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2017
Deutschland €4,90
Printed in
Germany
Aufwachen!
Spanien/Kanaren € 6,50
Spanien € 6,30
K
ein Personenschutz, keine Ängst-
lichkeit: Der Schriftsteller Sal-
man Rushdie wirkte ganz und gar
frei, als Volker Weidermann ihn für
ein Gespräch über seinen neuen
Roman in New York besuchte. Vor
CHAD BATKA / DER SPIEGEL
Titel Medien
Bundestagswahl Der ungleiche Fernsehen SPIEGEL-Gespräch mit TV-
Kampf zwischen Merkel und Schulz Moderator Klaas Heufer-Umlauf
um das Kanzleramt 10 über sein Interesse an Politik und die
Sexualität 118
Wirtschaft Dissidenten Der Künstler Ai Weiwei und
Weitere 500 Millionen Euro für saubere der Schriftsteller Liao Yiwu führen
Luft / Zeitplan für Air-Berlin-Übernahme / einen öffentlichen Meinungskrieg um
Export von Kleinwaffen boomt 58 den toten Nobelpreisträger Liu Xiaobo 120
Gleichstellung Nach einer Trennung sind Filmkritik Dave Eggers’ „The Circle“
viele Väter hilflos, sie müssen für ihre kommt ins Kino 122
Kinder zahlen, haben aber geringe Chancen Salman Rushdie
auf gleichberechtigte Betreuung 60
Interview mit Bundesfamilienministerin Bestseller 114 Der weltberühmte Schrift-
Katarina Barley, die auch Politik für Väter Impressum, Leserservice 124 steller nimmt es mit Trump
machen will 64 Nachrufe 125 auf: In seinem neuen Roman
Dieselaffäre Cayenne-Geländewagen Personalien 126 „Golden House“ erzählt
von Porsche werden trotz des Zulassungs-
verbots weiter verkauft 68 Briefe 128 er von einem schillernden US-
Unternehmensfinanzierung Virtuelle Hohlspiegel / Rückspiegel 130 Präsidenten. Ein SPIEGEL-
Währungen verhelfen immer mehr Start-ups Gespräch und ein Vorabdruck
zum notwendigen Anfangskapital 70 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ aus dem Buch. Seiten 110, 116
Leitartikel
Das Ungetüm
Das Kooperationsverbot dient in der Bildungspolitik oft als Ausrede – weg damit!
E
ine Naturkatastrophe würde helfen, das ist klar. Bei der Reform ging es damals auch darum, den Föde-
Ebenso nützlich wäre es, wenn ein Atomkraftwerk ralismus, einen wachsenden Wirrwarr, zu entflechten. Es
explodierte und gleichzeitig die deutschen Banken soll klarer sein, wer zuständig ist, und wer zuständig ist,
pleitegingen. Auch bei einem Angriff Außerirdischer wäre muss auch zahlen. Ausgabe folgt Aufgabe, das ist eigent-
die Rechtslage eindeutig: Sollten die Eindringlinge das lich ein richtiges Prinzip. Nur ist die Bildung möglicher-
Land in Notsituationen stürzen, „die sich der Kontrolle weise das falsche Feld in einem föderalen Gebilde, um es
des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage er- noch den Gliedstaaten zu überlassen. Wer es dennoch tut,
heblich beeinträchtigen“ – schon dürfte der Bund die Schu- muss dafür sorgen und darauf vertrauen, dass jedes Land
len in Deutschland unterstützen. genug Geld dafür hat – und es auch dafür ausgibt.
So steht es seit wenigen Jahren im Grundgesetz, Artikel Im Kleinen hat sich meist doch eine Lösung gefunden.
104b, ein wenig flexibel ist der deutsche Bildungsfödera- Es dauerte nach der Föderalismusreform kaum ein Jahr,
lismus dann doch. In anderen Artikeln aber steht der bis die Politiker versuchten, einen Umweg zu finden (für
Grundsatz, in und zwischen den Zeilen: Bildung ist Län- Kitas), und bis heute sind viele Tricksereien und Ausnah-
dersache, der Bund hat an den Schulen nichts zu suchen. meregeln hinzugekommen (für die Exzellenzinitiative
Angela Merkel mag vor neun oder die Hochschullehre). Wo
Jahren die „Bildungsrepublik ein Wille war, war auch ein
Deutschland“ ausgerufen ha- Weg. Und wo bislang kein
ben, aber die deutschen Klas- Weg ist wie beim Digitalpakt
senzimmer sind für die Kanz- für Schulen, liegt es nicht in
lerin und ihr Kabinett tabu. erster Linie am Grundgesetz.
Dabei verrotten zu viele Das Kooperationsverbot ist
Schulen, zu viele Unterrichts- lästig, aber nicht so schädlich,
stunden fallen aus. Viele Bil- wie viele behaupten.
dungseinrichtungen sind eines Im Großen muss trotzdem
reichen Landes wie Deutsch- eine Lösung her, denn im Mo-
lands unwürdig. Es müssten ment läuft es zu oft nach dem-
mehr Lehrer eingestellt, Ganz- selben Muster. Die Länder sa-
BENNE OCHS / PLAINPICTURE/FSTOP/BENNE OCHS
Wir Eingelullten
Mein Ressortleiter hat
mich daran erinnert,
Das Eigenartige an der Sache ist, dass
es vor zwei Jahren noch genau anders-
Stilikone
dass ich diese Woche herum war. Dieselben Leute, die jetzt eine So gesehen Melania Trump
mit der Kolumne an gefährliche Schläfrigkeit diagnostizieren, setzt neue Maßstäbe beim
der Reihe bin. Ich sorgten sich vor einem zweiten Weimar. Katastrophentourismus.
habe es ihm nicht zu Wenn man ihren Texten glauben durfte,
sagen gewagt, aber war der Moment nicht mehr fern, wo Zwölf Zentimeter hohe Ab-
ich hatte es komplett das Land an seiner Aufgeregtheit kollabie- sätze, dünne Sohle, schwar-
vergessen. Mir fiel auch ren würde. Wenn ich mich zwischen zes Schlangenleder. Melania
nichts ein, was ich hätte schreiben sollen. einem Kollaps wegen Empörung und Trump sah fantastisch aus,
Mein Hirn war wie leer gefegt. So sehr ich einem Kollaps wegen Müdigkeit entschei- als sie sich am Dienstag auf
über eine Idee nachsann, sie wollte sich den müsste, wäre mir die Müdigkeit viel- den Weg machte, um den Op-
einfach nicht einstellen. leicht sogar lieber. fern der Flutkatastrophe in
Ich habe schon überlegt, ob mit mir et- Glücklicherweise hat die große Schläfrig- Texas beizustöckeln. Dass sie
was nicht stimmen würde, bis mir einfiel, keit noch nicht alle Ecken unseres Landes bereits auf dem Rasen des
dass mein Kollege Nils Minkmar berichtet erreicht. Man muss Angela Merkel nur in Weißen Hauses Mühe hatte,
hat, dass es den Künstlern und Intellektuel- den Osten nach Bitterfeld oder Annaberg- mit ihren Stilettos nicht im
len nicht besser ergehe. Wohin man blicke, Buchholz begleiten, um Menschen zu se- Matsch zu versinken – ge-
Ödnis und Leere in der deutschen Kultur- hen, die sich die Lunge aus dem Hals schenkt. Die Modezeitschrift
landschaft, und das trotz der Millionen, die schreien und wie wild Plakate schwenken. „Vogue“ äußerte zwar Zwei-
an Subventionen fließen. Minkmar führt Keine Ahnung, was die Leute so aufbringt, fel an der Auswahl des
die Ideenlosigkeit auf die Erschöpfung dass sie alle Contenance verlieren, aber Schuhwerks, aber Journalis-
nach zwölf Jahren Merkel zurück. Künstler man kann jedenfalls nicht sagen, dass sie ten sind ja eh oft Spielverder-
sind die Kanarienvögel einer freien Gesell- müde oder eingelullt seien. Mich würde in- ber. Mit den Stilettos kombi-
schaft: Wenn sie den Kopf hängen lassen, teressieren, was sie dort so immun gegen nierte Melania eine übergro-
weiß man, was die Stunde geschlagen hat. jede Narkose macht. Hängt es mit der Er- ße Pilotensonnenbrille.
Ich glaube, ich bin ein Opfer der Merkel- nährung zusammen, oder liegt es an den Accessoires sind immens
Müdigkeit. Dass die Kanzlerin das Land se- Aluhüten, die sie im Erzgebirge tragen, um wichtig, weshalb sich Stiliko-
diere, ist ein Befund, zu dem nicht nur sich vor den Chemtrails zu schützen? nen weder vom grau verhan-
Minkmar kommt. An anderer Stelle wurde Ich habe beschlossen, diese Kolumne genen Himmel über Wa-
die Kanzlerin mit einer Narkoseärztin ver- bis zum 24. September, dem Tag, an dem shington vom Tragen abhal-
glichen, die ganz Deutschland in ein Martin Schulz zum Kanzler gewählt ten lassen sollten noch
Schlaflabor verwandele. Ich habe darüber wird, einzustellen. Erst wenn der Merkel- durch die Wetteraussichten
gelächelt, als ich das las. Jetzt weiß ich, Bann von Deutschland abfällt und wir für Texas: Starkregen und
wie es sich anfühlt, wenn man zu den Ein- endlich wieder frei denken können, begebe Sturm. Auch vom Feministin-
gelullten gehört. Noch mal vier Jahre Mer- ich mich zurück ans Werk. nen-Spott, man sehe aus wie
kel, und wir werden uns nicht einmal mehr Barbie im Katastrophenge-
daran erinnern können, dass es jemals eine An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, biet, darf man sich nicht ver-
Partei namens SPD gegeben hat. Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. unsichern lassen. Auf Twitter
wurde Melania von männ-
lichen Nutzern völlig korrekt
als „hot“ gepriesen. Mehr
Kittihawk Triumph geht heutzutage
nicht – erst recht nicht als
Donald Trumps Ehefrau.
Als das Präsidentenpaar in
Texas das Flugzeug verließ,
hatte Melania ihre Stilettos
gegen fabrikneue Turnschu-
he getauscht und den Kragen
ihrer blütenweißen Bluse
unternehmungslustig hoch-
geschlagen. Menschen,
die ihren gesamten Besitz
verloren haben, könnten es
zwar als stillos empfinden,
wenn die Naturkatastrophe
genutzt wird, um zwei neue
Looks zu präsentieren. Aber
als Stilikone kann man
es nicht allen recht machen.
Claudia Voigt
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Wahlkämpfer Schulz am 8. August in Landsberg: „Können Sie auch virtuelle Wahlsiege programmieren?“
wurde.
Aber Schulz will bei den Frauen an die-
sem Abend im März nichts falsch machen.
Noch läuft der Hype, und der Hype ist
wie ein gefräßiges Tier, er will gefüttert
werden. Wenn er erst einmal Bundeskanz-
ler sei, sagt er zum Schluss, werde die
Hälfte der SPD-Ministerien mit Frauen
besetzt sein. Riesenjubel, schon wieder
hat die SPD etwas versprochen, das es so
noch nie seit dem Beginn des Wahljahres
gegeben hat.
D
ie Bühne ist bereitet für den Star- „Ich begrüße den George Clooney der Deutschland hat eine Fahrt in der Ach-
gast des Tages. Mitten im Atrium SPD!“ terbahn hinter sich. Anfang des Jahres sah
des Willy-Brandt-Hauses steht eine Unter dem Jubel des Publikums betritt es so aus, als seien die Wähler der Kanzle-
Sitzgruppe aus hellgrauem Velourleder. ein Mann mit einer rechteckigen Brille die rin überdrüssig, die Umfragen zeigten, dass
Die Damen haben schon Platz genommen. Bühne, er trägt einen grauen Kranz um sei- es einen Machtwechsel geben könnte und
Jasmin Tabatabai ist gekommen, die ne Glatze und eine gestreifte Krawatte, die Merkel nicht in die Fußstapfen von Helmut
Schauspielerin, die Schriftstellerin Hatice keinen größeren modischen Eifer erkennen Kohl treten würde, der das Land 16 Jahre
Akyün, auch Katarina Barley, die Gene- lässt. Dem Gast ist alles etwas peinlich. Er lang regierte. Nun gibt es in der SPD schon
ralsekretärin der SPD. blinzelt ins Licht, winkt scheu ins Publikum. Planspiele für eine Zeit ohne Schulz.
Der Platz in der Mitte ist noch frei, Dann setzt er sich hin, kreuzt die Beine Noch ist nichts entschieden, am Sonntag
Barley greift zu einem Mikrofon und sagt: übereinander und legt die Hände aufs Knie. findet das einzige TV-Duell zwischen der
Kanzlerin und ihrem Herausforderer statt, führt, wie sich nun zeigt, eine manisch-de- rüttelt. Die Kandidatur von Schulz war
Schulz setzt all seine Hoffnungen darauf. pressive Partei, wahrscheinlich fährt er des- auch ein Produkt des Zufalls.
Dennoch stellt sich die Frage, wie Schulz halb nach Kösching. Der kleine Ort wird Wahrscheinlich wäre alles anders ge-
so rasend schnell aufsteigen und dann wie- von der SPD regiert, es ist eine rote Insel kommen, wenn Frank-Walter Steinmeier
der fallen konnte. Und warum Merkel sich mitten im schwarzen Oberbayern. In Kö- nicht so gedrängelt hätte. Lange sah es so
wieder berappelte, obwohl sie im Januar sching sind noch Wunder möglich. Es ist aus, als könne Merkel die Ansprüche ihres
so zermürbt aussah, als bäte sie selbst um das Lourdes der SPD. Außenministers auf das Amt des Bundes-
Erlösung vom Amt. Bürgermeisterin Andrea Ernhofer hat präsidenten erfolgreich ignorieren, aber
Es geht aber auch um den Zustand eines Schulz das Gästebuch der Stadt mitge- als Anfang November alle präsentablen
zerrissenen Landes. Es heißt, der Wahl- bracht, in dem eine Autogrammkarte von Kandidaten der Union ausgefallen waren,
kampf sei öde, aber das ist nur eine Per- Gerhard Schröder klebt. „Mit Kösching ist blieb ihr nichts anderes übrig, als Stein-
spektive. Im Land gärt es, es wird ge- der erste Schritt ins Kanzleramt getan“, meier mitzutragen.
schrien und gehasst, und das liegt auch da- sagt Schulz bei seiner Rede auf dem Markt- Kurz darauf meldete sich die Kanzlerin
ran, dass sich die beiden Kandidaten, bei platz, die er vor 50 Sozialdemokraten und bei Sigmar Gabriel und sagte, es tue ihr
allem Streit, so nahe sind. zwei Sonnenschirmen hält. leid. Aber sie könne nicht den einen Sozi
Im Bus auf dem Weg nach München zum Bundespräsidenten machen und dem
ZWEI REICHE stellen Journalisten die eine furchtbare Fra- anderen die Amtszeit in Brüssel verlän-
Es hat alles etwas länger gedauert an die- ge, die nun jeden Tag kommt: gern. So wird es in der SPD erzählt.
sem heißen Freitag Anfang Juli, an dem Ist nicht schon alles gelaufen? Für Schulz war das Amt des europäi-
Kanzlerin Merkel die Mächtigen der Welt Schulz will nicht wirken wie Peer Stein- schen Parlamentspräsidenten das Dach sei-
zum G-20-Gipfel nach Hamburg geladen brück, der 2013 zum Schluss alle Hoffnung ner Karriere. Als junger Mann hätte er nie
hat. Die Wagenkolonnen, die Chaoten, hatte fahren lassen und sich mit einem gedacht, dass er es jemals so weit bringen
aber nun tut sich endlich etwas in der Eh- ausgestreckten Mittelfinger fotografieren würde. Schulz hätte sich mit Anfang zwan-
renloge der Elbphilharmonie, die Sicher- ließ. zig fast das Leben genommen, weil er nicht
heitsleute nehmen Haltung an. Brigitte Ma- Der Wahlkampf habe doch noch gar vom Alkohol lassen konnte. Sein Bruder
cron kommt als Erste, sie steckt in einem nicht begonnen, sagt Schulz. Seine Rech- Erwin, ein Arzt, vermittelte ihm eine The-
Hosenanzug, der sitzt, als hätte man sie nung geht so: Mehr als die Hälfte der Bür- rapie. Schulz schwor dem Schnaps ab und
reingegossen. Es folgt Melania Trump, sie ger seien noch unentschlossen, und die begann eine stete, wenn auch unspektaku-
trägt ein weißes Kleid mit tausend Fransen, Partei sei motiviert wie nie. läre Karriere. Mit 31 wurde er Bürgermeis-
die flattern wie eine Gardine im Wind. Do- Aber wie Steinbrück hat Schulz manch- ter seiner Heimatstadt Würselen. Kampf-
nald Trump winkt. Er erntet dünnen Bei- mal auch ein loses Mundwerk, er produ- los. „Von den anderen Fraktionen wurde
fall. ziert nicht wie Merkel Sätze, die glatt sind kein Gegenkandidat benannt“, heißt es im
Schließlich Auftritt Merkel, graue, zer- wie Kieselsteine. In München hält Schulz’ Ratsprotokoll. Sieben Jahre später zog
knitterte Hose, dazu ein Blazer in grellem Bus vor einem Haus aus Glas. Er besucht Schulz ins EU-Parlament ein, wo er über
Rosa, hinter ihr der übellaunige Joachim die Firma Time in the Box, sie program- 20 Jahre lang Abgeordneter war.
Sauer. Ein deutsches Paar. Nun passiert miert digitale Zeitreisen. Gerade sei man In Schulz steckt ein großes Harmonie-
das Unglaubliche. Der Applaus der besse- dabei, die erste Autofahrt von Bertha Benz bedürfnis, und das liegt unter anderem da-
ren Hamburger Gesellschaft schwillt an, Ende des 19. Jahrhunderts nachzustellen, ran, dass er im speziellen Biotop der Brüs-
als wäre Mahatma Gandhi auferstanden sagt der Geschäftsführer. seler Politik groß geworden ist. Natürlich
und habe die Loge betreten, Jubelschreie „Können Sie auch virtuelle Wahlsiege hatte er dort Feinde, die Rechtsextremen
sind zu hören, es ist ein Ausbruch sponta- programmieren?“, fragt Schulz. Er lacht, vom französischen Front National oder
ner Begeisterung. aber es klingt wie: „Ich will nach Hause.“ den britischen Ukip-Populisten Nigel Fa-
Merkel lächelt huldvoll, sie ist es gewohnt, Die Stifte der desasterhungrigen Repor- rage, der ebenso schändliche wie eloquen-
verehrt zu werden. Sie hat es geschafft, sich ter gleiten übers Papier, Schulz sieht sofort, te Schmähreden auf den Deutschen hielt.
von der Politik zu lösen, in diesem Moment was er angerichtet hat. Aber in Brüssel gibt es auch die große
ist sie irgendetwas zwischen Gandhi und Virtuelle Wahlsiege programmieren! Gemeinde der Wohlgesinnten, die keine
der Queen. Was noch fehlt, ist der Friedens- Parteien kennen, sondern nur die große
nobelpreis. Draußen brennen die Barrika- MACHT Idee Europas. Der Konservative Jean-
den, aber sie hat damit nichts zu tun. Die Frage ist, warum sich alles so schnell Claude Juncker und der linke Schulz
Das ist die Lage Anfang Juli. Am Mon- drehen konnte. Bei Wahlkämpfen geht es waren die Vorsitzenden dieser Gemeinde.
tag nach dem G-20-Gipfel hält Schulz’ Wa- um die Sache, aber es geht immer auch Schulz organisierte für den Kommissions-
genkolonne in Kösching, einer kleinen darum, ob man ein Amt unbedingt will. chef die Mehrheiten im Parlament, er be-
Marktgemeinde bei Ingolstadt. Es waren Gerhard Schröder hat angeblich als jun- kam dafür Einfluss auf Entscheidungen
schlimme Wochen für den Kandidaten, das ger Mann am Zaun des Kanzleramts ge- der Kommission. In Brüssel lernte Schulz,
Triptychon des Schreckens liegt schon hin- dass Politik ein ständiges Geben und Neh-
ter ihm, die Wahlpleiten im Saarland, in men ist, ein Dienst unter Freunden.
Schleswig-Holstein und NRW, nun steht Kaum ein Wort verwendet Schulz öfter.
in der Zeitung, dass Sozialdemokraten Juncker ist ein „Freund“, auch der ehe-
nichts von Sicherheit verstünden. Olaf malige französische Präsident François
Scholz, der Hamburger Bürgermeister, hat- Hollande, sein Nachfolger Emmanuel
te versprochen, dass der Gipfel sicher sein In Brüssel lernte Martin Macron und natürlich Sigmar Gabriel, von
werde, und ihn mit dem Hafengeburtstag Schulz, dass Politik dem er den SPD-Parteivorsitz geerbt hat:
verglichen. Merkel hat, wie immer, schlau- Freunde.
erweise gar nichts versprochen.
ein ständiges Geben und Merkel hat so gut wie keine Freunde in
In der SPD ist davon die Rede, dass nur Nehmen ist. der Politik, sie ist gut damit gefahren, im-
ein Wunder Schulz noch retten könne. Er mer alle auf Distanz zu halten. Sie ist im
CDU-Chefin Merkel am 25. August in Bad Kissingen: Kohl, Merz, Koch – sie hat schon so viele hinter sich gelassen
Gegensatz zu Schulz sehr sparsam mit dem durchtriebenen Koch, den jähzornigen zuletzt ließ er durchblicken, dass er eigent-
Du, im Zweifel, das hat sie gelernt, hat es Merz. Sie ist unendlich kontrolliert, nur lich keine Koalition mit der Union mehr
nichts zu bedeuten. Seit Jahren nennt sie manchmal gönnt sie sich, als Belohnung will.
den CSU-Chef „Horst“, doch das hat für all die Disziplin, ein Quäntchen Scha- Schulz regte sich darüber auf. Wenn je-
nichts daran geändert, dass Seehofer ihr denfreude. mand eine solche Festlegung trifft, dann
an einem Tag an die Gurgel geht und sie Seit Schulz in Berlin ist, funktioniert die der Parteichef, das ist seine Meinung.
am nächsten in den Himmel lobt. alte Methode des Gebens und Nehmens Aber öffentlich wies Schulz Gabriel nicht
Sie hat schon alles erlebt, einen Seeho- nicht mehr. Er müsste härter sein, aber das zurecht, er rief ihn nur an und hielt ihm
fer, der sie auf der Bühne eines CSU-Par- entspricht nicht seiner Natur. Schon der eine Standpauke. Schulz hat inzwischen
teitags herunterputzt wie ein Schulmäd- Weg zur Kanzlerkandidatur war deshalb einen erbarmungslosen Blick auf die Ära
chen und der dann, bei der Vorstellung quälend. Schulz ließ früh durchblicken, seines Vorgängers. Laut sagt er das nicht,
des Programms für die Bundestagswahl dass er sich das Amt zutraut, aber seinem dafür ist ihm der Frieden in der SPD zu
Anfang Juli, sagt, er habe blindes Vertrau- Freund Gabriel das Messer in den Rücken wichtig.
en in die Bundeskanzlerin. rammen, das wollte er nicht. Alles sollte Gerhard Schröder hat in Hannover eine
Merkel, die an diesem schönen Sommer- ganz sanft verlaufen, Gabriel sollte ver- schöne Anwaltskanzlei im Zooviertel, an
tag neben Seehofer im Adenauer-Haus zichten und dafür mit einem schönen Pos- der Wand hängen Bilder der Kanzler, der
steht, kann da nur noch ironisch die Au- ten belohnt werden. letzte von der SPD war natürlich er selbst.
genbrauen heben. Man sieht, wie es in ih- Doch Gabriel zögerte und zauderte, Schröder will Schulz keine öffentlichen
rem Kopf arbeitet, soll sie nun wirklich sa- und bald konnten die Freunde nicht mehr Ratschläge erteilen, aber er findet, dass
gen, dass sie blindes Vertrauen in einen offen sprechen. Ende des Jahres rief Ga- man im Wahlkampf nicht allzu zimperlich
Mann hat, der ihr in der Flüchtlingskrise briel seinen Staatssekretär Matthias Mach- sein darf. Merkels offene Flanke sind in
das Leben zur Hölle gemacht hat? nig an und bat ihn, eine Rede zu schreiben, Schröders Augen die Flüchtlinge, die sie
Sie will auf eine offenkundige Lüge mit der er seinen Verzicht begründen im Jahr 2015 ins Land gelassen hat. Er hat
nicht auch noch die nächste setzen, aber könnte. Aber er schärfte Machnig ein, mit dafür einen bösen, aber genialen Spruch
einen Eklat mag sie auch nicht produzie- niemandem zu sprechen, schon gar nicht erfunden. Merkel, so sagte er, habe ein
ren. Das laufe ja nicht „nach dem Motto, mit Schulz. Herz, aber keinen Plan. Man hätte den
ein blindes Huhn findet auch mal ein Das Misstrauen zwischen Schulz und Spruch sofort auf ein Wahlplakat drucken
Korn“, sagt sie schließlich. Es ist ein Satz, Gabriel überschattet nun den Wahlkampf. können.
der in seiner unsagbaren Verworrenheit Über Wochen bestimmte der Außenminis- Wenn man mit Schröder in seinem Büro
alle Interpretationen zulässt. ter die Schlagzeilen, er brachte nach den redet, das immer etwas nach schwerem
Freundschaft in der Politik? Sie hat G-20-Krawallen den Rücktritt Merkels ins Rauch riecht, kommt er beim Sinnieren
schon zu viele hinter sich gelassen, um Gespräch, um das mediale Feuer von der über Martin Schulz irgendwann beim ehe-
noch an solche Märchen zu glauben: Kohl SPD auf die Kanzlerin zu lenken, er warn- maligen Parteichef Björn Engholm an. Der
in seiner ganzen Überheblichkeit, den te die Deutschen vor Reisen in die Türkei, begründete seine Kanzlerkandidatur mit
den Worten: „Wat mutt, dat mutt.“ Schrö- Frevel. Als das „Handelsblatt“ Merkel auf Schröder im SPD-Präsidium. „Wer die SPD
der kann sich darüber immer noch krin- offener Bühne interviewte, fiel Herausge- mit einem Kasernenhof verwechselt, der
geln. Ein Kandidat, der so tut, als müsse ber Gabor Steingart Merkel am Ende um braucht sich über 30 000 Deserteure nicht
er einen Dienst an der Partei leisten? Der den Hals. zu wundern“, brüllte Schulz damals dem
nicht bereit ist, jede Finte zu nutzen, um Schulz ärgerte sich furchtbar, als die Kanzler entgegen.
das Kanzleramt zu erobern? Zu komisch, Union Olaf Scholz nach den G-20-Krawal- Als er antrat, war Schulz überzeugt, dass
findet der Altkanzler. len angriff. Für ihn war es der Beleg für er zuerst die Partei einen müsse. Er hatte
den unglaublich perfiden Wahlkampf des die Fehler von Schröder und Gabriel ana-
HÄRTE Kanzleramts. Schulz hat eine Art innere lysiert und war zu dem Ergebnis gekom-
An einem Sonntag Mitte Juni sitzt Schulz Landkriegsordnung für den Wahlkampf men, dass es am wichtigsten sei, die Partei
auf der Bühne des Berliner Ensembles (BE) entworfen: keine persönlichen Verleum- geschlossen hinter sich zu haben.
am Schiffbauerdamm und stellt sein neues dungen. Kein Nachtreten, kein Herabwür- Deshalb hat er Schluss gemacht mit der
Buch vor. Die Umfragen der SPD sind wie- digen von Schwäche, nichts Ehrverletzen- Basta-Politik. Er will nicht mehr topdown
der ungefähr dort angekommen, wo sie des. „Wenn ich damit untergehe, gehe ich führen, nicht autoritär, mit Drohungen.
unter Gabriel waren. „Ich habe oft harte damit unter.“ Seine Botschaft ist: Verliere Die Partei soll ihm aus Überzeugung fol-
Tage, wenn ich die Zeitung aufschlage“, ich, dann war ich zu gut für die böse gen, nicht auf Befehl. „Ich habe einen an-
sagt Schulz auf der Bühne. Politik. deren Stil“, sagt Schulz. Er weiß, dass ihm
Er fühlt sich von den Medien unfair be- Aber stimmt das wirklich? Wenn man das inzwischen als Nachgiebigkeit ausge-
handelt, er werde viel kritischer beurteilt, Schulz fragt, was in seinem Wahlkampf legt wird.
viel schärfer angegriffen als Merkel. Schulz schiefgelaufen sei, dann fällt der Name Schulz hat die SPD nie nur als Vehikel
hält sich nicht für zimperlich, aber so hart Hannelore Kraft. Er hätte sich nie und nim- für seinen Aufstieg gesehen, so wie Schrö-
hat er es sich nicht vorgestellt. mer auf die Forderung der nordrhein-west- der und Merkel. Deren Programm hieß im-
Er werde als „Schulden-Schulz“ und fälischen Ministerpräsidentin einlassen dür- mer nur „ich“, aber weil sie so sehr den ei-
„Psycho-Schulz“ tituliert. Man habe ihm fen, vor der Wahl in NRW die Füße still- genen Erfolg wollten, waren sie, jeder auf
den „Charme eines Sparkassenangestell- zuhalten. So sei der Eindruck entstanden, seine Weise, für ihre Partei erfolgreich.
ten“ zugeschrieben und ihm bescheinigt, er sei zu zögerlich. Was das Verhältnis zur SPD angeht, ist
er sehe aus „wie ein Eisenbahnschaffner“. In Wahrheit aber hat sich Schulz auch Schulz sehr altmodisch, er kann nichts an-
Einer ohne Abitur könne nicht Bundes- selbst stillgelegt. Als die Umfragewerte für fangen mit den Macrons, Lindners und
kanzler werden, hieß es. die SPD nach oben schossen, hielt Schulz Kurz’ dieser Welt, die eine Partei dazu
Schulz zählt das alles auf, dort oben auf den Erfolg in der Hand wie eine zarte, zer- brauchen, damit sie ihnen eine Bühne zim-
der Bühne des BE, er zeigt seine Wunden. brechliche Vase. Er hatte Angst, dass alles mert.
Er will ein bisschen bedauert werden. zerschellen würde, wenn er sich bewegte. Schulz hat einen guten Überblick über
Schulz hat kein dickes Fell, es ist ihm nicht So gingen die Wochen bis zu den Land- den Zustand der Sozialdemokratie in
egal, was über ihn geschrieben wird. Im tagswahlen ins Land, und die Bürger er- Europa, er hat den Niedergang von Labour
Gegenteil, er inhaliert jeden Artikel, auch fuhren von Schulz im Grunde nur, dass er in Großbritannien beobachtet, den Unter-
die bösen. „Ich lese die kritischen Analy- Bundeskanzler werden will. gang der Sozialisten in Griechenland. Ei-
sen sehr aufmerksam“, sagt Schulz. „Man Schulz sagt, er habe den Parteivorsitz ner seiner Freunde ist François Hollande,
kann viel daraus lernen.“ auch deshalb übernommen, weil er die der Mann, der die Parti socialiste in Frank-
Merkel beschwert sich nie über die Be- SPD vor einem Absturz bewahren wollte. reich in den Abgrund geführt hat.
richterstattung. Sie liest Leitartikel wie Ro- Anders als Merkel verbindet Schulz mit Schulz duzt sich auch mit dem neuen
mane, sie sind für sie unterhaltsam, aber seiner Partei eine tiefe Loyalität; wenn Präsidenten Emmanuel Macron, aber sein
weitgehend irrelevant. In ihrem Univer- man mit ihm spricht, kann er sich noch ge- Verhältnis zu ihm ist deutlich distanzierter
sum wäre es schon ein Fehler, überhaupt nau an den Tag seines Parteieintritts erin- als zu Hollande. Schulz hat gesehen, wie
einzugestehen, dass sie verletzlich sein nern. Schulz ist wegen Willy Brandt in die Macron sich erst von Hollande fördern ließ
könnte. Wenn sie straft, dann durch Miss- SPD eingetreten, wie so viele in seiner Ge- und sich dann von ihm abwandte. Er hat
achtung. neration, und wenn man seinen Worten es verstanden, rein rational. Die französi-
Über die Jahre hat sie im Umgang mit Glauben schenkt, dann hat er in den ver- schen Sozialisten waren zum Schluss ein
Medien und Öffentlichkeit ein System per- gangenen Jahren tief gelitten am Zustand toter Gaul, von dem Macron runtermusste.
fektioniert, das ihr weitgehende Kontrolle seiner Partei. Dennoch hätte Schulz nie die Kälte aufge-
ermöglicht. Während Schulz wochenlang Er hielt die Agenda von Gerhard Schrö- bracht, mit der Macron erst mit Hollande
mit Journalisten durch die Republik tourt der im Grundsatz für richtig, aber er ver- brach und dann mit den Sozialisten, um
und sich bei langen Abendessen ihren Fra- achtete die Brutalität, mit der sie durchge- seine eigene Partei En Marche! zu gründen,
gen stellt, trifft sich Merkel sehr selten mit setzt wurde. Im Jahr 2004 kam es zu einem die mehr eine linke FDP ist als eine sozia-
Journalisten zu Hintergrundgesprächen. spektakulären Streit zwischen Schulz und listische Partei.
Sie vertraut drei oder vier Leuten im Kanz- Schulz würde nie auf die Idee kommen,
leramt, und die reden nur mit Journalisten, die Partei Willy Brandts zu verraten, eher
wenn sie es dürfen. würde er mit ihr untergehen. „Wir sind die
Sie gibt so gut wie nichts Privates preis, Partei, die sich Hitler in den Weg gestellt
in jedem Wahlkampf ein Küchenrezept, hat“, sagt Schulz. Er sagt das ohne jedes
das ist alles. Dieses Mal verriet sie, dass falsche Pathos, einfach so, als stolze Fest-
sie Kartoffelsuppe stampft, nicht püriert.
Martin Schulz würde nie stellung.
Wenn sie kritische Fragen hört, dann oft auf die Idee kommen,
in entschuldigendem Tonfall. „Haben Sie ZUKUNFT
eine kleine Schwäche?“, fragt die „Bunte“,
die Partei Willy Brandts Natürlich, es geht auch um die Sache, ehr-
als wäre schon die Idee, dass Merkel auch zu verraten. lich, Wahlprogramme sind etwas Wunder-
eine größere Schwäche haben könnte, ein bares. Sagt Merkel. Ihr Blick hüpft von
14 DER SPIEGEL 36 / 2017
vorhat, kann keiner so genau sagen. Sie
kandidiert, das muss reichen. Sie war lan-
ge dagegen, dass Brüssel mehr Macht be-
komme, nun findet sie wie Emmanuel
Macron, dass die EU einen Finanzminister
brauche. Zumindest im Prinzip. Aber am
Ende kann immer etwas dazwischenkom-
men, Schäuble, eine Landtagswahl, die
Weltlage.
Zuletzt hat sie gesagt, dass der Verbren-
nungsmotor verboten werden könnte. Das
ärgerte Seehofer. Dann ging sie zu Bettina
Schausten vom ZDF und erklärte, mögli-
cherweise sei erst gegen „Ende des Jahr-
hunderts“ Schluss. Ende des Jahrhunderts.
Sie denkt jetzt wie die Päpste im Mittelal-
ter, in ganz langen Zeiträumen.
Martin Schulz hat sich bemüht, er hat
endlos mit der SPD diskutiert. Für den
Programmparteitag im Juni gab es 1605
Änderungsanträge. Man weiß jetzt, dass
die SPD ein Rentenniveau von 48 Prozent
will und einen Spitzensteuersatz von 45
Prozent. Es ist alles sehr konkret, aber
reicht das, um Merkel zu schlagen?
Sein Programm ist das eines gemäßigten
Sozialdemokraten, es enthält nichts, was
die Republik erschüttern würde. Schulz
will mehr Investitionen als Merkel, eine
Bürgerversicherung, bessere Schulen,
mehr Polizisten und Respekt für Menschen,
auch wenn sie kein Abitur haben.
Das ist natürlich alles sehr vernünftig,
wenn auch ein bisschen brav. Kann er mit
einem solchen Programm gegen eine
Kanzlerin ankommen, die seit zwölf Jah-
HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL
ist weg.
Merkel versteht ihren Wahlkampf im
Osten als eine Art Widerstand. Sie sagt,
sie gehe gern an Orte, „wo man für die
Demokratie kämpfen muss“. Aber ihre
Gegner sind keine glatzköpfigen Nazis, sie
tragen Jeans und T-Shirt, es sind Alte und
Junge, viele Frauen. In Bitterfeld hat der
örtliche AfD-Kandidat bei der Landtags- Anti-Merkel-Protest am 29. August in Bitterfeld: „Hau ab, hau ab“
wahl das Direktmandat geholt, mit 33 Pro-
zent.
Merkels Kampf besteht darin, dass sie
überhaupt hier ist. Flagge zeigen nennt sie Oben auf der Bühne blinzelt Merkel in BRÜDERCHEN UND SCHWESTERCHEN
das. Vorne sitzen in lichten Reihen die Sonne. Sie schaut über den Platz hinü- Merkel zweifelt inzwischen nicht mehr
die geladenen Unionsanhänger, hinten ber zu der Ecke, aus der die Pfiffe kom- an ihrem Sieg. Sie versucht das zu ver-
pfeifen die Gegner, dazwischen eine men. Sie sieht aus, als ob sie sich ekelte. bergen, sie weiß, dass es gefährlich ist,
dichte, schweigende Menge, die das Im Grunde verachtet sie jene Ostdeut- wenn sie zu siegessicher wirkt. Aber
Ganze mit einer Mischung aus Neugier schen, die Freiheit und Demokratie nicht manchmal ist sie so im Flow, dass es ihr
und Unbehagen beobachtet. Das bildet die zu schätzen wissen. Mit Menschen, die einfach rausrutscht.
Lage in Ostdeutschland vermutlich ganz Angst haben vor Veränderungen, kann sie Das werde sie sich Anfang nächsten Jah-
gut ab. nichts anfangen. Sie ist nicht bereit zu Zu- res anschauen, antwortet sie am Dienstag
Früher kam die Union in Bitterfeld auf geständnissen an irgendwelche Ressenti- bei ihrer Sommerpressekonferenz auf eine
fast 40 Prozent. Aber seit Merkel die CDU ments. Von dort oben herab sagt sie den Frage zur Flüchtlingspolitik. Und ergänzt
in eine rechte SPD verwandelt hat und die Demonstranten, was sie von ihnen hält. mit feiner Ironie, dass sie ja immer hinzu-
Flüchtlinge ins Land ließ, erreicht sie viele Für Merkel sind sie die, die „nur rum- fügen müsse, „dass wir jetzt eine Wahl ha-
nicht mehr. brüllen“. ben“. Damit ihr das nicht als Arroganz
16 DER SPIEGEL 36 / 2017
Titel
S
sie ihm vor ein paar Jahren erzählte, sie echzig sehr dichte Stunden la- Gabriel warf Kanzlerin Angela
habe ein Porträt im SPIEGEL über ihn ge- gen hinter ihm, als er beim Merkel vor, im aktuellen Wahlkampf
lesen, war Schulz furchtbar stolz, weil die SPIEGEL eintraf: Montagabend Debatten zu verweigern, wenn sie
große deutsche Kanzlerin sich für ihn in- war Sigmar Gabriel kurzfristig nach zum Beispiel nicht über die Rente re-
teressierte. Washington geflogen und hatte dort den wolle. Merkel habe ein Interesse
Für einen kurzen Moment konnte am Dienstag US-Außenminister Rex daran, dass über Politik möglichst
Schulz davon profitieren, dass die Deut- Tillerson getroffen, bevor er nach nicht gesprochen werde: „Das ist
schen nach zwölf Jahren auch ein bisschen New York zu Henry Kissinger flog, ihre Strategie, sie hat einmal in ih-
genug hatten von Merkel. Es gibt eine mit dem er über die Gefahr einer neu- rem Leben über Politik reden wollen
Sehnsucht nach Veränderung, aber Schulz en atomaren Aufrüstung diskutierte. und 2005 die Wahl fast verloren. Da-
kann sie wohl kaum bedienen. Im Grunde Die Nacht verbrachte er im Flug- raus hat sie gelernt.“
ist er Merkel zu ähnlich. Die beiden sind zeug zurück nach Europa, am Mitt- Entgegen anderslautenden Mel-
fast gleich alt, ihre politischen Überzeu- wochmorgen landete er in Paris, fuhr dungen gab er die Wahl trotz des gro-
gungen liegen sehr nah beieinander. Wenn direkt in den Élysée-Palast zu Emma- ßen Rückstands der SPD noch nicht
Angela Merkel sich einen Vizekanzler ba- nuel Macron und nahm anschließend verloren. Es gelte der alte Schröder-
cken könnte, wäre er wohl so ähnlich wie an einer Kabinettssitzung der franzö- Spruch: „Hinten sind die Enten fett.“
Martin Schulz. sischen Regierung teil.
Am Ende hat Deutschland die Wahl zwi- Macron habe ihn mit seinem neuen
schen einer Kanzlerin, die bewiesen hat, Hund im Élysée begrüßt, erzählte
dass sie es kann, aber mit einer grenzenlo- Gabriel zu Beginn einer Diskussions-
Montag, 12.15 Uhr vor dem Kanzleramt. mir sofort gesagt, was gut und was nicht SPIEGEL: Ist es in Ordnung, wenn Regie-
Ein Tourist fragt: „Ist das hier das Haus, so gut läuft. rungsmitarbeiter, also Ihre engen Vertrau-
wo der Schröder am Zaun gerüttelt hat?“ SPIEGEL: An diesem Sonntag wird es das ten Steffen Seibert oder Eva Christiansen,
„Ja“, sagen die Beamten, obwohl es das erste und einzige TV-Duell zwischen Mar- die Verhandlungen mit den Sendern füh-
Amt in Bonn war. Die Wagenkolonne rollt tin Schulz und Ihnen geben. Die Sender ren? Sollte das nicht Sache der Partei sein?
heran, Angela Merkel sitzt hinten rechts, wollten das Format durch Studiopublikum Merkel: Weil wir die berufliche Tätigkeit für
das Smartphone in der Hand. lebendiger halten und durch mehr Freihei- die Bundesregierung und eine Tätigkeit
12.30 Uhr: Merkel steht im Vorzimmer, über ten für die Moderatoren. Wenn Ihnen die für die CDU sauber trennen wollten, haben
einen Aktenordner gebeugt. Der Presse- freie Presse so am Herzen liegt, warum ha- wir uns für die Zeit dieser Wahlkampf-
spiegel? „Nein, das hier sind die allerwich- ben Sie das alles abgelehnt? monate bei drei Mitarbeitern des Bundes-
tigsten Dinge.“ Sie unterschreibt zweimal, Merkel: Dieses TV-Duell ist mir wichtig, des- kanzleramtes für das Instrument einer an-
klappt die Mappe zu. Begrüßung, zehn halb habe ich von vornherein wieder meine gezeigten und genehmigten Nebentätigkeit
Schritte in ihr Büro, der Fotograf darf die Bereitschaft zu einem Duell erklärt. Es ist entschieden. Das Ziel ist Transparenz. Ich
Sitzordnung bestimmen. Kaffee? Sie nimmt eine Gelegenheit für Millionen von Zu- begrüße deshalb sehr, dass der Bundesrech-
Wasser, trinkt nicht. „Fangen wir sofort schauern, sich ein Bild davon zu machen, nungshof das jetzt noch einmal überprüfen
an“, sagt sie. welche Politik Martin Schulz und ich für will. Zugleich ist es in der Sache unerläss-
die nächsten vier Jahre anbieten. Es ist lich, dass zusätzlich auch der Regierungs-
SPIEGEL: Frau Bundeskanzlerin, wir möch- gute Regel, dass die formalen Modalitäten sprecher an Gesprächen zur Vorbereitung
ten mit Ihnen über Macht und auch über der Sendung mit den Sendern besprochen von Interviewformaten und auch des TV-
Filz in der Politik reden. Die meisten Poli- werden. Es gibt eine seit 2009 und 2013 be- Duells teilnimmt. Das war bei Gerhard
tiker kennen das Gefühl, dass Einfluss und währte Form der Sendung, die auch dieses Schröder genauso. Auch seine Regierungs-
Bedeutung wie eine Droge wirken. Sind Mal wieder angewendet wird. So werden sprecher haben an den Gesprächen über
Sie inzwischen davon abhängig? Martin Schulz und ich miteinander disku- die TV-Duelle 2002 und 2005 teilgenommen.
