mißbrauch und talismus rechtfertigen keine schweren Menschen-
Nahrungsentzug. rechtsverletzungen. Kein Staat muß foltern oder poli-
tisch morden.
Der aktuelle Bericht von Amnesty International
macht die dramatische Verschlechterung der Men- (Beifall im ganzen Hause)
schenrechtssituation in der Türkei an einigen Zahlen Von Deutschland und von der Bundesregierung
deutlich: Mit 55 Menschen hat sich 1994 die Zahl der aus auf die türkische Regierung und die politischen
Verschwundenen im Vergleich zum Vorjahr mehr als Kräfte in der Türkei einzuwirken ist sicherlich
verdoppelt. Fast 400 Menschen sind demnach politi- schwierig. Auf keinen Fall aber dürfen falsche Si-
schen Morden zum Opfer gefallen, bei denen zumin- gnale gesetzt werden. Von der Bundesregierung
dest der Verdacht auf eine Mittäterschaft der Sicher- kommen aber leider immer wieder solche falschen
heitskräfte besteht. 29 Menschen sind in der Haft an Signale.
den Folgen von Folter gestorben.
Die Bundesregierung ist offensichtlich nicht in der
Der AI-Bericht belegt auch die Opfer von Terrorak- Lage, eine Türkeipolitik zu entwickeln, die außenpo-
ten der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, die durch litische und sicherheitspolitische Aspekte mit einer
politische Morde an zahlreichen Zivilisten die Lage konsequenten Menschenrechtspolitik verbindet.
ständig verschärft. Bis Ende Oktober 1994 zählte
AI 167 solcher Morde der PKK. Neueste Zusagen der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
PKK, sich an die Genfer Konvention zum Schutz von DIE GRÜNEN)
Zivilbevölkerung und Kriegsgefangenen zu halten,
wurden laut Amnesty International nicht eingehalten Da die Türkei ihre Politik nicht ändert, muß die Bun-
und seien als Lippenbekenntnisse zu werten. desregierung ihre bisherige Türkeipolitik ändern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/


Der Versuch der PDS in der Begründung ihres An-
DIE GRÜNEN)
trags, die PKK als Befreiungsbewegung zu verharm-
losen, welche die Interessen eines in jeder Hinsicht Statt dessen gießt die Bundesregierung Öl ins
unterdrückten Volkes vertritt, ist deutlich zurückzu- Feuer, wenn sie im großen Umfang Waffen an die
weisen. Türkei liefert.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
GRÜNEN und der F.D.P.) DIE GRÜNEN)
1502 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Rudolf Bindig
Ein Programm und eine Tranche eines Lieferpro Ulla Jelpke (PDS): Herr Kollege Schmidt, ich ma-
grammes folgt der nächsten. Zunächst wurde die che Sie darauf aufmerksam, daß Sie offensichtlich
18. Tranche der NATO-Verteidigungshilfe 1992 bis die Begründung des Antrages nicht ganz richtig ge-
1994 abgewickelt. Es folgen die Materialhilfen im lesen haben. Es wird darin aus einem Gutachten in-
Rahmen des 1,5 Milliarden DM-Programmes und die terpretiert, das Norman Paech von der Universität
Lieferungen der Rüstungssonderhilfe II. Die zu ganz Hamburg erstellt hat zu den völkerrechtlichen Impli-
anderen Zeiten und ganz anderen Zwecken zuge- kationen der Verbotsverfügung des Bundesministeri-
sagten Lieferungen hätten bei der zunehmenden Ge- ums des Innern gegenüber kurdischen Vereinen und
walt in der Türkei und den schweren Menschen- Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland.
rechtsverletzungen nicht fortgeführt werden dürfen.
Ich denke, es ist legitim, daß vorhin der Satz ge-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE sagt wurde, daß die PKK, würden in der Türkei heute
GRÜNEN und der PDS) Wahlen stattfinden, einen hohen Stimmenanteil in
der kurdischen Bevölkerung erhalten würde. Das ha-
Aber selbst die Zusagen, nach der Abwicklung der ben auch bürgerliche Institute erforscht, das will man
vertraglich vereinbarten Lieferungen die verschiede- hier nur nicht zur Kenntnis nehmen.
nen Waffenlieferungsprogramme einzustellen, wer-
den nun nicht eingehalten. Für die Lieferung der so- Ich persönlich möchte Ihnen noch einmal ganz klar
genannten MEKO Fregatten sollen Finanzierungs- sagen: Ich bin sicher, daß kein Krieg auf der Welt
menschlich verläuft und daß von beiden Seiten Men-
-

hilfen von über 150 Millionen DM gewährt werden.


schenrechtsverletzungen begangen werden. Das ist
Der Bundeskanzler selbst hat der türkischen Mini-
sterpräsidentin im September 1993 die Zusage dafür für mich überhaupt keine Frage. Die Frage ist, wie
gegeben. Hier wird ein Biedermann zum Brandstif- wir mit den Dingen umgehen.
ter. Fakt ist - Sie haben eben gerade davon gespro-
chen -: Es gibt etwa 179 Tote seitens der PKK; das ist
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE zweifellos zu bedauern. Wir haben es aber mit 20 000
GRÜNEN und der PDS) Toten in diesem Gebiet zu tun. Da muß man einfach
Der Betrag von 150 Millionen DM entspricht in klarstellen, daß die meisten Menschen dort von den
etwa der Summe, die in zwei Jahren für humanitäre türkischen Militär- und Sicherheitskräften ermordet
Hilfe im Auswärtigen Amt etatisiert wird. Die finan- werden.
ziell total unterversorgten Menschenrechtsinstitutio-
nen der OSZE oder der Vereinten Nationen können Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
nur davon träumen, einmal mit vergleichbaren Mit- Schmidt, Sie haben die Möglichkeit darauf zu ant-
teln ausgestattet zu werden. worten. - Das möchten Sie nicht.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Dann erteile ich der Kollegin Angelika Beer das
GRÜNEN und der PDS) Wort.

-
Auch für die Türkei wären die 150 Millionen DM in Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
anderen Bereichen gut anzulegen. Wir Sozialdemo- Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich
kraten setzen uns dafür ein, diese und weitere Be- möchte mit zwei Beispielen anfangen. Der türkische
träge in der Türkei für zivile Projekte zu verwenden, Schriftsteller Yasar Kemal hat vor kurzem dem
z. B. für den Ausbau der Infrastruktur in der Osttür- „Spiegel" ein Inte rview gegeben, in dem er sowohl
kei. die türkische als auch die deutsche Politik kritisiert
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hat. Gegen Yasar Kemal läuft heute ein Verfahren
DIE GRÜNEN) mit dem Vorwurf des Separatismus. Ihm droht eine
mehrjährige Haftstrafe.
Mit einem Teilbetrag könnten die Menschen- Ich füge ein Zitat an:
rechtsorganisationen in der Türkei gestärkt und un-
terstützt werden. Wir sind für eine Beendigung der Und während ich mit Ihnen spreche,
militärischen Hilfe für die Türkei, treten aber für eine
- nämlich mit dem „Stern", in dem es heute abge-
soziale, menschenrechtliche und gezielte wirtschaft-
druckt ist -
liche Hilfe der Bundesrepublik Deutschland an die
Türkei ein. Wir wollen die soziale und wirtschaftliche ertappe ich mich dabei, daß ich darüber nachden-
Entwicklung der Türkei fördern und dort Rechtsstaat- ke, was mir in der Türkei nach Veröffentlichung
lichkeit und Demokratie unterstützen. Ein Totalboy- dieses Gesprächs passieren wird. Diese Situation
kott ist dafür genauso falsch, wie es die ständigen ist durchaus vergleichbar mit jener in der Nazi
Lieferungen von Rüstungsgütern in die Türkei sind. Zeit, wo sich Deutsche, die im Ausland die regi-
metreue Justiz angeprangert haben, in Todesge-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fahr begaben. Etwa hundert Schriftsteller und
DIE GRÜNEN) Journalisten sind derzeit wegen „staatsfeindli-
cher Aktivität" in türkischen Gefängnissen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz- Dieses Zitat ist ebenfalls von einem türkischen
inte rv ention gebe ich noch einmal das Wort an Frau Schriftsteller, der sich im „Stern" geäußert hat. Es ist
Jelpke. Aziz Nesin.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1503
Angelika Beer
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es Liebe Kollegen, ich befürchte, daß nach der Land-
ist an der Zeit, den immer wieder im Bundestag ge- tagswahl in Hessen Dr. Kanther als Innenminister
führten Debatten mehr als nur eine Resolution wie im wieder die Federführung in diesem Trio übernehmen
Dezember folgen zu lassen und endlich zu Taten zu wird und nach den Gesprächen mit dem Geheim-
kommen. dienstchef aus der Türkei, der kürzlich hier zu Be-
such war, dafür sorgen wird, daß ein Abschiebever-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) trag abgeschlossen wird, der möglicherweise genau
dann, wenn wir nicht hier sind, nämlich in den fol-
Der Deutsche Bundestag hat sich zu Recht über genden zwei Sitzungswochen und zum Ende des Ab-
das Urteil gegen demokratisch gewählte kurdische schiebestopps am 28. Februar, dazu führt, daß es tat-
Abgeordnete empört, die bis zu 15 Jahren Gefängnis sächlich zu Massenabschiebungen, d. h. Beihilfe
verurteilt worden sind und in Haft sitzen. zum Mord, kommt.
Wir haben hier einen vorläufigen Abschiebestopp
beschlossen. Ich frage Sie: Was machen wir danach? (Zuruf des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.])
Wir haben diesen ersten Schritt positiv bewertet, wir
haben ihn unterstützt. Aber wir bestehen darauf, daß Ein Vertrag mit einem Staat, Herr Kollege Irmer,
wir uns als Parlament nicht darauf beschränken kön- der sämtliche völkerrechtlichen Verträge, die er un-
nen, nur aus Empörung über die Verurteilung von terzeichnet hat, gebrochen hat - ich frage Sie: was ist
Abgeordneten, von ehemaligen Kollegen Maßnah- der eigentlich wert? Was ist ein Vertrag wert, wenn
men zu ergreifen. Vielmehr müssen wir das Ausmaß Mehdi Zana wegen seiner Rede vor dem Unteraus-
von Folter, Vernichtung, Vertreibung und Zerstö- schuß des Europäischen Parlaments zu vier Jahren
rung, also von Krieg - ich glaube, man muß sagen: verurteilt worden ist und jetzt im Gefängnis sitzt? Mit
Krieg der türkischen Regierung sowie der Militärs wem wollen Sie eigentlich Verträge abschließen?
gegen die kurdische Bevölkerung, und jeder Krieg Wie kommen Sie dazu, mit dieser Türkei, wenn sie
ist schmutzig -, benennen und der daraus auch für nicht nachweislich ihre Zusagen tatsächlich in die
uns erwachsenen Verantwortung - Kollege Bindig Praxis umsetzt, einen Vertrag zu schließen? Wie kön-
hat gerade gesagt, worin sie besteht - gerecht wer- nen Sie sich da schuldig machen und überhaupt
den. noch an einen Vertrag denken? Das ist menschenver-
achtend!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ich zitiere noch einmal: und bei Abgeordneten der SPD)
Für 10 Provinzen der Südosttürkei ist der bisheri- Verehrte Kollegen, es geht nicht um die Frage des
ge Ausnahmezustand ausgedehnt und der Not- Einsatzes deutscher Waffen in der Türkei - es ist
stand ausgerufen worden. Das Notstandsgesetz schlimm genug, daß dies geschieht -, sondern es
enthält die Ermächtigung, zur „Evakuierung geht darum, daß die Türkei und das Militär Waffen
bzw. Umsiedlung der Einwohner bestimmter Ort- gegen die Zivilbevölkerung unter dem Vorwand der
schaften". Hierbei kommt es - wie bei sonstigen PKK-Bekämpfung einsetzen. 500 000 schwer bewaff-
großangelegten Aktionen der Sicherheitskräfte nete Soldaten, auch mit deutschen Waffen ausgerü-
im Südosten zu Übergriffen gegenüber Zivilper- stet, gegen eine Gruppe von Terroristen - das ist
sonen, wenn diese verdächtig sind, mit der PKK überhaupt kein Verhältnis. Das ist Krieg gegen die
zusammenzuarbeiten... Bisher wurden rund kurdische Bevölkerung.
1 300 Dörfer evakuiert und teilweise oder ganz
zerstört. Die Zahl der Dörfer im Notstandsgebiet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wird mit insgesamt 12 000 angegeben. und bei der SPD)
Liebe Kolleginnen, das ist nicht irgendeine antitür-
Wir beantragen, die Wirtschaftshilfe zu streichen,
kische Propaganda, sondern das stammt aus dem
weil wir wissen - das wird von Instituten bestätigt -,
nicht veröffentlichten Lagebericht des Auswärtigen
daß die Türkei nicht mehr in der Lage ist, diesen
Amts. Das heißt, die Bundesregierung weiß genau
Krieg aus eigener Kraft zu finanzieren. Wir lassen
um die Situation, über die wir heute abend reden.
uns nicht vorwerfen, daß wir die Türkei isolieren
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollten. Wir haben uns in unserem Antrag für einen
und bei der SPD) Vollzug der Zollunion ausgesprochen, wenn die Tür-
kei nachweisbar den Standard an Menschenrechten
Wie reagieren verantwortliche deutsche Politiker? einhält.
Am 25. Januar erklärt Herr Dr. Beckstein im Bayeri-
schen Landtag, dieser neue Lagebericht bestätige Herr Schäfer, zum Schluß möchte ich Sie heute, am
seine Auffassung, daß ein genereller Abschiebe- 16. Februar, auffordern - deswegen haben wir au!
stopp nicht notwendig sei. Im Fall Simsek mußte das diesrDbathundes-,zbrich
Bundesverwaltungsgericht einschreiten, um die Ab- ten, welche Waffensysteme die Türkei bis zum
schiebewut Becksteins zu bremsen. Der sächsische 15. Februar für die 118 Millionen DM denn noch an-
Innenminister Eggert versucht durch plumpe Lügen gefordert hat und wie lange diese Lieferungen noch
und falsche Darstellungen von Äußerungen von laufen. Sie können hier nicht selbstgefällig sagen, es
Menschenrechtsvereinsmitgliedern, die Vorausset- sei ja nun alles gestoppt. Jede einzelne Waffe, die in
zungen für weitere Abschiebungen zu schaffen. den letzten Jahren geliefert worden ist, und jede, die
1504 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Angelika Beer
auf Grund deutscher Vertragstreue jetzt noch in die- scher Standpunkt sei, aber wir müssen schließlich
sen Krieg geschickt wird, wird weiter mitmorden. auch überlegen, daß uns das ganze betrifft, sonst
Das ist zu verurteilen; das ist gerade heute abend zu könnte es uns egal sein. Das heißt, ein derartiger Um-
verurteilen. sturz in der Türkei würde einen zusätzlichen Brand-
herd von ungeahnten Ausmaßen an den Rand Euro-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN pas setzen. Ich möchte nicht wissen, wie wir darauf
und bei Abgeordneten der SPD) reagieren wollten.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, daß (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])
dieser Abschiebestopp - wir dürfen ihn heute abend
nicht vergessen - unbegrenzt verlängert wird. Das Wir sollten uns jedoch einmal ernsthaft fragen, was
betrifft auch diejenigen, die sich hier zu Protesten wir denn tun können. Über die Waffenlieferungen
entschlossen haben; denn Abschiebung bedeutet im kann man geteilter Meinung sein.
Moment Mord und Folter. Ich möchte, daß wir die
letzte Glaubwürdigkeit des Parlaments, die durch die (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Praxis der Bundesregierung, Waffen zu liefern, unter- - Nein, warten Sie einmal. Wenn hier behauptet
höhlt wird, nicht preisgeben und darauf bestehen, wird, die Fregatten würden eingesetzt, um Men-
daß dieser Abschiebestopp fortgesetzt wird. schenleben zu vernichten, speziell in Südostanato-
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ lien, dann ist das schlichter Unsinn. Halten Sie diese
NEN, bei der SPD und der PDS) Debatte von solchen Punkten fern!
Aber ich sage, bei anderen Waffenlieferungen
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Abgeord- kann man ernsthaft darüber diskutieren, ob die Bun-
nete Beer, ich wollte Sie während Ihrer Rede nicht desregierung nicht hier ihre Position überprüfen und
unterbrechen. Sie haben dieser Regierung vorgewor- auch ändern sollte. Darüber kann man gegebenen-
fen, daß sie beabsichtige, einen Vertrag zu schließen, falls seriös sprechen. Darüber kann man sich unter
der Beihilfe zum Massenmord sei. Ich erteile Ihnen unterschiedlichen Aspekten auseinandersetzen. Ver-
dafür einen Ordnungsruf. gessen Sie nicht, daß die Türkei erstens ein NATO-
Verbündeter ist und von daher zumindest einen An-
(Zuruf von der PDS: Bravo! Herzlichen spruch auf waffentechnische Zusammenarbeit hat.
Glückwunsch!) Zweitens sind die Behauptungen, die immer aufge-
Das Wort hat der Kollege Irmer. stellt worden sind, Waffen, die aus Deutschland ge-
liefert wurden, seien gegen Kurden in Südostanato-
lien eingesetzt worden, nie bewiesen worden. Dies
Ulrich Irmer (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen sind Behauptungen, die mit großem Getöse aufge-
und Herren! Es ist schon schrecklich, wenn man das stellt wurden. Es gibt nicht den Hauch eines Bewei-
hört! Als wenn die Welt so einfach wäre, wie das hier ses.
dargestellt wird! Da sind die PKK-Terroristen die ar-
men Verfolgten. Und die Türkei ist ein blutrünstiger (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])
-
Kriegstreiber, ein Ausrotter von Menschenleben und Ich möchte dazusagen: Es kommt nicht darauf an,
ein schonungsloser Unterdrücker von Menschen- mit welchen Waffen gegen die Kurden vorgegangen
rechten. Niemand will das beschönigen, was in der wurde, ob die aus Deutschland kommen oder woher
Türkei geschieht. Ganz im Gegenteil. sie kommen. Es ist in jedem Fall schlimm genug.
Wir sind um so beunruhigter darüber, daß sich dies Jetzt frage ich einmal, ob wir nicht außer Bekun-
auch nicht geändert, nicht verbessert hat, in der letz- dungen unserer Entrüstung über das, was dort vor-
ten Zeit vielmehr umgekehrt, viel schlimmer gewor- fällt, und über unsinnige Vorschläge wie den Stopp
den ist. Wir sind darüber um so fassungsloser, als es der wirtschaftlichen Beziehungen hinaus Hilfe anbie-
sich bei der Türkei nicht um irgendein Land ir- ten könnten.
gendwo auf der Welt handelt, sondern um ein Land,
das unseren Organisationen angehört: der OSZE, Ich habe den Eindruck - da haben Sie auch nicht
dem Europarat, der NATO. Dies sind alles Organisa- die Wahrheit gesagt -, daß sich die türkische Regie-
tionen, die wir auch mit bestimmten Wertvorstellun- rung der Probleme sehr wohl bewußt ist, daß sie
gen verbinden und wo man von allen Mitgliedern er- wohl genau weiß, mit welch immensen Schwierigkei-
warten sollte, daß sie diesen Wertvorstellungen nicht ten sie hier zu tun hat und daß sie sich ihren Weg
nur verbal entsprechen, sondern sich auch in ihrem nach Europa durch diese Vorgänge selber verbaut.
Verhalten für die Durchsetzung dieser Wertvorstel- Ich gehöre nicht zu denen, die sagen: Es kommt
lungen einsetzen. All das ist in der Türkei ohne Zwei- überhaupt nicht in Frage, daß die Türkei eines Tages
fel nicht der Fall. Mitglied der Europäischen Union wird. Ganz im Ge-
genteil, ich bin der Meinung, wir sollten diese Mög-
Nur, so einfach ist es auch nicht. Wer da sagt: strei- lichkeit offenhalten - natürlich unter bestimmten
chen wir für die Türkei die Wirtschaftshilfe und bre- Voraussetzungen. Aber die Türkei kann auf Dauer
chen wir die Beziehungen ab, trägt natürlich dazu nur stabilisiert werden, wenn wir ihre vernünftige
bei, daß die Türkei erst recht ins Chaos gestürzt wird, Anbindung an Europa und an das erreichen, wofür
daß sich dort die islamistischen Radikalen durchset- Europa steht.
zen, sich mit der PKK verbünden, den Staat überneh-
men und sich dann auch gegen uns richten. Da Ich frage jetzt einmal ganz konkret, und zwar rich-
könnte man mir jetzt vorwerfen, daß das ein egoisti- ten sich diese Fragen an die türkische Regierung:
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1505

