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Plenarprotokoll 13/62

D eutscher Bundestag
Stenographischer Bericht

62. Sitzung

Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Inhalt:

Erweiterung der Tagesordnung 5263 A Karl-Heinz Scherhag CDU/CSU . . . 5278 B


Alois Graf von Waldburg-Zeil CDU/CSU 5279 A
Zur Geschäftsordnung
Werner Lensing CDU/CSU 5281 A
Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
NEN 5263 B Dr. Peter Glotz SPD 5282 C
Joachim Hörster CDU/CSU 5264 A Doris Odendahl SPD 5284 A
Fritz Rudolf Körper SPD 5264 C Klaus von Trotha, Minister (Baden-Würt
Jörg van Essen F.D.P. 5265 A temberg) 5284 D
Ulla Jelpke PDS 5265 B Doris Odendahl SPD 5285 D
Dieter Wiefelspütz SPD 5265 D Ernst Hinsken CDU/CSU 5286 C

Tagesordnungspunkt 14: Tagesordnungspunkt 15:


a) Erste Beratung des von den Fraktionen Zweite und dritte Beratung des Ent-
der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- wurfs eines Vierten Gesetzes zur
ten Entwurfs eines Gesetzes zur För- Änderung des Fünften Buches Sozial-
derung der beruflichen Aufstiegsfort- gesetzbuch (4. SGB V-Änderungsge-
bildung (Aufstiegsfortbildungsförde- setz) (Drucksachen 13/1826, 13/2446,
rungsgesetz) (Drucksache 13/1829) 13/2589, 13/2594)
b) Erste Beratung des von den Fraktionen Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) CDU/
der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- CSU 5288B
ten Entwurfs eines Vierten Gesetzes Dr. Martin Pfaff SPD 5290C, 5299 D
zur Änderung des Hochschulrahmen-
gesetzes (Drucksache 13/1829) Horst Seehofer CDU/CSU 5292 A
Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
BMBF 5266 C NEN 5293 D
Franz Thönnes SPD 5268 B Dr. Dieter Thomae F.D.P 5295 B
Ernst Hinsken CDU/CSU . . . 5269 B, 5280 B Horst Schmidbauer (Nürnberg) SPD . 5295 D
Matthias Berninger BÜNDNIS 90/DIE Dr. Ruth Fuchs PDS 5296 C
GRÜNEN 5271 B Horst Seehofer, Bundesminister BMG . 5297 C
Dr. Karlheinz Guttmacher F.D.P. . . . 5273 C
Dr. Martin Pfaff SPD 5298 C
Maritta Böttcher PDS 5274 D
Dr. Wolfgang Wodarg SPD 5299 A
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär
BMWi 5276B
Namentliche Abstimmung 5300 D
Franz Thönnes SPD 5277 A, 5283 D
Günter Rixe SPD 5278 A Ergebnis 5305 A
II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Tagesordnungspunkt 16: Zusatztagesordnungspunkt 11:


-
a) Erste Beratung des von den Abgeord- Erste Beratung des von den Fraktionen
neten Cern Özdemir, Kerstin Müller der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach-
(Köln) und der Fraktion BÜNDNIS 90/ ten Entwurfs eines ... Gesetzes zur
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs Änderung der Strafprozeßordnung
eines Gesetzes zur Änderung des Aus- (Drucksache 13/2576)
ländergesetzes (Drucksache 13/1426) Ronald Pofalla CDU/CSU 5321 C
b) Erste Beratung des von den Fraktionen Alfred Hartenbach SPD 5322 D
der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE
ten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes GRÜNEN 5324 C
zur Änderung des Asylverfahrensge-
setzes (Drucksache 13/2577) Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . . 5325 B
Alfred Hartenbach SPD 5325 D
in Verbindung mit Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 5326 C

Zusatztagesordnungspunkt 12: Nächste Sitzung 5327 C


Beschlußempfehlung des Petitionsaus-
schusses: Sammelübersicht 38 zu Peti- Berichtigung 5327
tionen (Drucksache 13/1410)
Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/ Anlage 1
DIE GRÜNEN 5301 A, 5311 C, 5313 D . 5329 * A
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Erika Steinbach CDU/CSU . . . 5302 B, 5314 C
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . . . 5302 C Anlage 2
Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages-
NEN (zur GO) 5304 C ordnungspunkt 9 (. . . Strafrechtsände-
Cornelia Schmalz-Jacobsen F.D.P. .. 5307 A rungsgesetz - §§ 177 bis 179 StGB)
Ulla Jelpke PDS 5308 A Bärbel Sothmann CDU/CSU 5329* D
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 5309 A Erika Simm SPD 5330* B
Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Heinz Lanfermann F.D.P 5332* A
NEN . . . . . . . . . . . . . . . 5309 C Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/
Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN 5333* C
GRÜNEN 5310 B Christina Schenk PDS 5334 * A
Amke Dietert-Scheuer BÜNDNIS 90/ Norbert Geis CDU/CSU 5334* C
DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . 5310 C Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bun-
Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. . . . . . 5311 A desministerin BMJ 5335* B
Dieter Wiefelspütz SPD 5313 B
Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Anlage 3
NEN 5314 A Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages-
Amke Dietert-Scheuer BÜNDNIS 90/DIE ordnungspunkt 11 (Bundeskriminalamt-
GRÜNEN (zur GO) 5314 D gesetz)
Dietmar Schlee CDU/CSU 5336* B
Tagesordnungspunkt 17: Frank Hofmann (Volkach) SPD 5337 *A
Antrag der Abgeordneten Rolf Schwa- Dr. Burkhard Hirsch F D P. 5339* B
nitz, Joachim Poß, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der SPD: Ausset- Manfred Such BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
NEN 5339* D
zung der Gewerbekapitalsteuer in den
neuen Ländern für ein Jahr (Druck- Ulla Jelpke PDS 5340* B
sache 13/1856) Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI . 5340* D
Horst Schild SPD 5315 C
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär Anlage 4
BMF . . . . . . . . . . . . . . . . 5316 D
Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages-
Reiner Krziskewitz CDU/CSU . . . . . 5317 D ordnungspunkt 18 (Zweites Kronzeugen
Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE GRÜ -Verlängus-Getz)
NEN 5318C Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU 5341* D
Jürgen Türk F.D.P 5319 C Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD 5342* C
Dr. Uwe-Jens Rössel PDS 5320 C Heinz Lanfermann F.D.P 5343* A
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 III

Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE mung zum Entschließungsantrag der


GRÜNEN . . . . . . . . . . . . 5343 * C Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum -
Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 5344* B Antrag der Bundesregierung (Drucksache
13/1828) in der 48. Sitzung am 30. Juni
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bun- 1995 5345* D
desministerin BMJ 5345* A

Anlage 5 Anlage 6
Erklärung des Abgeordneten Kersten Wet
zel (CDU/CSU) zur namentlichen Abstim Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . 5345* D
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5263

62. Sitzung

Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich eröffne die Herr Hörster, Sie haben vor der Sommerpause
Sitzung und wünsche Ihnen einen guten Morgen. im Ältestenrat ausdrücklich erklärt, daß Sie diese
Sammelübersichten so lange hinausschieben wer-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die den, wie Sie können. Das ist erstens GO-widrig -
heutige Tagesordnung um die Beratung der Sammel- Sie kennen anscheinend die eigene Geschäftsord-
übersicht 38 zu Petitionen auf Drucksache 13/1410 nung nicht und haben den „Ritzel/Bücker" nicht
erweitert werden. Da die Petition die Wiederauf- gelesen, der klipp und klar besagt, daß diese Sam-
nahme eines Asylverfahrens bet ri fft, soll sie mit Ta- melübersichten nach § 112 Abs. 2 der Geschäfts-
gesordnungspunkt 16 aufgerufen werden. Sind Sie ordnung innerhalb von drei Sitzungswochen als
damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. eigenständige Vorlage aufgesetzt werden müssen -,
Dann ist das so beschlossen. und zweitens ist das ein eklatanter Angriff gegen das
Petitionsrecht.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen
wir uns mit Aufsetzungsanträgen der Fraktion Wie Sie vielleicht wissen, können wir die Pflicht,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN befassen. Die Fraktion die wir nach dem Grundgesetz haben, nämlich Peti-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat fristgerecht bean- tionen zu bearbeiten und zu bescheiden, erst dann
tragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung ih- umsetzen, wenn das Plenum als Ganzes über eine
rer Anträge zu einem Aufenthaltsrecht für Flücht- Sammelübersicht beschlossen hat. Sie schieben seit
linge mit langem Aufenthalt, Drucksache 13/2550, fünf Monaten - nach Ihrer Aussage sind die Asylpeti-
und zu einem Abschiebestopp in den Sudan, Druck- tionen doch eilbedürftig; wir wollen sie nicht auf die
sache 13/2361, zu erweitern. Wird zu diesen Aufset- lange Bank schieben, wie Sie uns immer unterstel-
zungsanträgen das Wort gewünscht? - Das Wort hat len, sondern wir wollen sie zügig bearbeiten - die
die Abgeordnete Christa Nickels. Einzelpetition eines Asylbewerbers mit einer ge-
schäftsordnungswidrigen Auslegung auf die lange
Bank.
Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Liebe Kolleginnen und Kollegen! BÜNDNIS 90/DIE Ich bin dankbar, daß Herr Wiefelspütz gestern
GRÜNEN beantragen gemäß § 20 Abs. 2 der Ge- abend klare Worte dazu gesagt und Sie eines Bes-
schäftsordnung die Aufsetzung ihrer Anträge Auf- seren belehrt hat. Aber Sie haben damit das Peti-
enthaltsrecht für Flüchtlinge mit langem Aufenthalt tionsrecht eklatant angegriffen. Ich weise das mit
und Abschiebestopp in den Sudan. Zusätzlich hatten allem Nachdruck zurück und fordere Sie auf, in
wir beantragt, die Sammelübersicht 38 aufzusetzen. Zukunft nach der geltenden Geschäftsordnung
Nach einer Nacht- und Nebel-Aktion ist Gott sei diese Anträge, vor allen Dingen auch die Petitions-
Dank unserer GO-Auffassung dadurch gefolgt wor- sammelübersichten, zügig und sachgerecht zu bear-
den, daß man die Aufsetzungen doch noch einver- beiten.
nehmlich vornimmt. Trotzdem müssen wir uns jetzt
allgemein zu dem GO-Gebaren der CDU/CSU-Frak- Schönen Dank.
tion verständigen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
der SPD und der PDS)
Es ist seit einigen Monaten auf seiten der Koali-
tionsfraktionen Praxis, über die Geschäftsordnung
alle politischen Anträge zur Asyl- und Ausländer- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ebenfalls zur
debatte von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf die Geschäftsordnung erhält der Abgeordnete Hörster
lange Bank zu schieben. Das gilt auch für Asyl- das Wort.
petitionen, die als Sammelübersicht nach § 75i GO
eine eigenständige und keine abgeleitete Vorlage (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Erklä
sind, wie Sie, Herr Hörster, uns immer glauben ren Sie einmal, warum sie die Aktuelle
machen wollten. Stunde verhindert haben!)
5264 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Joachim Hörster (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Weil Sie in dieser Sache nicht richtig durchgeblickt
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Auf- haben, -
geregtheiten und die Verdrehungen, die Frau Nik-
kels hier dargestellt hat, tragen zur sachlichen Auf- (Beifall bei der CDU/CSU - Lachen beim
hellung der Vorgänge überhaupt nicht bei. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge versuchen Sie jetzt, hier eine solche Diskussion mit
ordneten der F.D.P.) diesen Unterstellungen zu führen.
Ich denke, das, was wir für die Tagesordnung
Zunächst einmal will ich in aller Ruhe festhalten,
heute vereinbart haben, ist sachlich begründet und
daß wir in den Gesprächen, die regelmäßig zwischen
bedarf keiner Änderung.
den Fraktionen auf der Geschäftsführerebene ge-
führt werden, die Frage einer Ausländerdebatte erör- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
tert haben, in der möglichst alle anstehenden Pro- Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann [F.D.P.])
bleme, Anträge, Überlegungen und Gesetzentwürfe
zu diesem Thema behandelt werden.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ebenfalls zur
(Zuruf der Abg. Christa Nickels [BÜND Geschäftsordnung erhält der Kollege Körper das
NIS 90/DIE GRÜNEN]) Wort .

Denn nicht nur die Grünen, sondern auch die Koali-


tion ist an diesem Thema dran; die Sozialdemokraten Fritz Rudolf Körper (SPD): Frau Präsidentin! Meine
sind es nach meiner Kenntnis auch. Damen und Herren! Auch ich bin immer dafür, mit
Ruhe und Sachlichkeit Themen zu diskutieren. Nur
(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Und dürfen Ruhe und Sachlichkeit nicht dazu führen, daß
zwar ein bißchen engagierter als Sie!) man notwendigen Themen ausweicht und die Dis-
kussionen scheut.
Es dient dem Sachverhalt überhaupt nicht, hier mit
wechselseitigen Unterstellungen in dieser schwieri- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
gen Materie das Klima zwischen den Fraktionen in DIE GRÜNEN)
diesem Haus zu vergiften.
Wir von der SPD-Bundestagsfraktion haben zu die-
(Beifall bei der CDU/CSU - Christa Nickels sem Themenbereich einige Anträge gestellt, die der-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen zeit im Innenausschuß des Deutschen Bundestages
sich aber an die Geschäftsordnung halten!) anhängig sind. Ich sage dem Kollegen Hörster, daß
ein Teil dieser Anträge sogar bis auf den Monat Fe-
Deswegen sind wir dafür, diese Debatte mit aller- bruar dieses Jahres zurückgeht. Ich denke, es wäre
größter Sachlichkeit, Ruhe und sorgfältiger Vorberei- in der Tat Zeit genug für die Koalition, sich in diesen
tung zu führen. Daher lehnen wir es ab, die beiden Fragen ein bißchen beweglicher und diskussions-
von Ihnen beantragten Punkte aufzusetzen. freudiger zu zeigen.

Frau Nickels, was den anderen Sachverhalt an- Wir von der SPD-Bundestagsfraktion werden dem
betrifft, würde ich Ihnen dringend empfehlen, sich Aufsetzungsbegehren zustimmen,
beim Vorsitzenden des Geschäftsordnungsaus- (Beifall der Abg. Kerstin Müller [Köln]
schusses, den Sie eben für Ihre Unterstellungen in [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Anspruch genommen haben, einmal zu erkundi-
gen. Er wird Ihnen dann berichten, daß die Praxis mit dem Hinweis versehen, daß wir nicht jedem Spie-
des Deutschen Bundestages eine andere ist als die, gelstrich, der in diesen Anträgen vorkommt, inhalt-
die wir heute praktizieren. Der Deutsche Bundes- lich zustimmen. Weil wir aber die Diskussion darüber
tag hat nämlich bei der Behandlung von solchen wollen und - so sage ich - nicht scheuen, werden wir
Petitionen bisher eine andere Übung an den Tag diesem Begehren zustimmen.
gelegt als die, die Sie jetzt praktisch überfallartig
von uns verlangen. Das wissen Sie ganz genau. Im übrigen bin ich froh, daß die Problematik der
Ich kenne ja den Vorsitzenden des Geschäftsord- Diskussion um den § 112 unserer Geschäftsordnung
nungsausschusses. Er wird Ihnen das gleiche be- so gelöst worden ist, wie sich das heute morgen
richtet haben, was er mir in dieser Angelegenheit zeigt.
berichtet hat.
(Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
Uns ist bekannt, daß Sie aus völlig anderen Erwä- NEN]: Das hat Monate gedauert!)
gungen heraus diese Diskussion führen und dieses
Wie gesagt: Wir werden dem zustimmen.
Klima in die Debatte bringen: weil Sie eine Scharte
im Zusammenhang mit den Sudanesen auszuwetzen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
haben, wo Ihnen Ihr Parteitag furchtbar das Fell ver- DIE GRÜNEN)
hauen hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zur Geschäfts-
Punkt!) ordnung der Herr Kollege van Essen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5265

Jörg van Essen (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine menschenfeindlich und diktatorisch eingeschätzt
Damen und Herren! Wir stehen zur Zeit mit unserem wird. -
Koalitionspartner in Verhandlungen in bezug auf
(Zuruf von der CDU/CSU: Wie die DDR!)
eine dringend notwendige Novellierung des Auslän-
der- und Staatsbürgerschaftsrechts. Von daher ist Ich denke, diese Tatsache muß dazu führen, daß
bereits jetzt vereinbart worden, daß wir in den näch- man einsieht, daß eine Einzelfallprüfung nicht mehr
sten Wochen in der Kernzeit - ich meine, daß das ausreicht und daß deswegen die Notwendigkeit, hier
eine Debatte ist, die in der Tat am Donnerstag vormit- und heute über einen Abschiebestopp zu diskutie-
tag geführt werden muß - eine Debatte zu diesen ren, eindeutig gegeben ist.
Rechtsfragen führen werden. Deshalb wenden wir
uns dagegen, einzelne vorgezogene Punkte - es soll Zum zweiten Punkt, zu den Altasylfällen: Immer
nämlich dann eine Gesamtbestandsaufnahme dieses wieder werden Abgeordnete angerufen, und es wird
Feldes geben - heute bereits zu verhandeln. mitgeteilt, daß Menschen fünf Jahre oder länger auf
die Entscheidung warten müssen, ob ihr Asylantrag
Ich mache eine kleine Ausnahme, was die Petitio- befürwortet wird oder nicht. Ich halte das für unzu-
nen anbelangt. Kollege Hörster hat hier zu Recht dar- mutbar und denke, daß in diesen Fällen dringend
auf hingewiesen, daß es eine bestimmte Pra xis gege- eine Lösung herbeigeführt werden muß. Auch wenn
ben hat. der Bundesrat jetzt aktiv wird, ist es an der Zeit, hier
und heute den Antrag der GRÜNEN zu diskutieren,
(Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
der auch unsere Zustimmung finden würde.
NEN]: Falsch!)
Was die Petitionen angeht, möchte ich sagen, daß
Ich habe mir das gestern noch einmal mit Sorgfalt an-
sich das weitgehend erledigt hat. Ich wi ll dennoch
geschaut und neige dazu, daß die Auffassung, die
daran erinnern, daß wir schon im Sommer einen An-
der Kollege Wiefelspütz in dieser Frage vertritt, ei-
trag eingebracht haben, mit dem wir auch einen Ab-
nen gewissen rechtlichen Hintergrund haben
schiebestopp in bezug auf Algerien fordern. Denn
könnte.
auch Algerien ist von islamisch-fundamentalistischen
(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des Auseinandersetzungen und von Menschenrechtsver-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - We rner letzungen auch durch die gegenwärtige Militärfüh-
Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ rung gezeichnet. Auch hier besteht die Notwendig-
NEN]: Herr Staatsanwalt, Herr Staatsan keit, von Einzelfallprüfungen abzusehen und zu ei-
walt! - Freimut Duve [SPD]: Das ist ja sehr nem generellen Abschiebestopp zu kommen.
gnädig!)
Ich danke Ihnen.
- Sie sehen, ich könnte fast schon Außenminister
(Beifall bei der PDS)
werden; so diplomatisch habe ich das ausgedrückt.
(Heiterkeit) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich erteile das
Deshalb bin ich der Ansicht, daß wir die Diskussion Wort dem Vorsitzenden des Geschäftsordnungsaus-
über die Pe titionen heute führen sollten. schusses, Herrn Abgeordneten Wiefelspütz.

Herzlichen Dank.
Dieter Wiefelspütz (SPD): Frau Präsidentin! Liebe
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Kolleginnen und Kollegen! Weil hier heute morgen
CDU/CSU) mehrfach § 112 der Geschäftsordnung angesprochen
worden ist, will ich ganz wenige Sätze sagen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zur Geschäfts- Sie wissen, daß es mancherlei schwierige juristi-
ordnung die Abgeordnete Jelpke. Bitte. sche Fragen gibt. An anderer Stelle wird heute über
Verfassungsrecht, Verfassungspolitik, Verfassungs-
Ulla Jelpke (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen ethik gesprochen.
und Herren! Auch wir sind dafür, daß die Anträge, (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der
deren Aufsetzung vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ
gefordert wird, befürwortet werden. Ich möchte das NEN und der F.D.P.)
kurz begründen.
Es gibt aber auch Fragen, die eindeutig sind. Im
Wir haben es erst vor wenigen Wochen erlebt, daß § 112 ist die Rede davon, daß nach drei Sitzungswo-
sieben Flüchtlinge aus dem Sudan abgeschoben chen eine Sammelübersicht aufgesetzt werden kann.
wurden.
(Unruhe bei der CDU/CSU) (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Muß!)
Wir haben jetzt erfahren können, daß die Ärzte be-
stätigt haben, daß drei von ihnen gefoltert wurden. - Muß.
Trotzdem wurden sie abgeschoben. Ich möchte auch
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein Unter
noçh einmal daran erinnern, daß die Abschiebung er-
schied!)
folgte auf Grund einer lapidaren Zusage, einer Ga-
rantieerklärung des sudanesischen Regimes, eines Die Übung des Hauses ist anders. Aber wenn dar-
Regimes, das zweifellos - das müßte ich eigentlich auf Wert gelegt wird, ist die diesbezügliche Rege-
annehmen - von allen Fraktionen und Gruppen als lung völlig klar. Deswegen war es richtig, daß wir
5266 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995
Dieter Wiefelspütz
uns gestern abend bzw. heute morgen geeinigt ha- Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat das Wo rt
ben. Wir haben es uns dadurch erleichtert, daß wir -
fürdieBunsgHrMiteJügnR-
keinen großen S treit hatten. gers.
Die Auslegung der Geschäftsordnung hier ist völ-
lig eindeutig. Durch die etwas andere Übung des Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung,
Hauses ist kein neues Geschäftsordnungsrecht ent- Wissenschaft, Forschung und Technologie: Frau Prä-
standen und wird auch in Zukunft keines entstehen. sidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, man muß Verständnis für die Kollegen ha-
Schönen Dank. ben, die jetzt den Saal verlassen. Sie wollen sicher-
lich alle bei ihrer Kreishandwerkerschaft anrufen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und mitteilen, daß wir jetzt über das Meister-BAföG
DIE GRÜNEN) beraten.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir kommen da- Meine Damen und Herren, wenn wir über zu-
mit zur Abstimmung über den Geschäftsordnungsan- künftige Entwicklungen reden, wenn wir über das
trag. Wer stimmt dafür, die heutige Tagesordnung 21. Jahrhundert reden, dann weisen wir mit Recht
um die Beratung des Antrags der Fraktion BÜND- darauf hin, daß unser Land vor großen Herausforde-
NIS 90/DIE GRÜNEN zu einem Aufenthaltsrecht für rungen steht. Es ist wahr, daß man solche Herausfor-
Flüchtlinge mit langem Aufenthalt auf Drucksache derungen nur bewäl tigen kann, wenn man darauf
13/2550 zu erweitern? - Wer stimmt dagegen? - Ent- gut vorbereitet ist. Deshalb hat die Bildungspolitik
haltungen? - Dieser Aufsetzungsantrag ist mit den auf diesem Weg in das 21. Jahrhundert einen so ho-
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- hen Stellenwert.
men der Opposition abgelehnt.
Fit werden für das 21. Jahrhundert, das heißt für
Wer stimmt dafür, die Tagesordnung um die Bera- mich in der Bildungspolitik: mehr Qualität, mehr Lei-
tung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE stung, mehr Wettbewerb, mehr Differenzierung, aber
GRÜNEN zu einem Abschiebestopp in den Sudan auch mehr Chancengerechtigkeit, mehr Durchlässig-
auf Drucksache 13/2361 zu erweitern? - Gegen- keit und Gleichwertigkeit von allgemeiner und be-
probe! - Enthaltungen? - Der Aufsetzungsantrag ist ruflicher Bildung. Gleichwertigkeit ist eben nicht
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Gleichartigkeit, sondern heißt: gleiche Behandlung.
Stimmen der Opposi tion abgelehnt. Deshalb geht die Bundesregierung mit diesem hier
vorgelegten Gesetzentwurf entschlossen den Weg,
die berufliche Bildung der akademischen Bildung
Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:
gleichzustellen.
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Förderung der beruflichen Berufliche Bildung darf von den Be troffenen nicht
Aufstiegsfortbildung (Aufstiegsfortbildungs- als Sackgasse empfunden werden. Ich finde, wir kön-
förderungsgesetz - AFBG) nen die Leistung beruflich Qualifizierter gar nicht
hoch genug einschätzen. Wenn wir in diesen Tagen
- Drucksache 13/2490 stolz darauf sind, daß eine deutsche Professorin und
—Überwisungvorschlag: ein Direktor am Max-Planck-Institut je einen Nobel-
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, preis bekommen haben, dann zeigt das, daß wir in
Technologie und Technikfolgenabschätzung (federführend) Deutschland eine exzellente Landschaft für For-
Rechtsausschuß schung, Technologie und Entwicklung haben.
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß mitberatend Aber genauso stolz - ich sage dies bewußt und über-
und gemäß § 96 GO legt - können wir in Deutschland auf unsere Fachar-
beiter sein, auf unsere Handwerksmeister, die die Ba-
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der sis für solche Spitzenleistungen, die dann weltweit
CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs anerkannt werden, bilden.
eines Vierten Gesetzes zur Änderung des
Hochschulrahmengesetzes (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so
wie bei Abgeordneten der SPD)
- Drucksache 13/1829 —
Deshalb bin ich den Koalitionsfraktionen dankbar,
Überweisungsvorschlag:
daß sie den Gesetzentwurf der Bundesregierung für
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, ein Bundesgesetz zur Förderung der beruflichen
Technologie und Technikfolgenabschätzung (federführend) Aufstiegsfortbildung unterstützen und als Fraktions-
Rechtsausschuß
Ausschuß für Fami li e, Senioren, Frauen und Jugend initiative vorgelegt haben, weil wir damit den beson-
ders leistungsbereiten und den besonders zielstrebi-
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für gen Fachkräften in unserem Land einen Dienst er-
die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden weisen. Für das weitere Verfahren sage ich hier: Wir
vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist erweisen ihnen einen besonders großen Dienst,
das so beschlossen. wenn wir durch ein zügiges Gesetzgebungsverfah-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5267
Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers
ren sicherstellen, daß dieses Gesetz zum 1. Januar Im übrigen können die Maßnahmekosten auch im
1996 im Gesetzblatt steht. Wege des Vor- und Rücktrags in andere Jahre bei -
der Einkommen- und Lohnsteuer in voller Höhe als
Ich sage dies mit einer Bitte an alle Fraktionen die- Werbungskosten berücksichtigt werden, und zwar
ses Hauses. Wenn etwa die SPD eine Anhörung unabhängig von der gewährten Darlehensförde-
durchführen will, was ihr gutes Recht ist, sollten wir rung. Das ist ein wichtiger Punkt, der bisher in der
dies so terminieren, daß wir den November-Termin Diskussion noch nicht so wahrgenommen worden
des Bundesrates noch erreichen können. Ich sage ist. Allein dieser Steuervorteil kommt einem Zu-
dies auch in Richtung Bundesrat, weil sichergestellt schuß von 25 bis 30 % gleich. Das heißt, wenn ich
werden muß, daß sich nicht am 1. Januar 1996 junge jetzt einmal über die Beträge, die wir im Gesetzent-
Leute, die einen Meisterkursus besuchen wollen, wurf als Steuermittel ausgewiesen haben, rede, muß
dazu vielleicht nicht entscheiden, bloß weil wir ir- man diese Be träge, die sich aus der steuerlichen Ab-
gendwo im Vermittlungsverfahren noch nicht mit setzbarkeit ergeben, noch hinzurechnen. Allein die
den Beratungen fertig sind. Deshalb die herzliche 1 Milliarde DM, die die Bundesregierung jetzt bis
Bitte, daß wir zu einem zügigen Verfahren kommen. Ende des Jahrzehnts zur Verfügung stellt, zeigt
Bei der Regierungsbefragung am 21. September auch, daß wir hiermit ein ganz ernsthaftes Vorhaben
1995 hat ein Abgeordneter gesagt, er würde seinem be treiben.
Sohn raten, die gesetzlichen Leistungen nicht in An-
Es ist auch gut, daß es einen Darlehenserlaß für
spruch zu nehmen, sondern sich das Geld bei seiner
Existenzgründer und Betriebsübernehmer gibt, weil
Bank oder Sparkasse zu besorgen.
dadurch ein zusätzlicher Anreiz geschaffen wird, den
(Günter Rixe [SPD]: Er hat recht gehabt!) Weg in die Selbständigkeit zu beschreiten. Das
stärkt unsere Wettbewerbsfähigkeit. Das schafft zu-
Jeder Abgeordnete kann jede Meinung in diesem sätzliche Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Wer weiß,
Haus frei äußern. Er übernimmt allerdings die Ver- daß wir gerade im Bereich des Handwerks bis zum
antwortung für die Richtigkeit und Plausibilität sei- Ende des Jahrhunderts rund 200 000 Betriebsnach-
ner Äußerungen. Ich möchte hier feststellen, daß die folger brauchen, wer weiß, daß wir im Bereich klei-
Meinung dieses Abgeordneten weder von den Ver- nerer und mittlerer Unternehmen weitere 500 000
bänden noch vor allen Dingen von den angehenden Betriebsnachfolger brauchen, der weiß auch, daß
Meistern geteilt wird, wie wir aus einer Vielzahl von dieser Gesetzentwurf eine echte Hilfestellung ist.
Veröffentlichungen und von B riefen, die in diesen Denn nur diejenigen, die sich jetzt auf den Weg ma-
Tagen hier eingegangen sind, wissen, die gesagt ha- chen, werden bis zum Jahr 2000 auch die Betriebe
ben: Wir wollen dieses Gesetz, und wir sind für die übernehmen können und damit den stabilen Mittel-
Verbesserung dankbar, die hier erzielt wird, weil wir stand in unserem Land weiter sichern und erhalten
damit erstmals einen eigenständigen Rechtsanspruch können.
auf Förderung im Bereich der beruflichen Bildung
bekommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dieses Gesetz ist voraussichtlich das einzige neue
Es ist der Entwurf eines eigenen Bundesgesetzes, Leistungsgesetz dieser Legislaturperiode. Es ist gut,
der hier beraten wird. Die Kosten des Förderungsge- daß damit deutlich gemacht wird, welchen Stellen-
setzes werden aus Steuermitteln aufgebracht. Auf wert die berufliche Bildung für die Bundesregierung
die Leistungen besteht ein umfassender Rechtsan- und die Koalitionsfraktionen hat.
spruch — statt einer Kann-Leistung wie bei früheren Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zum
Förderungsmöglichkeiten, wo es zu den Maßnahme
Gesetzentwurf zur Änderung des Hochschulrah-
kosten auch nur einen Zuschuß gab. Künftig erhält mengesetzes sagen, weil auch dies einer der Punkte
der Geförderte die Mittel, die er für die Aufstiegsfort- ist, mit denen die Koalitionsfraktionen sehr, sehr
bildung tatsächlich braucht. Ich finde, das ist ein ent- deutlich machen, wie ernst es ihnen mit der Gleich-
scheidender Fortschritt. Deshalb, we rte Kolleginnen
wertigkeit beruflicher und akademischer Ausbildung
und Kollegen von der Opposi tion, ist es mir völlig un- ist. Nach den Vorstellungen der Koalitionsfraktionen
erfindlich, daß Sie in den vergangenen Tagen die
sollen mit diesem Gesetz die hochschulrechtlichen
Rückkehr zu einer Förderung nach dem Arbeitsför- Voraussetzungen für die bundesweite Gleichstellung
derungsgesetz vorgeschlagen haben. So etwas wäre der Abschlüsse von Berufsakademien nach dem Mo-
kein Fortschritt. So etwas wäre Rückschritt.
dell Baden-Württembergs mit Fachhochschulab-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schlüssen geschaffen werden.
Wie auch beim BAföG geplant, wird die Förderung Das muß man sich eigentlich einmal auf der Zunge
teilweise in Form von verzinslichen Bankdarlehen zergehen lassen: In Baden-Württemberg bestehen
geleistet. Die Leistungen zum Lebensunterhalt wer- die Berufsakademien seit fast 20 Jahren. Wir wissen
den zum Teil als Zuschuß geleistet und je nach Fami- aus der praktischen Erfahrung in Baden-Württem-
lienstand und Familiengröße aufgestockt. Auch dies berg seit fast 20 Jahren, daß hiermit jungen Men-
ist wichtig, weil wir damit berücksichtigt haben, daß schen eine tolle Chance eröffnet wird, gleichzei tig im
es sich in der Regel um Menschen handelt, die be- Betrieb und durch ein Studium ihre Ausbildung zu
reits Familie haben, die zum Teil Kinder haben. Auch vervollständigen, um damit eine gute Perspektive für
das ist eine wichtige Komponente in diesem Gesetz- ihre anschließende berufliche Tätigkeit zu bekom-
entwurf. men.
5268 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers


Ich frage mich, welches Schlaglicht das auf die Bil- Er ist auch alles andere als ein revolutionärer Schritt,
dungspolitik in Deutschland im Hinblick auf die Ko- wie es der Vorsitzende des Parlamentskreises Mittel--
ordinierung der Länder wirft, wenn man für ein er- stand der CDU/CSU-Fraktion in der Mittelstandsde-
folgreiches Modell in Deutschland 20 Jahre um seine batte letzten Monat meinte,
Anerkennung kämpfen muß.
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Er hatte recht!)
(Zustimmung bei der CDU/CSU und der
F.D.P.) es sei denn, die Regierung und die Koalition legen
sich durch die Abschaffung bewährter Förderinstru-
Dieses Schlaglicht zeigt, meine Damen und Herren, mente - wie der Aufstiegsfortbildung im AFG - jetzt
was Sie in der Bildungspolitik ändern müssen. Es selbst die Grundlage für Revolutionen. Das wäre
geht um junge Menschen. Da hat man nicht 20 Jahre ganz etwas Neues in diesem Hause.
Zeit,
Nein, der vorliegende Gesetzentwurf zur Auf-
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Dann stiegsfortbildungsförderung ist kein revolutionärer
sind die nämlich schon in der Rente!) Schritt; er ist ein unbefriedigendes Reparaturgesetz.
um sich darüber zu verständigen, ob man ideologi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
sche Vorbehalte endlich abbaut oder nicht.
Repariert werden soll der Schaden, der durch die
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Streichung im AFG ange richtet worden ist. Gab es
Gott sei Dank hat die Kultusministerkonferenz zunächst Zuschüsse auf Darlehen, was umgestellt
Ende September die Gleichstellung von Berufsaka- wurde, eine Maßnahmenbeteiligung, so wurde im
demieabschlüssen mit Fachhochschulabschlüssen Bereich der bewäh rten Regelungen des Jahres 1963
mit Blick auf den Berufszugang zu reglementierten nach und nach ein Fördervolumen von 800 Millionen
Berufen im europäischen Ausland geregelt. Das ist DM zurückgefahren. Der angerichtete Schaden ist
ein erster Schritt in die richtige Richtung. Doch die verheerend. 30 % der möglichen Prüfkandidaten ha-
Frage der hochschulrechtlichen Gleichstellung im In- ben ihre Qualifikation zurückgestellt, so Hanns Peter
land bleibt ausgeklammert. Das heißt, in den Aus- Kuhfuhs, Berufsbildungsexperte des Zentralverban-
schußberatungen wird zu prüfen sein, wie wir in die- des des Deutschen Handwerks Mitte 1995.
ser Frage weiterkommen.
Die Handwerkskammer Dortmund konstatiert, daß
Für mich steht eines fest: Wenn wir nicht endlich die Anmeldezahlen bei Meisterkursen um 30 % unter
den Mut zu einem differenzie rten, zu einem bega- denen des Vorjahres liegen. Die Handwerkskammer
bungsgerechten, zu einem offenen Bildungssystem Köln spricht gar von einer Gründerlücke und belegt,
haben, dann werden wir den jungen Menschen und daß die Zahl der abgelegten Meisterprüfungen um
ihren Zukunftschancen nicht gerecht. 10 % zurückgegangen ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Wirtschaftsakademie in Schleswig-Holstein,
getragen von den drei Indust ri e- und Handelskam-
mern in Schleswig-Holstein, beschreibt einen
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich erteile dem 50%igen Rückgang der Teilnehmerzahlen für staat-
Abgeordneten Franz Thönnes das Wort.
lich geprüfte Betriebswirte.

Franz Thönnes (SPD): Frau Präsidentin! Meine Bei den Maßnahmen nach dem Arbeitsförderungs-
sehr geehrten Damen und Herren! Fried ri ch Schiller recht im Bereich der Betriebswirtschaft ist man von
lehrt uns in „Wilhelm Tell" : „Früh übt sich, was ein einer durchschnittlichen Zahl von 90 Teilnehmern
Meister werden will." auf vier Anmeldungen zurückgefallen. Die Deutsche
Angestelltenakademie in Kiel mußte sogar ihren
(Zustimmung bei der CDU/CSU) Fachschulbetrieb einstellen.
In einem anderen wichtigen Werk führt der große Daher muß mehr als deutlich gesagt werden, wie
deutsche Dichter aus: es auch die Handwerkskammer Dortmund zurück-
haltend formuliert, die zur Einstellung der Förderung
Von der Stirne heiß der zehnten AFG-Novelle schreibt: „Leider wurde
rinnen muß der Schweiß, diese unglückliche Maßnahme bisher nicht ausrei-
soll das Werk den Meister loben chend korrigiert" , daß für diesen unmöglichen Zu-
doch der Segen kommt von oben.
stand einzig und allein diese Koalition verantwortlich
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Der Segen ist, die entgegen allen Warnungen der Verbände und
kommt jetzt! - Heiterkeit bei der CDU/CSU der SPD unnötig großen Schaden ange richtet hat.
und der F.D.P.)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
Zum Lob, geschweige denn zum Segen, gibt der ten der PDS - Dr. Dagmar Enkelmann
vorliegende Gesetzentwurf keinen Anlaß, Herr Hin- [PDS]: Einen richtigen Flurschaden!)
sken, wahrhaftig nicht.
Nun teilen auch die Bundesregierung und die sie
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tragenden Parteien die Kritik der Verbände, der Be-
DIE GRÜNEN - Widerspruch des Abg. troffenen und der SPD. Diese Einsicht kommt spät,
Ernst Hinsken [CDU/CSU]) aber immerhin: Sie kommt.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5269
Franz Thönnes
So heißt es in der Zielsetzung des vorliegenden Am 19. März 1995 erklärte der Wirtschaftsminister
Gesetzentwurfs treffend: in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", bei der -
neuen Regelung für die Aufstiegsfortbildung werde
Derzeit fehlt ein geeignetes Förderinstrument, die Bundesregierung richtig Geld in die Hand neh-
durch das die Heranbildung künftiger Meister men.
und Techniker und mittlerer Führungskräfte stär-
ker unterstützt werden kann. Der Zukunftsminister erklärte zur gleichen Zeit bei
der Mittelstandskundgebung des Bundes der Selb-
Ich füge hinzu: Wenn der Gesetzentwurf so bleibt, ständigen: Was den Studenten recht ist, muß den
wie er jetzt ist, dann fehlt auch zukünftig ein geeig- Meisterschülern billig sein. Oder hat er vielleicht ge-
netes Förderinstrument. meint, die Meisterschüler müssen billig sein?
Der von uns geteilte Anspruch, die Gleichwertig- Ich denke, das ist der Grund gewesen. Gerade
keit von allgemeiner und beruflicher Bildung her- 100 Millionen DM will er 1996 in die Hand nehmen
zustellen, bleibt ein Lippenbekenntnis. Den Anforde- gegenüber 800 Millionen DM nach dem alten AFG,
rungen des Handwerks und des Mittelstands vor ganz zu schweigen von dem beabsichtigten Inter-
dem Hintergrund gerade der zu erwartenden ca. esse, in die Kassen der Länder zu greifen, deren Mit-
700 000 Betriebsübergänge in den nächsten fünf Jah- finanzierung man einfordert, um die eigene Koaliti-
ren wird der vorliegende Entwurf nicht gerecht. onsvereinbarung einzulösen. Und es kommt die be-
Der Entwurf würdigt überhaupt nicht die Weiter- absichtigte Refinanzierung durch die Zinszahlungen
bildungsbereitschaft der vielen Arbeitnehmerinnen der BAföG-Empfänger in anderen Bereichen hinzu.
und Arbeitnehmer, die in Vollzeit- oder Teilzeitmaß- Wenn der Entwurf von Zukunftsminister Rüttgers
nahmen Weiterbildung absolvieren wollen. Er wür- schon als ein „Leistungsgesetz" bezeichnet wird, so
digt auch nicht die hervorragenden Leistungen des wohl nur, weil sich die Regierung hier auf Kosten
Handwerks und des Mittelstands für Arbeitsplatz Dritter einen Scheinerfolg leisten will.
und Ausbildung.
(Beifall bei der SPD)
Der Entwurf ist mit heißer Nadel genäht, lücken-
haft und ähnelt eher einer Flickschusterleistung als Auch fehlt die handwerkliche Zuverlässigkeit bei
der eines Meisterwerks. der Erarbeitung des Gesetzentwurfs. Hieß es am
8. März 1995 noch, daß man bei der Frage der Mitfi-
(Beifall bei der SPD) nanzierung durch die Länder zum damaligen Zeit-
Er ist das Resultat - um einmal im Handwerksjargon punkt davon ausgehe, daß es sich um eine Maß-
zu bleiben - der Bäckergesellen Rüttgers und Rex- nahme handle, die vom Bund durchgeführt werde, so
rodt, die große Taten ankündigen und nun kleine sollen nun die Länder zur Mitfinanzierung herange-
Brötchen backen. zogen werden. Heißt es in der Drucksache 13/735 in
der Unterrichtung durch die Bundesregierung noch,
(Beifall bei der SPD - Abg. Ernst Hinsken „daß die Förderung für Maßnahmekosten als Zu-
[CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischen schuß geleistet werden" soll, so sollen nun die be-
frage) rufsbegleitenden Lehrgänge nur noch über Darlehen
- Da ein Vertreter des Handwerks eine Frage hat, gefördert werden. Damit wird insbesondere der Teil-
Herr Hinsken, lasse ich diese Frage gern zu. nehmerkreis derjenigen Berufstätigen erheblich be-
nachteiligt, die zusätzliche Anstrengungen und Auf-
wendungen einbringen und neben der beruflichen
Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Thönnes, Tätigkeit Weiterbildung absolvieren. Hieß es am
ich pflichte bei, wenn Sie feststellen, daß die Mittel- 15. Juni dieses Jahres von Zukunftsminister Rüttgers
ansätze sehr niedrig sind. Mehr wäre natürlich auch gar, daß der geplante Finanzrahmen mit Sicherheit in
mir lieber. Aber sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh- der Größenordnung von 400 Millionen DM liege, so
men, daß sich speziell die tragenden Verbände in der wird beim Bund 1996 gerade ein Viertel dieser Grö-
Bundesrepublik Deutschland, die sich mit diesem ßenordnung in den Haushalt eingestellt.
Thema auseinandergesetzt haben, positiv darüber
äußerten, daß Bundesminister Rüttgers überhaupt et- Nun kommt die Aussage des Zukunftsministers,
was auf die Beine gestellt und nach vorne get rieben daß alles mit allem zusammenhängt, immer wieder
hat, auf die Tagesordnung, und er meint auch, daß ein
Spatz in der Hand besser ist als eine Taube auf dem
(Lachen und Beifall bei Abgeordneten der Dach. Wenden wir uns nun also dem Spatzen zu! Der
SPD) Schritt auf dem Weg zur Herstellung der Gleichwer-
um endlich eine neue, positive Weichenstellung für tigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung ist
die beruflichen Ausbildungsnehmer usw. nach vorn richtig, aber zu kurz. Der Rechtsanspruch ist zu be-
zu bringen? grüßen. Gleichwohl wären eine Rückbesinnung auf
die AFG-Bedingungen sowie eine Orientierung in ei-
nem weiterentwickelten ASFG besser.
Franz Thönnes (SPD): Werter Kollege Hinsken, ich
möchte nicht, daß Sie so lange stehenbleiben müssen, Das Aufgreifen von Qualitätsregelungen bei den
bis ich in meiner Rede zu einer Antwort komme. Set- Maßnahmen ist richtig und entspricht auch unseren
zen Sie sich, hören Sie zu. Ich werde Ihnen dazu Vorstellungen in unserem Antrag zur Weiterbildung,
gleich einige Stellungnahmen aus Ihren Verbandsbe- der in der 12. Legislaturpe riode eingebracht wurde.
reichen vorlesen. Die werden Sie sehr beeindrucken. Es ist aber zu fragen, ob es denn den Tatsachen ent-
5270 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Franz Thönnes
spricht - Herr Hinsken, aufgemerkt! -, wenn der Zu- Lebensunterhalt sorgen, sollen nach dem bisheri-
kunftsminister am 21. September dieses Jahres hier gen Konzept im Gegensatz zu Vollzeitteilneh- -
im Hause erklärt, daß die großen Verbände, wie Zen- mern überhaupt keine Zuschüsse erhalten und
tralverband des Deutschen Handwerks und DIHT, können lediglich, wenn sehr s trenge Vorausset-
die jetzt vorliegenden sogenannten Lösungen in vol- zungen erfüllt sind, Darlehen für die Lehrgangs-
lem Umfang begrüßen. Zu fragen ist deswegen, weil und Prüfungskosten in Anspruch nehmen.
erst am 28. September dieses Jahres der Bildungs-
Die Wirtschaftsakademie in Schleswig-Holstein -
ausschuß des DIHT tagte und zu folgendem Ergebnis
gekommen ist: Herr Hinsken, damit das über die ganze Republik
auch schön von Süd bis Nord geht - beschreibt auch,
Die im Vergleich zur Studienförderung minima- daß diese Entwicklung nicht einsehbar sei, „da die
len Finanzmittel des AFBG schaffen keine staatlich geprüften Bet riebswirte als Absolventen un-
Gleichwertigkeit der Berufsbildung mit der serer Fachschule gute Chancen auf dem Arbeits-
Hochschulausbildung. Die bildungs-, wirt- markt haben. Mit der Rückführung der öffentlichen
schafts- und arbeitsmarktpolitisch effektiveren Förderung wird die berufliche Weiterbildung tenden-
Teilzeitmaßnahmen werden benachteiligt trotz ziell benachteiligt. Der politischen Förderung nach
ihrer eindeutigen Vorteile. Vollzeitmaßnahmen Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer
werden dagegen mit Zuschüssen zu den Unter- Bildung wird ein schlechter Dienst erwiesen." Ich
haltskosten bevorzugt, obwohl die Teilnehmer ih- glaube, Ihre Frage ist damit beantwortet.
re Arbeitsplätze aufgeben müssen. Die Förder-
(Beifall des Abg. Horst Kubatschka [SPD])
struktur muß daher geändert werden. Zu den
Lehrgangs- und Prüfungskosten sollte ein Zu- Im übrigen sollte der Zukunftsminister damit auf-
schuß von 30 % geleistet werden. Der Unterhalts- hören, bei Handwerk, Mittelstand und Weiterbil-
beitrag sollte analog zur angestrebten BAföG-Re- dungseinrichtungen sowie gegenüber den abwarten-
gelung nur als Darlehen gewährt werden. Die fi- den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern den
nanzielle Ausstattung muß insgesamt erhöht wer- Eindruck zu erwecken, alles könne bereits am
den. 1. Januar 1996 gelaufen sein.
Diese Kritik, die die SPD teilt, setzt sich auch in an- Herr Rüttgers, wir sind an einer schnellen Bera-
deren Bereichen fort. tung interessiert, aber streuen Sie den Menschen kei-
nen Sand in die Augen. Sie kennen genau wie wir
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Dagegen ist die Daten von Bundesrat und Bundestag. Wenn es
doch nichts einzuwenden!) nicht zu einer einvernehmlichen Regelung kommt,
So läuft derzeit - Herr Hinsken, das kennen Sie muß mit der Anrufung des Vermittlungsausschusses
wahrscheinlich aus Ihrer Nähe - bei der IHK für gerechnet werden.
München und Oberbayern in dem in Frage kommen- So wie Sie es mit der Länderfinanzierung angelegt
den Teilnehmerkreis eine Unterschriftensammlung haben, laufen Sie Gefahr, daß diese Entwicklung ein-
mit folgendem Text: tritt. Selbst wenn in diesem Hause Mitte Dezember
Der jetzt vorliegende Entwurf zu dem Gesetz hält ein Gesetz verabschiedet werden sollte, sind die ent-
nicht im entferntesten, was versprochen war, und sprechenden Umsetzungsbedingungen draußen im
muß fast als Zumutung insbesondere für die be- Lande nicht vorhanden.
rufsbegleitenden Teilnehmer an den Lehrgängen (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Dann müssen
der Aufstiegsfortbildung bezeichnet werden. Die Sie in Ihren Ländervertretungen etwas ma
Gleichwertigkeit der beruflichen und allgemei- chen!)
nen Bildung, die als Ziel angestrebt war, rückt mit
dem Gesetzentwurf keinen Schritt näher. Dennoch sind wir bereit, im Interesse der Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer eine zügige Bera-
Der Industriemeisterverband Deutschlands tung des Gesetzes vorzunehmen. Das heißt aber, daß
schreibt gar, daß die im Juli bekanntgewordenen wir eine Anhörung durchführen müssen, bei der ge-
Vorstellungen der Bundesregierung zu der in der Re- klärt werden muß, ob die Fördergrößen überhaupt
gierungserklärung und danach immer wieder ange- ausreichend sind oder ob es nicht besser ist, am Un-
kündigten finanziellen Förderung der beruflichen terhaltsgeld des Arbeitsförderungsgesetzes eine
Weiterbildung, ganz besonders aber der nun vorlie- Orientierung vorzunehmen.
gende Entwurf ihn tief enttäuscht, ja, Verbitterung
hervorgerufen hat. Es muß geklärt werden, ob die Teilzeitmaßnah-
men, die berufsbegleitenden Maßnahmen im Sinne
Das setzt sich bis zur niederbayerischen Industrie- einer Gleichbehandlung nicht genauso zu unterstüt-
und Handelskammer in Passau fort, die schreibt: zen sind wie die Vollzeitmaßnahmen. Es muß geklärt
werden, ob die 8,5 % Zinsen nicht zu hoch sind. Es
Leider setzt der vorliegende Regierungsentwurf muß geklärt werden, wie die sozialversicherungs-
zum Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz ein rechtlichen Fragen bis hin zum Wohngeld geregelt
falsches Signal in Richtung einer weiteren Ver- werden müssen, damit sie keine Verschlechterung
schulung der beruflichen Weiterbildung. Der Ent- gegenüber den AFG-Bedingungen zur Folge haben.
wurf bevorzugt einseitig die Förderung des Voll-
zeitunterrichts und der damit verbundenen Le- Es muß geklärt werden, ob nicht auch Teilzeitar-
benshaltungskosten. Teilnehmern, die sich ne- beit und Weiterqualifikation gefördert werden müß-
ben ihrem Beruf fortbilden und selbst für ihren ten. Es ist darüber zu entscheiden, ob die Rückzah-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung, Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5271
Franz Thönnes
lungs- und die Befreiungskriterien bei der Existenz- uns darum kümmern müssen, daß es mehr Meister-
gründung den eigentlichen Zweck erfüllen. Schließ- schülerinnen und Meisterschüler gibt, damit letzten-
lich fehlt bislang eine Frauenförderkomponente im Endes das Potential für eine Frischzellenkur in klei-
vorliegenden Gesetzentwurf. nen und mittleren Unternehmen gegeben ist. Deswe-
gen ist es grundsätzlich richtig, daß wir uns mit die-
Der Mangel an einer Übernahme von Kinderbe- sem Thema beschäftigen.
treuungskosten, die in dem von der SPD vorgelegten
ASFG-Entwurf und teilweise auch im AFG geregelt Die neuen Meister, diese neuen Führungskräfte in
sind, muß behoben werden. Es liegt an Ihnen, Herr kleinen und mittleren Unternehmen, bieten für un-
Rüttgers, diese schwere Hürde, die Sie sich selbst ge- ser Land die Chance zu einem ökologischen Struk-
stellt haben, nämlich einen Konsens mit den Ländern turwandel; sie sind die Chance für unser Land, end-
herbeizuführen, zu überspringen. lich mit Innovationen zu beginnen und verkrustete
Strukturen aufzubrechen.
So wie der Entwurf jetzt aussieht, kann er unsere
Zustimmung nicht finden. Wir fühlen uns in all unse- Herr Minister Rüttgers, nun wollen Sie uns mit Ih-
ren Kritiken bestätigt. Mittlerweile, Herr Hinsken, rem Entwurf hier darstellen, Sie seien der Zukunfts-
soll es sich bis zur bayerischen Staatsregierung, so minister, der uns zukunftsfähige Vorschläge präsen-
habe ich gehört, herumgesprochen haben, daß viele tiert, obwohl Sie genau wissen, daß es nicht so ist.
der Kriterien berechtigt sind und man versuchen will,
im Bundesrat eine andere Regelung herbeizuführen. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Was? Was sa
gen Sie da?)
(Beifall bei der SPD)
Der entscheidende Grund, warum es nicht so ist,
Ein altes Sprichwort lehrt uns: Es ist noch kein ist, daß der Handlungsdruck und die Krise, vor der
Meister vom Himmel gefallen. Ein weiteres weiß wir im Moment stehen, von Ihnen verursacht worden
auch: Drei Dinge machen einen guten Meister aus, sind. Das ist keine zwei Jahre her. Ohne irgend et-
Wissen, Können und Wollen. Wissen unterstellen wir was Alternatives vorzulegen, haben Sie seinerzeit
dem Zukunftsminister. Wollen hat er wahrscheinlich erst einmal die AFG-Förderung gestrichen. Heute
auch versucht, aber können hat er nicht gedurft. Das aber argumentieren Sie hier mit einer Notsituation.
ist der wahre Grund, warum dieses Gesetz so aus- Angesichts eines solchen Regierungshandelns wäre
sieht. ich ganz still! Ich würde Ihnen empfehlen, statt des-
sen einmal zu überlegen, ob Sie jetzt allen Ernstes
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne politisch seriös argumentieren können, wir befänden
ten der PDS) uns heute in einem unerhörten Handlungsdruck.
Der Gesetzentwurf ist kein Meisterwerk. Dafür Diesen Handlungsdruck haben Sie erzeugt; ich be-
gibt es dann auch nicht den bewährten Meisterbrief. haupte aber, Sie sind diesem Handlungsdruck nicht
Es muß nachgearbeitet werden. Anhörung und Bera- gewachsen.
tung im Ausschuß geben dazu Gelegenheit. Wir wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
den mit Ihnen an diesem Werk feilen. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Wir wollen ein wirksames und nicht unvollständi- der PDS)
ges Reparaturgesetz. Wir wollen den Interessen der Warum sind Sie diesem Handlungsdruck nicht ge-
Teilnehmerinnen und Teilnehmern der weiterbil- wachsen? Wir erleben hier wunderbare Taschenspie-
dungsbereiten Menschen, in diesem Land, den Not- lertricks von der Bundesregierung. Das, was Herr
wendigkeiten und den Erfordernissen sowie den von Rüttgers uns hier als die große Innovation im Bereich
Ihnen beschriebenen Herausforderungen, die sich des Meister-BAföG verkaufen will, ist nichts anderes
uns für Handwerk und Mittelstand stellen, gerecht als eine Kürzung, eine Sparmaßnahme im Bereich
werden, indem wir ein Gesetz verabschieden, das der Bildung. Wir haben es gehört: Die AFG-Förde-
wirklich den Namen Aufstiegsfortbildungsförde- rung hat ein wesentlich größeres Volumen gehabt,
rungsgesetz verdient. und sie war auch wesentlich erfolgreicher, als das
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne sein wird, was Sie jetzt vorschlagen.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Herr Rüttgers, man kann als Parlamentarischer Ge-
und der PDS) schäftsführer mit allerlei Taschenspielertricks und al-
lerlei Finten große Erfolge erzielen. Wenn sich aber
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich erteile jetzt ein Bildungsminister auf solche Tricks einläßt, dann
dem Abgeordneten Matthias Berninger das Wo rt . ist das Gift für die Zukunft unseres Landes. Ein Bil-
dungsminister darf das nicht tun.
Ma tt hias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN —
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Herr Kollege Rüttgers! Wenn auf der einen Seite ein Das ist ja ein echter Visionär hier!)
Rückgang von zum Teil über 30 % bei den Meister- Ein Bildungsminister muß die Zukunftsfragen der
schülerinnen und Meisterschülern in diesem Land zu Bildung stellen, und er muß versuchen, sie zu beant-
verzeichnen ist, auf der anderen Seite in kleinen und worten.
mittleren Unternehmen immer lauter geklagt wird,
daß die Kapazitäten für einen Generationenwechsel Es gibt ja andere Politiker in diesem Land, die das
fehlen, dann ist es eine logische Konsequenz, daß wir versuchen. In Nordrhein-Westfalen hat der Minister-
5272 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Matthias Berninger
präsident Johannes Rau eine Expertenkommission Damit wir uns nicht mißverstehen: Auch die Ver-
zusammengerufen, die sich um die Zukunft der zinsung in Höhe von 4 % halte ich nicht für richtig. -
Schule kümmert. Hier in Bonn aber erleben wir Ich will Ihnen auch sagen, warum. Wenn man als
nichts anderes als Salamitaktik. Sie versuchen, uns Meisterschüler später einen guten Job hat und der
irgendwelche Vorschläge als große Visionen zu ver- Staat einem vorher ermöglicht hat, die Meisterschule
kaufen, und verkaufen doch nichts anderes als eine durch seine Transfers zu besuchen, dann kann man -
reine Sparpolitik. da haben Sie recht, Herr Rüttgers - von ihm verlan-
gen, daß er sich an den Kosten, die diese Ermögli-
Zu den Details Ihres Entwurfes ist auch schon sehr chung von Chancen letzten Endes verursacht hat,
viel gesagt worden. Es gibt enorme Kritik an vielen angemessen beteiligt.
Punkten. Ich möchte diese Kritik ergänzen. Herr
Rüttgers zieht durchs Land und sagt, wir brauchten Sie machen aber etwas anderes: Sie lasten jedem
in Zukunft neue Berufsbilder und müßten sie för- Meisterschüler und später jedem Studenten - wir
dern. Der Entwurf, den er hier vorlegt, ist lediglich werden in ein paar Wochen darüber diskutieren; im
am klassischen Handwerk orientiert. Ich finde es Moment trauen Sie sich ja nicht, diese Sache mitan
gut, daß er sich auch um das klassische Handwerk zusprechen - individuelle Schulden auf. Wenn einer
kümmert; denn es ist meines Wissens der einzige nach dem Besuch der Meisterschule nicht erfolgreich
Wirtschaftszweig, der noch einigermaßen seiner Aus- ist, dann hat er bei Ihrer Individualisierung und bei
bildungsverpflichtung bei Lehrlingen gerecht wird Ihrer Privatisierung sozialer Risiken Schulden am
und sich einigermaßen darin engagiert. Bein und hat überhaupt nichts von der Fortbildung.
Das, finde ich, kann man unserem Bildungssystem
(Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Das nicht zumuten. Ich sage Ihnen auch, aus welchem
„einigermaßen" würde ich streichen!) Grund.
Aber es gibt viele neue Berufsbilder mit ganz Es gibt Menschen in diesem Land, denen wir zu-
neuen Qualifikationen und mit ganz neuen Überle- sätzlich den Zugang zu höherer Bildung ermögli-
gungen über das Wie dieser Qualifikationen fernab chen wollen. Wir wollen Chancengleichheit ermögli-
von der klassischen Meisterausbildung. Nur braucht chen. Diese Menschen kommen in der Regel nicht
man dafür keine 500-Stunden-Kurse. In Ihrem Ge- aus den materiell abgesichertsten Verhältnissen. Sie
setzentwurf jedoch heißt es lapidar, daß ein Kriterium lassen sich von solchen Fortbildungen abschrecken,
für die Förderung diese 500-Stunden-Kurse sind. Wie wenn Sie sie mit enormen Schulden belasten wollen.
wollen Sie dann beispielsweise im Pflegebereich al- Das ist der eigentliche Skandal Ihres Entwurfs.
len Ernstes Fortbildung finanzieren, wenn Ihnen auf
der anderen Seite der Bundesverband der Freien Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
rufe sagt, Herr Rüttgers, wir brauchen diese 500 bei der SPD und der PDS)
Stunden da nicht? Das heißt, Sie grenzen sie aus, ob-
wohl Sie hier sagen, Sie wollten sich gerade auch um Natürlich kann man ehemals Geförderte zu Solida-
diese kümmern. Auch das halte ich für skandalös. rität mit den nächsten Geförderten bringen. Ich halte
das für möglich. Man muß dann aber seriös argumen-
Nun kommen wir zu dem Kern Ihres Modells, den tieren. Bei Ihnen gibt es eine reine Bankenförderung;
Sie auch auf die studentische Ausbildungsförderung denn das Geld, das die Meisterschüler zurückzahlen
übertragen wollen. Im Kern wollen Sie diesen Mei- sollen, fließt nicht direkt in die Förderung der näch-
sterschülerinnen und -schülern und später auch den sten Generation. Das Geld fließt verzinst zur Deut-
Studenten die Förderung ermöglichen - das ist in schen Ausgleichsbank, und Sie zahlen, weil alles an-
Ordnung -, Sie wollen, daß sie einen Teil zurückzah- dere eine soziale Katastrophe und völlig grausam ge-
len - darüber müssen wir gleich noch reden -, aber wesen wäre, den Rest an Zinsverlust, der sich dabei
vor allem wollen Sie, daß die Darlehen verzinst wer- ergibt. Das kann nicht die Lösung sein, mit der man
den. Nun haben Sie etwas ganz Abenteuerliches ver- Bildungspolitik der Zukunft macht.
sucht. Vor der Sommerpause standen 8,5 % Zinsen
im Raum. Dann hat die F.D.P. - ausnahmsweise ein- Herr Rüttgers, in einigen Inte rv iews haben Sie sich
mal leise, aber offensichtlich sehr effizient - Sie dazu mit folgendem Aspekt auseinandergesetzt. Sie wis-
bewegt, diese 8,5 % zu vergessen und jetzt etwas sen, wir versuchen einerseits, Ihrem Anspruch - die-
ganz Interessantes zu machen: Nun orientieren Sie sen haben Sie den Abgeordneten der Koalitionsfrak-
sich, was die Zinsen angeht, an der FIBOR-Rate. Das tionen in einem Schreiben dargestellt -, gerecht zu
ist wunderbar. Die FIBOR-Rate steht. Das sind nach werden. Das heißt, wir versuchen einerseits, von den
dem „Handelsblatt" im Moment ungefähr 4 %. ehemals Geförderten Solidarität einzufordern. Ande-
rerseits wollen wir nicht die Individualisierung von
Aber, Herr Rüttgers, wo haben Sie denn gestan- Risiken. Deswegen arbeiten wir an einem neuen Vor-
den, wenn selbst diese F.D.P. Sie dazu bringt, einen schlag, von dem ich glaube, er kann Ke rn einer
sozialverträglicheren Vorschlag zu machen als Sie? neuen bildungspolitischen Offensive in diesem Land
Sie müssen mit Ihren Vorschlägen doch sonstwo ge- werden.
wesen sein. Sie haben sich völlig versteuert. Ich kann
es wirklich nicht nachvollziehen, wie Sie sich hier so Unser Vorschlag besteht aus einem einfachen Prin-
selbstsicher hinstellen und so tun können, als hätten zip, das Sie alle von der Rentenversicherung und von
Sie einen wunderbaren Vorschlag unterbreitet. anderen sozialen Sicherungssystemen kennen, über
die man nicht immer schlecht reden darf, meine lie-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., son-
sowie bei Abgeordneten der SPD) dern die man fördern und stärken muß, weil sonst in
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5273
Matthias Berninger
diesem Land das Licht ausgeht. Wir wollen so etwas Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Abgeord-
wie Rente andersherum. Wir wollen so etwas wie neter Berninger, ich hoffe, „zum Kotzen" ist in die- -
eine Kassenfinanzierung von Ausbildung. Das heißt, sem Hause weniges. Wenn es so wäre, dürften Sie es
Menschen werden gefördert, und auf Grund der För- trotzdem nicht so nennen, denn das ist ein unparla-
derung zahlen sie später einen Beitrag, aber abhän- mentarischer Ausdruck.
gig von ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Karlheinz
nicht abhängig davon, ob sie nachher eine entspre-
Guttmacher.
chende Stelle gefunden haben oder nicht.