Merkel: Ich hoffe nicht. Nein. tieren können, und ich freue mich darauf. SPIEGEL: Ist es wirklich ein Argument, dass
SPIEGEL: Helmut Kohl konnte nicht von der SPIEGEL: Der ehemalige ZDF-Chefredak- Ihr Vorgänger das ähnlich gehalten hat?
Macht lassen und verpasste den richtigen teur Nikolaus Brender sagt, der Druck Merkel: Ja, es ist geübte Praxis.
Zeitpunkt für den Abgang. Seine vierte durch das Kanzleramt sei sittenwidrig, das SPIEGEL: Warum nutzen Sie für Wahlkampf-
Amtszeit ist dem Land und der CDU nicht jetzige Format sei durch Erpressung zu- auftritte die Flugbereitschaft der Bundes-
gut bekommen. Tappen Sie nun dennoch stande gekommen. wehr?
in die gleiche Falle wie Kohl? Merkel: Ich achte die Pressefreiheit sehr Merkel: Ich nutze außerdem auch noch die
Merkel: Ich habe bis zum November letzten hoch. Zugleich aber hat auch ein Politiker Möglichkeit, mit Hubschraubern der Bun-
Jahres ausführlich darüber nachgedacht, immer die Freiheit zu entscheiden, ob er despolizei fliegen zu dürfen, beides natür-
ob ich erneut antreten soll. Ich habe das oder sie eine Einladung in eine Sendung an- lich entsprechend den seit Jahrzehnten be-
keineswegs als selbstverständlich erachtet nimmt oder nicht. Wir haben uns jetzt auf stehenden Richtlinien. Ein Bundeskanzler,
und bin zu der Überzeugung gekommen, ein bewährtes Format geeinigt, und ich hof- eine Bundeskanzlerin muss zu jeder Zeit
dass ich nach aller menschlichen Voraus- fe, dass es für die Bürger interessant wird. erreichbar und in der Lage sein, die Amts-
sicht die nötige Kraft dazu habe und dass SPIEGEL: Der Wahlkampf würde sicher le- geschäfte bestmöglich wahrzunehmen. Ich
ich nach wie vor neugierig bin – auf Men- bendiger werden, wenn es mehrere TV- muss gegebenenfalls von überall sofort nach
schen, darauf, wie das Leben und das Land Duelle gäbe. Warum wollen Sie das par- Berlin zurückkehren können. Hinzu kom-
sich verändern, und auf die Aufgaben, die tout nicht? men Sicherheitsaspekte. Natürlich muss die
das der Politik stellt. Ich denke, das ist das Merkel: Weil die mediale Auseinanderset- Partei die Kosten dieser Flüge entsprechend
Entscheidende: dass man nicht glaubt, zung in vielen verschiedenen Formaten den Richtlinien tragen, die Dinge sind zu-
schon alles zu kennen. stattfindet, zum Beispiel in Bürgerforen dem dem Haushaltsausschuss des Bundes-
SPIEGEL: Gibt es Mechanismen, mit denen oder Townhallsendungen, und weil wir in tages bekannt. Alles ist transparent. Als ich
Sie Hybris und Abhängigkeit von der Deutschland kein Präsidialsystem haben, 2005 Herausforderin von Bundeskanzler
Macht vorbeugen? sondern Parteien wählen. Da ist schon Schröder war, der damals als Bundeskanz-
Merkel: (lacht) Kritische Presseartikel lesen. ein einziges TV-Duell aus Sicht der kleine- ler auch die Flugbereitschaft in Anspruch
SPIEGEL: Oha! ren Parteien eine ungeliebte Besonderheit, nehmen konnte, habe ich ein Flugzeug ei-
Merkel: Als Bundeskanzlerin stehe ich – weil ja nur die Spitzenkandidaten von ner privaten Firma genutzt und nicht von
und das ist auch richtig so – unter ständiger Union und SPD dabei sind. der rechtlich gegebenen Möglichkeit Ge-
Beobachtung durch die Öffentlichkeit und SPIEGEL: Ihre Sorge um die kleinen Parteien brauch gemacht, als Parteivorsitzende eben-
die Medien. Wichtig sind für mich auch ist rührend. falls die Flugbereitschaft zu nutzen.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mir Merkel: Die Vielfalt unserer Wahlkampf- SPIEGEL: Dennoch ist es ein enormer Wett-
klar sagen, wie sie die Dinge sehen. Und formate und damit verbundener Fernseh- bewerbsvorteil des jeweiligen Bundeskanz-
ein weiterer guter Indikator ist die Stim- debatten spiegelt wider, dass wir in lers, dass er die Flugbereitschaft nutzen
mung im eigenen Wahlkreis. Wenn ich dort Deutschland nicht eine Person direkt wäh- kann.
bin, und das ist ziemlich häufig, ist nie- len wie in den Vereinigten Staaten von Merkel: Das sehe ich nicht so. Ich bin, Ur-
mand mehr aufgeregt oder beeindruckt, Amerika oder in Frankreich, sondern Par- laube und Parteitermine eingeschlossen, im-
die Bundeskanzlerin zu treffen. Da wird teien. Unser System ist anders. mer im Dienst. Darüber beklage ich mich
18 DER SPIEGEL 36 / 2017
URBAN ZINTEL / DER SPIEGEL
Regierungschefin Merkel: „Wenn ich in meinem Wahlkreis bin, ist niemand mehr aufgeregt“
nicht, im Gegenteil. Umgekehrt könnte Bei Post und Telekom hatte der Austausch in einem ganz schmalen Temperaturbe-
man auch sagen, dass es ein Wettbewerbs- langjährige Tradition. Wenn etwa für reich und nur unter ganz bestimmten Fahr-
vorteil sein könnte, wenn sich ein Kandidat die Automobilindustrie bestimmte Umwelt- bedingungen ihre Wirkung entfalten. Nach
ausschließlich auf Parteitermine konzentrie- richtlinien eingeführt werden, ist fachlicher dem Update wird die potenzielle Leis-
ren kann. Das gleicht sich alles aus. Kontakt mit der Industrie hilfreich. Ent- tungsfähigkeit der Abgasbehandlung im-
SPIEGEL: Ach ja? scheidend ist nicht der Kontakt, sondern mer abgerufen – und nicht nur in einem
Merkel: Das Zeitmanagement ist bei Wahl- entscheidend ist, was die Politik anschlie- Ausschnitt.
kämpfern ohne Regierungsamt anders als ßend mit den Informationen und Wün- SPIEGEL: Vertrauen Sie darauf: Aus der
bei mir, ich muss immer und an jedem Ort schen der Industrie macht und dass sie Lüge wird Ehrlichkeit?
meine Amtsgeschäfte im Blick haben. dann in Unabhängigkeit handelt. Wir ha- Merkel: Ich bin über diesen Betrug empört
SPIEGEL: Sie haben die großen Weltbühnen, ben zum Beispiel von der Einführung des wie Sie auch, über dieses Hinters-Licht-
während Ihr Herausforderer Fischräuche- Katalysators an immer wieder politische Führen der Kunden. Vom 1. September an
reien und Marktplätze besucht. Entscheidungen getroffen, die der Automo- gelten endlich neue Vorschriften. Damit
Merkel: Ich bin sehr gern in diesem Wahl- bilindustrie viel abverlangt haben. können Abgastests unter realen Fahrbedin-
kampf und habe gleichzeitig immer noch gungen vollzogen werden. Wir brauchen
die Aufgabe, meine Amtsgeschäfte wahr- 13 Uhr. Der Fotograf arbeitet aus der Fer- außerdem Prämien für den Umtausch alter
zunehmen, was mir viel Freude macht. ne. Die Kanzlerin blickt streng und ruft: Dieselfahrzeuge in neue. Und auf einem
SPIEGEL: Ihr ehemaliger Regierungssprecher „Ihre Ausflüge in die äußersten Ecken des weiteren Gipfel im Herbst werden wir be-
Ulrich Wilhelm wurde kurz nach seiner Zeit Zimmers sind zwar total azyklisch, die werten, wie die Maßnahmen der Autoin-
im Kanzleramt Intendant des Bayerischen meisten Ihrer Kollegen rücken mir immer dustrie wirken und ob weitere ergriffen wer-
Rundfunks. Ihre Medienberaterin Eva Chris- näher auf die Pelle, aber jetzt genügt’s.“ den müssen. Für den 4. September habe
tiansen war jahrelang Mitglied des ZDF- „Ein bisschen noch?“, bittet der Fotograf. ich darüber hinaus die von der Stickstoff-
Fernsehrates, Ihr Sprecher Steffen Seibert „Nee, nee, vielleicht haben Sie ja inzwi- belastung am stärksten betroffenen Kom-
kommt vom ZDF und hat ein vertraglich zu- schen schöne Bilder gemacht.“ munen ins Bundeskanzleramt eingeladen,
gesichertes Rückkehrrecht. Ist das die be- um zu beraten, wie der Fonds, den Auto-
rühmte Staatsferne des öffentlich-rechtlichen SPIEGEL: Beim Dieselgipfel wurden Soft- mobilindustrie und Bundesregierung ge-
Rundfunks, von der immer die Rede ist? wareupdates beschlossen, die billigste Va- meinsam aufgelegt haben, genutzt werden
Merkel: Es gibt viele Beispiele für Wechsel riante für die Autoindustrie. Das wird nicht kann, um die Verkehrssysteme in den Städ-
zwischen Politik und Wirtschaft und zwi- ausreichen, um die Stickoxidwerte herun- ten zu verändern und die Ladeinfrastruktur
schen Journalismus und Politik. Ehemalige terzubringen. Warum lässt die Bundesre- für Elektroautos zu verbessern. Alles, was
Redakteure des SPIEGEL zum Beispiel be- gierung die Automobilindustrie immer so wir tun, muss am Ende dazu führen, dass
raten Außenminister, das müsste Sie ei- schnell vom Haken? das Vertrauen der Autofahrer wiederherge-
gentlich mit Freude erfüllen, weil es zeigt, Merkel: So denke ich nicht. Vielmehr geht stellt ist, dass die strengen Schadstoffgrenz-
mit welcher Hochachtung wir dem Quali- es darum, dass wir unsere eigenen Vorstel- werte eingehalten werden und dass unsere
tätsjournalismus gegenüberstehen. Rück- lungen davon umsetzen, wie die Automo- Autoindustrie zukunftsfähige und klima-
kehrrechte übrigens gibt es auch im öffent- bilindustrie das Vertrauen, das sie zerstört politisch vertretbare Modelle anbietet.
lichen Dienst, das ist nichts Besonderes. hat, wiederherstellen muss. SPIEGEL: Sie sind dafür, dass auch die Hard-
SPIEGEL: Wenn Herr Wilhelm für einen SPIEGEL: Die Autoindustrie hat die deutsche ware in den Autos nachgerüstet werden
SPD-Kanzler gearbeitet hätte, wäre er Politik systematisch betrogen. Sie hat Com- muss?
dann auch BR-Intendant geworden? putersysteme entwickelt, die auf dem Test- Merkel: Hardware-Updates sind teuer und
Merkel: Das müssen Sie den BR fragen. stand geschönte Abgaswerte produziert technisch enorm aufwendig. Wir müssen
SPIEGEL: Lassen Sie uns noch einen Mo- haben. Als alles aufflog, gab es einen Die- uns deshalb sehr genau überlegen, ob eine
ment lang beim Thema Filz bleiben. Ihr selgipfel, der lediglich Softwareupdates solche Nachrüstungspflicht für Motoren
ehemaliger Kabinettskollege Matthias beschloss – und alle, die dort saßen, wussten, wirklich die Resultate bringt, die wir brau-
Wissmann, mit dem Sie sich duzen, ist Prä- dass dies nicht reichen wird. Wie soll der chen, weil wir damit der Automobilindustrie
sident des Verbandes der Automobilindus- Bürger den Eindruck bekommen, die Politik viel finanziellen Spielraum für Investitionen
trie. Ihr ehemaliger Staatsminister im weise die Autoindustrie in die Schranken? in neue und moderne Technologien nehmen
Kanzleramt Eckart von Klaeden ist nun Merkel: Sie stellen die Dinge sehr verkürzt würden. Ich denke, wir sollten vorher über
Cheflobbyist von Daimler. Ihr ehemaliger dar. Wir haben von vornherein gesagt, dass alle anderen Varianten nachdenken.
Chef für Strategische Planung im Konrad- das Softwareupdate nur ein erster Schritt SPIEGEL: Da sind Sie ja wieder einmal einer
Adenauer-Haus Joachim Koschnicke war ist, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Meinung mit der Autoindustrie.
zwischendurch Cheflobbyist von Opel und Es ist unbestritten, dass diese Softwareop- Merkel: Darum geht es nicht. Ich frage mich,
managt nun wieder Ihren Wahlkampf. Ihr timierung etwas bewirkt, denn damit wird was der Zukunft der so wichtigen deut-
ehemaliger Büroleiter im Adenauer-Haus, behoben, was Sie zu Recht Betrug nennen, schen Automobilindustrie dient, weil in ihr
Michael Jansen, leitet heute die Haupt- nämlich dass die Abgassysteme durch die über 800 000 Menschen in Deutschland
stadtrepräsentanz von VW … Software so eingestellt waren, dass sie nur gute Arbeit haben, und ich frage mich, was
Merkel: … und nicht vergessen: Thomas Steg, gut für die Menschen ist, die heute ein Die-
ehemals stellvertretender Regierungsspre- selauto besitzen und Angst um seinen Wert
cher und Sozialdemokrat, ist auch bei VW. haben, und ich frage mich, was dem Kli-
SPIEGEL: Richtig. Wundert es Sie eigentlich, maschutz sowie dem Abbau der NOx-Emis-
dass die deutsche Autoindustrie das Gefühl sionen dient. Da komme ich zu Ergebnis-
hat, die Politik im Griff zu haben? „Ich bin überzeugt, dass sen, die der Automobilindustrie mal gefal-
Merkel: Sollte sie das Gefühl tatsächlich unsere Reaktion im len können, mal nicht. Die Bundesregie-
haben, täuschte sie sich. Wir kommen wie- rung muss klug abwägen, denn ich will
der zum gleichen Punkt wie vorhin: Darf
Sommer 2015 angemessen nicht, dass die Automobilindustrie weiter
jemand, der in der Politik tätig war, in und richtig war.“ zurückfällt gegenüber dem Stand von heu-
die Wirtschaft wechseln? Ich bejahe das. te, das wäre nicht gut für unser Land. Mich
20 DER SPIEGEL 36 / 2017
interessiert, dass ein starker Wirtschafts- SPIEGEL: Als Barack Obama
zweig stark und innovativ bleiben kann. im November hier war, hat
SPIEGEL: In den USA bekommen betrogene er Sie als Garantin der De-
Kunden bis zu 16 000 Dollar Schadens- mokratie und auch als Be-
Bundeswehr-Leutnant Franco A.
Bei den Ermittlungen gegen eine mutmaßliche rechte Terror- mutmaßlicher Komplize, da er in Wien dabei war, als A.
zelle rund um den Oberleutnant Franco Hans A. entdeckten eine Waffe auf dem Flughafen versteckte. Zudem soll er eine
die Fahnder Kontakte zur AfD. Sie haben eindeutige Hin- Liste mit dem Titel „Politik und Medien“ verfasst haben, auf
weise, dass A.s Komplize Maximilian T. der rechtspopulisti- der mehrere Politiker und Institutionen als Anschlagsziele
schen Partei angehört. T. diente – wie der Hauptbeschuldigte vermerkt waren.
A. – als Oberleutnant beim Jägerbataillon 291 der Bundes- Die Bundesanwaltschaft erwirkte gegen T. zunächst einen
wehr im französischen Illkirch. Die Bundesanwaltschaft Haftbefehl. Anfang Juli wurde er aber auf freien Fuß gesetzt,
wollte die neuen Informationen nicht kommentieren. Ein da der Bundesgerichtshof keinen ausreichend konkreten
AfD-Pressesprecher, der eine Parteimitgliedschaft der Tatverdacht mehr für eine Inhaftierung sah. Die Bundeswehr
drei mutmaßlichen Mitglieder der Terrorzelle im Mai noch verhinderte daraufhin umgehend, dass T. in Illkirch zum
bestritten hatte, bestätigte nun auf Anfrage des SPIEGEL die Dienst an der Waffe zurückkehrte. Bis auf Weiteres wurde
Mitgliedschaft von Maximilian T. Dieser war kurz nach ein Uniform- und Dienstverbot gegen ihn verhängt. Franco
Franco A. im Frühsommer festgenommen worden. Er gilt als A. sitzt weiterhin in Haft. ama, fis, mgb
22 DER SPIEGEL 36 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Wahlkampf Verfassungsrichter
Vielflieger Schulz Mehr Zurückhaltung
Nach seiner Kritik an der gewünscht
Kanzlerin, sie sei mit der Politische Äußerungen von
Bundeswehr-Flugbereitschaft Bundesverfassungsrichter Fer-
günstig zu Wahlkampfauftrit- dinand Kirchhof und Bayerns
ten geflogen, holen SPD- Justizminister Winfried Baus-
Kanzlerkandidat Martin back zur Asylpolitik sorgen
Schulz ähnliche Vorwürfe aus für Aufregung in Justizkrei-
seiner Zeit als EU-Parla- sen. Im Bundesjustizministeri-
mentspräsident ein. Auch er um heißt es, ein Doppelinter-
vermengte Amt und Partei- view des Richters und des
Ex-RAF-Trio gen haben. Für diese Taten Fake News das Bild aufgetaucht war, für
Spur zu Camping- sieht der GBA bislang „kei- Künast kritisiert den „Urheber“. Die Einstel-
platz in Italien? nen staatsschutzrelevanten
Hintergrund“. In Niedersach- Staatsanwälte lung des Verfahrens begrün-
deten sie damit, dass es sich
Der ehemalige RAF-Terrorist sen ermitteln daher die Die Berliner Staatsanwalt- „lediglich um ein Äußerungs-
Ernst-Volker Staub könnte Staatsanwaltschaft Verden schaft hat das Verfahren ge- delikt“ handle und für den
sich in Italien aufhalten. Ein und das Landeskriminalamt gen den mutmaßlichen Ur- Beschuldigten „kein Aufent-
pensionierter deutscher Poli- (LKA). Seit Juli gilt laut GBA heber von Fake News über haltsort im Bundesgebiet“ be-
zist will Staub Ende Juni auf auch der mutmaßlich erste Renate Künast vorläufig ein- kannt sei. Künast, die kom-
einem Campingplatz in Bibio- Raub des Trios 1999 in Duis- gestellt. Der Facebook-Post mende Woche ihr Buch zum
ne bei Venedig erkannt ha- burg als unpolitisch. Zustän- hatte ein Foto der Grünen- Thema vorstellt, kritisiert die
ben, der Beamte alarmierte dig sei dafür nun das LKA in Politikerin mit einem falschen Entscheidung als „unange-
daraufhin die Polizei. Das be- Nordrhein-Westfalen. Da der Zitat gezeigt, in dem sie nach messen“ und schreibt an die
richten eine italienische Re- GBA sich aber weiterhin um einem Mord in Freiburg ver- Staatsanwälte: „Ich frage
gionalzeitung und ein TV- die unaufgeklärten Fälle aus meintlich Verständnis für den mich nun, wie konkret Sie re-
Sender. Eine Festnahme gab der RAF-Zeit bis 1998 küm- mutmaßlichen Täter, einen cherchiert haben.“ Tatsäch-
es offenbar nicht. Die Spre- mert, sind nun Ermittlungs- „traumatisierten Flüchtling“, lich tritt der Schweizer offen-
cherin des Generalbundesan- behörden von Bund und meh- zeigte. Die Berliner Staats- bar regelmäßig bei Anti-
walts (GBA) bestätigt, der reren Bundesländern mit anwälte schrieben Merkel-Demos in
„Hinweis ist bekannt“, sie Garweg, Klette und Staub be- Künast nun, sie Berlin auf. Face-
wolle aber „keine Stellung“ fasst. Die Aufgabenteilung hielten den Schwei- book hat sowohl
dazu nehmen. Staub soll zu- stößt auf die Kritik erfahre- zer Rechtspopulis- die Fanseite von
KAY NIETFELD / DPA
sammen mit den beiden ehe- ner Kriminalisten, die in den ten Ignaz Bearth, Bearth mit mehr
maligen RAF-Mitgliedern Taten ein einheitliches Mus- einst Mitgründer als 173 000 Likes als
Burkhard Garweg und Danie- ter erkennen. Die drei Ver- der „Pegida auch sein privates
la Klette von 2011 bis 2016 dächtigen leben seit 27 Jah- Schweiz“, auf des- Nutzerkonto inzwi-
neun Raubüberfälle began- ren im Untergrund. bhu sen Facebook-Seite Künast schen gelöscht. rom
Diplomatie mit der türkischen Forderung Gang setzen lassen wollte. Unabhängig davon ist auch
Türkische Forderung und einer Liste mit rund Die Bundesregierung lehnte die Zahl der Auslieferungs-
80 Türken aus Deutschland, Ende Juni die Forderung in ersuchen deutlich angestie-
Die türkische Regierung hat die der Bewegung des Predi- einer schriftlichen Note des gen. So verlangten die türki-
in ihrem Kampf gegen die gers angeblich angehören sol- Außenministeriums an Anka- schen Behörden nach Zahlen
oppositionelle Gülen-Bewe- len, erhielt das Auswärtige ra ab. Demnach fehle jegli- des Bundesamts für Justiz in
gung versucht, die Vermögen Amt Ende April. Bislang war che rechtliche Grundlage für diesem Jahr bereits die Aus-
der Organisation und ihrer nur bekannt, dass die Türkei Maßnahmen der Bonner lieferung von 53 angeblichen
Mitglieder in Deutschland strafrechtliche Ermittlungen Bundesanstalt für Finanz- Straftätern aus Deutschland
einfrieren zu lassen. Eine gegen vermeintliche Staats- dienstleistungsaufsicht gegen – mehr als im gesamten ver-
entsprechende Verbalnote feinde in Deutschland in angebliche Gülen-Konten. gangenen Jahr. jdl, mgb, wow
Arabisch an Schulen ist. In neun Ländern, darun- Arabischunterricht an Schulen runter Baden-Württemberg,
Zehn Länder ter Nordrhein-Westfalen, wird angeboten ist geplant Mecklenburg-Vorpommern
machen mit Brandenburg, Hessen und
die drei Stadtstaaten, kön-
und Schleswig-Holstein.
Bayern hat den „mutter-
Knapp zwei Drittel der deut- nen zugewanderte Schüler Hamburg sprachlichen Ergänzungs-
schen Bundesländer bieten schon seit Längerem ihre Bremen unterricht“ seit 2004 schritt-
Branden-
an ihren Schulen staatlich or- Arabischkenntnisse verbes- Niedersachsen burg weise wieder abgeschafft –
ganisierten und finanzierten sern. Der saarländische Berlin „zugunsten einer intensiveren
Sprachunterricht in Arabisch Bildungsminister Ulrich Deutschförderung“. Der
an. Das ergab eine Umfrage Commerçon (SPD) kündig- NRW Freistaat überlässt den her-
des SPIEGEL unter den Kul- te an, in seinem Bundes- Sachsen kunftssprachlichen Unter-
tusministerien. Der Unter- land nachziehen zu wollen. Hessen richt seitdem vor allem den
Rheinl.- SPIEGEL-
richt richtet sich in der Regel Keinen herkunftssprach- Pfalz Umfrage Konsulaten, die selbstständig
unter den
an zugewanderte Kinder, de- lichen Unterricht gibt es in Kultus- die Inhalte stellen und Leh-
ren Muttersprache Arabisch sechs Bundesländern, da- Saar- ministerien rer beschäftigen. olb
land
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p 040 3007-2700 (Aktionsnummer: SP17-062/SD17-031)
WAHL 2017
E
s ist eine ziemlich kleine Kulisse für Bad Saarow für eine Rede über die innere Brandenburgs Bauern bewirtschaften
den Auftritt eines Bundesinnenminis- Sicherheit, den Terrorismus und die Aus- rund 1,3 Millionen Hektar Fläche, fast 45
ters. Der Raum im Bahnhofshotel stattung der Bundespolizei? „Ich kriege ja Prozent der Gesamtfläche des Landes. Das
„Die Bühne“ des brandenburgischen Bad viele Einladungen“, sagt de Maizière, „aber macht sie zu einer Macht. Martin Patzelt
Saarow fasst kaum hundert Besucher. Aber es war mir sehr wichtig, den Direktkandi- kommt deshalb nicht allein. Zusätzlich ist
Thomas de Maizière von der CDU nutzt daten der CDU hier zu unterstützen.“ CDU-Landeschef Ingo Senftleben da, im
die letzten Minuten vor seiner Rede am Der Wahlkreis 63 liegt teilweise direkt Schlepptau hat er weitere Landtagsabge-
Donnerstag vergangener Woche für peni- an der polnischen Grenze, dort leben ge- ordnete. Alles auf die 63.
ble Vorbereitungen. Während vorn am Mi- rade mal rund 200 000 Wahlberechtigte. Am Stammtisch sitzt bald für jeden
krofon Begrüßungsreden gehalten werden, Aber für den Ausgang der Bundestagswahl Landwirt ein CDU-Mensch. Es hat etwas
lässt sich der Minister von einem Referen- ganz im Osten der Republik interessiert Verzweifeltes, wie die CDU ihre Truppen
ten Zettel geben: Er fährt mit seinem Finger man sich bis hoch ins Kanzleramt. Denn mobilisiert. Alle wissen um die Bedrohung.
Zahlenkolonnen entlang und schüttelt den hier will Alexander Gauland von der AfD, Entlang der Grenze zu Polen erzielte die
Kopf, als erfahre er gerade Unerklärliches. Spitzenkandidat seiner Partei, ein Direkt- AfD bei der letzten Landtagswahl zum
Es ist die Kriminalitätsstatistik für den mandat für seinen Einzug in den Bundes- Teil Ergebnisse über 20 Prozent.
Wahlkreis 63, in dem Bad Saarow liegt. tag holen. Für Gauland wäre ein solches „Wir sorgen hier für die blühenden Land-
Und die zeigt, so wird er es später in seiner Mandat die Krönung seines Feldzugs ge- schaften“, sagt ein Landwirt am Stamm-
Rede sagen, dass die Zahl der schweren gen Kanzlerin Angela Merkel und seine tisch in Anspielung auf das berühmt-be-
Straftaten hier deutlich geringer ist als im ehemalige Mutterpartei. Für die Union rüchtigte CDU-Versprechen Helmut Kohls.
Bundesdurchschnitt. Man kann sich sicher wäre es eine symbolisch bedeutsame Bitteres Lachen in der Runde. Da ist Stolz
fühlen. Eigentlich. Schmach. in der Stimme, weil die Bauern hier immer
Warum also wählt einer aus der ersten Abgeordnete mit einem Direktmandat einfach gesät und geerntet haben, ganz
Reihe der Bundes-CDU das beschauliche stehen in der Hierarchie des Bundestags egal, wer gerade in Berlin regiert.
W
Ort, verkaufen ihre Kartoffeln an Gastro- as die AfD, allen voran Alexander Gauland, in diesen Tagen
nomen in der Umgebung. öffentlich erklärt, sagten vor ihm nur Satiriker. Vor 15 Jahren
Es ist ein gut funktionierender und sinn- stellten sich Redakteure des Satiremagazins „Titanic“ auf
voller Kreislauf, sie schaffen Arbeitsplätze Marktplätze in Thüringen und entrollten Plakate mit dem Slogan „Deut-
und pflegen die Landschaft, kein Biotopia, sche, wehrt Euch! Wählt FDP!“ Passanten wurden Fragebögen in die
sondern familiär geprägte Landwirtschaft. Hand gedrückt: „Soll man Friedman in sein Heimatland zurückschi-
Natürlich klagen die Bauern auch, über cken?“, hieß es da.
Schäden durch Wölfe und Biber oder über Was für die „Titanic“ ein „antisemitischer Spaßwahlkampf“ war, um
schlechte Preise. Aber bei keinem anderen einen Streit zwischen dem jüdischen Deutschen Michel Friedman und
Thema gehen die Emotionen so hoch wie dem FDP-Politiker Jürgen Möllemann aufzuspießen, meint Alexander
bei der Kriminalität. „200 000 Euro Scha- Gauland bitterernst. Ein Antisemit ist er zwar nicht, aber auch er hat
den, allein im letzten Jahr, durch Einbrü- die Ausgrenzung oder gar Abschiebung eines deutschen Bürgers, dessen
che und Diebstahl“, sagt Wittgen. Äußerungen ihm nicht passten, auf der Grundlage von dessen Religion
Geklaut werde alles: Maschinen, Sprit, oder Ethnie gefordert. Gauland will die Integrationsministerin Aydan
sogar Kälber. Die zwei Polizeistreifen im Özoğuz in ihr vermeintliches Heimatland zurückschicken oder, wie er
Landkreis, ruft ein Kollege Wittgens da- es ausdrückt, „in Anatolien entsorgen“. Weniger dieses brutale Verb,
zwischen, die überhaupt noch unterwegs das bislang vor allem im Zusammenhang mit Müll und nicht mit Men-
seien, würden durch fingierte Verkehrsun- schen verwendet wurde, ist der eigentliche Skandal an seiner Äußerung.
fälle irgendwohin gelockt und schwups! Was Gaulands Aussage vielmehr inakzeptabel und verfassungsfeindlich
gehe die Beute über die Grenze. „Merkel macht, ist die Verknüpfung mit Anatolien, einer Region der Türkei,
hat die Grenze aufgemacht“, ruft ein wei- die nie die Heimat von Özoğuz war. Die Tochter türkischer Eltern, ge-
terer laut dazwischen, und er meint damit boren in Hamburg, lebte immer in Deutschland und ist eine Bürgerin
nicht die Flüchtlingsdebatte von 2015, son- der Bundesrepublik mit allen Rechten, die das Grundgesetz bietet.
dern die Grenze zu Polen nach der EU- Gaulands Worte waren nicht als Provokation gedacht, sie sind kein
Osterweiterung. kalkulierter Tabubruch. Wie schon bei Björn Höckes Rede in Dresden
CDU-Landeschef Senftleben versucht hörte das Publikum von Gauland eine ungefilterte Aus-
die Wut schnell auf die rot-rote Landesre- sage, die einen Einblick in die Denkwelt der AfD bie-
gierung umzulenken, die habe ja die Poli-
zeistellen abgebaut. Aber das Argument Dieses Menschen- tet: Für die Mehrheit dieser Partei gelten Deutsche mit
türkischem oder arabischem Hintergrund offenbar nicht
verfängt nicht, für viele sind CDU und bild, das bald als vollwertige Staatsbürger, sondern als Minder-Deut-
SPD inzwischen einerlei, alle gehörten im Bundestag ver- sche. Als Außenseiter, die froh und dankbar sein sollten,
zum „System der Altparteien“, das ist treten sein dürfte, hier leben zu dürfen. In den Augen vieler AfD-Anhän-
AfD-Denke. ger erlischt das Gastrecht dieser Minder-Deutschen, so-
In diesem „System“ haben die Landwir- ist nicht nur rassis- bald sie sich vermeintlich illoyal zeigen oder Kritik an
te das Gefühl, nicht mehr gehört zu wer- tisch, es ist Deutschland üben. Für die AfD beging Özoğuz, die
den. Sie glauben, Politiker spielten Verant- völkisches Denken. Fremde, einen besonders gravierenden Verstoß: Sie
wortungspingpong: In der Kommune ver- wagte es, sich über die deutsche Kultur zu äußern. Die
weist man auf das Land, das Land verweist geforderte Sanktion der Rechten ist insofern konse-
auf den Bund, der Bund auf die EU, die quent: Sie wollen die SPD-Politikerin nicht nur akustisch, sondern auch
EU auf den Weltmarkt. Die Zusammen- physisch aus der Gemeinschaft der Deutschen entfernen.
hänge sind kompliziert und globalisiert. Dies ist keine Debatte über die deutsche Kultur. Jeder Kommentator,
Das merken die Bauern auch, weil der der nun die streitbaren Aussagen von Özoğuz bewertet und zu dem
märkische Boden inzwischen an der Wall – vielleicht sogar begründeten – Urteil kommt, dass die Integrations-
ministerin ihres Amtes nicht würdig sei, geht der AfD auf den Leim.
Die Partei will gar nicht debattieren, jedenfalls nicht mit der Ministerin.
Mit den biodeutschen Hassfiguren der AfD, mit Heiko Maas oder Clau-
dia Roth, würden Gauland und seine Fans wohl noch streiten, was die
BRANDENBURG deutsche Kultur ausmacht. Aber eine für sie Minder-Deutsche wie
Özoğuz wollen sie aus der Debatte tilgen. Sie sprechen ihr das Recht
auf Meinungsäußerung ab und wollen dies durch Ausweisung durch-
Bundestags- Frankfurt
B ERLIN (Oder) setzen. Dieses Menschenbild, das bald im Bundestag vertreten sein
wahlkreis 63 dürfte, ist nicht nur rassistisch, es ist völkisches Denken. AfD-Politiker
(Oder-Spree) wie Gauland wollen das Phantasma eines ethnisch-kulturell homogenen
Jüterbog Deutschlands gegen „kulturfremde Menschen“ (Gauland) verteidigen –
Direktmandat bei Bad Saarow nun ist klar, dass diese Kampfansage nicht nur Flüchtlingen gilt, sondern
der Bundestagswahl 2013 sogar deutschen Bürgern. Wie viele Wähler wohl noch so denken?
Martin Patzelt, CDU Was kann man dem entgegensetzen? Ein Anfang wäre, AfD-Vertreter
(33,9 % der Erststimmen) wie Gauland nicht mehr in Talkshows einzuladen. Aber dann könne man
sie ja nicht mehr entlarven, lautet ein beliebtes Gegenargument. Die Wahr-
heit ist: Es gibt nichts zu entlarven. Es liegt alles offen da. Melanie Amann
Bestes AfD-Ergebnis bei der
Landtagswahl 2014: Amt Neuzelle 22,5 %
DER SPIEGEL 36 / 2017 27
Street gehandelt wird. Ackerland ist sehr
teuer geworden, seit internationale Invest-
mentfonds in großem Stil Flächen aufkau-
fen. „Da können wir nicht mithalten“, sagt
DER SPIEGEL Wittgen.
CDU-Kandidat Patzelt fleht, man solle
trotz alldem nicht jenen vertrauen, die „zu-
im Gespräch mit rück in die Vergangenheit wollen“. Für
den Appell erntet er weder Beifall noch
Ablehnung, einfach nur Schweigen. Es ist
Esra Rotthoff
Dagmar Morath
daten hält er für hilfreich. Patzelt berichtet,
die Linken würden darauf bestehen, sich
nicht mit dem AfD-Mann Gauland an ei-
nen Tisch zu setzen. Er selbst hält das für
einen Fehler. „So macht man ihn nur grö-
ßer“, sagt er.
Am Tag bevor Patzelt die Bauern be-
suchte, erschien Gauland in Jüterbog zum
Bürgerdialog in einem Gasthaus. Jüterbog
gehört nicht zum Wahlkreis 63. Aber der
Saal war voll, voller als beim Bundesin-
nenminister zwei Tage später in Bad Saa-
Thomas Gottschalk Margarete Stokowski Jan Fleischhauer row. Gauland attackierte vor allem Mer-
kel: Er wolle bei einem Einzug in den Bun-
destag wieder Grundsatzdebatten führen.
Wen wählen und wenn ja, warum? Am Montag vor der Früher sei das Parlament der Resonanzbo-
den der gesellschaftlichen Auseinanderset-
Bundestagswahl erteilen die SPIEGEL-ONLINE-Kolumnisten zung gewesen. „Was ist es jetzt? Die Ab-
nick-Organisation einer Bundeskanzlerin,
Margarete Stokowski und Jan Fleischhauer gemeinsam die keine Demokratin mehr ist“, donnert
mit dem Entertainer Thomas Gottschalk letzte notwendige Gauland, und die Menschen im Saal sind
begeistert.
Hinweise zur politischen Bildung: Wie war der Wahlkampf? Die aggressive Sprache ist das Mittel,
mit dem er sich im Gespräch hält, so wie
War überhaupt Wahlkampf? Was ist wahrscheinlicher: zuletzt mit der Integrationsbeauftragten
Ein Lottogewinn oder eine Wahlschlappe für Angela Merkel? der Bundesregierung, die er „entsorgen“
will. Gauland versucht erst gar nicht, sich
Und wer ist eigentlich dieser Martin Schulz, von dem alle reden? als klassischer Wahlkreisvertreter zu emp-
fehlen, er wohnt ja nicht einmal im Wahl-
Moderation: Stefan Kuzmany, Büroleiter SPIEGEL ONLINE Berlin kreis. Er schürt, wie alle Populisten, dump-
fe Wut auf die da oben. Seine Botschaft:
Ich quäle für euch die Kanzlerin.
Und das funktioniert. Kaum ein Groß-
Montag, 18. September, 20.00 Uhr, Spiegelsaal, plakat der CDU im Wahlkreis 63 wird
Clärchens Ballhaus, Auguststraße 24, 10117 Berlin nicht mit Parolen verunstaltet: „Volksver-
räter“ oder „Merkels Marionette“ steht
dann unter dem Gesicht von Patzelt.
„Das hat massiv zugenommen“, sagt der
Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter spiegel-live.de.
Eintritt: 15 Euro, ermäßigt 12 Euro, zzgl. Gebühren. Einlass ab 19 Uhr. Änderungen vorbehalten.
und versucht den Ärger wegzulächeln. Wie
er Gaulands Chancen einschätzt, das Di-
rektmandat zu gewinnen? Patzelt zuckt
mit den Schultern. Es ist alles möglich.
Nachdem sich AfD und CDU hier bekriegt
haben, sagt er, könnte es einen lachenden
Dritten als Sieger geben: den Direktkan-
didaten der Linken. Das wäre dann, so Pat-
zelt, die „Ironie der Geschichte“.
Markus Deggerich
Gelbe Energie
Populismus Christian Lindners
FDP buhlt um die Stimmen
von Windkraftgegnern,
verängstigten Dieselfahrern und
Skeptikern der Klimapolitik.
A
uf Leute wie Gero Hocker haben
die Leute unten im Saal eigentlich
keine Lust mehr. Politiker – von
denen fühlen sie sich verraten. Die setzten
ihnen einen Windpark nach dem anderen
vor das Haus und steckten sich dabei Geld
in die eigene Tasche.
„In Deutschland rumort es“ Grünewald: Die AfD kanalisiert dieses Wü-
ten, aber es fehlt ihr eine Leitfigur. Es war
daher ein Fehler, Frau Petry auszubooten.
Meinungsforschung Der Psychologe Stephan Grünewald Die beschriebene Selbstbremsung der
Wähler führt auch dazu, dass die AfD be-
ergründet die Deutschen seit Langem. In einer Studie zur politischen schränkt wird.
Lage traf sein Team auf labile Bürger voller Emotionen. SPIEGEL: Und die Grünen – schneiden sie
gut ab, weil der Klimawandel ein so bri-
Grünewald, 56, schrieb Bestsel- Willkommenskultur leben, dann aber gibt santes Thema ist?
ler wie „Deutschland auf der es auch Angst, von den Fremden ver- Grünewald: Nein, das wird eine knappe
MICHAEL ENGLERT
Couch“ und leitet das Rhein- schlungen zu werden und dass man das ei- Nummer. Die Leute finden, dass ihre Pro-
gold-Institut in Köln, ein auf Tie- gene Land nicht wiedererkennt. Man hofft bleme woanders liegen. Zudem gelten die
feninterviews spezialisiertes daher, dass die Politik einen Umsetzungs- Grünen als überheblich, weil ihr Kampf
Marktforschungsinstitut. plan, eine kompromisshafte Haltung ent- für die Natur sich häufig gegen die mensch-
wickelt. Doch die gibt es nicht, nun fühlen liche Natur richtet.