Ulrich Irmer
Erstens. Warum sind Sie bisher nicht bereit gewe- Die Debatte, die im April 1994 hier geführt worden
sen, folgende Hilfestellungen von uns anzunehmen, ist und sich in 14 Forderungen niedergeschlagen hat,
die wir Ihnen geben könnten, gerade weil wir Ihre im wesentlichen von der SPD-Fraktion initiiert - sie
Probleme verstehen? Warum sind Sie nicht bereit, haben aber dennoch eine Mehrheit gefunden -, ist
Ihre Sicherheitskräfte, Polizei, Gefängnispersonal fortzusetzen. Die Forderungen gelten nach wie vor,
und dergleichen in Menschenrechtshandhabung müßten allerdings um einige Punkte ergänzt werden.
schulen zu lassen? Das gibt es nämlich. Vielfach aber Andere Punkte, die sich inzwischen aus Zeitgründen
ist es so, daß dies die Regierung gar nicht will. Im Ge- überholt haben, müßten daraus gestrichen werden.
genteil, die Regierung läßt Folterer aus Gefängnissen
Es bleibt bei der Tatsache, daß wir nach wie vor
und solche, denen nachgewiesen wird, daß sie Men-
keine wesentlichen Verbesserungen bezüglich der
schenrechte verletzt haben, verfolgen. Die Praxis ist
eine andere. Menschenrechte und der demokratischen Entwick-
lung in der Türkei feststellen können. Im Gegenteil,
Vergessen Sie nicht: Die Türkei liegt nicht nur in der Bericht von Amnesty zeigt auf, daß gerade im Be-
Europa, sondern an der Schnittstelle zwischen Eu- reich der Menschenrechtsverletzungen eher eine
ropa und Asien, mit z. T. ganz anderen kulturellen Verschärfung eingetreten ist denn eine Verbesse-
Traditionen. Es ist gar nicht so einfach, da das Foltern rung.
in den Gefängnissen par ordre du mufti zu unterbin- Ich habe eben gesagt: „keine wesentlichen Ver-
den. Dazu gehörte vielmehr, daß das Personal, das in besserungen". Ich habe das ganz bewußt gesagt,
den Gefängnissen Dienst tut, in Menschenrechtsfra- weil ich der Auffassung bin, daß man auch die klein-
gen geschult wird. sten, noch so zarten Pflänzchen, die da langsam aus
dem Boden hervorkommen und sich eventuell wei-
Zweitens. Ich möchte von der türkischen Regie-
terentwickeln könnten, nicht zertreten, sondern be-
rung wissen: Warum akzeptieren Sie nicht unsere
gießen sollte. Ich meine damit die Bemühungen eini-
Angebote, daß wir das, was sich in der Bundeswehr
ger Kräfte in der türkischen Großen Nationalver-
als innere Führung bewährt hat, auch Ihrem eigenen
sammlung, nun endlich die Diskussion über die Ver-
Militär in der Türkei angedeihen lassen? Warum fin-
fassungsänderungen ernsthaft zu führen.
den keine ständigen Beratungen über die Einfüh-
rung der Prinzipien der inneren Führung in die türki- Jede Partei in der Großen Nationalversammlung
schen Streitkräfte statt? hat seit der letzten Wahl behauptet, die Verfassung
ändern zu wollen. Nur, alle hatten völlig verschie-
Drittens. Warum wenden Sie sich in der Türkei in dene Vorstellungen darüber, wie die Verfassungsän-
Sachen Terrorismusbekämpfung nicht an die Län- derungen aussehen sollten. Nun scheint sich eine
der, die hier erhebliche Erfahrungen aufzuweisen ha- Mehrheit abzuzeichnen, die die ersten vorsichtigen
ben? Dazu gehören die Bundesrepublik Deutsch- Schritte hin zu einer Veränderung der Verfassung
land, aber auch Spanien und Italien. einleiten, die noch immer ganz deutlich die Hand-
schrift der Militärdiktatur trägt. Weil dies eine Ver-
Es wäre vernünftig, wenn man in einem großange- fassung ist, die von der Militärdiktatur gemacht
legten Hilfspaket der Türkei in dieser Beziehung hel- wurde, und weil diese Verfassung in allen Bereichen
-
fen würde. Wir sind jederzeit dazu bereit; alle Mit- ein Hindernis für eine Entwicklung darstellt, muß zu-
glieder dieses Hauses sollten das sein. Die Türkei erst diese Verfassung geändert werden.
muß dieses Angebot nur annehmen. Dann könnte sie
vielleicht einen Beitrag leisten, um diese schreckli- So behutsam diese ersten Schritte auch sein mö-
chen Probleme, mit denen wir es zu tun haben, in gen, die jetzt eingeleitet werden, so sollten wir sie
den Griff zu bekommen. doch mit allen Kräften unterstützen.

Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
F.D.P.)
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Denn die anderen, die dies nicht wollen - Teile des
ten der CDU/CSU)
Militärs, insbesondere die reaktionären und konser-
vativen Kräfte in der Türkei -, wollen um jeden Preis
eine Verfassungsänderung verhindern, um ihre böse,
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat
menschenunwürdige Politik fortsetzen zu können.
die Abgeordnete Leyla Onur.
Das wollen wir nicht.
(Beifall hei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Leyla Onur (SPD): Herr Präsident! Meine sehr ver- GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abge
ehrten Kollegen und Kolleginnen! Ich glaube, die ordneten der CDU/CSU)
Wortbeiträge, die wir eben gehört haben, machen
deutlich, daß eine erneute umfassende Debatte über Wir müssen ebenfalls sehr behutsam mit unserem
die Situation in der Türkei in diesem Hause notwen- Demokratieverständnis und dem, was in der Türkei,
dig ist. auch in der Bevölkerung, unter Demokratie verstan-
den wird, umgehen. Unsere Wertvorstellungen und
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unser Demokratieverständnis stellen eine hohe Meß-
DIE GRÜNEN - Dr. Jürgen Rochlitz latte für den einzigen laizistischen demokratischen
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber zu an Staat in dieser Region dar. Wir sollten nicht verges-
derer Zeit!) sen, daß sich viele Staaten im Umfeld der Türkei, also
1506 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Leyla Onur
in dieser Region, sozusagen an der Türkei - so defizi- Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe
tär ihre demokratische Situation aus unserer Sicht Kolleginnen und Kollegen, aus aktuellem Anlaß
auch ist - orientieren und sie als ein Modell nehmen. möchte ich noch einige Sätze zu der bevorstehenden
Wir sollten deshalb Kräfte unterstützen, die es in der Zollunion sagen. Ich halte es in dieser sensiblen
Türkei gibt - auch im türkischen Parlament -, die die Phase für falsch, die Zollunion jetzt nicht fristgerecht
türkische Demokratie im Sinne der westeuropäi- auf den Weg zu bringen. Ich sage das auch auf
schen Demokratie weiterentwickeln wollen. Grund fünfjähriger Erfahrung als Mitglied des Ge-
mischten Parlamentarischen Ausschusses EG-Türkei
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem
im Europäischen Parlament. Wir haben festgestellt,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)
daß die Blockierung des 4. Finanzprotokolls, die
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Die Blockierung des Matutes-Pakets - Sie wissen, das
Situation in Südostanatolien ist hier ausreichend be- war und ist immer noch ein Vorschlag der Kommis-
schrieben worden. Ich war oft in Diyarbakir und in sion im Rahmen des Assoziationsvertrags -, verhin-
der Umgebung und habe mit Menschen gesprochen dert, ein Paket von Maßnahmen auf den Weg zu brin-
- mit Taxifahrern, mit der Frau auf dem Markt und gen, um eben all unseren gemeinsamen Forderun-
mit Passanten -, die ich direkt angesprochen habe, gen bezüglich der Menschenrechte, der demokrati-
was mir auf Grund meiner türkischen Sprachkennt- schen Entwicklung, der sozialen und ökonomischen
nisse möglich ist. Das ist natürlich eine Hilfe, wenn Entwicklung Nachdruck verleihen zu können und
man auf die Menschen zugehen will; denn dann gezielt Hilfe - auch Wirtschaftshilfe - leisten zu kön-
kann man von ihnen sehr offen, ehrlich und ohne Ab- nen; denn auch das muß unser Petitum sein.
striche erfahren, wie sie denn nun diese Situation
wirklich empfinden. Wenn wir jetzt zur Zollunion nein sagten, würde
dieser gerade wiederaufgenommene Dialog abge-
Ich habe von mehreren Besuchen in Südostanato- brochen. Die Fronten sind verhärtet, die Beziehun-
lien mitgebracht, daß die kurdische Bevölkerung gen sind eingefroren. Es gibt nichts Schlimmeres und
dort in Frieden und unter gerechten, sozialen und Schwierigeres, wenn man gemeinsame Ziele ver-
ökonomischen Bedingungen leben möchte. Die Men- wirklichen will, als nicht mehr miteinander zu spre-
schen möchten, daß sie ihre Sprache sprechen kön- chen. Die Gespräche müssen im Interesse der Bezie-
nen. Sie möchten sozusagen ihre Identität anerkannt hungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland
bekommen. Sie möchten nicht aus dem türkischen und der Türkei, aber insbesondere im Interesse der
Staatsverband ausscheiden. Sie möchten auch nicht Menschen in der Türkei wiederaufgenommen wer-
zwischen den beiden Fronten zermahlen werden. Sie den.
wollen Frieden. Genau diese Menschen müssen wir
unterstützen.
Ich bedanke mich.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
F.D.P.)
Wir haben im letzten Jahr einen Antrag einge-
bracht, der dazu führen sollte, daß eine OSZE-Dele-
gation nach Südostanatolien entstandt wird. Ich erin-
nere mich, daß zwar der Bundesaußenminister wohl Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin,
unsere Auffassung geteilt hat, aber die Regierungs- Sie haben zwar schon im Europäischen Parlament
mehrheit sich dem nicht anschließen konnte. Es ist gesprochen, hier heute aber zum erstenmal. Ich
um so mehr zu begrüßen, daß der Präsident der türki- möchte Ihnen im Namen des Hauses herzlich gratu-
schen Nationalversammlung, Herr Cindoruk, eine lieren.
Parlamentarierdelegation - so muß ich ausdrücklich
sagen - der OSZE unter Leitung des Kollegen Wim- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der
mer nach Südostanatolien eingeladen hat. SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der SPD und der F.D.P.) Ich erteile dem Kollegen Thomas Kossendey das
Die Delegation, der auch ein Vertreter des Auswärti- Wort.
gen Amtes angehören soll, wird Gespräche mit Re-
gierungsvertretern und kurdischen Organisationen
führen. Thomas Kossendey (CDU/CSU): Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, Sie
Wir sollten das als einen ersten kleinen - sicherlich
haben Kollegin Onur auf Grund der Tatsache, daß sie
sehr kleinen - Schritt betrachten, um die starren Posi-
hier zum erstenmal geredet hat, gerade gratuliert.
tionen aufzuweichen, um die Headliner zurückzu-
Ich möchte ihr auch zu dem gratulieren, was und wie
weisen und den notwendigen Dialog wieder in Gang
sie es gesagt hat.
zu bringen. Das ist mir ein ganz besonderes Anlie-
gen; denn nur so können wir unsere Forderung
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
durchsetzen, daß die Menschen aus dem Krieg über
politische Lösungen endlich ihren Frieden bekom-
Ich habe mich sehr darüber gefreut, daß wir in ihrer
men, den sie erwarten und auch verlangen dürfen.
Rede einen ersten Punkt gehabt haben, an dem wir
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE sachlich anknüpfen und bei dem wir um Gemein-
GRÜNEN und der F.D.P.) samkeiten werben können.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1507
Thomas Kossendey
Die Probleme der Türkei, liebe Kolleginnen und Ich will Ihnen deswegen einige Punkte nennen,
Kollegen, sind meines Erachtens zu vielschichtig, als mit denen wir den türkischen Politikern vielleicht
daß man sie mit dem sehr einseitigen Antrag der helfen könnten:
PDS, der heute zur Diskussion vorliegt, einer Lösung
zuführen könnte. Erstens. Ich fordere seit langem, auch von dieser
Stelle, daß die Bundesregierung endlich eine neue
(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.]) Türkeipolitik formuliert. Deutschland hat ein ele-
mentares Interesse an einer innenpolitisch stabilen
Wer von Deutschland aus, liebe Frau Beer, mit politi- und einer außenpolitisch handlungsfähigen Türkei.
schen Repressionen die Politik der Türkei in eine be- Aber das, was wir dabei tun müssen - die kontinuier-
stimmte Richtung lenken möchte, wird dort Gegen- liche Entwicklung dieses Landes zu gewährleisten -,
druck erzeugen und kaum dazu beitragen, die wirk- macht eine andere Politik nötig als die, die wir in der
lich vorhandenen Probleme zu lösen. Vergangenheit gehabt haben.

Die Irreführung in diesem Antrag der PDS - es ist (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
schon ein paarmal darüber gesprochen worden -
Wir müssen den Wirtschaftsminister, wir müssen
fängt schon damit an, daß Sie die PKK als „Arbeiter-
den Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit,
partei" bezeichnen. Nun mag es sein, daß auf Grund
unseren Innenminister, den Außenminister und auch
der historischen Vergangenheit der PDS Arbeiterpar-
unseren Verteidigungsminister einmal an einen
tei und Terrorismus vielleicht zusammengehören.
Tisch holen. Sie müssen sich so lange zusammenset-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zen, bis sie sich Gedanken gemacht haben, die wir
der Öffentlichkeit, vielleicht auch in diesem Hause,
Aber Sie sollten das dann hier nicht verdrängen. präsentieren können. Zwischen diesen Ressorts muß
der zukünftige Kurs erarbeitet werden.
Wir müssen klarmachen - das hat der Amnesty-Be-
Allzulange haben wir in der Vergangenheit ge-
richt zum erstenmal sehr deutlich gemacht -, daß die
glaubt, die deutsch-türkische Freundschaft mit Rü-
PKK eine terroristische Organisation ist, die allein in
stungslieferungen als Schmiermittel erhalten zu kön-
den letzten Jahren über 150 Lehrer ermordet hat. Die
nen. Angesichts der Tatsache, daß wir seit 1963, seit
Opfer des letzten Jahres sind im Amnesty-Bericht
es diese Rüstungshilfen gibt, für rund 7 Milliarden
aufgezählt worden. Allerdings - das sage ich sehr
DM Rüstungsgüter in die Türkei geliefert haben,
deutlich - wissen wir auch: Das, was in der Türkei
aber nur für rund 5,6 Milliarden DM allgemeine wirt-
passiert, ist nicht Schuld der PKK allein. Wir wissen,
schaftliche Hilfe gewährt haben, scheint mir das in
daß die Armee überreagiert; wir wissen, daß die Ar-
einem krassen Mißverhältnis zu stehen. Ich bin froh,
mee der politischen Kontrolle entgleitet; und wir wis-
daß diese Rüstungslieferungen aufhören. Wer glaubt,
sen, daß die Armee an vielem Leid und Elend der
Freundschaft nur auf Waffenlieferungen aufbauen zu
Menschen im Südosten des Landes schuld ist. Das
können - eine Meinung, die übrigens im türkischen
müssen wir eingrenzen. Wir wissen auch, daß, was
Parlament und von türkischen Politikern häufig ver-
die Gerichtsverfahren und die strafprozessuale Ahn-
treten wird -, der wird sehen, daß diese Freundschaft
dung von Straftaten angeht, die Behandlung durch
brüchig ist. Ich bin dankbar, daß wir uns darauf in
die Polizei längst nicht so ist, wie wir uns das wün-
Zukunft nicht mehr verlassen müssen.
schen sollten. Die Verfahrensvorschriften sind so, daß
sie der Polizei, wie wir hören, mehr Möglichkeiten zu Ich hoffe also, daß alle Ministerien, die ich genannt
Folter geben, als das nach europäischen Standards habe, irgendwann im Laufe dieses Jahres ein abge-
überhaupt vorstellbar ist. stimmtes Konzept vorlegen - ein Konzept, das den
wirklichen Problemen der Türkei gerecht wird. Diese
Wenn wir über Waffen gesprochen haben, die da- bestehen im wesentlichen im wirtschaftlichen Be-
bei gebraucht werden, und uns erregt haben, daß es reich, aber auch im Demokratiedefizit.
deutsche sind: Für mich ist das vollkommen egal. Wir
müssen den politisch Verantwortlichen in der Türkei Zweitens. Wir müssen auch als Parlamentarier der
klarmachen, daß man Probleme weder im Gefängnis Türkei Hilfe geben und den türkischen Kollegen un-
mit Folter noch im Südosten mit Bomben und Jagd- sere Hilfe anbieten. Denn Frau Onur hat zu Recht
bombern regeln kann. darauf hingewiesen: Wir dürfen die Türkei nicht mit
unseren Maßstäben messen und dann feststellen,
Das Problem der Kurden im Südosten der Türkei daß sie denen nicht entspricht, und dürfen dann
wird einer politischen Lösung zuzuführen sein, oder nicht urteilen, daß das ein schlimmer Staat ist.
es wird nicht gelöst werden.
Wir müssen die Türkei, wenn wir ehrlich mit ihr
Es ist so, wie Frau Onur sagt - das wissen wir aus umgehen wollen, an dem messen, was in ihrer Nach-
den Gesprächen, die wir geführt haben -: Die Men- barschaft vor sich geht. Da ist die Türkei - auch das
schen sind es mittlerweile satt, von der PKK, von der muß man einmal deutlich sagen - allemal das demo-
Armee oder von wem auch immer mit Gewalt über- kratisch stabilste System mit der am weitesten ent-
zogen zu werden. Diese Stimmung breitet sich aus wickelten demokratischen Kultur, trotz der Mängel,
und ist vielleicht auch für die Politiker im türkischen die wir alle sehen und die abgestellt werden müssen.
Parlament ein Hinweis darauf, daß es gut ist, mehr zu Aber wenn wir das in Abrede stellen, werden wir mit
reagieren, als sie das in der Vergangenheit getan ha- den türkischen Politikern nicht ins Gespräch kom-
ben. men.
1508 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Thomas Kossendey
Wir müssen den türkischen Kolleginnen und Kolle- Thomas Kossendey (CDU/CSU): Diese Dinge
gen im Parlament sehr präzise Hinweise geben, was müssen, weil sie uns bekannt sind, besprochen und
in der Verfassung geändert werden muß. Diese geändert werden. Das werden wir nicht durch einen
22 Punkte, die jetzt auf den Weg gebracht werden, Beschluß des Bundestages regeln können, das wer-
sind vielleicht ein erster wichtiger Schritt, jedoch den wir nur im Dialog regeln können.
längst nicht alles, weil die nachgeordneten Gesetze
überprüft werden müssen: das Antiterrorgesetz, das (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])
Presserecht, das Versammlungsrecht, das Recht der Nur wer mit anderen im Dialog steht, kann sie wirk-
Gewerkschaften. lich beeinflussen. Dieses Mittel des Sprechens sollten
Wir müßten den türkischen Kolleginnen und Kolle- wir uns nicht einfach nehmen lassen. „Parlament"
gen in der Großen Versammlung klarmachen, daß sie kommt von „Sprechen", von „parlare". Wenn wir mit
ihre Rechte ernster wahrnehmen müssen. Denn die denen, die wir ändern wollen, nicht sprechen, dann
Rechte, die das Parlament in Ankara hat, entspre- berauben wir uns selber eines wichtigen Mittels. Ich
chen längst nicht dem Maßstab, den wir in Europa glaube, daß wir nicht so dumm sein sollten.
gewohnt sind. Wir sollten in dieser Hinsicht ruhig et-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
was selbstbewußter sein.
Wir müßten den Türken auch klarmachen: Wenn Frau Jelpke hat auf Cem Boyner Bezug genom-
sie sich auf dem Weg nach Europa befindlich sehen, men. Wir haben heute nachmittag mit ihm geredet.
dann müssen sie sich langfristig auch mit euro- Wir haben ihn gefragt, was er von der Diskussion
päischen Maßstäben messen lassen. Wer sich nicht über die Türkei in Deutschland hält und ob er es für
auf diesen Weg begeben will, der wird in Europa hilfreich halten würde, wenn wir die Türken vor der
lange vor der Tür stehen bleiben. Erste Signale aus europäischen Tür stehenlassen wollten, wenn wir ge-
der Türkei - ich sage das noch einmal - gibt es. Wir nau das machen wollten, was in Ihrem Antrag steht.
müssen sie unterstützen. Er hat uns gesagt, genau das wäre das Falsche. Da,
wo zwischen den Politikern und zwischen den Men-
Drittens. Langfristig wollen wir die Freundschaft schen der Länder keine Verbindung ist, wird auch
zwischen dem deutschen und dem türkischen Volk nichts bewegt werden. Da wird kein Funke der Er-
erhalten und vertiefen. Ja, wir wollen weiterarbeiten kenntnis überspringen, wie wir uns das so gerne
an der deutsch-türkischen Freundschaft, aber nicht wünschen.
um den Preis des Schweigens zu innenpolitischen
Verhältnissen in der Türkei, zu denen kein Demo- Lassen Sie mich zum Schluß einen Vorschlag ma-
krat schweigen darf. Pauschale Verurteilungen hel- chen. Wir wissen alle, Frau Jelpke, daß es zwischen
fen hier aber nicht weiter, pauschale Sanktionen wer- der PDS und der PKK gute Kontakte gibt. Das haben
den das türkische Volk und den türkischen Staat in wir in vielen Zeitungen gelesen. Deshalb nehmen
eine Isolation treiben. Undifferenziertes Abweisen Sie doch Ihre Aufgabe wahr, und fordern Sie auf
der Türken an der europäischen Haustür wird den Grund Ihrer guten Kontakte zur PKK diese Terror-
Fundamentalismus in der Türkei stärken und damit gruppe zum Gewaltverzicht auf. Wir wollen dann mit
letztendlich die Menschenrechte schwächen. den demokratischen Politikern im türkischen Parla-
ment reden, damit es in der Türkei langfristig zu
Deswegen bedauere ich die Entscheidung des Eu- einer guten politischen Lösung kommt.
ropäischen Parlaments, weil sie meines Erachtens
kurzsichtig ist und auf diesem Wege weitere Hinder- Herzlichen Dank.
nisse aufbauen wird. Sie wird den türkischen Politi-
kern Schwierigkeiten machen, sie wird aber auch auf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
dem Weg zu mehr Menschenrechten und mehr
Demokratie Schwierigkeiten machen. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat
der Herr Staatsminister Helmut Schäfer.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kossen-
dey, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit-
Thomas Kossendey (CDU/CSU): Ja, bitte. ternacht ist sehr bald erreicht und insofern auch die
Diskussion der interessantesten Themen des Deut-
schen Bundestages. Es wäre wünschenswert, Herr
Dr. Angelika Köster Loßack (BÜNDNIS 90/DIE
Vizepräsident, wenn wir solche Debatten gelegent-
-