Sie sind geschickt, Herr Rüttgers. Sie wissen, bei Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): Frau Präsiden-
den Meistern ist die berufliche Situation wesentlich tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir
besser, als sie bei den Studierenden ist. Aber auch bringen heute zwei Gesetzentwürfe ein, einmal den
hier ist der typische Taschenspielertrick eines Parla- zur Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung
mentarischen Geschäftsführers festzustellen, der bil- und zum anderen ein Gesetz zur Änderung des
dungspolitisch in die Katastrophe führt. Ihnen ist be- Hochschulrahmengesetzes.
kannt: Die beruflichen Chancen für viele Studie-
rende sind, auch wenn sie insgesamt gut sind, kei- Ich bin der Meinung, meine Damen und Herren,
neswegs bei allen gut. Deswegen glaube ich, den daß beide Gesetzentwürfe der Herstellung der
Pflock, den Sie hier einschlagen wollen, und den Gleichwertigkeit der beruflichen und allgemeinen
neuen Zungenschlag, der nichts anderes heißt, als Ausbildung dienen. Ich halte es für ausgesprochen
die soziale Kälte in diesem Land und die individuel- geboten - da komme ich auf Sie, Herr Berninger, zu
len Risiken zu erhöhen, statt Solidarität zu fördern, sprechen - und wir stehen in der Pflicht, einen Gene-
werden wir nicht mittragen. rationsvertrag zu erfüllen. Deswegen hat die Koali-
tion einen Gesetzentwurf eingebracht, der darauf ab-
Jetzt komme ich zu der Frage: Wie gehen wir mit zielt, daß nach der beruflichen Erstausbildung die
dieser Situation pragmatisch um? Es ist völlig klar: Betreffenden entsprechend ihren Begabungen und
Auf der einen Seite haben wir zuwenig Führungs- Fähigkeiten gefördert werden müssen, weil wir in
kräfte. Wir brauchen mehr. Auf der anderen Seite ha- den nächsten Jahren etwa 200 000 Nachwuchskräfte
ben wir einen Rüttgers-Vorschlag. Ich enthalte mich im Meisterhandwerk benötigen. Wir haben das aus-
eines noch näheren Kommentars zu dem, was Kern gedehnt, nicht nur auf Handwerk und Gewerbe, son-
dieses Vorschlags ist. Ich bin fast versucht, zu sagen: dern auch auf die Landwirtschaft, bis hin zum Ge-
Er ist zum Kotzen. sundheitswesen und zur Sozialfürsorge.

Ich bin der Meinung, daß wir einen pragmatischen Meine Damen und Herren, hier muß schnell ge-
Vorschlag machen müssen, der mit den Ländern ver- handelt werden. Da macht es keinen Sinn, wenn
einbar ist. Dieser pragmatische Vorschlag muß so man jetzt ein Maß anlegt und sagt, das könnte sozial
aussehen, daß wir lieber erst einmal zur alten Lösung nicht verträglich sein, sondern hier müssen wir uns
zurückkehren und dann eine bildungspolitische De- ein Konzept überlegen und auch im Ausschuß disku-
batte führen, und zwar nicht auf Grund einzelner tieren, das gewährleistet, sehr schnell eine Ausbil-
Vorlagen, sondern insgesamt. Wir müssen die indivi- dungsförderung auf den Weg zu bekommen.
duellen Probleme an den Universitäten bei der nor- (Beifall der Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger
malen Ausbildung und beim Meister-BAföG sehen, lingen] [F.D.P.] und Ernst Hinsken [CDU/
so daß wir, wenn wir es geschafft haben, eine Be- CSU])
standsaufnahme vorzunehmen, eine Lösung vor-
schlagen, die den Erfordernissen in diesem Land ge- Meine Damen und Herren, die Aufstiegsfortbil-
recht wird. dungsförderung verbindet die staatlichen Leistungen
mit der Eigeninitiative, der Vorsorge und auch der Ri-
Wir fahren in der Tat in die Sackgasse, weil wir es sikobereitschaft. Hierzu hat der Abgeordnete der
auf Grund eines parteipolitischen Streits nicht schaf- SPD Herr Thönnes,
fen, die Fragen zu lösen, die uns das Bildungssystem
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
stellt. Wir fahren in der Tat gegen die Wand, weil wir
Den Namen braucht man sich nicht zu mer
Gefahr laufen, unser hauptsächliches Standortkapi-
ken!)
tal, nämlich die Qualifizierung unserer Menschen, zu
verlieren und es nicht schaffen, ihnen nebenbei auch gesagt, diese Förderung, die die Risikobereitschaft
die individuellen Risiken einigermaßen zu ersparen. und die Vorsorge des einzelnen mit staatlichen Lei-
stungen verbindet, muß relativiert werden auf Grund
Aber wenn wir es denn tun, dann lassen Sie uns der Struktur, die hier angelegt worden ist. Er sagte,
nicht einzelne Entwürfe Schritt für Schritt diskutie- daß die Vollzeitförderung wesentlich stärker ist als
ren, sondern, Herr Rüttgers, dann werden Sie Ihrer die Teilzeitförderung und die Vollzeitförderung dazu
Verantwortung als Bildungsminister gerecht, und führen könnte - und das ist natürlich richtig -, daß
führen Sie die gesamte Debatte! Spielen Sie hier einige Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz aufgeben,
nicht mit uns, als wären wir irgendwie kleine unwis- um sich in die Förderung zu begeben.
sende Parlamentarische Geschäftsführer. So läuft das
bei der bildungspolitischen Debatte nicht. Natürlich - auch ich bin dieser Meinung - müssen
wir uns noch einmal überlegen, ob bei der Teilzeit-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ausbildung, so wie wir sie drin haben, wo wir nur die
bei der SPD und der PDS) Ausbildungskosten finanzieren, ein Zuschuß mit ein-
5274 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Dr. Karlheinz Guttmacher


zusetzen ist, um die Attraktivität auch der Teilzeit- bei der theoretische Ausbildung und Praxisgebun-
ausbildung zu erhöhen und die Proportionen von der denheit so gut verzahnt sind, daß diese Ausbildung -
Vollzeitausbildung zur Teilzeitausbildung zu ver- von ihrem Niveau her sehr attraktiv ist. Dies ist an
schieben. Da gehe ich mit Ihnen mit, darüber haben vielen Modellbeispielen in Baden-Württemberg
wir im Ausschuß neu zu befinden. deutlich geworden.
Meine Damen und Herren, das entbindet uns aber Wir haben es damit in der Hand - inzwischen ha-
nicht von der Verantwortung, bei der Vollzeitausbil- ben wir dafür auch die Zustimmung von Wissen-
dung, die wir derzeit auf bis zu 24 Monate festgelegt schaftsrat und Kultusministerkonferenz erhalten -,
haben, auch darüber nachzudenken, eine minimale eine Gleichwertigkeit der Abschlüsse von Berufsaka-
Ausbildung mit sechs Monaten festzulegen und fest- demie und Fachhochschule zu erzielen. Jetzt müssen
zustellen und zu fragen, ob dies tatsächlich alle wir als Gesetzgeber dafür Sorge tragen, dies auch
Handwerksberufe erfaßt. Wir müßten prüfen, eine so - -
Förderung sowohl hinsichtlich der Unterhaltskosten (Doris Odendahl [SPD]: Wieso denn?)
als auch der Ausbildungskosten zu gewähren. Sie
muß auch dann gezahlt werden, wenn eine Ausbil- - Wir haben dafür Sorge zu tragen, daß die Gleich-
dung zu einem Meisterberuf nicht sechs Monate in wertigkeit über die Änderung des HRG hergestellt
Anspruch nimmt. Dies halte ich für sehr wesentlich. wird.
Wir haben schon angesprochen, daß dies geprüft (Doris Odendahl [SPD]: Das haben die Kul
werden muß. tusminister schon gemacht!)
(Franz Thönnes [SPD]: Nennen Sie doch - Liebe Frau Odendahl, die Kultusminister haben die
mal ein Beispiel!) Gleichwertigkeit der Abschlüsse festgelegt. Wir aber
- Ich nenne beispielhaft die Bäcker- und Fleischer- haben die Gleichwertigkeit durch die Struktur der
meister. Ausbildung von Berufsakademie und Fachhoch-
(Günter Rixe [SPD]: Oh!) schule festzustellen.

- Lieber Herr Rixe, hier werden heute 900 Stunden Meine Damen und Herren, wir sollten den Mut
zugrunde gelegt. Wenn Sie 150 Stunden pro Monat dazu haben. Damit kämen wir bezüglich der Herstel-
ansetzen, dann kommen Sie bezüglich der Ausbil- lung der Gleichwertigkeit der beruflichen und der
dung der Fleischermeister nicht auf die geforderten allgemeinen Bildung ein gutes Stück weiter.
900 Stunden, wie es bei einer Halbjahresausbildung, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
die jetzt im Gesetzentwurf enthalten ist, vorgesehen
werden müßte. Wir müssen prüfen, inwieweit eine
solche Förderung - - Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.
(Franz Thönnes [SPD]: Warum machen Sie
denn einen solchen Gesetzentwurf, wenn Maritta Böttcher (PDS): Sehr geehrte Frau Präsi-
Sie noch nachprüfen müssen? Es ist doch dentin! Meine Damen und Herren! Wir begrüßen die
Ihr Gesetzentwurf!) Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung, da
- Lieber Herr Kollege, es ist besser, einen Gesetzent- sie jungen Leuten nach erfolgreichem Abschluß ei-
wurf einzubringen, über den wir hier heute sprechen ner Berufsausbildung die Möglichkeit bietet, sich
können, als nichts zu tun, wie es beispielsweise bei weiter zu qualifizieren, und zu Existenzgründungen
Ihnen der Fall ist. Sie machen immer nur kluge Sprü- motiviert. Begabte Handwerker und Kaufleute müs-
che. sen so nicht mehr in der Ausbildung steckenbleiben,
weil ihnen die Mittel fehlen.
(Franz Thönnes [SPD]: Das stimmt nicht!
Das ist doch falsch!) Probleme haben wir allerdings mit der Quelle, aus
der die Fördermittel kommen sollen. Die berufliche
Meine Damen und Herren, ich möchte mich hier Aufstiegsfortbildung ist einer der Bereiche, in denen
ausdrücklich bei den zwei Ministe rn bedanken, die mit der sogenannten BAföG-Strukturreform ein-
(Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/ gesparten Gelder ausgegeben werden. Meisterschü-
CSU]) ler- gegen Studenten- bzw. Studentinnenförderung
heißt die Alternative, die hier als zukunftsfähig ver-
die einen Regierungsentwurf vorgelegt haben, der es kauft werden soll.
uns ermöglicht hat, heute über einen solchen Gesetz-
entwurf zu diskutieren. Es handelt sich um Herrn Das zweite Problem wurde bereits vom Zentralver-
Rüttgers und Herrn Rexrodt. band des Deutschen Handwerks angesprochen und
bezieht sich auf Art und Höhe der Förderung. Nach
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) den Verbesserungen gegenüber dem ursprünglichen
Regierungsentwurf hat der Meisterschüler bzw. die
Auch die Einbringung des zweiten Gesetzent-
Meisterschülerin zwar mehr Mittel zur Verfügung;
wurfs, des Entwurfs zur Änderung des Hochschul-
diese setzen sich allerdings aus einem gesteigerten
rahmengesetzes, die auf die Gleichwertigkeit der
Darlehensanteil und einem abgesenkten Zuschußan-
Abschlüsse von Berufsakademie und Fachhochschu-
teil zusammen.
len abzielt, halte ich für ausgesprochen wichtig und
wertvoll. Wir haben mit der Berufsakademie am Bei- Es sei auch ein Hinweis auf die Kritik gestattet, die
spiel Baden-Württembergs eine Musterausbildung, der Bundesverband der Freien Berufe an der Kon-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5275
Maritta Böttcher
zeption des Meister-BAföG geäußert hat; Herr Ber- als Auslesekriterien nicht ausschließlich persönli-
ninger ist schon kurz darauf eingegangen. Durch die che Kompetenzen zum Tragen kommen. Viel-
im Gesetzentwurf vorgegebene Stundenzahl - „nicht mehr werden ... soziale Herkunft und Ge-
weniger als 500" - werden Helferinnen und Helfer schlechtszugehörigkeit zu entscheidenden Se-
im Bereich der freien Berufe zu einem großen Teil lektionsmerkmalen. So wirkt sich der gesell-
von der finanziellen Förderung ausgeschlossen, da schaftliche Niedergang in den neuen Bundeslän-
die meisten Lehrgänge in diesem Bereich bekannt- dern beispielsweise in verstärktem Maße negativ
lich eine Dauer von 300 bis 400 Stunden vorsehen. auf die Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen
Ich habe sehr erfreut zur Kenntnis genommen, daß von Frauen aus, die deutlich häufiger als Männer
darüber nun noch einmal diskutiert werden soll.
- das wissen wir -
Wichtig ist uns in diesem Zusammenhang der Hin- von Arbeitslosigkeit und Ausbildungsstellen-
weis, daß über 80 % der Helferinnen und Helfer bei mangel betroffen sind.
den freien Berufen Frauen sind. Schon aus diesem
Grunde erscheinen Änderungen des Gesetzentwurfs Auch der zweite Bildungsweg ermöglicht vor allem
hinsichtlich der förderungswürdigen Stundenzahl Frauen einen qualifizierten Wiedereinstieg ins Be-
unbedingt angebracht. rufsleben. Die Streichung des elternunabhängigen
BAföG für diesen Personenkreis würde den oben zi-
Verehrte Damen und Herren, gestatten Sie mir tierten Selektionsmechanismus verstärken, statt ihn
noch einige Bemerkungen zur sogenannten Gleich- zu entschärfen, und die Betroffenen wieder in die
wertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bil- wirtschaftliche Abhängigkeit von ihren Familien
dung. Entsprechend einer Erklärung der Parlamenta- bringen. Vor einer solchen Entscheidung ist zumin-
rischen Staatssekretärin Frau Yzer sind dafür Verän- dest das Alter der Geförderten zu bedenken sowie
derungen in mehreren Bereichen einzuleiten, zu de- die Tatsache, daß die meisten von ihnen im Rahmen
nen u. a. der Zugang zu weiterführenden Bildungs- einer vorangegangenen Erwerbstätigkeit in einem
gängen für qualifizierte Absolventen der beruflichen zum Teil erheblichen Umfang auch schon Steuern
Bildung gehören soll. Ich meine, daß an diesem gezahlt haben.
Punkt, wo es um den Hochschulzugang für qualifi- Aber auch aus einem weiteren Grund erscheint mir
zierte Berufstätige geht, unbedingt auch noch einmal eher eine Erweiterung der Förderung des zweiten
über die von der Bundesregierung anvisierten Ein- Bildungsweges angezeigt. Zu den Voraussetzungen
schränkungen der elternunabhängigen Förderung des Kollegbesuchs gehört eine abgeschlossene Be-
von Studierenden des zweiten Bildungsweges nach- rufsausbildung. Darüber hinaus können den meisten
zudenken ist. Teilnehmerinnen und Teilnehmern praktische Erfah-
(Beifall bei der PDS) rungen aus einem vorangegangenen Berufsleben
unterstellt werden, die für ein späteres Studium von
Eben dieser Bildungsgang ermöglicht unter den ebenso grundlegender Bedeutung sein können wie
derzeitigen Bedingungen begabten und leistungsbe- die auf dem ersten Bildungsweg erworbene Hoch-
reiten Berufstätigen ohne Abitur oder Fachhoch- schulreife.
schulreife, die Studienberechtigung zu erwerben.
Einschränkungen der Finanzierung ihres Schulbe- Die These von der Aufwertung der beruflichen
suchs an den Abendgymnasien oder Kollegs würden Bildung bleibt so lange eine Farce, wie durch restrik-
den ohnehin schwierigen Weg bildungsinteressierter tive Förderpolitik wiederum ganze Gruppen von den
Berufstätiger in ein Hochschulstudium weiter er- nur für Besserverdienende durchlässigen Bildungs-
schweren oder gänzlich unmöglich machen. wegen ausgeschlossen werden. Insofern erscheint
eine gewisse Skepsis gegenüber der heutigen Auf-
Wie die Entwicklung vor allem in den neuen Bun- wertung beruflicher Bildung durchaus angebracht.
desländern zeigt, sind Umschulung und Weiterbil- Wollen doch hier eben jene Leute Berufsausbildung
dung bereits existenznotwendig geworden. Differen- aufwerten, die seit Jahren eine abwertende Politik
zierte Bildungsabschlüsse sind eine notwendige, betreiben. Denn schließlich sorgten sie dafür, daß
aber keinesfalls mehr hinreichende Voraussetzung Schulabgänger keine oder wenig zukunftssichere
für entsprechende berufliche Laufbahnen. So stehen Ausbildungsplätze fanden, daß immer mehr perspek-
Jugendliche in den neuen Bundesländern heute tivlose Aus- und Weiterbildungswege und -formen
mehrheitlich vor dem Dilemma, Bildungsentschei- installiert und Disproportionen in den Bildungswe-
dungen treffen zu müssen, ohne ausreichende Infor- gentscheidungen von Jugendlichen und Erwachse-
mationen über die Verwertbarkeit der Abschlüsse nen gefördert wurden und daß vor allem in den
auf dem Arbeitsmarkt zu besitzen. neuen Bundesländern wichtige Funktionszusam-
menhänge zwischen beruflicher Aus- und Weiterbil-
Angesichts unsicherer ökonomischer Zukunftsper- dung einerseits und Berufsbildung Lind Arbeitsmarkt
spektiven und verbreiteter Orientierungslosigkeit andererseits zerrissen wurden.
hinsichtlich künftiger Berufs- und Arbeitsmarkts- Insofern liegt der Verdacht nahe, daß diese A rt von
chancen ist das Streben nach höheren Bildungsab- Bildungspolitik nichts anderes ist als Krisenmanage-
schlüssen nur zu verständlich. Hinzu kommt, daß ins- ment.
besondere in Krisenzeiten die Zugänge zu Ausbil-
dungsplätzen zusätzlich durch gesellschaftlich ver- Um keine Mißverständnisse zu provozieren: Wir
mittelte Ungleichheiten begrenzt sind, so daß, wie sind nicht gegen das Konzept der Gleichwertigkeit
der 9. Jugendbericht feststellt - ich zitiere - von beruflicher und allgemeiner Bildung, sondern
5276 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Maritta Böttcher
gegen seine Unterordnung unter die Kapitalverwer- Wo liegen die Vorteile der neuen Förderung, die
tung mit der Tendenz der Privatisierung von Bil- vom Bundesbildungs- und vom Bundeswirtschafts- -
dungsrisiken. minister gemeinsam erarbeitet worden sind und fi-
nanziert werden?
Wichtiges Kriterium für das Erreichen wirklicher
Gleichwertigkeit ist doch die Frage, wie Studierfä- (Franz Thönnes [SPD]: Unzureichend finan
higkeit durch berufliche Aus- und Weiterbildung ge- ziert!)
fördert werden kann. Dabei kann es nicht darum ge-
hen, die Berufsschule dem Gymnasium anzugleichen Erstens. Das Gesetz schafft Sicherheit über Um-
und buchhalterisch die Defizite der Berufsausbil- fang und Art der Förderung. Jeder, der gesetzlich
dung gegen das Abitur aufzurechnen. Vielmehr ist festgelegte Kriterien erfüllt, kann mit dieser Förde-
der eigene Weg der Berufsausbildung, nämlich rung rechnen. Das heißt, es gibt einen Rechtsan-
Gleichwertigkeit als Andersartigkeit, zu akzeptieren. spruch. Dieser Rechtsanspruch gibt Planungssicher-
heit, und er schafft auch feste Rahmenbedingungen
Ziel muß meines Erachtens also eine Berufsbildung für private Anbieter am Markt für Weiterbildung.
sein, mit der man ohne Gegenprüfungen durch aka-
demische Einrichtungen für ein Studium qualifiziert (Franz Thönnes [SPD]: Es ist noch völlig of
ist. Erst dann kann tatsächlich von Gleichwertigkeit fen, was dabei herauskommt!)
die Rede sein.
Zweitens. Mit der neuen gesetzlichen Regelung
Meine Damen und Herren, abschließend noch eine wird Fortbildung für den einzelnen wieder finanzier-
Bemerkung zum Gesetzentwurf der Koalitionsfrak- bar sein. Die Entscheidung, ob man sich fortbildet
tionen zur Änderung des Hochschulrahmengeset- oder nicht, ist dann nicht mehr von Ersparnissen oder
zes; es wurde eben schon darauf eingegangen. Ich der Kreditwürdigkeit abhängig.
meine, er ist durch den Beschluß der Kultusminister- Besonders wichtig: Wer in jungen Jahren etwas er-
konferenz vom 28./29. September in Halle ohnehin reichen will, kann durch diese Förderung früher an
gegenstandslos geworden. Eigentlich war er es von den Start . Der Staat übernimmt einen Teil der Ko-
Anfang an, denn die Anerkennung von Abschlüssen sten, und er trägt einen Teil der Risiken aus den Dar-
der Berufsakademien bedarf bekanntlich keiner bun- lehensverträgen. Damit wird die Freiheit zur berufli-
desrechtlichen Regelungen. Das wußten auch die chen Entfaltung gestärkt.
Gesetzentwerfer, wenn sie ihren Entwurf letztlich
nur damit begründen, daß die Kultusministerkonfe- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
renz bislang keine Regelungen getroffen hatte.
Drittens. Ein Schwerpunkt dieses Gesetzes liegt
Das ist nun geschehen, und deshalb sollte dieser bei der Existenzgründungsförderung. Ich glaube,
unnütze Gesetzentwurf zurückgezogen werden. man kann zu Recht sagen, daß dies ein Baustein im
Gesamtsystem der Mittelstandsförderung ist, eine zu-
Danke.
sätzliche Starthilfe für junge Unternehmerinnen und
(Beifall bei der PDS) Unternehmer bei Gründung und Übernahme eines
Betriebs.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat (Doris Odendahl [SPD]: Ein Bausteinchen!)
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Heinrich
Kolb. Man kann also sagen: Dieses Gesetz bietet allen,
deren Fortbildung dem Kriterienkatalog entspricht,
eine zunächst zinslose, später zinsgünstige Finanzie-
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- rung für Lehrgangs- und Prüfungsgebühren, unab-
desminister für Wi rtschaft: Frau Präsidentin! Liebe hängig von der Höhe des Einkommens des Teilneh-
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst den mers und seiner Familie. Es bietet zusätzlich einkom-
Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. dafür dan- mensabhängige Förderungen des Lebensunterhalts
ken, daß der Gesetzentwurf zur Förderung und Ver- bei Fortbildung von mindestens sechs Monaten an.
besserung der Aufstiegsfortbildung bereits heute in
erster Lesung beraten werden kann. Ich glaube, Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die SPD-
diese Beschleunigung der parlamentarischen Bera- regierten Länder im Bundesrat, allen voran Nieder-
tung ist wichtig; denn viele junge Menschen warten sachsen, fordern deutlich mehr Geld. Sie fordern Zu-
auf diese Förderung. schüsse und eine Ausweitung der förderfähigen Fort-
bildung, insgesamt 1,3 Milliarden DM pro Jahr.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU —
Günter Rixe [SPD]: Warum warten sie Aber im gleichen Atemzug verweigern sie sich,
denn?) wenn es um die finanziellen Konsequenzen geht.
Hierzu kann ich nur sagen: Wer Luftschlösser baut,
Dieses Warten, diese Situation des Abwartens muß auch bereit sein, die Konsequenzen zu tragen.
hemmt Leistungsbereitschaft. Sie schadet der Wi rt
-schaft,derKonjukmAbitsar.Dehl (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
ist es wichtig, daß wir diesen Attentismus noch in
diesem Jahr durch ein neues Gesetz überwinden. Im Chor mit den Gewerkschaften fordert Nieder-
sachsen ein Zurück zur alten AFG-Förderung. Meine
(Zuruf von der SPD: Den von Ihnen ge Damen und Herren von der Opposition, ich glaube,
schaffenen!) das ist ein durchsichtiges Manöver. Irgend jemand
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5277
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb
hat hier das Wo rt „Taschenspielertrick" gebraucht; dungsleistungen zufließt, an den Kosten beteiligt.
ich will das nicht tun. Deswegen brauchen wir eine angemessene Lasten-
verteilung zwischen den Teilnehmern, den Unter-
Sie reklamieren hier Sachverstand bei den Arbeits- nehmen und dem Staat. Ganz ausdrücklich sage ich
ämtern, als ob es keinen Sachverstand bei den BA- hier, daß die Unternehmen weiterhin ihren Teil zur
föG-Amtern der Länder gäbe. Sie wollen sich heim- Fortbildungsfinanzierung beitragen müssen, wo dies
lich aus der Verantwortung schleichen. im eigenen unternehmerischen Interesse liegt.
(Widerspruch bei der SPD - Doris Odendahl
[SPD]: So ein Unfug!) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Sie tun das ja auch!)
Aber Sie müssen doch zur Kenntnis nehmen: Wer
nicht sät, kann auch nicht ernten. Die jungen Men- Es ist auch sachgerecht, daß Betriebsgründungen
schen werden das Täuschungsmanöver durch- und Betriebsübernahmen durch Darlehenserlaß be-
schauen und Ihnen diese Mogelpackung nicht ab- sonders gefördert werden. Dies schafft neue Arbeits-
kaufen. plätze, und dies sichert Arbeitsplätze, die verlorenge-
hen, wenn der Generationenwechsel nicht reibungs-
los verläuft. Die Existenzgründungsförderung ist an
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Staatsse- die Beschäftigung von mindestens zwei Mitarbeitern
kretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage? gekoppelt. Das heißt, daß wir mit diesem vorliegen-
den Gesetzentwurf, wenn er Gesetz wird, kurzfristig
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- rund 60 000 Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen
desminister für Wirtschaft: Bitte sehr. bzw. sichern.
Das mag jetzt dem einen oder anderen hier im
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte schön, Hause relativ wenig erscheinen. Aber schon mittelfri-
Herr Thönnes. stig werden es deutlich mehr Arbeitsplätze sein, da
junge Unternehmen in den ersten Jahren im Durch-
Franz Thönnes (SPD): Herr Staatssekretär, ist Ih- schnitt fünf bis zehn Arbeitsplätze neu schaffen. Das
nen bekannt, daß für die Gewährung des BAföGs für haben wir zuletzt sehr eindrucksvoll in den neuen
Schüler die Kommunen zuständig sind, während für Bundesländern gesehen, wo wir bei 500 000 mittel-
die Förderung der Studenten das Studentenwerk zu- ständischen Unternehmen, die zum ganz überwie-
ständig ist? Können Sie mir bitte einmal sagen, wo genden Teil neu entstanden sind, mittlerweile über
denn diejenigen hingehen sollen, die nach Ihrem Ge- drei Millionen Arbeitsplätze neu zu verzeichnen ha-
setzentwurf Förderungsmittel beantragen, und wer ben. Das heißt, wir sollten die Beschäftigungswir-
das finanziert? kung, die von der Beschäftigungsklausel im Gesetz-
entwurf ausgeht, nicht unterschätzen, ganz im Ge-
genteil.
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister für Wirtschaft: Herr Kollege Thönnes, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
vorhin haben Sie den Zwischenruf gemacht, daß be-
stimmte Dinge noch zu regeln sein werden. Genau Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Industrieland
diese Frage der Zuständigkeit werden wir natürlich lebt von Talenten, von Leistungen, von Forschergeist
im Gesetz regeln müssen. Aber es ist klar, daß das und von Eigenverantwortung. Wir müssen begabte
irgendwo auf der Länderebene angesiedelt sein und leistungswillige junge Menschen fördern. Ge-
wird. Deswegen ist das, was ich hier gesagt habe, in rade die jungen Unternehmen schaffen Dynamik
der Perspektive zutreffend und richtig, wenn man und sind damit ein wichtiges Element im Struktur-
auch die Regelungen im Konkreten noch nicht nen- wandel. Weil neue Unternehmer zum größten Teil
nen kann. aus der beruflichen Praxis kommen und weil Fach-
kenntnisse sowie kaufmännisches und organisatori-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Solidarkasse sches Wissen notwendig sind, um am Markt zu be-
der Arbeitnehmer, die Arbeitslosenversicherung, ist stehen, ist dieses neue Gesetz ein wichtiger Schritt
nicht der Bankier für den beruflichen Aufstieg. Wir für die Bildungspolitik und für eine breit angelegte
reden hier immer über eine Senkung der Lohnne- Mittelstandspolitik.
benkosten. Aber dann müssen wir auch zur Kenntnis
nehmen, daß eine solche Finanzierung, wie sie von Deswegen appelliere ich an alle, denen berufliche
den SPD-Ländern vorgeschlagen worden ist, die Bildung und Selbständigkeit sowie unternehmeri-
Lohnnebenkosten erhöhen, der Wettbewerbsfähig- sche Verantwortung ein Anliegen sind: Setzen Sie
keit schaden und damit auch die Beschäftigung in sich mit der Bundesregierung und der Mehrheit die-
unserem Lande gefährden würde. Deswegen kommt ses Hauses dafür ein, daß dieses neue Gesetz schon
für die Bundesregierung nur eine steuerfinanzierte am 1. Januar 1996 in Kraft treten kann. Sie leisten da-
Lösung und eben keine Arbeitsamtslösung in Be- mit einen wesentlichen Beitrag für junge Existenzen,
tracht. für leistungswillige Menschen in unserem Lande und
für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Dies kann
Bildung ist kein öffentliches Gut, wie manche mei-
nicht oft genug betont werden.
nen. Dennoch ist es richtig - das sage auch ich -, daß
der Staat die Bildung nicht nur den Gesetzen von An- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
gebot und Nachfrage überläßt. Es ist aber auch sach-
gerecht, daß sich derjenige, dem der Nutzen von Bil- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
5278 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat der Ab- Ausstattung hat er kritisiert. Sie müssen nur zuhören,
geordnete Günter R ixe das Wort . was ich sage. -
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jetzt bin ich (Karl-Heinz Scherhag [CDU/CSU]: Das Ge
neugierig!) setz, haben Sie gesagt!)
Die finanzielle Ausstattung kritisiert er heute noch,
Günter Rixe (SPD): Herr Hinsken, das habe ich mir obwohl der Minister auf dem Handwerksfest 100 DM
gedacht, daß Sie neugierig sind. draufgelegt hat: von 945 DM auf 1 045 DM. Wir stan-
den ja in der Nähe, als er das beim Bierchen bespro-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! chen hat. Dagegen habe ich aber nichts einzuwen-
den.
Was ist das für eine Politik, die immer nur kurzfri-
stig reagie rt , aber es versäumt, Ausbildungs- (Heiterkeit bei der SPD - Otto Schily [SPD]:
strukturen zu unterstützen! Da spricht ein Handwerker, der etwas da
von versteht!)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS) Ganz überwiegend verzichten die Gesellinnen und
Gesellen im Handwerk deswegen auf eine Meister-
Mit diesen Worten kommentierte der Handwerksprä- ausbildung, weil sie die finanziellen Belastungen
sident Heribert Späth den Gesetzentwurf zur berufli- nicht tragen können. Diese Finanzängste der jungen
chen Aufstiegsfortbildung. Der Präsident sowie das Menschen muß man ernst nehmen. Sie befinden sich
Präsidium des Deutschen Handwerks hatten sich in im Lebensalter zwischen 25 und 30 Jahren und damit
den letzten Monaten heftig gegen die finanzielle in einer Lebensphase, in der normalerweise eine Fa-
Ausstattung des Meister-BAföGs ausgesprochen. milie gegründet wird und eine gewisse Verfestigung
Die ursprünglich vorgesehene unzulängliche Finan- der Situation eintritt. Dann ein durchschnittliches
zierung der Lebenshaltungskosten bei der Teilnahme Geselleneinkommen von 2 500 bis 3 000 DM netto
an Bildungsmaßnahmen sowie der fehlende Zuschuß aufzugeben und für sich und die Familie mit den ur-
zu den Maßnahmenkosten erregten den Zorn des sprünglich geplanten 945 DM, jetzt nach dem Fest
Handwerks. mit 1 045 DM auskommen zu müssen, kann nur je-
mand fordern, der nicht mit beiden Füßen in der
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist alles vor Wirklichkeit steht, und damit meine ich den Minister.
bei!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
- Das werden wir bei der Anhörung hören. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ebenso wie viele Kritiker hatte das Handwerk Kolleginnen und Kollegen, wer von drohender
durch diese Unzulänglichkeit die positiven Ansätze Meisterlücke redet, der muß wissen, woher das Phä-
der beruflichen Aufstiegsfortbildung gefährdet gese- nomen kommt. Ich will Ihnen das gerne sagen. So-
hen. lange es die Förderung der Meisterkurse im Arbeits-
förderungsgesetz gegeben hat, hatten wir genügend
Es ist doch so, daß wir seit einiger Zeit feststellen Bewerberinnen und Bewerber. Als diese Bundesre-
können, daß immer weniger Gesellen und Gesellin- gierung Ende 1993 die AFG-Förderung abschaffte,
nen die Belastung auf sich nehmen, sich zum Hand- stellten sich für viele potentielle Bewerber die Finan-
werksmeister weiterzuqualifizieren. zierungsprobleme ein, die sie letztlich von der Fo rt
-bildungabhieltn.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Abgeord- Was für Folgen diese Entscheidung für das Hand-
neter Rixe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol- werk und die deutsche Wi rtschaft nach sich zieht,
legen Scherhag? können wir heute, gut zwei Jahre nach Auslaufen
der AFG-Förderung, bereits feststellen. In sehr vielen
Günter Rixe (SPD): Ja, bitte. kleinen und mittleren Handwerksbetrieben kann der
erforderliche Generationswechsel nicht erfolgen. Es
sind nicht genügend Meister vorhanden, die die Be-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte. triebe übernehmen und fortführen können. In den
mittleren Bet rieben sind nicht ausreichend Meister
als Führungskräfte vorhanden, um diese Bet riebe auf
Karl-Heinz Scherhag (CDU/CSU): Herr Kollege Dauer am Markt zu halten. Die Aufgabe und das
Rixe, würden Sie bestätigen, daß der Handwerks- Ende zahlreicher Bet riebsstätten führt zum Ausfall
kammerpräsident Späth nicht das Gesetz, sondern von Teilen der volkswirtschaftlichen Produktion.
lediglich die Ausstattung kritisiert hat und daß wir in Letztlich beeinträchtigt das die Wettbewerbsfähig-
dem Punkt natürlich einer Meinung sind, daß die keit der deutschen Wirtschaft. Das haben nicht wir,
Ausstattung des Gesetzes immer noch besser sein sondern Sie verschuldet, weil Sie in der Tat auf die-
sollte? Handwerkspräsident Späth hat das Gesetz im sem Felde zwei Jahre lang keine Förderung betrie-
Grundsatz begrüßt. ben haben.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Elisa
Günter Rixe (SPD): Ich habe gar nichts anderes ge- beth Altmann [Pommelsbrunn] [BÜNDNIS 90/
sagt. Ich habe gesagt: Insbesondere die finanzielle DIE GRÜNEN])
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5279
Günter Rixe
Tun Sie nicht heute so, als wenn dies etwas ganz eine neue Existenz gründen oder die sich auf mittle-
Neues in dieser Republik wäre. Es ist ein Nachhaken rer Führungsebene um den Fortbestand des Betrie-
nach zwei Jahren. bes kümmern. Vor diesem Hintergrund war der Pro-
test gegen die ursprüngliche Finanzierungsausstat-
(Beifall bei der SPD) tung des Meister-BAföGs berechtigt. Wir haben
diese Kritik aufgenommen und hier im Deutschen
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Bundestag bereits in der Debatte am 16. März - der
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Minister hat ja eben in seiner Rede einige Worte aus
Graf Waldburg-Zeil? meinem Beitrag in dieser Debatte aufgenommen -
unsere Position verdeutlicht. Ich habe damals gesagt,
daß wir besonders darauf achten werden, daß die
Günter Rixe (SPD): Natürlich, gerne. Förderung der Aufstiegsfortbildung, wie sie von der
Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen vor-
Alois Graf von Waldburg-Zeil (CDU/CSU): Herr geschlagen wird, nicht nur ein leeres Versprechen
Kollege Rixe, würden Sie ungeachtet der Auseinan- bleiben darf.
dersetzungen, die selbstverständlich immer zwi-
schen einer Regierungskoalition und der Opposition Heute müssen wir feststellen, daß zwar die ur-
über die Ausstattung eines Programms stattfinden sprünglichen Beträge auf Grund des Protestes und
müssen, nicht prinzipiell mit mir darin übereinstim- des Widerspruchs heraufgesetzt worden sind, näm-
men, daß die Förderung eigentlich besser im Bil- lich um die berühmten 100 DM, aber ein bef riedigen-
dungsbereich angesiedelt ist, als sie es beim AFG des Ergebnis nicht vorgeschlagen wird. Ich will Ih-
war? Das Problem ist ja folgendes: Die Arbeitsförde- nen an Beispielen vorrechnen, warum der vorlie-
rung im Rahmen des AFG soll ja diejenigen in Arbeit gende Gesetzentwurf unbefriedigend ist und wir ihn
bringen, die nicht in Arbeit sind. Deshalb sagt man, deshalb auch jetzt in dieser Form ablehnen müssen.
daß die Aufstiegsfortbildung in diesem Zusammen- Wir müssen ja heute nicht zustimmen; wir haben ja
hang etwas Sekundäres ist. noch die Möglichkeit der Anhörung. Wir wollen ein-
mal schauen, was man dann alles so sagt und ob die
Meinen Sie nicht unabhängig von der anderen Dis- Leute den Mut haben, alles in der Form zu äußern,
kussion, daß diese Verlagerung im Prinzip richtig wie sie das immer hinter vorgehaltener Hand tun.
war? Zwischenzeitlich war die Förderung ja einmal
im Bereich des Wirtschaftsministeriums angesiedelt. Sie wissen, daß ich selbst Handwerksmeister bin
und einen Heizungs- und Sanitärbetrieb habe. Ich
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU habe einige Leute beschäftigt. Ein lediger Geselle
und der F.D.P.) mit 23 Jahren hat bei durchschnittlich 160 Stunden
im Monat und bei einem sehr hohen Stundenlohn
Günter Rixe (SPD): Kollege Graf Waldburg-Zeil, von 27 DM ein Nettoeinkommen von 2 250 DM. Das
natürlich bin ich wie Sie der Meinung, macht also im Jahr 27 000 DM netto. Würde er sich
jetzt entschließen, die Aufstiegsförderung in An-
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist schon spruch zu nehmen, so könnte er maximal 1 045 DM
gut! - Werner Lensing [CDU/CSU]: Wenn netto monatlich und 12 540 DM im Jahr erhalten. Das
Sie mit uns einer Meinung sind, dann reicht bedeutet einen realen Verlust in Höhe von 14 460
das!) DM. Ob er für den durchschnittlich zu kalkulieren-
daß ein solches Gesetz mit Rechtsanspruch richtig ist. den Jahreskurs die maximale Förderung erhält, ist
Wir kritisieren das Gesetz ja nicht in dem Punkt, in bei dem Ledigen nicht sicher, da seine persönliche
dem von einem Rechtsanspruch auf die Weiterbil- Situation und sein Vermögen Grundlage für die Be-
dung die Rede ist. Wir kritisieren es, weil die finan- messung sind. Ob er bei den Eltern wohnt oder nicht,
zielle Ausstattung dieses Gesetzes, 100 Millionen spielt ebenfalls eine Rolle. Das werden Sie sehen,
DM, nicht ausreicht. Ich muß jetzt nicht all das wie- wenn Sie einmal in den diesbezüglichen Paragra-
derholen, was Herr Thönnes gesagt hat. Wir sagen phen schauen. Aber ich will hier nur einmal auf das
grundsätzlich ja zum Gesetz; auch als Handwerks- maximal Mögliche abstellen.
meister bin ich dafür. Bloß bin ich dagegen, daß man Die 12 540 DM für das Meister-BAföG sind nun
es in der Art und Weise, wie in dem Gesetz vorgese- aber keineswegs als Geschenk des Staates zu sehen.
hen, macht. Ich werde gleich noch ein paar Zahlen Lediglich 373 DM monatlich, also 4 476 DM in einem
nennen, bei denen Sie sich fragen werden, ob es Jahr, sind als Zuschuß gedacht. 672 DM im Monat,
überhaupt jemanden gibt, der diese Weiterbildungs- also 8 064 DM im Jahr, werden als Darlehen gege-
möglichkeit nutzt. ben, das verzinst zurückgezahlt werden muß. Es
Wenn in den Betrieben die Personen nicht mehr müssen Einkommenseinbußen auf der einen Seite
vorhanden sind, die eine ordentliche handwerkliche und Darlehensbelastungen auf der anderen Seite be-
Ausbildung vermitteln können, dann fallen weitere achtet werden.
Lehrstellen weg, und es droht Gefahr für ganze Be-
Für den 30 Jahre alten verheirateten Gesellen in
rufszweige.
meinem Betrieb mit einem Kind sieht die Situation
Die Erhaltung und Ausdehnung des Lehrstellenan- folgendermaßen aus: Bei der gleichen Stundenzahl
gebots im Handwerk ist eng verknüpft mit einer aus- und dem gleichen Bruttostundenlohn erhält er rund
reichenden Zahl neuer Handwerksmeister, die für 2 850 DM netto im Monat. Das sind im Jahr 34 200
den Generationswechsel bereitstehen, die selber DM netto. Will er nun das Meister-BAföG in An-
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Günter Rixe
spruch nehmen, so muß er wie folgt rechnen: maxi- bei, diesen Punkt anzusprechen. Das haben wir
mal 1 045 DM monatlich, zuzüglich 420 DM, weil er schon alles registriert; das kommt gleich noch vor. -
verheiratet ist, und 250 DM für das Kind. Er erhält
also einen Unterhaltsbeitrag von monatlich 1 715 (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wer zu spät
DM. Das macht 20 580 DM im Jahr. Gegenüber sei- kommt, den bestraft das Leben!)
nem sonstigen Jahreseinkommen ist das eine Ein- - Ach so, deswegen melden Sie sich immer so früh.
buße von 13 620 DM. Der Zuschuß, den er erhält, ist
genauso hoch wie bei dem ledigen Gesellen, also Der ledige Heizungs- und Sanitärgeselle ist mit ei-
maximal 4 476 DM. Die Mehrleistungen für Ehefrau nem Darlehen in Höhe von 8 064 DM und Kosten
und Kind erhöhen aber seine Darlehensverschul- von 20 000 DM belastet und erleidet eine Einkom-
dung. Er bekommt monatlich ein Darlehen in Höhe menseinbuße von rund 14 500 DM. Insgesamt macht
von 1 342 DM; auf das Jahr gerechnet sind das etwa das einen Betrag von 42 564 DM, zuzüglich der Dar-
16 000 DM. lehensverzinsung über maximal zehn Jahre bei
banküblichen Bedingungen. Eben haben wir gehört:
(Jörg Tauss [SPD]: Das ist familienfeindlich!) Auf Druck der F.D.P. werden die Zinsen jetzt ein biß-
- Ja, das ist wirklich familienfeindlich. chen niedriger, weil sie ein anderes System erfunden
hat.
Zu den Unterhaltsbeiträgen - also dem, was die
Menschen für Nahrung, Kleidung, Wohnen usw. Der verheiratete Geselle mit einem Kind hat neben
brauchen; ich muß das nicht aufzählen - hinzu kom- den Einkommenseinbußen in Höhe von rund 13 600
men die Kosten für den Lehrgang und die Prüfungen DM im Jahr ein Darlehen von 16 000 DM und Maß-
sowie, was bei vielen Meisterkursen üblich ist, die nahmekosten von 20 000 DM zu tragen, also einen
Kosten für die auswärtige Unterbringung, im Internat Jahresbetrag von mehr als 49 000 DM. So teuer ist
oder wo auch immer. Die Spanne für die Maßnahme eine Meisterprüfung in meiner Branche, wenn man
kosten ist recht groß und reicht von 8 000 DM bei der ein Jahr aus dem Betrieb heraus ist und eine Familie
einen Meisterprüfung bis 15 000 DM bei der anderen. hat.
In meiner Branche, der Sanitär- und Heizungstech- Ob dies die an einer Aufstiegsfortbildung Interes-
nik, ist der Betrag sehr hoch - da dauert die Meister- siert en begeistern wird, wage ich in der Tat zu be-
ausbildung genau ein Jahr -, bei der Ausbildung zum zweifeln. Deswegen, Herr Rüttgers, wiederhole ich,
Bäcker- oder Konditormeister wird er vielleicht ein was ich am 16. März gesagt habe: Bei einer Bela-
bißchen niedriger liegen. Rechnet man die Unterbrin- stung von 49 000 DM werden viele Handwerksmei-
gung hinzu, so ist, glaube ich, ein Betrag von 20 000 ster ihren Söhnen, die den Bet rieb irgendwann über-
DM im Jahr durchschnittlich vertretbar, nehmen, sagen: Junge, laß das mal sein. Wir regeln
Ich will Ihnen jetzt noch sagen, mit welchen Bela- das anders, das machen wir schon! - Er braucht die
stungen die Bewerberinnen und Bewerber bei die- 373 DM im Monat dann nicht; für ihn ist es besser,
sem Gesetzentwurf zu rechnen haben, wenn sie ei- wenn er sich nicht soviel Schulden aufhalst, wenn er
nen Meisterkursus mit einer durchschnittlichen den Bet rieb übernimmt. Für ihn ist das überflüssig.
Dauer von einem Jahr absolvieren. Nun kommt von der Regierungsseite zwar sicher
gleich der Einwand - da haben wir es, Herr Hinsken -,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege daß das Gesetz für bestimmte Situationen den Erlaß
Rixe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen der Hälfte des Darlehens für die Lehrgangs- und
Hinsken? Prüfungsgebühren vorsieht. Das ist zwar richtig, aber
ich muß gleich gegenhalten: Das betrifft nur die
Hälfte der Maßnahmekosten, d. h., bei meinem Bei-
Günter Rixe (SPD): Ja, ich werde doch meinem
spiel verbleiben immer noch 10 000 DM verzinslich.
Kollegen Handwerksmeister nicht die Zwischenfrage Außerdem bleibt es bei einer vollen Darlehensrege-
verwehren.
lung hinsichtlich der Unterhaltsbeiträge.

Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Rixe, Liebe Kolleginnen und Kollegen, der überwie-
pflichten Sie mir bei, wenn ich feststelle, daß sich gende Teil der Absolventen der Meisterkurse wird
Bundesbildungsminister Rüttgers sehr wohl dieses gar nicht betroffen sein. Ich gehe davon aus, daß 60
Problems bewußt war; denn gerade Meistern, die für bis 70 % eine Meisterprüfung ablegen wollen, weil
die Meisterprüfung dieses Darlehen in Anspruch ge- sie in ihren Betrieben den Aufstieg beabsichtigen,
nommen haben, will er dieses Darlehen nach einiger ihre persönliche Situation verbessern wollen, um ihre
Zeit erlassen, wenn sie bereit sind, sich selbständig Arbeitsfähigkeit in diesem Arbeitsmarkt durch Qua-
zu machen, mindestens zwei Arbeitsplätze schaffen lifikation abzusichern, also sich nicht selbständig ma-
und diese mindestens vier Monate vorhalten? Das ist chen wollen. Diese Mehrheit wird keine Existenz
doch ein Schritt in die richtige Richtung. Das haben aufbauen. Also gibt es für sie keine Möglichkeit, ihre
Sie vergessen zu sagen. Daran wollte ich Sie noch- Darlehensverschuldung zu reduzieren.
mals erinnern. Das Gesetzesvorhaben ist vom Grundsatz her rich-
(Beifall bei der CDU/CSU) tig. Das habe ich immer wieder betont. Die vorgese-
hene Ausstattung kann unsere Zustimmung leider
nicht finden. Die Förderung der Maßnahmekosten
Günter Rixe (SPD): Wie eben bei Herrn Thönnes muß deutlich verbessert und die Unterhaltsbeiträge
fragen Sie zu früh, Herr Hinsken. Ich bin gerade da- müssen deutlich höher als Zuschuß ausgewiesen
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Günter Rixe
werden. Ich hoffe, Ihnen mit diesen konkreten Bei- dem, was wir jetzt vorschlagen, den ihr gebotenen
spielen einmal gezeigt zu haben, wie teuer eine Mei- eigenen Sachverstand lebendig unter Beweis gestellt -
sterprüfung im Handwerk ist und was man aufbrin- und auch eine begeisternde Befähigung zu kreativen
gen muß. Dazu dann 373 DM als Zuschuß für ein Lösungsvorschlägen verantwortungsvoll aufgezeigt.
Jahr zu bekommen, Graf Waldburg, ist in der Tat bei
einer Belastung von 49 000 DM lächerlich. Deswegen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
sagen wir - ich verweise auf Herrn Thönnes -, daß Ich denke, ein gesunder Mittelstand ist es, der un-
die Regelung im AFG eben besser war. Da bekam sere Marktwirtschaft retten wird. Ohne Marktwirt-
man noch 65 % Unterhaltsgeld. Der Auszubildende schaft wiederum gefährden wir Demokratie und Frei-
lebte im Grunde genommen mit seiner Familie wei- heit.
terhin so, als wenn er arbeiten würde. Das wollten
wir erreichen und nicht das, was Sie auf den Tisch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
gelegt haben. und der F.D.P.)
Danke schön. Aus diesem Grunde komme ich zu meinen Rahmen-
bedingungen, die jetzt unser Handeln bestimmt ha-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben.
DIE GRÜNEN)
Faktum Numero eins: In den 50er Jahren zählten
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat wir noch 9,2 Millionen Selbständige, heute gerade
jetzt der Abgeordnete Werner Lensing. noch 3,6 Millionen im vereinigten Deutschland.
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
Werner Lensing (CDU/CSU): Frau Präsidentin Dabei gilt es zu bedenken, daß rund 80 % aller
Vollmer! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Arbeitnehmer in mittelständischen Unternehmen
Ich beginne im Vorfeld mit einem Zitat von Herrn
beschäftigt sind, diese mittelständischen Unterneh-
Thönnes, der es natürlich auch übernommen hat:
men wiederum nicht von ungefähr zwei Drittel unse-
„Meister sind noch nie vom Himmel gefallen". Wenn
rer Sozialsysteme mitfinanzieren. Sie zahlen 80 %
man einige Beiträge gerade aus der Opposition ge-
aller Ertragsteuern unserer Wirtschaft. Allein im
hört hat, findet man sofort eine lebendige Bestäti-
Handwerk arbeiten bei uns mehr Menschen als in
gung just dieser These. der gesamten deutschen Großindustrie. Dies gilt es
(Franz Thönnes [SPD]: Die Sie jetzt fortset zu beachten. Dies machen wir mit unserem Entwurf.
zen wollen!)
Faktum Numero zwei: Andererseits sollten wir
- Hören Sie doch zu! In Wirklichkeit - das sage ich auch darauf hinweisen dürfen, daß die Handwerker
Ihnen doch mit aller Gelassenheit - haben Wort- in der Vielfalt ihrer Berufe auch heute nicht mehr von
schwall und Phrasenflut bei Ihnen - das merke ich den Schwierigkeiten verschont sind, mit denen sich
auch an den Zwischenrufen - wieder einmal die die deutsche Wirtschaft insgesamt herumzuschlagen
Hochwassermarke erreicht. Wenn Sie, Herr R ixe, hat.
jetzt mit den Rechenbeispielen kommen, dann sage
ich zunächst ganz schlicht und einfach: Früher gab So klagen Handwerker über erhebliche Belastun-
es gar nichts im Bereich eines Meister-BAföG. gen durch Steuern und Abgaben. Sie leiden unter
den hohen Lohnforderungen ihrer Mitarbeiter. Sie
(Lachen und Widerspruch bei der SPD - spüren immer stärker die Konkurrenz tüchtiger
Günter Rixe [SPD]: Doch! Doch! - Wolf-Mi Handwerkskollegen aus dem europäischen Ausland.
chael Catenhusen [SPD]: Sie haben es doch Ich meine, daher ist es um so wichtiger, den bedrük-
erst vor zwei Jahren ageschafft!) kenden Rückgang der Anmeldungen zu beruflichen
Fortbildungskursen zu bremsen. Schließlich werden
Jetzt soll es etwas im Sinne dieser Förderung geben.
gerade junge Handwerksmeisterinnen und Hand-
Wir werden gleich noch auf die Beträge eingehen,
werksmeister aus den Gründen, die wir eben schon
Herr Rixe.
gehört haben, dringender denn je gebraucht. Auch
(Günter Rixe [SPD]: Wie ihr das immer um dieses gilt es zu beachten. Unsere Fraktion und die
drehen könnt, ist mir unbegrei flich!) der F.D.P. werden das tun. .
- Sie lachen hier. Doch wer zuletzt lacht, hat nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
eher begriffen. Das ist ganz eindeutig. und der F.D.P.)
Ich will einmal versuchen, ohne Umschweife und Faktum Numero drei: Wir haben schon gehört, wo
directement von einer kurzen, aber deutlichen Be- man in den nächsten Jahren mit einem Generations-
schreibung unserer gegenwärtigen bildungspoliti- wechsel zu rechnen hat. In einem hohen Ausmaß ist
schen Situation auszugehen, damit man erkennt, an diese Nachfolge - wir wissen es - bedauerlicher-
welchen Stellen die Bundesregierung und damit weise nicht gesichert, weil die hohe Arbeitsbelastung
auch die Koalitionsfraktionen akuten Handlungsbe- einer selbständigen Tätigkeit die eigenen Kinder ab-
darf erkannt haben. schreckt. Dies wiederum erschreckt mich; schließlich
brauchen wir immer mehr Menschen in Deutschland,
(Franz Thönnes [SPD]: Geschaffen hat!)
die bereit sind, mit Mut zum Risiko und mit dem aus-
Schließlich - das ist jedem von uns bekannt - hat die geprägten Willen selbst etwas auf die Beine zu stel-
Bundesregierung und die sie tragende Koalition mit len und eine eigene Existenz aufzubauen. Auch dies
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Werner Lensing
gilt es zu beachten. Auch dies werden wir seitens der terium für die Stabilisierung des Wirtschaftswachs-
Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung tun. tums akzeptieren können. -

Faktum Numero vier: Es ist ein sehr ernster Sach- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
verhalt, meine ich, daß an unseren Universitäten und ordneten der F.D.P.)
Hochschulen viel zu viele junge Menschen am kon-
kreten Bedarf vorbei ausgebildet werden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Leider wahr!) eine Zwischenfrage des Kollegen Glotz?