SPIEGEL: Herr Grünewald, das Rheingold- sich die Wähler alleingelassen. SPIEGEL: Wie schätzen Ihre Probanden
Institut hat vor der Wahl wieder eine Tie- SPIEGEL: Was ist die Folge? denn ihre persönliche Situation ein?
fenanalyse der deutschen Befindlichkeit Grünewald: Der Bürger ist labil, in ihm bro- Grünewald: Gut, aber sie haben auch Mühe,
vorgenommen. Wie sind Sie vorgegangen? delt und rumort es. Deutschland wird wie ihren Platz zu finden. Arbeitsplatz, Kita-
Grünewald: Wir hatten 50 Wähler auf der ein Vexierbild beschrieben: entweder als platz, Parkplatz, auch das Wohnen ist ein
Couch. 26 in psychologischen Tiefeninter- marodes, verwahrlostes Land oder als si- Riesenthema – alles Symbole für den
views und die anderen in drei Gruppen- chere Insel des Wohlstands in einem Meer großen Bedarf nach Struktur und Orien-
diskussionen. Wir hatten sieben Psycholo- aus Risiken. Das alles ist kippelig und führt tierung.
gen, zwei waren im Osten unterwegs. Das zu emotionalen Ausbrüchen. Ich habe sol- SPIEGEL: Liefert die Kanzlerin denn diese
ist nicht repräsentativ, aber man erkennt ches Toben und Wüten, so viel Hass unter Ordnung?
schon Wesenszüge. den Probanden noch nie erlebt. Grünewald: Zum Teil. Sie wird klar gewin-
SPIEGEL: Was haben Sie herausgefunden? SPIEGEL: Erwarten Sie also eine zunehmen- nen, aber es ist trotzdem eher ein halbher-
Grünewald: Das Grundmoment war, dass de politische Radikalisierung? ziges Treuebekenntnis. Das Bewährte wird
die Wähler von diesem Wahlkampf total Grünewald: Noch nicht, denn als Reaktion noch mal auf Bewährung verlängert.
enttäuscht sind. Sie haben das Gefühl, dass auf die wahrgenommene Verhärtung der SPIEGEL: Wenn Linke, SPD und Grüne ge-
nicht auf das eingegangen wird, was sie Fronten gibt es auch eine Selbstbremsung meinsam einen anderen Kandidaten hät-
bewegt, und dass vieles schöngefärbt wird. der Wähler. Wir können es uns, so argu- ten und einen ganz anderen Kurs versprä-
Wir haben uns gefragt: Was ist denn mit mentieren sie, nicht leisten, in eine Polari- chen: Würde das gut ankommen?
den Leuten los? sierung zu geraten, denn wir sind umzin- Grünewald: Wir haben mit den Probanden
SPIEGEL: Was fanden Sie heraus? gelt von drei Wüterichen: Trump, Erdoğan mögliche wünschenswerte Konstellationen
Grünewald: In den Tiefeninterviews kam und Putin. Die Wut wird in digitalen Schat- durchgespielt – diese kam nie.
immer nur: Flüchtlingskrise, Flüchtlings- tenwelten artikuliert, analog nehmen sich SPIEGEL: Sondern?
krise, Flüchtlingskrise. Was im Wahlkampf die Leute aber an die Kandare. Grünewald: Merkel mit Lindner. Es gab in
so galant ausgespart wird, ist bei den Wäh- SPIEGEL: Ist die Flüchtlingskrise nur ein den Interviews eine regelrechte Lindner-
lern immer noch ein wunder Punkt, der Symbol für das Unbehagen an der schwie- Verliebtheit. Der FDP-Mann wirkt als mo-
von der Politik nicht behandelt worden ist. rigen Weltlage? derner Serienheld, ja sogar als 007, der
SPIEGEL: Was genau ist das Wunde daran? Grünewald: Ja, denn schon lange vor der noch etwas bewegen kann. So ergibt sich
Grünewald: Die Krise vor zwei Jahren hat Flüchtlingskrise war ein Befremden über ein Dream-Team. Die bewährte Merkel
die Wähler in ein Dilemma gestürzt, zu die Globalisierung da, auch über die Si- und ein kleiner deutscher Macron, der ihr
dem sie bis heute keine klare Haltung ent- cherheitslage auf der Welt. auf die Sprünge hilft. Meine Prognose ist
wickeln können. Mache ich die Tür auf, SPIEGEL: Wie wird Donald Trump wahrge- daher ein schwarz-gelber Wahlsieg.
mache ich sie zu? Einerseits will man die nommen? Interview: Nils Minkmar
die Balkanroute nach Deutschland eingesi- unbekannt. Ziel der Nusra-Front war im-
Schlächter ckert sein. mer der Kampf in Syrien – nicht wie beim
Die Kampfgruppe gehörte zu den ersten „Islamischen Staat“ auch der Terror in
Einheiten, die im Norden Syriens bewaff- Europa. „Aber natürlich bereitet einem
von Tabka neten Widerstand gegen das Regime des der Gedanke Sorge, dass derart verrohte
syrischen Diktators leisteten. Die Truppe Menschen hier in Deutschland sind“, sagt
war ursprünglich Teil der Freien Syrischen ein Verfassungsschützer.
Terroristen Deutsche Fahnder Armee. Ende 2012 lief sie geschlossen zur Das Bundesamt für Verfassungsschutz
Nusra-Front über, dem Ableger von al-Qai- hat eine Projektgruppe mit dem Code-
sind einer Gruppe von Islamisten da in Syrien. 2014 löste sich die Gruppe namen „Keto“ gegründet. Sie soll den
auf der Spur, die in Syrien auf. Viele Mitglieder schlossen sich dem Informationsaustausch zwischen den
IS und anderen islamistischen Terrormili- Bundesländern organisieren. Der „Liwa-
mordeten – und dann in der zen an. Andere verließen das Kriegsgebiet Komplex“, wie Geheimdienstler die Er-
Bundesrepublik untertauchten. und kamen nach Europa. mittlungen nennen, sei „womöglich noch
Unter dem Kommando der Nusra umfangreicher als bislang bekannt“, so ein
W
as er in Syrien getan hatte, wür- kämpfte die Liwa Owais al-Qarni in der Beamter.
de ihn auch in Deutschland ver- Provinz Rakka. Ihre Mitglieder sollen an Auf die Spur der Kampfgruppe in
folgen, so viel wurde Abdul Ja- „diversen Massakern an gefangenen Zivi- Deutschland kamen die Ermittler durch
wad al-K. bald klar, nachdem er im Okto- listen und syrischen Soldaten“ beteiligt Zufall: Ein Mitglied erwähnte seine Zeit
ber 2014 in Bremen angekommen war. Er gewesen sein, heißt es in einem vertrauli- bei der Einheit in seiner Asylanhörung.
hatte in Deutschland Landsleute getroffen, chen Papier der Sicherheitsbehörden. Bei Und dann funktionierte offenbar der In-
und sie wussten um seine Vergangenheit. diesen Massakern sollen, so das Dokument, formationsfluss: Die eingeschalteten Be-
„Bei Gott“, schrieb al-K. über WhatsApp „mindestens 300“ Menschen ermordet wor- amten merkten schnell, dass sich der ver-
einem Bekannten, „sie erinnerten sich an den sein. meintliche Einzelfall zu einem größeren
Details, die ich selbst vergessen hatte.“ Bundesweit arbeiten die Behörden da- Komplex entwickelte. Sie fanden weitere
Dazu gehören die grausamen Einzelhei- ran, an den Gräueltaten Beteiligte, die Zeugen. Einer von ihnen identifizierte Ab-
ten eines Massakers auf einem Müllplatz nach Deutschland kamen, aufzuspüren dul Jawad al-K., den mutmaßlichen
nahe der syrischen Stadt Tabka. Im März und zu verhaften. Bei rund 25 Ex-Mitglie- Schlächter von Tabka.
2013 soll al-K. dort zusammen mit Gleich- dern der Gruppe sind die Vorwürfe so kon- Der saß da allerdings bereits im Gefäng-
gesinnten 36 Polizisten, Verwaltungsange- kret, dass gegen sie ermittelt wird. Neben nis, denn nach Erkenntnissen der Bundes-
stellte und Milizionäre des Assad-Regimes dem Generalbundesanwalt sind unter an- anwaltschaft wollte er den Terror auch
getötet haben, auf bestialische Weise. „Sie derem auch die Landeskriminalämter nach Deutschland bringen – nun gemein-
haben sie halb geköpft und du hast den (LKA) in Baden-Württemberg und Bayern sam mit Anhängern des „Islamischen Staa-
Rest besorgt“, hielten die syrischen Lands- aktiv. Es gibt Hinweise, dass die Männer tes“. Zusammen mit anderen Islamisten
leute al-K. vor. Er war damals Komman- in 13 verschiedenen Bundesländern unter- soll er im Jahr 2016 einen Terroranschlag
deur einer Kampfeinheit der islamistischen gekommen sind. Im Mai nahmen Beamte auf die Düsseldorfer Altstadt geplant ha-
Nusra-Front. des LKA Sachsen einen Kommandeur der ben, Selbstmordattentäter sollten sich dort
Die Enthauptungen auf der Müllkippe Brigade fest, den Syrer Ahmad A.-A. in die Luft sprengen. „Wir müssen wissen,
werden demnächst Thema vor dem Ober- Ungefähr 30 weitere Mitglieder der ob wir als Märtyrer sterben“, schrieb al-K.
landesgericht Stuttgart. Ende September Gruppe, die ebenfalls in Deutschland le- damals einem seiner mutmaßlichen Mittä-
beginnt dort der Prozess gegen al-K. und ben sollen, sind noch nicht identifiziert ter. Inzwischen sieht es für ihn nach einem
weitere mutmaßliche Mittäter. Die Bun- oder gefunden. Bei manchen gibt es Hin- Leben hinter Gittern aus.
desanwaltschaft wirft ihnen die Mitglied- weise, andere sind den Behörden schlicht Jörg Diehl, Fidelius Schmid
schaft in einer terroristischen
Vereinigung vor, Kriegsverbre-
chen und 36-fachen Mord.
Das Verfahren ist nur mög-
lich, weil beide Seiten, Täter
und Bekannte der Opfer, nach
Deutschland kamen und dort
aufeinandertrafen. Zeugen sol-
len die Gräueltaten von Tabka
minutiös beschreiben können.
Der Prozess legt auch die
Frage nahe, wie viele der Men-
schen, die Schutz suchend aus
dem syrischen Kriegsgebiet nach
Deutschland kamen, vor allem
Täter sind und nicht Opfer. Nach
Erkenntnissen der Sicherheitsbe-
hörden leben offenbar mehr als
60 Kämpfer der islamistischen
Liwa Owais al-Qarni, zu der auch
al-K.s Einheit gehörte, in der
Bundesrepublik. Sie sollen nach
und nach als Flüchtlinge, teilwei-
se mit Aliasnamen getarnt, über Kampfeinheit Liwa Owais al-Qarni beim Verlassen von Tabka 2013: „Den Rest besorgt“
E
s ist nicht leicht, mit Yüksel Koç ei- Seitdem lässt sich Koç überall, wohin er mittler bis heute schwer einzuschätzen.
nen Termin auszumachen. Er hält reist, von Freunden abholen. Er nimmt Ebenso, wer am Ende die Mordaufträge
sich nie länger als drei Tage in einer kein Taxi mehr, der Fahrer könnte sein hätte ausführen sollen.
Stadt auf, seine Reisen bucht er kurzfristig. Mörder sein. Wo sich seine Frau und seine Fatih S. war offenbar keine Größe unter
Oder er steigt einfach in den nächsten Zug, zwei erwachsenen Kinder aufhalten, wis- den türkischen Agenten. Er hat nicht viel
er besitzt eine Dauerkarte für die Bahn. sen nur wenige. Das Leben in Deutschland, über seine ausgespähten Ziele herausge-
Als Co-Vorsitzender des Kongresses der sagt Koç, sei rau geworden. funden, seine Berichte hatten oft märchen-
kurdisch-demokratischen Gesellschaft Kur- Einer der mutmaßlichen Spione, die auf hafte Züge. Er spionierte auch nicht so,
distans in Europa vertritt er einen Großteil Koç angesetzt waren, ist ab dem kommen- wie man es von einem Profi erwarten wür-
der Exilkurden weltweit. Es ist jedoch den Donnerstag vor dem Oberlandes- de. Er gab seinen echten Namen preis, sei-
nicht nur sein Amt, das ihn in Bewegung gericht Hamburg angeklagt. In seinen ne Kommunikation war nicht verschlüsselt.
hält. Es ist vor allem die Angst, die ihn Unterlagen fand sich offenbar auch die Nur um sein Alter machte er ein Rätsel,
treibt, die Angst vor einem Attentat. handschriftliche Todesnotiz. Der General- das selbst die Ermittler nicht lösen konn-
Das Treffen findet schließlich in Bremen bundesanwalt wirft Fatih S. geheimdienst- ten. Laut seinem Pass ist er am 1. Januar
statt, seiner Heimat seit 1990. Ein Café in liche Agententätigkeit vor. Die Ermittlun- 1985 geboren, in Wahrheit aber sei er zwei
der Innenstadt, Koç kommt zu spät. Er hat gen waren angelaufen, nachdem sich Yük- Jahre jünger, also erst 30 Jahre alt, versi-
Gesprächsprotokolle, Fotos und Notizen sel Koç an die Behörden gewandt hatte. cherte er immer wieder.
mitgebracht, die dokumentieren sollen, Fatih S. soll seit 2013 Mitarbeiter eines Der Fall ist dennoch brisant. Die politi-
wer ihn wie bedroht hat. türkischen Nachrichtendienstes sein, des schen Spannungen zwischen Deutschland
Koç sagt, er stehe auf einer Todesliste Milli Istihbarat Teşkilatı (MIT). Spätestens und der Türkei erreichen mit dem Prozess
des türkischen Präsidenten Recep Tayyip im Herbst 2015 soll er den Auftrag erhalten in Hamburg nun auch die deutsche Justiz.
Erdoğan. Das habe ihm im Mai vergange- haben, die kurdische Szene in Deutschland Agenten des türkischen Geheimdienstes
nen Jahres ein Mitarbeiter des türkischen auszuforschen. Dass er vorhatte, den kur- sind nach Einschätzung der Sicherheitsbe-
Geheimdienstes verraten, der sich ihm an- dischen Politiker tatsächlich zu ermorden, hörden schon lange in Deutschland aktiv.
vertraut habe. Wenig später habe er über dafür fanden die Ankläger nicht genügend Spekulationen, mehr als 6000 Zuträger des
Umwege die handschriftlichen Notizen ei- Belege. MIT seien hierzulande unterwegs, dürften
nes anderen Agenten erhalten, der auf ihn Allerdings erzählte Fatih S. in seinen allerdings übertrieben sein. Experten ge-
angesetzt gewesen sei. In den Unterlagen Vernehmungen selbst von Mordplänen des hen von einem Bruchteil aus.
findet sich zum Beispiel eine Nachricht MIT gegen Koç und einen anderen Kurden. Aber auch andere spitzeln für Erdoğan:
vom 28. Juni 2016: „Wenn Yüksel Koç ster- Auch ein Anschlag auf den Grünenpoliti- Zuletzt machten Spionagelisten von Ima-
ben soll, dann müssen wir mit dem Team ker Cem Özdemir sei geplant gewesen. men des Moscheevereins Ditib Schlagzei-
im Dauerkontakt stehen und alles genau Was davon wahr ist, was Wichtigtuerei len. Beim Generalbundesanwalt laufen der-
besprechen.“ oder Schutzbehauptung, das ist für die Er- zeit gegen knapp 20 Beschuldigte Verfah-
ren wegen des Verdachts der Agententä- halb habe er nicht lange überlegen müssen, tionen kennengelernt. Sie wurde seine As-
tigkeit für die Türkei, die meisten gegen als er 2013 einen Anruf vom MIT erhalten sistentin. Seine Geliebte sei sie nie gewe-
Geistliche. habe, ob er sich eine Mitarbeit vorstellen sen, sagte die heute 24-Jährige aus, er habe
Das Hamburger Verfahren wirft nicht könne. „Ich war mit einer Zusammenar- sie gezwungen, so zu tun. Die Ermittler
nur ein Licht auf eine verworrene Agen- beit sehr einverstanden“, sagte Fatih S. gehen allerdings davon aus, dass die bei-
tengeschichte, sondern auch darauf, wie laut dem Protokoll seiner Anhörung und den ein Paar waren.
der türkische Staat versucht, türkischstäm- berichtete, wie er zunächst, ausgestattet Sie reiste mit ihm nach Brüssel, nach Pa-
mige Menschen in Deutschland zu über- mit mehreren Zehntausend Euro vom Ge- ris, nach München, stets unter dem Vor-
wachen und zu beeinflussen. Die Konflikte heimdienst, Kurden im Irak und in Syrien wand, kurdenfreundliche TV-Beiträge zu
zwischen der Erdoğan-Regierung und den ausspionierte und dann auf eigenen produzieren. Sie trafen den Vorsitzenden
Kurden sowie der Gülen-Bewegung wer- Wunsch in Deutschland eingesetzt wurde. der kurdischen Vereine Frankreichs und
den so in die Gemeinschaften der Migran- Der MIT hatte eine ideale Tarnung für Remzi Kartal, einen der wichtigsten Kur-
ten hierzulande getragen. ihn vorgesehen: Fatih S. heuerte beim kur- denfunktionäre Europas. Nur rund zehn
Die türkische Regierung übermittelt den dischen Sender Denge TV in der Türkei Prozent aller Aufnahmen, schätzte Nesrin
deutschen Sicherheitsbehörden und der an und durfte 2014 sogar eine Sendung mo- in ihrer Vernehmung, seien in journalisti-
Bundesregierung zudem immer wieder Lis- derieren. So wurde sein Name unter den sche Beiträge geflossen. Das Material wurde
ten. Darauf stehen die Namen angeblicher Kurden bekannt, was ihm den Zugang zu hauptsächlich gedreht, damit der türkische
Anhänger der verbotenen kurdischen Ar- höchsten Funktionären erleichterte. Diese Nachrichtendienst es auswerten konnte.
beiterpartei PKK und der Bewegung des dachten, Fatih S. stehe auf ihrer Seite. Im Herbst 2015, so die Anklage, habe
islamistischen Predigers Fethullah Gülen, So reiste der vermeintliche Journalist ab Fatih S. vom MIT den Auftrag erhalten,
die Erdoğan für den gescheiterten Putsch 2014 auch mehrmals nach Deutschland und nach Deutschland zu ziehen und die kur-
im vergangenen Jahr verantwortlich kam in Kontakt mit Koç, der damals noch dische Szene mindestens ein Jahr lang aus-
macht. Die Bundesanwaltschaft ermittelt, Co-Vorsitzender des Demokratischen Kur- zuspionieren. Fatih S. beendete seine feste
ob diese Listen mit nachrichtendienst- dischen Gesellschaftszentrums Deutsch- Mitarbeit für Denge TV, arbeitete nur noch
lichen Methoden entstanden sind. land war, des Dachverbands kurdischer Or- frei für den Sender und bezog am 4. Januar
Die Staatsanwälte aber tun sich schwer, ganisationen in Deutschland, die laut Ver- 2016 mit Nesrin eine Wohnung in Bremen.
Beweise für die Agententätigkeit im Auf- fassungsschutz der PKK nahestehen. Für Acht Monate lang besuchten beide
trag der Türkei zu finden. Von den deut- ein längeres Interview besuchte S. den Deutschkurse, die Gebühr zahlte laut An-
schen Nachrichtendiensten seien bislang Funktionär sogar zu Hause, in seiner Woh- klage der MIT. Auch die Lebenshaltungs-
keine verwertbaren Ergebnisse gekommen, nung im Bremen. „Er tat alles dafür, mein kosten übernahm der Geheimdienst, zu-
heißt es. Viele Zeugen schwiegen, aus Vertrauen zu gewinnen“, sagt Koç. Bei kur- nächst rund 1500 Euro im Monat. Das Geld
Angst vor Repressionen des türkischen dischen Demos schwenkte S. die Fahne bekam Fatih S. in bar ausbezahlt, wenn er
Staates. oder half mit, den Fahrradweg freizuhalten. seine Führungsoffiziere in Ankara besuch-
S. war für die Karlsruher te. Am Ende sollen es rund
Ankläger deshalb ein Glücksfall: 30 000 Euro im Jahr 2016 gewe-
Die Geliebte des mutmaßlichen sen sein.
Spions hatte sich zunächst einem Wer die Hintermänner des
kurdischen Journalisten aus MIT sind, haben die Karlsruher
Frankfurt am Main offenbart Ankläger offenbar nicht heraus-
und ihm Material übergeben. gefunden. Fatih S. gab in seinen
Der wandte sich an Koç. So lan- Vernehmungen an, sich nur an
deten die Informationen beim zwei Vornamen erinnern zu kön-
Landeskriminalamt in Hamburg, nen: Kemal und Ahmed. In
dann in Bremen, dann bei der Deutschland erhielt er ihre
Bundesanwaltschaft. Schließlich Anweisungen über eine E-Mail-
belastete sich S. selbst, auch Adresse, die den Namen eines
wenn er seine Aussagen teilweise angeblichen Cousins trug. Wenn
widerrief. Sollten sich die Vor- er ankündigen wollte, dass er
würfe gegen ihn bestätigen, dro- Kurden-Funktionär Koç, mutmaßlicher Spion S. neues Material habe, schrieb er,
hen ihm bis zu fünf Jahre Ge- Als kurdischer Journalist getarnt er bringe beim nächsten Mal
fängnis. „Schokolade“ mit.
Es war am 12. Dezember vergangenen Warum sich S. im Dezember 2016 den Glaubt man ihren Aussagen bei der
Jahres, als Fatih S. zum ersten Mal einer deutschen Behörden so freimütig offenbar- Polizei, wunderte sich Nesrin schon früh
deutschen Behörde ausführlich von seinem te, liegt nahe: Am 15. November hatte ihn über die Arbeitsweise ihres Kollegen. Er
Leben erzählte. Sieben Tage zuvor war er die kurdische Zeitung „Yeni Özgür Politi- arbeitete demnach mit zwei Laptops und
von Istanbul nach Deutschland geflogen ka“ als Geheimdienstagenten enttarnt und zwei externen Festplatten, die niemand
und hatte Asyl beantragt. Die Anhörung ihm Mordpläne vorgeworfen, nachdem anfassen durfte. Er lud sie in Ankara im
in der Hamburger Außenstelle des Bun- sich die Geliebte des mutmaßlichen Spions September 2015 in ein teures Café ein, wo
desamts für Flüchtlinge und Migration Wochen zuvor an einen Journalisten der ihn die Kellner namentlich begrüßten und
(Bamf) dauerte mehr als sechs Stunden. Zeitung gewandt hatte. Der Antrag auf ihm keine Rechnung brachten. Es sei einer
Er sei Kurde, in Kiziltepe in Südostana- Asyl in Deutschland sei eine „Kurzschluss- der Orte gewesen, gab Fatih S. später zu,
tolien geboren, verheiratet, habe eine reaktion“ gewesen, heißt es in einer ver- an denen er oft seine Auftraggeber traf.
Tochter und zwei Söhne, erzählte Fatih S. traulichen Einschätzung des Bundesamts Während eines Aufenthalts in einem
Er habe 2010 sein Studium als Diplom- für Verfassungsschutz. Wellnesshotel in Ankara verschwand Fatih
Journalist abgeschlossen und fortan als Re- Seine spätere Freundin Nesrin*, die aus S. für mehrere Tage, ohne Nesrin Bescheid
porter gearbeitet. Sein Vater sei 2004 im derselben Region wie er stammt, hatte Fa-
Irak von PKK-Leuten getötet worden, des- tih S. während der ersten Fernsehproduk- * Name geändert.
Abgeschaltet
Extremismus Der Bundesinnen-
minister hat erstmals eine
linksradikale Website verboten.
Die ist nun offline, doch
ein Ersatz steht längst bereit.
W
enn man will, kann man an der
Website vieles kritisieren. An
Klarheit mangelte es manchen
Artikeln, die dort veröffentlicht wurden,
allerdings nicht. „Wir rufen zu Sabotage
aller Formen von militärischer Ausrüstung
chercheartikel, Termine für Grenzen. Zwar seien Auf- Videos und Liveberichte von den Protes-
Demonstrationen oder Ak- rufe zur Gewalt inakzepta- ten. Aus diesem Projekt entstanden im
tionen und fremde Presse- bel, sie müssten gelöscht Laufe der Jahre weltweit neue Indymedia-
artikel zu veröffentlichen, und die Urheber bestraft Regionalseiten, in Deutschland gleich zwei.
auch solche, die sonst hin- werden, dennoch sei Links- Bereits 2001, sieben Jahre vor Linksun-
ter Paywalls liegen. Die In- unten eine journalistische ten, wurde de.indymedia.org gegründet.
halte waren so vielfältig Internetseite, für die auch Das Motto: „Don’t hate the media, become
und widersprüchlich wie die Pressefreiheit gelte. the media“ – nicht meckern, sondern sel-
die linksradikale Szene in „Dass die Bundesregierung ber machen. Die Seite war für den Förder-
Deutschland, die Qualität Inkriminierte Website ein trotz allem journalisti- preis Medienkompetenz des Grimme-In-
der Beiträge schwankte „Wir rufen zu Sabotage auf“ sches Onlineportal durch stituts nominiert, erhielt den Poldi-Award
stark. Neben Plattitüden die Hintertür des Vereins- als beste Online-Initiative im Bereich „Wis-
aus der Zeit gefallener Autonomer rechts komplett verbietet und damit eine senschaft, Bildung und Kultur“ und einen
(„Schweinesystem“) standen fundierte Ar- rechtliche Abwägung mit dem Grundrecht Preis der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
tikel über klandestine Neonazi-Netzwerke auf Pressefreiheit umgeht, ist rechtsstaat- Heute ist sie auch nicht mehr, was sie
in der Provinz. lich äußerst fragwürdig“, sagt er. einmal war, aber das Verbot scheint die
In der Verbotsverfügung konzentriert Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) Macher angestachelt zu haben. In einer
sich das Innenministerium auf die Texte, nannte die Aktion hingegen einen „wich- Erklärung heißt es, dass man sich nicht
die zu Straftaten auffordern oder dazu an- tigen Schlag gegen gewaltbereite Linksex- einschüchtern lasse und sich solidarisch
leiten oder in denen sich jemand zu Straf- tremisten“. Das Bundesinnenministerium zeige. Und auf der Website ist zu lesen:
taten bekennt. Daraus zieht das Ministe- von Thomas de Maizière (CDU) bezeich- „Wir machen ebenso weiter, jetzt erst
rium den Schluss, die Aktivitäten richteten nete in einer Pressemitteilung die im Ja- recht!“ Maik Baumgärtner
Die Luftnummer
Zeitgeschichte Kein Konzept, unklare Finanzen und eine echte Alternative – warum will
Außenminister Gabriel die 1977 entführte Lufthansa-Maschine „Landshut“ am Bodensee ausstellen?
W
as für ein Zufall! Es ist ein Don- „Herr Gabriel“, sagt er, „haben Sie mal nem Amtsantritt als Außenminister, in der
nerstag Ende Juli, als Thomas eine Minute Zeit?“ Der Minister weicht „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszei-
Liebelt beobachtet, wie ein klei- mit dem Kinderwagen zurück, die Perso- tung“ eine „lebendige Zeugin eines wich-
ner Herr mit Sonnenbrille auf sein Sylter nenschützer werden unruhig. „Ich bin der tigen Moments der Geschichte der jungen
Ferienhaus zustapft. Es ist der Vizekanzler, Spinner, der die ,Landshut‘ nach Flensburg Bundesrepublik“ nannte.
der mit Familie und Personenschützern holen wollte“, sagt Liebelt, „können Sie Jahrelang hatte sich kein Politiker für
vom Strand kommt. mir mal erklären, wie die Entscheidung das Schicksal der Boeing 737 interessiert.
Ausgerechnet Sigmar Gabriel. Am Mor- zugunsten von Friedrichshafen zustande- Die Lufthansa verkaufte sie 1985 an eine
gen, beim Brötchenholen, hat Liebelt die gekommen ist?“ kleine amerikanische Fluggesellschaft, in
Schlagzeile entdeckt. Sie haut ihn fast um. Gabriel brummelt, es sei ja noch nichts den Folgejahren wechselte sie insgesamt
Gabriel, der in der „Bild“-Zeitung seinen endgültig entschieden. Doch Liebelt lässt achtmal den Eigentümer, wurde zum
neuesten Knaller bekannt gibt. Wie er, der nicht locker: „Aber das stand doch heute Frachtflieger umgebaut und schließlich,
Außenminister, das Wrack der Lufthansa- in der Zeitung!“ Was soll Gabriel jetzt ant- nach 38 Betriebsjahren, in der nordbrasi-
Maschine „Landshut“ nach Deutschland worten? Dass er es eilig hat, weil er die lianischen Stadt Fortaleza stillgelegt.
holen werde. Die legendäre Maschine also, Maschine rechtzeitig zum 40. Jahrestag der Neun Jahre lang passierte – nichts. Bis
die 1977 von palästinensischen Terroristen Geiselbefreiung am 18. Oktober präsentie- Gabriel sich der Sache annahm. Und of-
entführt wurde und nun schon seit Jahren ren will? fenbar einen Nerv traf. Denn die Geschich-
in Brasilien vor sich hin rottet. Wie soll er Liebelt gegenüber seine Ent- te des Flugzeugs bewegt nicht nur die Ge-
Der Flieger solle zerlegt, restauriert und scheidung für Friedrichshafen begründen, neration, die damals um das Schicksal der
dann in Friedrichshafen am Bodensee im obwohl weder ein Ausstellungskonzept Geiseln bangte.
Dornier-Museum ausgestellt werden, mel- vorliegt noch klar ist, wer das Ganze am Der 16. Oktober 1977, als die Terroristen
det das Blatt. Friedrichshafen? Liebelt Ende bezahlen soll? Der Minister und sein in Aden im Südjemen den Piloten Jürgen
kann es nicht glauben. Er kommt aus Flens- Gefolge verschwinden so schnell, wie sie Schumann mit einem Kopfschuss hinrich-
burg, er ist wohlhabend, er sammelt Flug- aufgetaucht sind. Später berichtet Gabriel teten. Die spektakuläre Geiselbefreiung in
zeuge, er hat dem Auswärtigen Amt schon Vertrauten, wem er da begegnet ist. Mogadischu durch die Männer der GSG-9,
vor Monaten Pläne für ein Museum in sei- Eigentlich könnte sich der Außenminis- die anschließende Ermordung des Arbeit-
ner Stadt geschickt und sich bereit erklärt, ter über das große Interesse an der „Lands- geberpräsidenten Hanns Martin Schleyer,
die Baukosten von mehr als zwei Millionen hut“ freuen. Schließlich war er es, der die die Weigerung von Kanzler Helmut
Euro zu übernehmen. Warum also Fried- „Landshut“ zum Thema gemacht hat. Als Schmidt, auf die Forderungen der Terro-
richshafen? er sie im Februar, zwei Wochen nach sei- risten einzugehen.
36 DER SPIEGEL 36 / 2017
Deutschland
All das hat sich tief in das Gedächtnis der Gabriel weiß, dass es vor Ort Bedenken Dem stehen diverse Telefonate und
Deutschen eingegraben. Die „Landshut“ ist gibt. Es sei „völlig klar, dass wir ein solches E-Mails entgegen, die zwischen Liebelt
zum Symbol dieser dramatischen Tage im Projekt nicht gegen, sondern mit der Stadt und dem zuständigen Referat im Aus-
Deutschen Herbst 1977 geworden. Gabriel realisieren wollen und die Finanzierung so wärtigen Amt ausgetauscht wurden. Es
hat das erkannt, und er gehört nicht zu de- sein muss, dass die Stadt da jetzt nicht ir- werde ein transparentes Verfahren geben,
nen, die eine Chance zur Selbstvermark- gendwie in eine Zwangslage gerät“, beteu- so das Versprechen. Dazu gehöre auch,
tung ungenutzt an sich vorbeiziehen lassen. ert er bei seinem Besuch am Bodensee. dass vor Auswahl des Standorts ein Team
Mitte August lässt sich der Außenminis- Während sie in Friedrichshafen zögern, des Auswärtigen Amtes vor Ort recher-
ter zum Dornier-Museum fliegen. Fried- steht 794 Kilometer Luftlinie weiter nörd- chieren werde.
richshafen ist an diesem sonnigen Morgen lich Thomas Liebelt bereit. Er ist Hobby- In den folgenden Monaten erkundigt
Gabriels erste von vier Wahlkampfstatio- flieger, in Flensburg in einem Flugzeug- sich Liebelt immer wieder im Außenamt
nen in der Region. Einige Touristen da- hangar stehen neben seiner zweimotorigen nach dem Stand der Dinge. Ihm wird ver-
ckeln hinter einem Museumsführer her. Piper noch ein Doppeldecker und eine alte sichert, dass Flensburg zu den ernsthaften
„Das ist sozusagen der Mann hinter Frau Piper von 1962. Bewerbern gehöre. Schließlich sei die
Merkel“, sagt er, als Gabriel sich zu der Liebelt war Teilhaber einer Coca-Cola- Oberbürgermeisterin für das Projekt, und
Gruppe gesellt. Fabrik. Inzwischen ist er 68 und hat seine außerdem sei der Museumsentwurf positiv
Der Außenminister hebt gegenüber den Anteile verkauft. Als er im Februar liest, aufgenommen worden.
Besuchern zu einer kleinen Ansprache an. dass der Außenminister die „Landshut“ Mitte Juli fliegt Liebelt mit seiner Piper
Die Rückkehr der „Landshut“ sei „in Zei- nach Deutschland zurückholen will, ruft nach Sylt in den Urlaub. Morgens beim
ten eines ganz anderen Terrorismus“ ein er im Auswärtigen Amt in Berlin an und Bäcker liest er dann in der „Bild“-Zeitung,
Signal: „Wir lassen uns nicht unterkrie- lässt sich mit Gabriels Sprecher Martin dass Friedrichshafen gewonnen hat. „Das
gen.“ Dann verschwindet er mit David Schäfer verbinden. Auswärtige Amt, Lufthansa, die Dornier-
Dornier, dem Enkel des berühmten Flug- Wenn die Bundesregierung die Kosten Stiftung und ‚Bild‘ haben monatelang an
zeugingenieurs, im Inneren des Museums. für Transport und Renovierung des Flug- der Rückführung der Landshut gearbeitet“,
Die „Landshut“ ist noch nicht zu sehen, zeugs übernehme, werde er den Bau des schreibt das Blatt. Monatelang?
der Museumsführer versucht, die Touristen Museums bezahlen, schreibt er danach in „Wenn das tatsächlich so war“, sagt Lie-
für die Geschichte des Deutschen Herbstes einer Mail an den Sprecher. Der antwortet, belt, „dann würde das bedeuten, dass man
zu interessieren, aber sie sind wegen eines er werde Liebelts Idee an das „Landshut“- auf höchster politischer Ebene mit enga-
anderen Flugzeugs nach Friedrichshafen Team des Hauses weiterleiten und hoffe, gierten Bürgern und der Stadt Flensburg
gekommen. Sie wollen die „Do 31 E1“ se- „dass es mit vereinten Kräften etwas wird“. von vornherein mit falschen Karten ge-
hen, den legendären Senkrechtstarter von Liebelt bittet ein Flensburger Architek- spielt hätte.“ Auch Oberbürgermeisterin
Dornier aus den Sechzigerjahren. Genau turbüro, ein Museum zu entwerfen. Am Lange ist irritiert: „Der Stadt Flensburg
das befürchten viele Skeptiker. Dass die 26. April schickt er die Pläne an das zu- mitzuteilen, es wird einen Wettbewerb ge-
„Landshut“ in Friedrichshafen nur ein res- ständige Referat im Auswärtigen Amt. ben und ich, die Oberbürgermeisterin, wer-
tauriertes Flugzeug unter vielen sein wird. Auch die Stadt spielt mit. Ende Februar de den Startschuss dazu mitbekommen,
Die Lokalpolitiker treibt noch eine an- ruft Flensburgs Oberbürgermeisterin Simo- ohne dass es dann dazu kommt, ist kaum
dere Sorge um. Sie fürchten, dass die Kom- ne Lange Gabriels Sprecher an. „Herr nachvollziehbar.“
mune am Ende auf den Kosten sitzen Schäfer hat in dem Telefonat klipp und Man könne die Enttäuschung anderer
bleibt. Und bis ans Ende aller Tage Dor- klar ein Vergabeverfahren avisiert“, erin- Interessenten verstehen, aber das Dornier-
niers defizitäre Privatausstellung mit öf- nert sich die Sozialdemokratin. „Er sagte: Museum biete nun mal „die richtigen
fentlichen Geldern subventionieren muss. ,Dann können Sie sich bewerben.‘“ Das Voraussetzungen“, teilt Gabriels Ministe-
„Die nun angelaufene Spendenkampagne Auswärtige Amt widerspricht dieser Dar- rium mit. „Es ist modern, groß, auf Flug-
mag zwar die einmaligen Investitionen de- stellung. Es sei in dem Gespräch weder ein zeuge und Technik spezialisiert und will
cken“, warnt der Friedrichshafener SPD- „förmliches Vergabeverfahren“ zugesichert sich inhaltlich Richtung Zeitgeschichte neu
Fraktionschef Dieter Stauber, „nicht je- worden noch ein „Erkundungsteam“. ausrichten.“
doch den dauerhaften Betrieb.“ In Wahrheit ging es wohl hauptsächlich
In der Dornier-Familie wurde überlegt, darum, die „Landshut“ bis zum Jahrestag
die gemeinnützige Friedrichshafener Zep- der Geiselbefreiung am 18. Oktober nach
pelin-Stiftung anzuzapfen. „Da stehen gro- Deutschland zurückzuholen. Zur geplan-
ße rechtliche Hürden davor“, warnt Ma- ten Ankunft Mitte September will Gabriel
thilde Gombert von den Grünen. „Die Stif- wieder nach Friedrichshafen reisen, zu ei-
tung ist für Bedürftige da und nicht für ein nem „öffentlichkeitswirksamen Auftritt“,
Flugzeug.“ wie es intern heißt. Und egal wie die Bun-
Aber noch eine Frage ist unbeantwortet: destagswahl am 24. September ausgehen
Was hat der RAF-Terror mit Friedrichsha- wird – zum Gedenktag Mitte Oktober wird
fen zu tun? 1985 wurde der MTU-Vor- er noch als Außenminister amtieren.
standsvorsitzende Ernst Zimmermann in Mit Flensburg wäre dieser Zeitplan nicht
seinem Haus bei München erschossen. Die zu halten. Liebelt und seine Mitstreiter
„Motoren- und Turbinen-Union“ hat ein wollten mit der Bundesregierung zuerst
AXEL MARTENS / DER SPIEGEL
kündigen und erhalte ein SPIEGEL-Gratisheft nach Wunsch dazu! „Falls das mit Friedrichshafen nicht klap-
pen sollte, stehen wir nach wie vor bereit.“
Thomas Schmoll, Christoph Schult
Einfach jetzt anfordern: Historische Aufnahmen:
abo.spiegel.de/bequem
Die „Landshut“-Entführung
spiegel.de/sp362017landshut
p 040 3007-2700
oder in der App DER SPIEGEL
(Bitte Aktionsnummer angeben: SP17-215)
38 DER SPIEGEL 36 / 2017
Deutschland
Mein Kollege, gerkollege Frank Lauxtermann, der inzwi- Standardwerk für Intensivpfleger, dem
schen Frührentner ist. Am Klinikum, sagt „Larsen“, einem mehr als tausend Seiten
er, herrsche „Schockstarre“. dicken kornblumenblauen Wälzer, der in
der Mörder 134 Verstorbene waren in den vergan- Oldenburg im Aufenthaltsraum der Inten-
genen drei Jahren von der Polizei auf 67 sivpfleger stand, könne man vieles nach-
Friedhöfen exhumiert worden, um die lesen.
Verbrechen Der Intensivpfleger Überreste der Toten auf Rückstände ver- Offenbar vergiftete Högel einige Patien-
dächtiger Medikamente zu untersuchen, ten sogar mehrfach. Ein- oder zweimal re-
Niels Högel tötete offenbar mit teilweise eigens dafür entwickelten animierte er sie dann jeweils erfolgreich –
weitere 84 Patienten. Er handelte Verfahren. Außerdem wurde Högel erneut bis sie beim nächsten Mal starben. Je mehr
sechsmal ausführlich vernommen. Details bekannt werden, desto erbar-
raffiniert und eiskalt – nie- Dabei kam heraus, dass der Pfleger fünf mungsloser und berechnender erscheint
mand versuchte, ihn zu stoppen. verschiedene Medikamente verwendet ha- das Handeln des Intensivpflegers. „Meiner
ben soll, um die Herzen der Patienten aus Ansicht nach ist Niels Högel eiskalt, ohne
A
n die Nacht vom 14. auf den 15. dem Takt zu bringen. In der Nacht vom jegliche Empathie“, sagt Anwältin Gaby
September 2001 erinnern sich eini- 14. auf den 15. September 2001 waren es Lübben, die mehr als 70 Angehörige von
ge Pfleger und Ärzte der herz- die Herzrhythmusmittel Ajmalin und Lido- Opfern vertritt. Und Karl Beine, Autor des
chirurgischen Intensivstation am Klinikum cain – offenbar, weil er fürchtete, mit ei- Buchs „Tatort Krankenhaus“ und Chefarzt
Oldenburg noch heute mit Grauen. Fünf nem anderen Mittel, das er zuvor mehr- der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie
Patienten mussten in dieser Nacht ins- mals verwendet hatte, aufzufliegen. Die und Psychosomatik am St. Marien-Hospi-
gesamt 14-mal wiederbelebt werden, weil deutlich erhöhten Kaliumspiegel früherer tal Hamm, meint: „Man wird davon aus-
ihr Herz stillstand oder vollkommen aus Opfer hatten das Misstrauen seiner Kolle- gehen müssen, dass Högel Facetten in der
dem Takt geraten war. Die ganze Nacht gen geweckt. Dass der Kaliumwert bei den Persönlichkeit hat, die man als böse be-
lang kämpften Ärzte und Pfleger um das Verstorbenen der Septembernacht im zeichnet.“
Leben der Patienten, intubierten, defibril- Normbereich war, vermerkte Högel zur Si- Trotzdem hätte es zahlreiche Möglich-
lierten – und mussten am Ende kapitulie- cherheit persönlich in den Krankenakten. keiten gegeben, Niels Högel zu stoppen,
ren. Drei Menschen starben, noch bevor Dass Högel als Intensivpfleger das für in Delmenhorst ebenso wie in Oldenburg.
der Morgen kam, die beiden anderen kur- solche Taten nötige Fachwissen besaß, In Oldenburg wurde sogar eigens eine
ze Zeit später. überrascht Lauxtermann nicht: „Jede In- klinikinterne Statistik erhoben, die Högel
Jetzt steht fest: Der Krankenpfleger tensivschwester und jeder Intensivpfleger als den Pfleger auswies, der am häufigsten
Niels Högel, seit 1999 in Oldenburg tätig, weiß nach einer gewissen Zeit, wie man bei Todesfällen und Reanimationen zuge-
hat sehr wahrscheinlich vier dieser gen war. Personalgespräche mit Be-
Menschen umgebracht – ebenso wie triebsrat und Geschäftsführung folg-
32 weitere Patienten der Oldenbur- ten. Am Ende bekam der Intensiv-
ger Intensivstation. Mindestens. pfleger, als er ging, ein makelloses
Immer wieder spritzte Högel Me- Zeugnis.
dikamente in toxischer Dosis, damit In Delmenhorst durfte er, selbst
die Patienten wiederbelebt werden als er schon ertappt worden war,
mussten. Wiederbeleben, reanimie- noch zwei Tage arbeiten. Und mor-
ren, das konnte Högel besonders dete weiter. Zwei damalige Ober-
gut, dabei hatte er „das Weiße in ärzte und der Stationsleiter werden
den Augen“, wie ein ehemaliger sich deshalb demnächst vor Gericht
Kollege sagt, dadurch bekam er An- verantworten müssen. Gegen Ver-
erkennung, vor allem von den Ärz- antwortliche in Oldenburg wird
ten. Doch die Patienten überlebten noch ermittelt.
oft nicht. Inzwischen würde man anders
Am Klinikum Delmenhorst, wo auf einen Verdacht reagieren, sagt
Högel von 2002 bis 2005 tätig war, der Geschäftsführer des Klinikums
bis ihn eine Kollegin auf frischer Tat Oldenburg, Dirk Tenzer. „In sol-
ertappte, fielen ihm wohl mindes- chen Fällen würden wir heute in
tens 48 Menschen zum Opfer; die jedem Fall auch ohne hieb- und
sechs Taten, für die er bereits 2015 stichfeste Beweiskette die Polizei
zu lebenslanger Haft verurteilt wur- einschalten.“
de, nicht eingerechnet. Das Verhalten der Verantwort-
Das ist das erschütternde Ergeb- lichen „folgte dem typischen Muster
nis von drei Jahren Ermittlungsar- von Tötungsserien im Kranken-
beit der Soko „Kardio“, das Anfang haus“, sagt Beine. „Die Kollegen
der Woche der Öffentlichkeit vor- beobachten etwas, tauschen sich
gestellt wurde. Der Bericht lässt darüber aus, geben es nach oben
erstmals erahnen, mit welcher Raf- weiter – und dann versickert es.“
INGO WAGNER / DPA
D
urch die Küche zieht ein Duft von Dieses Paradox macht die Umsetzung Allerdings lässt das neue Gesetz Kassen
Kaffee und Cannabis. Die Sonne schwer. Denn aus Angst vor Missbrauch und Ärzte ratlos zurück. So sollen nur jene
scheint auf die karierte Tischdecke, hat der Gesetzgeber so hohe Hürden auf- Patienten Cannabis als Medizin bekom-
von draußen dringt das Brummen eines gebaut, dass es für viele Patienten derzeit men, die unter einer „schwerwiegenden
Rasenmähers. Christian Dittrich macht nicht leichter, sondern schwieriger gewor- Erkrankung“ leiden. Was darunterfällt,
sich bereit für den Arbeitstag, in zwei Stun- den ist, sich mit Cannabis zu versorgen. bleibt offen. Sind nur Sterbenskranke ge-
den beginnt seine Schicht. Davon zeugt auch der dicke Papierstapel meint? Oder auch Menschen, die unter
Es ist nicht so, als würde er zum Spaß auf Christian Dittrichs Küchentisch. Es ist quälenden Krämpfen oder Schmerzen lei-
kiffen. Seit 20 Jahren leidet er unter seine Korrespondenz mit der gesetzlichen den, deren Leben also nicht gefährdet ist,
Schmerzen und Krämpfen. Mit 16 Jahren Kasse. Bis zu diesem Augustmorgen wei- wohl aber ihre Lebensqualität?
wurde er zum ersten Mal an der Wirbel- gert sie sich, seine Behandlung für die Zu- Der Medizinische Dienst der Kranken-
säule operiert, ein paar Jahre später nach kunft anzuerkennen. Und wie ihm ergeht versicherung, der die meisten Anträge
einem Unfall ein zweites Mal. Die Narben es Hunderten Patienten. Für Dittrich ist prüft, ist mit der Frage ebenfalls überfor-
ziehen sich über Bauch und Lenden, sein das neue Gesetz „eine Farce“. dert. „Die vom Gesetzgeber formulierten
Rückgrat wird heute von Schrauben und Experten teilen dieses Urteil. Über weichen Kriterien treffen auf diesen kon-
Platten stabilisiert. „massive Probleme bei der Umsetzung“ kreten Einzelfall nicht sicher zu“, hieß es
Dittrich hat alles versucht. Akupunktur des Gesetzes klagt Harald Terpe, Drogen- in der ersten Absage, die Christian Dittrich
und Akupressur, Wärme und Kälte, Gym- experte der Grünen-Bundestagsfraktion erhielt. Vor der Neuregelung hatte seine
nastik und Massagen. Schmerzmittel brach- und selbst studierter Mediziner. Von einem Kasse den Fall ganz anders beurteilt. Da-
ten keine Linderung, jahrelang nahm er „Bürokratiemonster“ spricht die Arbeits- mals hatte sie zugesagt, die Therapie zu
Opiate, bis er sich am Ende täglich erbrach. gemeinschaft Cannabis als Medizin. bezahlen. Damit war Dittrich einer von
Dittrich gilt als „austherapiert“: Herkömm- Die Neuregelung leidet unter mehreren sehr wenigen Patienten.
liche Arzneien können ihm nicht helfen, Schwächen. Unscharf formulierte Paragra- Jetzt aber ist er einer von sehr vielen,
so steht es in zwei medizinischen Stellung- fen machen es den Kassen leicht, die An- die sich eine Cannabistherapie auf Rezept
nahmen. träge der Patienten für die teure Therapie erhoffen. Für die Kassen wird das neue
Dass es ihm seit fünf Jahren etwas bes- abzulehnen. Im ungünstigsten Fall werden Gesetz damit zum Kostenrisiko. Das AOK-
ser geht, hängt mit der staatlichen Ausnah- Ärzte finanziell bestraft, wenn sie Canna- Lager zählt bis heute 3600 Anträge, bei
meerlaubnis für eine unkonventionelle bis verschreiben, obwohl es günstigere Al- den Ersatzkassen waren es Ende Juni 2000,
Therapie zusammen: Seither darf er in der ternativen gibt. Und die Preise für Medizi- bei den befragten Betriebskrankenkassen
Apotheke Marihuana kaufen. Die Geneh- nalhanf sind längst in die Höhe gestiegen – sind es mindestens 650. Bewilligt wurden
migung, drei zerknitterte Seiten, trägt er wenn er überhaupt noch verfügbar ist. davon nach Kassenangaben aber nur 50
in seinem Portemonnaie bei sich. Immer. Dabei hatte die Regierung das neue Ge- bis 60 Prozent.