GRÜNEN): Ist Ihnen bekannt, daß es inzwischen auf


lich etwas früher am Tage führten, statt sie sozusa-
der einen Seite schwarze Listen gibt, die Presse-
gen zu einer Art Mitternachtsschau gegen 24 Uhr
organe aufführen, z. B. „Ste rn " und „Spiegel", und
entarten zu lassen.
daß es auf der anderen Seite schwarze Listen gibt,
die Menschenrechtsorganisationen - sowohl Vertre- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
ter von Menschenrechtsorganisationen als auch ihre
Dolmetscher - betreffen? Sind Ihnen diese Dinge be- Ich halte das nicht für glücklich. Wir haben dasselbe
kannt? Würden Sie auf der Grundlage dieser Kennt- bereits vor einer Woche hier erlebt. Vielleicht könn-
nis noch immer sagen, daß unter solchen Bedingun- ten sich die Parlamentarischen Geschäftsführer ein-
gen, sofern sie nicht ausgeräumt werden, Verhand- mal darüber einigen, daß man PDS-Anträge - bei
lungsbereitschaft gezeigt werden sollte? allem Verständnis dafür, daß man sie nicht liebt -
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1509
Staatsminister Helmut Schäfer
etwas früher behandelt. Es sind ja wichtige Themen, Aber wenn Sie zu den Kurden sprechen, dann
die hier angesprochen werden. müssen Sie auch ein bißchen genauer hinschauen.
Im Norden des Irak haben sich die Kurden im Ge-
(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND folge des Golfkrieges von dem Terror des Saddam-
NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Hussein-Regimes weitgehend lösen können. Was ge-
Ich sage das auch, weil ich ein Mitleidender bin, in- schieht jetzt? Sie bekämpfen sich bis aufs Messer.
dem ich freundlicherweise am Schluß das Wort er- Die Gruppe Talabani und die Gruppe Basani be-
halte. kämpfen sich im Norden des Irak bis aufs Messer,
und Herr Saddam Hussein ist der lachende Dritte.
(Joachim Hörster [CDU/CSU]: Ist die Mei
nung in der Regierung abgestimmt?) (Beifall bei der F.D.P.)

- Sie sind hier doch ein Parlament. Sie sind doch völ- Dann müssen Sie die Frage stellen: Was geht unter
lig unabhängig von der Regierung, dachte ich. den Kurden vor? Es ist einfach nicht wahr, daß die
PKK die Vertreterin der Kurden schlechthin ist, son-
(Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/ dern es ist wahr, was Frau Onur völlig zu Recht ge-
DIE GRÜNEN) sagt hat: Sehr viele Kurden sind in keiner Weise ein-
verstanden mit dem, was die PKK ihnen auferlegt -
Insofern würde ich Ihnen den Rat geben, das nächste
was aber in keiner Weise das Vorgehen türkischer
entsprechende Thema einmal ein bißchen früher zu
Behörden rechtfertigt, was in keinerlei Weise das,
behandeln.
was Amnesty International aufzeichnet, rechtfertigt.
Ich finde es ein bißchen seltsam, wenn ich hier Wir sind uns hier völlig einig. Aber es stellt sich doch
grundsätzlich gegen 24 Uhr für die Regierung die Frage: Wie können wir es ändern? Was können
freundlicherweise das Wort ergreifen darf. Vielleicht wir tun? Genügen solche mitternächtlichen Tiraden?
könnten wir eine solche Debatte etwas früher abhal-
(Zuruf des Abg. Rudolf Bindig [SPD])
ten, Herr Hörster. Das wäre von Zeit zu Zeit ganz gut.
Die Themen, die wir hier diskutieren, sind ja nicht so - Entschuldigung, Herr Bindig, ich sage immer wie-
ganz unwichtig. der - vielleicht schon zum sechsten, siebten oder ach-
ten Mal in diesem Bundestag -, daß die Parteien sich
(Beifall im ganzen Hause) intensiver für einen Dialog mit den jeweiligen türki-
- Meine Damen und Herren, nachdem wir jetzt Bei- schen Parteien einsetzen müssen, damit im Parla-
fall von allen Seiten des Hauses feststellen können, ment in der Türkei mehr Mut aufkommt, solche
wird sich das schnell ändern. Dinge abzustellen: die Sozialdemokraten mit den So-
zialdemokraten,
Ich darf sehr herzlich Frau Onur danken. Ich bin
der Auffassung, daß sich das, was Sie heute abend (Rudolf Bindig [SPD]: Das tun wir doch!)
gesagt haben, sehr wohltuend von einigem, was die christlichen Demokraten mit der Mutterlandpar-
Ihnen an Tiraden vorausgegangen ist, abgehoben tei; als Liberale Ansprechpartner zu finden ist in der
hat. Türkei im Augenblick ein bißchen schwierig; wahr-
- scheinlich finden aber auch wir Ansprechpartner.
(Beifall bei der F.D.P., der SPD und der PDS)
Ich habe fast den Eindruck, Sie haben Verständnis Es ist nicht gut, wenn wir hier nur verurteilen, statt
für die Türkei und Vorstellungen von der Türkei. Sie in der Türkei unablässig Einfluß zu nehmen: von Par-
kennen dieses Land, während mir das bei einigen lament auf Parlament, von Partei auf Partei, von Re-
anderen Rednern und Rednerinnen nicht so er- gierung auf Regierung. Die Regierung tut es übri-
scheint. Ich würde jedem, der hier über die Türkei re- gens. Sie tut es auch wieder im Zusammenhang mit
det, empfehlen, gelegentlich in die Türkei zu reisen, der Abschiebung von Kurden.
mit Türken und Kurden zu sprechen und hier viel- Gerade heute nachmittag fand im Auswärtigen
leicht etwas differenzierter aufzutreten, als das im- Amt eine Besprechung mit Herrn Kinkel statt, bei der
mer wieder geschieht. Denn wir reden ja nicht zum wir sehr genau überlegt haben, wie wir uns einzu-
erstenmal zu diesem Thema - ein Thema, das mit stellen haben, was wir tun können, was seitens der
großem Ernst diskutiert werden muß. Türkei erreicht werden muß, um nicht generell sagen
(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Oder auch nur Akten zu müssen: Es kann kein Kurde abgeschoben wer-
zu lesen! Das würde auch schon helfen!) den. Wir wollen sehr differenziert verfahren und si-
cherstellen, daß niemandem, der abgeschoben wer-
- Das würde auch schon helfen, Herr Kollege Irmer. den muß, in irgendeiner Weise ein Schaden entsteht.
Es geht darum, ein Problem zu sehen, das so einfach, Das ist doch die Zielsetzung dieser Regierung. Darin
wie es einigen hier erscheint, nicht zu lösen ist. unterscheiden wir uns von Ihnen doch nicht. Glau-
ben Sie es uns.
Sie reden heute den ganzen Abend über die Kur-
den und deren Verfolgung. Wir alle sind uns einig in Bei allem Verständnis dafür, daß heute abend wie-
dem Punkt, daß so nicht weitergegangen werden der der Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen gefor-
darf und daß die Kurden das Recht auf eine kultu- dert wird, darf ich Ihnen sagen, was wir wirtschaft-
relle Autonomie haben. Das ist die Meinung dieser lich tun: Mit den von der Bundesregierung zugesag-
Bundesregierung. Dieses Recht ließ sich bisher nicht ten 150 Millionen DM werden in der Türkei konkrete
durchsetzen. Die Türkei wird keinen Erfolg damit ha- Entwicklungsvorhaben gefördert: in den Bereichen
ben, die Kurden militärisch zu bekämpfen. Umweltschutz - hier müßte das BÜNDNIS 90/DIE
1510 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Staatsminister Helmut Schäfer


GRÜNEN geradezu toben vor Begeisterung; doch Ich will nur sagen: Lassen Sie die Türkei nicht al-
das tun Sie nicht; Frau Beer hört gar nicht erst zu; sie lein! Bei allem gemeinsamen Verständnis für die Kur-
will nicht, daß dort Wirtschaftshilfe geleistet wird -, den, bei aller gemeinsamen Entschlossenheit, zu ver-
Trinkwasserversorgung, die auch eine Angelegen- hindern, daß Kurden leiden müssen - darin sind wir
heit ist, die ich fast als humanitär ansehen würde, uns einig -, machen Sie nicht den Fehler, die Türkei
und Aus- und Fortbildung. Sollen wir das stoppen? zu isolieren! Herr Irmer und andere haben darauf
Ist das die Meinung dieses Hauses, zu sagen: Das be- hingewiesen.
kommen die so lange nicht mehr, bis die Kurden end-
gültig in eine Art Autonomie entlassen werden? Ich Ich bin Frau Onur sehr dankbar, daß sie auch die
bin dieser Auffassung nicht. Zollunion erwähnt hat. Wir wollen die Vollendung
dieser Zollunion. Wir wollten es eigentlich schon im
Wir haben diese Politik übrigens über viele Jahre zweiten Halbjahr 1994. Sie wissen, daß es griechi-
auch in anderen Staaten der Welt verfolgt. Wir haben sche Proteste gegeben hat. Ich hatte am vergangen
bei Militärregimes in Ländern Südamerikas und in Montag Gelegenheit, in Bordeaux mit dem zuständi-
Südafrika immer versucht, solche Projekte fortzuset- gen griechischen Minister zu sprechen. Er sagte, es
zen, die den Menschen unmittelbar zugute kommen. liege nur noch an zwei Kleinigkeiten, daß sie zustim-
Wir haben das von einer Zusammenarbeit mit Regie- men. Sie wissen, daß in diesem Zusammenhang auch
rungen oder Militärdiktaturen, die wir abgelehnt ha- die Zypernfrage wieder hochkommt.
ben, getrennt. Aber wir haben nie aufgehört, Ent-
wicklungshilfe für die Bedürftigen zu geben. Ich Ich kann nur sagen: Lassen wir die Türkei nicht in
hielte es für ganz falsch, das zu tun, was jetzt wie- ein Vakuum abdriften, das im Endeffekt für die Tür-
derum im Antrag der PDS steht. kei, für die Kurden, für die Menschen dort sehr viel
schrecklichere Folgen haben wird! Nehmen wir,
Jetzt kommen wir zu den Waffenlieferungen. Las- bitte, zur Kenntnis, daß wir auch eine Verantwortung
sen Sie mich Ihnen sagen: Die Waffenlieferungen dafür haben, daß sich dieses Land so entwickelt, wie
laufen aus. Machen Sie doch nicht dauernd den Ver- wir es alle wünschen. Ich gehöre nicht zu denen, die
such, diese Waffenlieferungen als eine Lust der Bun- der Türkei von vornherein absprechen, daß sie jemals
desregierung darzustellen, der Türkei zur Bekämp- Mitglied der Europäischen Union werden darf. Ich
fung der Kurden Waffen zuzugestehen. Das ist doch sehe das nicht so. Im Gegenteil, ich bin sogar der
schlicht nicht wahr. Sie müssen doch zur Kenntnis Meinung, es würde uns gar nichts schaden.
nehmen, daß die Waffenlieferungen etwas mit Ver-
(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE
pflichtungen eines NATO-Partners zu tun haben, der
GRÜNEN]: Das tun wir doch auch nicht!
sich auf Grund seiner Vergangenheit und seiner Zu-
Deswegen müssen wir doch konditionie
rückhaltung, die ihm die Vergangenheit auferlegt
ren!)
hat, z. B. im Golfkrieg, dazu verstehen mußte, an an-
derer Stelle etwas für einen bedrohten Staat zu tun.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Staatsmi-
Schauen Sie sich doch die Geschichte der Ver-
- nister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
pflichtungen dieser sogenannten Waffenlieferungen
Lippelt?
innerhalb der NATO an. Dann wissen Sie, daß die
Bundesregierung im Zusammenhang mit dem Golf-
krieg Versprechungen machen mußte, weil sie sich Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen
an anderer Stelle zurückhalten mußte. Dafür hat sie Amt: Bitte schön.
aber der Türkei einiges geben müssen.