Gleichzeitig fehlt in manchen Lehrberufen der drin-


Werner Lensing (CDU/CSU): Das freut mich rich-
gend benötigte Nachwuchs.
tig.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Für neue Berufsfelder gibt es keine adäquate Aus- Dr. Peter Glotz (SPD): Herr Kollege Lensing, wür-
bildung. Studienabbrecher und Arbeitslose belasten den Sie mir sagen, wohin wir die Studierenden schik-
die Volkswirtschaft, ganz zu schweigen von den indi- ken sollen, wenn die Großindustrie gleichzeitig sy-
viduellen Schicksalen, die unser Bildungssystem her- stematisch - gezwungen oder nicht - die Ausbil-
vorbringt. Gleichwohl reißt der Strom zu den Gym- dungsplätze abbaut. Was sollen wir mit den jungen
nasien und zu den Hochschulen nicht ab. Leuten machen? Sollen wir sie aus Deutschland weg-
schaffen? Oder was schlagen Sie vor, mit ihnen zu
Natürlich bin ich für die Formeln „Bildung und machen?
Ausbildung für alle" und „Chancengleichheit", aber (Beifall bei der SPD)
dies bitte möglichst nur in den Grenzen der indivi-
duellen Fähigkeiten. Die Binsenwahrheit, daß alle Werner Lensing (CDU/CSU): Ich habe heute wie-
Menschen verschieden sind, muß Ke rn und Aus-
derholt Zwischenfragen aus Ihrer Fraktion gehört.
gangspunkt jeder Bildungspolitik bleiben.
Wenn Sie die Geduld gehabt hätten, meine Ausfüh-
(Günter Rixe [SPD]: Wie viele dürfen es rungen zu Ende anzuhören, hätten Sie bereits eine
denn sein?) Antwort. Ich will es aber schon an dieser Stelle versu-
chen.
- Jetzt werden Sie mal nicht so unruhig, mein lieber
Kollege. Gleichheit mag vielleicht ein Recht sein; Ich bin sehr wohl der Auffassung, daß wir nicht al-
aber keine menschliche Macht kann sie in die Tat len, die meinen, zur Universität gehen zu sollen, den
umsetzen. Wir müssen auf die verschiedenen Diffe- Zugang dorthin gewähren sollten, und dies zum
renzierungen Rücksicht nehmen. Das werden wir bei Schutze des einzelnen. Wenn man mit 24 oder
diesem Gesetzentwurf beachten. 25 Jahren erkennen muß, wie wenig man für den ge-
wählten Beruf geeignet ist, dann ist das eine traurige
Faktum Numero fünf: An allen Ecken und Kanten Sache. Deswegen bin ich der Auffassung: Wir müs-
- das wissen wir - fehlt das Geld, das sich über Jahr- sen die Ströme mehr in Richtung Fachhochschulen
zehnte mit einer Flut von Leistungsgesetzen über das und auch in Richtung berufliche Ausbildung lenken.
Volk ergossen hat. Vor diesem Hintergrund gehen wir hin - das ist un-
(Lachen und Widerspruch bei der SPD) bestritten, wohl auch bei Ihnen, ganz egal, welches
Gesetz Sie bemühen - und fördern beispielsweise
- Ich freue mich, daß Sie so unruhig sind; denn an den Erwerb des Meisterbriefs.
sich sehe ich darin eine Bestätigung aller meiner
(Günter Rixe [SPD]: Auf welcher Schule
Thesen: Die Wahrheit zu ertragen ist immer etwas
sind Ihre vier Söhne?)
schwierig. Das weiß wahrscheinlich ein jeder von
uns. - Ich bin ganz gerührt, Herr R ixe, daß Sie daran so
lebhaften Anteil nehmen. Meine vier Söhne - das
(Franz Thönnes [SPD]: Was sagen denn Ihre will ich gern mit einigem Stolz im Bundestag verkün-
Kollegen?) den - informieren sich in der Vielfalt der Möglichkei-
Gleichzeitig hat dieser Staat Schleusen im Bil- ten der Ausbildung. Dazu gehören u. a. auch die
dungssystem geöffnet und für Millionen junger Men- Fachhochschulen. Ist das nicht etwas Nettes, Herr
schen Hürden beseitigt, so daß die Ausbildungs- und Rixe? Ich freue mich, daß Sie diese Frage gestellt ha-
Bildungsströme die Hochschulen hemmungslos ben.
zuschwemmen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
(Dr. Peter Glotz [SPD]: Was heißt „hem Günter Rixe [SPD]: Also alle auf dem Gym
mungslos"?) nasium!)

mit der Folge einer gigantischen Verschiebung der Meine Damen und Herren, ich möchte noch einige
Kosten von der Privatwirtschaft auf den Staat. Bemerkungen zum Ausbildungsförderungsgesetz
machen. Wir haben bisher beklagt, daß wir zuwenig
Hemmungslos, Herr Dr. Glotz, heißt für mich, daß im Bereich der handwerklichen Ausbildung getan
wir zur Zeit beispielsweise 1,9 Millionen Studenten haben. Bund und Länder werden demnächst nach
auf 900 000 Studienplätzen haben. Diese sollen u. a. dieser Gesetzesvorlage etwa 1 Milliarde DM an Zu-
in die berufliche Ausbildung gehen, weil wir die ver- schüssen und Darlehen aufbringen. Deswegen sage
kopfte Bildung in Deutschland nicht als einziges Kri- ich sogleich, daß die Klage, für die außerbetriebli-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5283
Werner Lensing
chen Ausbildungsplätze würden zum wiederholten zuwenig betont - die Familienkomponente einge-
Mal Mittel in der Größenordnung von 850 Millionen führt wird, dann muß der Zuschuß gesenkt werden. -
DM bereitgestellt, für die Aufstiegsfortbildung aber Das ist eine mathematische Aufgabe, die ein jeder lö-
angeblich viel zuwenig, höchst unse riös ist - und sen kann.
jetzt komme ich auf Ihre Fragestellung zurück, Herr
Da hier so oft Verbände und andere Institutionen
Dr. Glotz -, ist doch die Finanzierung überbetriebli-
zitiert wurden, möchte ich zum Schluß eine Resolu-
cher Ausbildung nur deswegen notwendig gewor-
tion des Zentralverbandes des Deutschen Hand-
den, weil nicht alle Bereiche der Wi rtschaft, wie vor-
werks vom 5. September 1995 zitieren dürfen:
hin bereits erläutert, ihrer Verpflichtung zur Bereit-
stellung betrieblicher Ausbildungsplätze in ausrei- Das Präsidium begrüßt die Vorlage des Gesetz-
chendem Maße nachgekommen sind. Allein deswe- entwurfs zur Förderung der beruflichen Auf-
gen ist eine Auffangfinanzierung des Bundes nötig stiegsfortbildung. Damit wird einer dringenden
geworden. Das muß man den Kritikern an dieser Forderung des Handwerks entsprochen, durch
Stelle einmal sagen. eine finanzielle Förderung der Aufstiegsfortbil-
dung einen Beitrag zur angestrebten Gleichwer-
Ein nächster Gedanke: Wir sollten mit dem Begriff
tigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung
Meister-BAföG etwas vorsichtiger umgehen.
zu leisten. Auch die vorgesehene arbeitsmarkt-
(Günter Rixe [SPD]: Das habe ich auch im politische Komponente für Existenzgründungen
mer gesagt!) stellt eine wichtige Maßnahme dar, berufliche Bil-
dung und Arbeitsmarkt wieder stärker zusam-
- Aber aus anderen Gründen, Herr Rixe. - Da unser menzuführen.
Gesetzentwurf nicht nur auf die künftigen Industrie-
und Handwerksmeister bezogen ist, sondern auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Techniker, Fachkaufleute, Betriebswirte und Kräfte
aus dem Gesundheitswesen, aus dem sozialpflegeri- Im übrigen, meine Damen und Herren, vertrauen
schen und pädagogischen Bereich erreichen möchte, wir darauf, daß die mit dem Aufstiegsfortbildungsför-
sollten wir, Herr Thönnes, mit der Verwendung des derungsgesetz verknüpften Erwartungen eintreten
zu einseitig auf das Handwerk fixierten Beg riffs des werden, daß also die ca. 90 000 Teilnehmer pro Jahr
Meister-BAföG etwas vorsichtiger sein anschließend ca. 20 000 Unternehmen gründen,
durch die allein im Gründungsjahr - wir haben das
(Franz Thönnes [SPD]: Freut uns, daß Sie heute schon gehört - rund 60 000 neue Arbeitsplätze
das jetzt auch erkennen!) geschaffen werden können. Na bitte, sage ich. Wenn
das kein Beitrag zur Stabilisierung des Wirtschafts-
und tatsächlich mehr von einem Gesetz zur Förde-
standorts Deutschland ist!
rung beruflicher Fortbildung sprechen.
Vielen Dank.
(Franz Thönnes [SPD]: Sehr richtig!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
- Na klar, warum sollen nicht auch Sie zur Einsicht
Günter Rixe [SPD]: Das war aber Hoff
befähigt sein? Denn ein Katarakt der Empörung al-
nung!)
lein hilft uns auch nicht weiter.
Meine Damen und Herren, es wird behauptet, Stu- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie
denten würden nach wie vor einseitig bevo rteilt. Das noch. eine Zwischenfrage? Da Sie noch Zeit hätten,
mag in Teilaspekten der Fall sein. Ich will deshalb könnte ich sie, wenn Sie wollen, zulassen.
auch nicht behaupten, daß wir mit dieser Gesetzes-
vorlage bereits alles getan haben, um sagen zu kön-
nen: Wir haben nunmehr die Gleichwertigkeit von Werner Lensing (CDU/CSU): Ich will immer, wenn
akademischer und beruflicher Ausbildung voll er- Herr Thönnes mit einer Frage kommt.
reicht. Wenn allerdings behauptet wird, Studenten
erhielten zu günstigeren Konditionen die notwen- Franz Thönnes (SPD): Herr Kollege Lensing, unter
dige Krankenversicherung, so ist auch dies zu beach- Bezugnahme auf Ihre Erklärung, daß es nun an der
ten: Die Zeit der Entrichtung von Sozialversiche- Zeit sei, den Begriff nicht auf das Meister-BAföG ein-
rungsbeiträgen wird bereits nach geltendem Recht zugrenzen: Darf ich dies auch als Kritik verstanden
bei Teilnahme an Vollzeitbildungsmaßnahmen als wissen - die wir bei den Beratungen immer geäußert
Anrechnungszeit anerkannt. Unsere Förderung für haben - an der Pressemitteilung des Bundesministers
die Krankenkassen beträgt nach dem Vorschlag kon- für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technolo-
kret etwa 75 DM, und auch zum Pflegebeitrag haben gie z. B. vom 21. September dieses Jahres - das ist
wir einen Zuschuß in Höhe von 10 DM vorgesehen. noch gar nicht so lange her - mit der Überschrift
Wenn nun gesagt wird, daß die Lebenshaltungsko- „Bundeskabinett beschließt Meister-BAföG" und
sten für Studenten mit 50 % bezuschußt, bei unserer gleichfalls an der Mitteilung vom 23. Juni 1995 aus
Maßnahme für die berufliche Fortbildung aber ledig- dem Bundeswirtschaftsministerium „Förderung der
lich 35 % angesetzt würden, so ist zu bedenken, daß Aufstiegsfortbildung - Meister-BAföG "? Kritisieren
man sich ursprünglich an dem BAföG-Höchstsatz Sie auch diese Pressemitteilungen jetzt aufs heftig-
von 945 DM orientieren wollte, von dem bekanntlich ste?
50 % als Zuschuß und 50 % als Darlehen gewährt
werden. Wenn nunmehr der Höchstsatz auf 1 045 DM Werner Lensing (CDU/CSU): Davon können Sie
festgesetzt und dazu noch - das wird mir heute viel nicht ausgehen, weil ich andere Presseerklärungen
5284 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Werner Lensing
habe; ich habe sie allerdings jetzt nicht bei mir, da dien, z. B. an Universitäten oder Technischen Hoch-
ich nicht um Ihre Fragestellung wußte. schulen, und der Anrechnung von Studiensemestern
zu klären sowie die Frage, ob die BA-Absolventen
(Lachen bei der SPD)
den Fachhochschulabsolventen bei der Promotions-
Aus ihnen gehen beide Begriffe, von denen ich eben zulassung gleichgestellt werden sollten.
gesprochen habe, immer wieder eindeutig hervor.
(Zuruf von der F.D.P.: Das ist richtig!)
Ich kann Ihnen diese Presseerklärungen aber gern
nachreichen, wenn Sie das wünschen. Für die Fachhochschulen stellt sich mit einer sol-
(Franz Thönnes [SPD]: Die anderen habe chen Novelle die berechtigte Frage, warum es er-
ich auch!) möglicht werden soll, diese mit den Berufsakade-
mien vergleichbar zu machen, während ihnen die
- Auch die hätten Sie dann, finde ich, zitieren kön- Vergleichbarkeit mit den Universitäten weiter vor-
nen. enthalten wird, und ob es etwa auch noch zu einer
Aufteilung der für die Fachhochschulen ohnehin
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat die Ab- knappen Finanzmittel zugunsten der Berufsakade-
geordnete Doris Odendahl das Wo rt . mien kommen wird. Gerade die Fachhochschulen
haben in letzter Zeit zusammen mit der Wirtschaft
Pläne zu einer stärkeren Dualisierung ihrer Ausbil-
Doris Odendahl (SPD): Frau Präsidentin! Meine dung gefaßt, die durch eine solche Regelung nicht
Damen und Herren! Wenn die Regierungskoalition unterlaufen werden dürfen.
endlich versucht, den Flurschaden, den sie mit der
Streichung der - ich will bei der Wortschöpfung ein- Wenn Sie dennoch der Meinung sein sollten, das
mal etwas kreativ sein - Meisterinnen-Förderung im HRG sei reformbedürftig, dann will ich Ihnen gerne
AFG angerichtet hat, wiedergutzumachen, ist dage- ein paar Punkte aufzeigen, bei denen wir Regelungs-
gen nichts einzuwenden, im Gegenteil. Die SPD- bedarf sehen: Wo bleibt denn Ihre HRG-Novelle zum
Fraktion hat Sie seit der von Ihnen in namentlicher Hochschulzugang für qualifizierte Berufstätige? Wo
Abstimmung getroffenen Fehlentscheidung immer bleibt Ihr Vorschlag zur Verankerung der Frauenför-
wieder dazu aufgefordert. Daß der heute vorgelegte derung im HRG? Wo bleibt Ihr Beitrag zu einer mo-
Gesetzentwurf zur Förderung der beruflichen Auf- dernen Personalstruktur mit einer Rücknahme Ihrer
stiegsfortbildung diese notwendige Wiedergutma- längst überholten Oberassistenten-Hierarchie? Wie
chung nicht leistet, haben meine beiden Kollegen regeln Sie die Forderung nach mehr Autonomie der
Franz Thönnes und Günter Rixe schon zum Aus- Hochschulen, verbunden mit der Notwendigkeit von
druck gebracht. Offenbar waren auch Sie selbst der mehr Mitbestimmung?
Meinung, daß Ihr Reformvorhaben als Signal für den
Stellenwert der beruflichen Bildung noch etwas ver- Meine Damen und Herren, anstatt mit einer sol-
ziert oder aufgemotzt werden müßte, verziert mit Ih- chen Bonsai-Novelle Reformfähigkeit vorzutäuschen,
sollten Sie sich den notwendigen Hochschulfragen
rem Entwurf eines Gesetzes zur Novellierung des
stellen. Wir helfen Ihnen gern dabei.
Hochschulrahmengesetzes, um durch eine bundes-
rechtliche Regelung die Anerkennung von Ab- Noch eine letzte Bemerkung zu dieser verbunde-
schlüssen der Berufsakademien zu erreichen. nen Debatte: Wenn zum HRG eine Bonsai-Novelle
Seit Mitte der 80er Jahre hat sich vor allem das vorgelegt wird, dann sollten Sie die Kritik der Hand-
Land Baden-Württemberg - mit gutem Grund, Herr werkskammer Osnabrück-Emsland an Ihrem Gesetz-
Minister Trotha - um eine Regelung im HRG bemüht, entwurf zur Aufstiegsfortbildung ernst nehmen. Sie
was innerhalb der KMK ganz heftig umstritten war. spricht in einem Beitrag von einer kosmetischen Kor-
Nun hat sich zum Glück die KMK auf der letzten Sit- rektur am Meister-BAföG und führt weiter aus:
zung am 23. September dieses Jahres in Halle ge- Wenn nicht eine Erhöhung des Gesamtvolumens
einigt und einen Beschluß gefaßt, der vorsieht: Es über die bisher insgesamt vorgesehenen 200 Mil-
gibt den Diplomtitel (BA) und die berufsrechtliche lionen hinaus - die Sie auch nicht haben, Herr Rütt-
Gleichstellung mit dem Ziel, Absolventinnen und gers - erfolgt, werde der Anschub zu neuen Existenz-
Absolventen von Berufsakademien unter die Hoch- gründungen nicht erreicht. Schließlich habe die frü-
schulrichtlinie der EG fallen zu lassen. Somit ist von here AFG-Förderung 800 Millionen DM betragen. -
seiten der KMK - ich empfinde das als Glück - der Ein Glück, daß die Handwerker auf jeden Fall besser
Streit beigelegt und die HRG-Novelle nach Einschät- rechnen können als die Bundesregierung.
zung von Experten gar nicht mehr notwendig. Wenn
überhaupt eine solche Notwendigkeit bestünde, (Beifall bei der SPD)
müßte bei Ihrer nun überflüssigen Miniaturnovelle
noch „Butter bei die Fische". Es müßte geklärt wer- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Für den Bundes-
den, ob die vorliegenden Kriterien ausreichen; denn rat erhält jetzt der Herr Landesminister für Wissen-
der Entwurf ist auf die baden-württembergischen Be- schaft und Forschung des Landes Baden-Württem-
rufsakademien ausgerichtet, während es in anderen berg, Klaus von Trotha, das Wort.
Bundesländern ganz unterschiedliche Einrichtungen
gibt. Hier empfiehlt sich auf jeden Fall eine Anhö-
rung, gemeinsam mit dem Wirtschaftsausschuß. Minister Klaus von Trotha (Baden-Württemberg):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Sehr
Ferner wäre die Frage des Zugangs von Absolven- geehrte Herren! Wenn ein Landesminister - noch
ten der Berufsakademien zu weiterführenden Stu- dazu in der ureigenen Kompetenzmaterie des Bil-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5285
Minister Klaus von Trotha (Baden-Württemberg)
dungswesens - im Deutschen Bundestag die Gele- württembergischen Berufsakademien überzeugend
genheit erhält, das Wo rt zu ergreifen, dann muß es dargetan, als er schrieb, -
sich schon um ein besonderes Anliegen handeln.
daß die an den Berufsakademien des Landes Ba-
Ich danke den Fraktionen der CDU/CSU und der den-Württemberg ausgebildeten Ingenieure, Be-
F.D.P. für ihre Initiative zur Ergänzung des Hoch- triebswirte und Sozialpädagogen aus der Sicht
schulrahmenrechts mit dem Ziel, die Gleichstellung der Berufspraxis eine von den entsprechenden
der Abschlußexamina der Berufsakademien nach Fachhochschulabsolventen in einzelnen Qualifi-
baden-württembergischem Muster mit den Ab- kationsmerkmalen unterschiedliche, im Gesamt-
schlüssen der Fachhochschulen herbeizuführen. bild jedoch gleichwertige Ausbildung erhalten.
Wenn heute nicht mehr, wie noch in den 60er Jahren,
6 % eines Alterjahrgangs, sondern bald 40 % der jun- Meine Damen und Herren, es ist mehrfach darauf
gen Menschen irgendwann im Verlauf ihres Lebens hingewiesen worden, daß die Kultusministerkonfe-
eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben, renz am 28./29. September ohne Gegenstimme die
dann muß die politische Antwort darauf sein, unsere Anerkennung der Berufsakademien beschlossen
Bildungslandschaft so zu gestalten, daß sie den viel- hat. Wenn dieser Beschluß auch nicht so weit geht
fältigen Neigungen sowie den unterschiedlichen Be- wie der vorliegende Gesetzentwurf, weil er noch in
gabungen und Erwartungen der jungen Menschen hochschul- und berufsrechtliche Regelungen bei
und des Arbeitsmarktes gerecht wird. Bund und Ländern umgesetzt werden muß, so freue
ich mich doch, daß die Länder ihre Kompetenz in Bil-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU dungsangelegenheiten wahrzunehmen imstande
und der F.D.P.) waren.
Der weltweit in engster Verbindung stehende Ar- Allerdings, Frau Böttcher und Frau Odendahl, ir-
beitsmarkt, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wi rt ren Sie sich, wenn Sie daraus die Folgerung ziehen,
-schaftundieLgkrsBilduny- § 70 a Hochschulrahmengesetz sei überflüssig. In
stems erfordern nicht gleichmache rische Modelle, Wirklichkeit wäre dies ein Rückfall in alte Ableh-
sondern eine Diversifizierung der Angebote. Baden- nungen der Berufsakademie. Ich will das nachwei-
Württemberg hat sich deshalb konsequent für ein dif- sen: Durch die Verweisung auf § 70 Abs. 3 Satz 2
ferenziertes tertiäres Bildungssystem entschieden. HRG gilt damit die Ausbildung als abgeschlossenes
Universitäten, Fachhochschulen und Berufsakade- Hochschulstudium im Sinne des Hochschulrahmen
mien unterscheiden sich dabei nach ihrem Theorie- rechts, und diese Bestimmung gilt nach § 72 Abs. 1
anteil, dem Grad ihres Anwendungsbezugs und dem Satz 5 HRG unmittelbar und bedarf nicht der Um-
Ausmaß der Einbeziehung der Berufspraxis. In die- setzung in das jeweilige Landesrecht. Das ist der
sem System haben die Berufsakademien ihren festen Vorzug des Gesetzentwurfes der beiden Koalitions-
Platz. Als einzige setzt die Berufsakademie das be- fraktionen.
währte duale System der Wechselausbildung zwi-
Der für die Länder getroffene Beschluß gilt zu-
schen Bet rieb und Staat in den tertiären Bereich hin-
gleich europaweit, da die Kultusministerkonferenz
ein fo rt . Sie realisie rt damit die immer wieder einge-
festgestellt hat, daß die baden-württembergischen
forderte Gleichwertigkeit von allgemeiner und be-
Berufsakademieabschlüsse unter die Hochschuldi-
ruflicher Bildung - das durchgehende Thema unse-
plomrichtlinie der EU fallen, die eine mindestens
rer Debatte heute morgen.
dreijährige Berufsausbildung voraussetzt.
Die Berufsakademie lebt aus der gemeinsamen
Verantwortung von Staat und Wirtschaft. Sie hat ihre Vizepräsident Hans Klein: Herr Minister, gestatten
Stärken do rt , wo die Hochschulen ihre Schwächen Sie eine Zwischenfrage?
haben: bei der Kenntnisnahme der Arbeitswelt, bei
dem Erwerb von Sozial- und Handlungskompeten-
zen. Die Absolventen der Berufsakademien sind Minister Klaus von Trotha (Baden-Württemberg):
nach ihrem Studium unmittelbar und ohne Trainee Selbstverständlich gem.
phase in den Betrieben einsatzfähig. Qualität ist frei-
lich nie Zufall. Gütesiegel der Berufsakademien ist Doris Odendahl (SPD): Herr Minister, können Sie
die integrierte Vermittlung wissenschaftlicher Er- bestätigen, daß es Bestandteil dieser Vereinbarung
kenntnisse und berufspraktischer Erfahrungen. der Kultusminister war, die wir gemeinsam begrüßen
(Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein) - wir sind ja sehr froh darüber -, daß eben dadurch
eine Regelung im Hochschulrahmenrecht überflüssig
Von einem solchermaßen gegliederten Bildungs- wird?
system gehen Wettbewerbsimpulse aus, die für alle
beteiligten Institutionen heilsam sind. So hat auch
Minister Klaus von Trotha (Baden-Württemberg):
die Existenz der Berufsakademien in Baden-Würt-
Nein, das kann ich nicht bestätigen, weil ich gerade
temberg den Fachhochschulen überhaupt nicht ge-
durch Textexegese darzulegen versucht habe, daß
schadet. Im Gegenteil, Fachhochschulen und Berufs-
der Gesetzentwurf, der hier vorliegt, weiterführt als
akademien haben ein je ausgeprägtes eigenes Profil
der Beschluß der Kultusministerkonferenz.
entwickelt. Beide bilden berufsfähige junge Men-
schen aus, aber mit unterschiedlicher Methode. Den
Nachweis für das Gelingen dieser Zielsetzung hat Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie eine wei-
der Wissenschaftsrat in seiner Evaluation der baden tere Frage?
5286 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Minister Klaus von Trotha (Baden-Württemberg): Meine Damen und Herren, ich weiß, daß die Mehr-
Bitte schön. heit dieses Hauses die Arbeit der Berufsakademien
kennt, sie schätzt und ihnen die bundesweite Aner-
Doris Odendahl (SPD): Anschlußfrage: Herr Mi- kennung nicht vorenthalten will. An die, die sich
dem noch nicht anschließen konnten, appelliere ich,
nister von Trotha, müssen sich denn nach dem Inhalt
der Vereinbarung der KMK und angesichts der Tat- ihre bisherige Haltung zu überprüfen. Mit Ihrer Un-
sache, daß ein Gesetzentwurf vorliegt, die Kultusmi- terstützung würden Sie nicht nur endlich eine vor-
zügliche Ausbildung anerkennen, die sich in der Pra-
nister nicht noch einmal darüber unterhalten, ob jetzt
xis hervorragend bewährt hat, sondern auch eine
diese weitergehende Regelung auch einhellig so ge-
Einrichtung fördern, die zu den erfolgreichsten Inno-
tragen wird? Ich habe ganz gegenteilige Äußerun-
vationen des Bildungswesens der Nachkriegszeit ge-
gen gehört.
hört.

Minister Klaus von Trotha (Baden-Württemberg): Herzlichen Dank.


Frau Kollegin Odendahl, ich weiß, daß Sie positiv zur (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Berufsakademie stehen. Damit sind Sie aber nicht un-
bedingt repräsentativ für Ihre politischen Freunde. Es
wird in der Tat unser Problem sein, ob im Bundesrat Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Ernst Hin-
von seiten der A-regierten Bundesländer die Neigung sken, Sie haben das Wo rt .
besteht, diesem erweiterten Wunsch der Fraktionen
von CDU/CSU und F.D.P. Rechnung zu tragen. Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Präsident! Ver-
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das wird ehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Thön-
damit bundesweit eingeführt! Das ist das nes, wenn auch nicht alle Wünsche, die zum Teil be-
Entscheidende!) rechtigt sind, sofort erfüllt werden können, so meine
ich doch, die heutige Debatte und den Einstieg in
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch den Umbau des Bildungssystems mit der Überschrift
auf folgendes hinweisen: Die Berufsakademien sind „Der Spatz in der Hand ist mir lieber als die Taube
nicht nur eine qualitativ, sondern auch eine quantita- auf dem Dach" versehen zu können. Es wird hier ein
tiv erfolgreiche Bildungseinrichtung. 34 000 Absol- großartiger, vernünftiger Umbau vorgenommen,
venten haben inzwischen ihren Arbeitsplatz als Di- durchgeführt von unserem Bundesbildungsminister,
plom-Ingenieur, als Diplom-Betriebswirt oder Di- Dr. Rüttgers.
plom-Sozialpädagoge gefunden. Daß dies keine
quantité négligeable ist, soll Ihnen eine Zahl verdeut- Unser Bundespräsident Herzog hatte recht, als er
lichen: 1992 kamen 43 % der Abgänger aus wirt- vor circa einem Jahr den Bundessiegern der Hand-
schaftswissenschaftlichen Studiengängen in Baden- werksjugend zurief:
Württemberg von den Berufsakademien gegenüber Wir brauchen nicht mehr Doktortitel, sondern
26 % von den Fachhochschulen und 31 % von den mehr Meistertitel.
Universitäten. Das Durchschnittsalter der Absolven-
ten liegt im langjährigen Mittel unter 24 Jahren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Rund 90 % der Studienanfänger erhalten einen Di-
plom-Abschluß. Vergleichen Sie das mit der Zahl der Er führte weiter aus:
Studienabbrecher an den anderen Hochschulen. Das Es kann daher nicht richtig sein, daß die öffentli-
Skandalon des deutschen Bildungswesens, nämlich che Hand, wie eine Untersuchung des Instituts
die durchschnittliche Studiendauer von sieben Jah- der Deutschen Wi rtschaft gezeigt hat, für die
ren, beträgt bei den Berufsakademien nur 3,1 Jahre. Hochschulausbildung eines Akademikers angeb-
Das ist, wenn man will, also machbar. lich achtmal soviel ausgibt wie für die Erstausbil-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dung in einem anerkannten Ausbildungsberuf.

Die Berufsaussichten der Absolventen sind auch (Zuruf der Abg. Do ris Odendahl [SPD])
in Zeiten der wirtschaftlichen Rezession aus guten - Ich komme noch darauf, Frau Kollegin Odendahl.
Gründen überaus günstig. Rund 85 % erhalten be-
reits unmittelbar nach Studienabschluß einen Ar- Heute wird ein Gesetz eingebracht, mit dem eine
beitsvertrag. Welche andere Bildungseinrichtung langjährige berechtigte Forderung der Wi rtschaft,
kann dies für sich in Anspruch nehmen? Nirgends insbesondere des Handwerks, erfüllt werden soll. Ich
läuft die Schere zwischen Angebot und Arbeits- meine, auch heute, bei der Einbringung des Geset-
markterfordernissen so wenig auseinander wie bei zes, ein großes Kompliment unserem Bundesbil-
den Berufsakademien. dungsminister und seinen Staatssekretären, Frau
Yzer und Herrn Schaumann, sowie auch Ihnen, Herr
Daß dieses erfolgreiche System überdies staatliche Staatssekretär Dr. Kolb, seitens des Wirtschaftsmini-
Ressourcen zu schonen vermag, macht folgender steriums meinen Dank dafür aussprechen zu dürfen,
Vergleich deutlich: Um ebenso viele Diplomab- daß Sie nicht nur geredet haben, sondern daß Sie
schlüsse wie auf 10 000 Berufsakademie-Studienplät- das, was Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungser-
zen pro Jahr zu erreichen, müßte man eine Universi- klärung bereits im vergangenen Jahr hier verspro-
tät mit 30 000 Studienplätzen errichten. Beruf sakade- chen hatte, ganz schnell umgesetzt haben.
mien entlasten also den Hochschulbereich in einer
für alle vorteilhaften Weise. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5287
Ernst Hinsken
Meine Damen und Herren, diese Reform ist längst seien bisher zu einseitig am Leitbild des Angestellten
überfällig. orientiert. Hier müsse ein Umdenken stattfinden. -
(Jörg Tauss [SPD]: Ja!) Selbständigkeit müsse wieder mehr Anerkennung in
unserer Gesellschaft erfahren. - Deshalb ist es mei-
Es geht darum, daß unser Bildungssystem vom Kopf
ner Meinung nach richtig, daß jedem Meister-BA-
wieder auf die Füße gestellt wird. Es ist doch frustrie-
föG-Empfänger
rend, wenn wir feststellen müssen, daß z. B. in der
Bundesrepublik Deutschland zur Zeit 202 000 voll (Franz Thönnes [SPD]: Nicht mehr diesen
ausgebildete Akademiker arbeitslos sind. Eine Aus- Begriff benutzen, das hat doch Herr Len
bildung kostet - niedrig gegriffen - 60 000 DM. Bei sing vorhin gesagt!)
über 200 000 sind das über 12 Milliarden D-Mark,
ein 50%iger Erlaß des auf die Lehrgangs- und Prü-
die - lassen Sie es mich lax formulieren - in den Sand
fungsgebühren entfallenden Darlehens gewährt wer-
gesetzt wurden. Andererseits müssen wir feststellen,
den kann, wenn er sich innerhalb von zwei Jahren
daß viele kleine und mittlere Betriebe keine Nachfol-
ger mehr finden. Ich meine, daß gerade mit diesem selbständig macht und mindestens zwei neue Ar-
beitsplätze schafft. Das war eine langjährige Forde-
Gesetz auch die Grundlage dafür geschaffen wird,
eine Trendumkehr herbeizuführen. rung, die hier speziell von der CSU eingebracht
wurde. Ich möchte natürlich Wert darauf legen, dies
Es war doch nicht richtig, meine Damen und Her- heute sagen zu dürfen.
ren, daß vor etwa 20 Jahren Willy Brandt und Frau
Hamm-Brücher gesagt haben, das bildungspolitische (Franz Thönnes [SPD]: Von Ihnen kommt
Ziel in Deutschland sei dann erreicht, wenn mehr als noch einiges auf uns zu!)
die Hälfte aller Schüler das Abitur in der Tasche - Es kommt so vieles von der CSU. Sie brauchen nur
habe. Meine Damen und Herren, das war eine Fehl- nach Bayern zu schauen. Do rt wurde das Meister-
entwicklung, die damals eingeleitet wurde, und wir BAföG eingeführt; zwischenzeitlich macht es ein
müssen sie jetzt korrigieren. Es ist doch völlig unver- Land dem anderen bundesweit nach. Aber der An-
ständlich, wenn in Deutschland 25 bis 27 % der jun- fang wurde bravourös in Bayern gemacht.
gen Menschen ihr Studium abbrechen, um dann als
25- oder 30jährige ohne beruflichen Abschluß daste- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
hen zu müssen. Günter Rixe [SPD]: He, Bayern, jetzt klat
schen! - Beifall des Abg. Dr. Peter Glotz
(Werner Lensing [CDU/CSU]: So ist es! Das [SPD])
ist ja die Katastrophe, auch rein mensch
lich!) Nach der Einbringung heute folgt nun die Geset-
zesberatung. Dabei, so meine ich, muß überprüft
Meine Damen und Herren, alle zusammen müssen werden, ob bei Vollzeitform die Fortbildungsmaß-
wir einräumen: Das war eine falsche Bildungspolitik nahme mindestens sechs Monate dauern muß. Ich
in den letzten 20 Jahren, und jetzt ist es höchste Zeit, pflichte hier einigen Vorrednern ausdrücklich bei
hier umzusteuern; und meine auch, daß bei einer Maßnahme in Teilzeit-
form auch vorbereitende Stunden, die nachgewiesen
(Beifall bei der CDU/CSU)
werden, angerechnet werden können. Kollege
denn was wir brauchen, ist ein gesunder und ver- Scherhag, Sie als Handwerkskammerpräsident wis-
nünftiger Mix von Akademikern einerseits und Fach- sen hier bestens Bescheid. Ihnen ist genauso wie mir
arbeitern und Meistern andererseits. bewußt, daß dies eine zwingende und dringende
Notwendigkeit ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ich darf deshalb abschließend festhalten, daß gilt,
Beide Wege müssen gleichmäßig und gleichwe rtig
was ich eingangs gesagt habe: Es ist ein Schritt in die
gefördert werden.
richtige Richtung, daß wir mit dem Gesetz eine
Das setzt aber auch ein Umdenken in vielen Fami- Trendumkehr herbeiführen wollen und herbeiführen
lien voraus. Sie müssen sich vom Standesdünkel be- werden. Es muß unser aller Anliegen sein, in diese
freien. Wir müssen den Mitbürgern klarmachen: Ei- Richtung zu marschieren; denn wir brauchen mehr
nem qualifizierten Handwerker eröffnen sich bessere Selbständige, wir brauchen mehr, die bereit sind,
Zukunftsperspektiven als einem Akademiker, der Verantwortung in diesem Bereich zu übernehmen. Es
sich mühsam durch Gymnasium und Hochschule ge- sind jetzt viel zu wenige. Deshalb muß, wie ich schon
schleppt hat. gesagt habe, diese Umkehr erfolgen.
Angesichts der großen Welle von Betriebsüberga- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ben in den nächsten fünf bis zehn Jahren an Exi-
Ich möchte Sie daher bitten, mit uns gemeinsam an
stenzgründer, an junge Unternehmer, die Arbeits-
einem Strang zu ziehen, damit dies möglich wird. Im
plätze schaffen und Verantwortung übernehmen,
Laufe der nächsten Zeit werden wir dann versuchen,
kommt diese Reform gerade noch richtig. Die Flucht
finanziell nach- und aufzubessern, was dringend not-
aus der Selbständigkeit muß gestoppt werden. Wir
wendig ist, damit eine tatsächliche Gleichwertigkeit
müssen junge Menschen ermutigen, den Sprung in
zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung her-
die Selbständigkeit zu wagen.
gestellt werden kann.
Wie sagte jüngst - in der letzten Woche - unser
Herzlichen Dank.
Bundeskanzler: Mut zur Selbständigkeit sei nicht zu-
letzt eine Frage von Erziehung und Bildung. Diese (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
5288 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- Er hat folgendes gesagt: Ich kann die Diskussion in
sprache. der Politik über die Förderung der Hausärzte gar -
nicht mehr hören; denn eine Förderung der Haus-
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Ge-
ärzte findet nicht statt. Die Politik hätte jetzt die
setzentwürfe auf den Drucksachen 13/2490 und 13/
Chance, eine Förderung durchzusetzen, sie müßte
1829 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- nur handeln. Das, was uns immer aus dem parteipoli-
schüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - tischen Programm zugewunken wird, sind reine
Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen
Schalmeienklänge ohne inhaltliche Substanz. - So
so beschlossen. der Sachverständige Dr. Bausch in der Anhörung am
20. September.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Ich muß sagen: Herr Dr. Bausch hat sowohl mit der
Vierten Gesetzes zur Änderung des Fünften Diagnose als auch mit der Therapieempfehlung
Buches Sozialgesetzbuch (4. SGB V - Ände- recht.
rungsgesetz - 4. SGB V-ÄndG)
(Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Er
- Drucksachen 13/1826, 13/2446 - war aber in der Minderheit!)
(Erste Beratung 47. und 58. Sitzung)
Wenn ich mir nämlich das Konzept der SPD zur Wei-
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- terentwicklung der Gesundheitsreform unter diesem
schusses für Gesundheit (14. Ausschuß) Gesichtspunkt anschaue, müßte ich eigentlich zu
- Drucksache 13/2589 - dem Ergebnis kommen,
Berichterstattung: (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Wir haben
Abgeordneter Dr. Ma rt in Pfaff das beste!)

b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus die SPD meine es mit den Hausärzten gut. Ich lese da
schuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung nämlich beispielsweise, Frau Schmidt-Zadel - ich zi-
- Drucksache 13/2594 - tiere -: „Stärkung der hausärztlichen Versorgung
und Förderung kooperativer Praxisformen". So steht
Berichterstattung:
es in der Presseerklärung vom 29. August dieses Jah-
Abgeordnete Oswald Metzger
res.
Roland Sauer (Stuttgart)
Uta Titze-Stecher Ich bin sicher, daß ich, wenn ich mir die Mühe
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) machte, die wesentlichen programmatischen Äuße-
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die rungen bzw. Ankündigungen aller im Deutschen
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen er- Bundestag vertretenen Fraktionen anzuschauen, zu
hebt sich kein Widerspruch im Haus. Dann ist das so dem Ergebnis käme, daß alle Parteien schon immer
beschlossen. für die Stärkung der hausärztlichen Versorgung ein-
getreten sind. Woran liegt es also, daß nichts passiert,
Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die obwohl alle Fraktionen darin einig sind, daß etwas
Aussprache die Schlußabstimmung namentlich passieren muß?
durchführen werden.
Erlauben Sie mir bitte noch folgenden Hinweis: Die Verantwortung dafür, daß die Honorarsituation
Wenn Sie nachher die Abstimmungskarten Ihrem im hausärztlichen Bereich so ist, wie sie heute ist,
Schließfach entnehmen, achten Sie bitte unbedingt nämlich miserabel, trägt die SPD in Bundestag und
darauf, daß die von Ihnen benutzte Karte auch wirk- Bundesrat. Die Verantwortung dafür, daß die Haus-
lich Ihren Namen trägt. Bei namentlichen Abstimm- ärzteschaft es schlicht und ergreifend satt hat, das
ungen ist es gelegentlich zu Verwechslungen ge- ständige Gerede von der Förderung der hausärztli-
kommen. Vergewissern Sie sich also bitte sorgfältig, chen Grundversorgung zu hören, ohne daß dem ir-
daß Sie die richtige Karte verwenden. gendwelche Taten folgen, tragen Sie von der SPD -
Herr Kollege Kirschner ist im Moment erstaunlicher-
Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile dem weise bei diesem Thema nicht im Raum; deshalb
Kollegen Wolfgang Lohmann das Wort. spreche ich Herrn Kollegen Schmidbauer an - durch
die Blockadepolitik Ihrer Partei hier und vor allen
Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU): Dingen im Bundesrat.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Förde- (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Ach, Herr
rung der hausärztlichen Versorgung, um die es heute Lohmann!)
morgen in zweiter und dritter Beratung des Entwurfs
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat bereits im
eines 4. SGB-V-Änderungsgesetzes geht, beschäftigt
Jahr 1994 mit dem Gesetz zur Anpassung kranken-
die Gesundheitspolitik nicht erst seit Wochen, son-
versicherungsrechtlicher Vorschriften - so kompli-
dern im Grunde schon seit Jahren.
ziert hieß das damals - einen Vorschlag zur Stärkung
Ich möchte deshalb meinen Beitrag mit einem Zitat der hausärztlichen Versorgung mit einem Volumen
eines Sachverständigen aus der Anhörung vor dem von rund 600 Millionen DM gemacht und gegen Ihre
Gesundheitsausschuß, Herrn Dr. Bausch, beginnen. Stimmen auch beschlossen. Aber im Bundesrat
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5289

Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid)


wurde dies abgelehnt - wie ich meine, lediglich aus schlägt, durch eine weitere Umverteilung zu Lasten
wahltaktischen, ideologischen Gründen. der gesamten Ärzteschaft erfolgen muß. Warum -
auch?
(Wolfgang Zöller CDU/CSU: So ist es!)
Die Ärzteschaft hat ja in konsequenter Umsetzung
Damals hat die SPD als Begründung angeführt, daß des Gesundheits-Strukturgesetzes bereits
sie zwar für die Stärkung des Hausarztprinzips sei, 600 Millionen DM insbesondere zu Lasten der ärztli-
daß sie aber zusätzliche finanzielle Mittel der Kran- chen Labors in den hausärztlichen Bereich umge-
kenversicherung zu diesem Zweck nicht bereitstel- schichtet. Außerdem hat die Ärzteschaft zusammen
len könne. Diese Mittel - sprich: die 600 Millionen mit den Krankenkassen eine EBM-Reform verein-
DM - sollten nicht die Krankenkassen, also die Bei- bart, die am 1. Januar 1996 in Kraft treten wird und
tragszahler, sondern vielmehr die Ärzteschaft durch die das Hausarztprinzip in der ärztlichen Versorgung
weitere interne Umschichtung erbringen. konsequent weiterentwickelt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Lohmann,
der Kollege Schmidbauer würde gerne eine Frage Gerade die Ärzteschaft - das kann man nun wirklich
stellen. nicht bestreiten - hält sich seit Jahren mit ihrer Hono-
rarentwicklung im Rahmen der Grundlohnsummen-
Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU): entwicklung. Gerade das ärztliche Honorar ist seit
Ich weiß, daß die Frage und die Antwort nicht auf die Jahren beitragssatzstabil, was wir ja immer gefordert
Zeit angerechnet werden. Aber ich nehme Rücksicht haben, und das bei steigender Arztzahlentwicklung.
auf unsere vielen Kollegen, die jetzt schon wieder Wer nur ein wenig rechnen kann, muß doch sagen,
unter unserer starken Verspätung leiden, und das heißt: Die Honorarsituation insbesondere im
möchte jetzt im Zusammenhang vortragen, Herr hausärztlichen Bereich hat sich letztendlich ständig
Schmidbauer. Die Fragen sind ja übrigens in der öf- weiter verschlechtert. Und da wollen Sie, meine Da-
fentlichen Anhörung in ausreichendem Maße gestellt men und Herren von der Opposition, jetzt weiter um-
verteilen? Ich glaube, Sie machen es sich wirklich zu
und beantwortet worden.
einfach mit einer solchen Lösung.
Nun ist die Frage der finanziellen Auswirkungen
Wenn man das alles summiert, bleibt unter dem
bei einem dera rtigen Gesetzesvorhaben natürlich
Strich bei der Diskussion um diese vierte SGB-V-No-
nicht ohne Bedeutung. Immerhin bedürfen rund
840 Millionen DM zusätzlich zu Lasten der gesetzli- velle nur die Frage, ob eine Aufbesserung noch 1995
chen Krankenversicherung im Jahr 1995 für das oder erst 1996 erfolgen soll. Über mehr wird nicht ge-
stritten. Es geht also um den sogenannten Basiseffekt
Hausärztehonorar und das ärztliche Honorarbudget
in den neuen Ländern einer Begründung. Denn wir der heute von uns zur Beschlußfassung vorgeschla-
wissen ja alle, daß die GKV bereits im ersten Halb- genen Maßnahme.
jahr 1995 ein Defizit von rund 5 Milliarden DM aufzu- Vor dem Hintergrund der von mir vorgetragenen
weisen hatte. Argumente und insbesondere wegen der Honorarsi-
tuation der Hausärzte scheint mir dieser Schritt im
Auch hier ein Zitat aus dem Beschluß eines, wie
Jahre 1995 und nicht erst 1996 mehr als überfällig.
ich meine sagen zu können, sachverständigen und
neutralen Gremiums: (Beifall bei der CDU/CSU)
Sollte durch ein 4. SGB-V-Änderungsgesetz in Ich kann Ihnen daher auf der Grundlage der Aus-
1995 schußberatungen nur die Zustimmung zum Gesetz-
entwurf - und das bitte in namentlicher Abstim-
- das, was wir jetzt vorhaben - mung; dann sind daran auch mehr beteiligt, als zur
die hausärztliche Grundvergütung nicht entspre- Zeit in diesem Raum sitzen - empfehlen.
chend angehoben werden, sollen sich die Ge- Der Forderung der SPD bzw. von Ihnen, Herr Kol-
samtvergütungen in 1996 um zusätzlich 2 v. H. er- lege Schmidbauer, Herr Professor Pfaff, auf diesen
höhen, wobei sichergestellt werden muß, daß ein Gesetzentwurf zu verzichten, werden wir genauso
Betrag von 600 Millionen DM insgesamt zur Bes- wenig nachkommen wie Ihrer Forderung, die Strei-
serung der hausärztlichen Grundversorgung be- chung der Positivliste zurückzunehmen. Beide For-
reitgestellt wird. derungen sind für uns nicht akzeptabel.
So die Empfehlung der Konzertierten Aktion vom (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
14. September diesen Jahres zur angemessenen Ver-
änderung der Gesamtvergütung für die vertragsärzt- Wenn es wirklich richtig sein sollte, daß die SPD im
liche Versorgung. Diese Empfehlung tragen die ge- Bundestag und Bundesrat die Rücknahme dieser bei-
setzlichen Krankenkassen, also die Kostenträger, ein- den Gesetze zur Vorbedingung, wie ich lese, für die
stimmig mit. Aufnahme von Gesprächen machen sollte, wird es
eben dera rtige Gespräche nicht geben.
Über die Finanzierung der Stärkung der hausärzt-
lichen Grundversorgung zu Lasten der gesetzlichen Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird vielmehr
Krankenversicherung besteht also in diesem Gre- entschlossen den in der Gesundheitspolitik einge-
mium Einverständnis und auch keinerlei Zweifel. In schlagenen Weg fortsetzen. Wir werden daher be-
diesen Empfehlungen steht allerdings nichts davon, reits in der nächsten Sitzungswoche - Sie haben sich
daß die Förderung der Hausärzte, wie die SPD vor- vielleicht schon daran gewöhnt, daß ich Ihnen in je-
5290 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid)


dem meiner Beiträge ankündige, was in den darauf- Union mit dem Maßnahmepaket für das Kranken-
folgenden Wochen passiert, so daß Sie immer viel haus gegenüber der F.D.P. - wie Herr Dreßler veröf-
nachzudenken und zu schreiben haben - Sofortmaß- fentlicht hat - „in die Knie gegangen sei, um einen
nahmen vorschlagen, die eine Konsolidierung der koalitionsinternen Streit zu entschärfen." Das ist mit
Krankenhausausgaben im Jahr 1996 gewährleisten Sicherheit falsch. Dieses gerade genannte Vorab-
sollen. maßnahmepaket ist der Beitrag der Koalition, um die
Ausgabenentwicklung im Krankenhaus bereits im
Das ist erstens die Aussetzung der Pflegepersonal- Jahre 1996 zu konsolidieren - nicht mehr, aber auch
regelung für das Jahr 1996, mit dem Ziel, das Er- nicht weniger!
reichte erst einmal in Ruhe zu überprüfen.
Die eigentlichen Fragen einer Krankenhausreform
Das ist zweitens die Korrektur der Bundespflege-
sind damit keineswegs vom Tisch. Im Gegenteil,
satzverordnung in zwei wichtigen Bereichen, mit
nach wie vor gilt für die Union: Ohne eine Kranken-
dem Ziel, das Entgeltsystem bereits ab 1. Januar
hausreform, die diesen Namen auch wirklich ver-
1996 noch effizienter zu gestalten, als es in der ge-
dient, ist eine weitere Stufe der Gesundheitsreform
genwärtigen Bundespflegesatzverordnung möglich
erscheint. nicht erfolgreich zu realisieren.

Das ist drittens die Änderung des Krankenhausfi- Schönen Dank.


nanzierungsgesetzes, mit dem Ziel, für eine Über-
gangsfrist von drei Jahren, d. h. bis zum Ende 1998, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
die Finanzierungslast für die Instandhaltungsinvesti-
tionen im Krankenhaus in der Verantwortung der
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol-
Länder zu belassen.
lege Professor Dr. Ma rt in Pfaff.
Sie alle wissen: Dieser Teil hängt - auch nach ei-
nem entsprechenden Urteil - völlig in der Luft. Die
Krankenhäuser bekommen ihre Instandhaltungsin- Dr. Martin Pfaff (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle-
vestitionen im Moment von niemandem refinanziert. ginnen und Kollegen! Zu sagen, heute geht es nicht
Die Länder sagen nein, auch die Krankenkassen sa- um das Ob, sondern nur um das Wie, nicht um das
gen nein. In diesem Bereich muß unbedingt etwas Ziel, sondern nur um den Weg oder das Verfahren,
geschehen. Unsere Koalition ist gewillt und auch wäre weniger als die halbe Botschaft, weniger als die
dazu in der Lage, ihrer gesundheitspolitischen Ver- halbe Wahrheit. Es ist zwar richtig, daß wir alle in
antwortung für die Finanzentwicklung im Kranken- diesem Haus die Position der Hausärzte aufwerten
haus nachzukommen. wollen, und es ist ebenfalls richtig, daß wir, die Ver-
tragspartner von Lahnstein, dies teilweise durch Um-
Meine Damen und Herren von der SPD, freuen Sie schichtungen im Laborbereich, aber darüber hinaus
sich nicht zu früh, weil die Erarbeitung eines gemein- auch durch die Reform des einheitlichen Bewer-
samen Konzeptes am vergangenen Freitag nicht so tungsmaßstabes realisieren wollten.
recht vorangekommen ist. Die Koalition und die
Union werden - davon bin ich überzeugt - Anfang Das ist richtig; aber das reicht nicht aus. Denn mitt-
November dieses Jahres ein gemeinsames Konzept lerweile ist noch einiges geschehen. Das ist in Ihren
vorlegen, mit dem die dritte Reformstufe im Gesund- Worten, Herr Kollege Lohmann, nur am Rande er-
heitswesen erfolgreich gestaltet werden kann. wähnt worden. Erstens haben die Spitzenverbände
der Kassen und auch der Ärzte zusammen eine Emp-
(Dr. Barbara Hend ricks [SPD]: Unterhalten fehlung abgegeben, nach der die Gesamtvergütung
Sie sich jetzt alle zwei Wochen?) für die Hausärzte im Jahre 1996 auf jeden Fall um
- Wir arbeiten intensiv; deswegen müssen wir uns 600 Millionen DM angehoben werden soll. Da fragt
häufiger treffen. man sich natürlich als erstes: Warum eine Anhebung
zu diesem Zeitpunkt? Denn sie würde ja dann nicht
(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Reden noch einmal im nächsten Jahr erfolgen.
Sie einmal mit Herrn Möllemann!)
Das zweite, was geschehen ist - auch das haben
Wir werden dann sehen - auch Sie, Herr Catenhu- Sie zu lässig behandelt -: Die EBM-Reform ist in ih-
sen -, ob Sie den Mut haben, mit Hilfe von Blockade- ren wesentlichen Grundzügen beschlossene Sache.
politik all das zunichte zu machen, was an Vertrauen Auch das haben Sie ignoriert.
und Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung
durch alle - ich betone: durch alle! - am Gesund- Ich meine, es geht heute um mehr. Es geht auch
heitswesen Beteiligten in einer Reihe von Monaten in um die Frage, ob ein Bundesminister statt über die
diesem Jahr aufgebaut worden ist. Dann werden wir Mittel seines Hauses schlicht und einfach über die
sehen, Ob Sie den Mut dazu haben, das durch Blok- Gelder der Versicherten verfügen kann, ohne die
kadepolitik kaputt zu machen. Vertreter der Versicherten, die Kassen, überhaupt ge-
fragt zu haben.
(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Meinen
Sie die F.D.P., oder was?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Ich möchte bei dieser Gelegenheit allerdings eins
klarstellen: Es kann keine Rede davon sein, daß die Das ist die erste Frage.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5291
Dr. Martin Pfaff
Die zweite Frage ist, ob es angeht, daß ein Bundes- sollen und daß zusätzlich eine Aufwertung der haus-
minister, der die Wörter Beitragssatzstabilität und ärztlichen Vergütung um 2 % und eine Aufwertung-
Lohnnebenkosten so oft im Munde führt, des ambulanten Operierens und neuer Leistungen
um 1 % erfolgen sollen. Das ist eigentlich beschlos-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Waren Sie sene Sache. Da fragt man sich: Warum stellt sich ein
bei der öffentlichen Anhörung nicht dabei?) Bundesminister, warum stellt sich eine Regierungs-
durch diese Maßnahme die Beitragssatzstabilität koalition hin und sagt: Schaut, was wir alles für die
aushebelt, damit Signale für alle anderen Leistungs- Hausärzte tun. Und warum machen Sie das in einer
erbringer gibt und damit auch die vielzitierten Lohn- Art und Weise, die die Zielsetzung des EBM ge-
nebenkosten in die Höhe treibt. Das muß wohl wie radezu konterkariert?
ein Hohn klingen. Gerade zu einem Zeitpunkt, zu (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
dem die Defizite des Jahres 1995 7 Milliarden DM bis CSU]: Nein, die die Zielsetzung ergänzt!)
8 Milliarden DM und des Jahres 1996 10, 11, 12 oder
14 Milliarden DM - niemand kann das genau sagen - Denn die Selbstverwaltung, die Sie zu stärken vorge-
ausmachen, paßt dies wie die Faust aufs Auge. ben, wird dadurch ausgehebelt. Das ist eine Mißach-
tung, eine Desavouierung der Selbstverwaltung.
Daß damit schließlich auch ein wesentlicher Punkt
des Gesundheitsstrukturgesetzes in seinen Einkom- Die Mechanik des EBM wird dadurch nicht beför-
menswirkungen ausgehebelt wird, soll heute eben- dert; denn Sie, meine Damen und Herren von der Re-
falls beleuchtet werden. gierungskoalition, wollen doch jetzt, am Ende eines
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Jahres, aber rückwirkend für das Jahr 1995, d. h. im
Klartext: in einer Situation, wo sich Defizite abzeich-
CSU]: Das wird nicht ausgehebelt, sondern
nen, die Defizite um 600 plus 240 Millionen DM ver-
ergänzt!)
ändern, ohne daß dies auch nur die geringste struk-
Was wollten wir eigentlich in Lahnstein? Was woll- turgestaltende Wirkung hätte. Das heißt, Sie hebeln
ten wir mit dem Gesundheits-Strukturgesetz errei- durch diese Maßnahme die EBM-Reform aus.
chen? Einmal wollten wir eine Umschichtung aus
dem Laborbereich zugunsten der Hausärzte errei- (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Das finde
chen: 657 Millionen DM Einsparungen, davon ich jetzt doch übertrieben!)
259 Millionen DM im Speziallabor und 398 Millionen Ich will das noch einmal verdeutlichen: Angenom-
DM im allgemeinen Labor. Aber von diesen Einspa- men, diese Initiative würde scheitern, wie sie es ver-
rungen sind 38,4 % von den Hausärzten selbst und dient. Was würde dann im Jahre 1996 geschehen,
nicht zu ihren Gunsten finanziert worden. Dieses Ziel wenn die vielbeschworene Selbstverwaltung der
ist also bestenfalls teilweise erreicht worden. Verbände zum Tragen käme? Nehmen wir doch ein-
Das zweite Ziel der Umschichtung: Bei den Ein- mal die Ausgaben des Jahres 1995 mit 100 Punkten.
kommen der Ärzte gibt es sehr drastische Unter- Dann würden im Jahre 1996 zu diesen 100 Ausga-
schiede. Auch dazu haben wir von Herrn Lohmann benpunkten drei Prozentpunkte auf Grund der Lohn-
überhaupt nichts gehört. Wir haben nicht einmal ge- entwicklung, zwei Prozentpunkte durch die Aufwer-
hört, wie der einzelne Hausarzt durch dieses Gesetz tung der hausärztlichen Vergütung und ein Prozent-
in seiner Einkommenssituation betroffen würde - punkt auf Grund neuer Leistungen dazukommen.
Fehlanzeige -, und wir haben nicht gehört, wie der Das ergibt 106 plus 100, also insgesamt 206 Prozent-
Gebietsarzt, also der Spezialarzt, der Facharzt, in den punkte.
neuen Ländern betroffen würde. Ich wi ll dazu eini- Was aber geschieht jetzt durch Ihre Initiative?
ges sagen. Durch Ihre Initiative werden die Ausgaben dieses
Was auch nicht gewürdigt wurde, ist die Reform Jahres von 100 auf 102 erhöht. Im nächsten Jahr
des einheitlichen Bewertungsmaßstabes. Er soll kommen drei Prozentpunkte auf Grund der Lohnent-
nichts anderes bewirken, als u. a. die hausärztliche wicklung hinzu. Dann kommt noch ein Prozentpunkt
Vergütung zu verbessern. Das bet rifft die Hausärzte. für die neuen Leistungen. Im Klartext: Statt 106 wer-
Es ist eine eigene Grundvergütung vorgesehen, es ist den es 108 Punkte sein.
eine Aufwertung der zeitintensiven Tätigkeiten vor- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Prozentrech
gesehen. nung ist nicht Ihre Stärke!)
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
Da frage ich: Ist das ein Weihnachtsgeschenk für
CSU]: Das reicht doch alles nicht, wie wir
die Hausärzte? Sehr wohl, aber nur ein vordergründi-
wissen!)
ges. Ich werde nämlich gleich aufzeigen, daß dies
- Nein, das reicht nicht, aber die Frage ist, ob es rich- eine Milchmädchenrechnung ist. Dieses Geschenk
tig ist, jetzt, zu diesem Zeitpunkt, 600 Millionen DM mag wohl für die Hausärzte willkommen sein. Es Ne-
und weitere 240 Millionen DM dorthin zu schaufeln. belt aber die Beschlußlage der Selbstverwaltung aus
und setzt sich auch über die Beschlüsse der Konzer-
Diese Frage muß man sehr wohl vor dem Hinter- tierten Aktion vom September hinweg.
-
grund der Entwicklung beantworten. Denn die EBM
Reform verändert nicht nur Strukturen, sondern sie
wurde politisch erkauft. Wodurch? Durch eine Emp- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Pfaff, ge-
fehlung, daß im nächsten Jahr die Gesamtausgaben statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
für die vertragsärztliche Honorierung um 3 % steigen Seehofer?
5292 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Dr. Ma rt in Pfaff (SPD): Sehr gerne, Herr Abgeord- samteinnahmen aller Fachärzte im Durchschnitt
neter Seehofer. 532 000 DM, die der allgemeinen Ärzte 360 000 DM
(Heiterkeit bei der SPD) (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
CSU]: Nur Umsatz ist das!)
Horst Seehofer (CDU/CSU): Lieber Herr Professor
- jawohl; die Überschüsse in der ersten Kategorie be-
Pfaff, nachdem Sie gerade wieder von einem Ge- tragen 215 000 DM - und die der Hausärzte 152 000
schenk an die Hausärzte und mangelnder Rücksicht- DM ausmachen; wohlgemerkt: vor Bet riebskosten.
nahme gegenüber der Konzertierten Aktion oder ge- Es besteht also ein deutlicher Unterschied. Eine Um-
genüber der Selbstverwaltung gesprochen haben, strukturierung jeglicher A rt muß also zu Lasten der
frage ich Sie: Wie erklären Sie sich, daß diese Initia- Fachärzte gehen.
tive, die wir heute dem Parlament zur Beschlußfas-
sung vorlegen, im Kern von der Konzertierten Aktion Jetzt fragen wir uns doch: Um welche Größenord-
im Gesundheitswesen als Empfehlung beschlossen nungen geht es denn? Wenn wir diese 600 Millionen
worden ist - Sie wissen sicher, daß in dieser Konzer- DM zugunsten der Hausärzte umlegen, dann wür-
tierten Aktion die Bundesländer, die Gewerkschaf- den sich deren Einkommen in diesem Jahr oder auch
ten, die Arbeitgeber sowie die Krankenkassen und im nächsten, gerechnet auf der Basis 1993, um 13 700
nicht nur die Ärzte sitzen; die Ärzte sind dort in der DM je Arzt verbessern. Das sind 4,1 % mehr. Wenn
Minderheit - und daß diese Empfehlung zustande man es in bezug auf die Überschüsse berechnet, sind
gekommen ist, obwohl die gesamte Gesellschaft es fast 10 %. Das ist ja intendiert.
spiegelbildlich in dieser Konzertierten Aktion vertre-
ten ist und obwohl eine einzige Gegenstimme in der Wie sieht es denn bei den Fachärzten aus? - Für
Konzertierten Aktion dazu geführt hätte, daß eine jeden Facharzt in den neuen Ländern, der von der
Empfehlung nicht zustande gekommen wäre? Regelung bezüglich der 240 Millionen DM betroffen
ist, würde sich das Einkommen um 27 618 DM in die-
sem Jahr erhöhen. Das sind 9,5 % mehr oder, gemes-
Dr. Ma rt in Pfaff (SPD): Herr Abgeordneter Seeho- sen an den Überschüssen, 27,7 % mehr.
fer, die Konzertierte Aktion hat empfohlen, daß diese
Aufwertung im Jahre 1996 und nicht im Jahr 1995 - - Jetzt frage ich Sie, Herr Bundesminister: Ist uns
denn klar, was dies eigentlich bedeutet, beispiels-
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
weise in den neuen Ländern? In den neuen Ländern
CSU]: Nein!)
muß ein Arbeitnehmer, der ein Durchschnittseinkom-
- Ich habe mich gestern wieder mit Vertretern der men hat, acht Monate lang arbeiten, um diese Zu-
Kassen ausgetauscht. Die haben mir das bestätigt. wächse finanzieren zu können. In den neuen Län-
dern würde eine große Zahl der Arbeitslosen nicht
(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Sie hat gesagt: einmal so viel bekommen, wie hier als Einkommens-
Wenn es nicht kommt, dann!) zuwachs finanziert werden soll. Haben Sie sich das
- Aber es steht doch eindeutig in dieser Beschluß- auch schon einmal auf der Zunge zergehen lassen?
empfehlung: daß, wenn es nicht kommt - - (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was ist denn
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist etwas das für eine Neiddiskussion, Arbeitslose mit
anderes!) Fachärzten zu vergleichen?)
- Es ist ja beschlossene Sache. Sie hat sich nicht für - Nein, ich will jetzt keine Neiddiskussion führen.
die Aufhebung in diesem Jahr ausgesprochen. Im
Gegenteil, über die Kassen hinweg haben alle ge- Die Frage stellt sich doch: Wären diese Zuwächse
sagt: Dieses Gesetz ist nicht mehr notwendig; dieses auch durch Umschichtungen finanzierbar gewesen?
Gesetz ist hinfällig. Ich füge hinzu: Es ist zum jetzi- Die Antwort lautet: Sehr wohl. Wenn nämlich die
gen Zeitpunkt so sinnvoll wie ein Kropf. Fachärzte im Westen - deshalb habe ich diese Stati-
stiken zitiert - auf 4 600 DM von ihren 532 000 DM
(Beifall bei der SPD) verzichten würden - das sind neun Zehntel der Ge-
samteinkommen -, könnten sie die Einkommensauf-
Wie sieht es tatsächlich mit der Entwicklung der besserung in dieser Höhe, nämlich von 27 000 DM,
Einkommen der Ärzte aus? Warum ist eine Anhe- für ihre Kollegen im Osten finanzieren.
bung für die Hausärzte sinnvoll? Es ist richtig, daß
die Laborumschichtungen nicht ausreichen und übri- (Beifall bei der SPD)
gens auch die EBM-Reform in der jetzigen Form
nicht ausreichen wird. Aber betrachten wir einmal Oder ist das nicht zumutbar, frage ich Sie.
die Situation - ich bedaure, daß keine Fragen zuge-
Wenn sie darüber hinaus auf 11 500 DM verzichten
lassen worden sind -, fragen wir uns doch einmal:
würden - das sind 2,2 % ihres Umsatzes oder 5,3 %
Wie würde sich dieses Gesetz auf den einzelnen
ihrer Überschüsse -, dann könnten sie auch die Um-
Hausarzt, auf den einzelnen Facharzt im Osten aus-
schichtung zugunsten der Hausärzte finanzieren, die
wirken? Ich habe ausgerechnet - im Gegensatz zur
wir ja alle wollen. Es soll einmal einer sagen, daß
Regierungskoalition, liebe Kolleginnen und Kolle-
eine solche Umschichtung nicht machbar ist. Ich
gen -, was das auf Heller und Pfennig ergibt.
finde, daß sie zumutbar, machbar und sogar erforder-
Wenn wir die Kostenstrukturanalyse des Jahres lich ist,
1993 zugrunde legen, dann wissen wir, daß die Ge- (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5293
Dr. Martin Pfaff
wenn wir das erreichen wollen, was wir immer ange- tion drauflegt, in der er selber zugestehen muß, daß
strebt haben, nämlich die Zahl der Fachärzte auf die Defizite 7 bis 8 Milliarden DM erreichen werden, -
40 % der Gesamtheit der Ärzte zu reduzieren und die
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
Zahl der Hausärzte auf 60 % anzuheben.
CSU]: Was war denn 1994?)
(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Das ist für die in der er selber schon von einem Defizit von
Regierung zu kompliziert!) 10 Milliarden DM im nächsten Jahr spricht?
Aber auf die A rt und Weise, wie Sie das machen, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Hätten Sie
werden Sie es niemals erreichen. vor einem Jahr zugestimmt, bräuchten wir
jetzt nicht darüber zu diskutieren! Vor ei-
Jetzt noch ein Wo rt an die Ärztinnen und Ärzte, die nem Jahr war es schon hier im Bundestag!)
sich ja fragen: Will uns Herr Seehofer etwas Gutes
tun, und die SPD sagt nein? Ich habe das, Herr Bun- Ein letzter Punkt. Herr Bundesminister, nach Infor-
desminister, zwar als Weihnachtsgeschenk tituliert, mationen auch der Kostenstrukturanalyse werden
aber eigentlich ist es ein Danaergeschenk. Warum ist die Gesamtumsätze aller Ärzte als Konsequenz des
es ein Danaergeschenk? Es mögen doch alle Ärztin- Gesundheitsstrukturgesetzes um ungefähr 2 % zu-
nen und Ärzte, die jetzt zuhören, zur Kenntnis neh- rückgehen. Was machen Sie jetzt? Sie kompensieren
men, daß diese Beträge im nächsten Jahr sowieso ge- mit dieser Maßnahme den Einkommensausfall, neu-
kommen wären, daß sie aber in der jetzigen Situa- tralisieren damit jede Strukturwirkung, die eigentlich
tion, bei diesen Defiziten, unausweichlich nur zu ei- als eine Rationalisierungsreserve geplant war.
ner Konsequenz führen können, wenn wir das ernst (Beifall bei der SPD)
nehmen, was der Herr Minister an anderer Stelle ge-
sagt hat. Was soll das Ganze: Sie schießen die Positivliste
ab; im Krankenhausbereich gibt es enorme Defizite -
Schauen wir doch einmal in die Eckpunkte des eine Lösung dieses Problems aus Ihrer Sicht habe ich
Programmes der CDU/CSU. Da steht, daß durch den noch nicht gehört -;
Gesetzgeber ein Beitragssatz vorgegeben werden
soll. Was heißt das denn auf deutsch? Das heißt, daß, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Lesen Sie
wenn die Defizite so steigen, wie es absehbar ist, im keine Zeitungen?)
nächsten Jahr das, was jetzt mit der einen Hand ge- im Pharmabereich wollen Sie die Festbeträge, zu-
schenkt wird, über die Punktwertabsenkungen wie- sätzlich zur Positivliste, über die Patentregelung aus
der, zumindest größtenteils, kompensiert werden hebeln,
wird. Das ist die Realität. Es ist ein eigenartiges
Weihnachtsgeschenk. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
CSU]: Das ist doch Unsinn!)
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
CSU]: Falsch! Das ist wieder Blödsinn!) und jetzt neutralisieren Sie den Einkommenseffekt
der Steuerung im ambulantärztlichen Bereich?
- Ja, der Punktwertverfall wird bei anhaltenden Defi- Im Klartext: Wenn Sie alle strukturgestaltenden
ziten und bei Budgeteinschränkungen einen wesent- Maßnahmen des Gesundheitsstrukturgesetzes aus
lichen Teil dieser Erhöhungen wieder auffressen. hebeln, dann bleibt am Ende nicht viel mehr als das
fragwürdige Kostendämpfungsgesetz. Sie dürfen
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ sich wirklich nicht wundern, wenn die bekannten
CSU]: Wer redet von Budgeteinschränkun Muster wiederkommen: Vorwegnahmeeffekt, Sen-
gen?) kung der Beitragssätze und - so geht die Reise wei-
ter - Beitragssteigerungen, die höher sind als vorher.
Das ist doch das Dilemma einer solchen Regelung,
sozusagen eines einmaligen Schusses. Was notwen- Deshalb, Herr Minister: Tun Sie uns allen einen
dig wäre, wäre eine Umstrukturierung, die über die Gefallen. Tun Sie sich selbst und Ihrem Ruf einen Ge-
jetzigen Strukturen des EBM hinausgeht. fallen: Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf schleunigst,
hier und heute, zurück!
Wenn ich das alles zusammenfasse, Herr Bundes-
minister, dann komme ich zu dem Schluß, daß es hier (Beifall bei der SPD - Wolfgang Lohmann
um eine falsche Maßnahme zu einem falschen Zeit- [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Das wär ja noch
punkt geht. Die Maßnahme als solche war für näch- schöner!)
stes Jahr programmiert. Zu diesem Zeitpunkt ist sie
ein absolut falsches Signal. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Monika
Knoche, Sie haben das Wort.
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
CSU]: Was war denn 1994?)
Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Was denken denn die anderen Leistungserbringer Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Nun sind
in anderen Bereichen, im Pharmabereich, im Kran- sie wieder zusammengekommen, die koalitionären
kenhausbereich, bei den Herstellern von Heil- und Streithähne. Doch weiß derzeit niemand so genau,
Hilfsmitteln, wenn der Herr Bundesminister, ohne welche im Dreibund der Freidemokraten die authen-
lange zu fackeln, fast 1 Milliarde DM in einer Situa- tische gesundheitspolitische Stimme ist. Gewiß ist
5294 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Monika Knoche
allerdings: Die Regierung wird heute wie aus einem Beitragsatzes mit sich bringen werden. Aber mehr
Munde sprechen. wissen wir sicher nicht. -
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Zum Postulat der Beitragsstabilität. In der Tat: Es
CSU]: Selbstverständlich, sind Sie anderes gibt ein objektives Interesse; denn 90 % der Men-
gewohnt? - Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Wir schen in unserem Land sind als in gesetzlichen Kran-
kennen das Programm der Grünen auch im kenkassen und Ersatzkassen Versicherte an einem
mer noch nicht!) gesunden Verhältnis von Kosten und allgemein zu-
gänglichen qualitativ hochstehenden Leistungen in-
Der Herr Bundesgesundheitsminister gefällt sich
teressiert. Beitragsstabilität abhängig zu machen von
derzeit einmal wieder als Fels in der Brandung, als
Indikatoren wie Lohnsummenentwicklung und Brut-
Garant des sozialen Gesundheitswesens. Alle
toinlandsprodukt, die von den Kostenträgerinnen
schauen auf das böse Krankenhaus, und keine/kei-
und -trägern gar nicht beeinflußbar sind, bleibt ohne
ner soll sehen: Die Regierung gibt mal eben locker
Leistungsausgrenzung die Quadratur des Kreises
840 Millionen DM Versicherungsgelder aus.
oder die hohe Kunst befähigter Sozialstandortspoliti-
Gestern noch war der Pflegenotstand Anzeiger für kerinnen und -politiker. Jedenfalls ist Beitragsstabili-
gesundheits- und vor allem frauenpolitischen Re- tät das Ziel des GSG. Daran ist die heutige Entschei-
formstau. Alle wußten, daß ohne hochqualifizierte, dung zu messen. Es wird von Arbeitgebern und Kas-
hochmotivierte Krankenschwestern die apparatinten- sen gleichermaßen abgelehnt. Wir teilen diese Hal-
sive Hochleistungsmedizin nicht funktioniert, daß die tung.
Funktionspflege die Zuwendung zur Strecke bringt.
Permanent propagiert unser Herr Minister die de-
Heute werden diese Pflegenden als Kostentreiberin-
mokratiepolitisch wohlfeile Option: Vorfahrt für die
nen angeschmiert.
Selbstverwaltung. Meist meinen Sie nichts anderes
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ als Deregulierung und das Sich-Herausschleichen
CSU]: Nein, das hat kein Mensch gesagt!) des Staates aus der Daseinsvorsorge. Hier stellen Sie
ein Gesetz vor, das der propagierten Vorfahrt ge-
Wer sprechende Medizin fördern will, muß auch radezu entgegenläuft.
Lobby für Pflegeberufstätige sein, ihren Dienstlei-
stungsberuf nicht nur we rt schätzen, sondern auch als Durch das GSG sind objektiv z. B. Radiologinnen
we rt volle Arbeit bezahlen. Das kostet dann eben und Radiologen reicher und Hausärztinnen und
auch etwas. Hausärzte ärmer geworden. Aber arm sind sie des-
halb noch nicht. Ich habe noch nicht erlebt, daß es
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ einen Solidaritätszuschlag für Armutsbedrohte in
CSU]: Das ist doch reiner Populismus! Dar dieser gigantischen Höhe von dem Minister gab.
über hat keiner ein Wo rt gesagt!)
(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Ein guter
Wenn sich Wettbewerbs- und Marktfachmänner Gag!)
des Gesundheitswesens der Wirtschaftsbranche be-
mächtigen, gehen Reform und Qualität, nicht nur im Nur als Vergleichsgröße sei angemerkt: Das Geld für
Krankenhaus, verloren, laufen kranke Menschen Ge- diesen Nachschlag kommt aus der gesetzlichen
fahr, zu Patientengut zu werden. Das können auch Krankenversicherung. Diese zahlt eigentlich nur für
die ambulanten Versorgungseinrichtungen nicht auf- Leistungen. Aber die hier nachgetragenen Arzthono-
fangen. Es geht also um sprechende Medizin. Wer rare sind nicht als solche verdient worden.
die primärärztliche Versorgung positiv bewe rt et, muß
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
das Krankenhaus zum Gesundheitsdienstleistungs-
CSU]: Wieso das denn nicht?)
zentrum mit ambulanter Versorgung aufwerten.
Ein absurdes Argument ist im nachhinein für bis jetzt
Zum Thema: Zum reinen Nutzen einer ganzheitli-
erst einmal nur imaginierte, künftig wirkende struk-
chen Medizin ist es sicher nicht, wenn kassenärztli-
turverändernde Impulse einer Diskussion der Ärzte-
che Versorgungspraxen wie Kleinunternehmen ge-
schaft, als Gesetzgeber das Geld anderer ausgeben
führt werden müssen. Mit dem neuen einheitlichen
zu müssen. Es ist - auch wenn das Wo rt Sie nicht
Bewertungsmaßstab wird die sprechende Medizin
sehr erfreuen mag - in gewissem Sinne doch Klien-
aufgewertet. Das ist unstrittig. Aber er bedeutet auch
telpolitik, die unserem Minister neuerdings dann
einen geschätzten Mehraufwand von mehr als 1 Mil-
leichtfällt, wenn die Heilberufe ärztliche und nicht
liarde DM für die Versicherten für eine eigentlich
pflegerische oder psychotherapeutische Ausbildun-
nicht zusätzliche neue Leistung.
gen haben.
Da auf ihn bei der vierten Novelle immer wieder
Sie dürfen und werden von uns Grünen nicht er-
verwiesen wird, muß man dazusagen, daß, da er erst
warten, daß wir, meine Herren und Damen von der
1996 wirksam werden wird, noch niemand weiß, ob
Regierung, Ihrem speziellen Wählerpotential gefäl-
er die strukturverändernde Wirkung entfalten wird -
lige Hilfe zur Überbrückung von Einkommenseinbu-
-und wenn ja, in welcher Dimension. Als Leitungs
ßen leisten. Mich hat es sehr gefreut, in einer Ärzte-
und Lenkungsinstrument für die sprechende Medi-
zeitung zu lesen, daß jeder fünfte Arzt oder Apothe-
zin bleibt er so lange fraglich, wie die Einzellei-
ker die F.D.P. wählt. Knapp 60 % der freiberuflichen
stungsvergütung weiterhin Basisfinanzierung für die
Ärzte und Apotheker wählen die CDU.
Praxen bleiben wird. Was wir jetzt schon wissen, ist,
daß die beiden Änderungen der Novelle und der ein- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
heitliche Bewertungsmaßstab eine Steigerung des CSU]: Das ist vernünftig!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5295
Monika Knoche
Zum Schluß noch ein paar Zahlen zur Verteilung. den letzten Jahren bei ihren Honoraren - das wurde
Die Summe ist 840 Millionen DM. Die Hausärzte im auch von Professor Pfaff gesagt - Abstriche machen-
Westen sollen davon 510 Millionen DM, die im Osten müssen. Dies muß geändert werden.
90 Millionen DM bekommen. Für Fachärzte und Ver-
tragsärzte in den neuen Ländern gibt es 240 Mil- Wenn ich die Gesetzgebungswerke nenne - auch
lionen DM extra. Es ist doch wirklich interessant: die, an denen die SPD beteiligt war; ich nenne nur
Zwar nehmen die Menschen im Osten aus alter Ge- das Stichwort Renten-Überleitungsgesetz -, bei de-
wohnheit primärärztliche Versorgung häufiger in An- nen die Basis verringert wurde, dann ist festzustel-
spruch als Kranke im Westen. Dennoch bekommen len, daß die verantwortliche Politik die Aufgabe hat,
die Fachärzte, die bekanntlich nicht die sprechende eine Änderung herbeizuführen.
Medizin im originären Sinne repräsentieren, über (Zuruf des Abg. Klaus Kirschner [SPD])
zwei Drittel der 330 Millionen DM für die angege-
bene Hausarztförderung in Ostdeutschland. Welche - Herr Kirschner, wir machen nicht nur Kostendämp-
Struktur denn nun eigentlich gefördert werden soll, fung. Das haben wir in der Vergangenheit gemacht.
die haus- oder die gebietsärztliche, wird aus diesem Wir müssen den Mut haben, Veränderungen herbei-
Gesetzentwurf wahrlich nicht klar. zuführen, wenn es dringend notwendig ist, d. h.
Es geht bei diesem Gesetzentwurf gar nicht wirk- auch: Erhöhung der Honorare in den Bereichen, in
lich um die unstrittig sinnvolle Stärkung der spre- denen wir dringenden Reformbedarf sehen. Das ist
im Bereich der Hausärzte der Fall. Dazu stehen wir,
chenden Medizin oder gar um einen solidarreforme-
rischen Beitrag der künftigen Beitragsstabilität. Es und das werden wir fortführen.
geht um schlichte Nachsubventionierung ambulanter (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Niederlassungsstrukturen im Osten und ein Versöh- ten der CDU/CSU)
nungsgutsel für die gebeutelten Hausärzte im We-
sten Deutschlands. Weil wir so dringenden Handlungsbedarf sehen,
bin ich froh, daß die Koalition diese Woche entschie-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den hat: Wir machen ein Vorschaltgesetz im Kran-
und bei der SPD) kenhausbereich, um finanzielle Mittel umzuschich-
ten. Die Ausgaben im Krankenhaus sollen gestoppt
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- werden.
lege Dr. Dieter Thomae.
Ich sage Ihnen, Frau Knoche: Da müssen Sie schon
ein bißchen fair sein. Ausgangsbasis war, 13 000 Pfle-
Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Herr Präsident! Meine gekräfte weiterhin im Krankenhaus zu beschäftigen.
sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, alle,
die hier versammelt sind, behaupten seit Jahren, im (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Zusätzlich!)
hausärztlichen Bereich müssen Verbesserungen fi-
nanziert werden. Aber die Wege dorthin sind unter- - Zusätzlich. Das sind mittlerweile 23 000, ganz be-
schiedlich. Ich bin der Meinung: Es wäre dringend scheiden ausgedrückt.
notwendig, im hausärztlichen Bereich Verbesserun- (Bundesminister Horst Seehofer: In zwei
gen zu erreichen. Wir sehen die großen Nachteile. Jahren!)
Wir sehen den Nachteil, daß Hausärzte auf Grund ih-
rer Honorare manchen Hausbesuch aufschieben - In zwei Jahren, zusätzlich. Alle Fachleute sagen
müssen. Wir sehen auch den Nachteil, daß Überwei- uns: Der Pflegenotstand ist jetzt beseitigt. Sogar von
sungen ins Krankenhaus gerade am Wochenende er- SPD-Ländern und von Ländern, in denen es Koalitio-
folgen und dadurch nennenswerte Kosten auf das nen aus SPD und Grünen gibt, wird das bestätigt.
System zukommen.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Verzei-
ten der CDU/CSU - Widerspruch bei der hung, daß ich Sie unterbreche. Der Kollege Schmid-
SPD) bauer möchte gern eine Frage stellen.
Es kann doch wohl nicht sinnvoll sein, daß wir die-
sen Weg weiter beschreiten. Wir von der Koalition Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Ich habe es gesehen. Er
haben den Mut und wissen das. Wir wollen die Situa- kommt sofort dran. Bitte schön.
tion umkehren: Wir wollen die Verlagerung vom
Krankenhaus in den ambulanten Bereich, soweit es
eben geht. Deshalb wollen wir die Honorierung der Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Herr Kol-
Hausärzte verbessern. lege Thomae, wir haben in der Anhörung erfahren
können, daß der BDA, also der Arbeitgeberverband,
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
diesen Gesetzentwurf ablehnt. Ich frage mich, wieso
ten der CDU/CSU)
Sie der Argumentation des Arbeitgeberverbandes
Nach unserer Auffassung ist das der erste Schritt in nicht zustimmen können. Der Verband schreibt:
die richtige Richtung. Das wird sicherlich nicht der
letzte Schritt sein. In dem Gesetzentwurf sehen wir das Problem ei-
nes einfachen Aufsattelns auf ein Leistungsni-
Außerdem wollen wir ganz ruhig festhalten: Die veau in der Höhe von nahezu 1 Milliarde DM
Ärzteschaft, gerade der hausärztliche Bereich, hat in ohne strukturelle Änderungen.
5296 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Horst Schmidbauer (Nürnberg)