Ohne Cannabis könnte Dittrich nicht setz als Durchbruch gefeiert. Auch wenn Auch viele Ärzte tun sich mit der Neure-
arbeiten. Mit Cannabis hält er den Schmerz noch viele Studien ausstehen, setzen Me- gelung schwer: Sie müssen attestieren, dass
so weit in Schach, dass er auch seine Schich- diziner heute auf die Wirkstoffe der Can- keine andere Therapie als die mit Cannabis
ten im Büro übersteht. Dazu braucht es am nabispflanze. Sie können Übelkeit bei möglich ist. Im Zweifel aber werden sie be-
Morgen einen Joint. Tagsüber steigt er auf einer Chemotherapie bekämpfen, das Tou- straft, wenn sie im Anschluss die teuren
Tropfen um oder inhaliert Cannabis aus rettesyndrom lindern oder epileptische An- Blüten oder Extrakte auf Kassenrezept ver-
einem Verdampfer. fälle mildern. Selbst die Deutsche Schmerz- ordnen. Verstoßen sie damit gegen ihre Fi-
Für Menschen wie Dittrich hat der Bun- gesellschaft stellt fest, dass Cannabiswirk- nanzvorgaben, müssen sie möglicherweise
destag ein neues Gesetz verabschiedet. stoffe für Patienten mit Lähmungen oder sogar Geld zurückzahlen – der bei Ärzten
Schwer oder chronisch Kranke sollen leich- multipler Sklerose in Einzelfällen eine Al- gefürchtete Regress. Die Kassenärztliche
ter mit Hanfblüten oder Medikamenten ternative sein können, wenn gebräuchliche Vereinigung Hessen warnt die Mediziner
auf Cannabisbasis therapiert werden kön- Arzneien nicht wirken. in einem Rundschreiben daher davor, Re-
nen. Seit dem 10. März können sie Canna- zepte für Cannabisblüten auszustellen.
bis auf Rezept bekommen. Vor allem: Die Jan Zimmermann hat lange nach einem
gesetzlichen Kassen müssen die Kosten tra- Arzt gesucht, der offen für die neue The-
gen, wenn es keine andere Hilfe mehr gibt. rapieform ist. Vor vier Jahren wurde dem
Mit Bundesgesundheitsminister Hermann Immobilienkaufmann ein Nervenzelltumor
Gröhe (CDU) und der Drogenbeauftragten entfernt. Seither ist er mit chronischen
BERT BOSTELMANN / DER SPIEGEL
W
er hier versucht, recht zu bekom- weil in diesem Fall nichts von alldem mit- Die Gesundheit von W. könne man
men, ist schon von Weitem zu schwingt, worum es bei Urteilen zum Islam schwer gegen seinen eigenen Willen schüt-
sehen. Der Kläger vor dem Ver- immer auch geht: um angebliche Kniefälle zen. Aber die der anderen Verkehrsteil-
waltungsgerichtshof (VGH) Baden-Würt- vor der Scharia oder die Unterdrückung nehmer. Die könnten nämlich eine „Trau-
temberg trägt einen weißen Turban. Er ge- der Frauen. matisierung“ erleiden, wenn sie in einen
hört der Religionsgemeinschaft der Sikhs Anfang kommender Woche soll das Ur- Unfall mit W. verwickelt würden und die-
an, deshalb fühlt er sich zum Tragen des teil verkündet werden. Schon in der Ver- ser dabei eine schwere Kopfverletzung da-
Turbans verpflichtet. Er ist auch leiden- handlung zeigte sich aber, dass es die Rich- vontrüge, die mit Helm vermieden worden
schaftlicher Motorradfahrer. Da verpflich- ter wohl nicht als zwingend ansehen, dass wäre. Dieses Argument ist neu – aber für
tet ihn der Staat zum Tragen eines Helms. ein Sikh von der Helmpflicht für Motor- den VGH offenbar entscheidend. Richter
Doch beides auf einmal geht nicht. radfahrer befreit werden muss. Rudisile deutete an, W. habe „keinen un-
Deshalb klagt der Mann nun gegen die W. erzählte dem Gericht, er sei als Yoga- bedingten Anspruch“ auf eine Ausnahme.
Stadt Konstanz. Die weigert sich, ihm das lehrer „in Berührung mit dem Sikhismus“ Somit könnte die Stadt Konstanz bei
Motorradfahren ohne Helm zu erlauben. gekommen. Seit 2005 habe er deswegen ihrer Entscheidung Rücksicht nehmen auf
Der Turban bedeckt das Haupthaar von sein Haupthaar nicht mehr geschnitten; un- die „psychische Unversehrtheit“ anderer
Rolf W. fast vollständig, nur ein paar graue ter dem Turban trägt er es zu einem Kno- Unfallbeteiligter. Der VGH würde die
Strähnen im Nacken schauen hervor. Der ten geschlungen. Ende 2012 ging er dann Stadt allenfalls verpflichten, nochmals
gebürtige Deutsche ist um die 60 Jahre alt, „die Verpflichtung“ ein, „nach den Regeln über den Antrag von W. zu entscheiden.
schlank, hochgewachsen, mit langem wei- des Sikhismus zu leben“. Dass er dann von der Helmpflicht be-
ßem Vollbart. Er trägt eine weiße Hose Den Turban, den sogenannten Dastar, freit würde, ist nicht zu erwarten. Selbst
und braune Ledersandalen. trägt er als „schützende Kopfbedeckung“, wenn jemand ein ärztliches Attest vorleg-
Religiöse Kopfbedeckung – mal anders. die „nach außen etwas ausstrahlen soll und te, erklärte eine Vertreterin der Stadt,
Üblicherweise geht es in solchen Verfahren nach innen dem Träger etwas wiederge- würde man künftig überlegen, ob nicht
um das Kopftuch muslimischer Frauen. ben“. Auch einen spirituellen Namen hat ein Verzicht aufs Motorradfahren zumut-
Doch auch im Sikhismus, einer monotheis- W. angenommen, den er übersetzt mit Es- bar wäre. Auch in Bad Säckingen heißt
tischen Religion, die aus Indien stammt, senz des Seins, Bote und Löwe – Letzteres, es auf Nachfrage, aus heutiger Sicht wür-
wird aus Glaubensgründen der Kopf be- Singh, ist der Nachname aller männlichen de man eine Ausnahme für Sikhs nicht
deckt. Aber vorwiegend von Männern. Sikhs. mehr erteilen.
In Großbritannien, wo Hunderttausende In die Öffentlichkeit, sagt W. alias Singh, W. steigt offenbar bisher schon mit Tur-
Sikhs leben, gewähren die Behörden zahl- begebe er sich nur mit Turban, den er auch ban statt Helm aufs Motorrad. Anschei-
reiche Ausnahmen für Turbanträger, etwa nicht einfach mal so auf- und absetzen kön- nend drücken die Ordnungshüter in Kon-
bei der Polizei und im Straßenverkehr. In ne. „Das ist ein Gebilde, der muss täglich stanz und Umgebung bislang beide Augen
Deutschland sind solche Fälle selten. gebunden werden.“ Nachts bedeckt ein zu. Sollte W. vor Gericht verlieren, könnte
Umso interessanter wird nun, wie das Tuch sein Haar. In der Öffentlichkeit aber er es weiter so versuchen. Getreu seinem
Gericht hier über die Grenzen der Reli- „muss es ein Turban sein“, erläutert W. – Yogamotto: „Es gibt einen Weg durch jede
gionsfreiheit entscheidet. Unter anderem, der Motorradhelm selbst reiche nicht. Blockade.“ Dietmar Hipp
2015
sind es 92%.
1980
waren 52 %
der Weltbevölkerung
mit Trinkwasser
versorgt.
Jeder Zwölfte. „Eigentlich gibt es kaum etwas Schöneres auf dings steigt die globale Zahl derer, die Zugang zu sauberem
Erden als Durst, den man stillen kann“, soll einst der Beduinen- Trinkwasser haben, weiter an. Seit dem Jahr 1990 ist sie um
führer T. E. Lawrence, besser bekannt als Lawrence von 2,6 Milliarden Menschen gewachsen, das sind rein rechnerisch
Arabien, gesagt haben. „Drei Tage Wüste ohne Getränke und 285 000 pro Tag. Zu Zeiten Lawrence’ von Arabien, also vor
dann einen Eimer Wasser, das ist der Himmel auf Erden.“ gut hundert Jahren, wurden Desinfektions- und Filtrations-
Stimmt, solange das Wasser aus sicheren Leitungen oder systeme in Europa gerade erst eingeführt. Noch 1980 war nur
Brunnen kommt und frei von Giftstoffen und Fäkalien ist. etwa die Hälfte der Weltbevölkerung mit Trinkwasser ver-
Unicef geht davon aus, dass 2015 weltweit etwa 600 Millionen sorgt, aber bis 2030, wenn Prognosen zufolge 8,5 Milliarden
Menschen, also jedem zwölften, nichts anderes übrig blieb, als Durstige auf der Erde leben, soll es die ganze Menschheit sein.
aus unkontrollierten Quellen zu trinken. Nach Schätzungen Die Kostbarkeit sauberen Wassers, so das Ziel der Vereinten
der Weltgesundheitsorganisation starben jährlich 842 000 an Nationen, wäre dann für alle wie sauberes Wasser selbst:
Durchfallerkrankungen, vor allem südlich der Sahara. Aller- kaum noch zu schmecken. claas.relotius@spiegel.de
Tourismus kochen wir zum Beispiel auch fenster des Malers Medardus Raums richtig heimelig ge-
Wie schläft es im Pfarrhaus. Ganz neu ist die Höbelt. fühlt habe. Nur über die Turm-
SPIEGEL: Ist es nicht gruselig,
sich unterm Altar, Idee mit dem Übernachten ja
nicht, auch Maria und Josef unterm Jesuskreuz zu über-
uhr beschweren sich die Besu-
cher manchmal, die schlägt
Herr Brettel? kamen nach Bethlehem und nachten? jede Stunde, auch nachts.
brauchten eine Unterkunft. Brettel: Im Gegenteil. Der SPIEGEL: Benehmen sich die
Horst Brettel, 70, Gemeinde- SPIEGEL: Eine Übernachtung erste Gast, eine Dame aus Leute in Ihrer Kirche?
kirchenrat in Neustadt am kostet sechs bis zwölf Euro Salzburg, hat uns erzählt, dass Brettel: Bis jetzt wurde nichts
Rennsteig in Thüringen, über pro Person. Was bietet die sie sich mit all den bunten geklaut. Wir sind ja notfalls
die Kirche als Hotel Kirche dem Gast dafür? Fenstern und der Höhe des auch versichert über Airbnb
Brettel: Eine Küche mit und die Gemeinde.
SPIEGEL: Herr Brettel, Sie ver- Kaffeemaschine und Partys dulden wir aber
mieten Schlafplätze in Ihrer Wasserkocher, 20 Meter nicht.
Kirche über Airbnb. Hat Ihre entfernt im Pfarrhaus. SPIEGEL: Geht es nach
Gemeinde es so nötig? Auch Toiletten gibt es dem Check-out am
Brettel: Viele Kirchen bleiben dort. In der Kirche Sonntagmorgen dann
leider häufig leer. Wir haben stehen ein Doppel- und direkt in den Gottes-
in unserem Kreis 100 Kirchen, ein Einzelbett aus dienst?
JENS KALAENE / DPA
aber viel zu wenige Mitglieder. Holzlatten. Von da aus Brettel: Um neun Uhr
Deswegen sucht die evange- können die Gäste den müssen die Gäste raus
lische Kirche nach Alternati- Altarraum sehen und sein. Die Leute gehen
ven, neben Gottesdiensten, auch die fünf bunten, lieber frühstücken als in
Trauerfeiern und Konzerten sehr schönen Betonglas- Schlafplatz in der Michaeliskirche den Gottesdienst. cat
V
or einigen Monaten spazierte im Bundesstaat New für Skelette interessierte, genauso wie Jude Sparks.
Mexico in den USA ein Junge mit dem Namen Als Houde zehn Jahre alt war, damals noch Bewohner
Jude in die Wüste. Er war auf der Suche nach einem New Yorks, fing er damit an, Kadaver zu sammeln,
Versteck, das ihm geeignet schien, ein wenig im Dreck zu sagt er am Telefon. Er kratzte überfahrene Katzen von
liegen und mit seinem Bruder per Walkie-Talkie zu kom- den Avenues und suchte am Strand nach angespülten
munizieren. Er kletterte über einen Hügel und stolperte Möwen. Der kleine Peter präparierte ihre Schädel. Seine
über etwas gelbes Langes, das, wie sich später rausstellte, Eltern brachten ihn mit den Präparatoren des Museum
ein Stoßzahn war. Jude fiel und schaute auf Knochen und of Natural History zusammen, und mit 13 Jahren be-
Zähne, die größer waren als alles, was er bisher an Kno- gann Peter, in seiner Freizeit dort in der Vogelabteilung
chen und Zähnen kannte. zu arbeiten.
Jude hat für einen Zehnjährigen eine erstaunliche Er studierte, promovierte, wurde Professor, forschte,
Kenntnis prähistorischer Skelette. Seine Eltern sagen, Jude buddelte. Er liebt seine Arbeit bis heute, aber wer forschen
habe zwischen sechs und will, muss auch lehren, und
neun Jahren eine „Dinosau- das kann manchmal ein we-
rierphase“ erlebt, in der er nig frustrierend sein. In Las
sich Bücher über Dinosau- Cruces gibt Houde unter an-
rier anschaute, Dokumenta- derem einen Kurs in mensch-
tionen zur Kreidezeit sah licher Anatomie. Menschen
und mit einem Allosaurus sind zwar eigentlich keine
aus Plastik spielte. Vögel, aber Skelett ist Ske-
Die Sparks, Judes Eltern, lett, und außerdem ist das
haben ein leicht angespann- Niveau niedrig, niemanden
tes Verhältnis zum Thema kümmert es, dass Houde
Dinosaurier: Sie sind streng- kein Humanmediziner ist.
gläubige Christen. Sie glau- Seine Studenten, das hat er
ben, Gott habe den Men- festgestellt, interessieren sich
schen und die Dinosaurier in der Theorie ohnehin
auf die Erde gesetzt. Die nicht für den Unterschied
Sparks glauben nicht an die Jungforscher Jude Sparks zwischen Schlüsselbein und
Evolutionstheorie. Schambein, sondern nur für
Jude, der Sohn dieser El- ihre Note.
tern, lag also da im Staub „Man kann ein Leben lang
und dachte, so sagt es Ms nach seinesgleichen suchen,
Sparks: „Das sieht hier nicht und manchmal findet man
aus wie der Schädelknochen ihn nie“, sagt Houde.
einer Kuh.“ Er nahm sein Von der Website Dailymail.co.uk Er besuchte Jude Sparks
Walkie-Talkie und funkte sei- und seine Eltern am Morgen,
nen Vater an. Der Vater kam, machte ein paar Fotos und nachdem er die E-Mail bekommen hatte. Die Sparks, Jude
schickte sie an einen Professor der nahen Universität. und der Professor gingen gemeinsam in die Wüste. Houde
Es war ein Freitagabend, 22 Uhr, in Las Cruces, New nahm eine Schaufel und begann, vorsichtig damit zu gra-
Mexico. Professor Peter Houde saß vor seinem Computer ben, so weit, bis er sehen konnte, dass der Stoßzahn in
und schrieb an einem Kapitel für ein Buch über Vogelgene. einem Schädel steckte. Dann schaufelte er alles wieder
Er las die E-Mail des Mr Sparks, angehängt waren Fotos zu. Knochen können über die Jahrhunderte porös werden.
eines Unterkiefers, der aus der Wüste ragte. In der E-Mail Wenn die Stabilisierung durch die Erde fehlt, kann es pas-
stand der Satz: „Ist das was?“ sieren, dass ein alter Knochen zerbröselt.
Houde schaute auf das Foto und schrieb zurück: „Haben Houdes Herz klopfte. Jude hatte den Schädel eines
Sie morgen früh Zeit?“ Stegomastodons gefunden, eines prähistorischen Rüssel-
Peter Houde, 60, ist Professor für Biologie. Er hat schon tiers, das vor einigen Zehntausend Jahren durch die Wei-
auf jedem Kontinent in der Erde gewühlt und Skelette ten Amerikas stapfte.
prähistorischer Tiere ausgegraben, jüngst buddelte er in Manchmal reichen die Überreste eines ausgestorbenen
China nach toten Vögelchen. Nebenher leitet er ein Mu- Tieres, um Menschen zusammenzubringen. Ein Zeichen
seum für Dinosaurier und Mammuts. Nach Houde ist ein Gottes, wie die Sparks sagen.
Tier benannt, weil er der Erste war, der es im Boden fand, Das Stegomastodon liegt jetzt in Gips gegossen in der
die Mimoperadectes houdei, eine Art Baumbeutelratte. New Mexico State University, weil der Knochen gehärtet
Er fand sie in Wyoming in einem Stück Kalkstein, das er werden muss, bevor er ausgestellt wird. Erst vor ein paar
in Säure auflöste, weil er ahnte, darin könnte sich irgend- Wochen konnte der Schädel gehoben werden. Peter
etwas verstecken. Houde und Jude Sparks gruben ihn gemeinsam aus.
Die Evolution ist Houdes Spezialgebiet. Takis Würger
E
inen Tag vor dem Urlaub kaufen sie
einen Siebensitzer-Bus, die Eltern
und die drei Mädchen wollen ins All-
gäu, Mädchen Nummer vier ist unterwegs.
Der Vater trägt die Koffer über den Kies
in den Wagen, an den hohen Bäumen
entlang, dahinter die alte Villa, die ihr
Zuhause ist.
Sie setzen die Kinder auf ihren Platz,
die Mutter zieht den Gurt über den runden
Bauch, sie ist im siebten Monat. Auf dem
Weg in den Urlaub wollen sie noch kurz
beim Neuropsychologen vorbei. Der Vater
war unkonzentriert in letzter Zeit, ver-
schusselt, sie haben schon Streit gehabt
deswegen.
Sag mal, spreche ich Chinesisch?, hat
sie zu ihm gesagt, wenn er mal wieder et-
was nicht verstand, nicht reagierte. Sie
dachte: Mein Mann ist träge geworden.
Wo steht das Salz?, hat er sie gefragt.
Da, wo es immer steht, war ihre Ant-
wort. Er hat das Salz dann doch nicht ge-
funden.
Die Menschen fragen sich, wie es wohl
losgeht mit dem Ende und woran man es
merkt. Wann kommt es? Habe ich Glück,
und es kommt erst mit achtzig? Mit sech-
zig, siebzig? Oder mit 41?
Sie parken das Auto vor der Klinik, die
Kinder spielen im Wartezimmer. Der Arzt
macht verschiedene Tests, spricht mit dem
Mann, hört lange zu, hört von einer Vor-
belastung in der Familie, setzt sich später
vor das Paar und sagt: Es sieht nicht gut
aus. Es tut mir leid.
Sie blickt zu ihrem Mann und beginnt
sofort zu weinen. Alles, was der Arzt noch
sagt, hört sie wie durch Panzerglas.
Bei Ihnen liegt eine beginnende Alzhei-
mererkrankung vor, eine präsenile De-
menz vom familiären Typ, eine Genmuta-
tion auf Chromosom 14, sagt der Arzt.
Präsenilin-1-Gen, oder PSEN1, lautet
der wissenschaftliche Name des betroffe-
nen Gens, eine seltene, vererbbare Form
von Alzheimer, die schon in jungen Jah-
ren auftreten kann. Es ist ein Verfall,
das Gehirn schrumpft. Es ist alles wie
sonst auch bei Alzheimer, nur schneller,
früher, ein Rückzug aus dem Leben im
Zeitraffer.
Fahren Sie nach Tahiti!, hören sie den
Arzt sagen. Sie stehen auf, setzen die Kin-
der stumm ins Auto, sie weint auf dem
Beifahrersitz. Er fährt, den Blick immer
auf dem Asphalt, bis nach Bayern.
Es ist geschehen, was nicht hätte gesche-
hen dürfen, dass auch er krank wird wie
seine Mutter, die mit Anfang vierzig an
Alzheimer gestorben ist. Den Gedanken,
dass es ihn treffen könnte, hatten sie beide
THEKLA EHLING / DER SPIEGEL
die Luft, Bewegung ist wichtig. Er denkt, Die Kinder sagen, Papa hat die Vergess- Über dem Herd in der Küche hängt ein
ich hätte lieber Krebs. Da bleibt der Kopf Krankheit. Gloria fragt, wie alt bin ich, Kreuz aus Holz. Er sitzt neben ihr, sieht
klar, es gibt Therapien. wenn Papa stirbt? mal aus dem Fenster, dann wieder zurück
Als die Kinder am Abend schlafen, lie- Wenn er über seine Krankheit spricht zu ihr, zu seiner Frau, Entchen, so nennt
gen sie und er nah beieinander im Bett und sagt, wie sie verlaufen wird, spricht er sie. Er sagt, er fühlt oft Stiche im Herzen
der Ferienwohnung und fragen sich, wie er als Arzt. Er hatte seine letzten Haus- vor lauter Traurigkeit. Sie redet noch lan-
sie das schaffen sollen. Mit Liebe, als Fa- besuche kurz nach dem Urlaub im Allgäu ge. Er nicht mehr. Die Kinder kommen,
milie, ist ihre Antwort. Sicher nicht mit gemacht, er wusste, er würde seine Patien- was gibt’s zu essen?
Tahiti. ten nicht wiedersehen, nicht als Arzt.
Aber geht so etwas? Kann eine junge Zum Verlauf also sagt er: vermehrte Ver- Im Laufe des Jahres, so erzählt sie später,
Familie ein solches Schicksal tragen? Wie gesslichkeit, zeitliche Orientierungsproble- kümmern sie sich um Testament, Patien-
lange hält die Liebe das aus? me. Dann größere Defizite im Erinnerungs- tenverfügung, Pflegestufe. Von der Krank-
Zu dieser Familie gehören: Sie, 39 Jahre vermögen, in der Kommunikation. Die heit haben sie niemandem erzählt. Doch
alt, Psychologin, trägt die Haare zu einem Körperhygiene nimmt ab, komplexe Hand- in Ärztekreisen hat es sich herumgespro-
Zopf, klarer Blick, feste Stimme. Er, 41- lungsabläufe sind nicht mehr realisierbar. chen, dass der Kollege nicht mehr arbeitet.
jährig, Allgemeinmediziner, auch mit Zopf, Orientierungslosigkeit, Sprachstörungen, Die Nachbarn reden, die Leute auf dem
graue Haare, kluges Gesicht, runde Brille. Wahnvorstellungen, schwindende Selbst- Schützenfest. Ihn deprimiert das. Sie fühlt
Dann die Kinder, Gloria, 11, Anne, 8, Ly- ständigkeit. Zuletzt totaler Gedächtniszer- sich befreit von ihrem Geheimnis.
dia, 5, alle blond, munter. fall, Inkontinenz, Erkennungsstörungen, Trotzdem fühlt sie sich allein. Sie möch-
Die alte Villa in einer Kleinstadt im Sprachzerfall, Bettlägrigkeit, Pflege rund te mehr Hilfe, mehr Ärzte, mehr Wissen.
Rheinland haben sie erst vor ein paar Jah- um die Uhr. Aber dann ist Elternabend, Orthopäde,
ren gekauft, der Kredit war günstig, hier Tod durch Lungenentzündung, sagt er Zahnarzt, Ballett. Die Krankheit nimmt
wollten sie ihre Töchter groß werden las- noch. keine Rücksicht auf den Terminplan einer
sen, sesshaft bleiben. Im Haus stehen An- Immer? Familie mit vier Kindern.
tiquitäten, liegen mächtige Teppiche auf Meistens. Ich weiß, letztendlich werde Die Älteste hat Probleme mit der Recht-
Holzdielen, stehen Ohrensessel, hängen ich in sieben, acht Jahren beerdigt sein. schreibung, aber ihre Mutter findet die
Kronleuchter, der Ofen ist aus Biolehm. Sonst spricht er nicht viel über seine Zeit oder die Konzentration nicht, um die
Zu Weihnachten 2009 verschicken sie Krankheit. Wenn er Lydia zum Kindergar- nötigen Anträge zu stellen, die dem Kind
ein Familienfoto an Freunde und Verwand- ten bringt, beeilt er sich, niemand soll mit helfen könnten.
te, das Baby ist da, Fine. Es ist das Porträt ihm reden, denken, der ist irre. Zu Hause Es hängt jetzt alles an ihr. Sie geht wie-
einer schönen Familie, vor dem Haus im liest er viel. Lesen heißt Rückzug, nicht der arbeiten, sie ist Psychologin in einem
Schnee, er im Janker. Auf dem Bild ist auffallen, nicht konfrontiert sein. Lesen Krankenhaus, eine Weile war sie in Eltern-
alles gut. heißt Ruhe. Alzheimer in der ersten Zeit zeit, dann war das Konto im Minus. Sie
Sieben Jahre lang, seit der Diagnose bis ist anstrengend. möchte den Keller zur therapeutischen Pra-
nach dem Tod des Mannes, hat diese Seine Frau möchte, dass er Kreuzwort- xis umbauen, das würde vieles erleichtern,
Familie ihr Haus geöffnet, um ihre Ge- rätsel macht. Gesundes Essen, Bewegung, dazu müssten sie renovieren, auch darum
schichte einer Journalistin und einer Foto- das macht er mit, glaubt aber nicht daran. kümmert sie sich.
grafin zu erzählen. Jedes Jahr fand min- Auch die Vitamine nimmt er nur für sie. Er kann noch den Tisch abräumen, aber
destens ein Treffen statt, die Kinder, die Sie weiß dafür jetzt, dass er kein träger er findet die Schublade für Messer und
in Wirklichkeit andere Namen haben, sind Ehemann ist. Sie will Geduld mit ihm ha- Gabel nicht mehr. Die Uhrzeiten und Wo-
größer geworden, die Mutter älter, ihr ben. chentage sind schon weg.
Mann kränker. Es ist eine Geschichte vom Ich habe schon auch Angst, sagt sie. Ir- Das mit der Bank können wir morgen
Verschwinden. gendwann wird er kein Auto mehr fahren machen, sagt er.
können. Morgen ist Samstag, sagt sie.
Erster Besuch, Januar 2010 Irgendwann werde ich kein Auto mehr Er soll Milch holen, ist dann verschwun-
Eine Prognose fahren?, wiederholt er ihren Satz, sagt: Ir- den, sie muss ihn suchen wie ein kleines
Sie sitzen vor dem Ofen, vor Tee, Keksen, gendwann werde ich gar nichts mehr kön- Kind.
sie stillt das Baby. Es ist wie geplant zu nen. Ich werde keine Kiste mehr heben Du solltest Milch holen, sagt sie.
Hause auf die Welt gekommen. können. Er sagt: Medizinisch ist die Krank- Dennoch: Der erste große Schock ist
Sie erzählen von ersten kleinen Verän- heit der sichere Tod, langsam und qualvoll. vorbei, das tiefe Loch gefüllt mit Alltag
derungen, die die Krankheit in ihr Haus Vor dem Fenster wird es an diesem Tag und Streit. Streit ist auch gut. Streit ist an-
gebracht hat. Dieses Gesuche, sagt seine nicht hell, ein grauer Januar. Die großen strengend, tut aber weniger weh als Trau-
Frau, das ist mehr geworden. Wo ist die Mädchen kommen bald aus der Schule. rigkeit.
Brille? Wo ist der Geldbeutel? Was haben Gut, wenn man früh Bescheid weiß, Sie sagt den Satz vom Licht am Ende des
wir schon alles gesucht! dann kann man reden, Dinge regeln, sagt Tunnels, das sie braucht, aber im Moment
Wo ist der Wäschekorb? Er geht und er. Er hat Fine auf dem Arm. nicht sehen kann. Sie weint abends im Bett.
will die Wäsche aufhängen, es klingelt an Wir schaffen das. Es gibt für alles eine Denkt, ich darf jetzt nicht durchdrehen.
der Tür, er lässt den Korb stehen, macht Lösung, sagt sie. Die Ersten, denen sie vom Ausbruch der
auf, hat den Korb vergessen. Mit dem Sie spricht mit den Händen, hat rot ge- Krankheit erzählen, sind seine beiden Brü-
Kurzzeitgedächtnis fängt es an. schminkte Lippen, einen breiten Mund. der. Es war immer eine Art Roulette: Wer
Er arbeitet dagegen an, merkt sich feste Manchmal bemüht sie sich, ihre Sätze mit von den dreien bekommt es, wer nicht?
Plätze für die Zeitung, für die Briefe. Er einem Lächeln abzuschließen. Sie will Seit die beiden es wissen, meiden sie ihren
schreibt sich Zettel zum Einkaufen, Quark, nicht nur den Verlust sehen, auch den Ge- kranken Bruder, sagt sie. Vielleicht, weil
Bananen, Milch, weiß aber dann nicht, wo winn, die Liebe, die wachsen und sie tra- die Brüder ihr eigenes mögliches Schicksal
er den Zettel gelassen hat. Gibt den Kin- gen wird, es hat doch gerade erst begon- nicht mitansehen können. Oder weil sie
dern die Zettel, lernt, sich auf die Kinder nen. Sie hofft auf ein Wunder. Vielleicht sich für ihr Glück schämen, bislang ver-
zu verlassen. betet jemand für uns, sagt sie. schont geblieben zu sein.
48 DER SPIEGEL 36 / 2017
Die Krankheit macht die Familie einsam.
Es klingelt nicht an der Tür, und niemand
kommt, um zu fragen: Braucht ihr etwas?
Ihre Freunde wissen erst nicht, wie sie mit
ihnen umgehen sollen.
Er verliert den Autoschlüssel und auch
die Ersatzschlüssel, den Briefkastenschlüs-
sel, sie ziehen die Post mit den Fingern
aus dem Schlitz. Gloria wartet seit Wochen
auf ihren Personalausweis. Oder hat Papa
ihn weggeworfen?
Hast du?, fragt sie.
Kann sein, sagt er.
Ich wünschte, du wärst schon tot.
Hat sie so gesagt, aber sie sagt vieles
einfach so, sie ist erst zwölf. Sie entschul-
digt sich später, mehrfach. Er trägt es ihr
lange nach. Ständig steht er in ihrem Zim-
mer und will irgendwas.
Der nervt, ich will das nicht, sagt Glo-
ria.
Sie schiebt ihren Vater mit beiden Hän-
den über die Holzdielen aus dem Zimmer
auf den langen Flur, wo er stehen bleibt
und nicht weiß, in welche Richtung er ge-
THEKLA EHLING / DER SPIEGEL
Kinder riechen, sagt die Frau. Man er- Er kämpft. Er will noch bleiben. Will Um den Mann zu Hause kümmert sich
zählt sich das so im Kindergarten, in der festhalten am normalen Leben, an seiner in dieser Zeit teils sein Vater, teils war sie
Schule. Familie. Die Frau nicht. ihn, so sagt sie das, an eine Behinderten-
Kann sein, dass mein Mann riecht, sagt Er hört die Sätze der Kinder. werkstätte losgeworden, zumindest tags-
sie. Aber die Kinder nicht, das ist Unsinn. Gloria, jetzt 13: Ich möchte nicht in die über. Dort schippte er den Schnee. Das
Es ist Unsinn. Küche, da ist Papa. ging ein paar Wochen lang gut, dann war
Er duscht nicht mehr. Mangelnde Hy- Anne, 10: Ich will nicht mit Papa zu Ede- er zu krank.
giene, so wie er es angekündigt hatte. ka, das ist mir peinlich, dann findet der Er kennt jetzt den Unterschied zwischen
Er ist im zweiten Stadium seiner Krank- nichts oder labert Mist die ganze Zeit. Tag und Nacht nicht mehr. Steht in den Zim-
heit angelangt, er irrt umher, stößt sich an Fine, 3: Ich will nicht mit Papa gehen, mern der Kinder, knipst das Licht an und
Möbeln, verletzt sich. der kennt den Weg nicht. aus, wenn sie schlafen. Steht morgens um
Er sucht seine Brille. Lydia, 7, sagt nichts. drei bei seiner Frau am Bett, die am Morgen
Guck bitte in deinem Schreibtisch nach, aufstehen muss, um zur Arbeit zu gehen.
sagt seine Frau. August 2012, bei einem Ausflug nach Ham- Sie bekommt Anrufe von Leuten, die
Wo ist mein Schreibtisch?, sagt er. burg, müssen sie ihn von der Polizei su- ihren Mann im Ort herumlaufen sehen. Sie
In deinem Zimmer. chen lassen, fünf Kilometer ist er allein fährt los und holt ihn, er wehrt sich, wird
Wo ist mein Zimmer? durch die Stadt gelaufen. aggressiv.
Er schläft jetzt in seinem eigenen Zim- Am Abend, als sie ihn wiederhaben, Sie wird krank, ein Husten, der immer
mer. Das sieht unordentlich aus wie bei ei- spricht er im Restaurant ein Paar an und schlimmer wird. Sie weiß, sie wird den Hus-
nem Teenager, alles voll mit Klamotten, sieht dabei zu seinen Kindern. ten nie mehr los, solange er zu Hause lebt.
Zetteln, Stiften. Alles meine, sagt er stolz. Sie muss eine Entscheidung treffen. Für
Im März feiern sie zu Hause seinen Das Paar nickt freundlich, fragt, woher sich, für ihre Familie. Gegen ihren Mann.
44. Geburtstag, es kommen ein paar Gäste. kommen Sie? Dreieinhalb Jahre nach der Diagnose,
Sie ziehen sich fein an, flechten die blon- Aus Detmold, sagt er. am 29. Januar 2013, muss der Mann sein
den Haare der Mädchen zu Zöpfen, essen Detmold stimmt aber nicht. Haus und seine Familie verlassen. Er be-
Torte, machen schöne Bilder. Nach außen Als sie gehen, rangeln die Kinder vor tritt das erste Mal ein Zimmer im Pflege-
halten sie sich gut. Wie lange? der Tür. heim.
Fassade ist manchmal gut, sagt sie. Sie Ey, hör auf, sagt die eine, du darfst nicht Wenn sie im Ort einkaufen geht, fragt
muss zur Arbeit gehen, ins Krankenhaus, frech sein, du hast kein Alzheimer. Papa die Frau an der Kasse bei Edeka: Wo ist
Menschen psychologisch beraten. Das geht hat Alzheimer. Es ist gerade ein bisschen denn der Herr Doktor?
im Augenblick nicht ohne Fassade. leichter. Sie können manchmal zusammen Der Herr Doktor lebt jetzt in einem an-
lachen. deren Ort, in Haus acht eines Heims, Zim-
Dritter Besuch, April 2012 Sie haben stehende Falten, Sie sollten mer 281. Es gibt dort ein Bett und einen
Die Gefühle halten länger als mehr trinken, hatte er zu einer fremden Schrank, an den Wänden hängen die Fotos
der Verstand Frau noch gesagt. der Kinder und das Hochzeitsbild in einem
Es ist kalt in diesem April, zehn Tage nach Danach, im Fahrstuhl, äfft eines der Kin- goldenen Rahmen.
Ostern, alle sind noch in Winterjacke. der den Vater nach: Sie haben stehende Vor dem Fenster liegt ein Park mit riesi-
Er steht an der Spülmaschine, trägt ein Falten! Sie sollten mehr trinken! Alle la- gen Bäumen. Es ist ein Haus für Menschen
braunes Hemd, Hausschuhe. chen, auch er. mit Hirnschädigungen, viele ehemalige
Ich bin am Krepieren. Ich habe starke Er ist jetzt der, über den sie lachen. Das Drogenkranke leben hier, eigentlich nicht
Kopfschmerzen, immer an einer Stelle. Ich ist nicht das Schlechteste. Es ist besser als das Richtige für ihn, aber was ist schon
denke, dass an diesem Punkt der Anfang die Härte und die Kälte davor. das Richtige für einen jungen Mann mit
vom Ende liegt. Drei Jahre sind es seit der Diagnose. Alzheimer?
Seine Frau kommt nach Hause, sie ist Manchmal ist Struktur verlässlicher als Am Anfang kann er noch in der Park-
schlanker geworden, trägt Rock und Stiefel, Hoffnung. Die Familie hat jetzt einen Plan: gruppe mitmachen, mithelfen, die Bäume
das Rot auf ihren Lippen ist zurück. Sie Es gibt einen Patienten und seine Familie. zu schneiden, jetzt nicht mehr. Es geht
fragt die Kinder nach den Hausaufgaben, Sie haben keine Erwartungen, glauben schnell. Er pinkelt in Blumentöpfe, er er-
ob sie gegessen haben. nicht mehr, dass es je wieder besser wird. kennt seine Kinder manchmal nicht mehr.
Er spricht jeden Tag von Selbstmord, Sie wissen jetzt, dass kein Wunder gesche- Wer ist denn das? Wer kommt denn da?,
sagt sie. hen wird. fragt er seine Frau.
Du musst zum Therapeuten, wenn du Am Abend sitzen sie im Riesenrad auf Unsere Kinder, antwortet sie.
so etwas sagst, sagen die Kinder. dem Domfest. Er trägt ein gestreiftes Die Kinder hören auf, ihn zu besuchen,
Zurzeit nicht, sagt er. Hemd, legt seinen Arm um seine Frau, es weil es sie zu traurig macht. Er sieht seine
Sieht seiner Frau hinterher. sieht fast aus wie früher. Die Kinder zeigen Töchter an wie Fremde.
Seit sie in der Kur war, ist er trauriger auf den Hafen, den Fernsehturm. Ein Fa- Die Kinder trauern. Sie haben Bauch-
geworden, ist eifersüchtig, obwohl sie milienausflug. Dass es ihr letzter ist, wissen schmerzen, Fehlzeiten in der Schule, Lydia,
ihm nichts erzählt hat, es ja auch wenig sie nicht. jetzt in der dritten Klasse, schon 60 Tage.
zu erzählen gibt, aber er scheint etwas Im Winter 2012 fliegt sie nach Dubai Gloria, inzwischen 14 Jahre alt, isst we-
zu spüren bei ihr. Auch er weint jetzt und dann nach Indien, zum Meditieren, nig, sie will schlank sein.
manchmal abends im Bett. Die Gefühle sie braucht eine Atempause, zu Hause Ihre Mutter fährt also allein ins Heim,
halten sich bei Alzheimer länger als der passen Freunde auf die Kinder auf. zeigt ihrem Mann Fotos von zu Hause, auf
Verstand. Sie trifft einen Mann, einen Inder, der denen er nicht mehr zu sehen ist.