Die Waffenlieferungen laufen aus; Sie wissen das. Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Materialhilfe und damit sämtliche Rüstungshilfs- Herr Staatsminister, um hier keine falschen Töne auf-
programme für die Türkei werden in diesem Jahr ab- kommen zu lassen: Sie werden unseren Antrag ja
geschlossen. auch gelesen haben. Da wird Ihnen aufgegangen
sein, daß wir die Frage der weiteren Wirtschaftshilfe
Ich will jetzt nicht noch einmal die Debatte über usw. sehr konditioniert ausgesprochen haben. Im
die Fregatten aufwärmen; das wurde in der Frage- übrigen bestehen in der GRÜNEN-Fraktion keine
stunde heute schon in extenso getan. Ich darf nur sa- Probleme mit einer perspektivischen Aufnahme der
gen: Auch die Türkei hat das Recht auf kommerzielle Türkei in die EU; damit werden eher andere Schwie-
Lieferungen von Waffen und Rüstungsgütern, wenn rigkeiten haben.
sich diese Lieferungen nach den Grundsätzen der
Bundesregierung für den Waffenexport richten. (Ulla Jelpke [PDS]: Das ist auch ganz neu!)
(Rudolf Bindig [SPD]: Brauchen wir - Das ist nicht so neu. Das hat die AL in Berlin schon
150 Millionen, wenn das kommerziell ist?) vor zehn Jahren gefordert; aber es muß ganz anders
diskutiert werden als hier.
- Herr Kollege Bindig, Sie haben doch die Gelegen-
heit, Ihre Ansicht über die Höhe solcher Lieferungen Aber dann dürfen Sie doch nicht durch das Fort-
- das gilt auch für U-Boote, die an andere Nachbar- führen der bisherigen Politik die Türkei geradezu in
staaten geliefert worden sind; da habe ich Ihre Prote- dem, was sie tut, bestätigen, wobei Sie zwar verbal
ste vermißt - in den Ausschüssen zur Kenntnis zu ge- protestieren, aber im übrigen die Politik so weiterlau-
ben. fen lassen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1511
Dr. Helmut Lippelt
Unsere Forderungen - das bitte ich doch zur in westeuropäischen Staaten gewohnt sind, und
Kenntnis zu nehmen - sind genau auf das Verhalten wenn sie das nicht auch in der Praxis umsetzt. All das
konditioniert. Und das vermissen wir auf Ihrer Seite. ist immer wieder gesagt worden. Wir brauchen dazu
keine neue Politik der Bundesregierung, sondern ein
Zusammenwirken von Parlament und Regierung.
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Wir brauchen den konstanten Dialog mit diesem
Amt: Herr Kollege Lippelt, ich konnte ein Fragezei- Land und seinen Parteien statt dieser immer wieder-
chen zu Ihrem Statement nicht entdecken; aber das holten Szenen der Verurteilung. Der Bundestag als
macht nichts. Tribunal führt ebensowenig weiter.
Ich möchte Ihnen sagen: Wenn Sie demnächst von
Ihrer Fraktion die Chance bekommen, hier einmal an Vielen Dank.
Stelle von Frau Beer eine Rede zur Türkei und zu den
Kurden zu halten, dann hört es sich vielleicht ein biß- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
chen gemäßigter an. Wir würden das alle sehr begrü-
ßen. Frau Beer wird in Mitternachtsdebatten arg stra-
paziert. Schon beim letztenmal hat sie eine ganz ähn- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Es liegen keine
liche Rede zu einem ganz anderen Thema gehalten. weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aus-
Liebe Frau Beer, es tut mir leid: Ich sehe in Kollegen sprache.
Lippelt jemanden, der etwas differenzierter zu spre-
chen vermag, als Sie es können. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla-
gen auf den Drucksachen 13/212 und 13/538 an die
Ich darf zum Schluß sagen: Ich bin ja durchaus der
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
Meinung, daß wir die Türkei immer wieder von
geschlagen. - Ich sehe und höre keinen Wider-
neuem mahnen müssen. Ich bin auch der Meinung,
spruch. Damit sind die Überweisungen beschlossen.
daß wir alles unternehmen müssen, um dem Miß-
brauch von Militär oder Polizei oder Sicherheitskräf-
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-
ten in Ost- und Südostanatolien entschieden entge-
ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deut-
genzutreten. Ich bin auch der Auffassung, daß unse-
schen Bundestages auf morgen, Freitag, 17. Februar,
rerseits alles getan werden muß, um eine andere Ent-
9.00 Uhr ein.
wicklung in der Türkei zu fördern.
Ich bin weiterhin der Auffassung, daß die Türkei Die Sitzung ist geschlossen.
nicht in die Europäische Union kommen kann, wenn
ihre Rechtsordnung nicht Züge annimmt, wie wir sie (Schluß der Sitzung: 23.45 Uhr)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1513*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 In der Bundestagsdebatte vom 8. Februar 1995 ha-


ben Sie, Herr Duve, wörtlich erklärt: „Sie (Bundes-
Liste der entschuldigten Abgeordneten kanzler) sind mit einer von SAT 1 bezahlten Ma-
schine nach Chicago geflogen. "
entschuldigt bis
Abgeordnete(r)
einschließlich Diese Aussage ist falsch. Richtig ist vielmehr: Der
Bundeskanzler hat für die Reise zur Fußball-Welt-
Berger, Hans SPD 16. 02. 95 meisterschaft in Chicago die Flugbereitschaft der
Dr. Böhme (Unna), Ulrich SPD 16. 02. 95 Bundeswehr in Anspruch genommen, die den Mit-
gliedern der Bundesregierung zur Verfügung steht.
Büttner (Schönebeck), CDU/CSU 16. 02. 95 Dafür werden Haushaltsmittel in den jährlichen Bun-
Hartmut deshaushalt eingestellt, die vom Parlament gebilligt
Fink, Ulf CDU/CSU 16. 02. 95 werden.
Dr. Hartenstein, Liesel SPD 16. 02. 95
Der Bundeskanzler wurde bei seinem Flug von Eh-
Dr. Hauchler, Ingomar SPD 16. 02. 95 rengästen begleitet. Wie die Bundesregierung über
Dr. Heuer, Uwe-Jens PDS 16. 02. 95 das Presse- und Informationsamt der Bundesregie-
Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 16. 02. 95 rung am 15. Juni 1994 vor dem Abflug des Bundes-
Dr. Jacob, Willibald PDS 16. 02. 95 kanzlers mitgeteilt hat, hat der Fernsehsender SAT 1
die Kosten der Ehrengäste als Sponsor übernommen
Jüttemann, Gerhard PDS 16. 02. 95 (Presse-Mitteilung Nr. 228/94 vom 15. Juni 1994).
Knoche, Monika BÜNDNIS 16. 02. 95
90/DIE Diesbezüglich hat ferner mein Kollege Staatsmini-
GRÜNEN ster Pfeifer in der Sitzung vom 23. Juni 1994 wörtlich
Kraus, Rudolf CDU/CSU 16. 02. 95 mitgeteilt:
Scheffler, Siegfried SPD 16. 02. 95 Der Bundeskanzler hat eine Reihe von Persön-
Frhr. von Schorlemer, CDU/CSU 16. 02. 95 lichkeiten des Sports eingeladen, ihn auf die-
Reinhard ser Reise zu begleiten. Es handelte sich dabei
Schumann, Ilse SPD 16. 02. 95 vor allem um ehrenamtlich in der Vereins-
arbeit Tätige sowie andere in besonderer
Terborg, Margitta SPD 16. 02. 95 Weise gesellschaftlich engagierte Personen,
Tippach, Steffen PDS 16. 02. 95 ehemalige und heute noch aktive Sportlerin-
Titze-Stecher, Uta SPD 16. 02. 95 nen und Sportler aus den Bereichen Fußball
SPD 16. 02. 95 und Leistungssport der Behinderten. Der Bun-
Vergin, Siegfried
deskanzler hat diese stellvertretend für viele
Wallow, Hans SPD 16. 02. 95 eingeladen, um Dank zu sagen für ihren Ein-
satz in der Gesellschaft sowie für die gute,
über das Sportliche hinausgehende Repräsen-
tanz als Botschafter unseres Landes.

Durch die Mitreise dieser Gäste wurden keine


Anlage 2 den Bundeshaushalt belastenden Kosten ver-
ursacht. Sie wurden von einem Sponsor über-
Antwort nommen.
des Staatsministers Bernd Schmidbauer auf die Fra- Ich verstehe die von Ihnen gestellten Fragen da-
gen des Abgeordneten Freimut Duve (SPD) (Druck- hingehend, daß auch Sie nunmehr ebenfalls von die-
sache 13/470 Fragen 5 und 6): sem richtigen Sachverhalt ausgehen und nicht mehr
an Ihrer Behauptung vom 8. Februar 1995 festhalten
Auf welche tatsächlichen und rechtlichen Sachverhalte hat möchten. Dies begrüße ich.
sich der Bundeskanzler bei seiner Äußerung während der De-
batte des Deutschen Bundestages am 8. Februar 1995 zum The-
ma „ARD" berufen, als er mich im Zusammenhang mit meinem
Nur der Vollständigkeit halber möchte ich auf fol-
Vorwurf, an der Reise nach Chicago zur Fußball-Weltmeister- gendes hinweisen:
schaft am 17. Juni 1994 sei der Sender SAT 1 beteiligt gewesen,
der Lüge bezichtigt und behauptet hat, dies sei gerichtlich end- Anfang des Jahres ist einer großen Wochenzeit-
gültig geklärt? schrift in Deutschland, welche sich gegenüber einem
großen Medienunternehmer in ähnlicher Weise wie
Wie beurteilt die Bundesregierung im Lichte des Vorwurfs des Herr Duve gegenüber dem Bundeskanzler geäußert
Bundeskanzlers mir gegenüber, ich hätte gelogen, die Mittei-
lung des Presse- u. Informationsamtes vom 16. Juni 1994: „Die hat, durch Beschluß des Landgerichts Hamburg un-
Anerkennung (der 60 Ehrengäste, die auf Einladung des Bun- tersagt worden, die unwahre Behauptung aufzustel-
deskanzlers in der Kanzlermaschine mitgeflogen sind) findet len, „SAT 1 habe eine Viertelmillion Mark spendiert,
auch darin ihren Ausdruck, daß sich der Fernsehsender SAT 1
damit Kohl und 80 persönliche Gäste zum Auftakt
bereit erklärt hat, als Sponsor die Reisekosten der Ehrengäste zu
übernehmen" (zitiert aus der Süddeutschen Zeitung vom 17. Ju- der Fußball-Weltmeisterschaft 1994 nach Chicago
ni 1994)? jetten konnten" .
1514' Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Anlage 3 übergeleitet. Hiermit erhalten die nach Landesrecht


zuständigen Stellen die Möglichkeit vor Ort, ihre re-
Antwort gionalpolitische Verantwortung wahrzunehmen.

des Parl. Staatssekretärs Johannes Nitsch auf die Eine Einflußnahme des Bundes auf Einzelheiten
Frage des Abgeordneten Horst Kubatschka (SPD) der Fahrplangestaltung der DB AG würde mit den
(Drucksache 13/470 Frage 11): Zielen der Bahnreform, insbesondere der klaren
Trennung von staatlichen und unternehmerischen
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus einer
Aufgaben jedoch nicht in Einklang stehen.
internationalen Verbraucherstudie, nach der die Gefahr besteht,
daß Babys auf dem Beifahrersitz bei einem Unfall durch den Bei-
fahrer-Airbag getötet werden können? Für den Geschäftsbereich des Bundesministeriums
für Post und Telekommunikation gilt: In seiner Eigen-
schaft als Regulierer, die der Bundesminister für Post
Es ist richtig, daß bei einem Unfall mit Airbag-Aus- und Telekommunikation als hoheitliche Aufgabe
lösung die Gefahr besteht, ein Kind, das in einem ausübt, hat er die Einhaltung des verfassungsrecht-
rückwärtsgerichteten Kindersitz auf dem Beifahrer- lich verankerten Infrastrukturauftrag es sicherzustel-
sitz gesichert ist, durch das Aufblasen des Airbags len. Dieser besagt, daß die angebotenen Dienstlei-
samt Sitz nach hinten katapultiert wird und erhöhte stungen des Post- und Fernmeldewesens flächendek-
Verletzungsgefahr für das Kind besteht. kend, angemessen und ausreichend erbracht wer-
Die Bundesregierung begrüßt daher, daß die Euro- den.
päische Kommission sich des Problems angenommen In diesem Sinne gelten z. B. die Telekommunikati-
hat, indem sie eine Ergänzung der Richtlinie über Si- onsverordnung, die Postdienstverordnung und die
cherheitsgurte und Haltesysteme vorgelegt hat; da- Pflichtleistungsverordnungen für die Unternehmen
nach müssen Sitze, die mit einem Airbag ausgerüstet der Deutschen Bundespost fort. Darüber hinaus wer-
sind, mit einem entsprechenden Warnhinweis verse- den in Lizenzbedingungen für Wettbewerber am
hen sein. Erste Beratungen hierzu werden bei der Markt entsprechende Auflagen eingebracht.
Europäischen Kommission Ende Februar stattfinden.

Die Vorschriften über die rückwärtsgerichteten


Kindersitze selbst sehen schon heute einen entspre-
chenden Warnhinweis vor.