Weiter heißt es: Dr. Ruth Fuchs (PDS): Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Das vorliegende Gesetz wird mit -
Da ist ein solches Draufsatteln aus unserer Sicht
der Notwendigkeit begründet, nun endlich auch die
nicht nachvollziehbar.
hausärztliche Versorgung konkret und spürbar stär-
Wieso können Sie dieser Argumentation der Arbeit- ken zu müssen. Gegen eine solche Absicht kann und
geber nicht folgen? wird niemand - nach allem bisher Gehörten auch
nicht in diesem Hohen Haus - etwas einzuwenden
Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Herr Schmidbauer, haben.
wenn Sie genau zugehört haben, haben Sie die Ant- Ganz im Gegenteil: Die Stärkung der hausärztli-
wort schon bekommen. Wir wollen eine strukturelle chen Versorgung ist dringend notwendig. Die
Veränderung. Wir wollen soweit wie möglich vom Schwäche dieses Gesetzesvorhabens liegt da rin, daß
Krankenhaus in den ambulanten Bereich verlagern. es - so wie es beschaffen ist - seine richtige und öf-
Dafür müssen wir den ambulanten Bereich stärken. fentlich verkündete Zielstellung mit Sicherheit nicht
Dazu gehört auch eine Verbesserung der Honorare; erreichen kann, und dies deshalb, weil es nicht auf
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne eine wirkliche strukturelle Verbesserung der Stel-
ten der CDU/CSU) lung der Hausärzte im Gefüge der medizinischen
Versorgung zielt und damit von vornherein kaum
denn die Gelder, die wir im Krankenhaus sparen, sol- eine Chance hat, dauerhaft Wirkung zu erreichen.
len für den ambulanten Bereich verwendet werden.
Auf das Prädikat einer durchdachten und voraus-
Ich bin fest davon überzeugt, daß wir Beiträge im schauenden Gesundheitspolitik kann es so auf kei-
Krankenhaus sparen; denn wenn eine gute ärztliche nen Fall Anspruch erheben. Eher handelt es sich
Versorgung auch am Wochenende gesichert ist, wer- wohl von seiten der in Sachen Gesundheitspolitik in-
den nicht mehr so viele Einweisungen erfolgen, wie zwischen mächtig durcheinandergeschüttelten und
es zur Zeit der Fall ist. Das wollen wir mit diesem wenig überzeugenden Koalition um eine A rt finan-
Konzept erreichen. Darum sind wir entschlossen, das zieller Beruhigungspille oder Gutwetter-Signal in
durchzuführen. Richtung Ärzteschaft.
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Dabei ist es gar keine Frage, daß eine echte Stär-
CDU/CSU) kung der Hausärzte letztlich auch mit einer deutli-
Zu den Pflegekräften. Alle Experten, auch die kon- chen, aber vor allem dauerhaften Verbesserung ihrer
zertierte Aktion, sagen: Der Pflegenotstand ist besei- Vergütung einhergehen muß. Hierfür notwendig
tigt. Das ist in der Tat der Fall. wäre jedoch zunächst einmal, daß die gravierenden
und durch nichts gerechtfertigten Einkommensunter-
Darum hat sich die Koalition entschieden, in die- schiede zwischen den verschiedenen Facharztgrup-
sem Bereich die vierte Stufe nicht mehr in Kraft tre- pen in der vertragsärztlichen Versorgung wenigstens
ten zu lassen. Das muß vor dem 1. Januar 1996 pas- einigermaßen ausgeglichen würden. Hier liegt be-
sieren, andernfalls würden Ausgaben in Höhe von kanntlich der Schlüssel zu einer beachtlichen Umver-
500 Millionen DM jährlich erfolgen. teilungssumme innerhalb der Ärzteschaft und damit
Von daher bin ich froh, daß wir nicht nur diesen zu einer richtigen und gerechten Lösung des Pro-
Punkt, sondern endlich auch das Thema der Opposi- blems. Diese Umverteilung ist bisher aber über be-
tion „Ersatzinvestitionen" wirklich klären - Sie ken- scheidenste Anfänge noch nicht hinausgekommen.
nen die Problematik und die Haltung der einzelnen Die Hausärzte sind in der Bundesrepublik in den
Länder letzten zwei Jahrzehnten zunehmend aus dem Zen-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Mit Aus trum der medizinischen Versorgung - wohin sie
nahme von Bayern!) zweifellos auch heute, und zwar mehr denn je gehö-
ren - an die Pe ripherie verdrängt worden. Noch im-
- mit Ausnahme von Baye rn , füge ich hinzu - und mer ist der Anteil der Allgemeinmediziner in der Am-
das Thema Bundespflegesatzverordnung, bei dem bulanz rückläufig. Das ist einer der schwerwiegend-
wir Korrekturen sehen. sten Strukturfehler dieses Gesundheitswesens und
Der Gesetzentwurf ist notwendig, um ein Signal zugleich eine der wesentlichen Ursachen dafür, daß
nach draußen zu geben. Er ist notwendig, um den in diesem System riesige Mittel verschwendet wer-
jungen Medizinern zu zeigen, daß es sich lohnt, in den und seine Kosten ständig aus dem Ruder laufen.
den hausärztlichen Bereich einzusteigen und nicht Wem es wirklich um die Verbesserung der haus-
Facharzt zu werden. Diese Umkehrung, Herr Profes- ärztlichen Versorgung ernst ist, der muß sich ent-
sor Pfaff, kann ich nur unterstützen. Wir unterstützen schieden mehr einfallen lassen als lediglich eine Fi-
sie aber nicht mit Gesetzen, sondern wir wollen es nanzspritze. Der Rolle der Hausärzte muß angefan-
mit Anreizen unterstützen. Das ist nach unserer Auf- gen vom Medizinstudium über eine durchgreifend
fassung der richtige Weg. verbesserte Weiter- und Fortbildung bis hin zur För-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne derung wissenschaftlicher Arbeit wieder jene Attrak-
ten der CDU/CSU) tivität gegeben werden, die sie verdient und die ihr
natürlicherweise auch innewohnt.
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Dr. Ruth Es wäre übrigens schon einmal ein wichtiger und
Fuchs, Sie haben das Wort. konkreter Schritt in diese Richtung, wirklich gut aus-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5297
Dr. Ruth Fuchs
gestattete Lehrstühle für Allgemeinmedizin an allen Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit:
medizinischen Ausbildungsstätten zu etablieren. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und-
Zum weiteren gehört dazu die Herstellung eines all- Herren! Ich weiß nicht, ob die SPD heute hier im
seits anerkannten Grundkonsenses innerhalb der Deutschen Bundestag für ihre ganze Partei gespro-
Ärzteschaft und in der Öffentlichkeit über die beson- chen hat. Wir haben derzeit einige wichtige gesund-
dere und zentrale integrierende und koordinierende heitspolitische Anliegen im Bundestag und Bundes-
Funktion der Hausärzte im gesamten System der ge- rat. Mir wird gerade mitgeteilt, daß die von der SPD
sundheitlichen Versorgung. beantragte Ablehnung der Streichung der Positivliste
für Arzneimittel im Bundesrat keine Mehrheit gefun-
Davon aber sind wir weit entfernt. Weiteres wäre den hat.
zu nennen. Selbstverständlich muß in einem solchen
Kontext auch die Aufhebung der gegenwärtig be- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Bitte wiederho
stehenden Unterbezahlung der Hausärzte ihren Platz len!)
finden.
Das ist eine ganz interessante Geschichte, und sie
Was nun das Problem der Vertragsärzte in Ost- freut uns.
deutschland betrifft, so geht es unserem Verständnis
nach anders als beim bisher besprochenen Teil letzt- Hier stelle ich fest, wir haben eine völlige Überein-
endlich um die Korrektur eines Fehlers, der bei der stimmung, daß die Rolle der Hausärzte gestärkt wer-
Konzipierung des Gesundheitsstrukturgesetzes un- den soll und muß. Es macht medizinisch Sinn und
terlaufen ist. Mit dem ersten Halbjahr 1992 wurde nutzt auch den Patienten. Der Hausarzt ist häufig der
ein Ausgangszeitraum für die Budgetanpassungen erste Ansprechpartner für seine Patienten. Er soll alle
der nachfolgenden Jahre gewählt, der entgegen al- diagnostischen, therapeutischen und pflegerischen
len zwischenzeitlichen Beteuerungen der Bundesre- Maßnahmen seiner Patienten koordinieren, und
gierung eben doch nicht der sich nachfolgend noch diese gesundheitspolitisch wichtige Aufgabe müssen
stärker verändernden Situation der ambulanten Ver- wir auch honorieren. Die Stärkung des Hausarztes
sorgung in den neuen Ländern adäquat Rechnung nutzt den Patienten, aber sie ist auch Voraussetzung
trug. Bereits nach kurzer Zeit erwies sich diese Aus- für mehr Wirtschaftlichkeit in der gesetzlichen Kran-
gangsbasis als zu gering veranschlagt und führte im kenversicherung. Unnötige Wege zum Facharzt, un-
Ergebnis zu einer sich systematisch fortschreibenden nötige Krankenhauseinweisungen und unnötige Me-
Benachteiligung der ostdeutschen Vertragsärzte. Wir dikamenteneinnahmen werden vermieden, wenn wir
betrachten diesen Teil des Gesetzes deshalb zumin- den Hausarzt stärken.
dest partiell als einen Akt nachholender Gerechtig- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
keit.
Hier immer wieder zu sagen, wir sind gemeinsam
Hinzu kommt, daß gewissermaßen vom Grundsatz für die Stärkung des Hausarztes, weil es medizinisch
her die Situation der niedergelassenen Ärzte in Ost- und ökonomisch sinnvoll ist, aber diesen allgemein
deutschland - bei aller Differenzie rtheit, die es gehaltenen Aussagen keine Taten folgen zu lassen,
durchaus zwischen Ihnen auch schon gibt - gegen- ist nicht glaubwürdig.
wärtig noch nicht mit derjenigen der Ärzte in den al-
ten Ländern verglichen werden kann. So ist ein gro- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ßer Teil von ihnen erst mit über 40 oder gar mit über
50 Jahren in die Niederlassung gegangen, in der Re- Wir müssen diesen Worten auch Taten folgen lassen.
gel auch ohne jedes finanzielle Polster, also ohne Ei-
genkapital, dafür aber mit beträchtlichen Krediten (Zuruf von der SPD: Aber die richtigen!)
belastet, deren Rückzahlung meist jetzt erst richtig Es wird immer gesagt, dies sei kostenmäßig in der
einsetzt. Zusätzlich schlagen die innerhalb weniger gesetzlichen Krankenversicherung nicht zu leisten.
Jahre zum Teil beträchtlich angestiegenen Betriebs- Wir reden heute über ein Kostenvolumen in der ge-
kosten zu Buche. Ich will nur die Mieten erwähnen. setzlichen Krankenversicherung, gemessen an den
Fazit: Der erste Teil dieses Gesetzes schreibt die Gesamtausgaben, von 0,3 %. Betroffen davon sind
zunehmend konzeptionslose Gesundheitspolitik der Ärzte, die insbesondere in den letzten drei Jahren -
Koalition konsequent fort. Er ist so durchsichtig und das ist unbestri tten - sinkende Honorareinnahmen
unsolide, daß man ihm auf keinen Fall zustimmen zu verzeichnen hatten und in den letzten Jahren ih-
kann. Der zweite Teil läuft auf die Abmilderung einer ren Teil zur finanziellen Stabilisierung der gesetzli-
beträchtlichen Ungerechtigkeit hinaus, unter der die chen Krankenversicherung beigetragen haben.
in Ostdeutschland niedergelassenen Ärzte seit 1993 (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
zu leiden haben. Diesen Teil wollen und werden wir
nicht ablehnen. Dadurch ist unsere Stimmenthaltung Die Ärzte haben gewaltige Anstrengungen unter-
begründet. nommen, um Mittel umzuschichten, weg von den
Fachärzten hin zu den Allgemeinärzten, durch die
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Änderung des einheitlichen Bewertungsmaßstabes.
(Beifall bei der PDS) Wir sprechen über die Honorare von Ärzten, die ih-
rerseits gewaltige Einsparvolumen im Laborbereich
von über 600 Millionen DM erwirtschaftet haben, um
Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem diese Einsparungen für die Hausärztevergütung pri-
Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer. mär und konzentriert zur Verfügung zu stellen.
5298 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Bundesminister Horst Seehofer


Eines konnten wir nicht machen, meine Damen Krankenversicherung -, dann lautete die richtige
und Herren, nämlich 1992 im übergreifenden Kon- Antwort: Do rt , wo die öffentliche Hand zur Ausgaben -
sens im Deutschen Bundestag den Auftrag an die explosion beigetragen hat, muß sie die Sparmaß-
Ärzte zu erteilen: Stärkt das Hausarztprinzip durch nahmen durchführen, damit wir die 600 Millionen
Umstrukturierung des einheitlichen Bewertungsmaß- DM zur Stärkung den Hausärzten zur Verfügung
stabes, durch Einsparungen im Labor und durch Um- stellen können.
schichtung der Mittel hin zum Hausarzt. Die Ärzte
erfüllen diesen Auftrag. Der Deutsche Bundestag (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
und die deutsche Politik erfüllen ihren Auftrag aber Herr Professor Pfaff, jetzt möchte ich mich ent-
nicht. schuldigen. Sie haben eine Zwischenfrage von mir
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zugelassen, deshalb möchte ich Ihre Frage selbstver-
ständlich auch zulassen, wenn Sie einverstanden
Auch wir müssen unseren Beitrag dazu liefern. sind.
Das Allerschlimmste ist, daß genau die gleichen
politischen Kräfte, die im Moment alleine für den Ko- Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Herr Kollege.
stenanstieg in der gesetzlichen Krankenversicherung
mitverantwortlich sind Dr. Martin Pfaff (SPD): Herr Bundesminister, Sie ha-
(Zuruf von der F.D.P.: Wer ist das denn?) ben gerade beklagt, daß die öffentliche Hand zum
Defizit in der GKV beigetragen hat. Was würde denn
- nämlich die Länder und Kommunen -, das Unver- der Gesetzesentwurf, wenn er beschlossen würde,
mögen gewissermaßen durch eine Bestrafung der tun? Würde er das Defizit durch die öffentliche Hand
Unbeteiligten an der Kostenentwicklung, nämlich erhöhen, oder würde er es verringern? Was sagen sie
der Ärzte, beantworten. Das darf nicht sein. dazu?
Die momentane Kostenentwicklung, Herr Profes-
sor Pfaff, die Defizite in der gesetzlichen Krankenver- Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit:
sicherung hat alleine die öffentliche Hand zu verant- Diese Frage hat doch Dieter Thomae hier sehr genau
worten. Es begann bei der von uns gemeinsam be- erklärt. Wir haben in dieser Woche ein Sofortpro-
schlossenen Rentenreform. Sie kostet der Kranken- gramm zur Kosteneinsparung in den Krankenhäu-
versicherung heuer 6 Milliarden DM Einnahmeaus- sern beschlossen, nämlich Einsparungen bei der öf-
fall fentlichen Hand, damit solche Dinge, die wir heute
(Zuruf von der F.D.P.: So ist es!) verabschieden, gegenfinanziert werden.
dadurch, daß für Arbeitslose geringere Beiträge ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
zahlt werden.
Ich denke, meine Damen und Herren, die Ge-
Das setzt sich mit dem Krankenhaus fo rt . Die Kran- schichte mit den Hausärzten - ich sage noch einmal:
kenhausausgaben steigen doppelt so stark wie die 0,3 % des gesamten Ausgabevolumens ist medizi-
Einnahmen der Krankenversicherungen. Das liegt nisch geboten - wird sich zum Teil sogar selbst finan-
daran, daß die Länder und die Kommunen ihre Auf- zieren, weil die Stärkung des Hausarztprinzips zu
gaben, die sie aus Haushalten und aus Steuermitteln mehr Wirtschaftlichkeit in der gesetzlichen Kranken-
zu finanzieren hätten, zunehmend in die gesetzliche versicherung führt.
Krankenversicherung hineingeschoben haben.
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Jetzt ein Wo rt zu den anderen 240 Millionen DM
Das setzt sich bei den Fahrtkosten fort. Sie sind in der Ostärzte. Wir haben in dieser Woche über fünf
drei Jahren bei Taxikosten im Rettungsdienst um Jahre deutsche Einheit gesprochen. Eine der größten
45 % gestiegen. Der Hauptgrund liegt da rin, daß Erfolgsgeschichten im Zusammenhang mit der deut-
Kommunen und Länder ihre Aufgaben bisher aus schen Einheit ist die Entwicklung des Gesundheits-
Steuern finanziert und jetzt in die Krankenversiche- systems in den neuen Ländern.
rungen verschoben haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Nun können wir nicht ein Defizit, das alleine durch Wir können heute nach fünf Jahren sagen: Wir ha-
die öffentliche Hand entstanden ist, damit beantwor- ben in den neuen Ländern in der Qualität der medizi-
ten, daß wir sagen: Das Sinnvolle tun wir bei den nischen Versorgung der Bevölkerung den gleichen
Ärzten deshalb nicht. Das ist die falsche Antwort. Standard wie in den alten Ländern. Dazu haben die
Mediziner in den neuen Ländern ganz wesentlich
Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, beigetragen.
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
(Zuruf der Abg. Monika Knoche [BÜND
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit:
Nein, keine Zwischenfrage. - Ja, gemeinsam mit vielen anderen, Frau Knoche:
natürlich mit den Schwestern, mit den Pflegern, mit
Herr Professor Pfaff, wenn wir die Mittel wirklich den Krankengymnasten, mit den Apothekern, mit
zur Verfügung stellen wollen - Sie glauben, das ist den Zahnärzten und vielen anderen mehr. Aber es
eine unzumutbare Belastung für die gesetzliche war ganz entscheidend die Arbeit der Mediziner in
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5299
Bundesminister Horst Seehofer
den neuen Ländern, die den Strukturwandel von ei- wächse in den Honoraren gehabt haben. Sie haben
nem zentralistisch geführten System hin zu einem schrumpfende Honorare gehabt. -
selbstverwalteten System in ihren Praxen umgesetzt
Meine Damen und Herren, im dritten Punkt sind wir
haben.
uns einig, nämlich daß die Stärkung des Hausarzt-
Nach einigen Jahren müssen wir nun feststellen, prinzips, die stärkere finanzielle Ausstattung der
daß der Anteil der Honorare für die Ärzte in den Ärzte in den neuen Bundesländern medizinisch und
neuen Bundesländern, gemessen an den Honoraren auch ökonomisch Sinn macht. Deshalb möchte ich Sie
in den alten Bundesländern, ein Niveau von nur etwa heute noch einmal auffordern, endlich diese Neidpoli-
zwei Dritteln, von etwa 66, 67 %, erreicht hat, wäh- tik abzulegen und hier nicht bei jeder Diskussion zu
rend die allermeisten anderen Bereiche in den neuen sagen, es gebe Arbeitslose, die weniger als die Ärzte
Ländern bei 70 %, bei 80 %, bei 90 % oder sogar bei hätten, und solange keine Nivellierung der Einkom-
100 % des Westniveaus liegen. men von Arbeitslosen und Ärzten gegeben sei, könne
man solchen Dingen nicht zustimmen. Was ist das für
Wir können nicht auf der einen Seite von den Me- eine Diskussion, meine Damen und Herren?
dizinern in den neuen Ländern die gleiche Spitzen-
leistung wie in den alten Bundesländern erwarten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
und sie auf der anderen Seite bei der Honorierung
Beenden Sie diese Neiddiskussion, sonst passiert
nur mit zwei Dritteln des Westniveaus bedenken.
Ihnen das gleiche wie bei der Positivliste: daß Sie
Deshalb müssen die 240 Millionen DM zugunsten
hier als SPD in der Öffentlichkeit gegen ein Gesetz
der Osthonorare verabschiedet werden.
marschieren und Ihre Kollegen und Genossen im
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bundesrat die von der Koalition eingebrachten Ge-
setzentwürfe passieren lassen.
Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, Ich bedanke mich.
Herr Kollege Dr. Wodarg würde gern eine Zwischen-
frage stellen. - Bitte. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Herr Minister Seeho- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol-
fer, Sie haben eben davon gesprochen, daß sich die lege Professor Pfaff.
Qualität der gesundheitlichen Versorgung in den
neuen Ländern so stark verbessert habe. Ich möchte Dr. Ma rtin Pfaff (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle-
von Ihnen wissen, nach welchen Kriterien Sie die ginnen und Kollegen! Herr Bundesminister, was wir
Qualität der gesundheitlichen Versorgung beurteilen. gerade erlebt haben, war eine absolute Verschleie-
rung der Tatsachen.
Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: (Beifall bei der SPD)
Da gibt es mehrere Kriterien. Ich habe jede Woche in
Krankenhäusern und durch Besuche von Arztpraxen Es geht doch gar nicht darum, ob die Hausärzte diese
Kontakt mit der Bevölkerung in den neuen Bundes- 600 Millionen DM bekommen sollen; denn die Kas-
ländern. Ich frage die Bevölkerung, und die Bevölke- senverbände und die Ärzte haben das ohnehin schon
rung ist do rt heute schon so mutig, daß sie uns sagt, für das nächste Jahr beschlossen. Es geht eigentlich
wenn etwas nicht in Ordnung ist. Ich höre von der auch nicht darum, ob die Fachärztinnen und Fach-
Bevölkerung in den neuen Ländern bei der Beurtei- ärzte in den neuen Ländern 240 Millionen DM be-
lung des Systems nur Bestnoten. kommen sollen.
(Beifall bei der CDU/CSU) Nein, es geht darum, ob angesichts dieser Be-
schlußlage der Ärzteverbände und der Kassenver-
Sie sagt: Eines hat sich geändert, nämlich daß die
bände der Gesetzgeber jetzt in die Selbstverwaltung
Bonzen und Funktionäre nicht mehr die erste Quali-
eingreift, der Selbstverwaltung in den Rücken fällt,
tät bekommen und die Normalbevölkerung nur die
sie desavouiert und etwas vorzieht, was sowieso ge-
dritte Qualtität bekommt, heute bekommt die Spit-
schehen wäre, wenn auch mit gewissen Konsequen-
zenmedizin jeder in der Bevölkerung ohne Ansehen
zen.
des Standes, des Einkommens und der Herkunft. Das
ist ein Riesenfortschritt. Es ist deshalb völlig unangebracht, Herr Minister,
in diesem Zusammenhang von einer Neidkampagne
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
zu sprechen.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: (Unruhe)
Wir reden über ein Finanzvolumen bei der gesetzli-
chen Krankenversicherung in Höhe von 0,3 %.
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, darf ich
(Unruhe - Glocke des Präsidenten) Sie einen Moment unterbrechen. Meine verehrten
Kolleginnen und Kollegen, Kollege Professor Pfaff ist
Wir haben einen ersten Dissens: Die SPD möchte, der letzte Redner in dieser Runde. Bringen Sie vor
daß dies erst 1996 in Kraft tritt, wir wollen, daß es be- der Abstimmung doch bitte noch ein paar Minuten
reits 1995 in Kraft tritt. Wir haben einen zweiten Dis- Geduld auf, damit auch dem letzten Redner noch zu-
sens: Die SPD will, daß die Ärzte das selbst finanzie- gehört werden kann.
ren - dieselben Ärzte, die in den letzten drei Jahren
weder zur Kostenexplosion beigetragen noch Zu Bitte fahren Sie fort.
5300 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Dr. Ma rt in Pfaff (SPD): Ich bedanke mich; aber ich Letztlich, Herr Minister Seehofer, ist dies ein
glaube, daß ich mich vielleicht auch sonst hätte durchsichtiges Manöver, ein Stück Klientelpolitik.
durchsetzen können - oder auch nicht. Die Qualität Ich frage Sie: Meinen Sie denn wirklich, daß Sie ein
der Argumente sollte eigentlich jeden und jede hier Rennen um die Gunst von bestimmten Klientelen mit
überzeugen; denn jeder und jede von uns wird im ei- dem bekannten Gesundheitspolitiker Möllemann ge-
genen Wahlkreis mit Ärzten und Ärztinnen konfron- winnen können?
tiert werden. Wir wollen dann die Tatsachen und
nicht Verschleierungsargumente kennen. (Beifall bei der SPD)

Deshalb zitiere ich, Herr Bundesminister, was die Da fragt man sich: Wer wird denn dann der Hase,
Kassenverbände gesagt haben: Wir sind einhellig der wer wird denn dann der Igel sein? Sie können als
Meinung, daß sich mit der Bundesempfehlung der Mitglied einer Volkspartei überhaupt nie die Kliente-
len mehr befri edigen als andere. Deshalb sage ich
Spitzenverbände und der Kassenärztlichen Vereini-
gung für das nächste Jahr dieser Gesetzentwurf er- nochmals, Herr Seehofer: Tun Sie den Versicherten
übrigt hat. einen Gefallen, tun Sie den Patienten einen Gefallen,
tun Sie sich selbst einen Gefallen, und ziehen Sie die-
(Beifall bei der SPD) sen Gesetzentwurf zurück!
(Beifall bei der SPD)
Was haben die Arbeitgeberverbände gesagt? - Sie
haben gesagt: Dies ist nur ein bloßes Draufsatteln, es
ist aus unserer Sicht nicht nachzuvollziehen. Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus-
sprache.
Für diejenigen, die natürlich keine Ahnung haben
können, weil sie mit dieser Materie nicht befaßt sind: Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Es geht schlicht und einfach darum, daß in den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrach-
neuen Bundesländern die Hausärzte 13 700 DM ten Gesetzentwurf zur Änderung des Fünften Buches
mehr bekommen sollen - das beklagen wir nicht - Sozialgesetzbuch. Der Ausschuß für Gesundheit
und daß die Fachärzte ca. 27 000 DM zusätzlich be- empfiehlt auf Drucksache 13/2589, den Gesetzent-
kommen sollen. Auch das beklagen wir nicht. Es wurf unverände rt anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
geht darum, daß es rückwirkend für das Jahr 1995 die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr
geplant ist, wodurch die strukturgestaltenden Ef- Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der
fekte einer Verbesserung der hausärztlichen Vergü- Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange-
tung schlicht und einfach verpuffen. nommen.

Herr Bundesminister, sehen Sie denn nicht, daß Sie Wir kommen zur
nicht nur die Selbstverwaltung desavouieren, indem dritten Beratung
sie ihr in den Rücken fallen? Sehen Sie denn nicht,
daß Sie in dieser Zeit - in der gesetzlichen Kranken- und Schlußabstimmung. Die Koalitionsfraktionen
versicherung werden allein in diesem Jahr die Defi- verlangen namentliche Abstimmung. Ich bitte die
zite 6, 7 oder 8 Milliarden DM und im nächsten Jahr Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehe-
10, 12 oder 14 Milliarden DM ausmachen - selbst das nen Plätze einzunehmen.
denkbar schlechteste Zeichen setzen?
Sind alle Urnen besetzt? - Ich eröffne die Abstim-
Sehen Sie nicht, daß Sie eigentlich Ihre eigene mung.
Zielvorgabe der Beitragssatzstabilität aushebeln?
Sehen Sie nicht, daß das Gerede von den hohen Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das
Lohnnebenkosten gerade aus Ihrem Munde nie und seine Stimme nicht abgegeben hat? - Offensichtlich
nimmermehr in diesem Hause ertönen darf? Denn haben alle ihre Stimme abgegeben. Ich schließe die
Sie erhöhen zu diesem Zeitpunkt die Lohnnebenko- Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Aus-
sten. zählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen spä-
ter bekanntgegeben. *)
(Beifall bei der SPD)
Wir setzen die Beratungen fort. Ich rufe die Tages-
Sehen Sie denn nicht, daß dies eigentlich ein vor- ordnungspunkte 16a und 16b sowie den Zusatz-
dergründiges Argument ist? Wenn es wirklich darum punkt 12 auf:
ginge, ob man den Hausärzten etwas geben will oder
nicht, dann könnte ich verstehen, daß Sie jetzt bei a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
bestimmten Klientelen sozusagen Punkte sammeln Cem Özdemir, Kerstin Müller (Köln) und der
wollen. Darum geht es aber gar nicht. Denn auch die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
Ärztinnen und Ärzte wissen ganz genau, daß jede brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
Ausweitung des Defizits in einer Phase, in der auch rung des Ausländergesetzes
im nächsten Jahr eine Begrenzung, eine Beitrags- - Drucksache 13/1426 -
satzstabilität geboten ist, letztlich zum Punktwertver-
Überweisungsvorschlag:
fall führen wird. Was mit einer Hand gegeben wird,
Herr Seehofer, wird mit der anderen Hand genom- Innenauschuß (federführend)
Rechtsausschuß
men. Auch das muß man den Ärztinnen und Ärzten
im Wahlkreis sagen. *) Seite 5305A
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5301

Vizepräsident Hans Klein


b) Erste Beratung des von den Fraktionen der richtet hat? Wissen Sie, was Menschen droht, die sich
CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs in ihrer Not nach Deutschland retten wollen - - -
eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Herr Präsident, können Sie da etwas tun?
Asylverfahrensgesetzes
- Drucksache 13/2577 —
Vizepräsident Hans Klein: Was meinen Sie, Frau
Überweisungsvorschlag: Kollegin? Die Unruhe, oder?
Innenausschuß (federführend)
Rechtsausschuß
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Beratung der Beschlußempfehlung des Petiti- NEN): Zum Beispiel.
onsausschusses (2. Ausschuß)
Bleiben wir ruhig bei dem Fall, der einige von Ih-
Sammelübersicht 38 zu Petitionen nen zu so markigen Worten veranlaßt hat. Da kommt
- Drucksache 13/1410 - ein Mensch aus dem berüchtigten Folterstaat Sudan
auf einem deutschen Flughafen an. Er wird in einen
Zur Sammelübersicht 38 liegt ein Änderungsan- überfüllten Transitraum gepfercht. Dann soll er in
trag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor. wenigen Minuten einem dürftig ausgebildeten Be-
amten seinen Fall schildern, meist ohne Anwalt und
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die
ohne Kenntnis seiner Rechte. Hält jener Beamte den
gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen, Antrag dann für offensichtlich unbegründet, weil
wobei die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zehn vielleicht der Flüchtling nicht in der Lage ist, Datum
Minuten erhalten soll. - Dagegen erhebt sich kein
und Uhrzeit seiner Folter zu nennen, dann wird die-
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. sem Menschen die Einreise verweigert. Er wird ab-
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin geschoben. Selbst wenn er sich mit einem Eilantrag
Kerstin Müller das Wo rt . vor Gericht vor der Abschiebung zu retten versucht,
gibt es nur wenig Hoffnung. Das Gericht prüft näm-
lich nur summarisch, ob der Antrag in einem richti-
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen Verfahren Aussicht auf Erfolg hätte, und zwar
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! meist ohne den Flüchtling je gesehen oder angehört
Am 12. September 1995 hat Innenminister Kanther zu haben.
sieben Menschen in den Folterstaat Sudan abgescho-
ben. Jetzt sitzen schon wieder neue Flüchtlinge aus Ich frage Sie: Ist es eines Rechtsstaates würdig,
dem Sudan zusammengepfercht in den Transiträu- wenn Rechtsanwälte mit Schriftsätzen zwischen Roll-
men am Frankfurter Flughafen. Was wird mit ihnen feld und Kanzlei hin und her rennen, während das
geschehen? Abschiebeflugzeug schon wartet? Sind überfüllte
Transiträume und Abschiebegefängnisse für Men-
(B rigitte Baumeister [CDU/CSU]: Zurück schen, deren einziges „Verbrechen" es ist, nach
schicken!) Deutschland gekommen zu sein, einem Rechtsstaat
angemesssen? Ist es eines Rechtsstaates würdig,
- Gestern ist einer abgeschoben worden. wenn das Bundesverfassungsgericht das Tempo sei-
Die Absetzung der Aktuellen Stunde war aus unse- ner Entscheidungen von Flugplänen abhängig macht?
rer Sicht ein Fehler. Bei Ihnen wurde dadurch nämlich Meine Damen und Herren, dieses Verfahren ver-
offensichtlich der Eindruck erweckt, wir hätten in der höhnt den Rechtsstaat, und es verstößt gegen die
Sache etwas zurückzunehmen. Meine Damen und Menschenrechte. Was zählt, ist die schnelle Abschie-
Herren von der Regierung und auch von der Koalition, bung und nicht eine sorgfältige Prüfung.
ich versichere Ihnen: Das ist mitnichten der Fall.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und bei der PDS)
An unserer Kritik hat sich nichts geändert. Nein, Ich spreche hier nicht nur von jenen Flüchtlingen
sie ist in diesen Wochen sogar noch aktueller und aus dem Sudan. Auch der Petitionsfall Touda aus Al-
dringlicher geworden; denn aus Recht ist Unrecht ge- gerien oder die enorme Zunahme von Asylpetitio-
worden in diesem Land. Am 1. Juli 1993 hat der nen überhaupt zeigt, daß es im Asylrecht eklatante
Rechtsstaat seine Würde verloren. An diesem Tag Lücken gibt. Ich spreche auch von all den Menschen,
wurde das Grundrecht auf Asyl in Deutschland ab- die hier Hilfe suchen und statt Hilfe ein Schnellver-
geschafft. fahren erhalten. Ich spreche von einem Rechtsstaat,
in dem nicht mehr Gerichte, sondern Repo rter einer
Das Grundgesetz verspricht einen Schutz, den es im Illustrierten überprüfen, ob Flüchtlinge politisch ver-
Nachsatz verwehrt. Politisch Verfolgte genießen Asyl-
folgt sind, und das im Heimatland.
recht; nur berufen können sich die Flüchtlinge nicht
mehr darauf. Nicht Verantwortung und Menschlich-
keit, nein Abschottung und Abschreckung diktieren Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, darf ich
seither die deutsche Flüchtlingspolitik. Sie darauf hinweisen, daß Sie zu einem Punkt reden,
der nicht auf der Tagesordnung steht.
(Unruhe)
Meine Damen und Herren, wissen Sie eigentlich, Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
was dieses Parlament mit dem neuen Asylrecht ange- NEN): Doch, ich komme jetzt zu den Anträgen.
5302 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Vizepräsident Hans Klein: Entschuldigen Sie, dies len Abschiebestopp seitens der Bundesländer umge-
heißt in der Geschäftsordnung: „ruft zur Sache", gangen, und wie ist das Verhalten des Bundesinnen- -
ministers in dieser Frage? Wir glauben, daß die Rege-
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
lungen, die derzeit vorhanden sind, die richtigen Re-
GRÜNEN]: Ja, natürlich!)
gelungen sind. Es muß eine bundeseinheitliche Re-
und wenn Sie es nicht befolgen, entziehe ich Ihnen gelung geben, nach der der Bundesinnenminister
das Wo rt . hier das letzte Wo rt hat.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr rich
ordneten der F.D.P.) tig!)
Beim Ausländerrecht ist eine bundeseinheitliche
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Handhabung der Abschiebung geboten.
NEN): Ich habe z. B. gerade zu den Petitionen gere-
det, die behandelt werden. Ich komme auch noch auf Vor diesem Hintergrund werden wir den Antrag
den § 54. der Grünen selbstverständlich nicht annehmen. Da-
mit ist alles gesagt, was in dieser Frage zu sagen ist.
Meine Damen und Herren, wir hoffen inständig,
daß den abgeschobenen Flüchtlingen im Sudan (Beifall bei der CDU/CSU - Albe rt Schmidt
nichts passiert. [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Johnny Kleingeist hat zugeschlagen!)
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, ich ent-
ziehe Ihnen das Wo rt . Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kolle-
gin Sonntag-Wolgast.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
ordneten der F.D.P. - Kerstin Müller [Köln]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe zu Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Herr Präsi-
den Petitionen gesprochen!) dent! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Auch
wenn wir heute nur einen speziellen Problempunkt
- Nein, das war nicht zur Sache. des Asylrechts ansprechen, möchte ich mir doch eine
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Vorbemerkung an dem Tag erlauben, an dem die Ur-
GRÜNEN]: Warum haben Sie denn Angst, teile zu der Tat in Solingen gesprochen worden sind.
über diese Sachen zu reden? Sie haben Ich muß sagen: Ich habe eben mit ein wenig Unver-
doch angeblich nichts zu befürchten! - B ri ständnis darauf reagie rt , daß einer Kollegin nicht ge-
gitte Baumeister [CDU/CSU]: Das war nicht stattet wurde, umfassende Aspekte mit einzubrin-
zur Sache!) gen.

- Frau Kollegin, der Sudan-Punkt ist heute früh ei- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS
gens abgesetzt worden. SES 90/DIE GRÜNEN)

(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Meine Damen und Herren, ich meine, wir sollten
GRÜNEN]: Ich habe zu den Petitionen gere alle erleichtert darüber sein, daß es nach einem
det, die jetzt auch verhandelt werden!) schwierigen, einem langwierigen und streckenweise
verwirrenden Prozeß dem Gericht doch gelungen ist,
- Nein, Sie haben ausschließlich zum Sudan geredet, die Täterschaft der vier Angeklagten ausreichend zu
und als ich Sie darauf hingewiesen habe - - belegen. Die langjährigen Haftstrafen sind der
Schwere dieses menschenverachtenden Verbrechens
(Zuruf der Abg. Kerstin Müller [Köln]
angemessen.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
- Bitte, streiten Sie sich nicht mit mir! Ihre Wortmel-
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, darf ich
dung ist beendet. Sie einen Moment unterbrechen. Ich finde den Zu-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sammenhang, den Sie hier hergestellt haben, unzu-
lässig,
Ich erteile der Kollegin E rika Steinbach das Wo rt .
(Widerspruch bei der SPD und beim BÜND
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Erika Steinbach (CDU/CSU): Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kol- und Sie haben die Entscheidung des Präsidenten auf
leginnen und Kollegen! Zur Fairneß innerhalb einer diese Weise nicht zu kritisieren.
Diskussion gehört es, daß man akzeptiert, wenn in
einer Geschäftsordnungsdebatte Entscheidungen Bitte fahren Sie in Ihrem Text fort.
getroffen worden sind. Das, was eben vorgetragen
worden ist, ist heute früh in der Geschäftsordnungs- Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Ich habe die
diskussion nicht auf die Tagesordnung gesetzt wor- Entscheidung des Präsidenten expressis verbis nicht
den. kritisiert. Aber ich habe mir gestattet, an einem un-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gewöhnlichen Tag, an dem ein langerwartetes Urteil
gesprochen worden ist, das für die Szene der hier le-
Ich möchte es ganz kurz machen. Auf der Tages- benden Migranten und Migrantinnen und für den in-
ordnung steht die Frage: Wie wird mit dem generel- neren Frieden in diesem Land wichtig ist, einige we-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5303
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
nige Anmerkungen zu machen. Ich nehme mir als Aus den Ländern Schleswig-Holstein und Sach-
Rednerin das Recht, zu dieser Thematik einige we- sen-Anhalt kommen Gesetzesinitiativen für eine Än-
nige Sätze zu verlieren. derung. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben mit dem
Antrag, über den wir heute hier reden, die Anregung
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ aufgegriffen. Sie unterscheiden sich aber im Ziel.
DIE GRÜNEN) Darauf möchte ich nun zu sprechen kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zu
dem Antrag, der § 54 des Ausländergesetzes berührt; Die beiden Länder, die ich erwähnt habe, wollen
das ist unser Thema. Es gibt schon lange Zweifel grundsätzlich am Prinzip der Bundeseinheitlichkeit
daran, ob das Einvernehmen des Bundesinnenmi- festhalten und schlagen künftig als Vorbedingung ei-
nisters zwingend vorliegen muß, wenn Abschiebe- nes Abschiebestopps eine Zweidrittelmehrheit vor.
stopps über sechs Monate hinaus verlängert werden Sie aber sprechen in Ihrem Antrag von einer einfa-
sollen. chen Mehrheit. Dem werden wir uns nicht anschlie-
ßen, weil damit keine ausreichend breite Basis vor-
Die Diskussion hatte sich im vergangenen Novem- handen wäre.
ber besonders zugespitzt, als es darum ging, daß ab-
gelehnte Asylbewerber kurdischer Abstammung ab- Aber auf der anderen Seite, liebe Kolleginnen und
geschoben und in ihr Heimatland zurückgeschickt Kollegen: So, wie der Bundesinnenminister bisher
werden sollten. Der Innenminister hat in den Wochen seine Kompetenz oft versteht und auslegt, meinen
und Monaten danach in einem peinlichen Hangeln wir, geht es nicht weiter. Die Idee der Bundeseinheit-
zwischen Verschiebungen und dann wieder erfolg- lichkeit wird dann ad absurdum geführt, wenn der
ten Aufhebungen von Entscheidungen keine glückli- zuständige Minister ein überwältigendes Votum aus
che Figur gemacht. Es war peinlich für den politisch den Ländern einfach in den Wind schlägt und es mit
Verantwortlichen, es war verwirrend für die Länder Hinweis auf die abweichende Position eines Landes
und kaum noch zumutbar für die unmittelbar Betrof- oder zweier Länder aushebelt.
fenen.
Hier gilt, wie in anderen Bereichen der Asyl- und
(Erwin Marschewski [CDU/CSU]): Er hat Flüchtlingspolitik auch: Prinzipienstarre ist im Um-
sich nur an das Gesetz gehalten! Das war gang mit Fragen der Menschenrechte ein ganz
nicht peinlich, das war Gesetz!) schlechter Ratgeber. „Korrektes" Handeln ist noch
längst nicht politisch angemessen und richtig.
Ich will noch einmal rekapitulieren: Im Dezember
sollte zunächst abgeschoben werden. Es gab dann Das hätte ich Ihnen gerne auch im Rahmen der lei-
die berechtigte öffentliche Empörung angesichts des der abgesagten Aktuellen Stunde über die abge-
Urteils gegen acht kurdische Parlamentarier. Darauf- schobenen sieben Sudanesen einmal ins Stammbuch
hin gab es eine zweimalige Verlängerung. geschrieben. Ich nutze jetzt diese Gelegenheit dazu,
Wir hatten im März - wie Sie sich wohl noch erin- wo wir eine verwandte Problematik debattieren.
nern - im Innenausschuß ein Anhörverfahren, das Zurück zum § 54 des Ausländergesetzes. Ich for-
aus meiner Sicht, wie die Regierungsvertreter und dere den Bundesinnenminister auf, bei der Entschei-
auch der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion damit dung über Abschiebestopps von seiner engen Ausle-
umgingen, leider nur noch Alibicharakter hatte. gung und der starren Praxis abzurücken und den
Denn kaum war das Anhörverfahren beendet, war breiten Konsens zu suchen. Dazu gehört es, Rat und
schon das Urteil da: eine Art Unbedenklichkeits- Meinung der Länder, der Ausländerbehörden, auch
bescheinigung zur Abschiebung dieser Menschen. der Menschenrechtsorganisationen und der Kirchen
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn es einzuholen und zu respektieren
jetzt ein halbes Jahr zurückliegt, lohnt noch eine An-
merkung dazu, weil wir über dieses Thema heute de- (Beifall bei der SPD)
battieren. Das war und ist eine Mißachtung des Par- sowie das Auswärtige Amt in die Pflicht zu nehmen.
laments. Wer so handelt, muß sich nicht wundern, Nur so kann Einvernehmen in des Wortes eigentli-
wenn der Grundsatz der Bundeseinheitlichkeit bei cher Bedeutung entstehen.
Entscheidungen über längerfristige, generelle Ab-
schiebestopps massiv angezweifelt wird. Wir beraten außerdem einen Antrag, der Konse-
quenzen aus der Schließung von Außenstellen des
Eigentlich hat dieser Grundsatz der Bundeseinheit-
Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
lichkeit seine überzeugenden Gründe. Wenn man
Flüchtlinge zieht. Dort, wo eine dezentrale Stelle
vermeiden möchte, daß über das künftige Schicksal
nicht mehr vorhanden ist, sollen Asylbewerber bei
von Asylsuchenden in Baden-Württemberg anders
entschieden wird als vielleicht in Bayern, in Ham- der Zentrale des Bundesamtes schriftlich einen Fol-
geantrag einreichen. Ich halte diese Lösung dann für
burg anders als in Mecklenburg-Vorpommern, dann
unproblematisch, wenn zwei Bedingungen erfüllt
ist ein breites Einvernehmen in einer so sensiblen
Angelegenheit in der Bundesrepublik schon nötig. werden. Zum einen muß gewährleistet sein, daß das
Anliegen der Asylsuchenden genauso intensiv und
Der Fehler des Bundesinnenministers besteht aber eingehend behandelt wird, wie es bei einer Außen-
darin, daß er sein Einvernehmen zur Verlängerung stelle der Fall gewesen wäre oder hätte sein müssen,
eines Abschiebestopps auch dann nicht erteilt, wenn und zum anderen muß das Verfahren natürlich eng
auch nur ein einziges Land ausschert. Dieser Mecha- mit den praktizierenden Ländern abgestimmt wer-
nismus ist in der Tat oft nicht mehr nachvollziehbar. den.
5304 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast


Wenn wir heute auf den Antrag hinsichtlich des Es gibt ja in diesem Lande nicht nur die eine So rt e
Petitums an den Petitionsausschuß im Fall des algeri- von Bürgern, die alle Flüchtlinge und alle Zuwande- -
schen Asylsuchenden positiv reagieren, dann auch rer ohne Rücksicht auf deren Schicksal schnurstracks
deshalb, weil die Sorgfalt im Umgang mit dem Ver- zurückweisen und wieder wegschicken wollen. Es
fahren immer wieder neu überprüft werden und ge- gibt zum Glück auf der anderen Seite auch eine sehr
währleistet sein muß. Wir unterstützen also diesen kritische, aufmerksame Öffentlichkeit, die manchmal
Antrag. vielen unbequem sein mag, die aber uns in Sachen
Menschenrechte genau auf die Finger schaut und
Liebe Kollegen und Kolleginnen, noch eine kurze die man nicht diffamieren sollte. Ich jedenfalls bin
Schlußbemerkung. Wir bewegen uns auf die Diskus- froh darüber, daß es dieses Engagement gibt. Ich
sion im Vorfeld des Karlsruher Urteils zur Asyl- wünschte, die Bundesregierung sähe das ebenso.
rechtsreform zu. Wir Sozialdemokraten stehen zu
dieser Reform. Gleichwohl sind innerhalb des Ge- Ich danke Ihnen.
samtkonzeptes Korrekturen und Ergänzungen nötig.
Eines ist schon jetzt klar, unabhängig davon, ob und (Beifall bei der SPD)
welche Änderungen uns die Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts auferlegt - daran will ich
noch einmal erinnern -: Wir brauchen die humane Vizepräsident Hans Klein: Zur Geschäftsordnung
Altfallregelung für Asylbewerber, die wir beantragt erteile ich der Kollegin Christa Nickels das Wo rt .
haben,

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Die ha Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):


ben wir beim letztenmal geregelt!) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beantragen
gemäß § 6 der Geschäftsordnung die Unterbre-
wir brauchen das ebenfalls von uns geforderte asyl- chung der Sitzung und die Einberufung des Älte-
unabhängige Bleiberecht für bestimmte Gruppen stenrates. Unsere Fraktion hat Bedarf danach; un-
von Asylsuchenden, sere Geschäftsführung hat Bedarf nach einer Erör-
terung im Ältestenrat. Ich brauche das nicht weiter
(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Da sind auszuführen; nach der Geschäftsordnung ist es mir
wir völlig dagegen!) auch nicht gestattet. Auf Antrag einer Fraktion
oder von fünf vom Hundert der Mitglieder des
wir brauchen die stärkere Berücksichtigung der Bundestages muß der Ältestenrat sofort einberufen
Rechte von Folteropfern und von sexuell verfolgten werden.
Frauen, und wir brauchen - um das noch einmal zu
betonen - den besonderen Aufenthaltsstatus für Die Unterbrechung ist auch deshalb nötig, weil un-
Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, der endlich sere Fraktion Bedarf nach einer Sondersitzung hat.
wirklich praktiziert und mit Leben erfüllt werden
muß. Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und der PDS)

Es gehört zum Kern des Asylkompromisses, die Zu-


wanderung zu begrenzen und dabei jedoch das Vizepräsident Hans Klein: Ich darf diejenigen Kol-
Grundrecht auf Schutz für politisch Verfolgte abzu- leginnen und Kollegen, die dem Ältestenrat angehö-
sichern, ein ordentliches Verfahren zu ermöglichen ren, jetzt sofort zu einer Sitzung des Ältestenrats ein-
und die Behandlung der Anträge deutlich zu be- laden.
schleunigen. Es war und ist aber nicht Kern des Asyl
kompromisses - so habe ich ihn nie verstanden -, Ich unterbreche die Sitzung.
den Gesetzesvollzug mit der Aura von Gnadenlosig-
(Unterbrechung von 12.50 bis 13.54 Uhr)
keit zu umgeben.