Sie hat ein paar Pommes frites auf das ihr gefällt, dem sie gefällt, sie geht mit Sein altes Zimmer ist jetzt das Gäste-
Blech gelegt, die Familie sitzt am Tisch, ihm aus. zimmer, seine Sachen sind in Kartons ver-
isst. Er entdeckt Ketchup an ihrem Mund, Sie sagt danach: Ich bin mir selbst wie- packt, manches verschenkt.
nimmt die Serviette. der ein Stück weit nähergekommen, ich Lydia benutzt seinen Kleiderschrank,
Warte mal, Entchen. bin froh darum. trägt seine Pullis zum Schlafen. Anne,
DER SPIEGEL 36 / 2017 51
Gesellschaft
schon 12, liest für ihn das „Ärzteblatt“ wei- die Bilder aus Indien weg, die Bilder vom Das sind die Heimkosten. Sie hätte Un-
ter, so hält sie Verbindung zu ihm. Die gro- Mann aus Indien in ihrem Zuhause, hält terstützung bekommen können von den
ßen Mädchen tragen abwechselnd seine erst an bei Aufnahmen von ihr mit den Sozialbehörden, doch dazu hätte sie Un-
Uhr, jede trägt sie eine Woche lang. Sie Kindern. terlagen einreichen müssen, das hat sie
schreiben sich Nachrichten über Whats- Das war das Klassenfest, sagt sie. Das nicht getan, nicht ausreichend. Ein
App: Ich vermisse Papa. war im Zoo, im Schwimmbad, die Kleine Freund, der Anwalt ist, kümmert sich
Ich auch. in der Badewanne. Das ist in der Schüt- jetzt darum. Das hat sie lernen müssen:
Im Heim trägt er in seiner Hosentasche zenhalle beim Frühschoppen. um Hilfe zu bitten und Hilfe auch anzu-
immer einen kleinen Zettel bei sich, ge- Die Kinder, die Kinder, sagt er. Da wird nehmen.
schützt von einer Klarsichthülle, den er es nie langweilig. Er klingt wie ein freund- Sie hat verstanden, wer sie ist. Eine al-
von Zeit zu Zeit hervorzieht und liest. Da- licher Fremder. leinerziehende Mutter mit vier Kindern.
rauf steht: Wo sind die Kinder?, fragt er. Die Affäre mit dem Mann aus Indien ist
Wo ist meine Frau? Begleitet seine Frau auf den Flur, als sie vorbei. Er war nicht gut zu ihr, sagt sie.
Bei ihrer Arbeit. geht, verabschiedet sich, bleibt auf dem Aber es ging auch nie um ihn. Ihr Bruder
Wann kann ich sie erreichen? Flur stehen, will hinterher. sagt, du warst so bedürftig, du hättest auch
Dienstag und Donnerstag per Telefon. Kommen Sie, sagt die Schwester zu ihm einen Stuhl genommen.
Die Mitarbeiter stellen die Telefonverbin- und dreht ihn so, dass er geradeaus in sein
dung her. Zimmer laufen kann. Fünfter Besuch, Mai 2014
Wann kann ich sie und die Kinder sehen? Wo ist meine Frau?, fragt er. Nimmt sei- Unerwünschte Nebenwirkungen
Wenn sie nicht zur Fortbildung ist, nen Zettel aus der Hosentasche und liest. Gloria ist in der Schule, die anderen Mäd-
kommt sie mich vielleicht mit den Kindern Bei ihrer Arbeit. chen sind in ihren Zimmern. Die Jüngste,
besuchen. Fine, die noch ungeboren war, als die
Seit er im Heim ist, fällt ihr die Arbeit An Weihnachten 2013 ist er zwei Nächte Krankheit ausbrach, ist jetzt bald fünf Jah-
im Krankenhaus wieder leichter, sie findet zu Hause, beim Essen am Tisch möchte er re alt. Sie kommt ins Wohnzimmer und
Zeit, die Steuer zu machen, mit der Bank neben seiner Frau sitzen, aber da sitzt der zeigt, dass sie „Mama“ schreiben kann und
zu verhandeln. Sie stellt Töpfe mit Kräu- Mann aus Indien. Sie machen Fotos, aber „Papa“.
tern auf den Gartentisch. Sie schreibt SMS die Kinder wollen nicht, dass Mamas neuer Zeigt, dass sie auf einem Bein quer
nach Indien, bekommt SMS aus Indien. Freund darauf zu sehen ist. durch die Küche hüpfen kann, trägt keine
Ihr Vater sortiert im Haus Papier, stapelt Socken und Schuhe, so, wie es ihr Vater
Vierter Besuch, Juli 2013 es auf dem Schrank, so, wie er es früher ein halbes Jahr lang tat, als er schon krank
Wenn Krankheit arm macht tat, wenn er die Ablage machte und nie war.
Bevor sie zum Heim fährt, ruft sie ihn an eine Frist vergaß. Und ich bin ja von Papa, sagt sie.
und sagt, dass sie kommt, das macht sie Den Kindern geht es besser. Gloria, 15 Ihre Mutter will wieder zu ihm fahren
immer so. Obwohl sie weiß, dass er es ver- inzwischen, isst wieder. Sie hat viel dazu- an diesem Tag, zwei der Kinder wollen
gessen haben wird, bis sie da ist. gelernt. Darauf ist sie stolz. mit.
Ich habe so lange auf dich gewartet, sagt Ich bin selbstständig, sagt sie, ich kann Stirbt Papa bald?, fragt die Jüngste kurz
er am Telefon. Und: Sag mal, wo wohnst Möbel allein zusammenbauen, das Bett, vor dem Heim. Sie fragt das so wie: Gehen
du denn? den Nachtschrank habe ich gemacht. Ich wir nachher noch ein Eis essen?
Sie fährt an diesem Tag durch den Re- kann kochen, ich kann auf Kinder aufpas- Im Heim an den Tischen sitzen die alten
gen über die Autobahn, im Siebensitzer. sen. Ich kann schwere Sachen tragen. Leute, vor Kuchen in grellem Licht. Ho-
Die Tür zum Zimmer ihres Mannes ist of- Als ihr Vater wieder aus dem Haus ist, cken stumm da, starren, machen Laute.
fen, er sitzt auf dem Bett. sind die Töchter froh. Zwischen ihnen sitzt ein junger Mann im
Er kann noch sprechen. Schmalere Im Frühjahr 2014 wechseln sie das Heim gestreiften Hemd, der nicht hierherzuge-
Schultern hat er, schmaleres Gesicht. Er für ihn, bei den Ex-Drogenkranken geht hören scheint, er ist jetzt 46. Um ihn he-
will sich unterhalten, er beginnt Sätze, es nicht mehr, er ist zu krank geworden. rum die beiden Mädchen.
manche beendet er. Er lebt jetzt mit alten Leuten zusammen, Guck mal, Papa, das bist du, sagt Lydia.
Ach, da bist du ja, sagt er. die dement sind. Das Heim liegt in einem Sie hat ihrem Vater ein Bild gemalt, hat
Ach, da bist du ja, sagt er kurz darauf Dorf, 20 Kilometer entfernt. ihren Vater gemalt, der auf einer Wiese
wieder. Hier läuft er kilometerweit über die Flu- steht. Er nimmt das Bild. Knickt es. Es fällt
Mensch, Mensch, Mensch, das ist aber re und glaubt, er sei der Arzt der Station. ihm aus der Hand, gleitet in eine Ecke über
schön, sagt er. Sitzt in Teambesprechungen, das haben das PVC.
Ja, sagt sie. die Schwestern ihm erlaubt, bis auch das Er isst Erdbeerkuchen, eine ältere
Er zittert, er greift nach ihrer Hand. Sie nicht mehr geht. Dame hat ihm den Kuchen gebracht. Sie
hält auch ihn fest, er beruhigt sich nun. Das dritte Stadium seiner Krankheit hat wohnt gegenüber dem Heim, ist Rentne-
Noch erkennt er sie. begonnen, das letzte. Vor Kurzem hat er rin. Elf Jahre lang hatte sie ihren eigenen
Vorher, im Auto, hat sie gesagt: Für mich seine Frau nicht mehr erkannt. Sie kam, Mann nach einem Schlaganfall jeden
ist das nur noch Fürsorge jetzt, keine Liebe stand auf dem Flur, er lief an ihr vorbei. Tag hier im Heim besucht. Nun ist der
mehr oder eine andere Form von Liebe. Durch mich hindurch, sagt sie. Mann tot, nun besucht sie den Herrn Dok-
Sie weint nicht mehr, das hat sie lange ge- Zu Hause stellt sie weiter Wiesenblu- tor jeden Tag.
nug getan, sagt sie. men auf den Tisch in Gelb und Lila, macht Er füllt das Loch ein bisschen, seit der
Ich liebe dich, Entchen, sagt er. weiter. Soll alles schön aussehen, trotz des Dieter tot ist, sagt die fremde Frau. Sie hat
Kämpft weiter um seine Frau, scheint Chaos. Krankheit kann arm machen. Auf dem Herrn Doktor Kleidung mitgebracht.
manchmal noch zu spüren, wie es ihr geht, drei Konten ist sie im Minus, sie kauft jetzt Er sitzt da in einer Hose vom Dieter.
dass sie mit dem Herzen weit weg ist. Dass weniger Obst. Seine eigene Frau steht am Tisch, sein
sie ihm entgleitet. Im Februar konnte sie das Tanken nicht Blick fällt immer wieder für ein paar Se-
Sie sitzen zusammen auf dem Bett, sie bezahlen. Auf dem Schreibtisch liegt ein kunden auf sie. Heftet sich an sie, so, als
zeigt ihm Fotos auf ihrem Telefon, wischt Vollstreckungsbescheid, 31 797,89 Euro. würde er kurz überlegen, ob er sie kennt
52 DER SPIEGEL 36 / 2017
von irgendwoher, und beschließen, sie
nicht zu kennen.
Wie geht es dir?, fragt seine Frau vor-
sichtig.
Er sagt nichts.
Kannst du mal antworten?, sagt die
fremde Frau.
Seine Frau weint.
Die fremde Frau erzählt überall, dass
die Frau des Herrn Doktor nur noch selten
zu Besuch kommt.
Die Leute reden. Das Gerede muss man
aushalten wie eine unerwünschte Neben-
wollte er pfeifen.
Im Radio läuft Popmusik, Opus, „Live
Is Life“.
Du, die Älteste haben wir jetzt in
Amerika, sagt sie. Und Anne und Lydia
sind mit ihrem Onkel im Allgäu. Hm, sagt
DER SPIEGEL 36 / 2017 53
Gesellschaft
Vater, den Ehemann, verabschieden sich Der letzte Besuch, ein halbes Jahr
endgültig, küssen ihn. nach dem Tod
Dann erzählt die Mutter ihren Kindern Sie kommt durch die Tür, ihr neuer Freund
am Totenbett eine Liebesgeschichte. Es packt die Einkäufe aus dem Wagen. Sie
waren einmal zwei Teenager in Rom. Sie feiern am Abend eine Party. Es wirkt alles
beendet die Geschichte mit den Worten: wie früher. Die Möbel sind dieselben, das
Und deshalb seid ihr Kinder der Liebe. Feuer brennt im Kamin. Der Mann ist ein
Ab da wird es leichter, fast heiter. Am anderer. Er legt Sekt in den Kühlschrank.
nächsten Morgen zieht sie ihm den Hoch- Sie sitzt in der Küche. Seit ihr kranker
zeitsanzug an. Mann gestorben ist, sagt sie, denkt sie wie-
Tage später, kurz vor der Beerdigung der öfter an die vielen guten Jahre davor,
und nachdem sein Körper eingeäschert ist, erinnert sich an den Mann, den sie liebte,
steht zu Hause die Urne auf dem Küchen- seine Großzügigkeit, seine Art, Entschei-
tisch. Die Kinder sitzen darum herum und dungen zu treffen, diese Klarheit. Sie
bemalen bunte Pappen, kleben sie an die träumt von ihm, weint um ihn, nun, da al-
Urne, verzieren sie. les vorbei ist.
Sie hat ihn verloren, aber nicht sich
Siebter Besuch, April 2016 selbst oder die Kinder. Sie hat es geschafft,
Etwas Neues kann beginnen weil sie Hilfe bekam und Hilfe annehmen
Die Kirche ist voll. Der Herr Doktor ist konnte. Weil sie auch an sich dachte,
gestorben, mit 48 Jahren. Zurück lässt er manchmal sogar egoistisch war. Weil sie
eine Frau und vier Töchter. delegierte, ihn losließ, ihn gehen ließ. Weil
Immer mehr Gäste kommen aus dem sie kein Opfer sein wollte. Weil sie mit
Regen an diesem dunklen Aprilmorgen, Abstand auf die Dinge sah und erkannte,
bringen Sträuße, Beileidskarten. In der ers- was gut für sie war. Weil sie sich verliebte
ten Reihe sitzen die vier blonden Mädchen und Kraft hatte für ihre Kinder. Weil sie
mit ihrer Mutter, nur die Jüngste, Fine, sich nicht gehen ließ. Vielleicht auch, weil
weint. sie die Karma-Sachen ihrer Freundin
Alle singen Lieder aus dem Heft, das glaubte.
die Familie gestaltet hat, dort sind Fotos Was sie verloren hat: zwei Freundinnen,
zu sehen, auch jenes mit den beiden Teen- die ihr den Mann aus Indien nicht verzei-
agern beim Papst in Rom, Stationen seines hen. Und: Sie hat 500 000 Euro Schulden
Lebens. Sie singen: Und bis wir uns wie- auf das Haus. Damit kann man leben.
dersehen, halte Gott dich fest in seiner Das Haus ist noch da, der Garten, die
Hand. Die Frau lächelt. Blumen, das Feuer, die Kinder, die Liebe.
Auch wenn es seltsam klingt, die Familie Im Winter haben sie zu fünft auf einer
hat sich gefreut auf diesen Tag. Etwas ist
abgeschlossen. Etwas Neues kann begin-
Bühne „Cinderella“ getanzt.
Am späten Nachmittag kommen die ers-
Wut, Wurst und
nen.
Die Kinder haben überlegt, was sie ih-
ten Gäste, es wird eine gute Party, jemand
spielt Klavier. Die Geschichte könnte hier Selfies
rem Vater mit ins Grab geben. Sie stehen aufhören, mit einem guten Ende. Aber das Der Fotograf Hermann Bredehorst hat
später ganz vorn in der langen Schlange, Schicksal macht vielleicht nur Pause.
Angela Merkel und Herausforderer Mar-
vor dem kleinen Loch in der Erde, auf dem Bei 50 Prozent liegt die Wahrscheinlich-
Friedhof neben der Kirche. Fine wirft ro- keit, dass die Kinder die Krankheit bekom- tin Schulz bei Dutzenden Wahlkampfauf-
safarbene Blüten aus einem Holzkorb auf men; Gloria, Anne, Lydia und Fine. Sie tritten begleitet. Er war dabei, als Mer-
die Urne, Gloria Tee, Pfefferminze, die er könnten sich testen lassen und herausfin- kel im sächsischen Quedlinburg von
im Heim getrocknet und in einer Dose auf- den, ob auch ihr Chromosom 14 beschädigt AfD-Fans niedergetrillert wurde, und be-
bewahrt hatte. Es dauert lange, bis alle ist. Das wollen sie aber nicht. gleitete Schulz beim Würstchenessen im
Gäste an das Grab getreten sind. Die Kin- Niemand weiß, wie lange das Glück an- Kleingartenverein. Was er erlebt und in
der sagen, das ist ein Ort, der Papa gefallen hält. Und wann das Ende kommt. Und seinen Bildern dokumentiert hat, sagt
würde, unter einem hohen Baum. Dann wenn man es wüsste, wäre damit das viel über den Wahlkampf. Aber noch
gehen die Mädchen mit ihrer Mutter zum Glück nicht schon zu Ende?
Ausgang. Gloria sitzt im Minikleid auf ihrem Bett, mehr über Deutschland im Jahr 2017,
Zu Hause ist die alte Villa voll mit Men- eine junge, hübsche Frau, sie hat den Füh- ein Land zwischen Wohlstand und Wut.
schen, sie stehen in der Küche und essen rerschein und einen Freund, bald wird sie
Linsensuppe und Torte. Seine beiden Brü- Abitur machen. Sehen Sie die Visual Story im digitalen
der sind auch da, sie betreten das Haus Sie sagt, wenn ich es hätte, könnte ich SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code.
nicht, stehen draußen im Kies mit einer nicht damit leben. Ich wäre weniger ehr-
Tasse Kaffee, allein. geizig und weniger lebensfroh.
Sie sagt: Wenn jemand stirbt, fragt dich Sie sagt: Ich möchte später einmal eine
jeder, brauchst du Hilfe? Vor ein paar Jah- Familie haben, eine schöne Familie, wie
ren hätte ich richtig viel Hilfe gebrauchen wir es waren.
können, jetzt nicht mehr. Ach du Arme,
sagen nun einige, und sie denkt: wenn ihr Video: Barbara Hardinghaus
wüsstet. Einen Tag nach der Beerdigung über die Recherche
fährt die Mutter mit den Kindern nach Hol- spiegel.de/sp362017alzheimer
land in den Urlaub. oder in der App DER SPIEGEL JE TZ T D I GI TA L L E S E N
H
eute Morgen habe ich mein Fahrrad zu einem Fahr- dem 11. September 2001 kam ein Kollege von mir mit
radhändler in die Winsstraße gebracht. Zur Durch- einem Pearl-Harbor-T-Shirt ins Büro. Das war eine T-Shirt-
sicht. Früher hat man so was nur bei Autos ge- Entscheidung, die mit dem Herzen getroffen wurde. Meine
macht, aber das ist eine andere Geschichte. nicht. Ich hasse Trump, würde aber kein T-Shirt tragen,
Die Winsstraße liegt im Winsviertel, das Winsviertel auf dem das steht. Es wäre mir zu naheliegend. Ich würde
liegt im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, der Fahrrad- auch kein T-Shirt tragen, auf dem steht: Kim Jong Un ist
laden heißt Ostrad. New Yorker wissen: Wenn ihre Nach- ein gefährlicher Irrer. Außerdem: Alle beklagen sich über
barschaft plötzlich einen Namen trägt wie „Gowanus“ den Narzissten Trump, aber unsere Straße hängt voller
oder „South Slope“, dann sollte man sich seinen Mietver- Plakate, auf denen der FDP-Chef Lindner Werbung für
trag noch mal genau anschauen. Win- sich selbst macht. Auf einem scheint
skiez und Bötzowkiez sind Verkaufs- er sich die Manschettenknöpfe zu
schilder. Immobilienhändler brauchen schließen. Er könnte sich auch auf die
Labels. Es gibt das „Herz des Böt- Uhr schauen. Alle machen sich über
zowkiezes“, wie es „Prime Slope“ gibt. Trumps Frisur lustig, aber niemand
Vor ein paar Jahren geisterte in Berlin erinnert sich, dass Lindner seine Haa-
mal das Wort „Noto“ herum, was eine re gekauft hat.
Abkürzung für North of Torstraße sein Ich habe das Midwest-T-Shirt vor
sollte. Aber das war dann doch zu blöd. drei Jahren in Durango, Colorado, ge-
Auch Ostrad ist natürlich ein Label, kauft, in einem alternativen Platten-
funktioniert bei mir aber. Würde ich laden, direkt neben einem der Head-
vor zwei Fahrradläden stehen, von de- shops von Durango. Es wurde in Chi-
nen einer Ostrad hieße und einer West- cago hergestellt, der Heimatstadt von
rad, würde ich immer Ostrad wählen. Obama, die in Illinois liegt, einem der
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL
Vor 30 Jahren hätte ich mich noch an- beiden Midwest-Staaten, die demo-
dersrum entschieden, was die Ge- kratisch gewählt haben. Meine Toch-
schichte der deutschen Wiedervereini- ter ist in Durango für ein halbes Jahr
gung schön zusammenfasst. zur Highschool gegangen, in eine der
Ich berlinerte im Gespräch mit dem besten Schulen, die ich kenne. Sie hat
Fahrradmonteur noch stärker als oh- in der schulischen Dunkelkammer ge-
nehin. Auch er berlinerte. Noch mehr lernt, wie man Fotos entwickelt. Wir
berlinert wird nur im Fahrrad Konsum Ernst-Thälmann-Denkmal in Prenzlauer Berg haben Freunde in Durango, die dort
auf der Danziger Straße, wo ich mein mal eine alternative Zeitung heraus-
erstes Rad kaufte, das aber schnell geklaut wurde. Da ist gegeben haben. Parallel dazu betrieben sie eine Bio-
man nicht nur örtlich, sondern auch politisch auf der rich- bäckerei. Heute ist er Chefredakteur einer Monatszeit-
tigen Seite. Es ist, als legte man dem Monteur seine Ge- schrift für Umweltschutz, sie ist Lehrerin.
burtsurkunde und seinen Parteiausweis auf den Tisch. Das ist natürlich eine ziemlich lange Erklärung für ein
„Kannste heute Abend wieda abholen“, sagte der Mann T-Shirt. Es fragt mich ja auch niemand. Die Leute gucken
am Tresen. „Wenn wat iss, rufen wa an.“ „Jut“, sagte ich. nur komisch, und auch das bilde ich mir sicher nur ein.
Die Sonne schien, ich lief gut gelaunt die Marienburger Als Teenager bin ich mal versehentlich im FDJ-Hemd zum
Straße hinunter, überquerte die Greifswalder, die ursprüng- Religionsunterricht gegangen. Ich saß dann mit Winter-
lich eine Gletscherrinne war, heute aber die Grenzlinie zwi- jacke im gut geheizten Religionszimmer von St. Josef in
schen den Verkaufsobjekten Wins- und Bötzowkiez bildet. Berlin-Weißensee. Am Hals leuchtete der blaue FDJ-
Ich kenne übrigens keinen einzigen Berliner, der ernsthaft Kragen meines Judashemds. Eine Stunde lang musste ich
das Wort Kiez sagt. Ich habe mal nachgeschaut: Kiez haben es ertragen, die verschiedenen Seelen in meiner Brust
die Nazis benutzt, um Arbeiterviertel mit vorwiegend kom- gleichzeitig auszustellen.
munistischer Bevölkerung zu markieren. Die SA würde So schlimm ist es heute nicht, aber ich bin doch froh,
sich in der Hufelandstraße nicht mehr zurechtfinden. Keine als ich mit meinem Midwest-Shirt wieder zu Hause bin.
Kommunisten mehr, von Arbeitern ganz zu schweigen. Später checke ich noch, wen ich eigentlich wählen sollte.
Irgendwann spürte ich, dass mich die Leute seltsam ansahen. Der Wahl-O-Mat empfiehlt mir die DKP. Der letzte Kom-
Ich dachte erst, es liegt an meiner guten Laune, später dach- munist im Bötzowkiez. Allerdings mit Eigentumswohnung,
te ich: Es liegt an meinem T-Shirt. Ich trug ein blaues T-Shirt die er sich in 25 Jahren als Lohnschreiber des Kapitals zu-
mit den Umrissen des Mittleren Westens der Vereinigten sammengeschmiert hat.
Staaten von Amerika, darunter steht: Midwest. Alles nicht einfach.
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Dieselfahrverbote
Bundesregierung und Länder haben sich kurz vor dem Die- Forum Diesel Anfang August hatte sich die Regierung mit
selgipfel am Montag bei Kanzlerin Angela Merkel auf wei- den Autokonzernen darauf geeinigt, für den Fonds 500 Mil-
tere Gelder für die von Fahrverboten bedrohten Kommu- lionen Euro bereitzustellen. Die zusätzliche halbe Milliarde
nen geeinigt. Insgesamt soll eine Milliarde Euro bereitge- soll über einen Zeitraum von drei Jahren ausgeschüttet
stellt werden, damit die Städte etwa in Elektrobusse oder werden. Verteilt werden soll das Geld an die 34 am stärks-
Elektroautos für ihre eigene Fahrzeugflotte investieren kön- ten betroffenen Städte – entsprechend der Zahl der durch
nen. Die neuen, zusätzlichen Finanzhilfen will Merkel am die gesundheitsgefährdenden Stickoxide betroffenen Bür-
Montag nach dem Spitzentreffen in Berlin verkünden, wo ger. Die Grünen schlagen ein Zukunftsprogramm Nahver-
sie mit den Bürgermeistern betroffener Großstädte berät, kehr vor, das aus dem Geldtopf finanziert werden könnte.
wie die wegen erhöhter Stickoxidwerte drohenden Fahrver- Ein attraktives Netz aus Bussen und Bahnen soll die Bürger
bote verhindert werden können. Schon beim Nationalen davon überzeugen, das Auto stehen zu lassen. gt
Start-ups Schneegans: Ich bin nicht die Firmen zahlen aber je Schneegans: Oft haben Tech-
„Weniger Angst“ schüchtern und habe Verab- nach Größe zwischen 1000 Konzerne so etwas schon
redungen immer ohne App und 10 000 Euro im Monat. selbst gebaut. In traditionel-
Marie Schneegans, 24, Gründe- hinbekommen. Es gibt aber SPIEGEL: Es sind keine Digital- len Firmen ist es schwieriger,
rin der App Never Eat Alone, Kollegen, die sich nicht firmen unter Ihren Kunden. solche Systeme zu bauen.
über Chancen einer Mittagspau- trauen, einen Vorgesetzten Die kommen dann zu uns.
se mit fremden Kollegen oder jemanden aus einer an- SPIEGEL: Sie haben in Berlin
deren Abteilung anzuspre- angefangen, dann ging
SPIEGEL: Nehmen Unterneh- chen, ob er gemeinsam essen es ins Silicon Valley. Warum?
men das Mittagessen ihrer gehen will. Schneegans: Dort gibt es
Mitarbeiter nicht ernst genug? SPIEGEL: Ihre Firma ist mit eine Denkweise, die in
Schneegans: Je enger das Netz- 14,6 Millionen Euro bewertet. Europa fehlt. Man hat Mento-
werk von Angestellten, desto Was macht sie so wertvoll? ren, die etwa von Airbnb
besser arbeiten sie und verste- Schneegans: Wir haben kommen, von denen kann
ROMINA CHOUN
hen die Firma. Beim Essen- 70 Kunden, darunter die Al- man jede Menge lernen.
gehen lernt man sich kennen. lianz, BASF, L’Oréal und Ban- Die Gründer dort sind ein-
SPIEGEL: Aber warum ken. Deren Mitarbeiter laden fach positiver und haben
braucht man dafür eine App? zwar die App gratis herunter, Schneegans weniger Angst. mum
der Pensionsfonds kaliforni- der Verträge bis zur Geneh- se internationale Investoren“
scher Lehrer. Die Anleihen migung durch die Kartell- angesprochen, die Air Berlin
sollen gegen Wechselkursrisi- behörden und die Bezahlung „im Ganzen“ erwerben und
ken abgesichert werden. der Anteile zu überbrücken. sanieren wollten, teilte er dem
Bislang bot der ESM aus- Nach dem Jahreswechsel Sachverwalter Ende vergan-
schließlich auf Euro lautende Graffito in Athen könnten die ehemaligen Air- gener Woche mit. did, fdo, gt
Gesundheit einer Praxis aus Privatabrech- chen Zeitraum um 7,5 Pro- auch die Zahl der Privatversi-
Privateinnahmen für nungen um fast drei Prozent zent auf durchschnittlich cherten von 8,98 Millionen
Arztpraxen sinken auf durchschnittlich 133 000
Euro. Das geht aus einer Aus-
357 000 Euro pro Praxis. Die
Experten des Bundesamtes
auf 8,79 Millionen. Die Pri-
vatversicherer verweisen seit
Die Behandlung von Privat- wertung des Statistischen führen diese erstaunliche Ent- Jahren darauf, dass Ärzte auf
patienten verliert für nieder- Bundesamtes hervor. Bei der wicklung vor allem auf einen die höheren Honorare für die
gelassene Ärzte möglicher- Behandlung gesetzlich Ver- statistischen Sondereffekt Behandlung von Privatpatien-
weise an Bedeutung. Im Ver- sicherter zeigt sich ein gegen- durch eine Umstellung ihres ten angewiesen seien, um
gleich der Jahre 2011 und läufiger Trend: Hier stiegen Stichprobenzuschnitts zurück. eine moderne Infrastruktur
2015 sanken die Einnahmen die Praxiseinnahmen im glei- Von 2011 bis 2015 sank aber aufrechtzuerhalten. cos
M
atthias Becker kennt das schon: Ob ein Vater nur alle zwei Wochen zu Be- in diesem Alter müssen die Töchter der
Er nennt einer neuen Bekannt- such kommt oder die Kinder mehrere Tage Schneiders gegen 20 Uhr mit Geduld ins
schaft seinen Beruf, und das die Woche zu sich nimmt, spielt für seine Bett komplimentiert werden. Am Morgen
Gegenüber schmunzelt. Männerbeauftrag- finanziellen Verpflichtungen der Mutter nach dem Aufstehen bleibt nicht einmal
ter der Stadt Nürnberg, soll das vielleicht gegenüber oft keine Rolle. eine volle Stunde, bis die Kinder aus dem
ein Witz sein? In den Berliner Ministerien sagen Fach- Haus müssen. Trotzdem wollen weder Va-
Becker, grauer Pferdeschwanz, silberner referenten längst, „das passt nicht mehr in ter noch Mutter auf diesen einen Abend
Ring im rechten Ohr, hat sich daran ge- die Zeit“. Getan hat sich allerdings in den pro Woche verzichten.
wöhnt. Genau wie an den großen Schrift- vergangenen Jahren so gut wie nichts. Die Familie lebt deshalb nach einem
zug im Flur, an dem jeder vorbeimuss, der Statistisch wird nach einer Trennung komplizierten Stundenplan. Die Töchter
zu ihm will. „Frauenbeauftragte“ steht da nach wie vor nur der Elternteil erfasst, bei sind nach einem Beschluss des Amtsge-
nur, weil seine Stelle bei der Nürnberger dem die Kinder leben – er gilt pauschal als richts von 2015 von „Mittwoch nach Schu-
Frauenbeauftragten angesiedelt ist. „alleinerziehend“. Zu 89 Prozent besteht lende bis Donnerstag, 19.15 Uhr“ beim Va-
Im Vorzimmer seines Büros hat dann diese Gruppe aus Müttern, die finanziell ter, sowie alle 14 Tage zusätzlich von Frei-
auch noch eine Kollegin ein Poster an die oft unter verheerenden Bedingungen leben. tag nach Schulende bis Montagmorgen.
Wand gehängt, die Zeichnung eines klei- Was aber ist mit den Vätern dieser Kin- In der Praxis bedeutet das alle zwei Wo-
nen Mannes, der an einem Bügelbrett der? Über sie weiß man oft nur, dass er- chen ein wildes Hin und Her: Mittwoch
steht – auf einer Leiter. „Der Mann wächst schreckend viele keinen oder zu wenig nach der Schule gehen die Mädchen zum
mit der Aufgabe“, heißt es daneben. Unterhalt für ihre Kinder bezahlen. Aber Vater, wo sie eigentlich bis Montagmorgen
Was würde passieren, wenn Becker sei- wie jene dastehen, die sich sehr wohl um bleiben. Am Donnerstagabend allerdings
nerseits eine Karikatur mit einer Frau am ihre Kinder kümmern, ist weitgehend un- müssen sie zur Mutter hinübergehen, die
Bügelbrett über den Schreibtisch hängen bekannt. Was bedeutet nur einen Fußmarsch ent-
würde? Es wäre ein kleiner Skandal. die Trennung für sie fi- fernt wohnt, um dort zu
Für solche Gedankenspiele hat Becker nanziell? Wie viel Anteil schlafen.
allerdings selten Zeit. Denn seitdem er im haben sie an der Kinder- Erst kürzlich erklärten
Mai 2016 seinen Job angetreten hat, ren- erziehung? Aussagekräf- die beiden Schwestern ei-
nen die Männer ihm die Bürotür ein. „Vie- tige Statistiken und Un- ner Gutachterin, der Don-
le sagen: Endlich hört mir mal jemand zu.“ tersuchungen dazu gab es nerstagnachmittag im
Becker ist in seiner Position ein Unikat lange keine. der Mütter übernehmen nach Hause des Vaters müsse
im Land. Männer gelten gemeinhin beim Männerverbände be- einer Trennung den Großteil deshalb oft „abrupt ab-
Thema Geschlechterdiskriminierung als klagen deshalb nicht ganz der Kinderbetreuung. gebrochen“ werden. Es
Täter, nicht als Opfer. Warum eigentlich? zu Unrecht die „Mütter- Zum Vergleich: Vor der Tren- gebe Hetze beim Essen,
Beispiel häusliche Gewalt: 18 Prozent lastigkeit“ der Politik und nung waren es 51%. oder aber ein Film müsse
der polizeilich erfassten Opfer waren einer deren „ständiges Väter- IfD-Allensbach-Umfrage unter Eltern mit minder- plötzlich unterbrochen
Auswertung von 2015 zufolge Männer. Bashing“, auch wenn der jährigen Kindern aus früheren Partnerschaften
im April und Mai 2017; 603 Befragte
werden.
„Aber wo schicke ich die hin, wenn sie Ton zuweilen fragwür- Die zuständige Richte-
nicht mehr nach Hause können und kein dig ist. rin aber lehnte es bisher
Geld haben?“, fragt Becker. Für Frauen Erst Mitte Juli dieses Jahres veröffent- ab, die Kinder eine Nacht mehr beim Vater
gebe es in dieser Situation wenigstens Zu- lichte die neue Familienministerin Katari- schlafen zu lassen. Denn der komplexe
flucht in einem Frauenhaus. Männer muss na Barley (SPD) eine vielsagende Umfrage Kompromiss hat einen juristischen Grund:
Becker dann schon mal in die Obdachlo- unter getrennten Eltern. Vor allem Väter Mit der Donnerstagnacht hat die Mutter,
senunterkunft vermitteln. wünschen sich demnach mehr Kontakt zu wenn man die Ferien noch berücksichtigt,
Die weitaus meisten von Beckers Besu- ihren Kindern – und fordern bessere recht- einen Betreuungsanteil von 56 Prozent, so
chern kommen aber aus einem anderen liche und finanzielle Unterstützung, wenn hat es die Juristin einmal ausgerechnet. Da-
Grund: wegen ihrer Kinder. Sie sind nicht eine Familie auseinanderbricht. Aus gutem mit liegt der „Schwerpunkt der Kinderbe-
mehr mit der Mutter zusammen oder wa- Grund. treuung“ offiziell bei Schneiders Ex-Frau.
ren es nie und müssen feststellen, dass sie Eine hälftige Betreuung, im Juristen-
als Väter zum Teil von Justiz und Behör- Ein teurer Abend deutsch „Wechselmodell“ genannt, kann
den als Elternteil zweiter Klasse behandelt Mitte Juli ging es wieder einmal um den ein Gericht in hoch zerstrittenen Familien
werden. Sosehr sich die Politik in den ver- Donnerstagabend. Der Realschullehrer in der Regel nicht anordnen, so hat es auch
gangenen Jahren auch bemüht hat, Män- Florian Schneider* und seine Ex-Frau sa- der Bundesgerichtshof in diesem Februar
ner zu mehr Teilhabe am Familienleben ßen sich in einem Familiengericht gegen- entschieden. Zu groß sei bei einer solchen
zu bewegen und Frauen damit mehr Teil- über, dabei außerdem: drei Anwälte, eine Erziehung der Kooperationsbedarf zwi-
habe am Berufsleben zu ermöglichen: Richterin, ein Vertreter des Jugendamts schen den Eltern, finden auch viele andere
Wenn Familien zerbrechen und Eltern sich und eine „Verfahrensbeiständin“. Sie sollte Juristen.
trennen, ist der moderne Vater oft nicht die Kinder der Schneiders vertreten, die Tatsächlich fällt es schwer, sich vorzu-
mehr gefragt. acht und elf Jahre alt sind. stellen, wie Eltern sich über ein vergesse-
Wenn ein getrennter Mann mehr sein Acht Leute, die eine Antwort suchten nes Mathebuch austauschen, wenn sie nur
will als nur Wochenend- und Spaßpapa, auf die Frage, wo die Töchter die Zeit von über Anwälte kommunizieren oder sich
hat er gegen den Willen der Mutter oft 19.15 Uhr am Donnerstagabend bis zum ständig streiten. Andererseits ist fraglich,
kaum eine Chance dazu. Schätzungen des Schulbeginn am Freitagmorgen verbringen ob bei Familien wie den Schneiders aktuell
Familiengerichtstages zufolge ist in etwa sollen. Wieder einmal ging man unverrich- weniger Abstimmungsbedarf besteht.
95 Prozent der strittigen Fälle der Lebens- teter Dinge auseinander. Lehrer Schneider will die geltende Re-
mittelpunkt eines Kindes bei der Mutter Dabei ist es nicht gerade Quality Time, gelung deshalb nicht hinnehmen. Er fühlt
zu verorten. um die es da geht. Wie die meisten Kinder sich zum „Elternteil zweiter Klasse de-
Auch das geltende Unterhaltsrecht geht gradiert“. Seine Idealwelt sind Länder wie
noch vom Modell Familienernährer aus. * Name geändert. Belgien oder Frankreich. Dort ist das
DER SPIEGEL 36 / 2017 61
Wirtschaft
willige Gastgeber in ganz 51% der Befragten wünschen Vorder- und Rücksitz ge- gemeinschaft Jungen, Männer und Väter“.
Deutschland hat das Netz- sich einen unter beiden Eltern- spannt: zum Kasperlethea- Es ist einer von mehreren Männerver-
werk in seiner Kartei, und teilen ausgeglichenen Anteil terspielen. bänden, die sich in den vergangenen Jah-
rund 800 Männer und 150 an der Kinderbetreuung. Real Habert und ihre Kolle- ren gegründet haben und die Fachpoliti-
Frauen, die es nutzen. Vie- praktizieren dieses Modell gen versuchen deshalb seit kern zufolge mittlerweile zum Teil ebenso
le könnten sich regelmäßi- einigen Jahren, neben den „brachial“ beanspruchen, für das Kinds-
ge Besuche bei ihren Kin- Übernachtungsmöglichkei- wohl zu sprechen, wie so mancher Frau-
dern sonst wohl kaum leis- ten auch „Kinderzimmer enverein.
ten. „Die meisten stehen auf Zeit“ zu organisieren: Riedmeier selbst beteuert, diese „Ge-
unter erheblichem finan- Kitas oder Familienzen- schlechterpolarisierung“ wolle er „gar nicht
ziellen Druck“, sagt Annet- tren, die ihre Räumlichkei- mehr sehen“. Gleichzeitig gehört zu den
te Habert, die gemeinsam IfD-Allensbach-Umfrage unter Eltern mit minder- ten am Wochenende für zentralen Forderungen der Vereinigung
mit einem Partner die Web- jährigen Kindern aus früheren Partnerschaften
im April und Mai 2017; 603 Befragte die Pendeleltern und ihre ein „standardisierter“ Vaterschaftstest noch
site und das dahinterste- Kinder öffnen. im Kreißsaal, um „prophylaktisch“ auch
hende gemeinnützige Unternehmen Flecht- Es ist symptomatisch, dass das Unter- „einem möglichen Betrug bezüglich der
werk 2+1 gegründet hat. nehmen trotz zahlreicher Anträge bislang Barunterhaltsleistungen für das Kind“ ent-
Habert ist eigentlich Religionslehrerin, wenige öffentliche Zuschüsse bekommt. gegenzuwirken. Es dürfte diese bizarre
auf die Idee für „Mein Papa kommt“ brach- „Diese Eltern haben nicht ganz zu Unrecht Mischung sein, die eine Familienpolitikerin
te sie ein achtjähriger Junge. Er erzählte das Gefühl, dass ihr Bemühen um ihre Kin- genervt den Kopf schütteln lässt, wenn sie
von den Besuchen seines Vaters und dass der gar nicht gesehen wird“, sagt Habert. auf die Forderungen der Männerlobby an-
der nachts im Auto schlafen müsse. Ob sie gesprochen wird.
da nicht etwas tun könne. Die Familienpolitik In wenigstens einem Punkt allerdings
Ähnlich herzzerreißende Geschichten „Da draußen gibt es eine Wut, die unglaub- haben Riedmeier und seine Mitstreiter
hat Habert seit damals viele gehört. lich ist“, sagt Gerd Riedmeier. Der Bayer recht: Wenn Eltern sich trennen, spielen
Ein Vater, der das Netzwerk irgendwann mit dem grauen Haarschopf und dem rol- Männer wie die Kindsväter Schneider und
kontaktierte, sei früher mit seinem Baby lenden R verdient sein Geld eigentlich als Stein bisher eher eine Nebenrolle für die
zum Spielen in den Waschsalon gegangen, Stadtführer und Mediator, einen großen Politik. Stattdessen rückt der Elternteil in
wenn das Wetter schlecht war. Ein anderer Teil seiner Zeit widmet er allerdings sei- den Fokus, bei dem die Kinder wohnen.
habe im Auto einen Vorhang zwischen ner Tätigkeit als Sprecher der „Interessen- Und das ist meist die Mutter.
SPIEGEL: Frau Barley, wenn eine Familie SPIEGEL: Inwiefern? Barley: … aber die grundsätz-
zerbricht, gilt plötzlich ein Elternteil als Barley: Ich bin Mutter zweier liche Frage ist ja, ob es über-
„alleinerziehend“ – nämlich der, bei dem Söhne und kenne das Problem, haupt sinnvoll ist, einen ge-
REINER ZENSEN / IMAGO
die Kinder gemeldet sind. Wie heißt der dass Jungs mit ihren Verhal- setzlichen Regelfall aufzustel-
andere Elternteil? tensweisen beispielsweise in len. Das Wechselmodell ist für
Barley: Es wäre sicherlich zeitgemäßer, der Grundschule mit überwie- manche richtig, aber nicht in
zunächst von getrennt Erziehenden zu gend weiblichen Lehrkräften allen Fällen, zum Beispiel bei
sprechen. Viele Menschen sind sich der oft anecken. Da muss stärker häuslicher Gewalt. Es gibt so
Tücken solcher Begrifflichkeiten nicht hingeguckt werden, sage ich unterschiedliche Formen von
bewusst. Ich habe mich selbst nach mei- als Mutter. Aber auch als Familien- Familie und so unterschiedliche Bedürf-
ner Scheidung als Alleinerziehende be- ministerin will ich Väter stärker einbe- nisse von Kindern – und um die geht es
trachtet. Wenn ich meine Kinder hatte, ziehen. ja in erster Linie –, da muss für jeden
war ich ja auch allein mit ihnen. Aller- SPIEGEL: Väterverbände monieren, dass Fall bei einer Trennung eine individuelle
dings haben sie von Anfang an die Hälf- vor allem getrennte Väter vom Gesetz, Lösung gefunden werden. Idealerweise
te der Zeit bei ihrem Vater verbracht. in Jugendämtern und in den Familien- natürlich von den Eltern selbst.
SPIEGEL: Ihr Ministerium ist dem Namen gerichten benachteiligt werden. Wie lässt SPIEGEL: In der Realität herrscht Kritikern
nach zuständig für: Familie, Senioren, sich das ändern? zufolge in vielen Gerichtssälen allerdings
Frauen und Jugend. Können Sie ver- Barley: Die Verbände, von denen Sie spre- noch das pauschale Leitbild, dass ein
stehen, dass sich manche Männer dis- chen, fordern in erster Linie, das soge- Kind zur Mutter gehöre. Und entspre-
kriminiert fühlen? nannte Wechselmodell im Gesetz als be- chend wird entschieden.