Anlage 5

Antwort
des Parl. Staatssekretärs Johannes Nitsch auf die Fra-
Anlage 4 gen des Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt
- (F.D.P.) (Drucksache 13/470 Fragen 15 und 16):
Antwort
Wie bewertet der Bundesminister für Verkehr hinsichtlich der
des Parl. Staatssekretärs Johannes Nitsch auf die Umweltbelastung die Tatsache, daß ein Korridor in der direkten
Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) Verlängerung der A 44 am Kasseler Kreuz zu einer Einsparung
von 4 km Strecke führen würde?
(Drucksache 13/470 Frage 13):
Ist der Bundesminister für Verkehr der Auffassung, daß eine
In welcher Weise nimmt die Bundesregierung nach dem In-
ausreichende und vertretbare Kostengrundlage für eine endgül-
krafttreten der Post- und Bahnreform auf diese Unternehmen
tige Korridorentscheidung vorhanden ist, nachdem der Zwi-
Einfluß, um sie zur regionalpolitischen Verantwortung im Sinne
schenbericht der Kocks-Consult für die Trassenvariante im
des Raumordnungsgesetzes des Bundes anzuhalten, und gibt es „Lossetalkorridor" Kosten von 231,3 bis 397,2 Mio. DM und für
z. B. bei der Fahrplanumstellung 1995/1996 konkrete Einfluß die Trassenvariante im „Soehrekorridor" 399,9 bis 542,7 Mio.
nahmen der Bundesregierung auf den Bahnvorstand? DM veranschlagt (also zwischen niedrigster und höchster Sum-
me eine Differenz zwischen 130 und 140 Mio. DM bei beiden
Trassen besteht)?
Ein Einwirken der Bundesregierung im Sinne des
§ 4 Abs. 2 Raumordnungsgesetz hat sich an dem be-
stehenden Gesetzesrahmen, insbesondere des Akti- Zu Frage 15:
engesetzes zu orientieren.
Die in der Frage unterstellte Aussage in Verlänge-
Als politische Instrumente sind im Bereich der Ei- rung der A 44 wären Trassenführungen im Soehre-
senbahninfrastruktur Vereinbarungen nach dem Korridor 4 km kürzer als Trassenführungen im Losse-
Schienenwegeausbaugesetz, bei Eisenbahnver- Korridor, trifft nicht zu. Denkbare Trassen in beiden
kehrsleistungen Verpflichtungen bzw. Vereinbarun- Korridoren sind etwa gleich lang.
gen nach der Verordnung (EWG) Nr. 1191/69 zu nen-
nen. Hierbei müßte der Bund der DB AG die nicht Zu Frage 16:
gedeckten Aufwendungen erstatten. Für den Fern-
verkehr sind im übrigen keine Mittel im gültigen Die in der Frage richtig zitierten Bandbreiten der
Haushalt bereitgestellt. Im Nahverkehr werden die Kosten in den beiden Korridoren entstanden durch
für den Schienenpersonennahverkehr der DB AG die Abschätzung unterschiedlicher Trassenvarianten
verwendeten Mittel ab 1. Januar 1996 auf die Länder in jedem Korridor.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1515*

Anlage 6 Teilt die Bundesregierung die Rechtsauffassung, daß die Tür-


kei den nördlichen Teil der Republik Zypern seit über zwei Jah-
ren unter Mißachtung geltenden Völkerrechts besetzt hält, und
Antwort welche Veränderungen der Sicherheitslage der Republik Zy-
pern könnten sich nach Einschätzung der Bundesregierung aus
des Parl. Staatssekretärs Johannes Nitsch auf die Fra- dem Einsatz der aus dem Bundeshaushalt geförderten Fregatten
gen des Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms erg eben?
(F.D.P.) (Drucksache 13/470 Fragen 17 und 18):
Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß der Hes- Zu Frage 29:
sische Minister für Wirtschaft, Verkehr, Technologie und Euro-
paangelegenheiten einen Zwischenbericht der Kocks-Consult Mit der Finanzierungshilfe wird ein umfangreiches
für ausreichend erachtet, um eine endgültige und verbindliche
Korridorentscheidung zugunsten des sogenannten Lossetalkor- Programm des Fregattenbaus eines deutschen Fir-
ridors zu treffen, und hält der Bundesminister für Verkehr eine menkonsortiums mit der türkischen Regierung unter-
ausdrücklich als Zwischenbericht genannte Stellungnahme für stützt. Die türkische Regierung erachtet das Vorha-
geeignet, um eine endgültige Entscheidung treffen zu können? ben als Ausdruck und als Prüfstein der deutschen Be-
Mißt der Bundesminister für Verkehr der Frage des Verkehrs- reitschaft zu einer partnerschaftlichen Kooperation
lärms, über den der Zwischenbericht keine abgesicherten Aus- über den sicherheitspolitischen Bereich hinaus.
sagen enthält, da diese erst in späteren Planungsstufen möglich
sein sollen, die gleiche untergeordnete Bedeutung bei wie der
Hessische Minister für Wirtschaft, Verkehr, Technologie und Eu-
Die bereits 1992 getroffene Entscheidung der Bun-
ropaangelegenheiten und inwiefern betrachtet der Bundesmini- desregierung, sämtliche Rüstungshilfen an die Tür-
ster für Verkehr die Lärmbelastung der Menschen als eine be- kei, Griechenland und Portugal einzustellen ist hier-
deutende Grundlage für eine Korridorentscheidung? von unbenommen.

Zu Frage 17:
Zu Frage 30:
Die Bundesregierung drängt mit Nachdruck dar-
auf, daß die hessische Straßenbauverwaltung die pla- Die Stationierung türkischer Truppen im nördli-
nungsrechtlichen Voraussetzungen zum Bau der als chen Teil der Republik Zypern geht auf die Invasion
vordringlich erkannten A 44 zwischen Kassel und Nordzyperns durch die Türkei im Jahre 1974 zurück.
Herleshausen (A 4) möglichst zügig schafft. Zur Bereits damals hat der VN-Sicherheitsrat in seiner
Findung einer für die A 44 geeigneten Trassenfüh- Resolution 353 (1974) den Rückzug aller ausländi-
rung war zunächst die Ermittlung relativ konflikt- schen Truppen aus der Republik Zypern gefordert,
armer Korridore erforderlich. die die Souveränität und territoriale Integrität Zy-
perns beeinträchtigen. Auch in seiner jüngsten Reso-
Nach der noch ausstehenden Abstimmung Land/ lution vom 21. Dezember 1994 hat der Sicherheitsrat
Bund über konkrete Trassenführungen (außerhalb die betroffenen Parteien zu Truppenreduzierungen
der bereits in den Raumordnungsverfahren befindli- als erstem Schritt zu einem Rückzug nicht-zyprischer
chen Teilstrecken) sind für diese Trassen auf Landes- Truppen von der Insel aufgerufen. Die Bundesregie-
ebene Raumordnungsverfahren durchzuführen. Mit rung hat die Folgen der türkischen Besetzung, insbe-
dem Ergebnis der Raumordnungsverfahren wird das sondere die Errichtung einer unabhängigen „Türki-
Land anschließend die Linienbestimmung durch das schen Republik Nordzypern" nie anerkannt. Nach
-
Bundesministerium für Verkehr beantragen. Einschätzung der Bundesregierung wird das Vorha-
Das Bundesministerium für Verkehr wird in diesem ben zur Förderung des Baus von zwei Fregatten für
Rahmen alle Vorschläge ernsthaft prüfen. die Türkei, über deren Hintergrund bei der Beant-
wortung der Fragen 25 ff. ausführlich berichtet
wurde, keine Veränderung der Sicherheitslage der
Zu Frage 18:
Republik Zypern zur Folge haben.
Bei der endgültigen Trassenwahl wird dem Krite-
rium des Verkehrslärms eine sehr große Bedeutung
zukommen. Aussagen für einzelne Betroffene sind
erst bei der näheren Untersuchung eines genau defi-
nierten Trassenverlaufs möglich. Anlage 8

Antwort

des Staatsministers Dr. Werner Hoyer auf die Fragen


Anlage 7 des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU)
(Drucksache 13/470 Fragen 33 und 34):
Antwort
Was meint die Bundesregierung im einzelnen damit, wenn sie
des Staatsministers Dr. Werner Hoyer auf die Fragen „die Vertreibung und entschädigungslose Enteignung der Su-
der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard (SPD) (Druck- detendeutschen als Unrecht betrachtet" und dies mit dem Hin
sache 13/470 Fragen 29 und 30): weis verbindet, dies geschehe „ungeachtet des historischen
Kontextes" (Drucksache 13/160S. 2 Nr. 3, letzter Absatz)?
Wie ist nach Ansicht der Bundesregierung die geplante Werft-
hilfe an die Türkei mit dem bisherigen Grundsatz ausgewogener Kann nach Auffassung der Bundesregierung ein „historischer
Militärhilfen und dem Beschluß der Bundesregierung, jegliche Kontext" die Untaten Deutscher gegen Personen und Gruppen
Militär- und Rüstungshilfen an die Türkei einzustellen, in Ein- anderer Völker oder die Untaten von anderer Seite an Deutschen
klang zu bringen? entschuldigen oder gar rechtfertigen?
1516* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Zu Frage 33: voraussetzung für die Entsendung von Menschen-


rechtsbeobachtern ist die Zustimmung des empfan-
Der Hinweis „ungeachtet des historischen Kontex- genden Landes. Inwiefern der Sudan eine Men-
tes" ist so zu verstehen, daß es vor der Vertreibung schenrechtsbeobachtermission akzeptieren würde,
und entschädigungslosen Enteignung der Sudeten- ist fraglich. Auf der laufenden Sitzung der Men-
deutschen der Tschechoslowakei nach dem Ende des schenrechtskommission sollte vor allem erreicht wer-
2. Weltkrieges Unrecht von deutscher Seite gegen- den, daß das Mandat von Sonderberichterstatter Biro
über der Tschechoslowakei durch Besetzung und Un- verlängert wird und er seine Tätigkeit, die wichtige
terdrückung des Landes gab. Informationen geliefert hat, fortsetzen kann. Die
Bundesregierung wird sich in diesem Sinne einset-
Zu Frage 34: zen. Die Entscheidung darüber wird allerdings die
Die Antwort der Bundesregierung dazu lautet: Gesamtheit der Mitglieder der Menschenrechtskom-
Nein. mission zu treffen haben.

Anlage 9 Anlage 10

Antwort Antwort

des Staatsministers Dr. Werner Hoyer auf die Fragen des Staatsministers Dr. Werner Hoyer auf die Frage
der Abgeordneten Amke Dietert-Scheuer (BÜND- des Abgeordneten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 13/470 Fragen 35 (F.D.P.) (Drucksache 13/470 Frage 37):
und 36): 'tat die Bundesregierung im Zusammenhang mit der vorgese-
henen Gewährung von EU-Hilfen zur Beseitigung der Kriegsfol-
Setzt sich die Delegation der Bundesregierung hei der gegen- gen gegenüber der kroatischen Regierung auch die Forderung
wärtig tagenden Menschenrechtskommission der Vereinten Na- nach einem rechtsstaatlichen Umgang mit denjenigen Gruppen
tionen dafür ein, daß die Menschenrechtssituation im Sudan be- hervorgehoben, die gegenwärtig in Kroatien Diskriminierungen
handelt wird und die Regierung des Sudan gedrängt wird, die ausgesetzt sind (Serben, Moslems, Deserteure), und wenn nein,
Zusammenarbeit mit dem Sonderberichterstatter der VN zum warum nicht?
Sudan, Ga<'spa<'r Biro<', wieder aufzunehmen, wenn ja, auf wel-
che Weise?
Der Europäische Rat hat bereits im Dezember 1992
Unterstützt die Delegation der Bundesregierung die Forde- grundsätzlich beschlossen, Kroatien in das PHARE-
rung von Amnesty International nach der Einrichtung einer zivi-
len Menschenrechtsbeobachterkommission durch die VN-Men-
Programm einzubeziehen und Restmittel aus dem in-
schenrechtskommission in Verantwortung der VN oder der Or- zwischen wegen der Kündigung des Kooperationsab-
ganisation für Afrikanische Einheit, die mit Zustimmung aller kommens mit dem ehemaligen Jugoslawien hinfälli-
drei Kriegsparteien (der sudanesischen Regierung und der bei- gen 2. Finanzprotokoll zur Verfügung zu stellen.
den Flügel der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee [SPLA]) in
allen Provinzen des Sudan arbeiten soll, und welche Mittel zur Die Kommission legte am 23. November 1994 einen
Durchsetzung dieser Forderung gegenüber der sudanesischen
förmlichen Vorschlag für die Einbeziehung Kroatiens
Regierung und der oppositionellen SPLA nutzt die Bundesregie-
rung? in das PHARE-Programm vor. Die notwendige Stel-
lungnahme des Europäischen Parlaments hierzu
Zu Frage 35: steht noch aus.