Wer sich nur auf das Instrumentarium von Regeln


Vizepräsident Hans Klein: Verehrte Kolleginnen
beruft und diese Regeln auch noch einseitig im Sinne
und Kollegen! Wir setzen die unterbrochene Sitzung
einer Politik der bloßen Abwehr befolgt, der gefähr-
fort.
det das, was er eigentlich zu retten vorgibt, nämlich
den mühsam errungenen Konsens in der Gesell- Ich möchte zunächst das Ergebnis der namentli-
schaft beim Umgang mit Menschen, die Zuflucht su- chen Schlußabstimmung über den Entwurf eines
chen. Vierten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches
(Beifall des Abg. Otto Schily [SPD]) Sozialgesetzbuch auf den Drucksachen 13/1826 und
13/2589 bekanntgeben. Abgegebene Stimmen: 564.
Wer da nicht großzügig, flexibel und dialogfähig Mit Ja haben gestimmt: 301. Mit Nein haben ge-
agiert, der reitet unseren Ruf als toleranter Staat zu- stimmt: 240. Enthaltungen: 23. Der Gesetzentwurf ist
schanden. Eine Innenpolitik, die sich nur der Kälte angenommen.
und dem bloßen Formalismus verschreibt, leistet dem
inneren Frieden in unserer Gesellschaft einen Bären- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
dienst. und der F.D.P.)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5305

Vizepräsident Hans Klein


Endgültiges Ergebnis Peter Götz Dr. Klaus W. Lippold Roland Sauer (Stuttga rt)
Dr. Wolfgang Götzer (Offenbach) Ortrun Schätzle
Abgegebene Stimmen: 563 Joachim Gres Dr. Manfred Lischewski Dr. Wolfgang Schäuble
davon Kurt-Dieter Gri ll Wolfgang Lohmann Hartmut Schauerte
Hermann Gröhe (Lüdenscheid) Heinz Schemken
ja: 300
Claus-Peter Grotz Julius Louven Karl-Heinz Scherhag
nein: 240 Sigrun Löwisch Gerhard Scheu
Manfred Grund
enthalten: 23 Horst Günther (Duisburg) Heinrich Lummer Norbert Schindler
Carl-Detlev Freiherr von Dr. Michael Luther Dietmar Schlee
Hammerstein Erich Maaß (Wilhelmshaven) Ulrich Schmalz
Ja Gottfried Haschke Dr. Dietrich Mahlo Bernd Schmidbauer
(Großhennersdorf) Erwin Marschewski Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Gerda Hasselfeldt Günter Marten (Halsbrücke)
CDU/CSU Dr. Martin Mayer Andreas Schmidt (Mülheim)
Rainer Haungs
(Siegertsbrunn) Hans-Otto Schmiedeberg
Otto Hauser (Esslingen)
Ulrich Adam Wolfgang Meckelburg Hans Peter Schmitz
Hansgeorg Hauser
Peter Altmaier Rudolf Meinl (Baesweiler)
(Rednitzhembach)
Jürgen Augustinowitz Dr. Michael Meister Birgit Schnieber-Jastram
Klaus-Jürgen Hedrich
Dietrich Austermann Dr. Angela Merkel Dr. Rupe rt Scholz
Manfred Heise
Heinz-Günter Bargfrede Friedrich Merz Dr. Erika Schuchardt
Dr. Renate Hellwig Wolfgang Schulhoff
Franz Peter Basten Ernst Hinsken Rudolf Meyer (Winsen)
Hans Michelbach Dr. Dieter Schulte
Dr. Wolf Bauer Peter Hintze
Meinolf Michels (Schwäbisch Gmünd)
Brigitte Baumeister Josef Holle rith
Dr. Gerd Müller Gerhard Schulz (Leipzig)
Meinrad Belle Dr. Karl-Heinz Hornhues
Elmar Müller (Kirchheim) Frederick Schulze
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Siegfried Hornung Diethard Schütze (Berlin)
Hans-Dirk Bierling Joachim Hörster Engelbert Nelle
Bernd Neumann (Bremen) Clemens Schwalbe
Dr. Joseph-Theodor
P Blank Hubert Hüppe Dr. Ch ristian Schwarz-
Renate Blank Peter Jacoby Johannes Nitsch
Claudia Nolte Schilling g
Heribert Blens Susanne Jaffke Wilhelm-Josef Sebastian
Peter Bleser Dr. Rolf Olderog
Georg Janovsky Horst Seehofer
Dr. Norbert Blüm Friedhelm Ost
Helmut Jawurek Wilfried Seibel
Friedrich Bohl Eduard Oswald
Dr. Dionys Jobst Heinz-Georg Seiffert
Dr. Maria Böhmer Norbert Otto (Erfurt)
Michael Jung (Limburg) Bernd Siebert
Jochen Borchert Dr. Gerhard Päselt
Dr. Egon Jüttner Jürgen Sikora
Wolfgang Dr. Peter Paziorek
g g Börnsen (Bönstru P) Dr. Harald Kahl
Hans-Wilhelm Pesch
Johannes Singhammer
Wolfgang Bosbach Bartholomäus Kalb Bärbel Sothmann
Dr. Wolfgang Bötsch Ulrich Petzold
Steffen Kampeter Margarete Späte
Anton Pfeifer
Klaus Brähmig Dr.-Ing. Dietmar Kansy Wolfgang Steiger
Dr. Gero Pfennig
Rudolf Braun (Auerbach)
( ) Irmgard Karwatzki Erika Steinbach
Dr. Friedbert Pflüger Dr. Wolfgang Freiherr von
Paul Breuer Volker Kauder
Beatrix Philipp Stetten
Georg Brunnhuber Peter Keller Dr. Winfried Pinger Dr. Gerhard Stoltenberg
Klaus Bühler (Bruchsal) Eckart von Klaeden Ronald Pofalla Andreas Storm
Dankward Buwitt Dr. Bernd Klaußner Dr. Hermann Pohler Max Straubinger
Manfred Carstens (Emstek) Hans Klein (München) Ruprecht Polenz Michael Stübgen
Peter Harry Carstensen Ulrich Klinkert Marlies Pretzlaff Egon Susset
(Nordstrand) Hans-Ulrich Köhler Dr. Bernd Protzner Dr. Rita Süssmuth
Hubert Deittert (Hainspitz) Thomas Rachel
Gertrud Dempwolf Manfred Kolbe Dr. Susanne Tiemann
Hans Raidel Dr. Klaus Töpfer
Albe rt Deß Norbe rt Königshofen Dr. Peter Ramsauer
Renate Diemers Eva Maria Kors Gottfried Tröger
Rolf Rau Dr. Klaus-Dieter Uelhoff
ilhelm Dietzel Manfred Koslowski Helmut Rauber Gunnar Uldall
Werner Dörflinger Thomas Kossendey Peter Harald Rauen Dr. Horst Waffenschmidt
Hansjörgen Doss Rudolf Kraus Otto Regenspurger Alois Graf von Waldburg-Zeil
Dr. Alfred Dregger g g Krause (Dessau))
Wolfgang Christa Reichard (Dresden) Dr. Jürgen Warnke
Maria Eichhorn Andreas Krautscheid Klaus Dieter Reichardt Kersten Wetzel
Wolfgang Engelmann Arnulf Kriedner (Mannheim)
) s-O tto Wilhelm (Mainz)
Hans-O
Heinz Dieter Eßmann 9 Kronbergg
Heinz-Jürgen ( Reinhardt
Erika Gert Willner
Horst Eylmann Reiner Krziskewitz Hans-Peter Repnik Bernd Wilz
Ilse Falk Dr. Hermann Kues Roland Richter Willy Wimmer (Neuss)
Dr. Kurt Faltlhauser Werner Kuhn Roland Richwien Matthias Wissmann
Dr. Karl H. Fell Dr. Karl A. Lamers Dr. Norbe rt Rieder Simon Wittmann
Ulf Fink (Heidelberg) Dr. Erich Riedl (München) (Tännesberg)
Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Norbert Lammert Klaus Riegert Dagmar Wöhrl
Klaus Francke (Hamburg) Helmut Lamp Dr. Heinz Riesenhuber Michael Wonneberger
Herbert Frankenhauser Armin Laschet Hannelore Rönsch Elke Wülfing
Dr. Gerhard Fried rich Herbert Lattmann (Wiesbaden) Cornelia Yzer
Erich G. Fritz Dr. Paul Laufs Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Wolfgang Zeitlmann
Hans-Joachim Fuchtel Karl -Josef Laumann Dr. Klaus Rose Benno Zierer
Michaela Geiger Werner Lensing Kurt J. Rossmanith Wolfgang Zöller
Norbert Geis Christian Lenzer Adolf Roth (Gießen)
Dr. Heiner Geißler Peter Letzgus Norbert Röttgen
Michael Glos Editha Limbach Dr. Christian Ruck SPD
Wilma Glücklich Walter Link (Diepholz) Volker Rühe
Dr. Reinhard Göhner Eduard Lintner Dr. Jürgen Rüttgers Monika Heubaum
5306 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Vizepräsident Hans Klein


F.D.P. Peter Enders Ulrike Mehl Dietmar Thieser
Ge rnot Erler Herbert Meißner Franz Thönnes
Ina Albowitz Petra Ernstberger Angelika Mertens Uta Titze-Stecher
Dr. Gisela Babel Annette Faße Dr. Jürgen Meyer (Ulm) Adelheid Tröscher
Günther Bredehorn Elke Ferner Ursula Mogg Hans-Eberhard Urbaniak
Jörg van Essen Lothar Fischer (Homburg) Siegmar Mosdorf Ute Vogt (Pforzheim)
Dr. Olaf Feldmann Iris Follak Michael Müller (Düsseldorf) Karsten D. Voigt (Frankfurt)
Gisela Frick Norbert Formanski Jutta Müller (Völklingen) Josef Vosen
Paul K. Friedhoff Dagmar Freitag Christian Müller (Zittau) Hans Georg Wagner
Horst Friedrich Anke Fuchs (Köln) Kurt Neumann (Berlin) Hans Wallow
Dr. Wolfgang Gerhardt Katrin Fuchs (Verl) Volker Neumann (Bramsche) Dr. Konstanze Wegner
Joachim Günther (Plauen) Arne Fuhrmann Gerhard Neumann (Gotha) Wolfgang Weiermann
Dr. Karlheinz Guttmacher Monika Ganseforth Dr. Edith Niehuis Reinhard Weis (Stendal)
Dr. Helmut Haussmann Norbert Gansel Dr. Rolf Niese Matthias Weisheit
Ulrich Heinrich Konrad Gilges Doris Odendahl Gunter Weißgerber
Walter Hirche Günter Gloser Leyla Onur Gert Weisskirchen (Wiesloch)
Dr. Burkhard Hirsch Angelika Graf (Rosenheim) Manfred Opel Jochen Welt
Birgit Homburger Achim Großmann Adolf Ostertag Hildegard Wester
Dr. Werner Hoyer Karl Hermann Haack Kurt Palis Lydia Westrich
Ulrich Irmer (Extertal) Albrecht Papenroth Helmut Wieczorek (Duisburg)
Detlef Kleinert (Hannover) Hans-Joachim Hacker Dr. Wilfried Penner Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Heinrich L. Kolb Klaus Hagemann Dr. Martin Pfaff Dieter Wiefelspütz
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Manfred Hampel Georg Pfannenstein Berthold Wittich
Heinz Lanfermann Christel Hanewinckel Dr. Eckhart Pick Dr. Wolfgang Wodarg
Sabine Leutheusser- Alfred Hartenbach Joachim Poß Verena Wohlleben
Schnarrenberger Dr. Liesel Hartenstein Margot von Renesse Hanna Wolf (München)
Uwe Lühr Klaus Hasenfratz Renate Rennebach Heidi Wright
Jürgen W. Möllemann Dr. Ingomar Hauchler Bernd Reuter Uta Zapf
Günther Friedrich Nolting Dieter Heistermann Dr. Edelbert Richter Dr. Christoph Zöpel
Lisa Peters Rolf Hempelmann Günter Rixe Peter Zumkley
Dr. Günter Rexrodt Dr. Barbara Hendricks Dr. Hansjörg Schäfer
Dr. Klaus Röhl Uwe Hiksch Gudrun Schaich-Walch
Helmut Schäfer (Mainz) Reinhold Hiller (Lübeck) Dieter Schanz BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Cornelia Schmalz-Jacobsen Gerd Höfer Rudolf Scharping
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Jelena Hoffmann (Chemnitz) Bernd Scheelen Gila Altmann (Aurich)
Dr. Hermann Otto Solms Frank Hofmann (Volkach) Elisabeth Altmann
Dr. Hermann Scheer
Carl-Ludwig Thiele Ingrid Holzhüter (Pommelsbrunn)
Horst Schild
Dr. Dieter Thomae Erwin Horn Marieluise Beck (Bremen)
Otto Schily
Jürgen Türk Eike Hovermann Volker Beck (Köln)
Günter Schluckebier
Dr. Wolfgang Weng Lothar Ibrügger Angelika Beer
Horst Schmidbauer
(Gerlingen) Wolfgang Ilte Matthias Berninger
(Nürnberg)
Brunhilde Irber Annelie Buntenbach
Dagmar Schmidt (Meschede)
Amke Dietert-Scheuer
Gabriele Iwersen Wilhelm Schmidt (Salzgitter)
Nein Andrea Fischer (Berlin)
Jann-Peter Janssen Regina Schmidt-Zadel
Rita Grießhaber
Dr. Uwe Jens Heinz Schmitt (Berg) Antje Hermenau
Sabine Kaspereit Dr. Emil Schnell
SPD Monika Knoche
Susanne Kastner Walter Schöler Dr. Angelika Köster-Loßack
Ernst Kastning Ottmar Schreiner Steffi Lemke
Brigitte Adler Klaus Kirschner Gisela Schröter Vera Lengsfeld
Gerd Andres Marianne Klappert Richard Schuhmann Oswald Metzger
Hermann Bachmaier Siegrun Klemmer (Delitzsch) Kerstin Müller (Köln)
Ernst Bahr Dr. Hans-Hinrich Knaape Brigitte Schulte (Hameln) Winfried Nachtwei
Doris Barnett Walter Kolbow Volkmar Schultz (Köln) Christa Nickels
Klaus Barthel Fritz Rudolf Körper Ilse Schumann Simone Probst
Ingrid Becker-Inglau Nicolette Kressl Dr. R. We rner Schuster Christine Scheel
Wolfgang Behrendt Thomas Krüger Dietmar Schütz (Oldenburg) Irmingard Schewe-Gerigk
Hans-Werner Bertl Horst Kubatschka Dr. Angelica Schwall-Düren Rezzo Schlauch
Friedhelm Julius Beucher Eckart Kuhlwein Ernst Schwanhold Albert Schmidt (Hitzhofen)
Lilo Blunck Konrad Kunick Rolf Schwanitz Wolfgang Schmitt
Dr. Ulrich Böhme (Unna) Christine Kurzhals Bodo Seidenthal (Langenfeld)
Arne Börnsen (Ritterhude) Werner Labsch Lisa Seuster Rainder Steenblock
Anni Brandt-Elsweier Brigitte Lange Horst Sielaff Marina Steindor
Edelgard Bulmahn Detlev von Larcher Erika Simm Christian Sterzing
Hans Martin Bury Waltraud Lehn Johannes Singer Manfred Such
Hans Büttner (Ingolstadt) Klaus Lennartz Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Antje Vollmer
Marion Caspers-Merk Dr. Elke Leonhard Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Ludger Volmer
Wolf-Michael Catenhusen Klaus Lohmann (Witten) Wieland Sorge Helmut Wilhelm (Amberg)
Peter Conradi Christa Lörcher Wolfgang Spanier Margareta Wolf (Frankfurt)
Christel Deichmann Erika Lotz Dr. Dietrich Sperling
Karl Diller Dr. Christine Lucyga Ludwig Stiegler
Dr. Marliese Dobberthien Winfried Mante Dr. Peter Struck PDS
Peter Dreßen Dorle Marx Joachim Tappe
Rudolf Dreßler Christoph Matschie Jörg Tauss Heinrich Graf von Einsiedel
Freimut Duve Ingrid Matthäus-Maier Dr. Bodo Teichmann Christina Schenk
Ludwig Eich Heide Mattischeck Dr. Gerald Thalheim Gerhard Zwerenz
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5307
Vizepräsident Hans Klein
Enthalten Dr. Ruth Fuchs Verlaub, seriöser erscheint. Do rt ist die Bundesein-
Dr. Gregor Gysi heitlichkeit in jedem Fall gewahrt. Es ist eine Zwei-
Dr. Uwe-Jens Heuer drittelmehrheit der Länder vorgesehen. Darüber
SPD Ulla Jelpke
müssen wir uns unserer Meinung nach schon unter-
Gerhard Jüttemann
Dr. Eberhard Brecht Dr. Heidi Knake-Werner halten.
Renate Jäger Rolf Köhne Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich
Dr. Uwe Küster Andrea Lederer
Dr. Christa Luft
umsieht, wird deutlich, daß ein gewisses Unbehagen
Heidemarie Lüth und ein gewisses Bedürfnis nach Änderungen be-
PDS Manfred Müller (Berlin) steht. Pauschale Abschiebestopps sind von Hause
Rosel Neuhäuser aus sehr problematisch, und man sollte mit diesem
Wolfgang Bierstedt Dr. Uwe-Jens Rössel Instrument außerordentlich vorsichtig umgehen.
Maritta Böttcher Steffen Tippach
Eva Bulling-Schröter Klaus-Jürgen Warnick (Vorsitz: Vizepräsident Hans-Ulrich Klose)
Dr. Dagmar Enkelmann Dr. Winfried Wolf
Nur eine Nebenbemerkung: Ein genereller Abschie-
Kann ich davon ausgehen, daß damit der inhalts- bestopp nach Algerien ist unserer Meinung nach
gleiche Gesetzentwurf der Bundesregierung, wie nicht möglich.
vom Ausschuß für Gesundheit empfohlen, erledigt Pauschale Abschiebestopps berücksichtigen keine
ist? - Dies ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Einzelfälle. Wir dürfen nicht die Augen davor ver-
In Fortsetzung der Aussprache über Tagesord- schließen, daß es in unserem Land eine Debatte dar-
nungspunkt 16 erteile ich der Kollegin Cornelia über gibt, daß das Thema Kirchenasyl stärker in den
Schmalz-Jacobsen das Wo rt. Mittelpunkt gerückt ist - obwohl damit sehr umsich-
tig umgegangen wird - und daß der bayerische In-
nenminister, der in keinster Weise im Geruch steht,
Cornelia Schmalz-Jacobsen (F.D.P.): Herr Präsi- der Gefühlsduselei anheimzufallen, den Vorschlag
dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gemacht hat, den Kirchen ein Kontingent einzuräu-
den Faden wieder aufnehmen: Es geht um Abschie- men.
bestopps, dabei um bestimmte Länder und darum,
wer das Sagen hat. Ob das machbar ist oder nicht, will ich hier gar
nicht ansprechen. Ich will damit nur sagen: Unser
Ich will sozusagen kurz in die Geschichte zurück- Recht führt zu Härten. Das ist angesichts der großen
blenden: Vor Verabschiedung des neuen Ausländer- Zahl derer, die unser Land so attraktiv finden, wahr-
gesetzes hatte jedes Bundesland sein eigenes Mora- scheinlich auch unvermeidbar. Aber die Zeichen,
torium. Das hatte dazu geführt, daß die Dinge ziem- daß man auf Auswege sinnt, und zwar in ganz ver-
lich wild durcheinandergegangen sind. Menschen schiedenen Gruppierungen, sind doch überdeutlich.
aus unterschiedlichen Herkunftsländern hatten un-
terschiedliche Chancen bei der Aufnahme in den Wir wünschen uns, daß man mit etwas mehr Gelas-
verschiedenen Bundesländern. Das konnte so nicht senheit und mit etwas mehr innerer Souveränität
weitergehen. Es war also Bundeseinheitlichkeit ge- über Ausnahmen diskutieren kann.
boten, und sie ist es auch heute noch. Auch im Zu- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
sammenhang mit der Quotierung der Flüchtlinge auf SPD)
verschiedene Bundesländer ist diese Einheitlichkeit
geboten. Warum z. B. könnte nicht tatsächlich - wie Innenmi-
nister Beckstein das einmal angedacht hat - den ein-
Allerdings gab es seinerzeit bei der Beratung des zelnen Ländern ein gewisses Kontingent gegeben
§ 54 die Linie, daß man sich in der Innenministerkon- werden? Ich meine jedenfalls, daß man in diese Rich-
ferenz ein Meinungsbild schaffte und dann gemein- tung denken sollte.
sam entschied. Genau das ist in Wahrheit kooperati-
ver Föderalismus. Eine bestimmte Vox populi sagt gerne: Jeder soll
hinausgeschmissen werden, aber Härtefälle sollen
(Beifall des Abg. Dr. Burkhard Hirsch dabei bitte nicht entstehen. - Das kann man nicht ha-
[F.D.P.]) ben.
Die Praxis hat sich nun etwas anders entwickelt. Wir sind der Meinung, daß man dann, wenn man
Tatsächlich kann heute ein Land eine A rt Vetorecht am Asylrecht festhalten wi ll, wenn man dafür sorgen
geltend machen. Das ist von unserer Seite im Innen- will, daß es Bestand hat, über Altfälle und über Här-
ausschuß immer wieder moniert worden; so war das tefälle neu nachdenken muß. In der Tat gibt es viele
bei der Neuformulierung nicht gedacht. Wenn so et- Menschen in diesem Land, die der humanitären Tra-
was beabsichtigt gewesen wäre, hätte die F.D.P. dem dition, die sich in Deutschland inzwischen ausge-
nicht zugestimmt. prägt hat, gerecht werden wollen und die das auch
Nun stehen hierzu zwei Anträge im Raum; einer von uns erwarten.
davon steht jetzt auf der Tagesordnung. Dieser sieht (Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei
vor, daß eine einfache Mehrheit der Bundesländer Abgeordneten der CDU/CSU)
ausreicht. Wir werden diesen Antrag ablehnen.
Zum anderen gibt es die Bundesratsinitiative, die Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat
hier schon angesprochen worden ist, die uns, mit jetzt die Kollegin Ulla Jelpke, PDS.
5308 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Ulla Jelpke (PDS): Herr Präsident! Meine Damen Der abschiebewütige Bundesinnenminister Kanther
und Herren! Wir werden dem Antrag der Grünen auf und sein Kollege aus Bayern, Herr Beckstein, würden
Änderung des § 54 des Ausländergesetzes zustim- so jede humanitäre Lösung wider besseres Wissen
men. blockieren.
Die derzeitige, von der Bundesregierung geschaf- (Zustimmung bei der PDS - Unruhe bei der
fene Rechtslage räumt jedem Bundesland ein fakti- CDU/CSU)
sches Vetorecht bei der Verlängerung eines Abschie-
bestopps ein. Dieser Umstand orientiert sich zualler- Die Lage speziell für Kurdinnen und Kurden hat
letzt an den Interessen der Menschen, die bei uns sich auch in der Westtürkei tatsächlich noch weiter
Zuflucht vor politischer Verfolgung, Krieg und Völ- verschlechtert. Ich zitiere aus einem Artikel, der an-
kermord suchen. Auch hat diese Regelung nichts mit läßlich der Verleihung des Menschenrechtspreises
Föderalismus zu tun. Im Gegenteil, sie dient allein des Deutschen Richtertages an den Mitbegründer
dazu, selbst eine qualifizierte Mehrheit der Bundes- des türkischen Menschenrechtsvereins IHD, Hüsnü
länder, die aus humanitären Erwägungen willens ist, Öndül, in der honorigen „Deutschen Richterzeitung"
einen Abschiebestopp zu verhängen oder zu verlän- im September 1995 erschienen ist:
gern, zu blockieren, wenn dies den Interessen auch
nur eines Landes oder des Bundesinnenministers wi- Auch in der Westtürkei haben Verfolgungen ge-
dersprechen sollte. gen Kurden erheblich zugenommen. Es kommt
do rt immer häufiger zu Übergriffen der türki-
Diese gerade auch aus Gründen des Föderalismus schen Sicherheitskräfte. Von Kurden bewohnte
unhaltbare Regelung zu reformieren ist bitter not- Stadtteile werden abgeriegelt. Personen werden
wendig. Dies wird an dem Trauerspiel deutlich, das willkürlich festgenommen. Die Festgenommenen
die Bundesregierung im Zusammenhang mit dem berichten danach vielfach von Mißhandlungen
Abschiebestopp für kurdische Flüchtlinge in diesem und Folterungen in der Polizeihaft.
Jahr geboten hat.
Zudem ist zumindest einem führenden Vertreter
In der Anhörung des Innenausschusses über die
Lage der Menschenrechte in der Türkei wurde von der jetzigen Regierungskoalition, dem Kollegen
den geladenen Menschenrechtsorganisationen wie Burkhard Hirsch, bei seiner Septemberreise in die
Türkei eine Veränderung der dortigen Situation auf-
z. B. amnesty international, aber auch anderen, do-
kumentiert, daß in der Türkei allein im Jahr 1994 gefallen. Während er sich hier noch im März vehe-
mehr als 460 Menschen aus politischen Gründen er- ment für eine Aufhebung des Abschiebestopps ein-
setzte, forde rt er nun die Bundesregierung sogar
mordet wurden, daß über 1 000 Menschen Opfer von
Folterungen waren und mehr als 50 Menschen an auf, kurdische Straftäter nicht dorthin abzuschie-
ben.
den Folgen von Folterungen gestorben sind und daß
328 Personen aus Polizeigewahrsam heraus ver- Wenn, wie im Falle der Türkei, trotz dem von der
schleppt sowie 380 Menschen von der türkischen Po- dortigen Regierung geführten schmutzigen Krieg ge-
lizei oder von deren Todesschwadronen außerge- gen das kurdische Volk der Abschiebestopp aufge-
richtlich hinge richtet wurden. hoben wurde, dann ermöglicht § 54 Ausländergesetz
Um diese unwiderlegbaren Tatsachenberichte dem Innenminister oder einem Bundesland, den Er-
kümmert sich Innenminister Kanther einen feuchten laß bzw. die Verlängerung eines Abschiebestopps zu
Kehricht. Er vertraut lieber auf Männer wie den Ge- blockieren, wenn die Menschenrechtssituation do rt
neraldirektor der türkischen Polizei, der offen dazu unverädtgasmbli.
steht:
Ich frage mich: Muß es in der Türkei denn wirklich
Wir foltern nicht jeden - nur diejenigen, die mit erst zum offenen Völkermord an den Kurden kom-
dem Terrorismus der PKK zu tun haben. men, bis hier von veränderten Voraussetzungen in
dem Aufnahmeland ausgegangen und nachfolgend
Auf Grund der grauenhaften Menschenrechtslage ein neuer Abschiebestopp für kurdische Flüchtlinge
in der Türkei erließ der hessische Innenminister er- erlassen werden kann?
neut einen Abschiebestopp für kurdische Flücht-
linge. Bei der Union kam es zu wüsten Beschimpfun- Ich möchte noch zwei Sätze zu der Petition sagen.
gen in Richtung des Landesinnenministers Bökel. Wir haben heute morgen schon kurz darüber ge-
Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hob diesen sprochen: Die Menschenrechtslage in Algerien ist
Erlaß schließlich auf Grund des § 54 des Ausländer- meines Erachtens auf Grund der mörderischen Akti-
gesetzes wieder auf. vitäten der islamischen fundamentalistischen Grup-
Innenminister Bökel interpretie rte dieses Urteil fol- pen wie auch des brutalen Vorgehens der Militär-
gendermaßen: Er könne einen neuen Abschiebe- führung dera rt besorgniserregend, daß auch hier
stopp bzw. dessen Verlängerung nur anordnen, eine Einzelfallprüfung für algerische Flüchtlinge ei-
wenn sich die tatsächlichen Begebenheiten in dem gentlich keinen Schutz mehr bietet. Ich habe heute
Aufnahmeland verändert hätten. Wenn aber die morgen schon bekanntgegeben, daß wir einen An-
Menschenrechtslage wie in der Türkei unverände rt trag eingebracht haben, auch für Algerien einen
schletbinwürd,ähmeHng- Abschiebestopp auszusprechen. Ich möchte Sie bit-
bunden. ten: Unterstützen Sie die Wiederaufnahme des Ver-
fahrens von Touda, dem Algerier, der hier Asyl be-
(Widerspruch bei der CDU/CSU) antragt hat! Unterstützen Sie dieses erneute Ver-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5309
Ulla Jelpke
fahren! Denn ich denke, es geht hier um Leben und Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte.
Tod.
Danke. Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade geltend ge-
(Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) macht, daß ein Ziel des Ausländergesetzes sei, kon-
sequent dafür zu sorgen, daß auch abgeschoben
wird. Meine Frage ist, ob Ihrer Meinung nach der
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat Wortlaut des Ausländergesetzes es ebenfalls hergibt,
jetzt für die Bundesregierung der Parlamentarische daß diesbezügliche Verhandlungen mit weltweit be-
Staatssekretär Eduard Lintner. rüchtigten Folterregimen geführt werden und daß
schriftliche Auskünfte von Folterregimen für die Bun-
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- desregierung eine verbindliche Wirkung entfalten
minister des Innern: Sehr geehrter Herr Präsident! können.
Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Jelpke, das
Zerrbild von unserer Ausländerpolitik, das Sie hier
wieder einmal entworfen haben, spricht für sich. Es Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister des Innern: Frau Kollegin Nickels, Sie spre-
disqualifiziert sich selbst. Deshalb will ich es gar
chen eine Wertung an, die das Bundesverfassungs-
nicht weiter kommentieren.
gericht vorgenommen hat. Es steht der Bundesregie-
(Beifall bei der CDU/CSU) rung nicht zu, diese Wertung jetzt zu kommentieren.
Meine Damen und Herren, die beiden Gesetzent- Meine Damen und Herren, da die Anordnung von
würfe, die heute beraten werden, geben der Bundes- Abschiebestopps eine weitreichende Bedeutung für
regierung Anlaß, ein paar grundsätzliche Bemerkun- alle Länder hat, muß es sinnvollerweise beim zwin-
gen zur Ausländerpolitik zu machen. Es muß in E rin- genden Einvernehmen bleiben.
nerung gerufen werden, daß das geltende Auslän-
derrecht in der Bundesrepublik Deutschland, wie wir Schon die bislang oft zögerliche Haltung bei der
alle wissen, insbesondere drei Aufgaben zu erfüllen Abschiebung abgelehnter Asylbewerber hat in ho-
hat, nämlich erstens die Zuwanderung von Auslän- hem Maße die illegale Zuwanderung gefördert - mit
dern aus Staaten zu begrenzen, die nicht zur Europä- allen Konsequenzen; ich nenne z. B. die zusätzliche
ischen Union gehören, zweitens die Integration der Beanspruchung unserer ohnehin stark beanspruch-
Ausländer zu sichern, die auf Dauer im Bundesgebiet ten sozialen Sicherungssysteme und unseres ange-
leben und hier auch bleiben wollen, und drittens die spannten Arbeitsmarkts. Die beabsichtigte Ände-
grenzüberschreitende internationale Zusammenar- rung würde den Ländern darüber hinaus faktisch die
beit zu fördern. Möglichkeit eröffnen, Ausländerpolitik und damit
auch Abschiebepolitik an der Bundesregierung vor-
Zur Begrenzung der Zuwanderung gehören nicht bei oder sogar gegen sie zu machen. Entsprechende
nur Regelungen zu ihrer Einschränkung, sondern als Versuche sind auch bislang ja schon immer wieder
logisches Gegenstück auch die konsequente Durch- gemacht worden.
setzung der Ausreisepflicht von Ausländern. Aufent-
haltsbeendende Maßnahmen wie Ausweisung oder Noch einige erläuternde Sätze zur notwendigen
Abschiebung sind daher das unverzichtbare Mittel Strukturanpassung beim Bundesamt für die Aner-
zur Unterbindung der illegalen Zuwanderung und kennung ausländischer Flüchtlinge. Als die Asyl-
auch zur Bekämpfung von Ausländerkriminalität rechtsänderung vor zweieinhalb Jahren in Kraft trat,
und -extremismus. Meine Damen und Herren, ohne hat keiner von uns eigentlich damit rechnen können,
diese Möglichkeiten sind Zuwanderungsbegrenzun- daß wir uns infolge des Rückgangs der Asylbewer-
gen letztlich wirkungslos, weil man bekanntermaßen berzugänge in absehbarer Zeit mit der Frage von
nie alle Schlupflöcher für Zuwanderung tatsächlich Schließungen von Außenstellen des Bundesamtes
verstopfen kann. beschäftigen müßten. Die derzeitigen Zugänge an
Asylbewerbern in einer Größenordnung von monat-
Der von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
lich ca. 12 000 Personen erfordern jetzt eine Straffung
vorgelegte Gesetzentwurf zu § 54 des Ausländerge-
der Außenstellenstruktur. Dabei soll die dezentrale
setzes verfolgt aber genau das Ziel, Abschiebestopps
Bearbeitung der Asylanträge in den Außenstellen
zu erleichtern und zu vermehren, indem der Spiel-
beibehalten werden. Sie hat sich bewäh rt und ist im
raum der Länder beim Erlaß von Abschiebestopps er-
übrigen ein wesentlicher Garant für die Beschleuni-
heblich erweitert werden soll, um damit die tatsächli-
gung des Asylverfahrens.
che Aufenthaltsbeendigung bei Ausländern, insbe-
sondere auch bei nicht anerkannten Asylbewerbern,
längerfristig zu erschweren. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege
Lintner, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Kollegin Nickels?
Lintner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kolle-
gin Nickels? (Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)

Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister des Innern: Bitte schön. minister des Innern: Bitte schön.
5310 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): desregierung die Frage gerichtet hat, zu klären, wie
Danke schön, Herr Staatssekretär. Daß Sie Zwischen- denn nun die tatsächlichen Verhältnisse bewe rtet-
fragen entgegen den Zurufen aus Ihren Reihen zu- werden müßten. Auftragsgemäß hat das dafür zu-
lassen, spricht dafür, daß Sie mit einer Plenardebatte ständige Ministerium, nämlich das Auswärtige Amt,
souverän umgehen können. Ich möchte das aus- diese erbetenen Auskünfte eingeholt und sie an das
drücklich begrüßen. Ich finde, es ist nicht mehr üb- Gericht weitergegeben. Das ist der nackte Sachver-
lich. Deswegen danke ich Ihnen. halt. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Ich habe eine zweite Frage. Sie haben eben ge-
sagt, es sei Sache des Bundesverfassungsgerichts, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege
dies entsprechend zu würdigen. Ich möchte Sie fra- Lintner, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
gen, ob Sie diese Wertung aufrechterhalten wollen, (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch
wenn Sie folgendes Zitat auf Seite 14 des Urteils mit keine Fragestunde!)
berücksichtigen. Dort heißt es wörtlich:
- Ich bitte um Nachsicht. Wir verfahren nach der Ge-
Die Einschätzung und Beurteilung, daß gleich- schäftsordnung. Es meldet sich jemand, und ich
wohl völkerrechtlich Absprachen mit der sudane- frage.
sischen Regierung ein geeignetes und Effektivi-
tät versprechendes Mittel darstellen, ... fällt in
den Kompetenzbereich der Bundesregierung im Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
Rahmen der auswärtigen Gewalt. minister des Innern: Ich lasse eine letzte Frage zu.
Bitte schön.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister des Innern: Frau Kollegin Nickels, natürlich Amke Dietert-Scheuer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
stimmt die Bundesregierung mit der Meinung des NEN): Herr Lintner, ich frage mich und Sie, ob es
Verfassungsgerichts überein. Aber das schließt nicht Ihnen entgangen ist, daß die Behauptung, die sudane-
aus, daß das Bundesverfassungsgericht auf Grund sische Regierung habe zugesichert, den betroffenen
der Informationen seitens der Bundesregierung na- Flüchtlingen drohe im Sudan keine Verfolgung, zu-
türlich - das entspricht schon der Würde dieses Gre- nächst einmal von Ihrem Ministe rium in den Raum ge-
miums - eigene Wertungen vorzunehmen hat und stellt wurde und das Bundesverfassungsgericht dafür
nicht einfach notarielle Funktionen übernimmt. lediglich eine schriftliche Bestätigung verlangt hat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ist Ihnen ferner bekannt, daß diese Zusicherung
der sudanesischen Regierung lediglich beinhaltete,
Ich komme zurück zur Schließung von Außenstel- daß den Betroffenen wegen ihres Verhaltens in
len beim Bundesamt: Auf die enge Verzahnung von Deutschland und der Asylantragstellung hier keine
Ausländerbehörden, Verwaltungsgerichten und Au- Verfolgung drohe, dagegen keinerlei Auskunft dar-
ßenstellen des Bundesamtes kann nach Auffassung über gegeben wurde, ob ihnen aus anderen Grün-
der Bundesregierung nicht verzichtet werden. den, z. B. auf Grund vorangegangener Aktivitäten,
Verfolgung droht?
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Gestatten Sie
eine weitere Zwischenfrage, diesmal des Kollegen Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
Dr. Lippelt? minister des Innern: Frau Kollegin, ich muß jetzt ein-
fach darauf verweisen, daß wir diesen Sachverhalt
heute hier nicht zu diskutieren haben. Ich habe den
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
Eindruck, Sie wollen die Aktuelle Stunde, die Sie ja
minister des Innern: Ja.
selber abgeblasen haben, jetzt nachholen.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
ordneten der F.D.P.)

Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Sachverhalt ist ja in allen Einzelheiten hin und
Herr Staatsminister, könnte es nicht sein, daß meine her erörtert worden. Deshalb ersparen Sie es mir
Kollegin eben weniger das Urteil des Bundesverfas- bitte, das jetzt zu wiederholen. Dem, was wir damals
sungsgerichts angesprochen hat als vielmehr das zu diesem Sachverhalt gesagt haben, ist eigentlich
Verhalten Ihres Hauses, das, um festzustellen, ob nichts hinzuzufügen. Was wir damals gesagt haben,
Nachfluchtgründe vorlagen, aus eigenen Stücken war immerhin so überzeugend, daß Sie selber von
Mitarbeiter zum Folterregime geschickt hat und sich dem Ansinnen, eine Aktuelle Stunde durchzuführen,
Abstand genommen haben.
eine Auskunft besorgt hat, die völlig in Widerspruch
zu dem stand, was Sie dem asylrelevanten Lagebe- (Beifall bei der CDU/CSU)
richt des Auswärtigen Amtes entnehmen konnten?
Meine Damen und Herren, zurück zum Debatten-
Warum haben Sie denn hier plötzlich bei dem Folter-
gegenstand. Vor diesem Hintergrund, den ich ge-
regime noch einmal nachgefragt?
schildert habe, muß jedoch nach unserer Auffassung
in einem ersten behutsamen Schritt die Anzahl der
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Außenstellen reduziert werden. Zur Erläuterung: Die
minister des Innern: Herr Kollege Dr. Lippelt, Sie wis- hierzu notwendigen Maßnahmen erfordern eine
sen, daß das Bundesverfassungsgericht an die Bun- Reihe von Veränderungen. Die von den Koalitions-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5311
Parl. Staatssekretär Eduard Lintner
fraktionen eingebrachte Änderung des § 71 des Asyl- Sanktion, die in § 37 der Geschäftsordnung steht,
verfahrensgesetzes ist eben eine sich aus dieser Si- daß der gleichen Rednerin das Wo rt zu diesem Ver-
-
tuation ergebende Veränderung, also eine notwen- handlungsgegenstand nicht noch einmal erteilt wer-
dige Gesetzesanpassung. den kann, nicht erfüllt ist.
Vielen Dank. Die Kollegin Kerstin Müller hat sich zu Wo rt ge-
meldet. Nach meiner Interpretation der Geschäfts-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ordnung, so wie ich sie im Augenblick vornehmen
muß - ich habe das Protokoll nicht vorliegen -, muß
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort zu ei- ich ihr das Wort erteilen. Wenn es dazu keinen Wi-
ner Kurzintervention hat der Kollege Hirsch, F.D.P. derspruch gibt, dann verfahre ich so.
(Dr. Willfried Penner [SPD]: Das ist korrekt!)
Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Staatssekretär,
Ihre Ausführungen zwingen mich zu einer kurzen Bitte.
Bemerkung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Häufig entsteht der Wunsch nach einer Gesetzge-
bung dann, wenn in der Praxis mit einem Gesetz an- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ders verfahren wird, als man sich das vorgestellt hat. NEN): Meine Damen und Herren! Ich finde es sehr
Als der § 54 des Ausländergesetzes formuliert wurde, schade, daß Sie der Ansicht waren, daß die Punkte,
war es unser gemeinsamer Wille, daß die Abschiebe die ich zum Sudan genannt habe, nicht in diese De-
praxis der Länder, das Aussetzen der Regelung über batte gehören. Aber ich möchte gerne etwas zum § 54
mehr als sechs Monate, harmonisiert wird. des Ausländergesetzes sagen.
Wir hatten nicht die Vorstellung, daß jedes Land Der Kern unserer heutigen Gesetzesinitiative er-
ein Vetorecht bekommen sollte. Ich halte ein Veto- möglicht durch eine Änderung des § 54 des Auslän-
recht im kooperativen Föderalismus für ein völliges dergesetzes den Ländern, künftig mit Mehrheit ei-
Unding. Das ist der Grund dafür, daß wir die Praxis nen Abschiebestopp zu verlängern. Jetzt verlangt
der Innenminister, keine Genehmigung zu erteilen, der § 54 des Ausländergesetzes Einstimmigkeit zur
wenn auch nur ein einziges Land widerspricht, im- Verlängerung eines Abschiebestopps. Damit kann
mer für falsch, zumindest für problematisch, jeden- einzig und allein das negative Votum des bayeri-
falls nicht im Einklang stehend mit dem, was wir bei schen Innenministers Beckstein einen Abschiebe-
der Gesetzgebung gewollt haben, gehalten haben. stopp verhindern. Das ist in der Vergangenheit des
Wir haben das im Innenausschuß ja mehrfach erör- öfteren vorgekommen.
tert.
(Zurufe von der CDU/CSU: Gut so! - Das ist
Deshalb muß das Schicksal dieses Gesetzentwur- sehr vernünftig!)
fes - auch des Gesetzentwurfes, der vom Bundesrat
eingebracht worden ist und in dem von einer qualifi- Das bedeutet, die Ländermehrheit hängt am Gängel-
zierten Mehrheit gesprochen wird - natürlich damit band eines einzelnen Ministers oder des Bundesin-
zusammenhängen, daß die Frage geklärt wird, ob nenministers.
wir davon ausgehen müssen, daß der Innenminister Diese absurde Situation wollen wir mit unserem
auch weiter jedem einzelnen Land, dem Saarland, Antrag ändern. Wir hoffen, daß dies eben auch auf
Bayern oder wem auch immer, ein Vetorecht einräu- Zustimmung der SPD stößt;
men will oder nicht. Diese Frage muß im Laufe der
Beratungen so eindeutig geklärt werden, daß wir (Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
wissen, woran wir in der Praxis, bei der Anwendung NEN)
des § 54 des Ausländergesetzes in der jetzigen Fas- denn die SPD-regierten Länder wollen das auf jeden
sung, sind. Fall, wie ich aus Gesprächen weiß.
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Aber
SPD) etwas anders!)
Das Beispiel der Kurden aus der Türkei - die Kolle-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege
gin hat es schon angesprochen - ist ein gutes Bei-
Wiefelspütz, Sie haben Ihre Wortmeldung zurückge-
spiel. Im März wurde hierzu der Abschiebestopp auf-
zogen. Ich bin jetzt etwas unsicher, wie ich weiter
gehoben, und zwar unmittelbar nach einer Anhö-
verfahren soll. Ich möchte das kleine Problem hier
rung des Bundestages, bevor diese hier überhaupt
darlegen, damit nicht Unruhe aufkommt.
ausgewertet werden konnte. Eigentlich ist in der Tür-
Es hat hier vorhin einen Streit zum Stichwort „Wort- kei Bürgerkrieg. Heute ist es noch nicht einmal mög-
entziehung" gegeben. Für eine Wortentziehung lich, daß einzelne Länder sozusagen human handeln
müssen nach der Geschäftsordnung gewisse Voraus- und einen Abschiebestopp für Kurden aufrechterhal-
setzungen vorliegen, nämlich daß der Redner „wäh- ten. Das finde ich einen Skandal.
rend einer Rede dreimal zur Sache oder dreimal zur
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ordnung gerufen und beim zweiten Male auf die
Folgen eines dritten Rufes zur Sache oder zur Ord- Der Fall Touda aus Algerien, um den es heute
nung hingewiesen worden" sein muß. Dieser dreima- auch geht, zeigt meiner Meinung nach ebenfalls ekla-
lige Hinweis ist nicht gegeben worden, so daß die tante Lücken im Asylrecht. Beim Fall Touda wurde
5312 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Kerstin Müller (Köln)


rüde von den Entscheidern des Bundesamtes über Liebe Kolleginnen und Kollegen, hören Sie doch
das eigentliche Asylbegehren hinweggegangen. Bei- einmal auf die Kirchen! Nehmen Sie doch ernst, daß
spielsweise wurde noch nicht einmal seine Aussage, da wirklich ziviler Ungehorsam gegen ein Recht, das
er sei gefoltert worden, berücksichtigt, obwohl ent- in diesem Lande kein Recht mehr ist, praktiziert
sprechende Gutachten vorlagen. Das wirft ein ent- wird!
sprechendes Licht auf die Leute, die do rt als Ent-
scheider sitzen. Auch die Wiederaufnahme des Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
fahrens wurde verweigert. Es wurde also bis zum
heutigen Tag nicht ein einziges Mal inhaltlich auf die
Asylgründe des Herrn Touda eingegangen. Das zeigt Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin
die Lücken. Das zeigt, wie weit es mit dem Asylrecht Müller, es tut mir leid: Ich will wirklich keine Schärfe
in diesem Land gekommen ist. in die Debatte bringen. Aber der Vorwurf, bewußt
Menschenrechtsverletzungen zu begehen, ist so
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ziemlich das Schlimmste, was man jemandem vor-
werfen kann.
Auch hier kann ich nur noch einmal sagen: In Al-
gerien ist eigentlich Bürgerkrieg. Es gibt nach dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
sogenannten Asylkompromiß hierzu eine Vorschrift, und der F.D.P.)
nämlich den § 32 des Ausländergesetzes. Aber weil
die Länder und die Regierung sich nicht über die Ko- Das kann ich nicht akzeptieren. Sie sollten das korri-
sten einigen können, bleibt dieser § 32 des Auslän- gieren, am besten jetzt gleich.
dergesetzes nicht mehr als nacktes Papier. Hier muß
endlich auch gehandelt werden. Wir fordern, daß
sich Länder und Bund über die Kosten einigen. Wir Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
fordern, daß im umfassenden Sinne Bürgerkriegs- NEN): Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe das
flüchtlinge aufgenommen werden. Dann könnte so. Ich sehe das so, daß die Bundesregierung durch
man sich viele Verfahren, die jetzt noch über das ihre Politik, auch durch ihre Wi rtschaftspolitik, durch
Asyl geführt werden, sparen. Waffenlieferungen beispielsweise - - Was ist in Kur-
distan passiert?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.)
Der § 54 des Ausländergesetzes, die Tatsache, daß
es keine Regelung gibt, die eklatante Zunahme von - Dann machen wir das doch zu einem weiteren
Asylpetitionen und das Fehlen einer Vorschrift zum Thema. Ich bin sehr wohl der Meinung, daß sich die
§ 32 des Ausländergesetzes zeigen, daß das Asyl- Bundesregierung durch Waffenexporte etc. etc.
recht nur noch rudimentär vorhanden ist. Es gibt nur daran beteiligt. Auch das sind Menschenrechtsver-
noch ganz, ganz wenige Schlupflöcher, über die letzungen, die in aller Welt passieren. Ich empfinde,
Menschen hier überhaupt noch Asyl begehren kön- daß man das auch im Bundestag sagen können muß.
nen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie
und der PDS - Zurufe von der CDU/CSU
sind auf diesen Asylkompromiß stolz. Sie sagen, um
und der F.D.P.)
70 % sei die Zahl der Asylsuchenden zurückgegan-
gen. Herr Kanther, der bei einer so wichtigen De-
batte noch nicht einmal anwesend ist, hat damit ge- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin,
droht: Wer den mit der SPD ausgehandelten Kompro- ich finde, Sie können sagen, daß Sie den subjektiven
miß in Frage stellt, muß mit schwerwiegenden Kon- Eindruck haben, daß der Verdacht bestehe. Aber den
sequenzen für das friedliche Zusammenleben von objektiven Vorwurf können Sie nicht aufrechterhal-
Deutschen und Ausländern rechnen. Ich frage Sie: ten. Das kann ich nicht durchgehen lassen. Es tut mir
Was ist das für ein innerer Frieden, der sich auf Ab- leid.
schottung gründet, der sich nur durch Unmenschlich-
keit und Menschenrechtsverletzungen erhalten läßt? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wir haben eine andere Vorstellung von einer friedli-
chen Gesellschaft. Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie mir die
Amtsführung nicht erschweren würden; ich finde,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Debatte war aufgeregt genug. Ich wäre sonst ge-
Dann kann es nicht verwundern, daß immer mehr zwungen, Ihnen einen Ordnungsruf zu erteilen. Wir
Menschen, wie im Fall Sudan, die Initiative ergreifen sollten das vermeiden.
und Kirchengemeinden Widerstand gegen dieses in-
humane Asylrecht leisten. Sie wehren sich gegen (Zuruf von der CDU/CSU: Den hat sie
eine Politik der Bundesregierung, die sich weltweit schon längst nötig!)
an Menschenrechtsverletzungen beteiligt, Rechts-
staatlichkeit aushebelt,
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der NEN): Ich habe angeboten, hierzu eine ausführliche
F.D.P.) Debatte zu führen.

um den Stammtischen zu gefallen. (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5313
Kerstin Müller (Köln)
Lassen Sie uns das tun: über Menschenrechtsverlet- Wir stehen unmittelbar vor einer sehr grundsätzli-
zungen, über Waffenexporte. Dann können wir das chen Auseinandersetzung im Rahmen einer Zwi-
gern erläutern. schenbilanz über das neue Asylrecht, wenn das Bun-
desverfassungsgericht in wenigen Monaten entschie-
(Dr. Willfried Penner [SPD]: Frau Müller, den haben wird. Diese Debatte werden wir nicht
seien Sie vernünftig! Das Leben ist so kurz! scheuen; diese Debatte müssen wir führen und
- Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.) selbstkritisch unser Recht, aber auch die Praxis auf
den Prüfstand stellen.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Wie viele Brük- Frau Müller, was mich immer ganz besonders be-
ken muß man Ihnen eigentlich bauen? troffen macht und was mich bewegt, ist: Wenn wir
über den humanen Konsens in Deutschland reden -
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wie wir mit Menschen umgehen, die aus Not, wegen
NEN): Sie wollen offensichtlich nicht über dieses Hunger, wegen politischer Verfolgung oder auch
Thema reden. „nur" deshalb zu uns kommen, weil sie glauben, in
Deutschland eine bessere Lebensperspektive zu ha-
(Dr. Willfried Penner [SPD]: Ach, nein!) ben -, frage ich mich, warum wir das so verletzend
Lassen Sie uns über dieses Thema in aller Ruhe hier machen,
im Bundestag diskutieren. Lassen Sie uns das tun. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
Mein Eindruck ist: Sie wollen das nicht. Ich glaube F.D.P.)
ganz ehrlich nicht, daß Sie Ihre Blockadehaltung ge-
genüber dem, was sich im Lande tut, gegenüber den warum wir eine Sprache führen, deren Inhalt wir sel-
Menschen, die sich Sorgen machen, gegenüber dem ber kritisieren. Wir müssen uns doch auf der Höhe
zivilen Ungehorsam auf Dauer werden durchhalten des Problems bewegen, auch mit unserer Sprache.
können. Wir werden diese Grundsatzdebatte führen und
Ich kann wirklich nur noch einmal appellieren, mir über viele Fragen sprechen müssen: über die Ab-
nicht schon wieder über die Geschäftsordnung das schiebehaft, über das Recht, über die Praxis unseres
Wo rt abzuschneiden, nur weil Sie über diese Asylge- Asylrechts, über den Zustand in unserem Lande. Da
schichte offensichtlich nicht wirklich diskutieren wol- wird auch manches Kritische zu sagen sein, aber,
len. Wir sind dazu bereit. Frau Müller, bitte nicht in dieser Sprache und bitte
immer unter dem Grundsatz, daß wir über Mensch-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - lichkeit reden. Das müßte in der ganzen A rt und
Ulrich Schmalz [CDU/CSU]: Sie wollen Weise unserer Auseinandersetzung erkennbar blei-
doch gar nicht diskutieren!) ben.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Kommen Sie F.D.P.)
jetzt am besten zum Schluß.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Müller, Sie
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- haben das Recht zur Gegenrede.
NEN): Gut. - Wir werden in nächster Zeit ein Flücht-
lingsgesetz vorlegen, das die Eckpunkte einer huma-
nen Flüchtlingspolitik skizzieren wird. Die Drittstaa- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
tenregelung muß verändert werden. Das Flughafen- NEN): Herr Wiefelspütz, ich habe selber zahlreiche
verfahren muß abgeschafft werden. Das sind für uns Verfahren erlebt. Mir ist dieses Thema wirklich sehr
Mindeststandards eines humanen Asylrechts. Ich ernst. Sie wissen - ich will es trotzdem noch einmal
hoffe, daß hierüber in diesem Hause eine sachliche sagen -; Für viele Menschen geht es dabei um Leben
Debatte möglich sein wird. und Tod. Das ist auch in der Sudanesengeschichte
der Fall gewesen.
Danke schön.
Ich finde, daß es angesichts dessen wichtig ist,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch ha rt und klar zu formulieren. Es ist meine in-
und der PDS - Zuruf von der F.D.P.: Aber nere Überzeugung, daß das Asylrecht mit dem Asyl-
nicht so!) kompromiß abgeschafft wurde, daß es nur noch we-
nige Möglichkeiten gibt, das Asylbegehren überprü-
fen zu lassen.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Der Kollege Wie-
felspütz hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet. Man muß die Anliegen der Menschen, die sich da-
gegen wehren und sich dafür engagieren, ernst neh-
men und zu einer ernsthaften Debatte kommen. Da-
Dieter Wiefelspütz (SPD): Herr Präsident! Meine bei muß man auch scharf sagen können, daß das
Damen und Herren! Ich hatte wegen der unglückli- Asylrecht abgeschafft wurde und was das für die
chen Gesamtkonstellation, unter der diese Debatte Menschen bedeutet.
begonnen worden ist, an sich auf meinen Redebei-
trag verzichten wollen. Der Beitrag von Frau Müller Wenn wir diese Diskussion nicht führen, wenn wir
bewegt mich aber so stark, daß ich meine, doch noch hier nicht schonungslos darüber reden, was das im
ein paar Sätze sagen zu sollen. Einzelfall für die Leute bedeutet, dann können wir
5314 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Kerstin Müller (Köln)