Barley: Ich halte die Probleme von vorzugtes Lebensmodell nach einer Tren- Barley: Wir brauchen einen stärkeren
Frauen auch außerhalb des familiären nung zu verankern … Fokus auf die Besonderheiten jeder Fami-
Bereichs noch für so gravierend, dass es SPIEGEL: … also ein Erziehungsmodell, lie. Ich glaube nicht, dass neue Gesetze
den Namen rechtfertigt. Trotzdem bei dem die Kinder abwechselnd bei das Allheilmittel sind. Mir ist diese Dis-
müssen wir Jungen, Väter und Männer Vater und Mutter wohnen und sich die kussion um das Wechselmodell zu ein-
auch in den Blick nehmen. Eltern die Betreuung hälftig teilen … dimensional. Ich würde gern an anderer
Stelle ansetzen, zu einem früheren Zeit- und komplizierten Prozess begleiten will, „gemeinsam getrennt erziehen“ gar
punkt: Am besten ist es doch, wenn Paa- braucht man Zeit und die entsprechende nicht, das ist einfach nicht vorgesehen.
re bei einer Trennung selbst entscheiden, Qualifikation. SPIEGEL: Es gibt lediglich einen Entlas-
wie man sich die Kindererziehung teilen SPIEGEL: Die Überzeugung, dass ein Kind tungsbetrag für Alleinerziehende.
will. Dabei sollten wir sie unterstützen. eher zur Mutter gehört als zum Vater, Barley: Und auch der hilft je nach Einkom-
SPIEGEL: In welcher Form? spiegelt sich in der Gesetzgebung wider. menshöhe relativ wenig. Dabei steigen
Barley: Viele Menschen fühlen sich in der Beispiel Sorgerecht: Unverheiratete Väter nach einer Trennung die Kosten für Fami-
Trennungsphase alleingelassen. Die ers- müssen die elterliche Sorge für ihr Kind lien rasant an. Bei meiner Scheidung hat-
ten und oft einzigen Personen außerhalb erst von der Mutter oder von einem Ge- te ich eine halbe Stelle, und plötzlich fehl-
des Freundeskreises, mit denen sie da- richt übertragen bekommen. Warum? te das Einkommen meines Mannes im
rüber sprechen, sind Anwälte. Deren Job Barley: Das hat historische Gründe. Hier Haushalt. Das machte einen gravierenden
ist aber nicht die Vermittlung zwischen geht es in erster Linie darum, die Mutter Unterschied aus. Bei mir war das verkraft-
Ex-Partnern, sondern die Vertretung und das Kind zu schützen. In Beziehun- bar, aber in weniger gut bezahlten Jobs
einer Partei. Deshalb müssen wir das Be- gen ohne Trauschein übernehmen Väter wird das schnell existenziell. Plötzlich
ratungsangebot für Eltern, die sich tren- heute oft genauso Verantwortung wie müssen zwei Haushalte finanziert und
nen, ausbauen. Eltern sollten darin unter- in Ehen. Die Rechtsprechung darf nicht womöglich noch hohe Fahrtkosten ge-
stützt werden, Eltern zu bleiben, auch dazu führen, dass sie in diesem unter- stemmt werden, wenn die Eltern weit von-
wenn sie sich als Paar trennen. Wenn stützenswerten Wunsch strukturell einander entfernt wohnen. Wir müssen
Eltern dann miteinander ein Wechsel- benachteiligt werden. Deswegen müssen als Politiker und als Gesellschaft darüber
modell vereinbaren, finde ich das wir uns solche Regelungen genau an- sprechen, ob man solche Ausgaben nicht
wunderbar. Ich lebe es ja wie gesagt schauen. steuerlich berücksichtigen sollte.
selbst in meiner Familie. SPIEGEL: Auch das deutsche Unterhalts- SPIEGEL: Mehr Beratungsangebote für Fa-
SPIEGEL: Etliche Paare landen trotz Bera- recht geht noch vom Prinzip aus: Einer milien, bessere Schulungen für Richter,
tung im Gerichtssaal. Dort wird der zahlt, einer betreut. Fragt man die Fach- Steuererleichterungen für getrennte Paa-
Streit Kritikern zufolge eher geschürt als politiker von Grünen, SPD und CDU, for- re – haben Sie mal ausgerechnet, was das
deeskaliert. Was läuft da schief? dern alle Reformen. Warum findet sich alles kosten würde?
Barley: Juristen haben gelernt, Rechtsvor- davon nichts in den Wahlprogrammen? Barley: Wir sprechen hier von Kosten im
schriften auf den Einzelfall anzuwenden. Barley: Weil das Thema Trennung immer Millionen-, nicht im Milliardenbereich.
Einige wenige bilden sich auf dem Ge- noch tabubehaftet ist und deshalb weder Und es wäre gut investiertes Geld. Denn
biet der Mediation weiter. Aber Juristen in der Politik noch in der Gesellschaft aus- wenn sich getrennte Väter stärker an der
sind nun einmal keine Kinderpsycho- reichend diskutiert wird. Getrennte Paa- Erziehung beteiligen, entlastet das ja
logen oder Sozialpädagogen. Und wenn re lässt der Staat ziemlich allein. Beispiel auch die Mütter. Davon haben alle etwas.
man die Eltern in diesem schwierigen Steuerrecht: Da existiert das Modell Interview: Anne Seith
Ja, ich habe geworben und wähle meine Prämie! Ich bin der neue SPIEGEL-Leser.
Anschrift des neuen Lesers:
SPIEGEL-Vorteile Wertvolle Wunschprämie für den Werber. Frau
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Fćŋğ, vœšōćŋğ
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sich aber nicht teilen, und er fließt nur an auf 100 Kilometer pro Stunde beschleu-
den Elternteil, der das Kindergeld bekommt.
Und das Kindergeld fließt in den Haushalt,
in dem die Kinder gemeldet sind. Im Fall
Cayenne auf nigen.
Zehn Stück dieser Nobelkarossen hat
der Händler auf dem Hof stehen. Sie sind
der Schneiders in den der Kindsmutter.
„Wir müssen komplett umdenken“, for-
dert der Nürnberger Männervertreter Be-
Umwegen in Folie verschweißt, der Innenraum ist
mit Papier ausgelegt, die Fenster versiegelt.
„Niegelnagelneu“, frohlockt der Mann.
cker. „Eine moderne Gleichstellungs- und Dieselaffäre In den USA hat Und genau das ist das Problem.
Familienpolitik muss auch die Männer mit Denn den neuen Porsche Cayenne
ins Boot holen.“ Porsche Hunderte manipulierter mit Drei-Liter-Dieselantrieb sollte es in
Dafür müssen dringend Strukturen her, Geländewagen vom Markt Deutschland, Österreich und der Schweiz
in denen einem Kind nach der Trennung derzeit eigentlich nicht geben. Er unter-
der Eltern möglichst sowohl Vater als auch
genommen. Nun tauchen sie auch liegt einem Zulassungsverbot.
Mutter erhalten bleibt; die Debatte dabei in Deutschland wieder auf. Ein Team von SPIEGEL-Redakteuren
auf das Wechselmodell zu beschränken hatte vor einigen Monaten herausgefun-
D
wäre zu eng gedacht – schließlich dürfte er Verkäufer des kleinen Autohan- den, dass tief im Innern des Autos eine il-
diese Betreuungsform schon aus prak- dels am Rande Kölns gibt sich legale Software steckt. Sie unterscheidet
tischen Gründen nur für einen begrenzten Mühe, jeglichen Zweifel im Keim zwischen Prüfstand und realem Fahrbe-
Teil getrennter Eltern infrage kommen. zu ersticken. Natürlich erfülle das Auto trieb. Erkennt das Computerprogramm,
Es geht vielmehr darum, dass Jugend- die aktuellen Abgasnormen. Natürlich ver- dass sich das Auto auf der Straße befindet,
ämter, Sozialeinrichtungen und Richter füge es über die Werksgarantie von zwei schaltet es Teile der Abgasreinigung aus.
auch in der Praxis beide Elternteile als Be- Jahren. Und das Allerwichtigste: „Selbst- Der Wagen produziert dann deutlich hö-
zugspersonen für das Kind gleichermaßen verständlich haben Sie keinerlei Probleme here Emissionen als erlaubt.
ernst nehmen und ein Streit zwischen ge- mit dem hiesigen TÜV oder mit den Zu- Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA), das
trennten Eltern schnellstmöglich deeska- lassungsbehörden.“ den Cayenne schon seit Monaten im Visier
liert und nicht noch befeuert wird. Aufgeregt läuft der Mann um das Auto hatte, konnte die Untersuchungen des
Dafür muss zuallererst das Unterhalts- herum und preist die Vorzüge des bulligen SPIEGEL mit eigenen Untersuchungen im
recht grundlegend reformiert werden. Das Geländewagens: Allradantrieb, Lederaus- Ergebnis nachvollziehen. Bundesverkehrs-
Prinzip „Einer zahlt, einer betreut“ ist stattung, Leichtmetallfelgen, 100-Liter- minister Alexander Dobrindt (CSU) ord-
schon lange nicht mehr zeitgemäß und Tank, Panoramadach, nur 20 Kilometer nete daraufhin eine Rückrufaktion an: Der
führt dazu, dass die Beantwortung der Fra- auf dem Tacho. Was will man mehr? Verkauf des Nobel-SUV wird so lange ge-
ge, wer wie viel zahlt, im Streitfall maß- Tatsächlich ist das Fahrzeug, das der Ver- stoppt, bis der Sportwagenbauer eine feh-
geblich davon abhängt, an welchen Richter käufer auf einem Hinterhof zwischen lerfreie Software vorlegt.
die Eltern geraten. Chinaimbiss und Kreisverkehr so vehe- Doch Porsche scheint einen Weg gefun-
Auch ein anderes Eingeständnis ist über- ment anpreist, etwas Besonderes. Es ist den zu haben, das peinliche Verkaufs-
fällig: Soviel auch noch getan werden muss, ein Vorzeigewerk deutscher Ingenieurs- verbot zu umgehen, trickreich und mög-
um Frauen beruflich und damit auch fi- kunst. Ein Porsche Cayenne Diesel mit licherweise am Rande der Legalität. Wo-
nanziell die gleichen Chancen zu ermögli- 239 PS, die den Wagen trotz seiner zwei che für Woche drückt der Autobauer
chen wie Männern – es gibt auch Bereiche, Tonnen Gewicht in 7,3 Sekunden von 0 Dutzende Cayennes auf verschlungenen
in denen es Männer aufgrund ihres Ge-
schlechts schwer haben.
Im Bundesfamilienministerium scheint
sich diese Einsicht langsam durchzusetzen.
Mitte Juli lud das Haus Interessenvertreter
und Fachleute zu einem „Zukunftsge-
spräch: Gemeinsam getrennt erziehen“
ein. Erstmals wurde eine vom Allensba-
cher Institut durchgeführte Studie präsen-
tiert, die die Lebensrealitäten getrennter
Familien untersuchte. 35 Prozent der be-
fragten Väter wünschen sich mehr Kontakt
zu ihren Kindern. Und rund die Hälfte al-
ler Befragten wünscht sich eine gleichbe-
rechtigte Betreuung der Kinder.
Es muss dringend diskutiert werden, wie
dieser Wunsch Realität werden kann. Minis-
terin Barley verspricht, dabei „Jungen, Män-
ner und Väter auch in den Blick“ zu nehmen
JUSTIN LANE / PICTURE ALLIANCE / DPA
R
DIE WEBSERIE DEBERATUNG:
sche in den vergangenen Monaten still und echtes Schnäppchen“, sagt er.
heimlich in die Fabriken zurückbeordert – Wenn er sich da mal nicht täuscht. Ob
LICHEN
und einer Spezialbehandlung unterzogen. wirklich alle US-Fahrzeuge die Euro-6-
N O S S E N S C H A F T
GE
Einem internen Ablaufplan zufolge wur- Norm erfüllen, wie es in den Papieren
den in jedem Fahrzeug gut ein Dutzend ausgewiesen wird, bezweifeln Experten.
Teile ausgetauscht, die in Europa nicht zu- Außerdem sollen Kühlflüssigkeiten einge-
lässig sind: die Rückleuchten etwa, das setzt oder zumindest nicht ausgetauscht
Warndreieck, aber auch Airbags, das Na- worden sein, die in der EU mittlerweile
vigationsgerät und diverse Kennzeichnun- verboten sind.
gen. Auch eine neue Steuersoftware wurde Porsche-Verantwortliche glauben, das
eingespielt. US-Auto sei nicht von Dobrindts Rückruf-
Danach brauchte Porsche nur noch eine aktion betroffen. Immerhin sei bei der
offizielle Bescheinigung, dass die Fahrzeu- Umrüstung im Werk eine neue Software
ge nach der Runderneuerung zulässig sei- aufgespielt worden.
en. Die besorgte sich der Sportwagenbauer Dabei könnte genau das für die impor- Alle Staffeln
unter anderem in einem Land, das in Fach- tierten Fahrzeuge und ihre Halter zum Pro-
kreisen einen eher zweifelhaften Ruf ge- blem werden. Denn für Deutschland hat jetzt ansehen:
nießt: Litauen. Porsche ließ zahlreiche Ca- das KBA bislang keine Software zugelas-
yenne-Modelle aus den USA im Juni in sen, mit der der Drei-Liter-Cayenne wie-
der baltischen Republik zu – und meldete der auf die Straße darf. Man kann davon
vr.de/mittelstand
sie sofort wieder ab. ausgehen, dass sich die Experten der Auf-
Zulassungsstellen wie die in Litauen bie- sichtsbehörde die US-Diesel in den nächs-
ten solche Massenzulassungen preiswert ten Wochen sehr genau ansehen werden.
an. Litauen ist zudem für sein Milieu der Frank Dohmen, Simon Hage, Martin Hesse
Autoschieber bekannt. „Dort werden mas- Mail: frank.dohmen@spiegel.de
F
ast wäre Christoph Jentzsch im vori- trag, um Investmentgelder für seine eigene chers im vorigen Jahr bereits den damaligen
gen Jahr aus dem Nichts in den in- Start-up-Idee, aber auch für andere Projekte Gegenwert von fünf Millionen Euro in Bit-
ternationalen Wirtschaftsolymp auf- einzusammeln – eine Art virtuellen Invest- coin ein. Auf sagenhafte 232 Millionen Dol-
gestiegen. Der schmale Physiker aus dem mentfonds also. Die Investoren sollten für lar kam im Juli ein US-Start-up namens
sächsischen Mittweida hatte für eine neue ihre eingezahlten Ether Stimmrechte be- Tezos, ein anderes gab „Gno“ heraus und
Projektidee nach Geldgebern gesucht und kommen und abstimmen, in welche Start- erhielt dafür binnen 15 Minuten den Ge-
dafür das erfolgreichste Crowdfunding- ups die eingezahlten Gelder fließen sollten. genwert von rund zwölf Millionen Dollar
projekt aller Zeiten gestartet – zunächst. Jentzsch und sein Team nannten ihr Pro- überwiesen. Heutige Tech-Giganten brauch-
Mehr als 15 000 Anleger weltweit inves- jekt „Dezentrale autonome Organisation“ – ten in ihrer Startphase noch Jahre und viele
tierten insgesamt eine dreistellige Millio- kurz Dao –, weil es allen Einzahlenden ge- Finanzierungsrunden, um auf solche Sum-
nen-Euro-Summe im Tausch gegen virtu- hören sollte, staatenlos sein und weder men zu kommen.
elle Anteilsscheine, Token genannt. Chefs noch Büroräume haben sollte. Ein Auch die großen Wagniskapitalgeber
Kurz nach dem Start kam es allerdings Gebilde nur aus Computercode, das war können den Trend nicht mehr ignorieren –
zur Katastrophe: Ein Hacker leitete Mil- die Vision. denn auch deren Investoren verfolgen die
lionen der eingezahlten Mittel einfach um. „Es war der Wahnsinn, eine Viertelmil- Wertsteigerung der virtuellen Währungen:
Jentzsch und sein Team, zu dem auch sein liarde für ein experimentelles, ungetestetes Die Investmentfirma Sequoia Capital und
Bruder Simon gehört, gerieten ins Visier Projekt“, sagt Jentzsch heute, „ich hatte andere Finanzdickschiffe sicherten sich ge-
der amerikanischen Börsenaufsicht SEC. aufgrund der Größe unserer Community rade vorab Token des US-Speicherplatz-
Trotzdem wurde Jentzsch, 32, für Start- mit maximal sechs Millionen Euro gerech- anbieters Filecoin für rund 52 Millionen
up-Unternehmer auf der ganzen Welt zu net, mir wurde das selbst unheimlich.“ Dollar, das folgende öffentliche Angebot
einer Inspiration: In der Hoffnung, ähnlich Nicht ganz zu Unrecht. Denn kurz nach spülte weitere 200 Millionen in dessen Kas-
gigantische Summen einzusammeln, ver- dem fulminanten Start konnten die Brüder sen. Fast täglich werden neue Emissionen
geht mittlerweile kaum ein Tag, an dem Jentzsch live dabei zuschauen, wie ein bis angekündigt.
nicht irgendein Gründer neue „Token“ heute unbekannter Hacker ihre Idee zer- Genau das ruft jetzt auch Kritiker auf
oder „Coins“ herausgibt, virtuelle Anteile störte: Er zweigte Dao-Token im Wert von den Plan. Denn durch die Ausgabe immer
also, und sich auf diese Weise Investoren 53 Millionen Dollar auf ein Unterkonto ab. neuer alternativer Coins („AltCoins“) ist
sucht. ICO heißt das Verfahren, Initial Nur dank einer gemeinsamen Rettungs- ein kaum überschaubarer und mehr als
Coin Offering – angelehnt an die englische aktion der Ethereum-Community entstand 150 Milliarden Dollar schwerer Neben-
Abkürzung für normale Börsengänge: IPO. den Investoren kein Schaden. Der Hacker finanzmarkt entstanden. Inzwischen wer-
Die virtuelle Geldbeschaffung könnte allerdings hatte bewiesen, dass Dao an- den mehr als 900 Kryptowährungen auf
eines der größten Probleme vieler junger greifbar ist. Marktplätzen im Netz gehandelt.
Firmen vom einen auf den anderen Tag Auf den Markt wirkte das aber alles an- In welchem Umfang oft relativ unerfah-
lösen: die Frühphasenfinanzierung. Statt dere als abschreckend: Das kurze Aufblü- rene Privatinvestoren hier Risikokapital in
mit aufwendigen Präsentationen bei Wag- hen und der schnelle Tod des ersten großen teils noch nicht erprobte Geschäftsmodelle
niskapitalgebern oder Banken um Kredit Investmentfonds auf Basis der Blockchain pumpen, erinnert Branchenkenner an die
zu betteln, stellen sie ihre Idee einfach ins weckten international eher Interesse. Im- Dotcom-Blase der späten Neunziger – und
Netz und schaffen mit wenig Aufwand merhin hatte Dao gezeigt, wie viel Geld im vor allem an deren spektakuläres Platzen.
neue Internetwährungen. Die Investoren Markt nach derlei Anlageformen sucht. Seit- Selbst einer der Ethereum-Gründer be-
spekulieren darauf, dass die Start-ups sich her erlebt die Methode unter dem Namen zeichnet ICOs mittlerweile als „tickende
gut entwickeln und ihre Coins an Wert ge- ICO einen regelrechten Hype: In den ersten Zeitbombe“.
winnen – im besten Fall so rasant wie zu- sechs Monaten floss auf diesem Weg mehr Tatsächlich werben einige der aktuellen
letzt der Bitcoin. Kapital in Start-ups als durch etablierte ICO-Kandidaten mit wolkigen Verspre-
Die Mutter aller Internetwährungen hat Wagniskapitalgeber. chen. Anders als beim klassischen Börsen-
eine massive Wertsteigerung hingelegt So sammelte das bis dahin unbekannte gang mit den vorhergehenden Prüfungen,
(siehe Grafik). Noch deutlicher stieg die Start-up Lisk eines Aachener Studienabbre- Roadshows und Prospekthaftungspflichten
mittlerweile zweitwichtigste Internetwäh- sind ICOs noch weithin ungeregelt – und
rung: Der sogenannte Ether der Ethereum laden damit geradezu ein zum Betrug. In-
Foundation wurde 2015 für rund 50 Cent Wert eines Bitcoin /Ether in Dollar vestorenschutz? Fehlanzeige.
gehandelt und notierte zuletzt bei rund Quelle: coinmarketcap.com; Stand: jeweils am 31. August Erst am Dienstag warnte die amerikani-
380 Dollar. sche Börsenaufsicht ausdrücklich vor gras-
Wie Bitcoin setzt auch Ethereum auf die 2017: 2017: sierenden Betrügereien und Manipula-
Basistechnologie der Blockchain – eine Art 4577 380 tionsversuchen in diesem neuen Markt.
elektronisches Kassenbuch, das auf viele Die chinesische Regierung überlegt bereits,
Rechner verteilt ist. Im Fall von Ethereum 2016: ICOs komplett zu verbieten.
kann sie nicht nur Überweisungen verbu- 505 Die fehlende Regulierung wird damit
chen, sondern auch ganze Programme spei- 2016: zur Gretchenfrage der immer größer und
chern und ausführen, „smarte Verträge“. gieriger werdenden Szene: Sind die Coin-
Jentzsch, der früher bei Ethereum gear-
Bitcoin 11 Emissionen genau deshalb so erfolgreich,
Ether
beitet hat, programmierte einen solchen Ver- weil sie in einem Graubereich stattfinden?
2 Ziele
Wie bei einem Initial Public Offering (IPO) an
der Börse wird erklärt, wie viel Kapital das ICO
bis zu einem festen Termin eingesammelt haben
muss und was die Investoren genau erwerben:
Tausche Startkapital Manche Token entsprechen eher Gutscheinen,
die dann bei den entstehenden Angeboten
gegen Kryptowährung eingelöst werden können, in anderen Fällen
geht es um echte Unternehmensanteile.
Wie Projekte über Initial Coin
Offerings (ICOs) finanziert werden
5 Ziele erreicht?
3 Werbung
Wenn nicht genügend Kapital zusammenkommt,
geht das investierte Geld zurück an die Investoren. Kapitalgeber werden in Foren wie Reddit und
Im Erfolgsfall können die erworbenen Token oder auf Social-Media-Plattformen wie Facebook und
Coins an speziellen, weitgehend unregulierten Twitter gesucht. Die ersten Investoren und
Handelsplattformen nach Kurssteigerungen mit solche, die weitere Geldgeber anwerben,
Gewinn verkauft werden. erhalten oft zusätzliche Token als
Belohnung.
4 Währung
Die Investoren zahlen die Token
meist mit etablierten Kryptowährungen
wie Bitcoin oder Ether, bisweilen aber
auch mit traditionellem Geld.
Virtuelle Währungen
Die zehn größten digitalen Zahlungs-
mittel, Marktwert* in Mrd. Dollar
77,0 36,0
Quelle: coinmarketcap.com; Stand: 31. August; *gesamter Währungsbestand
Das anarchische Element hatte einst die sind die ausgegebenen Token nicht mehr tes Start-up an einen Nasdaq-Konzern ver-
Erfindung des Bitcoin inspiriert – als Wäh- als Gutscheine für Dienstleistungen und kauft hat, will künftig ganz normale Un-
rung, auf die Staaten und Zentralbanken Produkte, etwa Speicherplatz oder Rechen- ternehmen „tokenisieren“, wie sie das
keinen Einfluss haben sollten. Aus dieser leistung in den mit dem Risikokapital auf- nennt – und kryptounerfahrenen Nutzern
Sicht ist jede Regulierung ein Sakrileg und gebauten Rechenzentren. Andere wiede- den Einstieg erleichtern. Eigene Juristen
ein Risiko: Tatsächlich reagiert der Wert rum beinhalten das Recht auf Anteile am und externe Kanzleien haben gerade auf
der wichtigsten Kryptowährungen sofort Gewinn oder echte Unternehmensanteile. 55 Seiten ein Modell vorgestellt, wie das
auf Verlautbarungen der Börsenaufsicht So abstrakt diese Form von Unterneh- rechtssicher funktionieren soll. Noch in die-
SEC – etwa als die Behörde jüngst mensfinanzierung derzeit noch erscheint, sem Jahr will Adamovicz damit starten.
verkündete, dass sie die bei Dao ausgege- so wichtig ist sie – auch im Hinblick Die Dao-Entwickler rund um Jentzsch
benen Stimmrecht-Token als Wertpapiere auf den Standort Deutschland: Denn mit beraten inzwischen Konzerne wie die
ansehe. einer intelligenten Regulierung könnten RWE-Tochter Innogy und Siemens, wie sie
Andere dagegen glauben, dass die neue Deutschland und Europa gegenüber dem die Blockchain für sich nutzen können. Da-
elektronische Finanzwelt nur dann ihr Silicon Valley Boden gutmachen. „Deutsch- neben verfolgen sie ihre ursprüngliche Ge-
Potenzial entfalten kann, wenn zumindest land und gerade Berlin haben eine der bes- schäftsidee weiter, die sie mit Dao eigent-
grundlegende Vereinbarungen für alle gel- ten und kreativsten Entwicklerszenen lich nur hatten finanzieren wollen: Slock.it.
ten. Sogar der Erfinder der „autonomen rund um die Blockchain“, sagt Jentzsch. Bei der Plattform geht es ums Teilen. Die
Organisation“, Christoph Jentzsch, sieht „Viele Start-ups verlegen ihren Firmensitz Gründer wollen etwa Vermietungen wie
viele der aktuellen ICOs kritisch und be- nur wegen der aktuell noch größeren bei Airbnb weiter automatisieren. Jentzsch
fürwortet „klare Regeln“. Rechtssicherheit in die Schweiz.“ demonstriert dafür gern, wie sich mithilfe
Er kann dafür direkt an der zuständigen Bleibt die Frage, ob es sich um eine der Blockchain von jedem Handy der Welt
Stelle werben: Das Finanzministerium hat Blase handelt – oder tatsächlich um einen aus Türschlösser öffnen lassen und gleich-
ihn in seinen Fintechrat berufen, dem nachhaltigen Wandel der Finanzwelt. Ent- zeitig die Miete transferiert werden kann.
Staatssekretär Jens Spahn vorsitzt. scheidend wird sein, ob es gelingt, das Das notwendige Startkapital von zwei
Bislang müsste theoretisch jeder einzel- Verfahren auch für Start-ups außerhalb Millionen Euro haben sie seit April zusam-
ne ICO hierzulande mühsam mit der Fi- der Kryptoszene attraktiv zu machen. men. Durch einen neuen ICO? Nein, sagt
nanzaufsicht BaFin verhandelt werden, Das will nun Zoe Adamovicz mit ihrer Jentzsch, es handle sich „um ganz klassi-
auch, weil die jungen Unternehmen höchst Firma Neufund von Berlin aus versuchen. sches Wagniskapital“.
unterschiedliche Modelle verwenden: Mal Die erfahrene Unternehmerin, die ihr letz- Marcel Rosenbach, Anne Seith
streiten?
Heufer-Umlauf: Für Sie vom SPIEGEL viel-
leicht. Ich will niemandem Geheimnisse
entlocken. Die Zuschauer sollen aber ver-
stehen, dass die FDP ein anderes Politik- Heufer-Umlauf: Wir treffen uns nicht privat, Heufer-Umlauf: Ja, aber nicht flammend.
verständnis hat als die Linke. wenn Sie das meinen. Ich habe ihn öfter SPIEGEL: Sie war Mitinhaberin eines Kin-
SPIEGEL: Sie haben auch Alice Weidel ge- bei Abendessen in größerer Runde erlebt. derpflegediensts, der pleiteging, als Sie
troffen, die Spitzenkandidatin der AfD. Wenn er da Persönliches erzählt hat, war 14 waren.
Heufer-Umlauf: Das war eine befremdliche das immer für den ganzen Tisch bestimmt. Heufer-Umlauf: Das war nach der Scheidung
Begegnung. Sie hatte so einen rumpeligen SPIEGEL: Wird er doch noch Kanzler? meiner Eltern. Danach musste sie mehrere
Typen mitgebracht, der sein Handy komisch Heufer-Umlauf: Es gab in der Geschichte der Jobs gleichzeitig machen. Sie putzte in der
in der Sakkotasche stecken hatte. Irgend- SPD schon legendäre Aufholjagden, auch Firma, die ihr mal gehört hatte, und fuhr
wann habe ich gemerkt: Der filmt uns heim- wenn die Elbe wohl diesmal nicht über die 15 Jahre lang nicht in den Urlaub.
lich. Er musste sein Handy dann umdrehen. Ufer treten wird. SPIEGEL: Hat Sie das empfindsam gemacht
SPIEGEL: Welchen Eindruck hatten Sie von SPIEGEL: Die SPD ist auch deshalb in die für soziale Ungerechtigkeit?
Weidel? Krise geraten, weil Angela Merkel alle Heufer-Umlauf: Kein Kind findet es schön,
Heufer-Umlauf: Es gab ein paar Missver- Kontroversen abgeräumt hat, zuletzt die wenn es seiner Mutter schlecht geht. Aber
ständnisse darüber, was denn jetzt eigent- Ehe für alle. ich hatte schon vorher Erlebnisse, die ein-
lich Parteikonsens ist. Manche Passagen Heufer-Umlauf: Mir war ihre Politik während drücklich waren. Als ich jünger war, hat
aus dem Grundsatzprogramm der AfD wa- der Flüchtlingskrise nicht unsympathisch, mich meine Mutter öfter mitgenommen,
ren ihr einigermaßen neu. Und ich hatte im Gegenteil. Ich glaube nur, dass sie da- wenn sie zum Dienst fuhr. Teilweise be-
das Gefühl, dass sie ihr Interviewtraining mit in der CDU alleine ist. Ich glaube auch treute sie einfach kranke Kinder, die ge-
nicht ganz abgeschlossen hat. nicht, dass sie wirklich gegen die Homo- pflegt werden mussten. Manchmal waren
SPIEGEL: Sind Sie eigentlich SPD-Mitglied? Ehe ist. Ich halte sie für moderner. Aber deren Eltern aber auch drogenabhängig.
Heufer-Umlauf: Nein. ihr Taktieren finde ich ganz schön übel, Während meine Mutter eine Kanüle wech-
SPIEGEL: Das wundert uns. Sie haben mehr- nur aus Angst, konservative Parteimitglie- selte, saß ich bei Familien auf dem Sofa,
fach, zuletzt 2016 bei der Berliner Abge- der zu verprellen. denen das Jugendamt schon vier Kinder
ordnetenhauswahl, für die SPD geworben SPIEGEL: Welche Themen bleiben noch, weggenommen hatte. Es wurde gequalmt,
und eine Veranstaltung mit Sigmar Gabriel über die man sich als Linker mit dem kon- vor den Fenstern hingen Betttücher.
moderiert. servativen Lager streiten kann? Abends musste ich meine Klamotten wech-
Heufer-Umlauf: Reicht doch. Heufer-Umlauf: Genügend. Das fängt an bei seln, weil die so nach Rauch stanken.
SPIEGEL: Beim TV-Duell vor der Bundes- der unterschiedlichen Vorstellung von der SPIEGEL: Haben Sie mit Ihrer Mutter darü-
tagswahl 2013 saßen Sie beim Team des Rolle von Männern und Frauen. Eine Kin- ber geredet?
SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück. dergelderhöhung, wie die Union sie ver- Heufer-Umlauf: Auf der Rückfahrt im Auto.
Heufer-Umlauf: Hinter Andrea Nahles. Dort spricht, ist doch nur eine weiterentwickelte Ich kann mich auch noch erinnern, wie
würde ich mich aber nicht noch mal hin- Herdprämie. Ich weiß, dass ich privilegiert meine Mutter einmal zwei Kinder mit nach
setzen, weil man nichts versteht. Sie bin, aber ich sehe, wie schwierig es für Hause gebracht hat. Vermutlich war das
schreit die ganze Zeit, dafür hat man einen Frauen ist, nach dem Kinderkriegen zu- gegen jedes Gesetz, aber in der Situation
Livekommentar. rück in den Job zu finden. konnten die Kinder nicht bei den Eltern
SPIEGEL: Wie ist Ihre Nähe zur SPD ent- SPIEGEL: Das beschäftigt Sie? bleiben. Und weil das Jugendamt nicht
standen? Heufer-Umlauf: Natürlich. schnell genug war, hat meine Mutter sie
Heufer-Umlauf: Ich habe mal ein Konzert ge- SPIEGEL: Waren Ihre Eltern politisch? übers Wochenende mitgenommen.
gen Rechtsextremismus mitorganisiert und Heufer-Umlauf: Ja, aber meine politische Prä- SPIEGEL: Sie haben Ihren Zivildienst in ei-
dabei die damalige Juso-Vorsitzende Fran- gung kam eher durch meinen Vater, der nem Krankenhaus geleistet und alte Men-
ziska Drohsel getroffen. Interessante Per- CDU-Anhänger war. Er hat regelmäßig schen betreut. Hat Sie diese Zeit geprägt?
son, gute Art. Später stieß Frank-Walter mit mir am Küchentisch die „Nordwest- Heufer-Umlauf: Sehr. Ich habe dort ernste,
Steinmeier dazu, und wir kamen ins Ge- Zeitung“ gelesen. Irgendwann habe ich an- aber auch lustige Momente erlebt.
spräch. gefangen, ihm bei bestimmten Themen zu SPIEGEL: Lustige?
SPIEGEL: Hatten Sie Bedenken, sich so ein- widersprechen, weil ich ein anderes Ver- Heufer-Umlauf: Ich habe Krankenhausradio
deutig zu positionieren? ständnis hatte, wie sehr der Staat die Men- gemacht und dafür die Musikwünsche der
Heufer-Umlauf: Ich weiß schon, dass es in schen unterstützen soll. Patienten eingesammelt. Von den Flippers
Deutschland für Prominente nicht üblich SPIEGEL: Woher kam das bei Ihrem Vater? bis zu Kirchenmusik war alles dabei. Für
ist, sich zu einer Partei zu bekennen. Heufer-Umlauf: Seine Mutter war ein Flücht- Schwester Teresita, eine Nonne mit Dia-
SPIEGEL: Ihr Kollege und Freund Jan Böh- lingsmädchen aus den ehemaligen Ostge- betes und einem Bein, habe ich eine halbe
mermann hat Sigmar Gabriel mal über bieten. Die Familie hat sich aus eigener Stunde das „Ave Maria“ gespielt.
Twitter geschrieben, er wolle sich nicht Kraft etwas aufgebaut. Darauf war mein SPIEGEL: War es ein Fehler, den Zivildienst
von ihm instrumentalisieren lassen. Vater stolz. abzuschaffen?
Heufer-Umlauf: Jan und ich denken da ver- SPIEGEL: Was war Ihre Position? Heufer-Umlauf: Ja. Diese schrottige Bundes-
schieden. Als Prominenter wird man gern Heufer-Umlauf: Ich war schon damals der wehrreform war das Dümmste, was die
mal für ein Paar Gratisschuhe vor eine Pro- Ansicht, dass man Leuten helfen muss, die Politik machen konnte. Schon mit dem Zi-
duktwand gestellt. Kann man jede Woche nicht so viel Glück im Leben haben. Viel- vildienst war es schwer, ein Krankenhaus
in der „Bunten“ bestaunen. Aber ich lasse leicht ist das eine Generationenfrage. zu organisieren. Ohne funktioniert es erst
mich nicht wie ein Idiot von der SPD vor Wenn man wie ich in Frieden und ziem- recht nicht. Wer heute ein Jahr seiner Zeit
einen Karren spannen, ich spanne mich lichem Wohlstand aufgewachsen ist, blickt für den Freiwilligendienst hergibt, hat
selbst davor. man anders auf die Gesellschaft, als wenn Nachteile gegenüber allen, die darauf
SPIEGEL: Leiden Sie an der Erfolglosigkeit man sich alles selbst erarbeitet hat. scheißen und gleich studieren.
der SPD? SPIEGEL: Wie dachte Ihre Mutter darüber? SPIEGEL: Waren Sie jemand, der als Jugend-
Heufer-Umlauf: Nicht besonders. Ich bin ja Heufer-Umlauf: Meine Mutter kommt aus licher demonstrieren gegangen ist?
weder Politiker noch Wahlkämpfer. Wilhelmshaven. Ihr Vater war Kranführer Heufer-Umlauf: Nein. Aber ich habe mir Ver-
SPIEGEL: Aber Martin Schulz kennen Sie am Hafen, klassische Arbeiterschicht. anstaltungen von Politikern angeschaut,
schon näher? SPIEGEL: Also sozialdemokratisch? die nach Oldenburg kamen. Einmal war
DER SPIEGEL 36 / 2017 73
Gut Medien
Analyse
Chaotischer Oktober
Die Passivität der Madrider Regierung hilft den katalanischen Separatisten.
Der EU droht eine neue Krise in einem Mitgliedsland: Die innerhalb von 48 Stunden die Unabhängigkeit zu erklären,
spanische Region Katalonien will am 1. Oktober ein illegales falls die Jastimmen überwiegen – egal welche Beteiligung.
Unabhängigkeitsreferendum abhalten – und Premier Mariano Die Gegner der Abspaltung sind zunehmend verunsichert.
Rajoy wirkt hilflos. Die Regionalregierung in Barcelona hat Zwar bilden sie nach jüngsten Umfragen die Mehrheit, doch
bereits ein Gesetz „für den Übergang und die Gründung der wollen sich viele nicht an einem illegalen Referendum betei-
katalanischen Republik“ vorgelegt. Das Regionalparlament ligen. Rajoy, der seit seinem Amtsantritt 2011 nichts unternom-
hat darüber bisher zwar weder debattiert noch es verabschie- men hat, um den Konflikt im Dialog zu lösen, will nicht mit
det – könnte es aber jederzeit tun. Die Verzögerungstaktik Zwangsmaßnahmen provozieren – obwohl die Verfassung der
der Separatisten zielt darauf ab, die Regierung in Madrid aus- Regierung das Recht gibt, die Autonomie einer Region zu
zutricksen. Da die Abstimmung gegen die spanische Verfas- suspendieren. Rajoy setzt allein auf die Justiz. Wenn er nichts
sung verstößt, hat Rajoy versprochen, sie zu verhindern, und unternimmt, könnte nach einer Art Abstimmung ohne de-
ruft deshalb gegen jeden vollzogenen Rechtsbruch das Verfas- mokratische Garantien Chaos ausbrechen. Ein unabhängiges,
sungsgericht an. Doch die Regierung in Barcelona will die An- aber international nicht anerkanntes Katalonien würde die
ordnungen des Madrider Gerichts nicht befolgen. Sie hat sich wirtschaftliche Erholung und das Wohl Europas mindestens
angeblich bereits 6000 Wahlurnen besorgt und angekündigt, ebenso gefährden wie der Brexit. Helene Zuber
Irgendwo in Afrika
Migration Wer nach Europa darf, darüber soll künftig
im Tschad oder in Niger entschieden werden. Das ist eine
schöne Idee. Leider zu schön, um realistisch zu
sein. In Wahrheit setzen die Europäer auf Abschottung.
W
enn Jonathan Obote über seinen len Schutzgesuche bereits in afrikanischen
Alltag in dem Gefängnis im liby- Staaten wie Niger oder dem Tschad ge-
schen Garabulli spricht, versagt prüft werden. Der britische Ex-Premier
ihm die Stimme. Er flüstert. Gemeinsam Tony Blair ist mit einem ähnlichen Vorha-
mit bis zu 60 anderen lebe er in einer Zelle, ben 2003 gescheitert, genauso der frühere
eingepfercht wie Vieh, erzählt er in einem deutsche Innenminister Otto Schily.
Moment, da die Wächter wegschauen. Er Dabei klingt die Idee zunächst sinnvoll:
schlafe auf dem Boden, werde von seinen Könnten Flüchtlinge Asylgesuche in Afrika
Bewachern geschlagen, oft hungere er. einreichen, wären sie nicht länger gezwun-
Obote, 23 Jahre alt, ein schmächtiger gen, ihr Leben auf der Flucht nach Europa
Nigerianer, das Gesicht jung, aber die Au- aufs Spiel zu setzen. Sie müssten nicht auf
gen müde, arbeitete mit seinem Bruder überfüllte Schmugglerboote steigen, wür-
auf einer Baustelle in Tripolis. Er wollte den nicht in Lagern in Libyen verenden.
Geld für die Weiterreise nach Europa ver- Und doch dürfte sich der Plan kaum um-
dienen, doch dann, vor einem halben Jahr, setzen lassen. Auffang- und Auswahlzen-
zerrten ihn Vermummte aus seiner Woh- tren außerhalb der EU sind nicht praktika-
nung und brachten ihn nach Garabulli bei bel. Wer soll sie aufbauen und betreiben?
Tripolis. An jenen Ort, von dem die Flücht- Marode Staaten wie Niger oder der Tschad
lingsboote Richtung Italien starten. sind dazu nicht in der Lage; das überlastete
Nun sitzt Obote im Hof der Haftanstalt. Uno-Flüchtlingshilfswerk ist es ebenfalls
Er darf sich eine Stunde am Tag die Beine nicht. Es müssten also europäische Beamte
vertreten. Dann muss er zurück in seine nach Afrika entsandt werden.
Zelle, wo es nach Kot und Urin stinkt und Europa allerdings bekommt es noch
die Gefangenen aus Verzweiflung regel- nicht einmal in Griechenland oder Italien
mäßig aufeinander losgehen. hin, Asylprozesse rasch abzuwickeln. Die
Was Obote erzählt, deckt sich mit den EU-Staaten hatten im Rahmen des Flücht-
Erkenntnissen von Menschenrechtlern und lingsabkommens mit der Türkei zugesagt,
Diplomaten. Die Hilfsorganisation Oxfam Asylgesuche innerhalb von Tagen zu prü-
kritisiert, Libyen sperre Migranten in Ge- fen – wer keinen Anspruch hat, sollte in
fängnisse oder Lager, wo sie gefoltert und die Türkei zurückverfrachtet, alle anderen
vergewaltigt würden. Das Auswärtige Amt sollten in Europa verteilt werden. Doch
sprach im Januar von „KZ-ähnlichen Ver- viele Syrer, Afghanen und Pakistaner ste-
hältnissen“. Und ein interner EU-Bericht cken inzwischen seit anderthalb Jahren handlungen über einen permanenten Ver-
über ein Lager in Tripolis liest sich wie die auf den griechischen Inseln fest. Die Bear- teilungsmechanismus stagnieren.