Die Bundesregierung hat bereits auf der letztjäh- Fragen im Zusammenhang mit Vorwürfen bezüg-
rigen Sitzung der VN-Menschenrechtskommission lich Diskriminierungen von Teilen der kroatischen
den von den USA eingebrachten Resolutionsentwurf Bevölkerung sind von der Bundesregierung gegen-
zur Menschenrechtssituation im Sudan unterstützt, über Kroatien bei jeder sich bietenden Gelegenheit
der u. a. die Entschließung beinhaltet, die Menschen- angesprochen worden.
rechtssituation im Sudan auch 1995 wieder auf die
Tagesordnung zu setzen. Die Bundesregierung wird
sich auch auf der diesjährigen Sitzung mit allen ihr
zur Verfügung stehenden Mitteln dafür einsetzen,
daß das Mandat des Sonderberichterstatters Gaspar Anlage 11
Biro verlängert wird und der Sonderberichterstatter
seine Arbeit wieder aufnehmen kann. Die Bundesre- Antwort
gierung wird auch dieses Jahr den von den USA ge- des Parl. Staatssekretärs Dr. Norbert Lammert auf die
planten Resolutionsentwurf zum Sudan unterstützen. Fragen des Abgeordneten Norbert Gansel (SPD)
(Drucksache 13/470 Fragen 48 und 49):
Zu Frage 36:
Welche Firmen haben außer der Telemit Electronic GmbH
Die Bundesregierung hält die Einrichtung von während des irakisch-iranischen Krieges Genehmigungen nach
dem Außenwirtschaftsgesetz oder Kriegswaffenkontrollgesetz
Menschenrechtsbeobachtermissionen durch die Ver- für Exporte in den Irak oder Iran erhalten?
einten Nationen oder durch Regionalorganisationen
Hat die Firma Telemit Electronic GmbH auch nach dem ira-
für ein geeignetes und sinnvolles Instrument zur Ver- kisch-iranischen Krieg Genehmigungen der Bundesregierung
besserung der Menschenrechtssituation in Ländern nach dem Außenwirtschaftsgesetz oder Kriegswaffenkontroll-
mit gravierenden Menschenrechtsdefiziten. Grund- gesetz erhalten?
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1517*

Zu Frage 48: kannt geworden sind. Klagen beziehen sich überwie-


gend auf den Landes- und Kommunalbereich; hier
Weder die Firma Telemit Electronic GmbH noch ir- hat der Bund die neuen Länder wiederholt gebeten,
gendein anderes deutsches Unternehmen hat wäh- dafür Sorge zu tragen, insbesondere im kommunalen
rend des irakisch-iranischen Krieges eine Genehmi-
Bereich auf eine zügige Zahlungsweise hinzuwirken.
gung nach dem KWKG für die Ausfuhr von Kriegs-
waffen nach Irak oder Iran erhalten. Das Bundesministerium für Wirtschaft hat im Zu-
Genehmigungen nach dem Außenwirtschaftsge- sammenwirken mit der Kreditanstalt für Wiederauf-
setz für die Ausfuhr in den Irak oder Iran haben in bau (KfW) und der Deutschen Ausgleichsbank (DtA)
beschränktem Ausmaß eine Reihe von Unternehmen ein Maßnahmebündel zur Überwindung von Liquidi-
erhalten. Zur Nennung der Namen dieser Unterneh- tätsschwierigkeiten, die auch als Folge schlechter
men ist die Bundesregierung nicht befugt, da die Tat- Zahlungsmoral entstehen, bereitgestellt. Dabei han-
sache, ob ein Unternehmen Exportbeziehungen zum delt es sich im wesentlichen um folgende Maßnah-
Irak oder Iran unterhalten hat, zu den zu schützen- men:
den Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen zu zählen
ist (§ 203 Abs. 2 StGB, § 30 Verwaltungsverfahrens- - Betriebsmittelkredite der KfW und DtA als Liquidi-
gesetz). tätshilfe mit der Möglichkeit der teilweisen Haf-
tungsfreistellung der Hausbanken gegenüber der
Im übrigen hat die Bundesregierung bereits in der KfW bzw. DtA;
Vergangenheit - soweit es ihr rechtlich möglich war -
den Bundestag auch zum legalen Rüstungsexport - Finanzierung auch der Aufstockung des Lagers
nach Irak unterrichtet. Hier ist insbesondere der Be- und aller Markterschließungskosten aus dem ERP-
richt vom 8. Mai 1991 (BST-Drs 12/487) an den Deut- Sondervermögen sowie der Eigenkapitalhilfe des
schen Bundestag zu nennen: Darüber hinaus wurde Bundes;
ein VS-Vertraulich eingestufter Bericht erstellt, in
den die Abgeordneten Einblick nehmen konnten. - Bürgschaften der Bürgschaftsbanken und der DtA
auch für Betriebsmittelkredite und Avalkredite
Zu Frage 49: (Gewährleistungen), verbunden mit Rückgarantien
des Bundes und des jeweiligen Bundeslandes;
Der Firma Telemit Electronic GmbH ist eine Ge-
nehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz
- auch nachträgliche Möglichkeit der vollen Aus-
nie erteilt worden. Eine derartige Genehmigung
schöpfung der tilgungsfreien Jahre und Kreditlauf-
ist auch nie beantragt worden. Die von der Firma zeiten für ERP-, KfW- oder DtA-Kredite, großzügi-
Telemit hergestellten Waren sind keine Kriegs-
ges Verfahren bei Stundungsanträgen;
waffen.
Nach dem irakisch-iranischen Krieg hat das Unter- - Konsolidierungsprogramm der Treuhandanstalt,
nehmen weiterhin Genehmigungen nach dem Au- das auch den angespannten Liquiditätsverhältnis-
ßenwirtschaftsgesetz erhalten. Diese betrafen jedoch sen der Unternehmen Rechnung tragen wird.
Lieferungen in andere Länder als Irak oder Iran.
Der Verbesserung der Liquidität dient auch die
1994 beschlossene Neuregelung der Forderungsab-
tretung in § 354 a HGB und die in den neuen Ländern
geplante Erhöhung der Umsatzgrenze, bis zu der die
Anlage 12 Mehrwertsteuer erst nach Bezahlung abzuführen ist.

Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Norbert Lammert auf die
Frage des Abgeordneten Michael Wonneberger
(CDU/CSU) (Drucksache 13/470 Frage 50): Anlage 13

Ist der Bundesregierung bekannt, daß die sehr verbreitete Antwort


mangelnde Zahlungsmoral privater und öffentlicher Auftragge-
ber zu Liquiditätsschwierigkeiten bis hin zu Konkursen klein-
und mittelständischer Unternehmen in den neuen Bundeslän- des Parl. Staatssekretärs Dr. Norbert Lammert auf die
dern führt, und welche Lösungsmöglichkeiten sieht die Bundes- Fragen des Abgeordneten Dr. Wolfgang Weng (Ger-
regierung? lingen) (F.D.P.) (Drucksache 13/470 Fragen 51 und
52):
Klagen über mangelnde Zahlungsmoral p rivater
und öffentlicher Auftraggeber in den neuen Bundes- Ist die Bundesregierung der Meinung, daß die Mitgliedschaft
ländern sind der Bundesregierung bekannt. Über- der Apotheker in den Industrie- und Handelskammern sinnvoll
ist, und welche Notwendigkeit sieht die Bundesregierung für
prüfungen haben jedoch ergeben, daß viele Be- diese Mitgliedschaft, insbesondere vor dem Hintergrund, daß
schwerden nicht begründet sind, weil häufig Schluß- Apotheker auch Pflichtmitglieder der Apothekenkammern der
zahlungen, z. B. wegen ausstehender Mängelbeseiti- Länder sind?
gung zurückgehalten wurden. Hinsichtlich der maß-
geblichen Auftraggeber des Bundes ergab allerdings Wie beurteilt die Bundesregierung diese Doppelmitglied-
schaft, und hält sie eine Beseitigung dieser doppelten Belastung
eine Umfrage, daß dort keinerlei Klagen bezüglich für erforderlich, gerade auch vor dem Hintergrund der finanziel-
schleppender Zahlungen bei Bundesaufträgen be- len Einbußen im Zuge des Gesundheitsstrukturgesetzes?
1518* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Zu Frage 51: Die Bundesregierung beabsichtigt daher nicht, in-


soweit eine Änderung des IHK-Gesetzes vorzuschla-
Den Industrie- und Handelskammern gehören gen.
kraft Gesetzes (Pflichtmitgliedschaft) alle natürlichen
und juristischen Personen an, die im Kammerbezirk
eine gewerbliche Niederlassung, eine Betriebsstätte
oder Verkaufsstelle unterhalten, sofern sie zur Ge-
werbesteuer veranlagt werden (§ 2 Abs. 1 des Geset- Anlage 14
zes zur vorläufigen Regelung des Rechts der Indu-
strie- und Handelskammern vom 18. Dezember 1956, Antwort
BGBl. I S. 920).
des Parl. Staatssekretärs Horst Günther auf die Fra-
Hierzu gehören auch Apotheker. Sie üben einen gen der Abgeordneten Karin Rehbock Zureich -

höheren freien Beruf des Gesundheitswesens aus (SPD) (Drucksache 13/470 Fragen 53 und 54):
und sind zugleich Inhaber eines gewerblichen Be- Wie beurteilt die Bundesregierung die Situation der Grenz-
triebes. gänger in die Schweiz, die ihre Arbeitslosenversicherung nach
schweizerischem Arbeitslosengesetz bezahlen, im Falle der
Arbeitslosigkeit aber nach deutscher Auslegung vergütet wer-
Die Pflichtmitgliedschaft des Apothekers zur Indu- den, welche erheblich tiefer liegt?
strie- und Handelskammer bleibt davon unberührt,
daß er als selbständiger Apotheker aufgrund landes- Wer prüft gegenwärtig, ob und inwieweit Grenzgänger in die
Schweiz, die dort krankenversichert sind, in die deutsche Pfle-
rechtlicher Vorschriften auch noch einer besonderen geversicherung einbezogen werden können, und liegen der
Berufsorganisation, der Apothekerkammer, ange- Bundesregierung schon erste Ergebnisse dieser Prüfung vor?
hört. Diese Doppelmitgliedschaft selbständiger Apo-
theker wurde vom Gesetzgeber bei Erlaß des IHK- Zu Frage 53:
Gesetzes durchaus gesehen. Sie ist Ausfluß der Si-
tuation, daß zwei kammerpflichtige Berufe ausgeübt Aufgrund des deutschschweizerischen Abkom-
werden. Im Zuge der parlamentarischen Beratungen mens über Arbeitslosenversicherung können u. a.
dieses Gesetzes wurde eine Vorschrift in das Gesetz Grenzgänger, die in Deutschland wohnen und in der
aufgenommen, die die Auswirkungen der doppelten Schweiz arbeiten, im Falle der Arbeitslosigkeit deut-
Beitragspflicht bei den kammerzugehörigen Apothe- sches Arbeitslosengeld erhalten.
kern einschränkt. Danach brauchen Inhaber einer Für die Bemessung des deutschen Arbeitslosengel-
Apotheke neben dem Grundbeitrag nur ein Viertel des wird gemäß dem Abkommen allerdings nicht das
der Umlage zu zahlen. Wesentlich für diese Regelung zuletzt in der Schweiz tatsächlich bezogene Arbeits-
ist, daß selbständige Apotheker zwangsläufig neben entgelt zugrunde gelegt. Vielmehr ist das tarifliche
ihrer freiberuflichen Tätigkeit zugleich ein Gewerbe Arbeitsentgelt in der Bundesrepublik Deutschland
betreiben. heranzuziehen, das der Beschäftigung in der
Schweiz entspricht. Daher ist es möglich, daß der Un-
Dieser Regelung hatte seinerzeit die Arbeitsge- terschied zwischen dem bisherigen Nettoverdienst in
meinschaft der Berufsvertretungen deutscher Apo- der Schweiz und dem deutschen Arbeitslosengeld
theker einvernehmlich mit dem Deutschen Industrie-
größer ist als bei einem in Deutschland Beschäftig-
und Handelstag zugestimmt. ten. Zu berücksichtigen ist dabei, daß der Nettover-
dienst in der Schweiz wegen des dortigen höheren
Zu Frage 52: Lohnniveaus und der geringeren Sozialabgaben in
der Regel über dem eines vergleichbaren Beschäftig-
Die gleichzeitige Zugehörigkeit zur Indus trie- und ten in Deutschland liegt.
Handelskammer und zur Apothekerkammer ist ver-
fassungsrechtlich unbedenklich. Beide Kammern ha- Würde bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes
ben verschiedene Zielsetzungen; der Industrie- und hingegen von dem schweizerischen Arbeitsentgelt
Handelskammer gehört der Apotheker als Gewerbe- ausgegangen, führte dies zu einer finanziellen Bes-
treibender an, der Apothekerkammer (Berufsorgani- serstellung der arbeitslosen Grenzgänger gegenüber
sation) als Berufsangehöriger (ebenso wie jeder ihren in Deutschland beschäftigten Kollegen und es
nichtselbständige Apotheker). fehlte möglicherweise ein Anreiz, sich auf dem deut-
schen Arbeitsmarkt vermitteln zu lassen.
Im übrigen gibt es Doppelmitgliedschaften zu ver-
schiedenen Kammern auch bei anderen Berufen. Das Zu Frage 54:
Bundesverwaltungsgericht hat in mehreren Urteilen Es trifft zu, daß der in Deutschland wohnhafte Per-
die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kammern recht- sonenkreis der Grenzgänger, der keine Anbindung
lich für zulässig erachtet. So sind handwerkliche an die deutsche Krankenversicherung hat, derzeit
Mischbetriebe, die ein Handwerk und daneben ein nicht vom Pflege-Versicherungsgesetz erfaßt ist.
anderes Gewerbe betreiben, Mitglieder der Hand-
werkskammer und mit ihrem nichthandwerklichen Der Gesetzgeber hat die Versicherungspflicht in
Betriebsteil auch Pflichtmitglieder der Industrie- und der Pflegeversicherung bewußt an die gesetzliche
Handelskammer. Auch Wirtschaftsprüfer und Steuer- Krankenversicherung angebunden und sich nicht für
berater gehören gleichzeitig der IHK an, wenn sie, das sogenannte Wohnsitzmodell entschieden. Aller-
soweit berufsrechtlich zulässig, auch gewerbliche Tä- dings ist mit der Einführung einer Versicherungs-
tigkeiten ausüben. pflicht in der privaten Pflegeversicherung für den pri-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1519*