auch nicht zur Sache kommen und nicht über Lösun- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Nun muß ich der
gen reden. Das ist meine Überzeugung. guten Ordnung halber den Kollegen Wiefelspütz fra-
gen, ob er darauf antworten will. - Das ist nicht der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fall.
sowie bei Abgeordneten der PDS)
Zu einer Kurzintervention hat jetzt die Kollegin
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Zu einer Kurzin- Steinbach das Wo rt .
tervention erteile ich Christa Nickels das Wo rt .
Erika Steinbach (CDU/CSU): Frau Kollegin, bei
Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dem Thema Asylrecht und Ausländerpolitik insge-
Herr Wiefelspütz, ich beziehe mich auf Ihren Beitrag. samt scheint es mir unabdingbar notwendig zu sein,
Sie sprachen die Schärfe der Diskussion an. Diese daß wir eine ganz sorgfältige und abgewogene Dis-
Schärfe berührt mich sehr stark; denn ich bin der kussion führen. Wir brauchen die Zustimmung unse-
Meinung, daß diese Schärfe an den Grundkonsens rer Bürger im Lande, wenn das Asylrecht, das wir
unserer Gesellschaft geht, und zwar dahin gehend, alle bejahen, tragfähig bleiben soll.
daß wir alle auf dem Boden des Grundgesetzes in der Ich glaube nicht, daß es dazu beiträgt, daß die Bür-
Forderung nach der Unantastbarkeit der Menschen- ger im Lande dafür Verständnis aufbringen, wenn
würde stehen. auf der anderen Seite diese Tonart angeschlagen
Der Asylkompromiß läßt so gut wie keine Härtefall- wird, im Gegenteil. Ich habe schon Verständnis für
möglichkeit mehr zu. Daneben ist ein gewisses Pon- das, was Sie empfinden und was Sie an Emotionen
tius-Pilatus-Prinzip gesetzlich institutionalisiert: Der äußern. Aber es gibt ein Vielfaches an Emotionen
eine entscheidet, der andere muß exekutieren; derje- auch auf einer anderen Seite. Wir müssen sehen, daß
nige, der exekutieren muß, ist näher an der Angele- wir Politiker diese Thematik wirklich abgewogen
genheit dran und hat daher mehr Gefühl dafür und und nicht in diesen aggressiven Tönen behandeln.
weiß eher, ob es sich um einen Härtefall handelt oder (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
nicht. Er darf aber nicht mehr diesen bestimmten
Härtefall entscheiden.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Wir sind damit
Die Menschen, die aus christlicher Grundhaltung am Schluß der Rednerliste. Die Kollegin Amke Die-
oder deshalb, weil ihnen der Grundgesetzartikel zum tert-Scheuer hat gebeten, als Berichterstatterin zur
Schutz der Menschenwürde so wichtig ist, noch nicht Sammelübersicht 38 gemäß § 28 Abs. 2 unserer Ge-
völlig verhärtet sind und sich darum kümmern, gera- schäftsordnung das Wort ergreifen zu dürfen. Sie hat
ten zwischen zwei Mahlsteine. Dazu kommen die es.
kurzen Fristen. Ein Mensch, der nicht völlig verstei-
nert ist und mit den persönlichen Schicksalen zu tun
hat, ist unglaublich betroffen. Amke Dietert-Scheuer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Als Berichterstatterin zu Sammelübersicht 38
Wenn Sie sich für einen Asylbewerber einsetzen, möchte ich kurz den Hintergrund des vorliegenden
dann müssen Sie einen unglaublichen Hürdenlauf Petitionsfalles erläutern.
durch die Instanzen absolvieren. Die Menschen wis-
Es geht um den abgelehnten Asylantrag eines
sen meist nicht, wohin sie zuerst gehen sollen; und
alle diese Schwierigkeiten sind ja neben dem persön- Flüchtlings aus Algerien. Nach seinen Angaben hat
lichen alltäglichen Leben zu bewältigen. Gerade auf der junge Mann eine religiöse, d. h. islamische Grund-
diese Menschen ist unsere Demokratie existentiell überzeugung, ohne allerdings einer Organisation
angewiesen, wenn sie die humane Substanz behal- oder Partei anzugehören oder gar an Gewalttaten be-
ten will. teiligt gewesen zu sein. Auf Grund seiner Überzeu-
gung hat er sich während seines Wehrdienstes aus
Ich finde es nicht richtig, wenn man immer nur Gewissensgründen geweigert, an einem Einsatz ge-
über die Asylbewerberinnen und Asylbewerber re- gen die FIS teilzunehmen. Deshalb wurde er in Haft
det, wir müssen auch darüber reden, wie dieses so genommen und mißhandelt. Da er sich als Regime-
ausgestaltete Recht mit seinen nicht mehr vorhande- gegner zu erkennen gegeben hatte, mußte er mit
nen Härtefallmöglichkeiten mit der humanen Sub- weiterer politischer Verfolgung rechnen.
stanz im Land, mit den Menschen umgeht, denen
das Schicksal von Flüchtlingen ein Herzensanliegen Während der Anhörung beim Bundesamt für die
ist und die wir brauchen, damit wir eine humane De- Anerkennung ausländischer Flüchtlinge wurde der
mokratie bleiben. Asylbewerber von der Entscheiderin so rüde abge-
kanzelt, daß er seine Fluchtgründe nicht angemessen
Es ist ein ganz wichtiger innenpolitischer Grund, vorbringen konnte. Wie aus dem vorliegenden Proto-
endlich mindestens - das sage ich zur Regierung - koll des Bundesamtes hervorgeht, hatte es bei der
Härtefallmöglichkeiten zu schaffen; denn diese Kon- Anhörung offensichtlich auch sprachliche Mißver-
frontation und diese Schärfe in der Sprache und ständnisse gegeben.
diese persönliche Betroffenheit halten wir auf Dauer
nicht aus, wenn wir eine Demokratie bleiben wollen, Anträge seines Prozeßvertreters auf eine Wieder-
die sich auf die Menschenwürde stützt. aufnahme des Verfahrens blieben sowohl vor dem
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Flüchtlinge als auch vor dem Verwaltungsgericht
und der PDS) ohne Erfolg. In den ablehnenden Entscheidungen
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5315
Amke Dietert-Scheuer
wurde ausschließlich formalrechtlich argumentiert. Aussetzung der Gewerbekapitalsteuer in den
Die inhaltlichen Asylgründe des Flüchtlings wurden neuen Ländern für ein Jahr
nirgends angemessen geprüft und berücksichtigt,
- Drucksache 13/1856 -
obwohl ein ärztliches Gutachten über Traumatisie-
rung durch Folter vorliegt. Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß (federführend)
Als Berichterstatterin muß ich dazu erklären, daß Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
angesichts dieser Lage das Mehrheitsvotum des Aus-
schusses für mich nicht akzeptabel ist. Gerade in Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die
Kenntnis der Situation in Algerien, wo neben den Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu
Greueltaten der bewaffneten islamischen Gruppie- sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
rungen auch schwere Menschenrechtsverletzungen schlossen.
der Regierungsseite an der Tagesordnung sind, wäre
eine Abschiebung des Petenten unverantwo rtlich. Ich eröffne die Aussprache, sobald es etwas ruhi-
ger geworden ist. Damit wir dies erreichen, bitte ich
Es geht mir nicht darum, wie uns immer wieder jene, die der Debatte nicht beiwohnen wollen, das
vorgeworfen wird, daß der Bundestag asylrechtliche Plenum möglichst schnell und geräuschlos zu verlas-
Einzelentscheidungen treffen soll. Wir müssen aber sen. - Darf ich die anderen Kolleginnen und Kolle-
eine korrekte Behandlung von Asylanträgen fordern. gen bitten, Platz zu nehmen, auch auf der halblinken
Dies ist in dem vorliegenden Fall nur durch eine Wie- Seite in der Mitte, Herr Kollege Wiefelspütz.
deraufnahme des Verfahrens zu gewährleisten. Ich Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat Kollege
möchte Sie daher bitten, auch angesichts der vorheri-
Horst Schild, SPD.
gen Diskussion, in der Sie sich vehement gegen den
Vorwurf zur Wehr gesetzt haben, Sie würden sich
durch die Asyl- und Abschiebepraxis an Menschen- Horst Schild (SPD): Herr Präsident! Meine Damen
rechtsverletzungen beteiligen, in diesem Fall zu be- und Herren! Mit unserem Antrag fordern wir die
weisen, daß Sie das nicht tun wollen, und unserem Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzule-
Änderungsantrag zuzustimmen. gen, um die Erhebung der Gewerbekapitalsteuer in
den neuen Bundesländern weiter auszusetzen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und der PDS - Reiner Krziskewitz [CDU/ Dieser Antrag steht für uns in engem Zusammen-
CSU]: Unglaublich! Wie kann man so etwas hang mit der Diskussion der Gewerbesteuerreform,
machen!) die im ersten Halbjahr dieses Jahres geführt wurde.
Im Rahmen des Vermittlungsverfahrens zum Jahres-
steuergesetz wurde vereinbart, daß über die Gewer-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Wir sind damit bekapitalsteuer in Verbindung mit einer Gemeinde-
am Schluß der Aussprache. finanzreform im Herbst dieses Jahres weitere Bera-
tungen gemeinsam mit allen Beteiligten geführt wer-
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der den sollen.
Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 13/1426 und
13/2577 an die in der Tagesordnung aufgeführten Meine Damen und Herren, in den Beratungen zu
Ausschüsse vor. Gibt es dazu andere Vorschläge? - den Entwürfen zum Jahressteuergesetz zeigte sich,
Das ist offenbar nicht der Fall. Dann sind die Ober- daß die Koalition und die Bundesregierung die Ge-
werbekapitalsteuer im Schnellverfahren abschaffen
weisungen so beschlossen.
wollten. Das ist aber nicht gelungen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Peti- Mit einer Grundgesetzänderung hatte man den
tionsausschusses auf Drucksache 13/1410. Das ist die Gemeinden eine Finanzierungsalternative verspro-
Sammelübersicht 38. Dazu liegt ein Änderungsan- chen. Nachdem die Koalition bereits im Mai mit der
trag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Verfassungsänderung gescheitert war, zeichnete sich
Drucksache 13/2642 vor, über den wir zuerst abstim- im Juni ein weiteres Scheitern ab.
men. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Ge-
genprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Die Koalition zog daraufhin ihre Pläne zur Ab-
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- schaffung der Gewerbekapitalsteuer zurück. Sie
men der Opposition abgelehnt. wurden aus dem Jahressteuergesetz herausgenom-
men. Das entsprach sowohl der Forderung der SPD
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Peti- als auch der der kommunalen Spitzenverbände.
tionsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Schon in der Expertenanhörung des Finanzausschus-
Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der ses im April wurde deutlich, daß bis zu einer allge-
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- mein akzeptablen Gemeindefinanzreform noch er-
tion angenommen. heblicher Aufklärungs- und Beratungsbedarf be-
steht. Völlig unklar waren die finanziellen Folgen der
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: geplanten Regelung für die Gemeinden und die Fol-
gen für das kommunale Hebesatzrecht.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf (Joachim Poß [SPD]: Sehr richtig!)
Schwanitz, Joachim Poß, Jörg-Otto Spiller,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Vor allem bei der augenblicklich prekären Finanz-
SPD situation der Kommunen wäre eine Fahrt ins finan-
5316 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Horst Schild
ziell Ungewisse gefährlich und unverantwo rtlich ge- gesagt, zum gegenwärtigen Zeitpunkt gebe es dafür
wesen. keine Voraussetzungen.
(Beifall bei der SPD)
Wir müssen also, meine Damen und Herren, schon
Wer die finanzielle Substanz der kommunalen wissen, woran wir sind. Nur wenn die Koalition of-
Selbstverwaltung in Frage stellt, gefährdet die Le- fenlegt, was sie will, wird erkennbar, wieweit Über-
bensfähigkeit unserer Gemeinden. Die in A rt . 28 des einstimmung besteht und worüber noch diskutiert
Grundgesetzes gewährleistete kommunale Selbst- werden muß.
verwaltung und die finanzielle Eigenverwaltung ver-
langen eine solide vorbereitete Reform, die den Kom- Einige Eckpunkte für diese Gespräche von unserer
munen finanzielle Planungssicherheit garantiert. Seite möchte ich allerdings deutlich machen. Eine
umfassende Neuregelung im Bereich der Gewerbe-
Eine solide Neuregelung wird uns aber nicht gelin- steuer und damit der Gemeindefinanzen kann nur im
gen, wenn wir uns einem hohen Zeitdruck ausset- Rahmen einer neuen Gemeindefinanzreform erreicht
zen. Das Scheitern der Koalition und der Bundes- werden, und zwar insbesondere im Konsens mit Län-
regierung mit ihren bisherigen Entwürfen zur Ablö- dern und Kommunen.
sung der Gewerbekapitalsteuer hat gezeigt, wohin
ein solches Schnellverfahren führt: zu Protesten und (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)
Unsicherheit bei den betroffenen Städten und Ge-
meinden. Die finanziellen Folgen der vorgeschlagenen Rege-
(Beifall bei der SPD) lung für Länder und Gemeinden müssen an Hand
gemeindescharfer Modellrechnungen umfassend
Daß die Gewerbekapitalsteuerbefreiung für die dargelegt werden. Es darf keine Verschiebung zu La-
neuen Länder Ende 1995 abläuft, sollte kein Grund sten der Länder und Gemeinden geben. Die verblei-
sein, die wichtigen Fragen unter extremem Zeitdruck bende Gewerbeertragsteuer muß gegen eine weitere
zu regeln. Aushöhlung wirksam geschützt werden, um die fi-
nanzielle Eigenverantwortung der Gemeinden zu ge-
Was spricht dagegen, die Erhebung dieser Steuer
währleisten. Der bisher vom Bundesfinanzminister
in den neuen Ländern vorläufig weiter auszusetzen?
erwogene Vorschlag, A rt . 106 des Grundgesetzes zu
Das brächte uns die notwendige Zeit für die Reform
ändern, reicht allein nicht aus.
der Gemeindefinanzen.
Die SPD-Fraktion hat bereits im Juni dieses Jahres Doch zunächst gilt es, entsprechend unserem An-
einen entsprechenden Antrag gestellt. Wir brauchen trag eine Regelung zu verabschieden, wonach in den
diese Zeit, um mit allen Beteiligten die Gespräche neuen Ländern die Erhebung der Gewerbekapital-
über eine Gemeindefinanzreform zu führen, wie das steuer vorerst weiter ausgesetzt bleibt. Die SPD-
im Vermittlungsausschuß vereinbart wurde. Fraktion hat in dieser Woche im Finanzausschuß die
Bundesregierung gebeten, hierzu eine entspre-
Es ist verschiedentlich auf mögliche Probleme auf chende Gesetzesformulierung vorzulegen. Übrigens
europäischer Ebene bei einer weiteren Aussetzung sind zwischenzeitlich aus einzelnen Bundesländern
der Gewerbekapitalsteuer verwiesen worden. Wir ha- auch Initiativen in dieser Richtung ergriffen worden.
ben kürzlich bei Gesprächen in Brüssel den Eindruck
gewonnen, daß dem von europäischer Seite keine un- Meine Damen und Herren, wir fordern die Bundes-
überwindbaren Probleme entgegenstehen, wenn wir regierung auf, den Weg für eine weitere Aussetzung
die Erhebung dieser Steuer etwas länger aussetzen. der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Ländern frei
Auch hier sollte eigentlich niemand ein Problem se- zu machen.
hen. Ich hoffe, wir werden Einigkeit erzielen.
Ich danke Ihnen.
Wichtig ist doch, daß wir dann die vereinbarten
Gespräche zur Gemeindefinanzreform gründlich füh- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Oswald
ren können. Wir sind durchaus bereit, auch über die Metzger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Gewerbekapitalsteuer zu sprechen. Bedingung dafür
ist allerdings, daß wir endlich Klarheit darüber be- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat
kommen, was die Koalition endgültig will. jetzt für die Bundesregierung der Parlamentarische
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koali- Staatssekretär Dr. Faltlhauser.
tion - obwohl kaum noch jemand da ist -, was gilt
denn eigentlich? Die Koalitionsvereinbarung, die Sie
Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun-
abgeschlossen haben, nach der die Gewerbesteuer
desminister der Finanzen: Herr Präsident! Liebe Kol-
ganz abgeschafft werden soll, oder die verfassungs-
leginnen und Kollegen! Herr Kollege Schild, Sie ha-
rechtliche Bestandsgarantie für die Gewerbeertrag-
ben gerade gesagt, wir sollen den Weg für die wei-
steuer, die der Bundesfinanzminister Waigel den
tere Aussetzung frei machen. Lassen Sie mich Ihre
kommunalen Spitzenverbänden gegenüber abgege-
Worte aufnehmen: Machen Sie den Weg frei für eine
ben hat?
schnelle Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer in
(Beifall bei der SPD - Jürgen Türk [F.D.P.]: den alten Bundesländern. Das ist das einzige, was
Sie haben das doch gekippt!) wir jetzt wirklich brauchen.
Der Parlamentarische Staatssekretär hat neulich im (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Bundesrat noch eine weitere Version angeboten und Zuruf von der SPD: Warum denn?)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5317
Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser
Dies ist unser Ziel seit vielen Monaten und Jahren, Noch eine Bemerkung. Ich verstehe die Befürch-
und wir haben Ihnen ja die Alternative hier in diesem tung der Kommunen, daß dies der erste Schritt zur
Haus vorgestellt und Sie aufgefordert, eine solide Abschaffung der Gewerbesteuer insgesamt sei. Ich
Gegenfinanzierung durch eine Grundgesetzände- erkläre hier noch einmal die Überzeugung des Fi-
rung zu fundieren. Sie haben sich damals verweigert, nanzministers und seines Staatssekretärs: Wir sehen
und jetzt haben Sie die Möglichkeit, gemeinsam mit keine Chance, die Gewerbeertragsteuer durch ir-
uns tatsächlich das einzig Vernünftige zu machen, gend etwas anderes zu ersetzen. Es gibt kein Ange-
nämlich die Gewerbekapitalsteuer in den alten Bun- bot, keine Möglichkeit, diese Steuer von über
desländern abzuschaffen, und zwar schnell: zum 30 Milliarden DM, verbunden mit dem Hebesatz-
1. Januar 1996. Die rechtlichen Möglichkeiten haben recht der Kommunen, mit dieser Gestaltungsform der
wir dafür. Machen Sie das zusammen mit uns; dann Kommunen, einem Symbol der Eigenständigkeit, zu
haben wir keine weiteren Probleme. ersetzen. Also ist diese Furcht völlig unbegründet.

Warum wir diese Gewerbekapitalsteuer abschaf- (Joachim Poß [SPD]: Das müssen Sie der
fen wollen, ist eindeutig. Drei Gründe: Sie ist erstens Koalition sagen!)
eine Substanzsteuer, ein Fossil, einmalig im interna- Wir haben die Chance, die Gewerbekapitalsteuer
tionalen Steuerlastvergleich, eine Doppelbelastung bis zum 1. Januar 1996 abzuschaffen. Die gesamten
und schwächt den Standort Bundesrepublik Wirtschaftsverbände, Herr Kollege Poß, die soge-
Deutschland. Das ist bei allen Gutachtern unbestrit- nannte Achterbande, haben noch einmal einen
ten; ich kenne keinen, der ein gegenteiliges Urteil Brandbrief an die Bundesregierung geschickt: Uns
abgibt. ist die Abschaffung zum 1. Januar 1996 besonders
wichtig. - Dies wäre auch ein konjunkturpolitisches
Zweitens ist es eine komplizierte Steuer. Nicht zu- Signal, das wir für das nächste Jahr dringend brau-
letzt deshalb haben wir sie in den neuen Bundeslän- chen. Ich bitte Sie, hier nicht irgendwelche Anträge
dern nicht eingeführt. zu stellen, sondern konstruktiv mit uns zu arbeiten.
In Brüssel brauchen wir dann nicht vorstellig zu wer-
Drittens. Wir wollen dieses Fossil natürlich nicht in
den.
den neuen Bundesländern einführen. Das wäre das
steuerpolitisch Katastrophalste, was diesem Land (Joachim Poß [SPD]: Um so besser!)
passieren könnte. Es wäre der Frost über der Plan-
Das Gespräch mit der Kommission in Brüssel in die-
tage aufblühender wirtschaftlicher Entwicklungen in
ser Frage ist nie abgerissen. Aber sie will klare Si-
den neuen Bundesländern.
gnale von uns. Durch Ihre Interventionen sind klare
Heute haben Sie die Möglichkeit, meine Damen Signale nicht gegeben worden. Machen Sie uns das
und Herren, hier etwas zu machen, und ich hoffe, Geschäft leichter!
daß wir im Finanzausschuß vorankommen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der F.D.P.)
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wo rt hat der
Wir haben den Kommunen nicht nur einen fairen, Kollege Reiner Krziskewitz, CDU/CSU-Fraktion.
sondern einen vollen Ausgleich zugesichert; das Ge-
samtvolumen ist dabei sehr satt bemessen, so daß Reiner Krziskewitz (CDU/CSU): Herr Präsident!
man Spitzen in der einen oder anderen Gemeinde Meine Damen und Herren! Zuerst einmal beinhaltet
ausgleichen kann. Wir haben den Kommunen ange- der Antrag die Anerkenntnis, daß die Einführung der
boten, daß sie auf der Berechnungsbasis der Jahre Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern
1992 und 1993 bis zum Jahre 1999 einen fixen Aus- für die wirtschaftliche Entwicklung und Konsolidie-
gleich haben. Das nenne ich Sicherheit, das nenne rung schädlich sei und deshalb ausgesetzt werden
ich Berechenbarkeit. Darüber hinaus werden wir ei- müsse. Das darf ich erst einmal feststellen.
nen orts- und wirtschaftsnahen Schlüssel finden, für
den wir die statistischen Grundlagen bereits im Jah- (Joachim Poß [SPD]: Das steht da nicht
ressteuergesetz bereitgelegt haben. drin!)
- Meine Damen und Herren, wieso schlagen Sie es
Die Gespräche mit den kommunalen Spitzenver- dann vor? Wer von uns in der Union sollte sich ob die-
bänden laufen, um ihre Ängste über das Jahr 2000 ses Erkenntniszuwachses der Opposition nicht
hinaus abzubauen. Am Montag spricht der Finanzmi- freuen? Ich sage das ohne Häme, sondern getragen
nister mit dem neuen Präsidenten des Städtetags, von der Zuversicht, daß es in diesem Hause durchaus
Herrn Seiler. Die Gespräche haben bisher nie eine möglich ist, aufeinander zuzugehen und dann die
Unterbrechung gefunden. Ich bin zuversichtlich, daß Dinge ihrer ideologischen Form zu entkleiden.
die Kommunen sehen, welche Chance sie haben, ne-
ben der Einkommensteuer, der Grundsteuer und der Nun ist nicht nur die Einführung der Gewerbeka-
Gewerbeertragsteuer eine weitere große, ertrags- pitalsteuer in den neuen Bundesländern für die dor-
kräftige, zukunftsträchtige und dynamische Steuer in tige Wirtschaft als negativ einzustufen, sondern das
ihrem Budget zu haben. Das ist eine große Chance, Gesamtproblem Gewerbekapitalsteuer als Standort-
die sie eigentlich immer haben wollten. Finanzmini- nachteil für die deutsche Wirtschaft ist hier schon
ster Waigel hat das erstmals angeboten. Ich habe beschrieben worden. Zugegeben, in den neuen Bun-
mich immer gewundert, warum das nicht schon frü- desländern kulminiert dieses Problem zur Groteske.
her aufgegriffen wurde.
5318 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Reiner Krziskewitz
Da sind sich Opposition - wer das in den einzelnen wie es die westdeutschen Kommunen auch tun. Der
Bundesländern auch immer sein mag -, Regierung, Vorschlag der Koalition sieht vor, bei Wegfall der Ge--
Gewerkschaften, Verbände, Wirtschaftsforschungs- werbekapitalsteuer nicht nur die westdeutschen
institute und Betroffene einig. Kommunen für den Ausfall der Gewerbekapital-
steuer zu entschädigen, sondern auch den ostdeut-
Die Eigenkapitalsituation in der ostdeutschen
Wirtschaft ist beklagenswert, die Verschuldung mit- schen Kommunen einen Ausgleich für die bisher
nicht erhobene Gewerbekapitalsteuer zu gewähren.
unter gigantisch, die Liquiditätsengpässe sind be-
Damit erhielten die ostdeutschen Kommunen eine
ängstigend. Alle sind sich einig - hier schließe ich
sofortige zusätzliche finanzielle Hilfe.
jedwede Opposition ein -: Es muß geholfen werden,
mit Zinsverbilligungen, Eigenkapitalhilfsprogram- Der vorliegende Antrag, meine Damen und Her-
men, Liquiditätshilfen, Investitionszulagen usw. ren, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es kommt
Dann droht eine Steuer, die diese Eigenkapitalhilfs- darauf an, hier nicht stehenzubleiben, sondern wei-
programme, zinsgünstigen Kredite und Fördermaß- terzugehen. Das Ziel der Union ist klar: Abschaffung
nahmen noch besteuert. der Gewerbekapitalsteuer in ganz Deutschland und
Ausgleichsleistungen auch für die ostdeutschen
Meine Damen und Herren, das kann doch keinen
Kommunen.
Sinn in sich geben. Besser als auf diesem Bewäh-
rungsfeld „neue Bundesländer" kann man die volks- Ich danke Ihnen.
wirtschaftliche Unsinnigkeit einer Steuer, die auch
noch Kredite und Darlehen einbezieht, nicht demon- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
strieren.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der
Im Grunde genommen erkennen Sie dies, meine
Damen und Herren von der SPD, in dem vorliegen- Kollege Oswald Metzger, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN.
den Antrag an, haben jedoch Scheu, die Folgerun-
gen zu ziehen.
Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der zur gleichen Thematik vom Land Thüringen Meine Damen und Herren! Zu dieser Stunde ein
eingebrachte Bundesratsantrag ist hier in seiner Be- paar kurze Anmerkungen zum Thema Gewerbekapi-
weisführung präziser. Ich zitiere: talsteuer aus der Sicht unserer Fraktion. Sie wissen
Die Einführung dieser substanzverzehrenden ja, wir haben uns inzwischen auf allen Ebenen, auch
Steuer zum jetzigen Zeitpunkt würde den wirt- mit den Landtagsfraktionen, abgestimmt und mit un-
schaftlichen Aufbau in den neuen Bundeslän- seren Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpoliti-
dern gefährden und wäre auch deshalb nicht ver- kern auch für die Abschaffung dieser Substanzbe-
tretbar, weil zu erwarten ist, daß im Zuge der Un- steuerung ausgesprochen.
ternehmenssteuerreform die Gewerbekapital- (Ulrich Hein rich [F.D.P.]: Ihr habt euch be
steuer auch in den alten Ländern entfällt.
wegt, das ist ja hochinteressant!)
Ihr Antrag, meine Damen und Herren, macht also
Die Mehrheiten sind vorhanden, aber wir wollen
nur Sinn, wenn man entschlossen ist, der Initiative
natürlich - wenn wir der Abschaffung der Gewerbe-
oder der Intention des Freistaates Thüringen folgend,
kapitalsteuer das Wort reden - auch darauf hinwei-
nächstes Jahr die Gewerbekapitalsteuer überhaupt
sen, daß Sie im Schnellschußverfahren bis zum
abzuschaffen.
1. Januar 1996 die Abschaffung nicht hinkriegen.
(Joachim Poß [SPD]: Brandenburg sieht das
(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Früher haben wir
anders!)
„umfallen" zu diesem Vorgang gesagt!)
Die Alternative wäre, daß wir uns dann etwa zur
gleichen Zeit Jahr für Jahr mit der gleichen Proble- Das wissen auch die Finanzpolitikerinnen und Fi-
nanzpolitiker der Koalitionsfraktionen.
matik befassen und Jahr für Jahr die Aussetzung ver-
längern, also statt 1996 dann 1997, statt 1997 dann Vielleicht noch ein Wort zu meinem Kollegen Vor-
1998 sagen. redner. Die ostdeutschen Bundesländer sollten ihre
Lassen Sie mich noch einen anderen Aspekt brin- bessere Finanzausstattung als Folge des Föderalen
gen. Für mich als Abgeordneten aus den neuen Bun- Konsolidierungsprogramms vielleicht zunächst ein-
desländern gibt es noch ein anderes Phänomen. mal nutzen, um Mittel an die ostdeutschen Kommu-
Selbst wenn die Gewerbekapitalsteuer als volkswirt- nen weiterzugeben, bevor man jetzt von einem Aus-
schaftlicher Unsinn erkannt wird: Die westdeutschen gleich für die noch nicht erhobene Gewerbekapital-
Kommunen erheben sie, und sie profitieren davon. steuer redet. Da liegen Probleme auch im kommuna-
len Finanzausgleich der Bundesländer. Es ist teil-
Meine Damen und Herren, wie lange wollen wir weise dramatisch, wie Bundesländer zu Lasten ihrer
eigentlich den ostdeutschen Kommunen einreden: Kommunen die Finanzausstattung zurückhalten.
Ihr müßt volkswirtschaftlich vernünftiger handeln,
ihr müßt auf diese Einnahmen verzichten, und es gibt Ein paar Eckpunkte für eine Gemeindefinanzre-
auch keinen Ausgleich dafür? Ich glaube, daß man form aus unserer Sicht: Wir brauchen auf jeden Fall
diese Position ernsthaft nicht vertreten kann. Klarheit. Der Parlamentarische Staatssekretär hat zu-
mindest ein Stück weit heute noch einmal auch für
Die ostdeutschen Kommunen müssen in die glei- seinen Finanzminister gesagt, daß die Gewerbe-
che Lage versetzt werden, Einnahmen zu tätigen, ertragsteuer nicht, wie im Koalitionsvertrag vorgese-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5319

Oswald Metzger
hen, mit dem Ziel der Abschaffung versehen wird, beteiligen. Das ist ein Eckpunkt, wenn man eine um-
sondern erhalten bleibt. Sie wissen natürlich genau, fassende Gemeindefinanzreform durchführen will.
-
daß ein Volumen von rund 30 Milliarden Mark sei-
tens des Bundes nie und nimmer durch eine andere Dazu gibt es überhaupt keine Vorstellungen. Es ist
Steuer ersetzt werden kann. außerordentlich schwierig - das sage ich selbstkri-
tisch als jemand, der gestern an dieser Stelle bei der
(Joachim Poß [SPD]: „Gegenwärtig" - so Diskussion um die Haushaltslöcher im Etat 1996 ge-
Herr Faltlhauser im Bundesrat!) redet hat -, in dieser Situation Umschichtungsspiel-
räume zu entwickeln, die die Finanzausstattung der
Der entscheidende Punkt ist, daß auf jeden Fall die Kommunen tatsächlich verbessern. Dies wird nur
Aussage so getroffen wurde, auch gegenüber den dann gehen, wenn der Bund, genauso wie die Län-
kommunalen Spitzenverbänden. Ich meine, Theo der und natürlich auch die Kommunen, seine Haus-
Waigel kann es sich nicht erlauben, den CDU-Präsi- aufgaben macht und seine Ausgabeansätze zurück-
denten des Städtetages bei seinem Gespräch am fährt und sparsamer mit öffentlichen Mitteln umgeht.
Montag zu brüskieren, indem er sich von dieser Zu- Sonst bekommen wir kein vernünftiges Gemeindefi-
sage zurückzieht. Da brauchen wir nicht herumzu- nanzsystem hin.
diskutieren.
Soviel noch heute nachmittag kurz vor der Abreise
Ein anderer Punkt ist die Ausgestaltung der Ge- nach Hause.
werbeertragsteuer, wenn man sich für den Erhalt die-
ser einsetzt. Natürlich ist auch die Gewerbeertrag- Vielen Dank.
steuer zu einer Großbetriebssteuer degenerie rt ; das
ist keine Frage. Ein relativ kleiner Prozentsatz der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Betriebe zahlt diese. sowie bei Abgeordneten der PDS)
Zu diesem Thema werden auch in der Fachöffent-
lichkeit Diskussionen geführt. Die Wissenschaftler, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der
teilweise auch die kommunalen Spitzenverbände, Kollege Jürgen Türk, F.D.P.
hätten am liebsten eine Wertschöpfungssteuer. Wir
sind für eine Revitalisierung der Gewerbeertrag-
steuer, indem man die Bemessungsgrundlage ver- Jürgen Türk (F.D.P.): Sehr geehrter Herr Präsident!
breitert und somit z. B. auch freie Berufe und Anbie- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Sinneswan-
ter öffentlicher Dienstleistungen einbezieht. Dann del bei der Opposition ist schon erstaunlich. Man
hätten die Gemeinden auf Grund der Entwicklung, kann aber immer dazulernen.
daß die Gewerbeertragsteuer einen breiteren Kreis
erfaßt, Spielräume. (Joachim Poß [SPD]: Welcher Sinneswandel
denn?)
(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Da fallen Sie auch
noch um!) Sie wissen, daß wir mit dem Jahressteuergesetz
1996 und der dazugehörigen Grundgesetzänderung
Wir hätten dann auf jeden Fall die Situation, daß in Art. 106 die Gewerbekapitalsteuer in ganz
auch bei den bisher allein zahlenden Unternehmen Deutschland abschaffen und die Gewerbeertrag-
in der Wirtschaft, den größeren Betrieben, Entla- steuer senken wollten. Den entstehenden Finanzaus-
stungswirkungen entstünden und die Gemeinden fall für die Kommunen - daran darf man noch einmal
nicht als Profiteure aufträten. Wir sehen also durch- erinnern - wollten wir nicht nur durch eine Beteili-
aus den wirtschaftlichen Zusammenhang in diesem gung an der Umsatzsteuer kompensieren. Nein, wir
Bereich. wollten sogar noch 2 Milliarden DM draufsatteln.
Wichtig ist uns also, die Gewerbeertragsteuer
(Beifall bei der F.D.P.)
durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage
zu revitalisieren. Das hätte man, wie gesagt, definitiv im Bundesrat
Ein weiteres wichtiges Stichwort in der Debatte um klären können, wenn man es gewollt hätte.
die Gemeindefinanzreform, die sich nicht nur als An- Zum Schaden der Kommunen gerade in den neuen
hängsel der Unternehmensteuerreform entpuppen Ländern verweigerten SPD und Bündnis 90 die Zu-
darf, wäre ein klares Wo rt der Bundesregierung zum stimmung zur erforderlichen Grundgesetzänderung.
Thema Soziallastenausgleich für die Kommunen. Die Koalitionsparteien wiesen schon damals sehr ein-
Das größte Problem in Deutschland ist doch derzeit, dringlich auf die verheerenden Auswirkungen durch
daß von den deutschen Kommunen und Landkreisen die unsinnige Verweigerung der Opposition - damals
auf Grund der Langzeitarbeitslosigkeit - und natür- jedenfalls war das so -
lich auch auf Grund der Maßnahmen, die im Haus-
haltsgesetz 1996 vorgesehen sind, zusätzlich Mittel (Joachim Poß [SPD]: Das hat sich nicht ge
aus der Arbeitslosenhilfe in den Bereich der Sozial- ändert!)
hilfe zu übertragen; in den letzten Jahren gab es in
diesem Bereich ein Wachstum mit Raten zwischen für die neuen Länder hin.
8 % und 15 % - inzwischen Volumina von über
54 Milliarden DM an Sozialhilfekosten geschultert Im Mai dieses Jahres wollten Sie der Regierung ein
werden müssen. An dieser Last muß sich der Bund Bein stellen - das war offensichtlich - und nahmen
5320 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Jürgen Türk
dafür eiskalt die Verunsicherung von vielen tausend land ein Standortproblem und muß deshalb abge-
Unternehmen in Ost und West in Kauf. schafft werden. -
(Joachim Poß [SPD]: Das ist Quatsch! Sie Ich fordere daher SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
haben den Kommunen einen Konsens ver NEN auf, unseren Vorschlägen zum Jahressteuerge-
sprochen! Das haben Sie bis heute nicht er setz 1996 zu folgen.
füllt!)
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
- Ich sagte gerade, daß man das im Bundesrat noch
hätte klären können. (Joachim Poß [SPD]: Sie wollten doch die
Abschaffung der Gewerbesteuer insgesamt!
(Joachim Poß [SPD]: Nur sitzen die Kommu Dazu sollten Sie was sagen!)
nen nicht im Bundesrat!)
Jetzt, nur fünf Monate später, merken Sie selbst, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat
was Sie mit Ihrer Verweigerung von Arbeitsplätzen, jetzt der Kollege Uwe-Jens Rössel, PDS.
so sehe ich das, ange richtet haben. Mit Ihrem Antrag
„Aussetzung der Gewerbekapitalsteuer in den Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS): Herr Präsident! Liebe
neuen Ländern für ein Jahr" wollen Sie nun das
Kolleginnen und Kollegen! In Ostdeutschland ist die
Schlimmste verhüten; das ist offensichtlich.
Erhebung der Gewerbekapitalsteuer bis 1995 ausge-
Dazu sage ich Ihnen: Wenn Sie endlich zur Ein- setzt; eine Entscheidung, die im Hinblick auf den
sicht gekommen sind, daß die Gewerbekapitalsteuer gravierenden wirtschaftlichen Umgestaltungsprozeß
ein ökonomisches Hemmnis darstellt, warum schaf- sowie die damit verbundenen Ertragsprobleme ost-
fen Sie dann nicht mit uns gemeinsam diese Steuer deutscher Unternehmen gerechtfertigt war und ge-
einfach ab und stimmen unserem fairen Ausgleich rechtfertigt ist.
für die Kommunen zu?
Zugleich muß aber darauf hingewiesen werden,
(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Dazu haben sie gar daß die dadurch den ostdeutschen Städten und Ge-
keine Kraft!) meinden entstandenen Einnahmeverluste weder
vom Bund noch von den Ländern erstattet worden
Was soll auch dieser ökonomische Blödsinn der be- sind. Damit gibt es bereits seit fünf Jahren eine
fristeten Aussetzung der Gewerbekapitalsteuer für Schlechterstellung der Ostkommunen im Vergleich
ein Jahr? Ich frage mich wirk lich: Was soll das: ein zu den Westkommunen, die tatsächlich so nicht län-
Jahr? Diese Bef ristung ist ein genauso großes Hemm- ger hingenommen werden kann.
nis für Investitionen, als wenn wir die Gewerbekapi-
talsteuer in Ostdeutschland einführen würden. Kein Schätzungen des Deutschen Städte- und Gemein-
Investor trifft seine Entscheidungen auf der Grund- debundes zufolge würde, bezogen auf das Jahr
lage von wirtschaftlichen Bedingungen, die nur für 1995, das Gewerbekapitalsteueraufkommen in Ost-
ein Jahr gelten, und schon gar nicht auf ein Verspre- deutschland brutto etwa 500 Millionen DM betragen.
chen von Ihnen hin, die Sie erst vor fünf Monaten
Der vorliegende Antrag der SPD will angesichts
den Unternehmen bei der Gewerbesteuer in den
der bisherigen Nichtverabschiedung der Gewerbe-
Rücken gefallen sind; das muß man schon einmal so
steuerpläne der Koalition die Aussetzung der Gewer-
klar sagen.
bekapitalsteuer in Ostdeutschland auf das Jahr 1996
Die Unternehmen brauchen für ihre Investitions- ausdehnen. Mit Blick auf die weiterhin schwierige
entscheidungen langfristige Rahmenbedingungen. Ertragslage der meisten ostdeutschen Unternehmen,
Das ist eigentlich, glaube ich, unser sinnvoller An- speziell des produzierenden Gewerbes - nicht der
satz. Wir wollen die Abschaffung der Gewerbekapi- Banken und Versicherungen; auf diese trifft das nicht
talsteuer in Ost und West; denn sie besteuert jede Ka- annähernd zu -, würden wir diesen Weg mitgehen.
pitalsubstanz, ob nun Fremd- oder Eigenkapital, und Die Zustimmung der EU scheint mir möglich.
vernichtet damit natürlich Investitionspotentiale.
Angesichts der vielerorts dramatischen Finanzsi-
In den neuen Bundesländern, wo wir durch Eigen- tuation der Kommunen darf dieser Weg allerdings
kapitalprogramme, Eigenkapitalfonds und verbilligte nicht - das ist unsere Kritik an dem Antrag - ohne
Investitionskredite versuchen, erst einmal eine Kapi- angemessenen, fairen Ausgleich für die Kommunen
talsubstanz aufzubauen, wäre die Einführung einer beschritten werden. Ein Hinweis darauf findet sich in
Substanzsteuer tatsächlich kontraproduktiv. dem Antragstext überhaupt nicht; ich bedaure das
sehr.
Aber auch in Westdeutschland schadet diese
Steuer der Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplät- (Joachim Poß [SPD]: Das war nicht das
zen. Denn egal, ob ein Unternehmen Gewinne macht Thema!)
oder nicht, diese Steuer wird ab einem Gewerbekapi-
Im SPD-Antrag fehlt eine Verknüpfung kommunaler
tal von 120 000 DM erhoben. Dabei setzt sich die
und wirtschaftlicher Interessen. Das ist unsere Kritik,
Steuerbemessungsgrundlage aus Gewerbekapital
Herr Poß. Ich habe das so festgestellt; es war uns sehr
und der Hälfte der Dauerschulden zusammen. Hier
aufgefallen.
werden also sogar Schulden besteuert, und das kann
ja wohl nicht wahr sein. Damit schadet diese Steuer Die Finanzsituation der meisten ostdeutschen
gerade Unternehmen in schwierigen finanziellen Si- Kommunen ist in der Tat kritisch. Das Finanzierungs-
tuationen. Diese Belastung ist auch für Westdeutsch- defizit beträgt in diesem Jahr rund 3 Milliarden DM.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5321
Dr. Uwe-Jens Rössel
An eigenen Steuereinnahmen hat eine Gemeinde in Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 11 auf:
Ostdeutschland pro Kopf nur etwa ein Drittel dessen,
was eine Gemeinde in Westdeutschland zur Verfü- Erste Beratung des von den Fraktionen der
gung hat. Sie hängt daher in besonders hohem Maße CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs
am Tropf von Bund und Ländern. Auch die Einbezie- eines ... Gesetzes zur Änderung der Strafpro-
hung in den Länderfinanzausgleich 1995 - Herr zeßordnung
Metzger hat das angesprochen - hat nicht zu einer - Drucksache 13/2576 —
Entspannung geführt. Die Länder haben die Mehr-
einnahmen überwiegend zur Sanierung der Landes- Überweisungsvorschlag:
haushalte und nicht zur Verbesserung der kommuna- Rechtsausschuß (federführend)
len Finanzausstattung genutzt. Eine deutliche Kritik Innenausschuß
an den ostdeutschen Ländern ist angebracht. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
Darüber hinaus schweben die sogenannten Alt- die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. -
schulden auf kommunale gesellschaftliche Einrich- Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
tungen wie ein Damoklesschwert über zumindest Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Kol-
1 400 ostdeutschen Städten und Gemeinden. Nach lege Ronald Pofalla, CDU/CSU.
unserer Auffassung - ich hoffe, daß das am Dienstag
in Berlin verfassungsrechtlich bestätigt wird - sind
das keine kommunalen Schulden, sondern Posten Ronald Pofalla (CDU/CSU): Herr Präsident! Der
aus dem Staatshaushalt der DDR. Entwurf der Strafprozeßordnung, den wir heute bera-
ten, betrifft speziell den Bereich des Haftrechtes und
(Zuruf von der SPD: Das hoffen wir!)
will gezielt auf Notwendigkeiten reagieren, die sich
Die Finanznot der Kommunen in Ostdeutschland bei der praktischen Durchsetzung des vor einem Jahr
hat gravierende soziale und ökonomische Folgen: verabschiedeten Verbrechensbekämpfungsgesetzes
Der Bestand kommunaler Einrichtungen ist gefähr- ergeben haben.
det; kommunale Investitionen stagnieren in Ost-
Mit dem vorliegenden Entwurf kommen die Frak-
deutschland - und das bei einem riesigen Bedarf.
tionen der CDU/CSU und der F.D.P. hiermit auf ihre
Das ist eine unhaltbare Situation. Der Mittelstand lei-
Initiative zurück, die bereits bei den Beratungen zum
det darunter; seine Ertragssituation verschlechtert
Verbrechensbekämpfungsgesetz Bestandteil ihres
sich.
Gesetzentwurfes war, dann jedoch im Vermittlungs-
Aus all den genannten Gründen kann die Ausset- ausschuß gescheitert ist. Von daher ist die Bedeu-
zung der Gewerbekapitalsteuer in Ostdeutschland tung des vorliegenden Entwurfes genau in diesem
für das Jahr 1996 - die wir mittragen würden, Herr Zusammenhang zu beurteilen, nämlich auf der Basis
Poß; ich will das noch einmal klar und deutlich sa- der Beratungen des am 28. Oktober 1994 verabschie-
gen - nur mit einem angemessenen Ausgleich für deten Verbrechensbekämpfungsgesetzes.
die Kommunen erfolgen. Der Bund und die Länder -
das ist unser Vorschlag - müßten dazu unverzüglich Auf Grund dieses Gesetzes wurde im Rahmen der
in Verhandlungen treten. Strafprozeßordnung u. a. das do rt zuvor bereits in
den §§ 417 ff. StPO geregelte beschleunigte Verfah-
ren fortentwickelt. Dies geschah in der gebotenen
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Zeit! Absicht, seinem Hauptanliegen, nämlich der Koordi-
nierung, Vereinfachung und Beschleunigung von
Strafverfahren, gerecht zu werden. Das Erfordernis,
Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS): Zugleich fordern wir dieses beschleunigte Verfahren auch durch drin-
die Bundesregierung auf, endlich ihr angekündigtes
gende Änderungen im Haftrecht zu ergänzen, wurde
Konzept auf den Tisch zu legen, damit wir darüber
von den Fraktionen der CDU/CSU sowie der F.D.P.
sprechen können.
bereits in ihrem Entwurf zum Verbrechensbekämp-
Wir jedenfalls haben unsere Vorschläge für die Re- fungsgesetz gesehen und behandelt. Zwar ist unser
form der Kommunalfinanzierung und die Lösung des damaliger Entwurf genau in dem heute zur Debatte
Altschuldenproblems in den Deutschen Bundestag stehenden Punkt im Vermittlungsausschuß geschei-
eingebracht und bitten, darüber in der nächsten Zeit tert, jedoch hat gerade die Praxis gezeigt, daß man
weiter zu debattieren. Wir sollten im Bundestag end- sich unseren Argumenten nicht verschließen kann,
lich Nägel mit Köpfen machen! wenn man Verbrechensbekämpfung wirklich effek-
tiv gestalten will.
Vielen Dank.
So muß man sich gleich zu Beginn unserer Überle-
(Beifall bei der PDS) gungen die Frage stellen: Was hat das beschleunigte
Verfahren bzw. seine Fortentwicklung auf Grund des
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schließe die Verbrechensbekämpfungsgesetzes in der Praxis ge-
Aussprache. bracht? Hierbei wird man sehr schnell feststellen
müssen: Es hat sich noch nicht sonderlich bewährt.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage Die Anwendungsakzeptanz des beschleunigten Ver-
auf Drucksache 13/1856 an die in der Tagesordnung fahrens im Justizalltag ist steigerungsfähig. Dies liegt
aufgeführten Ausschüsse vor. Einverstanden? - Dann aber gerade daran, daß dieses Verfahren ohne das
ist das so beschlossen. hier in Rede stehende Gesetz kaum durchführbar ist.
5322 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Ronald Pofalla
Ich gehe sogar so weit, zu sagen, daß der ursprüng- des schnellen Ablaufs der Strafverhandlung durch
liche Zweck einer Fortentwicklung des beschleunig- Nichterscheinen zum beschleunigten Verfahren und -
ten Verfahrens auf Grund des Verbrechensbekämp- nicht um eine generelle Vereitelung. Daß der Grund
fungsgesetzes erheblich gefährdet wäre, würde die- der Fluchtgefahr sicherlich vielfach gleichzeitig vor-
ser Teil, der heute hier zur Debatte steht, letztendlich liegen wird, macht jedoch die Hauptverhandlungs-
nicht in die Strafprozeßordnung aufgenommen wer- haft nicht etwa überflüssig. Immerhin gibt es doch
den. Das Institut des beschleunigten Verfahrens als auch Straftäter, die durchaus einen festen Wohnsitz
solches ist nämlich nur dann sinnvoll, wenn der Be- sowie einen Arbeitsplatz haben und denen dann mit
ginn seiner Durchführung, also die Anwesenheit des den vorhandenen Mitteln der Strafprozeßordnung
Beschuldigten, sichergestellt ist. Sollten bereits hier- nicht in dem gebotenen Maße begegnet werden
bei gravierende Verzögerungen auftreten, so ver- könnte.
dient das Verfahren seinen Namen nicht mehr, hat es
nach meiner Überzeugung sein Klassenziel verfehlt Eine etwaige Gefahr der Verletzung rechtsstaatli-
und wird folglich im Justizalltag mit Recht schlicht cher Grundsätze wird durch den vorliegenden Ent-
weg ignoriert. wurf nicht eröffnet; denn auch beim Haftbefehl zur
Hauptverhandlung gelten natürlich die allgemeinen
Der Anwendungsbereich des beschleunigten Ver- Vorschriften. Hierbei bleiben insbesondere die in
fahrens und seines von uns favorisierten Haftinstru- § 112 Abs. 1 StPO postulierte Beachtung des Verhält
mentariums erstreckt sich in erster Linie auf Bagatell- nismäßigkeitsgrundsatzes, die allgemeinen Anforde-
delikte, bei denen die Voraussetzungen tatsächlicher rungen an Form und Inhalt eines Haftbefehles nach §
oder rechtlicher Überschaubarkeit dera rt evident 114 StPO sowie schließlich auch die Möglichkeit der
sind, daß es andernfalls nicht zu einem beschleunig- Aussetzung des Vollzuges durch den Richter nach
ten Verfahren kommen würde. § 116 StPO unabdingbar. Geradezu selbstverständ-
lich steht dem Beschuldigten daneben die Ergreifung
Ein weiterer Anwendungsbereich betrifft die soge- des üblichen Rechtsbehelfs, der Haftprüfung, und
nannten reisenden Straftäter, sowohl aus links- als der Haftbeschwerde frei.
auch aus rechtsextremistischer Ecke. Gerade die ak-
tuelle Berichterstattung der letzten Monate hat ge- Ich erwähne dies nur deshalb ausdrücklich, weil
zeigt, daß sich hier ein regelrechter Tourismus ent- Gegner der Hauptverhandlungshaft - wir werden es
wickelt hat. Ich denke hierbei neben den „Chaosta- gleich hier hören - gerne so tun, als gäbe man durch
gen" in Hannover - die Urheber selbst haben diese Einführung derselben sämtliche Standards auf,
Bezeichnung gewählt - auch an zweifelhafte Ge-
denkveranstaltungen und Aktionen aus dem rechts- (Alfred Hartenbach [SPD]: Es ist aber so!)
radikalen Milieu. die unsere mitteleuropäische Rechtskultur gerade im
Ferner sind die sich häufenden Heimsuchungen Bereich der Strafprozeßordnung auszeichnen. Die
harmloser Sportveranstaltungen durch Hooligans Entscheidung über den Erlaß eines Haftbefehls ob-
aus dem ganzen Land zu nennen, die sich allesamt liegt schließlich gemäß § 127b Abs. 3 unseres Ent-
durch eine ähnliche Reisefreudigkeit auszeichnen. wurfes demjenigen Richter, der für die Durchführung
Man reist an, um Chaos zu verbreiten, und man reist, des beschleunigten Verfahrens zuständig ist.
nachdem - vielleicht - polizeiliche Feststellungen er- Wir glauben, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
folgt sind, sofort wieder ab. Welcher Zeuge kann da die Lücke schließen zu müssen, die durch das Ergeb-
schon Monate später, wenn die eigentliche Haupt- nis des damaligen Vermittlungsverfahrens entstan-
verhandlung stattfindet, eine gesicherte Aussage den ist. Wir glauben, daß die Verbrechensbekämp-
darüber treffen, ob es sich bei dem Beschuldigten fung mit der Einführung der §§ 417 StPO ff. von der
bzw. Angeklagten wirk lich um den handelt, den man Praxis nur dann wirksam wahrgenommen werden
vor Monaten anläßlich eines möglichen Strafdeliktes kann, wenn das Institut, das ich darzustellen ver-
erkannt zu haben glaubte? Hier tun sich nach meiner sucht habe, nunmehr über eine Ergänzung der Straf-
Überzeugung wahre Abgründe auf. prozeßordnung aufgenommen wird.
Der Handlungsbedarf ist auch in generalpräventi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ver Hinsicht enorm. Unserer Ansicht nach kann nur
die Sicherstellung der Anwesenheit eines Beschul-
digten zwecks wirklich schneller Durchführung Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der
eines Strafverfahrens eine echte Abschreckung für Kollege Alfred Hartenbach, SPD.
solche Täter bringen, die sich regelmäßig hinter der
Anonymität ihres Aussehens sowie ihrer Herkunft Alfred Hartenbach SPD): Sehr geehrter Herr Präsi-
verstecken. Sie vereiteln ihre Verfolgung dadurch, dent! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Man
daß sie sich nach Beendigung ihrer Reise sicher füh- könnte Sie schon beinahe persönlich begrüßen, aber
len dürfen. Unser Rechtsstaat ist nämlich da in Ge- damit ginge mir zuviel von meiner Redezeit verloren.
fahr, wo Sanktionen nicht mehr ernstgenommen wer- Deswegen nehmen Sie bitte diese pauschale Anrede
den, bloß weil die Justiz sie wegen fehlender Befug- an.
nisse nicht durchzusetzen vermag.
Herr Pofalla, mein Rechtsempfinden wird heute
Der vorhandene und vielzitierte Haftgrund der auf eine harte Probe gestellt. Konservative und Libe-
Fluchtgefahr ist hierbei eben nicht ausreichend - wie rale schlachten - ich sage: schlachten - ein kostbares
manche behaupten -, weil er andere Fälle betrifft. Gut unserer Verfassung: das verbriefte Recht des
Vorwiegend geht es doch bloß um eine Gefährdung Menschen auf Freiheit. Nach Ihrer Vorschrift, die Sie
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5323
Alfred Hartenbach
eben so bewegt vorgetragen haben, meine Herren Sie wollen, meine Herren von der Koalition, die rei-
aus der Koalition, kann künftig jeder auf frischer Tat senden Straftäter packen, also die wirklich Kriminel-
Betroffene vorläufig festgenommen und in Untersu- len. Für diesen Personenkreis reicht auch das gel-
chungshaft gesteckt werden, wenn eine Gerichtsent- tende Haftrecht mit all seinen Tatbeständen und Fa-
scheidung binnen Wochenfrist möglich ist und die cetten völlig aus. Für reisende Straftäter, die ja in al-
Befürchtung besteht, die festgenommene Person ler Regel bandenmäßig auftreten und schweren wirt-
werde die Hauptverhandlung schwänzen. schaftlichen oder körperlichen Schaden verursachen,
ist das Verfahren, das nach der Verhaftung anzuwen-
Ich prophezeie Ihnen: Die Gewahrsamszellen der den ist, also das beschleunigte Verfahren, nach mei-
Polizei und die Untersuchungshaftanstalten werden ner Auffassung und nach meiner Erfahrung als lang-
künftig eine Übervölkerung mit Eierdieben erleben. jähriger Praktiker ohnehin absolut ungeeignet. Ich
Wohnsitzlose Ladendiebe, Schwarzfahrer oder Zech- gehe einmal davon aus, Sie kennen die Bestimmun-
preller werden es sein, die man erwischt. Der Beifall gen der §§ 417 ff. StPO, das beschleunigte Verfahren.
der Stammtische dürfte Ihnen gewiß sein, da Sie Dann wissen Sie auch, daß die Höchststrafe ein Jahr
doch für Ordnung sorgen und die Tippelbrüder von ist. Sie wissen auch, daß der Sachverhalt einfach und
der Straße sind. Aber, meine Herren, das ist ein teu- die Beweislage klar sein muß. Sie wissen, daß beim
-res Sozialprogramm. Denn die Kosten für einen U reisenden Straftäter, den Sie eben angesprochen ha-
Haft-Platz sind genauso hoch wie die für eine Über- ben, weder der Sachverhalt einfach noch die Beweis-
nachtung in einem Mittelklassehotel. lage klar sein wird. Sie wissen ebenfalls, daß das
(Zuruf des Abg. Heinz Lanfermann [F.D.P.]) Höchstmaß der Strafe vermutlich nicht ausreichen
wird. Gerade Ihre Hinweise, Herr Pofalla, auf die
- Mein lieber Herr Lanferman, ich spreche Sie noch Chaostage in Hannover sind der schlagende Beweis
direkt an. dafür, daß diese Gruppe mit dem beschleunigten
Verfahren einfach nicht zu bedienen ist.
Nachdenklich muß es aber stimmen, wenn man
begreift - das ist bereits gesagt worden -: Beim Ver- Lassen Sie mich auch einmal ein paar ganz prakti-
haften dieser Eierdiebe kommt es künftig nicht mehr sche Probleme bei der Hauptverhandlungshaft auf-
auf den festen Wohnsitz an; den darf der Eierdieb ru- zeigen. Sie beklagen, daß die Gerichte nur in weni-
hig haben. Die Koalition schafft hier einen völlig gen Fällen im beschleunigten Verfahren verhandeln.
neuen Haftgrund. Ich bezeichne ihn als den Haft- Richtig. Warum? - Weil der Terminkalender bis oben-
grund der Befürchtung. hin voll ist und es sich kein Gericht erlauben kann,
nur im Hinblick darauf, daß vielleicht möglicher-
Ich wi ll das gerne einmal für die, die es noch nicht weise irgendwann einmal ein beschleunigtes Verfah-
verstanden haben, etwas näher erläutern. Da gibt es ren verhandelt wird, einen Gerichtstag nicht voll aus-
die Hausfrau, die zum dritten oder vierten Mal beim zuterminieren. Das gleiche gilt in bezug auf die
Ladendiebstahl erwischt wird. Da gibt es den Auto- Frage: Wie weiß der Richter, ob jemand verhaftet
fahrer, der zum wiederholten Mal betrunken am wird? - Er kann seinen Terminkalender nicht offen-
Steuer seines Pkw ertappt worden ist. Beide haben lassen, und da, wo es ebenfalls um festgelegte Ge-
schon einmal einen Gerichtstermin geschwänzt - richtstage geht, nämlich bei den Schöffengerichten,
vielleicht nur aus Angst. Aber diese Tatsache läßt be- bei denen man ja auch anklagen kann, droht die Ge-
fürchten, daß sie auch zum nächsten Hauptverhand- fahr, daß auf Grund Ihres Gesetzentwurfs dem Ange-
lungstermin nicht kommen - und schwupp sie sind klagten der gesetzliche Richter entzogen wird.
im Kasten. So einfach ist das.
Wir sind bisher ganz gut und vor allen Dingen
Ich will einmal ein bißchen überspitzen, weil Über- rechtsstaatlich korrekt mit dem geltenden Recht ge-
treibung anschaulich macht. Da gibt es den Studen- fahren. Wenn Sie es nicht wissen, sage ich es Ihnen:
ten, der den Bundeskanzler mit Farbeiern bewirft. Auch nach dem geltenden Recht konnte man ohne
Weil man befürchten muß, daß Studenten morgens den Angeklagten in der Hauptverhandlung verhan-
lange schlafen - das tun, davon abgesehen, auch Ab- deln, wenn er darauf hingewiesen wurde und wenn
geordnete manchmal -, packt man ihn ein: sieben eine Geldstrafe in Betracht kam. Wenn man ihn
Tage U-Haft, damit man sicher ist, daß er kommt. Bei brauchte, konnte man ihn mit einem Haftbefehl oder
diesem Haftgrund der Befürchtung kann man das einem Vorführungsbefehl holen. Auch die diesbe-
Fürchten bekommen. züglichen Regelungen nach § 230 StPO haben hun-
dertprozentig hingehauen. Ich denke, daß Ihnen je-
Das bisher gültige Haftrecht stellt ganz andere An- der Richter sagen wird: Eine nennenswerte Verzöge-
forderungen. Wir haben die klaren Feststellungen rung hat es bei diesem Verfahren nicht gegeben.
bei flüchtigen Tätern. Beim Haftgrund der Fluchtge-
fahr müssen dringende Gründe vorliegen. Selbst Ich denke, wir kommen mit diesem Gesetzentwurf
beim Haftgrund der Verdunkelungsgefahr erwartet nicht weiter. Sie werden den knappen Haftraum mit
man, daß der Verdacht einer Einwirkung auf andere Eierdieben belegen und dann keinen Platz mehr für
begründet ist. Der Haftgrund der Wiederholungsge- die eigentlichen Straftäter haben, die wir in Untersu-
fahr erfordert einen begründeten Verdacht. Was Sie chungshaft nehmen müssen, um aufzuklären. Sie
mit dem Haftgrund der Befürchtung wollen, ist der werden auch Ihr ehrgeiziges Ziel nicht erreichen, das
unmittelbare Ausstieg aus einem rechtsstaatlichen Vertrauen in den Rechtsstaat zu stärken, wenn Sie
Verfahren. Die Beschränkungen der U-Haft nach nur gegen Kleinkriminelle die Keule der drohenden
§ 113 StPO haben Sie überhaupt nicht erwähnt; Sie Haft schwingen. Ich denke, wir stärken das Ver-
haben sie sogar ausdrücklich ausgeschlossen. trauen in den Rechtsstaat eher, wenn wir gegen das
5324 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Alfred Hartenbach
organisierte Verbrechen in der Wi rtschaft und auch Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
in den Verwaltungen vorgehen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht
ist das eben von Herrn Hartenbach Gesagte der SPD
(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] ja eine Lehre, in Zukunft etwas weniger auf eine
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Große Koalition und etwas mehr auf Kooperation in
Wenn Sie glauben, Sie schrecken mit diesem Hau- der Opposition zu setzen. Es würde mich freuen.
ruckverfahren irgendjemanden ab, dann kennen Sie
sich in der Psyche eines Täters nicht aus. (Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Das hättet ihr
gern!)
Ich muß noch einmal etwas ansprechen, was mir
auf der Seele liegt und mich sehr verärgert hat. Ich Dem Rechtsstaat wird in den letzten Tagen einiges
möchte hier ein wenig die Richterinnen und Richter zugemutet, getreu dem Motto: Stell dir vor, es wird
und die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte gegen die Strafprozeßordnung umgekrempelt und keiner
Sie aufbringen. Sie schreiben in Ihrer Begründung: schaut hin. Letzte Nacht galt es, die Kronzeugenre-
gelung zu verhandeln. Es war nach zwei Uhr, die Re-
Das Mittel der Hauptverhandlungshaft soll auch debeiträge wurden zu Protokoll gegeben. Für heute
ein Anreiz für die Staatsanwaltschaften und wurde eilig die Einführung der Hauptverhandlungs-
Amtsgerichte sein, insgesamt auf eine möglichst haft unter „ferner liefen" auf die Tagesordnung ge-
zügige Anberaumung der Hauptverhandlung zu setzt. Da darf man doch wohl gespannt sein auf die
achten. Rechtfertigung für den angeblich dringenden Hand-
lungsbedarf.
Meine Herren, dieser Satz ist eine Beleidigung für
alle Richterinnen und Richter und für alle Staatsan-
Die Begründung Ihres Gesetzentwurfes allerdings
wältinnen und Staatsanwälte, die ohnehin bereit
ist enttäuschend, heißt es doch lediglich, das durch
sind, so sachgerecht und so zügig wie möglich zu
das Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 modifi-
verhandeln.
zierte beschleunigte Verfahren werde von den Ge-
(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] richten nur in geringem Maße genutzt, dem wolle
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) man Abhilfe schaffen. Sie wollen suggerieren, Staats-
anwaltschaften und Richter hätten es massenhaft mit
Nein, Ihr knapper Gesetzentwurf - besser: Ihre Fällen zu tun, die sich zur Aburteilung in einem grob
Drohschrift - taugt zu nichts. Er taugt nicht zur Be- verkürzten Verfahren eignen, und könnten den ge-
schleunigung von Verfahren, aber stellt die Unab- setzgeberischen Wunschvorstellungen bloß deshalb
hängigkeit der Richter in Frage. Er taugt nicht zur nicht entsprechen, weil sich die Angeklagten regel-
Abschreckung, aber greift das Recht auf Freiheit der mäßig vor der Hauptverhandlung aus dem Staub
Person an. Er taugt nicht zur Stärkung des Vertrau- machten.
ens in den Rechtsstaat, aber ist ein Schlag gegen ein
rechtsstaatliches Verfahren. Es verwundert, wie schnell Sie plötzlich diese Er-
fahrungen sammeln konnten. Noch am 3. August
Zum Schluß stelle ich noch eine Frage nach dem 1995 verkündete Staatssekretär Kober:
politischen Anstand in den Raum, eine Frage, die
auch Sie, Herr Pofalla - aber aus Ihrer Sicht -, ange- Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse
sprochen haben. Wir beide waren damals noch nicht darüber vor, in welchem Umfange die Staatsan-
im Bundestag, aber wir wissen beide, daß die Koali- waltschaften der Länder von der Möglichkeit Ge-
tion die SPD nur deshalb beim Verbrechensbekämp- brauch gemacht haben, einen Antrag auf Ent-
fungsgesetz auf ihre Seite gezogen und letztendlich scheidung im beschleunigten Verfahren zu stel-
zur Zustimmung bewogen hat, weil man erklärt hat, len.
daß die Hauptverhandlungshaft vom Tisch ist. Nun
frage ich: Warum bringen Sie diesen Gesetzentwurf Und in der Antwort auf eine Frage meines Fraktions-
heute in einem Hauruckverfahren, in einem Eilver- kollegen Manfred Such für die Fragestunde vom
fahren ein? Ist es Wahltaktik für Berlin? - Brauchen 11. Oktober 1995, vom Mittwoch dieser Woche, heißt
Sie doch gar nicht. es:
(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Da gewinnen
wir auch so, das stimmt!) Erkenntnisse über die Zahl nicht zur Hauptver-
handlung erschienener Angeklagter und über
Ich sage: Das ist Wortbruch, Freunde! Auch deshalb die durchschnittliche Dauer von einer Tatentdek-
rufe ich Ihnen zu: Ziehen Sie diesen gräßlichen An- kung bis zur Hauptverhandlung lassen sich den
trag zurück, im Namen des Volkes! amtlichen Statistiken nicht entnehmen.
Danke schön. Aus „Erfahrungsberichten" sei jedoch bekannt,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ daß eine sofortige Verhandlung im beschleunigten
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Verfahren „nicht selten" daran scheitere, daß der Be-
PDS) schuldigte für die Durchführung der Hauptverhand-
lung nicht zur Verfügung stehe.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der (Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Das ist doch
Kollege Volker Beck, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. einsichtig!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5325
Voker Beck (Köln)
Meine Herren, ist es wirklich Ihr Ernst, einen der- in Haft nehmen kann. Das findet dann aber im Rah-
art gravierenden Einschnitt in Freiheitsrechte von men von Hauptverhandlungen statt, für deren Termi-
Menschen auf Grund einer solchen vagen Annahme nierung es heute schon bei kleinsten Delikten etwa
vorzunehmen? Immerhin sprechen wir hier über das sechs bis acht Monate braucht.
Wegsperren von Menschen für die Dauer von bis zu
Dabei kommt es vor, daß niemand mehr weiß, was
einer Woche. Einzelne „Erfahrungsberichte" wollen
gewesen ist, daß sich selbst der Täter - von den Zeu-
Sie zur Grundlage machen? Das ist Gesetzgebung
gen ganz zu schweigen - so weit von der Tat entfernt
nach dem Hörensagen. So geht das nicht!
hat, daß ihn die anschließende Strafe völlig über-
Aber selbst wenn man einmal unterstellt, Sie hät- rascht, ihm diese irgendwie ungerecht, jedenfalls
ten sorgfältig gearbeitet und es gebe umfassende nicht im Einklang mit seiner eigenen Persönlichkeit
Untersuchungen, die die von Ihnen aufgestellten erscheint, während er einige Tage nach der Tat noch
Thesen stützen würden: Eine Zustimmung zu Ihrem ganz genau weiß, wie das mit dem Stein war, den er
erneuten Vorstoß wäre trotzdem absolut indiskuta- gegen die Frau oder das Kind geworfen hat; oder wie
bel. das mit den Schüssen war, die kürzlich aus einem ge-
wissen Haus in Hannovers Nordstadt auf harmlose
Um die Brisanz des geplanten Eingriffs in die Frei- Passanten abgegeben worden sind, weil man do rt
heitsrechte der Bürger zu ermessen, muß man sich Freiäumbacht:nr,zuwoesn-
einmal die Reichweite der geltenden Regelungen dern auch, um aus den Fenstern auf Leute zu schie-
bewußt machen. Schon nach geltendem Recht kann ßen. Inzwischen ist es auch Ihren sozialdemokrati-
gegen den Angeklagten, der ohne genügende Ent- schen Genossen unheimlich geworden. Sie haben
schuldigung der Hauptverhandlung fernbleibt, Haft- jetzt - das wechselt da sehr abrupt in den Verhaltens-
befehl erlassen werden, § 230 Abs. 2 StPO. Bei weisen - das Haus abgerissen, gleich sofort das
Fluchtgefahr greift ohnehin die Regelung des § 112 ganze Haus. Na, gut. Wir wollen da keine Häuser in
Abs. 2 StPO. Die vorgeschlagene Regelung besagt größerem Stil abreißen, sondern wir sagen: Wenn es
also: Auch ohne Fluchtgefahr kann der Beschuldigte nicht um Eierdiebe geht - von Eierdieben steht in
sozusagen „auf Vorrat" inhaftiert werden. Mit rechts- diesem Gesetzentwurf nichts -, sondern um Aus-
staatlichen Verfahrensregeln hat das nichts mehr zu schreitungen bei Demonstrationsstraftaten, dann
tun. möchten wir gerne, daß die Betreffenden, solange
Dieses Gesetz ist schlicht und ergreifend verfas- ihre Erinnerung an die Tat noch so frisch ist, daß man
sungswidrig. Ersparen Sie sich die Peinlichkeit, daß auch auf ihr Unrechtsbewußtsein hoffen kann, wenn
Karlsruhe wieder einmal eine offenkundige gesetz- sie durch den Richter entsprechend darauf hingewie-
geberische Fehlleistung korrigieren muß! Sie können sen werden, auch zur Hauptverhandlung kommen.
die entsprechende Entscheidung nachlesen, in der
die Kriterien für solche Maßnahmen benannt sind. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege
Dem werden Ihre Begründung und das gesetzgeberi- Kleinert , gestatten Sie eine Zwischenfrage?
sche Motiv auf keinen Fall gerecht.
Ich kann nur an alle rechtsstaatlich Denkenden in Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Ja, bitte.
diesem Hause appellieren - dazu zähle ich auch Sie
noch -: Verweigern Sie sich dem Ansinnen dieses
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte sehr.
Gesetzentwurfes!
Vielen Dank und schönes Wochenende!
Alfred Hartenbach (SPD): Herr Kollege Kleinert,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stimmen Sie mit mir überein, daß bei den Delikten,
und bei der SPD) die Sie eben angesprochen haben, eine vernünftige,
saubere Aufklärung durch die Polizei, die nicht un-
ter Zeitdruck steht, ein sauberes Verfahren in der er-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der
sten Hauptverhandlung, also vor dem Eingangsge-
Kollege Kleinert, F.D.P. richt, viel besser ist als eine schnelle, aber in aller Re-
gel unsaubere Aufklärung, viel besser ist als eine
Detlef Kleine rt (Hannover) (F.D.P.): Herr Präsident! schnelle, aber in aller Regel nicht tiefgehende erste
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wenn Hauptverhandlung mit der Folge, daß man in einer
man das so hört, wie der Rechtsstaat untergeht, dann zweiten Instanz dieses Verfahren wieder aufgreift
muß man denken, daß Ihr Wahrnehmungsvermögen und exakt dann das erreicht, was Sie anprangern,
ein klein wenig gegenüber dem beeinträchtigt ist, daß nämlich dieses zweite Verfahren im Sinne des
was sich tatsächlich abspielt. Wir kennen die von Ih- Staates schiefgeht, daß nämlich dann wegen man-
nen zitierten Bestimmungen, wonach man einen gelnder Aufklärung ein Freispruch erfolgt?
Haftbefehl erlassen kann, wenn jemand nicht zur
Hauptverhandlung erscheint, und wonach man den
Detlef Kleine rt (Hannover) (F.D.P.): Bei den Fällen,
Betroffenen „auf Vorrat" - wie Sie das so schön aus-
die uns vor Augen stehen, glauben wir, daß es sich
gedrückt haben, obwohl es mir gar nicht gefällt, weil
eben anders verhält, als Sie es darstellen. Wir glau-
ich nämlich die Freiheitsrechte des einzelnen so sehr
ben, daß es gar nicht zur Berufung kommt, weil der
schätze -
Betreffende so kurz nach der Tat bei voller Erinne-
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE rungsfähigkeit - ich wiederhole mich: nicht nur des
GRÜNEN]: Dann verteidigen Sie sie mal!) Zeugen, sondern auch seiner selbst; das ist straf-
5326 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Detlef Kleinert (Hannover)