Schilderung modernen Sklavenhandels; beitung ihrer Anträge kommt nicht voran. EU-Innenkommissar Dimitris Avramo-
die Gefangenen, meist Afrikaner, würden Nichts spricht dafür, dass dieses Verfahren poulos appellierte erst vergangene Woche
mitunter „zwischen den Lagern hin und in Afrika einfacher wäre, im Gegenteil. Der an die Mitgliedstaaten, ihre Anstrengun-
her verkauft“. Andrang dürfte umso größer sein, Tausende gen zur Umsiedlung von Flüchtlingen auch
Und trotzdem tut die EU nun alles dafür, Asylsuchende würden am Rande der Sahara aus Ägypten, Libyen, Niger, Äthiopien
dass die Migranten nicht mehr von Libyen festsitzen und auf eine Entscheidung warten. und dem Sudan zu verstärken. Europa
aus in See stechen – und am Ende in genau Die EU müsste Lager für sie eröffnen und habe „die juristische und moralische Ver-
diesen Kerkern landen. Zwei Jahre nach sie versorgen. Doch selbst wenn es den pflichtung, jenen Schutz zu gewähren, die
Angela Merkels „Wir schaffen das“ ist Europäern wie durch ein Wunder gelänge, ihn wirklich brauchen“, mahnt er in einem
Europa wieder abgeschottet. Ginge es nach legale Verfahren in Afrika zu etablieren, Schreiben an den deutschen Innenminister
den Vorstellungen der europäischen Staats- wäre unklar, wie es danach weitergeht. Thomas de Maizière.
und Regierungschefs, dann könnte Afrika Bewerber, denen ein Anspruch auf Asyl Noch komplizierter ist die Lage bei je-
wohl bald so aussehen wie der Balkan: ein zugebilligt wird, dürften dann weiterreisen nen Bewerbern, deren Gesuch abgelehnt
Kontinent voller Zäune und Schranken, nach Europa. Einige Mitgliedstaaten aber wird. Jeder Antragsteller hat das Recht,
die Migranten davon abhalten sollen, wei- weigern sich schon jetzt, weitere Flücht- die Entscheidung vor Gericht anzufechten.
ter nach Norden zu ziehen. linge aufzunehmen. So konnte in den ver- Nur: Vor welches Gericht sollen Asylsu-
Bei ihrem Flüchtlingsgipfel in Paris am gangenen zwei Jahren gerade einmal ein chende im Tschad ziehen?
Montag verkündeten Frankreichs Präsi- Bruchteil der ursprünglich vorgesehenen Außerdem sind die meisten Menschen,
dent Emmanuel Macron und die Kanzlerin 160 000 Migranten aus Griechenland und die derzeit über die zentrale Mittelmeer-
mal wieder ein altes Konzept: Künftig sol- Italien auf Europa verteilt werden. Ver- route kommen, nicht Bürgerkriegsflücht-
78 DER SPIEGEL 36 / 2017
LORENZO TUGNOLI / CONTRASTO / LAIF
Migranten im Asylknast in Tripolis: „KZ-ähnliche Verhältnisse“
linge, sondern junge Männer aus Nigeria, ches Projekt in Afrika wiederholen. Euro- schmuggel aus Westlibyen nach Europa –
Guinea oder Bangladesch, die Arbeit su- pas Außengrenzen sollen nach Nordafrika nun werden sie bezahlt, um zu verhindern,
chen. Sie haben kaum Aussicht auf Asyl verlegt werden. Die Zusammenarbeit mit dass weitere Boote ablegen.
und würden weiterhin probieren, Europa afrikanischen Ländern könnte aber noch Europa legt damit den Schutz seiner Au-
auf dem Seeweg zu erreichen. schwieriger sein als mit der Türkei. ßengrenzen in die Hände Krimineller. Das
Der schöne Plan, er ist vor allem eine Il- In Libyen haben es die Europäer mit ist moralisch zweifelhaft und strategisch
lusion. Merkel will vor der Bundestags- zwei verfeindeten Regierungen und unzäh- unklug, weil man sich damit erpressbar
wahl den Eindruck vermitteln, sie habe ligen Milizen zu tun. Die EU unterstützt macht. Vor allem aber dürfte die humani-
die Flüchtlingskrise unter Kontrolle. Und die schwache Einheitsregierung von Pre- täre Lage der Migranten noch viel verzwei-
Macron will den Retter Europas geben. In mier Fayez Sarraj mit Millionen Euro, da- felter werden. Denn wer erst einmal in
Wahrheit jedoch setzt die EU längst auf mit sie Migranten von der Flucht über das Libyen angekommen ist, der hat in den
Abschottung. Italien treibt die Abriegelung Mittelmeer abhält. Zudem sorgen italieni- seltensten Fällen genug Geld, um zurück-
der Mittelmeerroute voran, und Österreich sche Kriegsschiffe dafür, dass die libysche zureisen. Was aber soll mit den Menschen
macht den Brenner dicht, wovon vor allem Küstenwache Boote zurück an Land bringt; in den Lagern passieren?
Merkel profitiert. So kann sie öffentlich die meisten privaten Hilfsorganisationen In nackten Zahlen gemessen, ist diese
die Flüchtlingskanzlerin bleiben, während haben sich zwangsweise aus der Flücht- Strategie jedoch ein Erfolg: Die Überfahr-
die Grenzen im Süden geschlossen sind. lingsrettung zurückgezogen. ten sind nach einem Rekordhoch im Juni
Das Abkommen mit der Türkei hat dafür Italien unterstützt zudem eine Verein- zurückgegangen. Im August kamen 87 Pro-
gesorgt, dass es nur noch wenige Menschen barung der Einheitsregierung mit zwei zent weniger Migranten als im Vorjahr. Da-
über die Ägäis nach Europa schaffen; und libyschen Milizengruppen, der Brigade 48 mit sank auch die Zahl der Ertrunkenen.
selbst wer es schafft, sitzt meist in Grie- und al-Ammu. Die beiden Gruppen kon- Der Rückgang dürfte allerdings nur vo-
chenland fest. Nun will Merkel ein ähnli- trollierten bis vor Kurzem den Menschen- rübergehend sein. Wird eine Route ge-
DER SPIEGEL 36 / 2017 79
Im Wartesaal Europas
schlossen, suchen sich Migranten schnell
einen neuen Weg. Schon jetzt steigen die
Überfahrten von Marokko nach Spanien.
Innerhalb Libyens könnte sich der Schmug-
gel in den nicht von der Sarraj-Regierung Italien Der Brenner ist der Ort, an dem die Träume zerplatzen.
kontrollierten Osten verlagern.
Zudem fürchten Sicherheitsexperten, Hier, in Südtirol, verläuft die neue Grenze, undurchdringlich
dass die Milizen die Gelder, die sie aus für Migranten. Zurück bleiben die Verzweifelten.
Europa bekommen, für den Kampf gegen
die Sarraj-Regierung einsetzen könnten.
D
So würde Europa den libyschen Bürger- er Bahnhof von Bozen, Südtirol, Abteile durchkämmen und jeden heraus-
krieg weiter befeuern – und im Vakuum ist in diesen Wochen ein Wartesaal fischen, der nach Flüchtling aussieht, ent-
staatlicher Kontrolle blühte der Menschen- Europas, ein Durchgangslager für decken ihn nicht, der Zug rollt an.
schmuggel alsbald wieder. zwei Arten von Passagieren. Beide reisen Zacharias, 18 Jahre alt, ist einer von
Italien und Deutschland drängen daher mit leichtem Gepäck, ihre Welten berüh- knapp 100 000 Flüchtlingen, die in diesem
darauf, zusätzlich die Wege der Migranten ren einander selten. Jahr in Italien angekommen sind, er will
zum Mittelmeer abzuriegeln, mit einer EU- An einem Mittwochmorgen Ende Au- nach Österreich, dann weiter nach Deutsch-
Grenzschutzmission an der südlibyschen gust steht der junge Gambier Zacharias land, obwohl sie ihm gesagt haben, dass
Grenze. Ende Juli stellte die EU-Kommis- am Fenster des Schnellzugs von Verona dieser zweite Teil seiner Flucht schwer wer-
sion dafür 46 Millionen Euro bereit. Ver- nach München, er schaut auf bunt geklei- de und Asyl im Norden unmöglich sei.
teidigungsministerin Ursula von der Leyen dete Bergsteiger, Feriengäste, Interrailer, Während in diesen Tagen im Süden nur
übergab kürzlich 100 Pritschenwagen, 115 die in Bozen aussteigen, erwartet werden, noch wenige Flüchtlinge ankommen, ist
Motorräder und 55 Satellitentelefone an angekommen sind. Zacharias fährt weiter. hier im Norden eine neue Grenze entstan-
die nigrische Polizei und Armee. Die Polizisten und Grenzsoldaten, die die den. Das österreichische Bundesheer hat
Nur: Allein die Grenze zwischen Libyen
und Niger ist gut 340 Kilometer lang, sie
verläuft mitten durch die Sahara und ist
kaum zu überwachen. Was sollen da ein
paar EU-Grenzschützer ausrichten?
Letztlich lässt sich die Migration nur
stoppen, wenn sich die Lage in den Her-
kunftsländern deutlich verbessert. Doch
ausgerechnet jetzt wollen einige EU-Mit-
gliedstaaten im Rat die im Budgetentwurf
für 2018 vorgesehenen Ausgaben für Ent-
wicklungshilfe um 90 Millionen Euro kür-
zen. Er sei „sehr erstaunt“, schreibt Man-
Mitte August 70 Mann an den Brenner ge- nahmte Bargeld und Handys und teilte ih- am Ende des Tunnels“. Sie sähen nur Tun-
schickt, die mit Eisenstangen Güterzüge nen mit, dass sie sich beim Ausländeramt nel, sagen die Helfer von Bozen, ihre Ar-
nach blinden Passagieren abstochern; dazu in Bozen zu melden hätten. Mit Zacharias beit fange gerade erst an.
Polizisten, die gründlicher denn je jeden fahren sie zurück, der Bahnhof ist nun Es sind zwei dieser Helfer, die Zacharias
Zug kontrollieren. Denn in Österreich ist Endstation. nach seiner Irrfahrt in Bozen in Empfang
Wahlkampf, lange vorbei sind die Zeiten, Es ist, als verliefe hier in Bozen eine nehmen, sie besorgen ihm ein Feldbett in
da hier täglich um die 200 Afrikaner, Pa- neue Trennlinie im grenzenlosen Europa. einer Kirche für die Nacht, danach sitzt er
kistaner und Afghanen gen Norden durch- Für Afrikaner wie Zacharias, die es wieder auf der Straße. Zacharias ist trotz aller Hin-
gewinkt wurden und die Bozener Essen und wieder versuchen, wie Flipperkugeln dernisse selbstbewusst und siegessicher, er
und Kleidung brachten. Heute, sagt ein abprallen und zurückgeschossen werden. hat gut Italienisch gelernt. Wer ihm zuhört,
Eisenbahner, zeigten sie unter die Sitzbän- Täglich stranden hier 20, 30 Flüchtlinge, begreift, dass niemand ihn auf seinem Weg
ke, „schauen Sie, Herr Schaffner, da hat seit Monaten geht das so, und nichts deutet nach Norden aufhalten kann. Nicht seine
sich wieder einer versteckt“. darauf hin, dass es bald ein Ende hat. Mutter, die zum Abschied sagte: Ver-
In Fortezza, Franzensfeste, vier Statio- Im Bahnhofspark von Bozen sitzen nun schwende nicht dein Leben bei Menschen,
nen vor dem Brenner, ist Zacharias’ Reise Somalier, Afghanen, Ghanaer, sie kiffen die dich nicht haben wollen. Nicht die Uni-
zu Ende. Italienische Polizisten fordern ihn und dealen; an der Schlachthofstraße pros- formierten, die sich ihm hier zum dritten
auf, den Zug zu verlassen. Auf dem Bahn- tituieren sich Nigerianerinnen; am Ufer Mal auf seiner Odyssee entgegenstellen.
steig sitzen bereits fünf Somalier, sie sind des Eisack waschen sich all jene, die kein In Gambia hat Zacharias aus Europas
auf dem Rückweg aus Österreich, fünf Bett für die Nacht bekommen haben. Gut Elektroschott funktionierende Computer
von bis zu tausend Flüchtlingen, die Tirol ein Dutzend Helfer kümmert sich um sie, gebastelt; er komme nicht mit leeren Hän-
pro Monat aufgreift und zurück über den eine bunte Truppe aus Südtirolern, die den, sagt er, er habe etwas zu bieten. Er
Brenner schickt. Auf der Tiroler Polizei- meisten selbst Migrantenkinder, sie kön- wolle eine Ausbildung machen, hart arbei-
station gab man ihre Fingerabdrücke nen nur lachen über Innenminister Marco ten, „ein unabhängiger Mann werden“.
in die Eurodac-Datenbank ein, beschlag- Minniti, der sagt, endlich sehe er ein „Licht Noch ist er lange nicht am Ziel. Nach
Schlägen und Schikane in libyschen La-
gern gelang die Überfahrt, ein halbes Jahr
lebte er in einem Erstaufnahmelager bei
Brindisi, dann erntete er als Tagelöhner
Tomaten, fühlte sich ausgebeutet wie frü-
her die Sklaven. Er hat keine sehr hohe
Meinung von Italienern, er findet sie un-
organisiert und verwöhnt, er hingegen wol-
le etwas leisten in seinem Leben.
Und er wird es schaffen, er wird ein Le-
ben in Wohlstand und Würde in Deutsch-
land führen, davon ist Zacharias fest
überzeugt. Andere Afrikaner schafften es
GIANMARCO MARAVIGLIA / DER SPIEGEL
Vererbte Narben – Generations- die sich unter die Güterzüge gequetscht Ihr Arbeitsplatz ist ein Caravan, zwei
übergreifende Traumafolgen haben. Essabar tröstet, berät, bietet ein Nächte pro Woche tuckert sie um den
Kriege, familiäre Gewalt und andere Bett für eine Nacht, mehr kann sie nicht Bahnhof, die Straße zur Rittner Seilbahn,
traumatische Erlebnisse wirken sich tun. Essabar sagt, dies sei ein Ort, an dem die Schlachthofstraße entlang des Eisack.
nicht nur auf diejenigen aus, die Träume zerplatzen. An Bord hat sie Thermoskannen mit Tee
sie selbst erleiden. Auch nachfolgen- Sie sieht, wie die Männer aus Zügen und Kondome. Quiroz betreut Prostituier-
de Generationen können Symptome geworfen werden, am Ende des Gleises te auf dem illegalen Straßenstrich von Bo-
entwickeln. Die Wissenschaftsdoku- stehen sie und schauen sehnsüchtig Rich- zen. Jeden Abend reisen sie mit dem Zug
mentation geht diesem Phänomen tung Norden, all den Porsches und SUVs an, aus Trient, Verona, 40 bis 50 Pendle-
auf den Grund. hinterher, hinüber zum gigantischen Out- rinnen, meist aus Nigeria, noch nicht lange
letcenter mit all seinen Versprechungen. im Land. Auf der Bahnhofstoilette machen
Habt Geduld, würde sie ihnen am liebsten sie sich zurecht. Nach getaner Arbeit war-
TERRA X zurufen, ihr könnt nicht alles auf einmal ten sie auf den Stufen unter den faschisti-
SONNTAG, 3. 9., 19.30 – 20.15 UHR | ZDF haben. Sie sagt, die Unwissenheit über schen Statuen auf den ersten Zug morgens
das wahre Leben in Europa, dieser hart- um fünf Uhr.
Zeitreise – Das Jahr näckige Mythos Deutschland, der mache Im Gegensatz zum nimmermüden Za-
1000 vor Christus sie rasend. charias träumen sie nicht mehr vom großen
Wie haben die Menschen in ver- Sie fleht die Jungs an, in Italien zu blei- Glück in Europa. Sie nehmen rund 30 Euro
schiedenen Regionen auf der Erde ben, „hier seid ihr registriert, nur hier habt pro Kunde, mit dem Geld zahlen sie ihre
im Jahr 1000 vor Christus in der ihr eine Chance“. Es gebe Härtefallkom- Schulden ab bei Schleppern und Zuhältern.
missionen, Asyl aus humanitären Gründen, So wie Blessing, eine Nigerianerin mit glat-
es werde anerkannt, wenn sie Italienisch ter Langhaarperücke, Hotpants und Kunst-
lernten, sich anstrengten, fleißig seien. Ita- namen, sie steht an einer Bushaltestelle im
liens Asylpraxis sei da wesentlich flexibler Industriegebiet. „Ciao“, ruft sie und läuft
und fantasiereicher als die deutsche, glaubt auf den Caravan zu, „tutto bene?“ Dann
mir, ich kenne mich aus. klingelt ihr strassverziertes Handy, das in ih-
Und doch weiß Essabar, dass ihre Worte rem BH steckt, der nächste Kunde rollt an.
verhallen wie das Echo an den Felswänden Gina Quiroz dreht ihre Runden, bis Rita
HANS JAKOBI / SPIEGEL TV
der Alpen. Die Flüchtlinge werden es trotz- anruft, noch keine Prostituierte, aber auf
dem wieder versuchen, wenn nicht am dem besten Weg dahin. Rita aus Lagos,
Brenner, wenn nicht im Zug, dann für 150 einer der vielen Härtefälle in Bozen, eine
oder auch 300 Euro im Auto über den von über 11 000 Nigerianerinnen, die zu-
Grenzübergang im Pustertal. Oder zu Fuß, letzt nach Italien kamen, vielleicht schwan-
Archäologe Wemhoff in Äthiopien über die grüne Grenze, wie früher die Ju- ger. Die Caritas hat ihr ein Hotelzimmer
den auf der Flucht aus Nazideutschland. besorgt, vorübergehend. Rita heult ins Te-
Bronzezeit gelebt? Der Archäologe Wenn ihr wieder mal alles vergebens lefon, sie habe sich verlaufen. Ein Passant,
Matthias Wemhoff begibt sich in der erscheint, tröstet sie sich mit der spröden der sie aufgelesen hat, nennt die Adresse,
dritten Staffel der „Zeitreise“-Reihe Poesie dieses Ortes, macht Fotos von Quiroz rast hin.
auf eine Fahrt rund um den Globus den Alpenveilchen zwischen den Gleisen, Rita steigt ein, klein, rundlich, Blumen-
und untersucht die Parallelgeschich- den schneeverhangenen Gipfeln. Und rock, sie wirkt wie ein verlorenes Kind.
te der Menschen. schickt dann wieder die Jungs zurück nach Sie spricht von dem Tag, an dem sie der
Bozen. Anruf der „Madame“ erreichte: Entweder
Die Provinz Bozen hat bisher offiziell du gehst auf die Straße mit den anderen
SPIEGEL TV MAGAZIN 1700 Asylsuchende aufgenommen, das Mädchen, oder wir holen dich, und das
SONNTAG, 3. 9., 21.50 – 23.30 UHR | RTL macht bei 500 000 Einwohnern weniger als überlebst du nicht.
ein halbes Prozent. Dazu kommen nun „Madame“, so nennen sie die Frauen,
Mensch, Deutschland! mehrere Hundert Illegale, die meist keine die ihnen das Geld für die Reise durch die
Was läuft gut, was läuft schief? Chance auf Asyl haben. Sahara und die Überfahrt nach Italien lei-
Integration, Arbeitsmarkt, Sicher- Und was tut eine Stadt, der die Welt ins hen, bis zu 35 000 Euro. Besiegelt wird die-
heit, Altersarmut, Dieselskandal. Haus gestolpert ist? Sie schottet sich ab ser Handel mit einer Art Voodoozauber,
Drei Wochen vor der Bundestags- und zeigt Härte. Mehrmals die Woche gibt bei dem Haare und Blut der Mädchen und
wahl nimmt SPIEGEL TV das Land es jetzt Razzien im Park, mit Blaulicht und ihrer vermeintlichen Beschützer verbrannt
unter die Lupe. Hundestaffel, die nach Drogen schnüffelt und getrunken werden. Wer seine Schuld
und meist welche findet. Unbequeme Zei- nicht begleicht, den soll ein Fluch treffen,
ten sind das im wohlhabenden Südtirol, der die Familie ins Unglück reißt.
SPIEGEL GESCHICHTE das selbst ein Land der Hin- und Herge- Rita weint jetzt nicht mehr, sie sagt, es
DONNERSTAG, 7. 9., 21.50 – 22.40 UHR | SKY schobenen ist, wo noch Anfang des 20. sei wohl ein Fehler gewesen, diese Reise
Jahrhunderts arme Bauern ihre Kinder zu nach Europa. „Warum?“, fragt Quiroz, die
Hitlers Tarnkappenbomber Fuß über die Alpen schickten, damit sie Helferin. „Weil ich hier niemanden habe,
Kurz vor Ende des Zweiten sich als „Schwabenkinder“, als Mägde und weil ich sie so sehr vermisse, meine Kinder,
Weltkriegs setzte Adolf Hitler Hütejungen, in Württemberg und Baden fünf und acht, die Oma passt auf sie auf.“
seine Hoffnungen auf „Wunder- verdingten. Heute mag sich, scheint es, Am nächsten Tag wird Rita bei der Cari-
waffen“. Die Ingenieure Walter kaum noch einer daran erinnern. tas einen Antrag zur Rückführung nach Ni-
und Reimar Horten konstruierten Wenn in Bozen die Nacht hereinbricht, geria stellen. Darum, sagt Quiroz, habe sie
ein Düsenflugzeug, das für das so schwarz und sternenklar wie in Afrika, noch keines der Mädchen gebeten. Sie fin-
gegnerische Radar unsichtbar startet Gina Quiroz aus Kolumbien, Essa- det, das ist ein guter Anfang. Fiona Ehlers
sein sollte. bars Kollegin bei Volontarius, ihre Schicht. Mail: fiona.ehlers@spiegel.de
N
ach drei Tagen Sturm und Regen Die Kuykendahl Road war bis vor Kur- desopfer lag am Donnerstagabend bei 39,
hatte Ryan Craig genug von diesen zem eine Straße, die sich durch die Vororte doch erst wenn das Wasser abläuft, wird
Bildern im Fernsehen. Von über- von Houston schlängelte, an Tankstellen, die Stadt verstehen, was „Harvey“ wirk-
schwemmten Häusern, von davontreiben- Waschanlagen und Taco-Läden vorbei. lich angerichtet hat.
den Autos und von Menschen, die auf Jetzt ist sie ein Fluss in der Farbe dünnen In Houston lässt sich beobachten, wie
Dächern hocken. Craig lebt mit seiner Milchkaffees, mit Strömungen und gefähr- aus einer lebendigen Metropole binnen
Frau und seiner kleinen Tochter in Mont- lichen Untiefen. Aus dem Boot von Ryan Stunden ein apokalyptischer Ort wird.
gomery County, 30 Meilen nördlich von Craig betrachtet ist Houston, viertgrößte Es ist ein Schicksal, wie es vielen Städten
Houston. Noch ist er hier vor dem Wasser Metropole der USA, 2,3 Millionen Ein- in Zeiten des Klimawandels und extremer
sicher, aber er wollte nicht tatenlos zu- wohner, eine Geisterstadt, eine Kulisse aus Wetterereignisse bevorstehen könnte.
sehen, wie Houston in den Fluten ver- einem Katastrophenfilm. Ausgerechnet Transformatoren explodieren mit einem
sinkt. Er fragte seinen Vater, ob er mit- Houston, Zentrum der Ölindustrie, die Knall, der Strom fällt aus, Kühlschränke,
kommen wolle, nach Houston. Sie hatten Stadt, die den ersten Menschen auf den Ampeln, Klimaanlagen, Telefone und
ja das Boot. Mond schickte, Amerikas Boomtown. Fernseher sind tot. Eine Ausgangssperre
Und so gleiten an diesem Tag Vater und Seit vorigen Samstag der Wirbelsturm wird verhängt, wie in einem Krisengebiet.
Sohn die Kuykendahl Road entlang, im „Harvey“ vom Golf von Mexiko auf Texas Die Behörden drohen Plünderern und
Norden von Houston. Ryan Craig trägt traf, fielen bis zu 132 Zentimeter Regen, Wucherern mit der ganzen Härte des
einen Regenanzug, darüber eine blaue Ret- ein Rekord für die USA. Nicht die Wucht Gesetzes.
tungsweste, sein Vollbart tropft von Was- des Sturms war das Problem, sondern die In den ersten Tagen saßen Menschen
ser. Er hält sich an der Bordwand fest. große Menge Regen in kurzer Zeit. Die auf den Dächern, sie hängten weiße Hand-
„Dad, pass auf die Stromleitungen auf“, beiden Auffangbecken im Westen der tücher aus den Fenstern, um Helfer auf
ruft er. Die Leitungen hängen gefährlich Stadt liefen über, Flüsse stiegen an, Stra- sich aufmerksam zu machen. Die Be-
niedrig, am Tag zuvor sind zwei Helfer ßen wurden überflutet, ganze Viertel ver- wohner eines Altenheims saßen bis zur
durch einen Unfall mit Stromleitungen, die schluckt, zwischenzeitlich stand ein Drittel Hüfte im Wasser. Ein drei Jahre altes Mäd-
unter Wasser lagen, gestorben. der Stadt unter Wasser. Die Zahl der To- chen klammerte sich an seine sterbende
Mutter. Und die Schlangen vor den Notun- Hälfte unter Wasser steht. Hier wuchs er wachsen, um ein Viertel seit Mitte der
terkünften der Stadt wurden immer länger. auf, bis die Familie in die Vorstadt zog. Neunzigerjahre. Die Bauvorschriften sind
Inzwischen ist die Nationalgarde ange- Sie wollten weg aus Houston, weg von der sehr locker, es wurden viele freie Flächen
rückt, die Armee, die Küstenwache, es sind Flutgefahr. „Der schlimmste Sturm, den zubetoniert, wo das Wasser nun nicht
Helfer vom Roten Kreuz da und vom Amt wir vor ,Harvey‘ erlebten, war im Jahr mehr versickern kann.
für Katastrophenschutz. Innerhalb von er- 2001. Damals stand das Wasser im Haus In Harris County, zu dem Houston ge-
staunlich kurzer Zeit entstand zudem ein 50 Zentimeter hoch“, erzählt Craig. Da- hört, wurden 7000 Häuser in Gegenden er-
Netzwerk an Freiwilligen, die zu Fuß, in nach zogen sie weg. Und jetzt? „Jetzt sind richtet, die als Überflutungsflächen ausge-
Booten oder mit Riesentrucks durch die es fast zwei Meter.“ wiesen sind. Seit Anfang der Neunziger-
überschwemmten Stadtviertel patrouillie- Am Tag zuvor haben er und sein Vater jahre wurde zudem fast ein Drittel der
ren und Bewohner evakuieren. neun Menschen gerettet, darunter eine Fa- Sumpflandschaft bebaut. Houston ist stolz
Die Geschichte von Houston ist, zumin- milie mit einer gehbehinderten Tochter. auf sein radikal ungeregeltes, ungeplantes
dest im Moment, eines dieser Dramen von Dazu vier Hunde. Jetzt aber müssen sie die Wachstum; man sieht darin Freiheit und
Katastrophe und Zusammenhalt. Sogar Do- Suche aufgeben, vorerst, weil die Stromlei- Pioniergeist. Die Pläne für ein groß ange-
nald Trump, der oberste Polarisierer und tungen über dem Fluss den Weg versperren. legtes Flutschutzprojekt allerdings, das ist
Spalter des Landes, sagte halbwegs präsidi- Es ist ja nicht so, dass die Flut überra- der Nachteil, liegen seit Jahren auf Eis.
al, das Land stehe hinter Houston und Te- schend gekommen wäre. Der Süden von In der Ferne knattern die Rotoren von
xas, „heute, morgen und jeden Tag danach“. Texas ist flach und sumpfig, schon im ers- Helikoptern. Mehr als 30 000 Menschen
Er schien den Hurrikan als eine Art persön- ten Jahrhundert nach Gründung der Stadt mussten den Behörden zufolge ihre Häuser
lichen Rekord zu bejubeln, nannte ihn um 1830 musste Houston 16 Flutkatastro- verlassen, viele davon vielleicht für immer.
„episch“ und „historisch“ und absolvierte phen überstehen. Inzwischen kommt das Der Schaden durch „Harvey“ ist schwer
einen Besuch im Katastrophengebiet, der Wasser häufig und immer brutaler. Allein zu beziffern, einige Schätzungen gehen so-
die Anmutung eines Wahlkampfauftritts in den vergangenen drei Jahren erlebte gar über die Kosten von „Katrina“ hinaus,
hatte. Trump traf keine Opfer, sah kein Was- die Stadt drei schwere Stürme, die Fluten die bei 118 Milliarden Dollar lagen. Damit
ser und wirkte, als wäre er zu einer Partie mit sich brachten. Viele Experten warnten wäre „Harvey“ der teuerste Sturm bislang.
Golf eingeflogen. Aber in diesem Moment lange vor der Katastrophe. Denn Houston Schon jetzt steigen die Benzinpreise im
verziehen ihm die Amerikaner sogar das. ist in den vergangenen Jahren enorm ge- Land, weil Raffinerien in Texas schließen
Millionenspenden treffen mussten. Einen Teil der Kos-
in Houston ein, Kleidung, ten für die Schäden wird die
Nahrung, Medikamente für Regierung bereitstellen müs-
die Obdachlosen. In der größ- sen; eine Ironie fast, dass die
ten Notunterkunft der Stadt, Republikaner ursprünglich
dem George R. Brown Con- das Budget für den Katastro-
vention Center, werden Hel- phenschutz kürzen wollten.
fer inzwischen abgewiesen. Die Flut von Houston ist
Zwischenzeitlich übernachte- ein Gleichmacher, sie trifft
ten hier 10 000 Menschen, sie Schwarze und Weiße, Arm
wurden registriert und mit und Reich. Sie macht vor guss-
dem Nötigsten versorgt. Im eisernen Hoftoren genauso
Moment noch wirkt Houston wenig halt wie vor Holzhüt-
SCOTT DALTON / DER SPIEGEL
wie eine Stadt, in der der ten. Houston ist von Kanälen,
Staat trotz des Chaos die den Bayous, durchzogen.
Kontrolle behält; sogar die Der Winter Oaks Drive
zwei Flughäfen wurden am liegt im Westen von Houston,
Mittwoch wieder eröffnet, eine Straße wie aus dem Sub-
ein trotziges Signal, dass man urbia-Bilderbuch. Riesige Häu-
einfach so weitermachen wer- Freiwilliger Craig: „Dad, pass auf die Stromleitungen auf“ ser, umgeben von akkurat ge-
de wie bisher. stutzten Rasenflächen, mit
Was für ein Unterschied Garagen, in denen neben
zum Hurrikan „Katrina“, der dem BMW X5 bequem ein
vor zwölf Jahren die Dämme Motorboot Platz hat. Eine
von New Orleans brechen hervorragende Gegend für
ließ und die Stadt zum Sinn- Leute wie Birte Dyrvig So-
bild von Gesetzlosigkeit, rensen, deren Mann für einen
Chaos und mörderischem dänischen Ölkonzern arbei-
Überlebenskampf machte. In tete, bevor er in Rente ging.
Houston dagegen stellte man Allerdings liegt der Winter
sich dem Wasser selbstbe- Oaks Drive zwischen einem
wusst in den Weg. Auffangbecken und einem
Möglich ist das, weil es Bayou. Niemand hier dachte,
SCOTT DALTON / DER SPIEGEL
rensen auf einer Kinderschaukel in einem Gas, Pipelines aus dem Golf von Mexiko Houston auf, zog um nach Kalifornien,
fremden Vorgarten und umklammert ihre kommen hier an Land, einige der größten überstand ein schweres Erdbeben und kam
Handtasche, Wellen schwappen auf den Ra- Raffinerien der USA stehen in der Umge- vor zwei Jahren zurück in ihre Heimat.
sen. Ein Pfau spaziert durch einen Vorgar- bung von Houston. Als die Flut kam, leckte Williams ist eine Überlebende, nicht nur
ten. Sorensen wagt sich nicht ins Wasser, Öl aus den Speichertanks, aus Raffinerien der Flut: Zwei ihrer sechs Kinder sind tot,
sie hat Angst vor den Schlangen. und Fabriken entwichen giftige Gase. Am der letzte ihrer drei Ehemänner starb an
Mit Tränen in den Augen erzählt sie, Donnerstag kam es zu Verpuffungen in ei- den Folgen einer Leberzirrhose.
dass das Wasser in ihrem Haus inzwischen nem Chemiewerk nordöstlich von Houston, Als am Sonntag das Wasser im Buffalo
bis an die Kante des Küchentischs reiche. der aufsteigende Rauch sei „ungemein ge- Bayou stieg und in ihre Wohnung drang,
„Wir sind am Sonntagnachmittag geflohen. fährlich“, warnten die Behörden. Chemika- warf sie alles auf den Boden, was sie grei-
Nur die Pässe haben wir mitgenommen lien, Müll, Abwässer verbinden sich zu ei- fen konnte, um es aufzusaugen. Hand-
und ein paar Sachen zum Anziehen.“ Zum ner toxischen Brühe. Dazu kommt, dass es tücher, Sofakissen, Kleider, Decken. Wil-
Glück haben sie eine Versicherung gegen Industriebrachen gibt, aus denen jetzt Blei, liams versuchte, eigenhändig die Flut zu
Flutschäden abgeschlossen. Arsen und andere Giftstoffe austreten. stoppen, sie wollte nicht fort von daheim,
Zwei Männer in Kanus paddeln vorbei, Die Flut hat die Mauern zwischen den sie wollte nicht, dass das Wasser die Macht
die in Müllsäcken einige Habseligkeiten Hautfarben und Schichten vielleicht kurz- über ihr Leben bekommt. Doch als die
gerettet haben. Niemand hier verfällt in fristig überspült, aber nicht eingerissen. So Flut immer höher stieg, als der Kampf ver-
Panik, höchstens in Trauer, weil man eben stark war der Sturm dann doch nicht. loren war, nahm sie ihre Geldbörse, zwei
alles wieder neu kaufen muss. Die meisten Vor allem im Kongresszentrum von Paar Schuhe und die Handtasche, stieg in
Bewohner fallen weich und kommen bei Houston wird deutlich, wie groß der Un- einen Pick-up der freiwilligen Helfer und
Freunden oder Verwandten unter. Trotz terschied in dieser Stadt zwischen denen ließ sich in Sicherheit bringen.
Überschwemmung wird im Winter Oaks ist, die Geld für ein Hotelzimmer haben Was macht sie jetzt, wie geht es weiter?
Drive niemand wirklich nass. oder Freunde, bei denen sie für ein paar Williams zuckt die Schultern. „Ich habe
Am meisten werden die Armen leiden, Nächte unterkommen können – und denen, so viel verloren, was mir wichtig war, die
die wochen- oder monatelang kein Einkom- die allein sind und kaum etwas besitzen. Fotoalben zum Beispiel“, sagt sie, ein gan-
men haben oder ihre Jobs gleich ganz los Das Kongresszentrum liegt in der Innen- zes Leben, von der Flut ausgelöscht. In
sind; sie sind es zumeist, die keine Versiche- stadt, umgeben von Hotels und Bürogebäu- ihre Wohnung kann sie nicht zurück. Im
rung gegen Flutschäden haben. Ganze 80 den. Helfer verteilen Äpfel, Bananen und Moment ist Alma Williams obdachlos, eine
Prozent der am stärksten Betroffenen haben Trinkwasser. In den Hallen stehen Feldbet- alte, gebrechliche Dame, die trotzdem
sich nicht versichert – und so werden sich ten, fast alle Menschen hier sind dunkel- nicht die Hoffnung verliert.
viele Menschen, deren Haus unbewohnbar häutig, einige sprechen nur Spanisch. „All das geschieht aus einem Grund. Wo-
wurde, den Neubau nicht leisten können. „Seit wann bin ich hier? Seit drei Ta- möglich, damit die Menschen zusammen-
Die Ärmeren sind es auch, die unter den gen?“ Alma Williams hat sich in eine De- kommen“, sagt sie dann. „Es gibt ja so viel
Langzeitfolgen am meisten leiden werden, cke gewickelt, sie hockt auf der Kante ei- Hass in diesem Land.“ Vielleicht hat Gott
denn es sind ihre Viertel, die sich in der nes Klappbetts in Halle D. Sie ist 87 Jahre seine Finger im Spiel, wer weiß.
Nähe der Industriegebiete befinden. Der alt und wirkt immer noch ein wenig ratlos, Scott Dalton, Christoph Scheuermann
Süden von Texas ist das Land von Öl und wie sie hierhergeraten ist. Sie wuchs in Twitter: @chrischeuermann
Sarg des Mordopfers Niño: Vier Schüsse in der Dunkelheit, er starb im Wohnzimmer
A
noy Santos hat sich neue Turnschu- denplan: Zumba, Gesprächskreise, Werte- beim Essen. Das Signal ist: Es kann jeden
he gekauft, weil er nicht sterben kurse, Bibellesen, Bonsaibaum-Pflege, Re- treffen, überall. Kein Ort ist sicher. Es trifft
will. Weiße Nikes mit einem roten chenunterricht, Kerzenziehen. jedes Mal die Ärmsten der Armen.
Streifen, sie glänzen an seinen Füßen, als Rund 50 stationäre Einrichtungen gibt es „Verrichtet euren Dienst. Und wenn ihr
er das Therapiezentrum betritt, den sticki- auf den Philippinen, mit Betten für 5000 Pa- tausend Menschen tötet, weil ihr euren
gen Saal, in dem gleich der Zumba-Kurs tienten. Sie sind in ehemaligen Kasernen Dienst getan habt, werde ich euch schüt-
für Drogensüchtige beginnt. Santos beeilt oder einem Hauptquartier der Nationalpo- zen.“ So redet Duterte. Jetzt, in den
sich. Er muss pünktlich kommen, darf kei- lizei untergebracht, sind eher Gefängnisse schwülen Monsunwochen, hat die Gewalt
nen Fehler machen, den Kurs nicht verpas- als Orte, an denen den Menschen wirklich noch einmal zugenommen. Mitte August
sen. Nur dann hat er eine Chance, die Jagd geholfen wird. Wer hineinmöchte, braucht wurden in nur einer Woche mehr als 90
zu überleben, die der philippinische Präsi- einen Gerichtsbeschluss, eine Zwangsein- Menschen getötet, es waren die bislang
dent auf Menschen wie ihn macht. weisung. Santos’ offenes Therapieprojekt blutigsten Tage in Dutertes Krieg gegen
Es ist angenehm still auf dem Gelände hat etwas von einem engagierten Jugend- die Drogen.
des Therapiezentrums, in der Mitte liegt treff. Die Patienten verbringen Zeit mitei- Auch der 17-jährige Kian Loyd delos San-
eine Kirche, deren Tore weit offen stehen. nander, zum Schlafen gehen sie nach Hause. tos, eines der jüngsten Opfer, starb in Ca-
Die Besucher, die vorüberhuschen, lächeln Santos ist zwar arbeitslos, aber gerade loocan. Drei Polizisten hatten den Schüler
und sprechen nur leise. Santos kommt je- geht es ihm ganz gut. „Ich will ein neues am 16. August auf der Straße aufgegriffen.
den Tag zu seiner Therapie, und er kommt Leben führen, näher an Gott und ohne Erst verprügelten sie den Jungen, dann er-
gern. Um seine Sucht loszuwerden. Und Drogen“, sagt er. „Zum ersten Mal fühle schossen sie ihn in einer Gasse. Sie drück-
um nicht erschossen zu werden. ich mich nicht mehr aggressiv, und ich lie- ten ihm eine Waffe in die Hand und be-
Caloocan ist ein Moloch mit 1,6 Millio- be meine Familie.“ Er lächelt, und es gibt haupteten, Kian habe auf sie gefeuert. Bil-
nen Einwohnern, im Norden von Manila keinen Grund, ihm das nicht zu glauben. der einer Überwachungskamera zeigen
gelegen. Blickte man von oben hinab, sähe Aber Santos sagt diese Sätze gern und aber, wie die Polizisten ihn im Schwitzkas-
man ein Gewirr aus verstopften Straßen, wird sie immer wieder sagen, es klingt ein ten abführen. Eindeutig ist das Vorgehen
Rikschas, Imbissen, Müllsammlern mit ih- wenig wie aus einem Handbuch für geläu- der Polizei durch Videomaterial dokumen-
ren Karren. Die Bewohner leben in Hütten terte Süchtige. Aber es sind Sätze, die sein tiert: ein Mord an einem Jugendlichen, der
aus Blech, viele haben weder Strom noch Überleben sichern. nicht die Chance hatte, sich zu verteidigen.
Wasser, nachts kommen die Menschen un- Anoy Santos, 54, braune Augen, Bürs- 5000 Menschen gingen nach dem Tod
ter der Glühlampe eines Kioskes zusam- tenschnitt, das Gesicht blass und ernsthaft, des Jungen auf die Straße – der erste grö-
men und spielen Karten. Ansonsten gibt rauchte 20 Jahre lang Shabu, so nennen ßere Protest im Land. Folgen wird er kaum
es in Caloocan wenig, erst recht keine Ar- sie hier Crystal Meth. Er verkaufte es, ver- haben. Duterte versprach zwar unabhän-
beit, und so verkaufen viele hier Drogen. diente damit Geld für seine Familie. Dann gige Ermittlungen, aber schon kurz darauf
Selbst Einheimische meiden die Stadt, weil begann Dutertes Kampagne gegen Drogen. ermunterte er die Polizei, weiter zu töten.
es ihnen hier zu gefährlich ist. Polizisten klopften an Santos’ Tür, eine Es gibt also gute Gründe für eine Dro-
Caloocan ist ein Knotenpunkt auf der Warnung: Wir haben dich im Blick. gentherapie in Caloocan.
Drogenroute, hier kommt der Stoff aus Er wusste, er steht auf der Abschussliste.
dem Norden an und wird in die Hauptstadt Seitdem versucht er, in der Therapie der VOR DER SPORTHALLE WARTET an diesem
weitertransportiert. Orte wie diesen hatte beste Patient zu sein. Morgen ein Dutzend Männer und Frauen,
Präsident Rodrigo Duterte vor Augen, als „Ich möchte, dass mein Name aus der mit neuen Sportschuhen, frisch gewasche-
er die Wahl mit dem Versprechen gewann, Überwachungsliste verschwindet“, sagt er. ne Kleider an ausgemergelten Körpern.
die Philippinen drogenfrei zu machen. Drei Möglichkeiten gibt es dafür im Land Als sich die Tür zur Halle öffnet, drängen
Seit Juli 2016 haben Polizisten und Auf- des Duterte: Tod durch Erschießen. Ge- sie sich um eine Mitarbeiterin, die die An-
tragskiller im ganzen Land schätzungswei- fängnis. Oder eben eine Drogentherapie. wesenheitsliste führt. Santos unterschreibt,
se mehr als 10 000 vermeintliche Dealer Wenn Santos die fünf Monate durchhält, konzentriert und säuberlich.
und Süchtige getötet. Doch an kaum einem stellt ihm die Stadt eine Urkunde aus. Sein Dann dreht die Zumba-Lehrerin „Despa-
zweiten Ort wird der Drogenkrieg so er- Name wird dann von der Liste gelöscht. cito“ von Luis Fonsi auf. Und Santos singt
barmungslos geführt wie hier. Jede Nacht Die Polizei wird ihn trotzdem weiter über- mit, ohne den Text zu kennen, seine Arme
sterben im Schnitt sechs Menschen. wachen und beobachten, ob er nach der rudern durch die Luft, die Beine federn.