vat krankenversicherten Bevölkerungsteil eine wei- tritt. Ein solches Wahlrecht wäre gegenüber dem
testgehende Einbeziehung der Wohnbevölkerung in pflichtversicherten Personenkreis ungerecht. Würde
Deutschland erreicht worden. man diesen Personenkreis ohne eine Anbindung an
die Krankenversicherung in der Pflegeversicherung
Grenzgänger, die aus Deutschland in EG-Länder versicherungspflichtig machen, käme dies einer vom
pendeln, sind aufgrund des ausländischen Kranken- Gesetzgeber nicht gewünschten Volksversicherung
versicherungsschutzes in Deutschland im Wege der gleich.
Sachleistungsaushilfe ebenfalls leistungsrechtlich
eingebunden, da die Verordnung 1408/71 EWG die
Pflegeversicherung in ihrem sachlichen Geltungsbe- Ob und wie gegebenenfalls diese Einbeziehung
reich erfaßt. Dies bedeutet, daß dieser in Deutschland auszugestalten ist, wird derzeit im Bundesministe-
wohnhafte Personenkreis die Leistungen der Pflege- rium für Arbeit und Sozialordnung geprüft. Ich weise
versicherung aufgrund seines ausländischen Kran- darauf hin, daß in dieser Angelegenheit auch das
kenversicherungsschutzes erhält. Bundesministerium für Gesundheit zu beteiligen ist.
Demgegenüber wird die Pflegeversicherung nicht
vom sachlichen Geltungsbereich des deutsch-
schweizerischen Abkommens über soziale Sicherheit
erfaßt, so daß deutsche Grenzgänger in der Schweiz
die Leistungen bei Pflegebedürftigkeit nicht über Anlage 15
ihre Schweizer Krankenversicherung im Rahmen der
Sachleistungsaushilfe erhalten können. Folgende Lö- Antwort
sungen sind denkbar:
- eine Änderung des Sozialversicherungsabkom- des Parl. Staatssekretärs Horst Günther auf die Frage
mens in der Weise, daß die in Deutschland leben- der Abgeordneten Dr. Angelica Schwall-Düren
den, in der Schweiz versicherten Grenzgänger die (SPD) (Drucksache 13/470 Frage 55):
Leistungen der Pflegeversicherung zu Lasten der
Schweizer Krankenversicherung erhalten. Diese
Im Zusammenhang mit der eingeführten Agrarsozialreform
Lösung halte ich jedoch im Hinblick auf schweize- zum 1. Januar 1995 und der Zahlungspflicht zur Alterskasse
rische Bedenken kaum für durchsetzbar. auch der Ehefrauen von Landwirten im Nebenbetrieb frage ich,
liegen der Bundesregierung bereits Erkenntnisse dazu vor, wie
- Einräumung eines freiwilligen Beitrittsrechts zur viele Ehefrauen von Landwirten in Nebenbetrieben von der
Pflegeversicherung im Sozialversicherungsabkom- Neuregelung betroffen sind, und welchen Anteil die von ihnen
men. gezahlten Versicherungsbeiträge am Versicherungsaufkommen
insgesamt haben?
- Pflichtversicherung in der Pflegeversicherung.
Eine vergleichbare Regelung gibt es bereits für die Der Bundesregierung liegen derzeit noch keine Er-
freiwillige Versicherung in der gesetzlichen Kran- kenntnisse zu Ihren Fragen vor.
kenversicherung. Die Grenzgänger, die von dieser
Regelung Gebrauch gemacht haben, sind von der
Versicherungspflicht in der gesetzlichen Pflegeversi- Es gibt keine Statistiken über Ehegatten von Ne-
cherung erfaßt. benerwerbslandwirten in der Alterssicherung der
Landwirte. Solche Statistiken kann es schon deshalb
Bei einer isolierten Einbeziehung dieses Personen- nicht geben, weil bei den landwirtschaftlichen Al-
kreises in die soziale Pflegeversicherung ergeben terskassen nicht in jedem Fall festgestellt wird, ob
sich aber wegen der weiterhin bestehenden Mit- ein Versicherter seinen Betrieb im Haupterwerb oder
gliedschaft in der Schweizer Krankenversicherung im Nebenerwerb führt. Daher hat die Bundesregie-
zahlreiche Abgrenzungsprobleme. Im Gegensatz zur rung bei ihren Modellrechnungen anläßlich der
Krankenversicherung, wo die freiwillige Versiche- Agrarsozialreform auch keine spezifischen Annah-
rung eine eigenständige Form der Mitgliedschaft ist, men über die Anzahl der Ehegatten von Haupt- oder
gibt es in der sozialen Pflegeversicherung keine ei- Nebenerwerbslandwirten getroffen, sondern nur
genständige Form der freiwilligen Mitgliedschaft. eine Annahme über die Anzahl der im Jahr 1995 ver-
Dies müßte in der Pflegeversicherung für deutsche sicherten Ehegatten von Landwirten insgesamt
Grenzgänger in die Schweiz neu eingeführt werden. (181 000 Personen).
Weiterhin müßten die Pflegekassen für diesen Perso-
nenkreis dann die Beitragsbemessung eigenständig
prüfen. Sie könnten nicht auf die Beitragsbemessung Wie groß die Gesamtzahl aller versicherten Ehe-
in der freiwilligen Krankenversicherung zurückgrei- gatten tatsächlich sein wird, läßt sich frühestens
fen. Der Vorteil der Anbindung der Pflegeversiche- Ende 1995 abschätzen, da erst dann die Erklärungs-
rung an die Krankenversicherung ginge somit verlo- frist für Ehegatten von Landwirten abläuft. Die Zahl
ren. der versicherten Ehegatten von Nebenerwerbsland-
wirten wird sich auch dann nur grob abschätzen las-
Grundsätzliche Bedenken gegen eine freiwillige sen. Gerade bei der Gruppe der Ehegatten von Ne-
Mitgliedschaft ergeben sich daraus, daß dieser Perso- benerwerbslandwirten ist es zur Zeit nur sehr schwer
nenkreis sich in jüngeren Jahren zunächst gegen abzusehen, wie stark bei diesem Personenkreis die
eine freiwillige Mitgliedschaft entschließen kann und Neigung ist, sich mit Wirkung zum 1. Januar 1995
erst in späteren Jahren der Solidargemeinschaft bei- von der Versicherungspflicht befreien zu lassen.
1520* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995

Anlage 16 führung einer sogenannten „Hochwertausbildung"


mit dem Waffensystem TORNADO für die Besatzun-
Antwort gen ihrer Einsatzverbände zu nutzen.
des Parl. Staatssekretärs Bernd Wilz auf die Frage Im Rahmen dieses Vorhabens wird u. a. das spezifi-
des Abgeordneten Hans-Werner Bertl (SPD) (Druck- sche Waffenlehrerausbildungsprogramm TORNADO
sache 13/470 Frage 56): ab Oktober 1996 in einer Größenordnung von
Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß Absol-
500 Flugstunden pro Jahr von Upjever nach Hollo-
venten einer betrieblichen Ausbildung nach erfolgreich abge- man verlagert.
schlossener Abschlußprüfung, denen im Rahmen tarifvertragli-
cher Regelung eine sechsmonatige Weiterbeschäftigung als Darüber hinaus hat die Luftwaffe die Absicht, die
Facharbeiter ermöglicht wird, welche zu Berufserfahrung und gegenwärtig in Cottesmore (England) und in Upjever
damit zu erheblich verbesserten Arbeitsmarktchancen führt, dezentral durchgeführte TORNADO-Umschulung
zum Wehrdienst eingezogen werden trotz gestellter Rückstel-
lungsanträge?
des Regenerationsbedarfs in Holloman zu zentralisie-
ren. Nach bisherigen Planungsvorstellungen der
Luftwaffe ist eine Realisierung dieses Vorhabens ab
Die Vermeidung von Jugendarbeitslosigkeit ist der
dem 3. Quartal 1999 möglich. Hierdurch würde ein
Bundesregierung ein besonderes Anliegen. Die
jährliches Flugstundenaufkommen von ca. 2 000 bis
Kreiswehrersatzämter sind seit langem angewiesen,
3 000 Flugstunden von Upjever in die USA verlagert
die Arbeitsplatzsituation bei der Einberufung zum
werden.
Grundwehrdienst mit zu berücksichtigen.
Allerdings verlangt das Prinzip der Wehr- und Zu Frage 58:
Dienstgerechtigkeit, daß wie schon bisher grundsätz-
lich jeder taugliche Wehrpflichtige seiner Pflicht zum Zur Zeit wird kein technisches Personal für einen
Dienen nachkommt. Einsatz in den USA vorbereitet, da die für die Aus-
wahl des Personals erforderlichen Organisations-
Die Verhinderng oder Unterbrechung von Zeitar- grundlagen noch nicht erlassen sind. Nach Vorlage
beitsverhältnissen im unmittelbaren Anschluß an dieser Grundlagen wird eine Ausschreibung zur Be-
eine Berufsausbildung stellt in aller Regel keine be- werbung für die in Holloman vorgesehenen militäri-
sondere Härte im Sinne des Wehrpflichtgesetzes dar. schen Dienstposten für den technischen Bereich er-
Auch administrative Ausnahmen vom Wehrdienst folgen.
scheiden zum einen wegen der entgegenstehenden
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes, Bei der anschließenden Auswahl wird grundsätz-
zum anderen aus Bedarfsdeckungsgründen der Bun- lich nur Personal berücksichtigt, das bereits alle fach-
deswehr aus. Deshalb ist regelmäßig keine - wenn lichen und TORNADO-spezifischen Voraussetzun-
auch nur kurzfristige - Verschiebung der Einberu- gen erfüllt, so daß eine besondere technische Ausbil-
fung möglich. dung nicht erforderlich wird.

Nach Überzeugung der Bundesregierung ist die Die Luftwaffenwerft 62 nimmt Instandsetzungsauf-
Ableistung des Wehrdienstes unmittelbar nach dem gaben für das Waffensystem F-4 Phantom wahr. Das
Abitur oder dem Abschluß einer Ausbildung auch dort eingesetzte technische Personal ist schwer-
die beste Lösung, um den Wehrpflichtigen und ihren punktmäßig für das Waffensystem F-4 ausgebildet
potentiellen Arbeitgebern die Möglichkeit zu geben, und verfügt nicht über TORNADO-spezifische
den weiteren Lebensweg und die berufliche Karriere Kenntnisse.
zu planen.
Aus diesem Grunde ist die Luftwaffenwerft 62 von
den Maßnahmen, die für die TORNADO-Einrichtung
in Holloman geplant sind, nicht betroffen.

Anlage 17

Antwort
Anlage 18
des Parl. Staatssekretärs Be rn d Wilz auf die Fragen
der Abgeordneten Gabriele Iwersen (SPD) (Drucksa-
Antwort
che 13/470 Fragen 57 und 58):
In welchem Umfang und für welchen Zeitraum wird die Torna- des Parl. Staatssekretärs Bernd Wilz auf die Fragen
do-Pilotenausbildung von Upjever nach I Zolloman (El Paso) ver- des Abgeordneten Gernot Erler (SPD) (Drucksache
leg t? 13/470 Fragen 59 und 60):
Wie weit wird z. Z. technisches Personal für den Einsatz in den Wie beurteilt die Bundesregierung den Vorgang in Ottobrunn
USA vorbereitet, und inwieweit ist die Luftwaffenwerft 62 von bei München, demzufolge ein geschütztes Gebäude für einen
den geplanten Maßnahmen betroffen? Flugsimulator zunächst für einen zweistelligen Millionenbetrag
aus Steuermitteln gebaut wurde und jetzt für einen Millionenbe-
Zu Frage 57: trag aus Steuermitteln wieder abgerissen wird, mit der Folge,
daß für hinter dem Abrißprojekt eingesetzte Computer keine
Die deutsche Luftwaffe hat entsprechende planeri- Abstrahlsicherheit mehr gegeben ist, so daß neue, abstrahlsiche-
re Geräte im Millionenwert aus Steuermitteln erforderlich wer-
sche und organisatorische Maßnahmen eingeleitet, den, und um welche DM-Beträge handelt es sich bei Gebäude-
um die im US-Bundesstaat Neu Mexico gelegene aufbau, Gebäudeabriß und Wiederherstellung der Kommunika-
Luftwaffenbasis Holloman ab Mitte 1996 zur Durch- tionssicherheit im einzelnen?
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Februar 1995 1521*

Was gedenkt die Bundesregierung angesichts dieser Vernich- baut hatte, laut Vertrag mit dem BMVg aus den 60er
tung von Werten aus Mitteln des Steuerzahlers zu tun, und in
welcher Weise wird sie die Schuldigen zur Verantwortung zie-
Jahren einen Rechtsanspruch auf „Rückbau" bei
hen bzw. Schadenersatz fordern? Auslaufen der Gebäudenutzung.
Das Simulatorgebäude kann allenfalls begrenzt
Zu Frage 59: zur Abstrahlsicherheit der in benachbarten Gebäu-
Die Bundesregierung hat die Simulationsanlage den eingerichteten Computer beigetragen haben. In-
bei der IABG in Ottobrunn aus Rationalisierungs- wieweit und ob überhaupt die Abstrahlsicherheit
gründen im Jahr 1993 stillgelegt und die Kosten für durch den Abriß des Gebäudes beeinträchtigt wird,
Gebäudeabrißmaßnahmen in ihren Berechnungen wird zur Zeit mit Hilfe von Abstrahlmessungen durch
und bei ihrer Entscheidung berücksichtigt. das Amt für Fernmelde- und Informationssysteme
der Bundeswehr untersucht. Die Ergebnisse liegen
Die Stillegung der Anlage war durch zwei Fakto- noch nicht vor.
ren bedingt:
Die Kosten des Gebäudeaufbaues und des Gebäu-
- Die seinerzeit bestehende Auftragslage lastete den deabrisses stellen sich wie folgt dar.
Simulator bei weitem nicht aus. Zusätzliche bzw.
neue Aufträge oder weitere Nutzer waren nicht zu G ebäudeherstellungs
erwarten. kosten (1973) 10,764 Mio. DM
- Bei Fortsetzung des Betriebes wären zusätzlich zu abzulösender Zeitwert
den Betriebskosten von jährlich 4,8 Mio. DM Inve- (1993) 3,319 Mio. DM (einmalig)
stitionskosten in Höhe von ca. 2 Mio. DM für den
Abrißkosten (1995)
Austausch der völlig veralteten Simulationsrechner
(geschätzt) 4,6 Mio. DM (einmalig)
notwendig geworden.
Eine anderweitige Verwendungsmöglichkeit für das Zu Frage 60:
Simulatorgebäude bestand nicht.
Die Durchführung der Rationalisierungsmaßnahme
Die Mietbelastung durch das Gebäude war nur mit führt bereits kurzfristig zu Einsparungen. Die Frage
dessen Abriß zu umgehen. Außerdem hatte die IVG, nach schuldhaftem Handeln bzw. Schadenersatz
die das Gebäude für den Bund auf ihrem Gelände er- stellt sich nicht.

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