rechtspolitisch der wichtigere Punkt - einsieht, daß das zu vernünftigen Ergebnissen im Gesamtrahmen
er zu Recht bestraft worden ist. Das wird er viel eher unseres Rechtswesens führt.
binnen einer Woche - nicht in jedem Fall erst nach
Erfunden wurde dieser Vorschlag als Gegenvor-
einer Woche - einsehen als nach acht Monaten. Das
lehrt nun einmal unser aller Einblick in die Wirklich- schlag zu dem, was zum Landfriedensbruch in Vor-
keit. ahnungen auf Wackersdorf vorgetragen ist. Das ist
einige Jahre her. So lange - und nicht etwa über
Deshalb glauben wir, daß sich der Polizeibeamte in Nacht - diskutieren wir über dieses Thema. Wir hal-
den Fällen, in denen er den Mann gesehen hat, auch ten das für eine vernünftige Lösung.
noch nach drei Tagen an ihn erinnern und sagen
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
kann: Er hat den Stein geworfen. Es wird selbst bei
der neuerdings eingerissenen Gewohnheit unserer
Strafgerichte, zum schriftlichen Verfahren überzuge- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wo rt hat der
hen, obwohl wir nach den Vorstellungen der Straf- Kollege Dr. Heuer, PDS.
prozeßordnung von der Mündlichkeit der Hauptver-
handlung und von der Gesamtheit der Hauptver- Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Herr Präsident! Meine
handlung ausgehen sollten, dazu reichen, daß der Damen und Herren! Herr Kleine rt , Sie bezogen sich -
Richter mit dem nötigen soliden strafrechtlichen das sagten Sie - auf das Richterbild. Ich möchte mich
Grundwissen und mit der nötigen Lebenserfahrung mit denjenigen beschäftigen, die eingesperrt werden
ein sauberes und auch dem Angeklagten einleuch- sollen.
tendes Urteil wird sprechen können, wenn er den
Angeklagten so kurz nach der Tat befragen kann. Hier wird eine neue Institution eingeführt, nämlich
die Hauptverhandlungshaft. In meinen Augen wird
Es ist nicht so, daß Sie Ihre Kollegen, Herr Richter damit die Möglichkeit für schwere Eingriffe in Men-
Hartenbach, irgendwie gegen uns einnehmen müs- schenrechte geschaffen. Wenn der Herr Bundes-
sen. Wir haben die Sache vorher z. B. mit dem Präsi- kanzler heute hier wäre, würde er wahrscheinlich
dium des Deutschen Richterbundes in aller Ausführ- wieder einmal erklären, daß ich eigentlich nicht das
lichkeit erörtert. Bei einer Gelegenheit hat das die Recht habe, zu diesen Dingen Stellung zu nehmen,
CDU gemacht, bei einer anderen Gelegenheit die weil ich in der DDR tätig war. Ich muß sagen: Ich
F.D.P. Do rt haben wir Zustimmung zu unserem Ge- habe damals an der Gesetzgebung nicht mitgewirkt,
danken gefunden, einen Hinweis auf die Möglich- und damals wie heute hätte ich gegen so etwas
keiten des Richters zu geben, diese Hauptverhand- schwere Einwände gehabt.
lung mit wachen, mit präsenten Zeugen kurz nach
der Tat stattfinden zu lassen. Die ersten Sätze des allgemeinen Teils der Begrün-
dung deuten das Motiv an: Es ist ein Schnellverfah-
Erklären Sie doch bitte, bevor Sie darstellen, was ren geschaffen worden, und die Gerichte, verstockt
daran alles rechtsstaatswidrig ist, wie vorsichtig wir in ihren rechtsstaatlichen Traditionen oder warum
an die Sache herangegangen sind. Der gesetzliche auch immer, wenden es einfach nicht an. Offenbar
Richter soll nach diesem Text, den zu lesen sich of- sollen nun die Staatsanwaltschaften mit Hilfe dieses
fenbar lohnt, für die Entscheidung zuständig sein, ob neuen Paragraphen die Amtsgerichte zwingen, sol-
er selbst die Haft anordnet und sich damit selbst in che Schnellverfahren durchzuführen. Ist den Verfas-
die Pflicht nimmt, die Hauptverhandlung binnen ei- sern nicht aufgefallen, daß sie damit einen rechts-
ner Woche, möglichst schneller, durchzuführen. staatlichen Grundsatz, nämlich das Prinzip der Ver-
hältnismäßigkeit, verletzen? Haben Sie die §§ 417 ff.
(Alfred Hartenbach [SPD]: Das haben wir StPO wirklich gelesen?
gelesen!)
Herr Kleinert hat gesagt, gemeint seien die De-
Nur wenn dieses Angebot von dem Richter, der das monstrationstäter; aber das ist gar nicht wahr. Das
selbst entscheidet, für sich angenommen wird, wenn gilt auch beim Führerscheinentzug und für den Eier-
er sich das zutraut, dann findet dieses Verfahren dieb. Es steht ja nicht im Gesetz, wer gemeint ist. Das
statt. Fairer und genauer am gesetzlichen Richter wissen Sie wie ich. Sie haben gesagt, es handelt sich
orientiert geht es beim besten Willen nicht. um Bagatelldelikte,
Wir möchten aber darauf hinweisen - im krassen (Detlef Kleine rt [Hannover] [F.D.P.]: Eben
Gegensatz zu manchem, was man sich in den letzten nicht!)
Tagen an Gedanken über den amerikanischen Ge-
richtsaufbau und die amerikanische Justizpolitik ma- aber bei all diesen Bagatelldelikten soll jetzt - -
chen konnte -, daß die Angloamerikaner in einem (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Lesen
Punkt recht haben: Wenn man in der Lage ist, einen Sie das Protokoll!)
Täter auf frischer Tat zu ertappen, dann soll man ihn
kurz danach im Beisein der entsprechenden Zeugen - Dann hat Ihr geschätzter Vorredner aus der Koaliti-
in einer Hauptverhandlung, die diesen Namen ver- onspartei das gesagt.
dient, seinem Freispruch oder seiner Verurteilung zu- (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Das
führen können. Das entspricht einem Richterbild - Wort Bagatelle ist mir nicht über die Lippen
das ist für uns der Hauptpunkt, nicht das Einkasteln -, gekommen!)
das wir uns mehr wünschen würden. Deshalb legen
wir diesen Entwurf vor. Wir wollen den Richtern zu- - Er hat Bagatelldelikte gesagt. Ich erinnere mich
sätzliche Möglichkeiten erschließen. Wir hoffen, daß daran sehr deutlich.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5327
Dr. Uwe-Jens Heuer
Bei all denen soll jetzt die Möglichkeit gegeben der Unschuld bei Ihnen? Meine Damen und Herren
werden, Untersuchungshaft durchzuführen. von der Koalition, ich schließe mich all jenen an, die
gesagt haben: Denken Sie nach, befreien Sie uns von
Mich hat ein Satz außerordentlich erschreckt. In diesem Monstrum!
der Begründung steht:
Danke schön.
Gerade bei reisenden Straftätern kann das Mittel
der Hauptverhandlungshaft seine Wirkung ent- (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/
falten. Die unmittelbar auf die Tat folgende Kon- DIE GRÜNEN)
frontation des Täters mit den strafrechtlichen Fol-
gen kann eine erhebliche erzieherische Wirkung Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schließe die
haben und dadurch auch abschreckend wirken. Aussprache.
Es handelt sich hier um U-Haft, und die Untersu- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz-
chungshaft hat in meinen Augen nicht die Aufgabe, entwurfs auf der Drucksache 13/2576 an die in der
eine erzieherische Wirkung zu entfalten und ab- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
schreckend zu wirken. Die Untersuchungshaft hat gen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht
ganz bestimmte Voraussetzungen. Was man auch im- der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
mer über Erziehung und Abschreckung denken mag
- darüber kann man diskutieren -, die Untersu- Wir sind damit am Schluß der Tagesordnung.
chungshaft hat aber nicht die Aufgabe, zu erziehen
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
und abzuschrecken. Die Untersuchungshaft hat an-
destages auf Mittwoch, den 25. Oktober 1995, 9 Uhr
dere Ziele; das wissen auch Sie.
ein.
Jetzt soll eine neue Art von Strafe eingeführt wer- Die Sitzung ist geschlossen.
den, nämlich die Hauptverhandlungshaft. Das halte
ich wirklich für schlimm. Wo bleibt die Präsumtion (Schluß der Sitzung: 15.48 Uhr)

Berichtigung
61. Sitzung, Seite 5250 D, 8. Zeile von unten:
Statt „demokratischen" ist „soldatischen" zu lesen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5329*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1
entschuldigt bis
Abgeordnete(r)
einschließlich
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Schoppe, Waltraud BÜNDNIS 13. 10.95
entschuldigt bis 90/DIE
Abgeordnete(r)
einschließlich
GRÜNEN
Dr. Schuberth, Mathias SPD 13. 10. 95
Altmann (Pommelsbrunn), BÜNDNIS 13. 10.95
Elisabeth 90/DIE Schultz (Everswinkel), SPD 13. 10. 95
GRÜNEN Reinhard
Schumann, Ilse SPD 13. 10. 95
Augustin, Anneliese CDU/CSU 13. 10. 95 * *
Seiters, Rudolf CDU/CSU 13. 10. 95
Eichstädt-Bohlig, BÜNDNIS 13.10.95
Franziska 90/DIE Dr. Stadtler, Max F.D.P. 13. 10. 95 * *
GRÜNEN Steen, Antje-Marie SPD 13. 10. 95
Eymer, Anke CDU/CSU 13. 10. 95 Terborg, Margitta SPD 13. 10. 95 *
Fograscher, Gabriele SPD 13. 10. 95 * * Teuchner, Jella SPD 13. 10. 95
F.D.P. 13. 10. 95 Verheugen, Günter SPD 13. 10. 95
Funke, Rainer
Vogt (Düren), Wolfgang CDU/CSU 13. 10. 95
Genscher, Hans-Diet rich F.D.P. 13. 10. 95
Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 13. 10. 95
Graf (Friesoythe), SPD 13. 10. 95 * *
Günter Dr. Wieczorek, Norbe rt SPD 13. 10. 95
Grasedieck, Dieter SPD 13. 10. 95
* für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen
Gröbl, Wolfgang CDU/CSU 13. 10. 95 Union
Heym, Stefan PDS 13. 10. 95 * * für die Teilnahme an der Jahreskonferenz der Interparla-
Heyne, Kristin BÜNDNIS 13. 10. 95 mentarischen Union
90/DIE
GRÜNEN
Höfken, Ulrike BÜNDNIS 13. 10. 95
90/DIE
GRÜNEN Anlage 2
Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 13. 10. 95
Zu Protokoll gegebene Reden
Hustedt, Michaele BÜNDNIS 13. 10. 95 zu Tagesordnungspunkt 9
90/DIE (... Strafrechtsänderungsgesetz
GRÜNEN - §§ 177 bis 179 StGB (... StrÄndG)
Imhof, Barbara SPD 13. 10. 95
Dr. Jacob, Willibald PDS 13. 10. 95 Bärbel Sothmann (CSU/CSU): Auf der Weltfrauen-
Jung (Düsseldorf), Volker SPD 13. 10. 95 konferenz in Peking wurde wieder einmal mehr als
Kemper, Hans-Peter SPD 13. 10. 95 deutlich, daß sich die Probleme von Frauen weltweit
Dr. Kinkel, Klaus F.D.P. 13. 10. 95 nur in ihrem Ausmaß unterscheiden. Und eines der
größten Frauenprobleme rund um den Globus ist die
Leidinger, Robert SPD 13. 10. 95
Gewalt gegen Frauen.
Lummer, Heinrich CDU/CSU 13. 10. 95 *
Maaß (Herne), Dieter SPD 13. 10. 95 Männliche Gewalt gegen Frauen - zum großen
Teil handelt es sich hier um sexuelle Gewalt - ist
Dr. Maleuda, Günther PDS 13. 10. 95
auch in Deutschland viel weiter verbreitet, als die
Oesinghaus, Günther SPD 13. 10. 95 meisten von uns wahrhaben wollen. Frau Nolte hat
Pfeiffer, Angelika CDU/CSU 13. 10. 95 kürzlich eine Studie vorgestellt, nach der jede siebte
Pützhofen, Dieter CDU/CSU 13. 10. 95 Frau bereits einmal in ihrem Leben Opfer sexueller
Rehbock-Zureich, Karin SPD 13. 10. 95 Gewalt war. Die weitaus meisten Übergriffe, nämlich
Dr. Reinartz, Bertold CDU/CSU 13. 10. 95 rund drei Viertel, finden im Familien- und Bekann-
tenkreis statt. Dies ist ein unhaltbarer Zustand. Wir
Rübenkönig, Gerhard SPD 13. 10. 95 müssen die Gewalt gegen Frauen mit allen Mitteln
Saibold, Halo BÜNDNIS 13. 10. 95 bekämpfen. Vor allem müssen wir durch diese ge-
90/DIE plante Strafrechtsänderung endlich klarstellen: Ver-
GRÜNEN gewaltigung in der Ehe ist kein Kavaliersdelikt, son-
Scheffler, Siegf ried SPD 13. 10. 95 dern gesellschaftlich zu ächten und strafrechtlich
Schloten, Dieter SPD 13. 10. 95 * * ebenso konsequent zu verfolgen wie die Vergewalti-
Schmidt (Aachen), Ulla SPD 13. 10. 95 gung außerhalb der Ehe.
Schönberger, Ursula BÜNDNIS 13. 10. 95 Ich bin deshalb sehr froh, daß nach langem Tauzie-
90/DIE hen nun auch der Koalitionsentwurf zur Änderung
GRÜNEN der §§ 177 bis 179 StGB auf dem Tisch liegt.
5330* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Leider gibt es nach wie vor erhebliche Differenzen, legen ihre jahrelange Blockadehaltung endlich auf-
was das modifizierte Widerspruchsrecht betrifft. Ich gegeben und die Notwendigkeit der Reform wichti-
muß Ihnen sagen, auch ich habe mit dieser Regelung ger Teile des Sexualstrafrechts akzeptiert hat. Es hat
meine großen Probleme. Denn die Gefahr, daß der den Anschein, als könnten wir nun doch in dieser Le-
gewalttätige Ehemann seine Frau unter Druck setzt, gislaturperiode zu einer Regelung kommen, die die
ihre Anzeige mit dem Hinweis auf eine stattgefun- Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe stellt.
dene Versöhnung zurückzuziehen, ist sicherlich
groß. Aber diese Gefahr besteht leider auch unab- Mittlerweile bilden wir ja - gemeinsam mit Grie-
hängig von einer Widerspruchsregelung, denn die chenland - das absolute Schlußlicht der Reformbe-
Ehefrau hat durch ihr Zeugnisverweigerungsrecht wegung in Europa. Wir befinden uns damit in der
immer die Möglichkeit, eine Anklage wegen Verge- nicht sehr schmeichelhaften Gesellschaft der latein-
waltigung scheitern zu lassen. amerikanischen Staaten des Machismo und jener
Staaten, deren Frauenbild durch den fundamentali-
Ich denke, wir sind uns alle einig, daß wir eine Lö- stischen Islam geprägt ist.
sung finden müssen, die eine Druckausübung auf die
vergewaltigte Frau soweit wie möglich ausschließt; Das Reformwerk, das die Rechtsexperten der
ganz wird dies sicherlich nicht gelingen. Ich halte Union und der F.D.P. uns da vorgelegt haben, gleicht
deshalb eine Anhörung im Interesse der betroffenen allerdings der Echternacher Springprozession. Mit
Frauen für unabdingbar. der grundsätzlichen Strafbarkeit der Vergewaltigung
in der Ehe, der geschlechtsneutralen Formulierung
So wichtig diese Strafrechtsänderung ist: Wir dür- des Tatbestandes und der Einbeziehung weiterer
fen nicht dabei stehenbleiben. Die Beschlüsse der gleich entwürdigender sexueller Handlungen in den
Vierten Weltfrauenkonferenz in Peking sind in die- Tatbstand geht man wichtige Schritte voran. Gleich-
sem Zusammenhang zukunftsweisend. Erstmalig zeitig wird das Mehr an strafrechtlichem Schutz für
haben hier alle Teilnehmerstaaten Gewalt gegen Opfer sexueller Gewalt aber wieder zurückgenom-
Frauen in jeglicher Form als Menschenrechtsverlet- men durch eine sehr fragwürdige Neufassung des
zung verurteilt und das Recht der Frauen auf se- Tatbestandes und eine Widerspruchsregelung, die in
xuelle Selbstbestimmung anerkannt. Gleichzeitig ihrer Konsequenz die strafrechtliche Sanktionierung
haben sie sich dazu verpflichtet, Gewalt gegen der Gewalt in der Ehe generell einschränkt, die miß-
Frauen, welcher Art auch immer, mit allen nur mög- handelte Ehefrau zur Herrin über das Strafverfahren
lichen Mitteln zu bekämpfen. macht und sie damit der Gefahr der Erpressung
Wie dies bei uns konkret aussehen kann, zeigt z. B. durch den gewalttätigen Ehemann aussetzt.
ein neues Modellprojekt, das Ministerin Nolte jetzt in Die Widerspruchsregelung in diesem Gesetzent-
Berlin vorgestellt hat. Ziel des Projekts ist es vor al- wurf ist ein ganz wichtiger Kritikpunkt, aber er ist -
lem, die staatlichen Institutionen, vor allem die Straf- entgegen der Meinung von Herrn Kollegen Geis -
verfolgungsbehörden, stärker für Gewalt gegen keineswegs der einzige, den wir anzubringen haben.
Frauen zu sensibilisieren und deren Zusammenarbeit
mit den vor Ort tätigen Frauen- und Männerprojek- Beginnen wir mit der Änderung des Tatbestandes
ten intensiv zu fördern. der sexuellen Nötigung.
Wichtig ist auch, daß die Gerichte von der Mög- Daß man auf die enge Auslegung des Gewaltbe-
lichkeit, den Vergewaltigungsopfern die eheliche griffes durch die Rechtsprechung bei der sexuellen
Wohnung zuzuweisen, stärker Gebrauch machen, Nötigung und bei der Vergewaltigung reagie rt und
und daß die wirtschaftliche Unabhängigkeit von den Tatbestand erweitert, um Opfern gerecht zu wer-
Frauen gefördert wird. Denn mehr als die Hälfte der den, die in aussichtsloser Lage auf eine körperliche
vergewaltigten Frauen bleiben nur deshalb bei ih- Gegenwehr verzichten, ist ja zu begrüßen und trägt
rem gewalttätigen Partner, weil sie nicht aus der ge- einem der wichtigsten Reformanliegen Rechnung.
meinsamen Wohnung ausziehen können. Das bei dem Entwurf der Regierungsparteien aller-
dings festzustellende krampfhafte Bemühen, etwas
Das A und O bei der Bekämpfung der Gewalt ge- völlig Neues zu erfinden, das dem Tatbestandsmerk-
gen Frauen sind und bleiben jedoch die Verschär- mal des „Ausnutzens einer hilflosen Lage" - so der
fung des Sexualstrafrechts und die konsequente SPD-Entwurf - entsprechen soll, nämlich die Formu-
Strafverfolgung der Täter. Dies wird nicht nur die ge- lierung „Ausnutzen einer Lage, in der das Opfer dem
walttätigen Männer aus dem Verkehr ziehen, son- ungehemmten Einfluß des Täters preisgegeben ist" -
dern auch das Unrechtsbewußtsein schärfen und da- so der Entwurf der CDU/CSU und der F.D.P. - er-
mit zu einer Bewußtseinsänderung in der Gesell- scheint mir höchst unglücklich.
schaft beitragen.
Es müßte doch klar sein, daß diese völlig neuen Be-
Im Interesse der betroffenen Frauen müssen wir
griffe der Rechtsprechung Anlaß geben zu neuen
deshalb die Gesetzentwürfe zügig beraten und die
Auslegungen. Und was dabei herauskommt, weiß
Strafrechtsänderung so schnell wie möglich verab-
man nie! Ich sehe schon die Richter des BGH darüber
schieden.
grübeln, wann der Einfluß des Täters wirklich „un-
gehemmt" und das Opfer tatsächlich „preisgege-
Erika Simm (SPD): Wir debattieren heute - zu spä- ben" ist. Bleibt etwa, wer sich dem ungehemmten
ter Stunde - einen Gesetzentwurf der Regierungspar- Einfluß des Täters noch entziehen könnte, unge-
teien, der im Grundsatz begrüßt werden kann, be- schützt? Welche Kraftanstrengung ist dem Opfer zu-
deutet er doch, daß die Mehrheit der CDU/CSU-Kol- zumuten, um sich zu entziehen? Ich denke, daß die
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5331 *

Anhörung, welche wir beantragen werden, sehr schaft jedes Jahr eingestellt, weil der sachbearbei-
schnell zu dem Ergebnis führen wird, daß mit dieser tende Staatsanwalt ein besonderes öffentliches In--
Formulierung für die Opfer sexueller Gewalt nichts teresse an der Strafverfolgung nicht zu erkennen
gewonnen ist. vermag. Ich wage zu behaupten, daß bei der Fest-
stellung oder Verneinung des öffentlichen Interes-
Nun aber zum Widerspruchsrecht der Ehefrau. Da- ses nicht selten sachfremde Gesichtspunkte den
nach soll die vergewaltigte Ehefrau bis zur Eröffnung Ausschlag geben, als da sind Arbeitsbelastung des
der Hauptverhandlung der Durchführung des Straf- Staatsanwalts oder Schwierigkeit des Ermittlungs-
verfahrens widersprechen können. Ein einmal erklär- verfahrens. Die Strafverfolgung eines Verbrechens
ter Widerspruch kann nicht zurückgenommen wer- von der Bejahung eines besonderen öffentlichen In-
den und erfaßt alle minder schweren Tatbestände, teresses abhängig zu machen ist völlig unangemes-
die der Täter neben der sexuellen Nötigung oder sen und stellt sexuelle Nötigung und Vergewalti-
Vergewaltigung erfüllt hat. Eine Vergewaltigung in gung auf eine Stufe mit minder schweren Strafta-
der Ehe ist also künftig nach erfolgtem Widerspruch ten wie Beleidigung und fahrlässige Körperverlet-
auch nicht mehr als Körperverletzung oder einfache zung.
Nötigung verfolgbar.
Diese Konsequenzen aus der vorgeschlagenen Wi-
Diese Regelung muß jeden, der eine Verbesserung derspruchsregelung lassen ernsthaft daran zweifeln,
des Rechtsschutzes für vergewaltigte Ehefrauen ob es den Verfassern dieses Gesetzentwurfes wirk-
wollte, eigentlich in tiefe Depression stürzen. Ich lich darum geht, mehr strafrechtlichen Schutz für
kann nur hoffen, daß die Kollegen und Kolleginnen Frauen vor Gewalt in der Ehe zu schaffen. Die dem-
aus den Regierungsparteien ihre Mehrheit nicht miß- gegenüber von der SPD in ihrem Gesetzentwurf vor-
brauchen, um das Gesetz werden zu lassen. geschlagene Versöhnungsklausel, welche die Ver-
Offenbar haben die sog. Rechtsexperten, die sich fahrensherrschaft bei den Strafverfolgungsbehörden
das ausgedacht haben, keine Notiz genommen von beläßt und lediglich die Möglichkeit des Absehens
der im Auftrag des Familienministeriums durchge- von Strafe bzw. der Strafmilderung eröffnet, er-
führten Untersuchung zur sexuellen Gewalt gegen scheint mir als die wesentlich bessere Lösung, um
Frauen, die seit Juni dieses Jahres vorliegt. Sie sollte einer Versöhnung zwischen Täter und Opfer Rech-
für jeden, der sich berufen fühlt, bei der Reform des nung tragen zu können.
Sexualstrafrechts mitzureden, zur Pflichtlektüre ge- Ein letzter Punkt, den ich zu dem Gesetzentwurf
macht werden. Als eines der Ergebnisse folgt aus der Regierungsparteien anmerken möchte: Sie wol-
dieser Untersuchung nämlich, daß Opfer von sexuel- len die sexuelle Nötigung und die Vergewaltigung
ler Nötigung und Vergewaltigung durch die Tat in al- zu einem einheitlichen Tatbestand zusammenfassen
ler Regel schwer traumatisiert, verletzt und veräng- dergestalt, daß künftig die sexuelle Nötigung der
stigt sind. So gaben 93,1 % der Vergewaltigungsop- Grundtatbestand und die Vergewaltigung nur in der
fer an, als Folge der Tat längerfristig unter Ängsten Regel ein besonders schwerer Fall ist. Ich gestehe zu,
gelitten zu haben. 92 % der Frauen, die Opfer einer daß dies eine Konstruktion ist, die - anders als die
Vergewaltigung durch Angehörige geworden waren, „Neuerungen", von denen ich eben gesprochen
gaben an, sich zu Hause nicht mehr sicher zu fühlen. habe - ernsthaft diskutiert werden kann. Ich ver-
hehle aber nicht, daß ich - jedenfalls auf den ersten
Diese so zutiefst verletzten Frauen machen Sie zur
Blick - hinsichtlich der daraus folgenden Konsequen-
Her ri n des Strafverfahrens! Sie machen damit diese
zen Bedenken habe.
Frauen zu potentiellen Opfern erneuter Gewaltan-
wendung und Erpressung. Denn dem Ehemann er- Die Abstufung der Vergewaltigung vom selbstän-
öffnet sich ja die Chance, straffrei davonzukommen, digen Tatbestand zu einer bloßen Strafzumessungs-
wenn er seine Frau veranlaßt, der Verfolgung der Tat regel der sexuellen Nötigung setzt m. E. ein falsches
zu widersprechen. Wie soll eine Frau, deren Lebens- rechtspolitisches Signal. Schließlich war es ein Anlie-
gefühl als Folge der Vergewaltigung bestimmt ist gen der Reformbestrebungen zum Sexualstrafrecht
durch Ängste und Unsicherheit, dem ja bereits als auch, die in der Strafbewehrung zum Ausdruck kom-
gewalttätig erlebten Mann widerstehen, wenn dieser mende gesellschaftliche Ächtung sexueller Gewalt in
von ihr verlangt, sie solle zur Polizei gehen und Wi- jeglicher Form zu verstärken. Dem läuft der Verzicht
derspruch einlegen gegen das ihn bedrohende Straf- auf einen eigenen Tatbestand der Vergewaltigung
verfahren? als Fall schwerster Gewaltanwendung zuwider.
Ich räume ein, daß man sich offenbar dieses Pro- Auch sehe ich die Gefahr, daß die Gerichte, die
blems durchaus bewußt war, als man diese Regelung jetzt schon bei der Vergewaltigung nur allzu bereit
erfand. Nur, die Konsequenzen, die man daraus ge- sind, einen minder schweren Fall anzunehmen, künf-
zogen hat, sind völlig unbef ri edigend. Das Strafver- tig, statt wegen Vergewaltigung zu verurteilen, auf
fahren soll nämlich bei Vorliegen eines Widerspru- den Grundtatbestand der sexuellen Nötigung aus-
ches doch durchgeführt werden können, wenn ein weichen werden. Die von Ihnen gewählte Konstruk-
besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfol- tion des besonders schweren Falles als Regelbeispiel
gung besteht. Dazu kann man nur sagen: Wer das er- läßt dies zu, auch wenn alle Tatbestandsmerkmale ei-
funden hat, hat wenig Ahnung von der alltäglichen ner Vergewaltigung erfüllt sind.
Strafrechtspraxis.
Daß sich in der Praxis bei Teilnahme und Versuch
Tausende von Strafverfahren wegen Körperverlet- rechtsdogmatische Probleme ergeben, will ich hier
zung z. B. werden durch Stempel der Staatsanwalt nicht weiter vertiefen. Wir werden jedenfalls im Rah-
5332* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

men der weiteren Beratungen die Konsequenzen, die sehen. Dies ist eine überholte Sichtweise. Sie läßt au-
sich aus dem einheitlichen Tatbestand ergeben, ge- ßer Betracht, daß andere Formen sexueller Gewalt,
nau zu prüfen haben. die mit einem Eindringen in den Körper verbunden
sind wie z. B. die orale oder anale Penetration, von
Heinz Lanfermann (F.D.P.): Mit der heutigen ersten dem Opfer als ebenso demütigend und erniedrigend
Lesung des Gesetzentwurfs der Koalitionsfraktionen empfunden werden und auch wegen der Gefahr ei-
wird eine Reform des Sexualstrafrechts eingeleitet, ner Aids-Infizierung eine Gleichstellung mit dem
die den Schutz des sexuellen Selbstbestimmungs- Beischlaf angezeigt ist.
rechtes entscheidend verbessert. Diese Einbeziehung anderer Formen der sexuellen
Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht Gewalt neben dem erzwungenen Beischlaf ließ es
natürlich, daß es nach langen Jahren der Diskussion auch ratsam erscheinen, aus den bisherigen §§ 177
endlich gelungen ist, Einigung auch innerhalb der StGB (Vergewaltigung) und 178 StGB (sexuelle Nöti-
Koalition und damit jetzt zwischen allen Fraktionen gung) einen einheitlichen neuen § 177 zu Vergewal-
dieses Hohen Hauses zu erzielen, daß der eheliche tigung und sexueller Nötigung zu formen. Wir haben
Bereich in den Vergewaltigungstatbestand einbezo- deshalb den entsprechenden Vorschlag eines ein-
gen wird. Es wird nunmehr endlich auch im Straf- heitlichen Tatbestandes aus dem Entwurf des Bun-
recht deutlich, daß Vergewaltigung in der Ehe alles desjustizministeriums aufgegriffen, wie wir über-
andere als ein Kavaliersdelikt ist. Bei Einzelheiten haupt in sehr vielen Punkten auf den Vorschlägen
gerade dieses Punktes gibt es im Koalitionsentwurf der Bundesjustizministerin aufbauen konnten. Hier-
und in den Entwürfen aus dem Bereich der Opposi- für sei an dieser Stelle nochmals ausdrücklich
gedankt.
tion unterschiedliche Vorstellungen; ich werde hier-
auf noch näher eingehen. Diese Meinungsverschie- Ein umfassender Schutz des sexuellen Selbstbe-
denheiten sollten aber nicht den Blick darauf verstel- stimmungsrechts, wie wir ihn mit unserem Entwurf
len, daß es wichtig ist, das nunmehr gemeinsame An- beabsichtigen, muß auch berücksichtigen, daß Opfer
liegen auch schnellstmöglich umzusetzen. Die Bür- derartiger Straftaten nicht nur Frauen sein können.
gerinnen und Bürger erwarten nun rasches Handeln Deshalb sind alle Bestimmungen nunmehr ge-
und nicht endlose weitere Erörterungen, die die Um- schlechtsneutral formuliert.
setzung der Reform verzögern.
Die F.D.P. ist ebenso wie die CDU/CSU - und auch
So bedeutsam die Einbeziehung des ehelichen Be- die SPD - der Auffassung, daß aus dem Grundgedan-
reiches in den Vergewaltigungstatbestand auch ist, ken des Art . 6 Grundgesetz heraus Regelungen für
die Reform enthält einige weitere wichtige Punkte. den Fall getroffen werden sollen, daß die Ehefrau als
Es wurden Strafbarkeitslücken geschlossen, die bei Opfer eine Bestrafung des Mannes nicht mehr will,
der Reform des Sexualstrafrechts in den 70er Jahren weil z. B. trotz der Tat eine Fortführung der Ehe mög-
offengeblieben waren. Von besonderer Bedeutung lich ist. Wir sehen in unserem Gesetzentwurf hierfür
sind die Fälle, in denen weder Gewaltausübung noch ein modifiziertes Widerspruchsrecht des Opfers vor.
eine - zumindest konkludente - Drohung mit gegen- Ich betone dabei: Es geht um ein modifiziertes Wi-
wärtiger Gefahr für Leib oder Leben vorlag, sondern derspruchsrecht. Das heißt, das zwar der Grundsatz
das Opfer die Tat gleichsam „starr vor Schreck" über gilt, daß das Ermittlungsverfahren bei Einlegung ei-
sich ergehen ließ oder jedenfalls aus Furcht vor Ver- nes Widerspruchs eingestellt wird, aber es gibt eben
letzung oder Tötung keine körperliche Gegenwehr wichtige Ausnahmen. Das Verfahren gegen den Tä-
leistete. Gerade von Frauen ist diese Unklarheit im- ter wird nicht eingestellt, sondern muß bei Bejahung
mer wieder beklagt worden, zumal vielfach Verge- eines besonderen öffentlichen Interesses von der
waltigungsopfern geraten wird, zur Vermeidung wei- Staatsanwaltschaft gleichwohl weiter betrieben wer-
terer Schädigungen die Tat ohne körperliche Gegen- den. Und es liegt auf der Hand, daß ein solches Inter-
wehr über sich ergehen zu lassen. Daß es Urteile ge- esse zu bejahen ist, wenn Anhaltspunkte dafür vor-
geben hat, in denen der Vergewaltigungstatbestand liegen, daß das Opfer genötigt worden ist, den Wi-
mit Blick darauf verneint wurde, das Opfer habe sich, derspruch einzulegen. Und der Staatsanwalt muß
wie es hieß, „gar nicht richtig gewehrt", ist zu Recht prüfen, ob solche Anhaltspunkte vorliegen, ob da
als außerordentlich unbef riedigend empfunden wor- Druck eine Rolle spielt.
den.
Es handelt sich hierbei übrigens um ein Konzept,
Unser Gesetzentwurf hat hieraus die Konsequen- das nicht nur in den Reihen der Union Befürworter
zen gezogen: Er stellt den Begehungsalternativen hatte. Vielmehr wird ein solches modifiziertes Wider-
„Gewalt" und „Drohung" ausdrücklich das Ausnut- spruchsrecht schon lange bei den Freien Demokra-
zen einer hilflosen Lage, in der das Opfer dem unge- ten diskutiert und war von unserem Bundesfachaus-
hemmten Einfluß des Täters preisgegeben ist, gleich. schuß für Innen- und Rechtspolitik bereits vor mehre-
Durch die aus der Kommentierung entnommene kon- ren Jahren vorgeschlagen worden.
krete Beschreibung der hilflosen Lage soll auch ver-
deutlicht werden, daß es nicht erforderlich ist, daß Bei dem modifizierten Widerspruchsrecht entschei-
objektiv keinerlei Hilfe für das Opfer zu erwarten ist, det grundsätzlich das Opfer darüber, ob im Interesse
sondern daß ein ungehemmter und übermächtiger der Fortführung der Ehe eine Bestrafung entfällt. Ein
Einfluß des Täters ausreicht. anderer Vorschlag ist der einer Versöhnungsklausel,
bei der das Strafgericht, d. h. eine außerhalb der Ehe-
Nach dem gegenwärtigen Rechtszustand ist als partner stehende Instanz, eine Prognose für die Zu-
Vergewaltigung nur der erzwungene Beischlaf anzu- kunft erstellen soll, d. h. entscheiden soll, ob es noch
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5333*

Perspektiven für die Fortführung der Ehe gibt und ständlich wird geprüft werden, ob ein besonderes öf-
davon die Entscheidung abhängig machen, ob von fentliches Interesse vorliegt. Es muß geprüft werden!
Strafe abgesehen oder diese gemildert werden kann. Im übrigen sind seit Jahren in vielen Bundesländern
Diese Lösung ist sicherlich auch vertretbar, ich halte gesonderte Dezernate für die Verfolgung (sexueller)
allerdings die modifizierte Widerspruchslösung für Gewalt gegen Frauen eingerichtet worden und die
vorzugswürdig. zuständigen Staatsanwältinnen und Staatsanwälte
für die Thematik besonders sensibilisiert. Hinzu
Man muß dabei nicht allein einem Argument fol- kommt, daß es für die Leitungen der Staatsanwalt-
gen, das ich auf dem Bundesparteitag der F.D.P. in schaften und letztlich auch für das jewei li ge Justiz-
Mainz gehört habe, nämlich daß Frauen sich bei ei- ministerium möglich ist, über Berichtsanordnungen
ner Versöhnungsklausel bevormundet fühlen, wenn zu kontrollieren, ob und wie geprüft worden ist, ob
nicht sie, sondern Dritte darüber entscheiden, ob die Anhaltspunkte für einen abgenötigten Widerspruch
Ehe trotz der Tat noch eine Chance hat oder nicht. vorliegen.
Es ist mir auch durchaus bewußt, daß die Frau ei- Der vorliegende Gesetzentwurf der Koalition ist
nem Druck des Ehemannes ausgesetzt sein kann. ein großer Schritt nach vorn. Ich wünsche uns gute
Aber der Täter muß immer damit rechnen, daß bei Beratungen in den Ausschüssen mit einem baldigen
Anhaltspunkten für einen abgenötigten Widerspruch Abschluß.
die Staatsanwaltschaft die Strafverfolgung gleich-
wohl fortführt. Wie angesichts dessen von Angehöri-
gen dieses Hohen Hauses ernsthaft behauptet wer- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
den kann, die modifizierte Widerspruchslösung „lie- GRÜNEN): Die Ehe steht unter dem besonderen
fere vergewaltigte Ehefrauen dem Druck des gewalt- Schutz des Grundgesetzes. Darf deshalb auch der
tätigen Ehemannes aus", ist nicht nachvollziehbar. vergewaltigende Ehemann besonders geschützt wer-
Diese unberechtigte Kritik läßt auch völlig außer den? Darf der Trauschein weiterhin dazu führen, daß
Acht, daß auch bei einer Versöhnungsklausel der der Ehemann, der seine Frau vergewaltigt, völlig
gleiche Druck möglich ist. Darüber, ob noch Perspek- straffrei ausgehen kann? Ich sage nein.
tiven für die Ehe bestehen, wird sich das Gericht Nach 20 Jahren öffentlicher Diskussion über sexu-
nämlich erst ein Bild machen können, wenn es das elle Gewalt hat die Koalition endlich einen Gesetz-
Tatopfer vernommen hat. Dann kann die Frau vor entwurf vorgelegt. Sexuelle Gewalt in der Ehe soll
dieser Vernehmung durch Mißhandlungen oder Vor- danach genauso geahndet werden wie außerhalb der
haltungen unter Druck gesetzt werden. Ehe: als ein Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbe-
Deshalb, sehr geehrte Frau Kollegin Däubler-Gme- stimmung. Das ist zunächst ein Erfolg, nicht zuletzt
lin, ist es eine Irreführung der Öffentlichkeit, wenn der Frauenbewegung. Doch Ihr Entwurf, der sehr
Sie in Zeitungsartikeln fordern, die Widerspruchsre- deutlich eine Männerhandschrift trägt, täuscht diese
gelung im Koalitionsentwurf müsse gestrichen wer- Gleichbehandlung nur vor. Die Widerspruchsklausel
den, um diesen möglichen Druck zu verhindern, ist die Hintertür, durch die wieder zwei Klassen von
während zur gleichen Zeit im Rechtsausschuß des Vergewaltigung geschaffen werden.
Deutschen Bundestages ein von Ihnen vorgelegter Nach Ihren Vorstellungen soll die Ehefrau der
Gesetzentwurf der SPD-Fraktion liegt, der eine Ver- Strafverfolgung bei Vergewaltigung und sexueller
söhnungsklausel enthält, die genau denselben Druck Nötigung widersprechen können. Wenn sie dies tut,
ermöglicht. kommt es nicht zu einer Verhandlung. Der eheliche
Im Interesse der betroffenen Frauen sollten wir Täter geht also trotz eines Gewaltverbrechens — denn
deshalb besser keinen ideologischen Streit um modi- nichts anderes ist eine Vergewaltigung — straffrei
fizierte Widerspruchslösung oder Versöhnungsklau- aus. Mit dieser in unserem Rechtssystem einmaligen
sel dergestalt führen, daß die Vertreter der einen Konstruktion, die es bei keinem anderen Straftatbe-
Meinung den Vertretern der anderen Meinung die stand gibt, stellen Sie das Strafrecht zur Disposition:
Ernsthaftigkeit ihres Schutzanliegens absprechen. die Bestrafung eines Gewaltdelikts wird nicht mehr
Wir sollten unsere Kräfte vielmehr darauf konzentrie- von der Tat, sondern von der Beziehung zwischen
ren zu überlegen, wie durch eine geeignete Ausge- Täter und Opfer abhängig gemacht.
staltung des Verfahrens bestmöglich sichergestellt Gleichzeitig wird mit diesem Widerspruchsrecht
werden kann, daß die vergewaltigte Ehefrau sich frei dem Opfer die Verantwortung zugeschoben, ob die
von Druck äußern kann. Wir sind hier für jeden gu- Ermittlung gestoppt oder der eigene Ehemann verur-
ten Vorschlag offen und wollen dies ernsthaft disku- teilt wird. Es ist abzusehen, daß Frauen von ihren
tieren. Ehemännern und dem familiären Umfeld unter
Zur modifizierten Widerspruchsklausel möchte ich Druck gesetzt werden, damit sie der Strafverfolgung
aber auch noch eines anmerken: Die Kollegin von widersprechen. Die Prüfung des Widerspruchs hilft
Renesse hat kürzlich in einer „Tagesthemen-Sen- da auch nicht weiter.
dung" erklärt, die Modifizierung der Widerspruchs- Eheliche und nichteheliche sexuelle Gewalt müs-
klausel sei untauglich, da der Staatsanwalt bei Ein- sen in gleicher Weise bestraft werden. Deshalb darf
gang des Widerspruches die Akten schließen werde; es kein Widerspruchsrecht und auch keine Versöh-
denn dies sei die arbeitsparendste Vorgehensweise. nungsklausel geben.
Ich frage mich: Welche Vorstellung von dem Pflicht-
bewußtsein unserer Staatsanwältinnen und Staatsan- Ich komme zu einem weiteren gravierenden Pro-
wälte liegt solchen Worten zugrunde? Selbstver- blem in Ihrem Entwurf. Der geltende Gewaltbegriff
5334* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

und seine Auslegung hatten bisher zur Folge, daß Ich muß also hier feststellen, daß der Gesetzent-
viele Vergewaltigungen und sexuelle Nötigungen wurf der Regierungskoalition völlig unzureichend ist
rechtlich als solche gar nicht existierten. Die Erweite- und keine entscheidenden Verbesserungen für die
rung des Gewaltbegriffs, wonach Vergewaltigung Opfer von Vergewaltigungen mit sich bringt, ob in-
und sexuelle Nötigung auch dann vorliegen, „wenn nerhalb oder außerhalb der Ehe.
das Opfer dem ungehemmten Einfluß des Täters
preisgegeben ist", ist nur auf den ersten Blick ein Ich meine, es wäre das beste, der hier vorgelegte
Fortschritt. Wo, glauben Sie, werden die Richter die Entwurf verschwände im Papierkorb und die Koali-
Schwelle ansetzen, einen sogenannten ungehemm- tion würde einen neuen Versuch unternehmen, sich
ten Einfluß des Täters festzustellen? Außerdem ist es der von Frau Nolte beschriebenen Aufgabe zu stel-
wiederum das Opfer, das beweisen muß, daß es sich len. Wenn die Damen und Herren von der konserva-
nicht wehren konnte. Hier steht die Täterperspektive tiven Seite des Hauses für einen neuen Anlauf Anre-
im Vordergrund. Dagegen muß endlich die Sicht und gungen brauchen, können Sie gern den Gesetzent-
der Wille des Opfers im Mittelpunkt stehen. Jede se- wurf der PDS zu Rate ziehen, der hier bereits im Fe-
xuelle Gewalt „gegen den Willen des Opfers" muß bruar in erster Lesung behandelt worden ist. Unser
geahndet werden. Entwurf setzt als bislang einziger das sexuelle Selbst-
bestimmungsrecht von Frauen konsequent um.
In Peking wurde Gewalt gegen Frauen als Men-
schenrechtsverletzung angeklagt: Fangen Sie hier
Norbert Geis (CDU/CSU): Zum Wesen der Ehe ge-
an, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung aller
Frauen tatsächlich zu schützen. hört die geschlechtliche Beziehung der Ehepartner.
Die Frau verzichtet jedoch nicht auf ihre sexuelle
Selbstbestimmung, wenn sie die Ehe eingeht. Denn
Christina Schenk (PDS): Nach vielen Ankündigun- die Bewahrung der eigenen Individualität gehört ge-
gen hat es nun auch die Regierungskoalition ge- nauso zum Wesen der Ehe. Das entscheidende Merk-
schafft, einen eigenen Gesetzentwurf zur Vergewal- mal einer jeden Gemeinschaft, vor allem auch der
tigung und sexuellen Nötigung vorzulegen. Ich frage ehelichen Lebensgemeinschaft, ist die Freiwilligkeit
mich jedoch, ob es nicht besser gewesen wäre, sie der Beziehungen. Gewalt und Zwang verletzen die
hätte es gelassen: Würde der Eheleute und verletzen das Wesen der
Ehe. Deshalb ist die Strafbarkeit der Vergewaltigung
Dem Gesetzentwurf zufolge ist es nun zwar mög-
in der Ehe nicht nur ein Schutz für die Frau, sondern
lich, auch eine eheliche Vergewaltigung als solche auch ein Schutz für die Ehe.
zu bestrafen, aber dies wird sogleich über ein eigens
erfundenes Novum im Strafgesetzbuch wieder aus- Dies sind Erwägungen, die schon in der Großen
gehebelt - durch das sogenannte Widerspruchsrecht. Strafrechtsreform 1973 eine Rolle gespielt haben. Da-
Die vergewaltigte Ehefrau kann - nach erfolgter An- mals hat der Gesetzgeber jedoch einen eigenen
zeige - Widerspruch einlegen und so das Strafverfah- Straftatbestand für die Vergewaltigung in der Ehe
ren stoppen. Und das selbst dann, wenn der Ehe- aus mehr praktischen Überlegungen abgelehnt.
mann zusätzlich eine einfache oder gefährliche Kör- Ohne auf die einzelnen Gesichtspunkte einzugehen
perverletzung begangen hat. Anders ausgedrückt: scheint mir ein Gedanke auch heute noch von großer
Ein Ehemann kann seine Frau vergewaltigen, sie mit Wichtigkeit zu sein. Es geht darum, daß der Staat
einer Waffe, z. B. einem Messer, lebensgefährlich nicht den intimsten Bereich, die privateste Sphäre
verletzen und zusammenschlagen, ohne dafür - so- zweier Menschen, wie es die Ehe ist, stören darf. Der
gar nach einer erfolgten Anzeige - verfolgt oder be- Staat ist dazu da, diesen privaten Bereich, die Ehe,
straft werden zu können. Er muß lediglich seine Frau zu schützen und sie nicht zu zerstören.
entsprechend unter Druck setzen und sie zwingen,
ihr Widerspruchsrecht zu nutzen. Das Signal, das Deshalb wollten wir der Ehefrau ein starkes Recht
hier von den Konservativen gesetzt wird, ist katastro- an die Hand geben, um die Staatsanwaltschaft, die
phal für die betroffenen Frauen und ist eine erschrek- sich bei der Strafverfolgung naturgemäß in diesen
kende Verharmlosung der Gewalt gegen Frauen. privatesten Bereich hineindrängen muß, zu stoppen.
Die Versöhnungsklausel, welche von der SPD vorge-
Frau Nolte hat in der letzten Woche in einer Presse- schlagen wird, stellt nicht ein so starkes Recht dar.
mitteilung gesagt: „Gewalt gegen Frauen ist in unse- Aus der Ermittlung wegen Vergewaltigung wird
rer Gesellschaft keine Randerscheinung und wird lei- dann eine Ermittlung wegen Versöhnung. Auch hier
der nur allzuoft bagatellisiert und damit scheinbar to- also ist die Ehefrau gezwungen, ihren persönlichen
leriert. Sie muß sowohl im p rivaten wie im öffentli- Bereich vor der Staatsanwaltschaft oder gar dem Ge-
chen Bereich geahndet werden wie andere Straftaten richt auszubreiten, um darzutun, daß sie sich mit ih-
auch." Der hier vorgelegte Gesetzentwurf leistet ge- rem Ehemann versöhnt hat. Mit der Eherechtsreform
nau das nicht! aus dem Jahre 1976 haben wir diese Erörterung des
intimsten Bereichs zweier Menschen vor dem Ge-
Auch der minder schwere Fall wurde beibehalten.
richt abgeschafft. Wir sollten jetzt nicht gewisserma-
Er ist das Einfallstor für eine Beschuldigung des Op-
ßen durch die Hintertür im Strafrecht diese Errun-
fers, es hätte die Tat begünstigt oder mitverursacht. genschaft wieder beseitigen.
Wer meint, es gäbe bei Vergewaltigungen minder
schwere Fälle, gibt der Täterperspektive noch immer Natürlich wissen wir, daß dieses Widerspruchs-
einen höheren Stellenwert als der des Opfers. Wenn recht den Strafanspruch des Staates gewissermaßen
eine Frau „nein" sagt, wird das noch immer nicht privatisiert. Man muß jedoch bedenken, daß hier
ernstgenommen. zwei Rechtsverpflichtungen des Staates, die Ver-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlpe riode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5335 *

pflichtung nämlich, strafbare Handlungen zu verfol- Bundesregierung Anfang dieses Jahres in Gang Be-
gen, und die Verpflichtung, den p ri vaten Bereich setz hat. In ihrer Stellungnahme zu einem im Novem- -
zweier Menschen, die Ehe, zu schützen, miteinander ber 1994 beschlossenen Bundesratsentwurf hat sie
in Konkurrenz treten. Wir haben uns für den Schutz ausdrücklich betont, daß der strafrechtliche Schutz
des privaten Bereiches, für den Schutz der Ehe, ent- von Frauen vor sexueller Gewalt in der Ehe verbesse-
schieden. Art. 6 GG ist, wie alle Grundrechte, vor al- rungsbedürftig ist, die vom Bundesrat vorgeschlage-
lem auch ein Abwehrrecht gegen den Staat. Ohne nen Maßnahmen aber einen umfassenden Schutz
die Einwilligung des Opfers ist die Strafverfolgung noch nicht gewährleisten und deshalb weiter ergänzt
nicht möglich, wenn nicht ein ganz besonderes öffent- werden müssen. Heute besteht weitgehend Einig-
liches Interesse für die Strafverfolgung spricht. keit, daß der Schutz des sexuellen Selbstbestim-
mungsrechtes umfassend ausgebaut, in seinen Kern-
Dieses Widerspruchsrecht kommt in dreifacher bereichen in einem einheitlichen Tatbestand gere-
Hinsicht dem Interesse der Frau entgegen: gelt und geschlechtsneutral formuliert werden muß.
- Einmal wird dadurch die Ehe geschützt. Durch die Dabei wird sicher über Einzelheiten in den Aus-
Bestrafung des Mannes und schon durch das Er- schüssen, gegebenenfalls auch nach Anhörung von
mittlungsverfahren gegen ihn werden im normalen Sachverständigen, noch zu reden sein. Dazu wird
Verlauf auch die letzten Bindungen der Eheleute auch gehören, wie das Ausnutzen einer hilflosen
zerschlagen. Lage am besten im Tatbestand zum Ausdruck ge-
bracht werden kann.
- Zum anderen kann es im Interesse der Kinder sein,
daß die Strafverfolgung gegen den Vater einge- Nach wie vor im Streit ist die Frage, ob dem beson-
stellt wird. Es ist schließlich nicht nur für den Vater deren Verhältnis von Täter und Opfer bei Vergewalti-
belastend, sondern kann vor allem auch für die gungen in der Ehe durch eine Regelung zur Beendi-
Kinder ein ganzes Leben lang belastend sein, daß gung, ohne daß es eine Hauptverhandlung gibt,
ihr Vater wegen eines Verbrechens verurteilt wor- Rechnung getragen werden soll.
den ist. Der Versuch der Mutter, im Interesse ihrer
Kinder dies zu verhindern, ist zu respektieren, Sie stimmen mit mir sicherlich darin überein, daß
wenn nicht ganz besondere öffentliche Interessen kein Weg gegangen werden darf, bei dem der ange-
dagegenstehen. strebte Schutz von Frauen vor sexueller Gewalt in
der Ehe zur Symbolik verkümmert. Würde die Been-
- Außerdem liegt es vor allem im Interesse der Frau digung des Verfahrens ohne Hauptverhandlung zur
selbst, daß ihr intimster Bereich nicht in der Öffent- Regel und die Strafverfolgung zur vielleicht kaum
lichkeit ausgebreitet und gewissermaßen akten- noch vorkommenden Ausnahme, bliebe der Schutz
kundig wird. der Opfer von Vergewaltigung auf der Strecke. Diese
Gefahr ist bei der jetzt vorgeschlagenen Wieder-
Wir wollen mit dem Widerspruchsrecht dem wohl-
spruchslösung nicht von der Hand zu weisen. Der
verstandenen Interesse der Frau Rechnung tragen.
vom vergewaltigten Opfer - in den allermeisten Fäl-
Selbstverständlich übersehen wir nicht, daß eine sol-
len die Frau - erhobene Widerspruch wird im Grund-
che Erklärung unter Druck abgegeben werden kann.
satz dazu führen, daß ein Strafverfahren nicht gegen
Diese Möglichkeit der Erpressung durch den Ehe-
den Willen des Opfers durchgeführt wird. So sieht es
mann besteht aber auch bei der Versöhnungsklausel
auch die Begründung vor. Denn wann liegt ein be-
und schließlich beim Zeugnisverweigerungsrecht
sonderes öffentliches Interesse vor, wenn noch nicht
des Opfers. Eine unter Druck abgegebene Erklärung
einmal die Anhörung des Opfers durch den Staatsan-
ist nichtig. Die Staatsanwaltschaft hat in einem sol-
walt oder den Richter gesetzlich vorgeschrieben ist,
chen Fall die Verpflichtung, weiter zu ermitteln. Sie
so daß im Zweifel keine Anhaltspunkte für eine wei-
hat aber nach unserem Vorschlag auch dann die Ver-
tere strafrechtliche Ermittlung gegeben sind?
pflichtung, die Strafverfolgung fortzusetzen, wenn
von der Frau zwar in aller Freiheit Widerspruch ein- Sicher muß sich der Staat in Anbetracht des grund-
gelegt wurde, jedoch ein gravierendes öffentliches rechtlichen Schutzes der Ehe Zurückhaltung auf erle-
Interesse die Fortsetzung der Strafverfolgung gebie- gen und darf nicht ohne vernünftigen Grund - schon
tet. gar nicht über das Strafrecht - auf den Bestand und
Mit dem Widerspruchsrecht nehmen wir die Frau die Ausgestaltung der Ehe Einfluß nehmen. Do rt
ernst und respektieren ihre Entscheidung. Alle die, aber,woGltngduasexl
welche allzu schnell der Auffassung zuneigen, die Selbstbestimmungsrecht von Menschen gröblichst
Frau handle in der Regel unter Druck, wenn sie wi mißachtet wird, also ein Verbrechen begangen wird,
derspreche, gehen im Grund von der Unmündigkeit geht es nicht um simple eheliche Streitigkeiten, aus
der Frau aus und damit von einem falschen, längst denen sich der Staatsanwalt generell herauszuhalten
überwundenen Bild von der Frau und ihrer Stellung hat. Gewalt in schlimmster Form und übelste Miß-
in unserer Gesellschaft. Dies will nicht heißen, daß es achtung des Partners dürfen nicht grundsätzlich hin-
diese Erpressungsversuche nicht gibt. Hier eine gute ter den Schutz der Ehe zurücktreten.
Lösung dieses Problems zu finden ist auch Aufgabe Noch ein zusätzlicher Gesichtspunkt wirft Pro-
der Beratungen im Ausschuß. bleme auf. Vergewaltigung in der Ehe kann nach
geltendem Recht wegen Körperverletzung, gefähr-
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Bundesmi- licher Körperverletzung oder Nötigung bestraft wer-
nisterin der Justiz): Der heute vorgelegte Koalitions- den, ohne daß es - abgesehen von der einfachen Kör-
entwurf ist das Ergebnis einer Diskussion, die die perverletzung - eine Möglichkeit des Opfers gibt,
5336* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

durch eine Erklärung das Verfahren zu beendigen. Sie alle kennen die Diskussionen, natürlich auch
Unzuträglichkeiten dieses geltenden Verfolgungs- die Emotionen, die das Stichwort Datenschutz im Po--
zwanges für bestehende Ehen sind mir nicht be- lizei- und Sicherheitsbereich ausgelöst hat. Mehr Tä-
kanntgeworden. Die Widerspruchsregelung führte in ter - als Opferschutz! So gipfelte die Kritik. Wenn wir
letzter Konsequenz dazu, daß entgegen dem gelten- hier „eine harmonische Grundlinie", einen sachli-
den Recht beim Widerspruch des Opfers es in der chen Konsens zwischen den Bedürfnissen von Polizei
Regel zu überhaupt keiner Bestrafung käme. einerseits und von Datenschutz andererseits fänden,
wäre dies sicherheitspolitisch ein großer Gewinn.
Zur materiellen Gleichbehandlung von Fällen ehe- Der Entwurf leistet dazu den entscheidenden Bei-
licher und nichtehelicher Gewalt und zur effektiven trag.
Durchsetzung eines bestehenden Strafanspruches
zugunsten der Opfer ist deshalb auch für die eheli- Es wird zweitens um polizeifachlich vernünftige
che Gewalt grundsätzlich ein Verfolgungszwang not- Regelungen für ein konstruktives Miteinander von
wendig. Über Ausnahmen sollten die Gerichte ent- Bund und Ländern in polizeilichen bzw. kriminalpoli-
scheiden, die bei einem Widerspruch des Opfers un- zeilichen Angelegenheiten gehen. So ganz einfach
ter Berücksichtigung der besonderen Umstände des wird das nicht zu erreichen sein, wie einzelne Positio-
Einzelfalls die Strafe mildern oder von ihr absehen nen des Bundesrates zu dem Gesetzentwurf und die
sollten. Ein solcher Vorschlag beläßt die Verfahrens- Vielzahl seiner Änderungsvorschläge zeigen. Wer,
macht bei den Gerichten. Er beugt außerdem besser wie ich, über viele Jahre in einem Land Verantwor-
der Gefahr vor, daß eine vergewaltigte Ehefrau dem tung getragen hat, weiß sehr wohl, daß es Länder
Druck gewalttätiger Männer ausgesetzt wird. gibt, die, was Kompetenzregelungen angeht, dem
Bund einfach mißtrauen und mit Argusaugen jed-
Im Interesse eines umfänglichen und effektiven wede Bewegung in dem Bereich beobachten. So et-
Schutzes vor sexueller Gewalt appelliere ich an Sie was gibt es, und der Bund ist daran auch nicht gänz-
alle, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, lich schuldlos. Wir müssen dieses Mißtrauen der Län-
diese Gesichtspunkte bei den weiteren parlamentari- der abbauen.
schen Beratungen noch einmal intensiv zu diskutie-
ren. Wir müssen auf der anderen Seite den Ländern
aber au chdeutlichman,ßsdeSituob
der Verbrechensbekämpfung verändert hat, z. B.
durch neue Deliktformen in der international ver-
netzten Welt: Illegaler Waffenhandel, Nuklearkrimi-
nalität, Schlepperkriminalität, um nur einige wenige
Anlage 3 Beispiele zu nennen, und durch einen größeren kri-
minalgeographischen Schutzraum, der heute vom
Zu Protokoll gegebene Rede Nordkap bis Gibraltar und Kreta reicht. Darauf muß
zu Tagesordnungspunkt 11 man sich einstellen. Darauf muß sich gerade der
(Bundeskriminalamtgesetz) Bund einstellen können, nicht mehr und nicht weni-
ger. Das tut er mit diesem Gesetz.
Dietmar Schlee (CDU/CSU): Die Bundesregierung
Wir werden also bei der Beratung des BKA-Ge-
hat uns - angesichts der Konfliktfelder, vor denen sie
setzes Empfindlichkeiten berücksichtigen müssen
hier stand - einen höchst respektablen Entwurf für
und abbauen müssen. Nicht Konkurrenz und Po-
ein neues Bundeskriminalamtsgesetz zugeleitet.
chen auf Zuständigkeiten ist nämlich jetzt gefragt,
sondern kooperativer Föderalismus. Die Bevölke-
Damit liegt dem Bundestag ein weiterer wichtiger
rung erwartet zu Recht ein optimales Zusammen-
Baustein für mehr innere Sicherheit vor. Der Entwurf
wirken von Bundeskriminalamt und Länderpoli-
enthält differenzie rte Regelungen, was die Aufgaben
zeien im Interesse einer bestmöglichen und erfolg-
des Bundeskriminalamtes als Zentralstelle und als
reichen Verbrechensbekämpfung. Nur das kann
Strafverfolgungsbehörde angeht. Vor allem: Für die
und muß Maßstab sein.
polizeiliche Datenverarbeitung und den Datenschutz
schafft der Entwurf die überfällige gesetzliche Schließlich stellt auch Europa neue Anforderun-
Grundlage. gen an die deutsche Polizei. Das EUROPOL-Über-
einkommen ist unterzeichnet und steht vor der
Nach den bisherigen Diskussionen - auch im Bun- Umsetzung in innerstaatliches deutsches Recht.
desrat - zeichnen sich für die parlamentarische Bera- Und EUROPOL muß weiterentwickelt werden. Die-
tung, wenn ich das richtig sehe, drei Schwerpunkte sen Zusammenhang und die künftigen vielfältigen
ab: Wechselbeziehungen zwischen EUROPOL, Bundes-
kriminalamt und Länderpolizeien müssen wir bei
Wir werden uns erstens mit der Frage zu befassen der Beratung eines neuen BKA-Gesetzes also eben-
haben, ob dieser Gesetzentwurf nun tatsächlich eine falls beachten.
rechtstaatlich einwandfreie, für die Polizei aber auch
lesbare und verständliche Basis für polizeiliche Da Notwendig ist jetzt aber vor allem eines: eine zü-
tenverarbeitung schafft - ein rechtliches Fundament, gige parlamentarische Behandlung des Entwurfs, da-
das auch den unabweisbaren fachlichen Bedürfnis- mit auch dieser wichtige Pfeiler in der Gesamtstrate-
sen der Polizei für eine erfolgreiche Verbrechensbe- gie des Staates für eine bessere Verbrechensbe-
kämpfung gerecht wird. kämpfung alsbald wirksam werden kann.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5337*

Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Mit dem Volks- Zuständigkeiten und Kompetenzen? Wo ist Ihre poli-
zählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom tische Linie gewesen?
15. Dezember 1983 war der Innenminister gezwun-
gen, das BKA-Gesetz anzupassen. Dazu hat er zwölf Auch nach dem vorliegenden Entwurf können der-
Jahre gebraucht. Wer hier noch Lob verteilt, kann artige Skandale und andere Pannen im Zuständig-
nicht ernst genommen werden, ja er nimmt sich keitswirrwarr bundesdeutscher Polizeistrukturen
wahrscheinlich selbst auch nicht ernst. In Wirklich- weiterhin so richtig gedeihen.
keit wird die Datenverarbeitung im BKA erstmals ge- Drittens. Sie nutzen das BKA für ihre politischen
setzlich geregelt - aber wie - dazu später! Machtinteressen. Mit Ihrem in sich geschlossenen
Weltbild, dem Weltbild des „Hardliners", haben Sie
Dies ist kein Meilenstein, der dem Bürger ein mehr
bereits strafprozessuale Lösungen im Kopf, für die
an Sicherheit bietet, es ist ein Felsbrocken, den diese
Sie dann die passenden Fälle im BKA suchen lassen.
Regierung über Jahre hinweg mitschleppte und den
Dadurch erhält ihr politischer Wille, Ihre Ideologie
aus dem Weg zu räumen sie nicht in der Lage war.
ein vermeintliches sach- und fachkundiges Funda-
Deutlicher kann die Handlungsunfähigkeit dieser
ment.
Regierung im Bereich der Inneren Sicherheit nicht
aufgezeigt werden als durch die zwölfjährige Untä- Sie mißbrauchen hier eine Behörde für Ihre ideolo-
tigkeit. gischen Zwecke. Sehr geehrter Herr Innenminister,
so entsteht doch keine Kriminalpolitik aus einem
Auch dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof Guß, sondern lediglich ein Sammelsurium von Instru-
wurde es zu bunt. Er entschied kurzerhand im Juni menten, die lediglich auf Einzelfälle zugeschnitten
dieses Jahres, daß die Übergangsfrist des Gesetzge- sind. Und während man innerhalb der Polizei auf der
bers nach zwölf Jahren nunmehr abgelaufen sei und Suche nach einer Polizeikultur ist, zerstören Sie auf
ein jeder, der unschuldig in ein Ermittlungsverfahren dem Erlaßwege jedes Aufkommen eines „Neuen
gerät und deshalb im BKA-Computer gespeichert Selbstverständnisses".
wird, die Löschung verlangen kann.
Viertens. Sie mißbrauchen diese Behörde für Wahl-
Mehr als 20 Gesetzentwürfe wurden gefertigt, kampfzwecke. Die A rt und Weise, wie Sie den Kabi-
ohne daß die Abstimmungsprozesse mit dem BMJ nettsbeschluß zum Entwurf des BKA-Gesetzes in den
und den Ländern abgeschlossen werden konnten. hessischen Wahlkampf eingebracht haben, zeigt
Hochdotierte Beamte durften über Jahre hinweg für deutlich, welch gestörtes Verhältnis Sie zu den Mitar-
den Papierkorb arbeiten, weil eine Einigung zwi- beiterinnen und Mitarbeitern haben. Diese fühlten
schen BMI und BMJ bis zuletzt nicht zustande kam. sich als Instrument Ihres hessischen Wahlkampfes
mißbraucht.
Zwölf Jahre hat diese Regierung gebraucht, bis sie
die durch das Volkszählungsurteil des Bundesverfas- Fünftens. Sie halten das BKA nicht auf dem tech-
sungsgerichts notwendige Anpassung des Gesetzes nisch neuesten Stand. Die EDV im BKA ist hilflos
nun als Entwurf vorlegt. Inzwischen ließ man das überaltert, ein Datenaustausch bzw. Abgleich mit
BKA in halbseidenem Zustand weiterwursteln, weil den Datenbeständen aus anderen Ländern ist nur
diese Regierung im Bereich der Inneren Sicherheit unter erschwerten Bedingungen möglich. Sie gau-
sich ständig selbst blockiert. keln vor, hinter dem internationalen Verbrecher her-
zujagen, doch die Instrumente im BKA sind aus der
Was hat das für Folgen für eine Polizei, die nach EDV-Steinzeit. Nicht nur in Bayern und Baden-Würt-
Recht und Gesetz handeln soll, wenn man ihr dieses temberg, auch in den neuen Bundesländern könnten
Gesetz über ein Dutzend Jahre hinweg beständig die EDV-Spezialisten des BKA Nachhilfestunden
verweigert! Herr Minister, wer so handelt bzw. nicht nehmen.
handelt, geht den Polizeibeamten nicht gerade mit
gutem Beispiel voran. Wer eine rechtsstaatliche Poli- Es ist kein Wunder, daß unter Ihrer Führung das
zei will, muß selbst rechtsstaatlich handeln. Das aber, „Jobdenken" im BKA auf dem Vormarsch ist. Dies ist
Herr Kanther, haben Sie und Ihre Vorgänger gerade nur ein natürlicher Schutz gegen die alltägliche Fru-
nicht getan. stration, die das BMI verursacht. Die Polizei lebt je-
doch von Selbstbewußtsein und Eigeninitiative, die
Diese Bundesregierung läßt das ehemalige Flagg- Sie nahezu täglich unterdrücken.
schiff der deutschen Polizei, wie es gerade im Aus-
land gesehen wurde, einfach treiben. Ein Wo rt noch zur Umorganisation des BKA. Die
Angehörigen des höheren Dienstes haben festge-
Erstens. Sie haben bis heute nicht die Vorfälle um stellt, daß die Zusammenlegung von Ermittlung und
Bad Kleinen aufgearbeitet. Die Mitarbeiterinnen und Auswertung in der neugegründeten Abt. OA falsch
Mitarbeiter fühlen sich von Ihnen im Stich gelassen war. Keiner will Ihnen diese Botschaft überbringen.
und ungerecht behandelt. Die Folge heute: gericht- Es wird Zeit, daß Sie einmal überlegen, weshalb das
liche Nachspiele, Herr Minister, ich erinnere hier an so ist. Das neue BKA-Gesetz besitzt keine neuen
ganz aktuelle Anlässe, die nun im Bereich der hessi- Konturen. Sie lassen doch sonst keine Chance aus,
schen Justiz aufgearbeitet werden, für die aber Sie von den neuen bedrohlichen Dimensionen der inter-
letztendlich die Verantwortung tragen. nationalen Kriminalität zu warnen. Was aber setzen
Sie dagegen?
Zweitens. Wo, sehr geehrter Herr Innenminister, ist
Ihr Beitrag zur Aufklärung des Plutoniumskandals Es ist kein politischer Wille, keine Weichenstellung
geblieben? Wo sind Ihre Beiträge zur Klärung von erkennbar, statt dessen wird das Bermuda-Dreieck
5338* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

der Zuständigkeiten ausgeweitet (siehe Art. 3 - Inter- wenn die Straftaten zwar im Inland begangen, aber
nationale Zusammenarbeit). Kooperativer Föderalis- erkennbar aus dem Ausland gesteuert werden. Wei-
mus, das müßte das Bestreben des Innenministers terhin bleiben Brand- und Sprengstoffdelikte außer
sein, nicht eine Einigung auf den kleinsten gemein- acht, typische Delikte im Bereich des international
samen Nenner. Dieses Ziel hat er nicht erreicht, die- organisierten Terrorismus.
ses Ziel hat er deutlich verfehlt.
Es entspricht seit einigen Jahren der ständigen
Zentralstellen sind abhängig von ihren Informa- Praxis des GBA, das BKA in Staatsschutzangelegen-
tionsquellen, von der Güte der Information und von heiten bereits unterhalb der Schwelle konkreter Er-
der Schnelligkeit, in der die Informationen mitgeteilt mittlungsverfahren mit der Durchführung sogenann-
werden. Dies ist im Gesetzentwurf nur unzureichend ter ARP-Verfahren zu betrauen. Hierbei geht es um
geregelt. Es wird nicht erkennbar, ob das BKA die die Durchführung von Aufklärungsmaßnahmen auch
Zentralstelle für die deutsche Polizei sein soll oder über Personen mit dem Ziel der Prüfung, ob sich zu-
eine Zentralstelle neben den 16 Zentralstellen bei reichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Bege-
den Landeskriminalämtern. hung von Straftaten ergeben.
Herr Minister, was wollen Sie eigentlich, eine Herr Minister, für diese ARP-Verfahren gab es in
starke Zentrale der deutschen Polizei oder eine abge- der Vergangenheit keine gesetzliche Grundlage. Die
speckte? Offene Grenzen rund um Deutschland, zu- Länder können entsprechende Informationserhe-
nehmende internationale und organisierte Krimini- bung „im Vorfeld" auf ihre Polizeigesetze stützen.
lität erfordern eine Stärkung bundespolizeilicher Da Sie die notwendige gesetzliche Grundlage für
Kompetenzen. Diese haben Sie nicht erreicht. diese ARP-Verfahren nicht vorgesehen haben, muß
man davon ausgehen, daß diese in Zukunft nicht
Sie werden nun sagen, mehr war mit den Ländern mehr vom BKA durchgeführt werden sollen. Wollen
nicht zu erreichen. Ich frage, was haben Sie getan, Sie das tatsächlich?
um die Länder für sich und die Sache zu gewinnen?
Endlich wird dem BKA die gesetzliche Befugnis
Sie stoßen die Länder vor den Kopf, wenn ihre Be- eingeräumt, seine Zeugen selbst zu schützen. Damit
hörde die polizeilichen Aufgaben auf dem Gebiet der wird ein Zustand beendet, der immer wieder zu Pro-
Strafverfolgung dem BKA zuweisen kann, wie dies in blemen führte, da der Schutz von Zeugen in BKA-
§ 4 Abs. 2 Nr. 3 vorgeschlagen ist. Es gab bisher Verfahren von den Ländern übernommen wurde. Ge-
sechs Fälle dieser Art. Weshalb Sie gerade an dieser rade im Bereich der Organisierten Kriminalität ist der
Regelung unbedingt festhalten wollen, ist mir ange-
Zeugenschutz eine wichtige Maßnahme, um eine
sichts des großen Dissenses mit den Ländern unver- Aussagebereitschaft zu erreichen. Noch immer erhält
ständlich. Offensichtlich fehlt es an Gespür für die Si-
man jedoch aus dem Justizministerium Hinweise,
tuation in den Bundesländern. daß dort noch Widerstände vorhanden sind.
Weiterhin ist es ein Affront gegen die Interessen Nunmehr besteht die Möglichkeit, in eigenen Er-
und das Selbstbewußtsein der Länder, wenn der Ent- mittlungsverfahren eingesetzte VE/VP bzw. sonstige
wurf vorsieht, daß das BKA einem Bundesland Wei- Personen durch den Einsatz technischer Mittel zu
sungen für die Zusammenarbeit geben kann. Für schützen. Damit entspricht dies dem Vorgehen in
mich zeigt die Diskussion mit den Ländern deutlich,
den Ländern, die diese Möglichkeiten in ihren Poli-
daß das Verhältnis BKA/Länder grundsätzlich über- zeigesetzen haben.
dacht werden müßte, ganz im Sinne eines arbeits-
teiligen aufeinander abgestimmten Sicherheitskon- In den Presseveröffentlichungen erwecken der
zeptes. BMI und die Bundesregierung den Eindruck, als ob
es lediglich um die Eigensicherung der VE/VP ginge.
Auch Europol ist eine von den Mitgliedstaaten ein- Dann hätte man aber ein Beweisverwertungsverbot
gerichtete, finanzierte und getragene Gemein- in den BKA-Entwurf eingebaut. Das aber gerade
schaftseinrichtung und damit keine Überbehörde. wird durchbrochen, die Weitergabe zu Beweiszwek-
Ich könnte mir vorstellen, das BKA als eine von den ken im Rahmen des Strafverfahrens wird eröffnet.
Ländern mitgetragene Zentralstelle zu installieren, Damit wird der große Lauschangriff für das BKA
mit einem regen Personalaustausch zwischen Bund quasi durch die Hintertüre eingeführt. Weder in Pres-
und Ländern auf der Führungsebene. Eine derartige seerklärungen noch im Gesetzentwurf selbst haben
Zusammenarbeit hat sich bereits bei der Ausbildung Sie diese Information offensiv vertreten. Zu Recht ist
des höheren Dienstes der Polizeien des Bundes und Ihnen dabei nicht ganz wohl.
der Länder als tragfähig erwiesen.
Herr Minister, so geht es nicht!
Damit würde sich sowohl die Sichtweise des Bun-
des als auch die der Länder verändern und erwei- Ich bin hier sehr gespannt, wie sich die F.D.P. vor
tern. der Mitgliederbefragung verhält.
Nur um einige Beispiele aus dem übrigen Gesetz- Immer noch gibt es gewichtige Bedenken bei den
entwurf herauszugreifen: Der § 4 regelt die polizeili- Datenschutzbeauftragten, über die wir ebenfalls im
chen Aufgaben des BKA auf dem Gebiet der Straf- weiteren Gesetzgebungsverfahren intensiv beraten
verfolgung. Abs. 1 Ziff. 4 ist hier zu eng gefaßt. Die müssen. Insbesondere muß für den Bürger die Aus-
Zuständigkeit wird nicht auf die typischen Phäno- kunftserteilung eindeutig klar sein. Im vorliegenden
mene des internationalen Terrorismus zugeschnitten. Entwurf wird das Grundrecht auf informationelle
So sehen Sie keine Zuständigkeiten für das BKA vor, Selbstbestimmung zu wenig beachtet. Dieses Bür-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5339*

gerrecht muß deutlich herausgestellt werden. Wer len oder ohne deren Zustimmung speichern soll, die
den Gedanken der informationellen Selbstbestim- nicht Beschuldigte sind. Das können Zeugen, Hin-
mung, wie er im Volkszählungsurteil herausgearbei- weisgeber, Auskunftspersonen sein oder Personen,
tet wurde, ernst nimmt, muß dem Bürger ein Min- die sich vollkommen rechtmäßig verhalten, von de-
destmaß an Rechten zugestehen. Weshalb wird das nen die Polizei aber glaubt, daß sie in Zukunft Straf-
BKA z. B. nicht gesetzlich verpflichtet, dem Bürger taten begehen wollen. Wer kann das alles sein? Da-
auf Anfrage mitzuteilen, welche Behörden Daten bei geht es ja beim BKA nicht um konkrete Gefah-
über ihn gespeichert haben? Ein vereinfachtes Aus- renabwehr, sondern das BKA bleibt eine zentrale
kunftsverfahren - gerade bei einer Zentralstelle - Informationssammelstelle. So wichtig es ist, daß die
halte ich für dringend geboten. Polizei sich mit Leuten befaßt, die Straftaten began-
gen haben oder jedenfalls in den Verdacht geraten
Weshalb, Herr Minister, sind die Zuständigkeiten sind, Täter zu sein, so zurückhaltend muß die Polizei
der Verbindungsbeamten RG/OK des BKA im Aus- dann sein, wenn sie sich mit Personen befassen will,
land nicht gesetzlich normiert? Will man diese Ver- die sich rechtmäßig verhalten oder gar der Polizei
bindungsbeamten vielleicht herausziehen, um diese helfen wollen.
Aufgaben künftig dem BND zu überlassen? Will man
das Trennungsgebot von Polizei und Geheimdien- Wir stoßen bei diesem Gesetz unter der Überschrift
sten weiter durchlöchern? „Eigensicherung" auch auf das Problem des Einsat-
zes elektronischer heimlicher Abhörgeräte. Das will
Ich persönlich würde es auch begrüßen, wenn wir ich jetzt und hier nicht weiter ausführen. Und
ohne Vorbehalte darüber diskutieren würden, ob die schließlich müssen wir uns mit den Vorstellungen der
Sicherungsgruppe des BKA nicht besser dem BGS Länder eingehend befassen. Sie haben überraschend
zugeordnet werden sollte. Meines Erachtens gibt es viele Änderungswünsche vorgetragen. Da es sich um
gute Gründe für eine derartige Umorganisation. ein Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und
Sehr geehrter Herr Innenminister, mit Ihrem Ge- Ländern im polizeilichen Bereich handelt, werden
setzentwurf werden Sie eine glatte Bruchlandung wir uns das sehr sorgsam ansehen müssen.
hinlegen. Wer ein dera rtiges BKA-Gesetz vorlegt, ab-
Wir wollen das Gesetz nicht hektisch, aber intensiv
gestimmt auf juristische Feinheiten, trotzdem nicht
und sorgfältig beraten. Es ist dringend, aber auch
juristenfest, und die praktische Seite für die Polizei-
kompliziert. Die angedeuteten Probleme sind für uns
beamten vernachlässigt, darf sich nicht über die
keine Kleinigkeiten, und ich hoffe, daß wir zu ver-
nächsten Pannen wundern.
nünftigen Beratungen kommen, die den Interessen
aller Seiten an der Verabschiedung des Gesetzes ge-
Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Man kann in fünf Mi- recht werden.
nuten die Bedeutung dieses Gesetzes auch nicht an-
nähernd beschreiben. Es war nicht nur wegen ge-
richtlicher Entscheidungen zu den Datensammlun- Manfred Such (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eine
gen des BKA überfällig. Das Gesetz soll nicht nur Novellierung des BKA-Gesetzes ist überfällig, da fast
den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung acht Jahre nach dem Volkszählungsurteil des Bun-
gerecht werden, sondern auch die polizeilichen Be- desverfassungsgerichts immer noch keine bereichs-
ziehungen zwischen Bund und Ländern neu regeln, spezifischen Regelungen für die Informationsverar-
Entwicklungen der Strafprozeßordnung und der Poli- beitung des Amtes bestehen. Insofern dürfte auch
zeirechte einzelner Länder folgen und die Tür zur eu- der sogenannte Übergangsbonus inzwischen abge-
ropäischen Zusammenarbeit offenhalten. Diese Ziel- laufen sein - mit der Folge, daß die Verwendung von
setzung ist richtig. Das Gesetz selbst ist aber so kom- Personendaten auf rechtliches Glatteis gerät.
pliziert geraten in seinem Aufbau und in seiner Spra-
Leider ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung
che, daß man den Polizeibeamten Glück wünschen
trotz dieser langen Vorlaufzeit nicht ausgereift und
muß, die mit ihm arbeiten sollen.
nicht zustimmungsfähig, vor allem, weil die Bundes-
Es gibt einige wichtige Punkte, zu denen wir Vor- regierung offenbar der Versuchung erlegen ist, an-
behalte haben. Wir wollen, daß es bei der föderalen läßlich der Novellierung die verfassungskräftige fö-
Struktur der deutschen Polizei bleibt. Das ist nicht derative Polizeistruktur aushöhlen und die Bundes-
nur ein politisches demokratisches Anliegen. Eine fö- zuständigkeit zu Lasten der Länder erheblich erwei-
derale Polizei ist, wenn sie richtig organisiert ist, ein- tern zu wollen.
fach besser als zentralistische Organisationen. Das
hat Folgen für die Zuständigkeiten. Das BKA sollte Meine Fraktion ist hingegen der Auffassung, daß
nicht in Sachen ermitteln, für die es nicht zuständig Polizeithemen nicht mit der Brechstange und in Kon-
ist. Und natürlich hat das Folgen auch für die Mög- frontation mit den Ländern geregelt werden können,
lichkeiten der Länderpolizeien, in unmittelbaren sondern nur im Einvernehmen mit diesen! Insbeson-
Kontakt zu anderen europäischen Polizeien treten zu dere das BKA benötigt - zusätzlich zu seinen bedau-
können. Diese Möglichkeit ist nicht nur im unmittel- erlichen internen Verwerfungen - keine weitere ex-
baren Grenzbereich wichtig. Sie muß erhalten blei- terne Auseinandersetzung mit den Landeskriminal-
ben und sollte nicht durch Bürokratie erschwert wer- ämtern. Daher sollte ein Gesetzentwurf auch mit Zu-
den. stimmung des Bundesrates verabschiedet werden;
die Bundesregierung sollte von ihrer entgegenge-
Ein anderer wichtiger Punkt ist die Frage, in wel- setzten zweifelhaften Rechtsauslegung rasch Ab-
chem Umfang die Polizei Personen gegen deren Wil- stand nehmen.
5340* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Auch inhaltlich ist der Regierungsentwurf u. a. in oder „personengebundene Hinweise" bedeuten mö-
folgenden Punkten, die in den Ausschußberatungen gen, bleibt das Geheimnis der Bundesregierung.
zu vertiefen wären, bedenklich:
Die im BKA-Gesetzentwurf vorgesehene Befugnis
Erstens. Das BKA als Zentralstelle soll ohne Rück- zum polizeilichen „Lauschangriff" ist in mehrfacher
sicht auf die Länderzuständigkeiten Befugnisse zur Hinsicht problematisch: Der Lauschangriff soll an die
selbständigen Datenerhebung und -übermittlung bis Gefährdung eines - ansonsten im BKA-Gesetz nicht
zum Online-Verbund mit ausländischen und zwi- geregelten - „verdeckten Ermittlers" gebunden wer-
schenstaatlichen Stellen erhalten. den. Unklar bleibt, zu welchem Zweck dieses Ge-
schehen aufgezeichnet werden muß bzw. unter wel-
Zweitens. Die Verwendung des Begriffs „Strafta- chen Voraussetzungen diese Aufzeichnungen ge-
ten von erheblicher Bedeutung", für deren Verfol- löscht werden sollen. Auch ist vollkommen unklar,
gung das BKA zuständig werden soll, ist jedenfalls was unter der Voraussetzung „im Beisein" der oder
ohne katalogartige Präzisierung nicht hinnehmbar. des BKA-Beamten zu verstehen ist. Schließlich ist es
Drittens. Gleiches gilt für die Vermischung von Be- vollkommen unverhältnismäßig, einen derartig tief-
fugnissen zur Strafverfolgung, G efahrenabwehr, greifenden Eingriff von Bürgerinnen-Rechten an den
Verhütung von Straftaten und Vorsorge für künftige Schutz von Sach- und Vermögenswerten zu koppeln.
Strafverfolgung, wobei die vorgesehene Zweckbin- Ein anderer Punkt: Im BKA-Gesetz ist eine umfas-
dung der gewonnenen Daten durchweg mangelhaft sende Regelung zu dem Schutz von Zeugen vorgese-
ist. hen. Zeugenschutz hängt mit der - von uns rundweg
Viertens. Zu kritisieren sind ferner die nachteiligen abgelehnten - Rechtsfigur des Kronzeugen unmittel-
Sonderregelungen für das INPOL-System zur daten- bar zusammen. Die zu schützende Person gerät hier-
schutzrechtlichen Kontrolle und zur Auskunftsertei- bei in ein vollkommenes Abhängigkeitsverhältnis
lung an Betroffene. zur Polizei. Sich aus dieser staatlichen Umklamme-
rung zu lösen ist fast unmöglich. Unklar bleibt, wer
Fünftens. Besonders dreist ist der im Entwurf ver- Zeugenschutzmaßnahmen anordnet und deren Art
steckte Versuch, den Lauschangriff in Wohnungen in und Umfang sachlich kontrolliert. Hier bleibt ein ge-
Gestalt der „bemannten Wanze" legalisieren und die fährlicher Spielraum, um nicht nur die Verteidigung
dabei gewonnenen Informationen vielfältig nutzen und die Staatsanwaltschaft, sondern auch die zustän-
zu wollen. Leider hat der Bundesrat an diesem Punkt digen Gerichte an der Nase herumzuführen.
noch draufgesattelt statt gebremst.
Die Gefahr, die hier droht, wird deutlich am Bei-
spiel des „geschützten" kurdischen Kronzeugen Ali
Ulla Jelpke (PDS): Der Deutsche Bundestag be- Cetiner. Dieser saß 1989 zehn Monate lang in einem
schäftigt sich heute erneut mit der Demontage von Berliner Gefängnis, ohne daß die Berliner Justizver-
demokratischen Prinzipien, die der alten Bundesre- waltung hiervon Kenntnis hatte!
publik nach der Niederschlagung des deutschen Fa-
Der Tatendrang des BKA läßt sich offenkundig
schismus auferlegt worden sind: Mit dem vorliegen-
nicht mehr auf das Gebiet der Bundesrepublik be-
den Entwurf des BKA-Gesetzes soll der Weg freige-
schränken. Nun wird für den Bereich der Bekämp-
macht werden für eine weitere Zentralisierung und
fung dessen, was Sie als „Terrorismus" bezeichnen,
Politisierung einer deutschen Bundespolizei. Und -
eine deutliche Ausweitung der „Originären Strafver-
die Spatzen pfeifen es von den Dächern - langfristig
folgungskompetenzen" des BKA beabsichtigt: Wenn
soll auch das Trennungsgebot von Polizei und Ge-
„deutsche Interessen im Ausland" berührt sind - was
heimdiensten aufgehoben werden. Fragen Sie in die-
immer das auch sein mag -, dann soll das BKA im
ser Sache doch einmal den ehemaligen Präsidenten
Ausland tätig werden dürfen. Dabei soll es unerheb-
des Bundesamtes für Verfassungsschutz oder den
lich sein, ob sich „überhaupt ein Bezug zu einem an-
bayerischen Innenminister Beckstein. Dort ist der
deren Land herstellen läßt" oder ob die „terroristi-
Verfassungsschutz bereits für die Beobachtung der
schen Aktionen regional zu benennen sind".
sogenannten Organisierten Kriminalität zuständig.
Wir halten nichts davon, das Ausland - nach deut-
Die bundespolizeilichen Kompetenzen des BKA schen Soldaten - nunmehr auch noch mit deutschen
sollen unzulässigerweise ausgebaut werden - zu La- „Weltpolizisten" zu beglücken.
sten der Länderpolizeien.
Hinsichtlich des Schutzes von demokratischen Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
Rechten der Bürgerinnen und Bürger ist von seiten minister des Innern: Mit dem BKA-Gesetzentwurf
der SPD bzw. der sozialdemokratischen Bundesrats- kommt für den Bereich des Bundesministeriums des
mehrheit aber nicht allzuviel zu hören - im Gegen- Innern eine Reihe von Gesetzgebungsvorhaben zum
teil. Auch sie hobeln eifrig mit beim Abbau von Abschluß, die alle ein Ziel gemeinsam hatten: die
Grundrechten. Umsetzung des Volkszählungsurteils des Bundesver-
fassungsgerichts aus dem Jahre 1983 und den übri-
Der BKA-Gesetzentwurf vermag zum einen schon
gen Ergänzungs- und Änderungsbedarf - soweit
sprachlich nicht zu überzeugen: Entscheidende
möglich - abzuarbeiten.
Rechtsbegriffe sind nicht normenklar: Was unter
„Straftaten von erheblicher Bedeutung" zu verste- Ich erinnere insoweit nur an das Ausländerzentral-
hen ist, darüber gibt es immer noch keine gültige De- registergesetz und das Bundesgrenzschutzgesetz,
finition. Auch was die Begriffe „mittlere Kriminalität" die beide noch im letzten Jahr in Kraft treten konn-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5341*

ten. Auch die Polizeigesetze der Länder sind zum nahme des Bunderates ist zur Kritik des Bundesrates
größten Teil grundlegend überarbeitet worden, um an dem Gesetzentwurf folgendes festzustellen: Die
den Anforderungen des Volkszählungsurteils ge- Länder sind mit der Grundkonzeption des Entwurfs,
recht zu werden. namentlich der Verteilung der datenschutzrechtli-
chen Verantwortung im polizeilichen Informationssy-
Der den Gesetzgebern vom Bundesverfassungsge- stem einverstanden. Die Bundesregierung hat in ih-
richt eingeräumte Übergangsbonus für die Schaf- rer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundes-
fung der erforderlichen, bereichsspezifischen gesetz- rates einer Reihe von Vorschlägen der Länder zuge-
lichen Grundlagen nähert sich seinem Ende. Oberge- stimmt.
richtliche Entscheidungen zur Datenverarbeitung
beim Bundeskriminalamt, die bisher weitgehend auf Zu den Regelungen des Gesetzentwurfs, die zwi-
der Grundlage von Richtlinien stattfindet, haben dies schen Bundesrat und Bundesregierung streitig ge-
in letzter Zeit deutlich gemacht. Damit in Zukunft die blieben sind, gehört die Bestimmung über den inter-
Verarbeitung und Nutzung von Daten beim BKA als nationalen Dienstverkehr. Hierbei geht es um einen
Zentralstelle der Deutschen Kriminalpolizei nicht am zentralen und wichtigen Punkt des Zusammenwir-
Fehlen einer ausreichenden Rechtsgrundlage schei- kens von Bund und Ländern bei der Verbrechensbe-
tert, ist der BKA-Gesetzentwurf besonders dringlich. kämpfung. Bisher ist im geltenden Gesetz vorgese-
hen, daß der Auslandsdienstverkehr mit der Mög-
Es geht darum, den Standard bei der Datenverar- lichkeit zu Ausnahmen für die Grenzgebiete aus-
beitung im BKA aufrechtzuerhalten und das BKA in schließlich über das BKA läuft. Diese Zuständigkeits-
die Lage zu versetzen, seine wichtigen Aufgaben als verteilung ist nicht mehr zeitgemäß. Daher sieht § 3
Zentralstelle und Strafverfolgungsbehörde auch in eine nicht unerhebliche Erweiterung der Länder-
Zukunft zu erfüllen. kompetenzen vor. Außerdem ist in einer Fußnote zu
Hierin liegt der wesentliche Beitrag des Gesetzent- § 3 vorgesehen, daß die parlamentarischen Beratun-
wurfs zur Verbrechensbekämpfung. gen im Lichte einer noch durchzuführenden Abstim-
mung zwischen Bund und Ländern erfolgen.
Entgegen verschiedentlich zu vernehmenden Äu-
ßerungen sind mit dem Gesetzentwurf keine aus- Das Ergebnis dieser Abstimmung wird in die nun
ufernden Kompetenz- und Zuständigkeitserweite- anstehenden Ausschußberatungen einfließen. Die
rungen für das BKA verbunden. Neue Aufgaben soll Gespräche haben gezeigt, daß es auch in dieser
das BKA im Bereich der Strafverfolgung nur do rt be- Frage, in der die Standpunkte zunächst sehr weit
kommen, wo sich in der polizeilichen Praxis bei der voneinander entfernt waren, möglich ist, zu einer für
Bekämpfung des internationalen Terrorismus Defi- alle akzeptablen Lösung zu kommen. Ich hoffe, daß
zite gezeigt haben, weil z. B. zunächst eine zustän- dies auch bei allen anderen noch offenen Punkten
dige Landesbehörde nicht festgestellt werden kann. möglichst rasch der Fall sein wird und daß die Aus-
schußberatungen zu einem zügigen Abschluß ge-
Keine neue Aufgabe ist die vorgesehene Regelung bracht werden können.
zur Durchführung von Zeugenschutzmaßnahmen in
BKA-eigenen Ermittlungsverfahren. Das BKA Das BKA braucht dieses neue Gesetz, um auch in
schützt seine Zeugen schon bisher auf der Grund- Zukunft seinen Aufgaben gerecht werden und sei-
lage von gemeinsamen Richtlinien des Bundes und nen wichtigen Beitrag zur Verbrechensbekämpfung
der Länder. leisten zu können.

Schließlich sieht der Entwurf für das BKA noch die


Befugnis vor, zur Eigensicherung seiner ermittelnden
Beamten bei risikoreichen Einsätzen technische Mit-
tel einzusetzen, also z. B. eine Wohnung abzuhören Anlage 4
oder mit Video zu überwachen, in der ein Gespräch
unter Mafiosi stattfindet, an dem ein Verdeckter Er- Zu Protokoll gegebene Rede
mittler des BKA teilnimmt. Fast alle Polizeigesetze zu Tagesordnungspunkt 18
der Länder sehen entsprechende Regelungen vor, (Zweites Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetz)
die sich allerdings hinsichtlich der Art und Weise des
Einsatzes dieser technischen Mittel teilweise unter-
scheiden. Die Erforderlichkeit einer Eigensiche- Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Wir debattieren
rungsregelung auch für das BKA wird nicht in Zwei- heute über die Verlängerung der Kronzeugenrege-
fel gezogen. Es macht aber keinen Sinn, das BKA lung für den Bereich der terroristischen Straftaten so-
beim Schutz seiner Beamten weitergehenden Ein- wie der organisierten Kriminalität um vier Jahre. Das
schränkungen zu unterwerfen, als dies für die Poli- Thema ist wahrlich nicht neu: Seit der Einführung
zeien der meisten Länder der Fall ist. der Kronzeugenregelung im Sommer 1989 hat es den
Deutschen Bundestag wiederholt beschäftigt. Ich
Damit sind die vorgesehenen neuen gesetzlichen denke, es ist deshalb nicht erforderlich, heute erneut
Kompetenzen des BKA auch schon abschließend auf- in eine ausführliche Grundsatzdebatte über das Für
gezählt. und Wider einer Kronzeugenregelung einzutreten.
Diese Kompetenzen wurden vom Bundesrat nicht Uns allen ist klar, daß eine Kronzeugenregelung
in Frage gestellt. Entgegen anders lautenden Presse- eine einschneidende Durchbrechung des Legalitäts-
meldungen und der insoweit zumindest mißverständ- prinzips bedeutet und das Rechtsstaatsprinzip sowie
lichen allgemeinen Vorbemerkung zur Stellung- insbesondere den Gleichbehandlungsgrundsatz be-
5342* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

rührt. Vor allem die Durchbrechung des Gleichbe- Die Sicherheitsbehörden sind einhellig für eine
handlungsgrundsatzes kann meines Erachtens nur Verlängerung der Kronzeugenregelung. Ihre Einfüh-
dann erwogen werden, wenn und soweit sachliche rung für den Bereich der organisierten Kriminalität
Gründe diese Durchbrechung zwingend gebieten. war übrigens eine zentrale bayerische Forderung.
Dies ist grundsätzlich im Blick auf die Gefahren des
Terrorismus sowie der organisierten Kriminalität zu Bei allen Zweifeln und Bedenken, die man sicher-
bejahen. lich mit teilweise guten Gründen gegen die Kronzeu-
genregelung vorbringen kann, sollte man deshalb
Gerade wegen der besonderen Problematik der gerade im Hinblick auf die enormen Gefahren, die
Kronzeugenregelung haben wir diese zeitlich befri- inzwischen weltweit von der organisierten Kriminali-
stet. Da die Kronzeugenregelung bei organisiert be- tät ausgehen, auf die Chance, die sich durch die
gangenen Straftaten im Rahmen des Verbrechensbe- Kronzeugenregelung eröffnet, nicht verzichten.
kämpfungsgesetzes an die Kronzeugenregelung bei
terroristischen Straftaten gekoppelt worden ist, ist sie
gegenwärtig bis Ende 1995 befristet. Ich denke, es Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Es wird niemanden
liegt auf der Hand, daß mit einem Gesetz, das erst wundern, daß der Gesetzentwurf der Fraktionen der
zum 1. Dezember 1994 in Kraft getreten ist, nach CDU/CSU und der F.D.P. zur erneuten Verlängerung
noch nicht einmal einem Jahr keine ausreichenden der Kronzeugenregelung bei der SPD auf äußerste
Erfahrungen gesammelt werden können. Es wider- Skepsis trifft. Die für terroristische Taten seit 1989,
spräche aber der Vernunft, dieses Instrument vor der also seit über sechs Jahren, geltende Möglichkeit soll
Beurteilung seiner Wirksamkeit schon wieder außer noch einmal um vier Jahre verlängert werden. Die
Kraft zu setzen. Koalition ist also selbst höchst unsicher. Sonst könnte
sie den Kronzeugen jedenfalls zur Aufklärung terro-
Die vom Deutschen Bundestag 1992 durchgeführte ristischer Straftaten endgültig einführen oder ihn,
Anhörung hat im übrigen bestätigt, daß die Kronzeu- wofür viel spricht, abschaffen. Statt dessen schlägt
genregelung den befürchteten Schaden nicht ange- sie ein Expe riment von insgesamt zehnjähriger
richtet hat. Insbesondere ist das die Strafrechtspflege Dauer vor. Ein einmaliger Vorgang in der Geschichte
beinhaltende Ziel, die Unverbrüchlichkeit der des deutschen Strafprozeßrechts.
Rechtsordnung zu erweisen, nicht beeinträchtigt
worden. Die Argumente gegen das Rechtsinstitut des Kron-
zeugen sind bekannt: Der Rechtsstaat sollte keinen
Im Bereich des Terrorismus hat die Kronzeugenre- Handel um Gerechtigkeit mit Schwerkriminellen ein-
gelung einige Erfolge bei der Bekämpfung der RAF gehen. Die Glaubwürdigkeit eines Straftäters, der
sowie der PKK gebracht. Das ist zugegebenermaßen zur Erlangung von Strafmilderung oder Straffreiheit
sicherlich schon einige Zeit her. Wir sollten aber des- seine ehemaligen Komplizen belastet, ist gering. Das
wegen nicht grundsätzlich an der Wirksamkeit der Aushandeln von Strafe verträgt sich nicht mit dem
Kronzeugenregelung zweifeln. Möglicherweise wird Legalitätsprinzip, ganz im Unterschied etwa zum an-
dieses Instrument bei der Verhinderung oder Aufklä- gloamerikanischen Rechtskreis mit dem do rt gelten-
rung von rechtsextremistischen Straftaten künftig den Opportunitätsprinzip. Die bereits 1982 einge-
von Bedeutung sein. führte Regelung in § 31 BtMG hat sich nicht bewäh rt ,
wie u. a. Michael Jaeger in seiner rechtsvergleichen-
Wir sind uns aber - so glaube ich - einig da rin, daß den und empirischen Untersuchung nachgewiesen
wir mit der Kronzeugenregelung vor allem bei der hat. Die Verschachtelung und Abschottung sowie
Bekämpfung der organisierten Kriminalität Hoffnung das Schreckensregime verbrecherischer Organisatio-
auf Erfolge haben können. Die Erfahrungen in den nen verhindern ein Eindringen in den Kernbereich
USA und vor allem in Italien geben uns dazu Grund. der Organisation, weshalb es selten gelingt, die Hin-
Sicherlich ist es kaum konkret feststellbar, wie viele termänner zu überführen. Ferner: Kronzeugen lassen
und welche Straftaten durch eine Kronzeugenrege- sich nicht wirkungsvoll und dauerhaft schützen, so
lung verhindert werden konnten bzw. können. Aber daß sie häufig als sogenannte „Verräter" den Ra-
immerhin konnten zahlreiche terroristische Strafta- cheakten ihrer früheren Komplizen zum Opfer fallen.
ten aufgeklärt werden, und fest steht auch, daß die Schließlich hat sich herumgesprochen, daß sich die
Kronzeugenregelung Erkenntnisse gebracht hat, die Kronzeugenaussage wegen des Erfordernisses, die
die Strafverfolgungsbehörden ohne sie nicht erhalten Tat über den eigenen Beitrag hinaus aufzudecken,
hätten. Diese Regelung vermag gerade dort Wirkung kaum je lohnt. Bei BtM-Delikten wird die Strafe für
zu entfalten, wo die Strafverfolgungsbehörden die die bislang nicht aufgedeckten und erst durch den
größten Schwierigkeiten mit der Beweisermittlung Zeugen „gestandenen" Taten nicht selten lediglich
haben. Wir wissen doch alle: Organisierte Kriminali- auf die ohnehin verwirkte Strafe ermäßigt. Ein Null-
tät kann immer nur von innen aufgebrochen werden. summenspiel.
Wir sollten den Praktikern jedes rechtsstaatliche In-
strument gerade bei der Bekämpfung des organisier- Nun soll also das unserem Rechtssystem fremde
ten Verbrechens zur Verfügung stellen. Diese viel- Experiment verlängert werden, weil es - so die Ent-
leicht schon heute größte Bedrohung unserer inneren wurfsbegründung - bei terroristischen Straftaten die
Sicherheit erfordert neue Wege, mehr Möglichkeiten Aufklärung in bestimmten Bereichen „erleichtert"
für Polizei und Justiz. Dazu gehört im übrigen nicht habe. Nimmt man die Begründung ernst, ist die Auf-
nur die Kronzeugenregelung, sondern z. B. endlich klärung also noch nicht einmal ermöglicht, sondern
auch die Wohnraumüberwachung mit technischen nur erleichtert worden. Wir werden im Rahmen der
Mitteln im Rahmen der Strafverfolgung. bevorstehenden Ausschußberatung einen detaillier-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5343*

ten Erfolgsbericht verlangen, der auch auf § 31 BtMG wie ein Blick über die Grenzen nach Italien oder
zu erstrecken sein wird. Es ist nämlich unrichtig, daß auch die USA zeigt, insbesondere durch Aussagen
das erst seit dem 1. Dezember 1994 auf organisiert von Beteiligten, die wertvolle Hinweise zum inne-
begangene Straftaten erstreckte Instrument noch ren Aufbau und der Logistik einer solchen kriminel-
keine ausreichenden Erfahrungen gebracht haben len Vereinigung und damit auf die Täter geben
könnte, wie es in der Entwurfsbegründung heißt. können.
Denn bekanntlich ist der Drogenhandel ein klassi-
sches Instrument der organisierten Kriminalität, und Der Staat muß bei der Bekämpfung des Terroris-
für dieses Delikt gibt es bereits seit 1982, also seit mus und der organisierten Kriminalität entschlossen
über 13 Jahren, den Kronzeugen. handeln. Unser gemeinsames Ziel muß sein, zu ver-
hindern, daß sich die Strukturen krimineller Vereini-
Die Regierungskoalition wird ihre Argumente also gungen verfestigen. Hier müssen wir ansetzen und
erheblich nachbessern müssen. Am Ende wird das versuchen, einzelne Pfeiler des Systems aus der Ge-
Parlament die Frage zu beantworten haben, ob der samtstruktur herauszulösen. Dazu brauchen die Ver-
Preis für ein höchst zweifelhaftes Instrument der Ver- folgungsbehörden auch ein Instrument, das hierzu
brechensaufklärung für unseren Rechtsstaat nicht geeignet ist.
eindeutig zu hoch ist.
Wägt man alle Argumente sorgfältig ab, erscheint
es verantwortbar, auf beiden Gebieten - Terrorismus
Heinz Lanfermann (F.D.P.): Zum wiederholten und organisierte Kriminalität - einheitlich die Kron-
Male debattiert das Hohe Haus die Verlängerung der zeugenregelung zu verlängern. Dabei erscheint eine
Kronzeugenregelung. Die Rechtsstaatspartei F.D.P. Frist bis Ende 1999 sinnvoll, um ausreichend Zeit für
hat sich damit immer schwergetan, und es ist auch weitere Erfahrungen zu haben und anschließend in
heute keine einfache Entscheidung, zumal es hier aller Ruhe die Bilanz zu ziehen und die rechtspoliti-
um eine Rechtsfigur geht, die aus dem angloamerika- sche Debatte um das Für und Wider der Kronzeugen-
nischen Recht stammt und nach dem ersten An- regelung im deutschen Recht zu führen.
schein nicht in unser Rechtssystem zu passen
scheint.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zum einen handelt es sich um eine Durchbrechung Das Jahr hat 12 Monate. Diese Weisheit hat sich
des Legalitätsprinzips zugunsten anderer Rechtsgü- scheinbar noch nicht bis in Kreise der Regierungs-
ter, was aber unserem Rechtssystem keineswegs koalition herumgesprochen. Mit dem im Dezember
fremd ist. So ist durch die in der Praxis häufige An- 1994 in Kraft getretenen Verbrechensbekämpfungs-
wendung der §§ 153 ff. StPO das Opportunitätsprin- gesetz haben Sie, meine Damen und Herren der Re-
zip eine durchaus eingeführte Rechtsfigur im Rah- gierungskoalition, uns die Ausweitung der Kronzeu-
men der Strafverfolgung. Auch die anderen Gegen- genregelung auf Bereiche der „organisierten Krimi-
argumente wie Förderung des Denunziantentums nalität" beschert, wohlwissend, daß diese Regelung
durch die Kronzeugenregelung oder gekaufte Zeu- Ende diesen Jahres auslaufen wird. Und nun, im Ok-
gen greifen im Ergebnis nicht. Die bisher gemachten tober 1995, versuchen Sie, in einer Nacht-und-Ne-
Erfahrungen im Bereich der Terrorismusbekämpfung bel-Aktion eine Verlängerung um weitere vier Jahre
haben dies nicht bestätigt. Auch das gern bemühte durchzupeitschen, weil - man höre und staune - in
Szenario, durch die Kronzeugenregelung kämen dem einen Jahr noch keine ausreichenden Erfahrun-
Mörder und Totschläger unverzüglich in Freiheit, gen mit der Kronzeugenregelung für organisiert be-
entbehrt jeder Grundlage. gangene Straftaten hätten gesammelt werden kön-
Die Bewährung der Kronzeugenregelung in der nen.
Praxis bedarf einer differenzierten Bewertung. So hat Erstaunlich ist überhaupt, mit welcher Geduld die
es im Bereich der Terrorismusbekämpfung zwar we- Bundesregierung darauf wartet, daß sich die Kron-
nige, aber nicht unbeachtliche Aufklärungserfolge zeugenregelung endlich einmal bewährt. Im Juni
bei Anschlägen der RAF gegeben. Man kann auch 1989 wurde diese für terroristische Straftaten als be-
nicht einwenden, dies alles sei Vergangenheit und fristetes Gesetz eingeführt. Nun soll sie bereits zum
inzwischen abgeschlossen, weil die RAF keine An- zweiten Male verlängert werden. Eine im Bereich der
schläge mehr verübt. Gerade die jüngsten Anschläge terroristischen Straftaten mittlerweile sechsjährige
der sog. antiimperialistischen Zellen (AIZ) haben ge- „Erprobungszeit" genügt der Bundesregierung
zeigt, daß die Gefahr terroristischer Anschläge kei- nicht, um „ausreichende Erfahrungen" sammeln zu
neswegs gebannt ist. Wir müssen nach wie vor sehr können.
wachsam sein.
Die Kronzeugenregelung wird im straf- und straf-
Die Kronzeugenregelung im Bereich der organi- verfahrensrechtlichen Schrifttum mit Recht überwie-
sierten Kriminalität ist erst seit gut einem Jahr in gend abgelehnt. Auch die Praxis tut sich schwer mit
Kraft. Nennenswerte und nachhaltige Erkenntnisse ihrer Anwendung. Offenbar benötigt die Regierungs-
der Praxis, die einer vernünftigen Bewertung zu- koalition in dieser Frage jedoch Nachhilfe.
gänglich wären, können noch nicht vorliegen.
Gleichwohl ist einleuchtend, daß es gerade im Be- Jede Vergünstigung für einen Kronzeugen bedeu-
reich der Bandenkriminalität und hier insbesondere tet eine einschneidende Durchbrechung des Legali-
bei der Bekämpfung der Rauschgiftringe unser Ziel tätsprinzips. Sie verletzt den Gleichheitsgrundsatz
sein muß, kriminelle Vereinigungen aufzulösen und und damit das Rechtsstaatsprinzip, indem sie Ver-
die Täter der Bestrafung zuzuführen. Dies gelingt, dächtige von der Strafverfolgung und überführte Tä-
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ter ganz oder teilweise von der Bestrafung ausnimmt. 1992 hat ergeben, daß die Mehrheit der Sachverstän-
Die mit Strafnachlaß erkaufte Denunziation paßt digen gegen die Kronzeugenregelung war. Auch die-
nicht in unsere Rechtskultur und erzielt offenkundig Befürworter konnten damals keine wirklich nachvoll-
auch keine Wirksamkeit. Kommt sie tatsächlich ziehbaren und einigermaßen überzeugenden Erfolge
nachhaltig zur Anwendung, muß geradezu zwangs- der Regelung nachweisen. Dennoch wurde verlän-
läufig der Rechtsstaat Schaden nehmen, weil er vom gert, weil sich in der F.D.P. damals leider nur drei
Prinzip der gleichen Strafe für gleiche Delikte ab- Aufrechte - die Kollegen Hirsch, Koppelin und Lü-
weicht. Bereits mit der Ausdehnung der Kronzeugen- der - fanden, die dem Druck der größeren Regie-
regelung auf den Bereich der organisierten Krimina- rungspartei widerstanden. Das Votum der Sicher-
lität hat sich ihr Ausnahmecharakter immer mehr zur heitsdienste gab den Ausschlag.
angestrebten Normalität in der Strafrechtspflege ent-
wickelt. Würden Sie sich einmal die Mühe machen, Die Erfahrungen, die seit 1992 mit der Kronzeu-
sich anzuschauen, wie solche Aussagen zustande genregelung gemacht wurden, haben das Bild nicht
kommen, würden Sie vielleicht verstehen, wie frag- verändert. Es kann in keiner Weise dargetan werden,
würdig diese sind. daß durch die Regelung schwere Straftaten verhin-
dert oder ihre Aufklärung nennenswert erleichtert
Dem Petitionsausschuß des Deutschen Bundesta- wurden. Es hat keinerlei spektakuläre Ermittlungs-
ges liegt zur Zeit ein Dokument vor, welches das Di- erfolge innerhalb der Terroristenszene im Ergebnis
lemma verdeutlicht. Es handelt sich um den Fall Mo- der Angaben von Kronzeugen gegeben. Die Morde
nika Haas, die der Beteiligung an der Landshut-Ent- an Alfred Herrhausen, Detlef-Karsten Rohwedder
führung von 1977 beschuldigt wird. Die Suche des und Gerold von Braunmühl sind nach wie vor unauf-
Bundeskriminalamtes nach Beweisen war indes bis- geklärt. Die Drucksache 13/2575 behauptet nicht
lang erfolglos geblieben. In dieser Woche wurde be- einmal - was uns ja sonst immer als eine A rt Tot-
kannt, daß die Palästinenserin Soraya Andrawas aus schlagargument angeboten wird -, die Regelung
Norwegen nach Deutschland ausgeliefert werden habe sich bewährt.
soll. Frau Andrawas ist einzige Überlebende des an
der Landshut-Entführung beteiligten Palästinenser Daß die Regelung wiederum nur befristet verlän-
Kommandos. In der Bundesrepublik droht ihr eine gert wird, läßt ja eine gewisse Hoffnung für ihre Ab-
lebenslange Haftstrafe. Ein Ausweg, der ihr von schaffung in der Zukunft. Sie zeigt aber auch das
den Beamten des Bundeskriminalamtes freundlicher- schlechte Gewissen der Initiatoren dieser Verlänge-
weise aufgezeigt wurde: die Anwendung der Kron- rung.
zeugenregelung. Und siehe da: Es fällt Frau Andra- Ich bin gegen die Verlängerung dieser Kronzeu-
was nach und nach das eine oder andere Detail ein, genregelung, nicht nur weil sie uneffektiv ist, nicht
das auf eine Beteiligung von Monika Haas schließen nur weil sie gegen die Gleichheit vor dem Gesetz
läßt und diese letztlich beschuldigt; ausreichend, verstößt, nicht nur weil sie die Wahrheitsfindung er-
Frau Haas seit November letzten Jahres in Unter- schwert, nicht nur weil die Verhältnismäßigkeit zwi-
suchungshaft festzuhalten. schen dem Eingriff in das Legalitätsp rinzip und den
Ergebnissen bei der Bekämpfung schwerer Strafta-
Ich weiß nicht, welche Aussage der Wahrheit ent-
ten nicht gewahrt ist. Ich bin auch dagegen, weil ich
spricht. Ich möchte aber auch nicht in der Situation die Erfahrung gemacht habe, daß es einem Rechtssy-
der Richter sein, die solcherart zustande gekommene
stem und auch einem Staat nicht bekommt, wenn die
Zeugenaussagen mit der Konsequenz Schuld oder
Politiker meinen, der Zweck könne mehr oder weni-
Nichtschuld zu bewe rten haben.
ger die Mittel heiligen.
Aber eines wird deutlich, wenn man die Doku- Wie Sie wissen, hat die politische Führung der
mente studiert: das Dilemma, in das ein Kronzeuge DDR nach dem Prinzip gehandelt, daß der Zweck
gedrängt werden kann, wenn er die Versprechungen viele Mittel heilige, nicht alle Mittel, aber doch man-
der Kronzeugenregelung für sich in Anspruch neh- che. Ich habe damals gegen diese Tendenz ge-
men will, wenn er aber das Gewünschte nicht guten kämpft, weil ich der Meinung war, daß sie letztlich
Gewissens bezeugen kann. diesen Staat untergraben würde. Heute wird dem
Staat DDR dieses oppo rtunistische Verhalten, dieser
Die Kronzeugenregelung kann als Nötigung zu be- Versuch, sich durch die Preisgabe auch von Rechts-
nötigten Aussagen benutzt werden. Ein derartiges prinzipien vor dem Untergang zu retten, von vielen
Instrument ist unserer Rechtsordnung nicht würdig. auch in diesem Hause vorgeworfen. Inzwischen
Bereits die generell geltenden Strafmilderungsmög- neige ich zu der Ansicht, daß alle Staaten und ihre
lichkeiten reichen aus, um eine Kronzeugenregelung regierenden Politiker von dera rtigen Versuchungen
zu erübrigen. Ich fordere Sie daher auf: Lassen Sie angekränkelt sind. Ich meine jedoch, daß die Bun-
die Finger von der Verlängerung der Kronzeugenre- desrepublik Deutschland noch so stark ist, daß sie
gelung! solchen Anwandlungen nicht erliegen sollte. Ich
wünsche der Bundesjustizministerin Kraft, weiteren
Versuchungen zu widerstehen.
Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Wir wohnen heute der
Wiederholung der Wiederholung einer Debatte aus Wir sollten diese Regelung mit dem Jahresende
dem Jahre 1986 zu einem Thema bei, zu dem eigent- 1995 auslaufen lassen, das Legalitätsp rinzip stärken
lich alle Argumente längst ausgetauscht sind. Die und nicht schwächen und damit dem Rechtsstaat
Anhörung bei der ersten Verlängerung im Jahre einen Dienst erweisen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995 5345*

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Bundesmi- chen Bedenken abwäge, dann halte ich eine Verlän-
nisterin der Justiz): Trotz schwerwiegender und be- gerung der Kronzeugenregelung bei terroristischen
rechtigter rechtsstaatlicher Bedenken und gegen ein- Taten, die jetzt vorgeschlagen wird, für äußerst pro-
dringliche und öffentliche Warnung fast der gesam- blematisch. Um es in den Worten des damaligen Bun-
ten Fachwelt wurde die Kronzeugenregelung für ter- desinnenministers zu sagen: Die Chance - zwischen-
roristische Straftaten im Jahre 1989 eingeführt. Es zeitlich sogar verlängert - hat sich nicht realisie rt . Im
sollte kein Versuch ungenutzt bleiben, die Hand- Interesse der Glaubwürdigkeit des Gesetzgebers, vor
lungsfähigkeit der Terroristen einzuengen. Dieses allem aber um rechtsstaatliche Grundsätze wieder-
Ziel sollte in erster Linie erreicht werden durch Ge- herzustellen, wäre es konsequenter, diese Regelung
genleistungen für Angaben, die zur Verhinderung nach einer ausreichend langen - über sechsjährigen -
künftiger terroristisicher Straftaten beitragen. Es Anwendungszeit auslaufen zu lassen und keine er-
ging um die Abwendung schwerer Gefahren für neute Verlängerung mehr vorzunehmen.
höchste Rechtsgüter. In Anbetracht der von Angehö-
rigen terroristischer Vereinigungen begangenen Ver- Für die Kronzeugenregelung bei organisiert be-
brechen und der sich daraus ergebenden besonderen gangenen Straftaten, die durch das Verbrechensbe-
Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik kämpfungsgesetz vom 28. Oktober 1994 erst einge-
Deutschland und vor dem aktuellen Hintergrund ei- führt worden ist, stellt sich die Sachlage anders dar.
nes Anschlages auf den damaligen Finanz-Staatsse- Im Hinblick auf die kurze Zeit, die seit dem Inkraft-
kretär Tietmeyer wog der gesetzgeberische Hand- treten dieser Regelung am 1. Dezember 1994 verstri-
lungsbedarf schwerer als die gegen die Kronzeugen- chen ist, kann eine Aussage über ihre Wirksamkeit
regelung vorgebrachten Vorbehalte. noch nicht gemacht werden. Dafür ist eine längere
Erprobungszeit notwendig. Denn im Bereich der or-
Der damalige Bundesminister des Innern ganisiert begangenen Delikte, die entscheidend auf
Dr. Zimmermann hat das hier im Bundestag am Gewinnstreben ausgerichtet sind und nicht auf politi-
23. September 1988 für sich so zusammengefaßt: schen Überzeugungen beruhen, könnte eine restrik-
tiv angewandte Kronzeugenregelung vielleicht an-
Ich war von Anfang an durchaus kein überzeug- dere Erfolge bringen als im Terrorismus. Deshalb ist
ter Anhänger der Kronzeugenregelung. Ich habe hier aus meiner Sicht eine einmalige Verlängerung
mich an dieses internationale Instrument ... her- um vier Jahre gerechtfertigt.
anarbeiten müssen, aber ich bin heute davon
überzeugt, daß die Motive, die die Bundesregie-
rung leiten . . ., eine Chance geben, auch in der
zeitlichen Befristung, nicht mehr und nicht weni-
ger. Anlage 5
Die gegen die Kronzeugenregelung damals gel-
tend gemachten rechtsstaatlichen Bedenken be- Erklärung
stehen unverände rt fort. Wer heute die Kronzeugen- des Abgeordneten Kersten Wetzel (CDU/CSU)
regelung für terroristische Straftaten wieder um vier zur namentlichen Abstimmung
Jahre auf insgesamt zehn Jahre verlängern will, muß zum Entschließungsantrag der Fraktion
sich erst recht mit diesen rechtsstaatlichen Bedenken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
auseinandersetzen: Die Kronzeugenregelung stellt zum Antrag der Bundesregierung
die massivste Durchbrechung des Legalitätsprinzips (Drucksache 13/1828)
dar; sie berührt das Rechtsstaatsprinzip und den in der 48. Sitzung am 30. Juni 1995
Gleichheitsgrundsatz, indem sie schwerste Strafta-
tenverdächtige und überführte Täter von der Bestra- Ich erkläre, daß ich an der namentlichen Abstim-
fung ausnimmt; die Kronzeugenregelung führt zu ei-
mung teilgenommen und mit Nein gestimmt habe.
nem Zusammenwirken des Staates mit Schwerstkri-
minelllen und kann durch die unterschiedliche Be-
handlung von Tätern das Rechtsbewußtsein der Be-
völkerung gefährden.
Diesen Bedenken stehen nunmehr sechs Jahre Er- Anlage 6
fahrung gegenüber. Verfahren gegen zwei ehema-
lige PKK-Funktionäre im Bereich des Ausländerter- Amtliche Mitteilungen
rorismus sowie einige Anwendungsfälle in Strafver- Der Bundesrat hat in seiner 688. Sitzung am 22. Septem-
fahren gegen RAF-Aussteiger, die zuletzt in der ehe- ber 1995 der vom Deutschen Bundestag am 5. September 1995
maligen DDR gelebt hatten und sich bereits seit Jah- beschlossenen unveränderten Weitergeltung der
ren von der RAF gelöst hatten, bilden keine überzeu- 1. Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuß in der
gende Bilanz. Die damals in erster Linie verfolgten Fassung der Bekanntmachung vom 23. Juli 1969 (BGBl. I
Ziele haben sich nicht erreichen lassen. Durch die S. 1102), zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom
20. Juli 1993 (BGBl. I S. 1500), gemäß Artikel 53a Abs. 1
Aussagen eines Kronzeugen sind keine terroristi- Satz 4 des Grundgesetzes,
schen Gewalttaten verhindert und RAF-Straftäter
weder festgenommen noch zum Ausstieg aus dem 2. Geschäftsordnung für das Verfahren nach Artikel 115d des
Terrorismus veranlaßt worden. Grundgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom
23. Juli 1969 (BGBl. I S. 1100), gemäß Artikel 115d Abs. 2
Wenn ich diese Erfahrungen mit der Kronzeugen- Satz 4 des Grundgesetzes
regelung für terroristische Straftaten mit den erhebli- zugestimmt.
5346* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 62. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Oktober 1995

Der Wahlausschuß des Deutschen Bundestages hat in seiner Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitge-
1. Sitzung am 27. September 1995 Prof. Dr. Udo Steiner, Univer- teilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EU-Vorlagen bzw.
sität Regensburg, als Nachfolger für Bundesverfassungsrichter Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zu Kenntnis
Prof. Dr. Alfred Söllner in den Ersten Senat gewählt. Ferner genommen oder von einer Beratung abgesehen hat:
wurde als Nachfolger für den Vizepräsidenten des Bundesver-
fassungsgerichts, Prof. Dr. Johann F riedrich Henschel (Erster Finanzausschuß
Senat), Bundesverfassungsrichter Dr. Otto Seidl (Erster Senat) Drucksache 13/1096 Nr. 2.9
gewählt. Drucksache 13/1098
Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß Ausschuß für Wirtschaft
der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung
von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen Drucksache 13/725 Nr. 97
absieht: Drucksache 13/1338 Nr. 2.4

Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-


heit
Drucksachen 13/327, 13/774 Nr. 1
Drucksachen 13/335, 13/1438 Nr. 1 Drucksache 13/2306 Nr. 2.34
Drucksachen 13/815, 13/1438 Nr. 2
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech-
Ausschuß für Wirtschaft nologie und Technikfolgenabschätzung
Drucksachen 12/8323, 12/8324, 13/725 Nr. 91, 13/1594, Drucksache 13/1338 Nr. 2.20
13/1899 Nr. 1 Drucksache 13/1614 Nr. 2.6

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