Hier also macht Anoy Santos seine The- Therapie rückfällig wird, so wie viele. Er dehnt seine Waden mehr als nötig,
rapie, im Zentrum des philippinischen Dro- Dann beginnt der Kreislauf von vorn. bückt sich tiefer, als seine Wirbel es eigent-
genkriegs. Es ist ein extrem gewagtes Ex- Ein Jahr nach Dutertes Amtsantritt lich erlauben. Nach wenigen Minuten
periment. Lassen sich Menschen unter herrscht eine Kultur der Willkür und Straf- glänzt sein Körper schweißnass. Am Ende
Druck therapieren, unter Todesangst? losigkeit im Land; der Präsident hat eine der Stunde reckt Santos den Daumen nach
Seit einem Jahr existiert das Zentrum, Art Massenmord entfesselt, getötet werden oben und schaut sich unauffällig um, ob
seither kommen jeden Tag 25 Süchtige zu- vermeintliche Drogensüchtige und Dealer, sein Einsatz auch registriert wird.
sammen. Gerade läuft der zweite Kurs, er Kleinkriminelle, Unschuldige. Polizisten Vor wenigen Monaten hat Niño, einer
dauert fünf Monate, von morgens bis nach- oder Auftragskiller strecken sie nieder, in aus der Gruppe, die Therapie geschmissen.
mittags. Die Patienten haben einen Stun- ihren Wohnzimmern, in ihren Betten, Drei Wochen später wurde er hingerich-
DER SPIEGEL 36 / 2017 87
Ausland
tet. Seitdem wissen alle Patienten hier, allein in Caloocan. Wer sich ergibt, hat terte gefeuert, weil er behauptet hatte, es
dass die Polizei ihre Therapie überwacht. die Hoffnung, mit dem Leben davonzu- seien 1,8 Millionen.
Santos und die anderen sprechen nicht kommen. Dionisio Santiago spricht über zwei Va-
gern über Niño. Sie wissen: Sein Tod war Doch um von den Todeslisten gestrichen rianten staatlicher Drogenpolitik. Die of-
auch als Warnung gedacht. Panisch baten zu werden, müssten alle eine Therapie ma- fizielle setzt auf Aufklärung, Prävention,
einige den Direktor danach, sie in geschlos- chen; einen solchen unvorhergesehenen Rehabilitation, es ist die harmlose Variante.
sene Unterkünfte zu schicken. Bedarf an Plätzen gab es weltweit noch Die andere sind Morde. Santiago erzählt
Sikini Labastilla öffnet die Tür zu sei- nie. Dabei ist nicht jeder, der sich gestellt wirre Geschichten über die gestörte Mut-
nem Büro in der Nähe der Sporthalle, drin- hat, schwer abhängig, neun von zehn kon- terbindung von Süchtigen, dann kichert er
nen stehen ein Stuhl, ein Tisch, ein Regal, sumierten nur gelegentlich, so das Gesund- über Gebete in Therapiezentren.
ein Ventilator. Gerade hatte er Besuch von heitsministerium. Therapieeinrichtungen Schließlich demonstriert er, wie schwie-
der Polizei, diesmal ging es um Todesdro- sind vor allem aus einem Grund so begehrt: rig es beim Schießen ist, sein Ziel zu tref-
hungen von Dealern gegen Labastilla, de- weil sie Schutz bieten. fen. Die Polizisten würden ständig von
nen er mit seinem Therapiezentrum an- Labastilla informierte sich über Thera- Süchtigen angegriffen. Wehrten sie sich,
geblich die Kunden wegnimmt. pien, er sprach mit Spezialisten, zumindest könne es passieren, dass es „Kollateral-
Labastilla ist 47 Jahre alt, ein Mann in nannten sie sich so. Einer schlug ihm den schäden“ gebe. „Sie dürfen von einem ar-
Jeans und Shirt, er hat Jura studiert und flächendeckenden Gebrauch von Saunen men Land in der Drogenpolitik nicht so
war Personalbeauftragter bei der Stadtver- vor, um die Sucht auszuschwitzen. Er traf viel erwarten.“
waltung; kein schlechtes Leben, wie er den Direktor einer Heilanstalt, der die Lö-
sagt. Früher war er im Priesterseminar. sung darin sah, Süchtige auf Inseln zu brin- IN CALOOCAN SITZEN ANOY SANTOS und sei-
Nun leitet er das Therapieprojekt. gen. Er traf Ortsvorsteher, die sie zu Tanz- ne Kollegen im Stuhlkreis zusammen. Sie
Es war im vergangenen Sommer, als La- kursen zwangen. Labastilla merkte, dass sollen erzählen, was sie gelernt haben, was
bastilla beschloss, sich dem Präsidenten er seine Therapie selbst erfinden muss. sie sich für die Zukunft wünschen.
entgegenzustellen, den er gewählt, für den Er stellte zwei Psychologen und fünf So- Dan spricht als Erster, er war einmal Tän-
er sogar Wahlkampf gemacht hatte. Er saß zialarbeiter an. Er findet, es ist am besten, zer in Japan, zehn Jahre auf Shabu. „Alle
damals in der Stadtverwaltung, als das Te- den Süchtigen eine sinnvolle Beschäftigung in meinem Umfeld begannen, mich zu has-
lefon klingelte. Ein befreundeter Priester zu bieten. Sport soll ihnen helfen, positiver sen“, sagt er leise. „Ich bestahl meine Fa-
war dran, seine Stimme zitterte. Vor seiner zu denken. Sie sollen lernen, Kerzen her- milie, ich kannte Gott nicht. Ich habe
Kirche war ein fünfjähriges Mädchen von zustellen, um Geld zu verdienen. Sie sollen Angst, dass jemand Drogen in meinem
einem Querschläger getroffen worden. über ihre Probleme sprechen können, ohne Haus deponiert und ich sterbe.“
Männer seien auf Motorrädern vorbeige- dass ihnen gleich die Polizei droht. Dann spricht Hedi, sie weint: „Ich habe
rast, hätten auf einen Mann gezielt und da- mich prostituiert, meine Kinder wuchsen
bei das Kind getötet. ohne mich auf“, sagt sie. „Ich bin clean.
Danach schlief Labastilla nicht mehr gut. Aber wie soll ich jetzt Geld verdienen?“
Er dachte jetzt oft an den Film „Schindlers Ron ist dran: „Nach der Therapie werde
Liste“ und daran, wie Oskar Schindler ich nicht sicher sein, denn Freunde spitzeln
während des Zweiten Weltkriegs Juden ge- für die Polizei. Ohne Duterte hätte ich kei-
rettet hatte. Er fragte sich: Was macht ei- ne Therapie gemacht. Aber er darf uns
nen Helden aus? nicht töten. Er ist nicht unser Erschaffer.“
CARLO GABUCO / DER SPIEGEL
Bis dahin hielt Labastilla Drogensüchti- Santos will seine Geschichte zu Hause
ge für ein Übel, das man ausrotten müsse, erzählen, in seiner Hütte. Am Eingang der
er unterstützte Duterte, als dieser ver- dunklen Gasse hängt ein Poster von Du-
sprach, gegen die mächtigen Syndikate terte, als ob die Bewohner sich so schützen
vorzugehen. „Todesschwadronen würden könnten. In Santos’ Wohnzimmer läuft ein
in jedem Winkel des Landes aufräumen“, Fernseher, seine Frau sitzt still davor. Es
so habe er das damals gesehen, sagt La- Projektleiter Labastilla gibt kein fließendes Wasser, keinen Platz,
bastilla. Er lacht. „Ich war naiv.“ „Morde sind nicht die Lösung“ kaum Luft zum Atmen.
Was dann geschah, war anders als das, Die meiste Zeit seines Lebens war San-
was Labastilla sich erhofft hatte. Der neue „Morde sind nicht die Lösung“, sagt tos, zweimal verheiratet, Vater eines Soh-
Polizeichef von Caloocan kam von Duter- Sikini Labastilla. Auf Facebook schreibt nes, arbeitslos. Ein paar Jahre jobbte er
tes Heimatinsel Mindanao, und „er ließ er: „Ich verstehe langsam, dass in jedem als Kellner, nahm Shabu, um wach zu blei-
alle Süchtigen ermorden“. Labastillas Chef, Süchtigen ein Schmerz festsitzt.“ Beide ben. „Wir haben hier nur überlebt, weil
der Bürgermeister, unterstützte Dutertes Sätze klingen selbstverständlich. Auf den wir Drogen verkauften“, sagt er.
Kampagne. Beiläufig sprach er davon, in Philippinen sind sie in diesen Tagen revo- Am 1. April 2017 durchsuchte die Polizei
Caloocan auch Therapiemöglichkeiten an- lutionär. seine Hütte. Seine Schwiegermutter lande-
zubieten. Will man mehr über die staatliche Dro- te im Gefängnis, wegen Drogenhandels.
Im Herbst 2016 gründeten der Bürger- genpolitik erfahren, muss man ins nahe Drei seiner Nachbarn starben bei Polizei-
meister, der Priester und Labastilla das Quezon City fahren, zum Dangerous operationen; Santos versteckte sich.
Zentrum für Drogensüchtige. Labastilla Drugs Board, zur Regierungsbehörde für Wenig später kamen die Polizisten wie-
wollte der Regierung zeigen, dass man sie Drogenbekämpfung. In einem Hochhaus der zu seiner Hütte, sie brachten drei Män-
auch retten kann, dass es Alternativen gibt. empfängt der neue Chef Dionisio Santia- ner aus dem Viertel mit. Diesmal war San-
„Nicht alle sind Verbrecher“, sagt er. Mit go, ein Ex-General, der kaum zu wissen tos da. „Du gehörst zu denen, die Duterte
dieser Ansicht ist er ziemlich allein im scheint, was seine Aufgabe ist. Zwei Hel- ausrotten will“, hätten sie ihm gesagt.
Land. fer flüstern ihm Zahlen ins Ohr und halten So gehen sie immer vor. Polizisten klop-
Seit Beginn des Drogenkriegs im Juli ihm Folien zum Ablesen hin. Santiago fen an der Tür vermeintlich Süchtiger, die
2016 haben sich rund 1,3 Millionen Süch- sagt, es gebe vier Millionen Drogensüch- Namen bekommen sie von den Ortsvor-
tige den Behörden gestellt, 19 000 davon tige im Land. Seinen Vorgänger hat Du- stehern. Diese stellen ihre Listen oft will-
88 DER SPIEGEL 36 / 2017
CARLO GABUCO / DER SPIEGEL
Spielender Junge im Slum von Caloocan: Duterte hat ein Klima geschaffen, in dem ein Gerücht zum Tod führen kann
kürlich zusammen; eine Mischung aus De- Abend ging er nach Hause, zu seiner Mut- Labastilla will das System von innen he-
nunziation und Hörensagen. In einigen ter und seinen acht Geschwistern. Geld raus verändern, aber das ist schwer. „Die
Slums gibt es Briefkästen, in die man Zet- hatten sie nicht, seit Niño aufgehört hatte Morde werden weitergehen“, sagt er. Die
tel mit den Namen vermeintlicher Dealer zu dealen. Opfer in den Slums können sich nicht weh-
oder Süchtiger einwerfen kann. Die Polizei Eines Tages kam Niño dann nicht mehr ren, es kommt kaum zu Prozessen, und
überprüfe den Verdacht und „erschießt zur Therapie. Er habe Arbeit gefunden, die Rufe nach internationaler Gerichtsbar-
jene, die sich einer Verhaftung widerset- hatte er dem Direktor vorher gesagt. Drei keit sind bisher verhallt.
zen“, sagt der Ortsvorsteher. Danach legen Wochen später war er tot. Die Polizei teilte An einem Abend im August hat Niños
Polizisten einen Beutel Shabu und eine Labastilla mit, Niño habe Drogen verkauft. Mutter im Slum zu einer Gedenkfeier für
Waffe neben das Opfer. Man habe drei erfolgreiche Testkäufe ge- ihren ermordeten Sohn eingeladen. In der
Duterte hat ein Klima geschaffen, in dem macht und daraufhin von der Drogenbe- Küche flackern Kerzen. Die Stimmung ist
ein Gerücht zum Tod führen kann. hörde die Freigabe bekommen, „eine Ope- angespannt. Die Mutter, eine ausgezehrte
Santos überlegte also nicht lange und ration gegen ihn durchzuführen“. Frau, traut niemandem mehr. „Wer weiß,
stellte sich den Behörden. Er unterschrieb, „Niños Tod war das Unglück, das wir wer meinen Sohn verraten hat“, sagt sie.
dass er keine Drogen mehr nehmen werde. verhindern wollten. Aber es motiviert die Es war Nacht, als Niño starb, wie immer;
Patienten auch weiterzumachen“, sagt La- Polizisten in Zivil hätten die Gasse abgesperrt,
VOR SEINEM BÜRO IN CALOOCAN registriert bastilla. es war dunkel, es fielen vier Schüsse. Ein
Sikini Labastilla, der Direktor, an diesem Der Projektleiter hat einen festen An- Beerdigungsunternehmer habe die Polizisten
Tag neue Süchtige. Dutzende sind gekom- sprechpartner bei der Polizei. „Es ist meine begleitet. Als die Mutter herbeieilte, schrei-
men. Sie lassen sich testen und füllen For- Pflicht, ihn zu informieren, wenn ein Pa- end vor Schmerz, transportierten sie Niño,
mulare aus, um die Schwere ihrer Sucht tient nicht mehr kommt.“ Die Polizei sei den Stillen, schon aus dem Wohnzimmer ab.
zu ermitteln. Doch am Ende wird Labas- auch nach der Therapie bei den Nachsorge- Bei der Feier an diesem Tag sitzen nur
tilla sie alle wegschicken müssen. Seine terminen dabei. Der Grat vom Helden einige ältere Frauen zusammen. Niños
Plätze sind belegt. zum Verräter ist schmal für ihn. Freunde und Mitpatienten sind nicht ge-
Er hofft, dass sie nicht sterben wie Niño. Labastilla verabscheut die Morde. Aber kommen. Keiner wagt es, öffentlich um ei-
Die Ermordung seines Patienten, von er ist auch Angestellter der Stadt. Er kann nen Süchtigen zu trauern.
dem alle nur den Vornamen nennen, liegt es sich nicht leisten, sein Verhältnis zur Am nächsten Morgen um zehn Uhr er-
wenige Wochen zurück. Niño war ein stil- Polizei zu beschädigen. In der Regel ver- scheinen die Überlebenden der Therapie
ler Mann, 36 Jahre alt, er hat jede Menge handelt Labastilla mit den Beamten da- aus Caloocan pünktlich zum Zumba. Alle
Shabu verkauft und genommen, das sagen rüber, wen er aufnehmen darf. Die Polizei sind hoch motiviert.
sogar seine Verwandten. Seine Mutter sortiere jene aus, die „zu tötende Elemen-
hatte ihn in die Therapie geschleppt. Zehn- te“ seien. Während der Therapie seien die Videoreportage:
mal sei er bei den Sitzungen gewesen, er- Patienten geschützt. Aber solange es so Im Therapiezentrum
innert sich Labastilla. Seine Teilnehmer- viel mehr Süchtige als Therapieplätze gebe, spiegel.de/sp362017philippinen
karte habe er mit Stolz getragen. Am könne man eben nicht alle protegieren. oder in der App DER SPIEGEL
BIZZIG!
Sport
Grundgehalt je Einsatzminute in Euro
Dennis Stars
Nowitzki fastet
Schröder Leon
Atlanta Hawks Draisaitl
Edmonton Oilers Der Basketballer Dennis
Schröder ist jetzt einer der
bestverdienenden deut-
schen Sportler. Gemessen
an seinen Einsatzzeiten
Dirk Toni übertrifft er sogar Fußbal-
Nowitzki Kroos ler Toni Kroos. Mit seinem
Dallas Real Madrid neuen Vertrag in Atlanta
Mavericks
bekommt er 5000 Euro
pro Spielminute. Kroos er-
hält in Madrid mehr Ge-
Saison halt, das verteilt sich aber
2016/17 2017/18* auf längere Einsatzzeiten.
Einen gewaltigen Gehalts-
934 4996 16035 2998 429 4339 3488 3488 sprung macht auch Eis-
*ausgehend von
der Einsatzzeit in
der Vorsaison
hockeyspieler Leon Drai-
saitl. Krösus war bislang
Dirk Nowitzki. Der
Grundgehalt gesamt in Mio. Euro Basketballer verzichtet
2,5 13,5 23,2 4,3 0,8 7,8 14,5 14,5 nun zugunsten seiner
Teamkollegen in Dallas
auf 80 Prozent seines Ge-
zum Vergleich: Steffen Weinhold (Handball/ THW Kiel) 215 je Einsatzminute, 336000 € Grundgehalt haltes. Freiwillig.
ERIK S. LESSER / DPA, TONY GUTIERREZ / AP, PETER JONELEIT / DPA, MIGUEL VIDAL / REUTERS
JAN HAAS / PICTURE ALLIANCE
Magische Momente
„Je erfolgreicher, desto eifersüchtiger“
Die Dressurreiterin Isabell Werth, 48, über die Besonderheiten ihrer Pferde
SPIEGEL: Sie wurden am ver- SPIEGEL: Frau Werth, Ihre leistungswillig und athletisch. daran, dass die Macken zu-
gangenen Wochenende in Pferde werden den SPIEGEL Aber leider nicht so schön. nehmen. Sie kratzen mit den
Göteborg Europameisterin. nicht lesen. SPIEGEL: Weihegold und die Hufen, wollen als Erster Fut-
Es war sehr knapp in der Werth: Aber sie spüren, wel- verletzte Bella Rose stehen ter, die meiste Aufmerksam-
Kür – war auch Ihre Stute che Achtung man ihnen ge- nebeneinander im Stall. Gibt keit. Die Pferde unterhalten
Weihegold angespannt? genüber zeigt. Jedes Pferd es Eifersucht? sich, wiehern sich hinterher,
Werth: Mein Mannschafts- hat Vor- und Nachteile. Gigo- Werth: Je erfolgreicher die giften sich an, machen sich ge-
kamerad Sönke Rothen- lo zum Beispiel, mein erfolg- Pferde sind, desto eifersüchti- genseitig keinen Platz mehr.
berger hatte ein hervorra- reichstes Pferd, war extrem ger werden sie. Man merkt es SPIEGEL: Reden Sie mit ihnen
gendes Ergebnis vorgelegt, darüber?
das hat uns hochgepusht. Werth: Natürlich, es ist wich-
Weihegold und ich waren tig, die Eigenarten der Pferde
vollkommen fokussiert. Es zu pflegen und sich entfalten
war ein Highlight meiner zu lassen.
Laufbahn. SPIEGEL: Lebt Satchmo noch,
SPIEGEL: Sie haben mit sieben mit dem Sie 2008 Olympia-
Pferden 30 Goldmedaillen gold holten?
bei Olympia, Welt- und Euro- Werth: Mit seinen 23 Jahren
pameisterschaften gewonnen. genießt er seine Rente. Er war
Ist Weihegold Ihr bestes? immer schwierig zu reiten.
Werth: Sie ist momentan das Ein geniales Pferd, aber auch
kompletteste Grand-Prix- eine Wundertüte. Wir sind
Pferd, ein herrliches Damen- Tag für Tag mehr zusammen-
pferd. Kein Pferd reicht an die gewachsen, haben eine enge
FRISO GENTSCH / DPA
Harakiri
Fußball Die Profiklubs in Europa haben in diesem Sommer rund fünf Milliarden
Euro für Spieler wie Neymar und Dembélé ausgegeben – ein neuer Rekord.
Der Uefa sind die Summen nicht mehr geheuer, der Verband will nun gegensteuern.
U
li Hoeneß hat eine tolle Idee, wie
man das Wettrüsten im europäi-
schen Spitzenfußball doch noch ge-
winnen kann. Der FC Bayern werde seine
Superstars künftig einfach selbst ausbilden,
sagt der Präsident des FC Bayern mit fester
Stimme.
Hoeneß, 65, steht auf einer Bühne in ei-
nem kleinen Festzelt und hält eine Rede
zur Eröffnung des neuen Nachwuchsleis-
tungszentrums, des „Bayern Campus“.
Das Gelände, 30 Hektar groß, liegt am
Stadtrand von München. Es gibt acht Fuß-
ballplätze, eine Sporthalle, ein kleines Sta-
dion, ein Internat mit Wohnungen für 35
Talente, eine Freizeitlounge mit Spiele-
ecke, ein Schwimmbad, eine Kletterwand.
Die Anlage hat 70 Millionen Euro gekostet.
„Das ist unsere Antwort auf den aktuellen
Transferwahnsinn und die Gehälterexplo-
sion“, sagt Hoeneß.
Vor ihm in der ersten Reihe sitzt Horst
Seehofer und applaudiert begeistert. Made
in Bavaria! Das gefällt dem Ministerpräsi-
denten.
Später gibt es eine Führung über das
Gelände. Campus-Leiter Hermann Ger-
land, ein Mann, der am liebsten Trai-
ningsjacken trägt, hat sich zum Festakt
ein schwarzes Sakko übergezogen. Er
wird gefragt, ob schon in dieser Saison
mit einer messimäßigen Granate zu
rechnen sei. Gerland schnaubt und dreht
sich weg.
Vorige Saison war er noch Assistent von
Bayern-Coach Carlo Ancelotti. Gerland,
63, ist ein Trainer-Traditionalist. Er ließ
auf dem Campus zwei Kopfballpendel auf-
hängen. Mit so etwas trainierte früher
Gerd Müller. Es gibt auch einen künst-
lichen Hügel für harte Laufeinheiten. Und
Reckstangen für Klimmzüge.
Schwer zu sagen, ob das am Ende wirk-
lich reichen wird gegen das, was sich auf
dem Fußballmarkt gerade tut.
In diesem Sommer gaben die Vereine
in Europa rund fünf Milliarden Euro für
Transfers aus. Ein neuer Rekord. Der fran-
zösische Vizemeister Paris Saint-Germain,
das Spielzeug des katarischen Investors
Nasser Al-Khelaifi, bezahlte 222 Millionen
Euro für den Brasilianer Neymar an den
FC Barcelona. Rekord. Vorigen Montag
WITTERS
Geschacher 1420
um die Stars
Entwicklung der
Sommer-Transferausgaben
in den fünf größten
europäischen Ligen,
801
in Mio. €
653
589
Quelle: Transfermarkt.de, Stand: 31. August, 20 Uhr 554
155
92
66
34
2
1995 / 95 2000 / 01 2005 / 06 2010 / 11 2015 / 16 2017/ 18
CHRISTOPH WINTERBACH
Christian Heidel, Manager von Schalke 04.
Weil die Ware Fußballer gefragt ist, kann
der Klub aus Gelsenkirchen gute Spieler
teuer verkaufen. So komme Geld in die
Kasse. Andererseits entstehe durch die
vielen Investorenklubs ein gefährlicher Spendensammlerin Keisel, Vereinssitz Kinderwünsche: Verworrenes System dubioser Vereine
Sog, warnt Heidel. Um mit ihnen mithal-
ten zu können, würden sich viele Vereine,
die sich nur aus ihren Fußballeinnahmen
finanzieren, übernehmen.
Das Harakiri-Risiko macht viele Vereine
krank. „In England entsteht gerade eine
Blase“, glaubt Heidel. „Die Kader der dor-
Leichte Opfer
tigen Profiklubs werden immer größer. Die Spenden Ein Gelsenkirchener Verein sammelt vor Bundesligastadien
haben inzwischen Probleme, Spieler ver- Geld für Kinderkliniken. Doch davon kommt nur wenig bei
leihen zu können, weil die niemand au- den Krankenhäusern an. Werden die Fans seit Jahren betrogen?
ßerhalb der Insel mehr bezahlen kann.“
André Bühler ist Direktor des Deut-
D
schen Instituts für Sportmarketing in Reut- er Fan von Borussia Dortmund im Vor jeder Partie treffen sich die Fans
lingen. In einer Studie hat er festgestellt, ausgeleierten Trikot steckt einen vor ihrem Stadion und kippen Bier, die
dass über die Hälfte der deutschen Fuß- Fünfeuroschein in die Dose und Laune steigt, das Misstrauen sinkt. Auftritt
ballfans sagt: Wenn das so weitergeht, ma- blickt den Mann mit der Büchse drohend der Spendendosen. „Na, seid ihr auch da-
chen wir nicht mehr mit. „Wir sind jetzt an. „Ich will dich aber gleich damit nicht bei, kranken Kindern zu helfen?“ Ein kan-
an einer Schwelle, an dem der gesunde am Bierstand sehen!“ Dann grinst er. Seine tiger Sammler mit Bürstenschnitt schiebt
Menschenverstand aussetzt“, sagt Bühler. Freunde brechen in Gelächter aus. Schul- sich am zweiten Spieltag der Bundesliga-
In den vergangenen Jahren wuchsen die terklopfen, der Spendensammler lacht mit: saison durch die Menge vor dem Dortmun-
Transferausgaben in den fünf größten eu- „Danke, schönes Spiel und auf’n Sieg!“ Er der Stadion. Kaum spricht er eine Klein-
ropäischen Ligen im Schnitt jährlich um elf rasselt kurz mit seiner Dose, die Fans pros- gruppe von Fans an, fassen sie sich wie
Prozent. Wenn sich diese Entwicklung fort- ten ihm zu, er geht weiter. Noch andert- ertappt an ihre Hosentasche. Dann rappelt
setzt, würde 2030 der erste Spieler für eine halb Stunden bis zum Anpfiff. es in der Dose, der Sammler schnarrt: „Be-
Milliarde Euro verkauft. Ist das vorstellbar? Wenn Zehntausende Richtung Stadion danken wir uns und wünschen noch ’nen
Bühler glaubt, dass es nicht so weit ziehen, stehen die Mitarbeiter des Vereins schönen Tach.“ Er sagt das sehr oft. Dass
kommt. Schon die Summe, die Paris für Kinderwünsche bereit. In einheitliche jemand kein Geld einwirft, ist eine Aus-
Neymar bezahlt habe, lasse sich „nicht Shirts gekleidet, schlendern sie über das nahme.
mehr erwirtschaften“. Gelände rund um die Arenen und klap- Torsten Schild ist Vorsitzender der ehren-
Hermann Gerland fragt: „Wie viele Nul- pern mit den Büchsen. Das machen sie seit amtlichen Fanabteilung des BVB in Dort-
len hat noch mal eine Milliarde?“ Jahren, vor den Heimspielen in Dortmund mund. Seit Jahren beobachtet er die Samm-
Er steht in seinem schwarzen Sakko auf und in Gelsenkirchen. Für viele Fans ge- ler – und erlebt, welche Dynamik sich bei
dem Bayern Campus unter dem Kopfball- hören sie zum Bundesligaalltag dazu. Auch den Fans entwickeln kann. Einmal habe er
pendel. Es ist heiß, er schwitzt. Er muss beim Pokalfinale in Berlin waren sie, ge- mit seinen Freunden zusammengestanden,
liefern. Hoeneß will die Champions League nauso bei der Siegesfeier in der Dortmun- als ein Büchsenmann sie ansprach. „Einer
gewinnen. Gerlands Gegner sind Scheichs der Innenstadt, auf Weihnachtsmärkten meiner Kumpels gab zwei Euro, der nächste
und Oligarchen. Er marschiert nachdenk- und in Frankfurter Fankreisen. fünf, einer hat sogar einen Zwanziger rein-
lich in sein Büro, das im zweiten Stock Als Spendenzweck geben sie die soge- gesteckt. Das ging so schnell, da konnte ich
des Internats liegt. Und das Einzige, was nannten Klinik-Clowns an, die kranke Kin- gar nicht eingreifen!“ Gut möglich, dass
er tun kann, ist, sein Sakko abzulegen, der auf der Station besuchen. Aber so gut sich mancher Fußballfan im nüchternen Zu-
die Trainingsjacke anzuziehen und an die die Absicht des Sammlervereins zu sein stand mehr Fragen stellen würde.
Arbeit zu gehen. scheint, der Lauf des Geldes bleibt un- Cornelia Keisel, Vorstandsmitglied des
Rafael Buschmann, Gerhard Pfeil, durchsichtig. Steckt hinter den angeblichen Gelsenkirchener Vereins Kinderwünsche,
Tim Röhn, Christoph Winterbach Wohltätern ein perfides Betrugssystem? behauptet, sie kooperiere mit der Kinder-
94 DER SPIEGEL 36 / 2017
Sport
klinik in Dortmund. Dort will man von ei- band (DTV) gearbeitet. 2011 hörte der DTV Der SPIEGEL hat Cornelia Keisel am
ner Zusammenarbeit nichts wissen, im Ge- nach einer rechtlichen Prüfung auf, in vergangenen Samstag vor dem Dortmun-
genteil. „Kinderwünsche hat offensichtlich Rheinland-Pfalz zu sammeln. Unter Exper- der Stadion mit den Vorwürfen konfron-
den Namen der Kinderklinik gekapert, um ten sind die Hintermänner des DTV be- tiert. Nach Rücksprache mit ihrem Anwalt
die Spendenfreudigkeit vor dem Stadion kannt: Sie lassen sich mit der berüchtigten hat sie es abgelehnt, ihre Spendendose in
zu erhöhen“, sagt der Klinikchef Rudolf Organisation Arche 2000 in Verbindung Anwesenheit der Reporter zu öffnen, um
Mintrop. Zwar überweist der Verein 200 bringen, die vor gut zehn Jahren wegen den wahren Spendenumfang zu belegen.
Euro im Monat an das Dortmunder Kran- Spendenbetrugs aufflog. Mehrere Mitarbei- Anschließend hat sie die Betrugsvorwürfe
kenhaus. Andere Einrichtungen haben ter wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. durch einen weiteren Anwalt schriftlich
ähnliche Kleckerbeträge erhalten. Aber Liegen Cornelia Keisel und ihrem Mann zurückweisen lassen. In dem Schreiben be-
die Sammler dürften bei ihren Einsätzen wirklich nur kranke Kinder und süße Tiere streitet sie, dass ihr Verein regelmäßig vor
viel höhere Summen einstreichen. Wie viel am Herzen? Thomas Keisel, der Vorsitzen- dem Stadion sammle, und behauptet, erst
genau, weiß wohl nur der Vereinsvorstand de des Kinderwünsche-Vereins, suchte seit 2015 beim BVB und auf Schalke im
selbst. Der Wirtschaftsjournalist Stefan kürzlich per Kleinanzeige mit der Über- Einsatz zu sein. Seltsam. Dem SPIEGEL
Loipfinger hat jahrelang Wohltätigkeits- schrift „Jung arbeitslos!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!“ liegt ein Brief des BVB vor, in dem er dem
organisationen untersucht. Er sagt: „Wer nach Mitarbeitern „für unser Projekt Tier- Kinderwünsche-Verein eine Absage für
richtig gut ist, macht bis zu tausend Euro schutz“. Außerdem wirbt er „Strom und Sammelaktionen auf dem Stadiongelände
am Tag.“ Gas Vertriebler“ an, denen er „gute Pro- erteilt. Die Sammler waren durch ihre Auf-
Solche Summen finden sich nicht in visionen“ verspricht. „Stromverträge zu tritte vor dem Stadion aufgefallen. Das
Kontoaufstellungen des Vereins, die dem verkaufen ist aktuell die große Nummer Schreiben ist aus dem Jahr 2014.
SPIEGEL vorliegen. Im September und Ok- in diesen Kreisen“, sagt der Berliner Offensichtlich bewegt sich Keisel in ei-
tober 2015 zum Beispiel wurden 13 Heim- Rechtsanwalt Stefan Richter, der sich für nem verworrenen System mehrerer dubio-
spiele in Dortmund und auf Schalke aus- abgezockte Verbraucher einsetzt. ser Wohltätigkeitsorganisationen mit ähn-
getragen – es dürfte dabei locker ein fünf- „Beim Verein Kinderwünsche würde ich lich klingenden Namen. Dabei scheint sie
stelliger Betrag erreicht worden sein. Auf Spendern zu großer Zurückhaltung raten“, selbst den Überblick verloren zu haben:
dem Kinderwünsche-Konto tauchten für sagt Burkhard Wilke, der Leiter des Deut- Zu einer Anfrage des SPIEGEL über ihre
diese Monate genau 616,66 Euro Beziehungen zu einem Verein
als Bareinzahlungen auf. Das wä- namens „Verband deutscher Tier-
ren rund 47 Euro pro Spieltag – freunde“ lässt ihr Anwalt ausrich-
ein Betrag, den ein Sammler in ten, das Magazin sei einem „Über-
einer halben Stunde schaffen nahmefehler erlegen“. Man habe
könnte. wohl den Verein mit dem Namen
Geld sammeln, Alibispende an „Verbindung deutscher Tierfreun-
ein Krankenhaus überweisen, den de“ gemeint. Seltsam. Am Vereins-
Rest behalten – es wäre ein denk- sitz von Kinderwünsche hängt ein
JENS BÜTTNER / PICTURE ALLIANCE
Kommentar
1,2 Millionen
T-Shirts will eine chinesi-
sche Firma künftig pro
Jahr in den USA produzie-
ren. Das Werk in Little
Rock, Arkansas, soll mit
den Billigschneidern
aus Vietnam oder Bang-
ladesch konkurrieren
können, denn hier nähen
„Sewbots“ der US-Firma
Softwear Automation.
Die Schneidereiroboter
werden schneller ar-
beiten als Menschen –
und Nähte auf den
halben Millimeter genau
setzen. Landung einer Embraer E190 auf St. Helena
Geh aus, mein Herz, und suche Freud de jeden Tag die Fläche von rund 90 Fuß- DAS ARCHIV DER KERBTIERE befindet sich
in dieser lieben Sommerzeit, an deines ballfeldern an Verkehr und Siedlungsbau im Obergeschoss der alten Krefelder Schu-
Gottes Gaben; schau an der schönen verliert; dass sich die über Jahrhunderte le. Martin Sorg führt die Treppe hinauf,
Gärten Zier und siehe, wie sie mir und gewachsene, vielfältige Kulturlandschaft öffnet einen der zahllosen Pappkartons
dir sich ausgeschmücket haben. in eine monotone Energielandschaft mit und entnimmt eine Probenflasche.
Paul Gerhardt (1653) großen Schlägen aus Mais und Raps für „D/NRW/Krefeld Spey, Malaise-Falle, Lee-
die Bioenergie verwandelt, durchsetzt von rung 18, 5.8. – 12.08.1990“ steht darauf.
R
achel Carson begann ihre Ökoapo- Windparks und Solaranlagen. „So sah es früher bei uns aus“, sagt Sorg
kalypse mit einem „Zukunftsmär- „Praktisch alle Tier- und Pflanzengrup- und mustert die Insekten im Inneren der
chen“: „Es war einmal eine Stadt“, pen in der Agrarlandschaft sind von einem Flasche, ein wirres Knäuel vielgliedriger
schrieb sie 1962 in „Der stumme Frühling“, eklatanten Schwund betroffen“, warnt Körper, Beine und Antennen. „Damals hat
„in der alle Geschöpfe in Harmonie mit ih- Beate Jessel, Präsidentin des Bundesamts sich so eine Literflasche mancherorts in
rer Umwelt zu leben schienen.“ für Naturschutz (BfN). Jessel empfiehlt zwei Wochen gefüllt, heute benutzen wir
Inmitten des Landes, „wo im Frühling eine „Kehrtwende“ in der Landwirtschaft, Flaschen, die nur noch halb so groß sind.“
Wolken weißer Blüten über die grünen Fel- um der Krise zu begegnen. Denn über die Sorg und seine Kollegen vom Entomo-
der trieben“, lag diese Stadt. Entlang ihrer Ursachen des Naturverlusts gibt es keinen logischen Verein Krefeld zählen Insekten.
Straßen wuchsen „Lorbeerrosen und Er- Zweifel. Eine über Jahrzehnte fehlgeleitete Seit 1985 stellen sie sogenannte Malaise-
len, hohe Farne und wilde Blumen“. EU-Agrarpolitik hat Deutschlands Bauern Fallen aus feiner Gaze auf. Was ins Netz
Doch alsbald hatte die Vielfalt ein Ende: von ehrbaren Pflegern der Vielfalt zu geht, landet in 82-prozentigem Äthylalko-
„Eine schleichende Seuche“ tauchte auf, Landschaftsausräumern gemacht. hol in der zweiten Etage des Hauses in der
„über allem lag der Schatten des Todes“. Weil sie schleichend verläuft, nimmt Innenstadt von Krefeld.
Keine Bienen summten mehr, keine Vö- kaum jemand die Katastrophe wahr. Doch „Archiv zur Entomologie am Nieder-
gel sangen, „Schweigen lag über Feldern, mit jeder Art, die verschwindet, mit jedem rhein“ steht am Eingang. Drinnen befin-
Sumpf und Wald“. Lebensraum, der vernichtet wird, löst sich den sich Vitrinen mit alten Mikroskopen.
Carsons Bestseller verdammte den Ein- eine weitere Masche aus dem Netz des Le- Bücherregale mit Fachliteratur füllen die
satz synthetischer Pestizide, führte zum bens, von dessen Funktion Landwirtschaft, Räume, vor allem aber braune Schubla-
Verbot von DDT und gilt als Geburtsstun- Ernährung und Gesundheit abhängen. denschränke. Glänzende Laufkäfer, ein-
de der modernen Umweltbewegung. Was entsteht, ist ein Land im ökologi- zeln mit Stecknadeln fixiert, finden sich
55 Jahre ist das her. Doch die Warnung schen Ungleichgewicht, schlecht gewapp- darin, bräunliche Nachtfalter, zartflügelige
der Biologin ist aktueller denn je. Nicht net für eine prekäre Zukunft. Noch spielt Schlupfwespen und Schwebfliegen. Etiket-
nur in den Getreidegürteln der USA oder der Klimawandel keine Rolle beim hiesi- ten nennen Art, Fundort, Funddatum.
auf den Sojafeldern Südamerikas, sondern gen Artenschwund. Künftig jedoch zählt Millionen Insekten ruhen in der Krefel-
direkt vor der Haustür, in Deutschland, ist jede Art, jedes Ökosystem, wenn es darum der Sammlung. Es ist eine einzigartige
das Vogelkonzert fast verstummt, bleibt geht, die ökologischen Folgen der Erd- Schatztruhe der Entomologie, die den
der Sommer weithin ohne Grillenzirpen erwärmung abzufedern. Blick in die Vergangenheit erlaubt.
und Schmetterlings-Torkelflug. Vor zehn Jahren verabschiedete die da- Mit erschreckenden Ergebnissen: 2013
Fast zwei Drittel der natürlichen Lebens- malige schwarz-rote Bundesregierung die berichteten die Forscher in einem Fachbei-
räume sind hierzulande in Gefahr. Um „Nationale Strategie zur biologischen Viel- trag, dass im Naturschutzgebiet Orbroich
etwa 80 Prozent ist die Biomasse der Flug- falt“. Demnach sollte der Rückgang der im Norden von Krefeld die Biomasse der
insekten mancherorts zurückgegangen. Biodiversität bis zum Jahr 2010 gestoppt Fluginsekten zwischen 1989 und 2013 um
Rund 40 Prozent der Tagfalter sind be- werden. Ein Rohrkrepierer. fast 80 Prozent zurückgegangen sei.
droht, ein Drittel der Ackerwildkräuter „Die Agrarpolitik muss endlich ihre Ver- Seither muss sich Sorg erklären. „Wir ste-
wird rar, und knapp drei von vier Vogel- antwortung für den Naturschutz wahrneh- hen im Zentrum einer hochemotionalen
arten der offenen Landschaft sind gefähr- men“, fordert Umweltministerin Barbara Diskussion“, sagt er. Die Medien wollen
det oder gar ausgestorben. Hendricks (SPD). Landwirtschaftsminister wissen, wer schuld ist am Insektenschwund.
Ausgerechnet das Land der Naturroman- Christian Schmidt (CSU) jedoch scheint Die Grünen nutzen die Zahlen im Wahl-
tiker verliert seine Vielfalt. „Um mich das Drama zu ignorieren. Im Grünbuch sei- kampf. Der Bauernverband schimpft, die
summt die geschäftige Bien’, mit zweifeln- nes Ministeriums zur Zukunft der Landwirt- Daten seien wenig aussagekräftig, weil sie
dem Flügel wiegt der Schmetterling sich schaft spielt die Artenvielfalt kaum eine nur von wenigen Standorten stammten.
über dem röthlichten Klee“, dichtete Fried- Rolle. Kanzlerin Angela Merkel schweigt, Doch die Krefelder Forscher haben inzwi-
rich Schiller im „Spaziergang“ – vorbei. anstatt die Angelegenheit zur Chefsache zu schen weitere Proben vorläufig ausgewertet.
„Frei empfängt mich die Wiese mit weithin erklären und in Brüssel für eine Reform der Die Biomasse der Fluginsekten ist demnach
verbreitetem Teppich“ – das war einmal. EU-Agrarpolitik zu kämpfen. überall stark gesunken.
Während der Naturschutz einzelne Damit vergibt die Bundesregierung eine „Mit den Insekten geht es steil bergab“,
Erfolge bei charismatischen Arten wie Chance: Deutschland könnte ein Vorbild bestätigt der Agrarökologe Teja Tscharnt-
Wolf, Wildkatze oder Schwarzstorch fei- für die Versöhnung von Landwirtschaft ke von der Universität Göttingen, „es gibt
ert, gleicht die Agrarlandschaft, die etwa und Ökologie sein. Wie bei der Energie- keinen Grund anzunehmen, dass sich das
50 Prozent von Deutschlands Landfläche wende könnte das Land mutig voranschrei- mittelfristig ändert.“
ausmacht, einer Ökowüste. Längst hat sich ten in eine Agrarwende, die beidem ge- Und wer wollte auch daran zweifeln? Nur
der Deutsche an blütenleere Feldraine ge- recht wird, der Produktion von Lebensmit- die Älteren erinnern sich noch an Autoschei-
wöhnt, an Landschaften ohne Moore, teln und dem Erhalt der Artenvielfalt. ben, verklebt von Insekten, an Gärten voller
Auen, Hecken und unberührte Wälder. Woran liegt es, dass dieses so wichtige Bienen, an Straßenlaternen, die nachts von
Seit Jahrzehnten gibt es das Bundes- Umweltprojekt einfach nicht gelingt? Wer zahllosen Motten umkreist wurden.
umweltministerium, Fachbehörden für blockiert eine wahrhaft nachhaltige Land- Die Folgen sind dramatisch. Insekten
Umwelt und Natur, die Grünen in mehre- wirtschaft? machen 70 Prozent aller Tierarten in
ren Landesregierungen. Doch sie alle haben Eine Sommerreise soll Antworten lie- Deutschland aus. Sie sind Nahrungsgrund-
nicht verhindert, dass die Natur hierzulan- fern. lage für viele Vögel, Fledermäuse und Am-
DER SPIEGEL 36 / 2017 99
phibien. Sie tragen dazu bei, die Böden oder Rebhühner, die keine Brut- und Rast- „Unsere Aufgabe ist es, Ökonomie und
fruchtbar zu halten. Sie helfen als Nütz- plätze mehr in der Landschaft finden oder Ökologie in Einklang zu bringen“, sagt der
linge in der Landwirtschaft. deren Gelege bei Ernte oder Mahd zerstört Agrarexperte. „Lebensräume und Arten
Und vier von fünf in Deutschland hei- werden. verschwinden“, räumt er ein, „Pflanzen-
mischen Blütenpflanzen werden durch In- Kampfläufer, Schlangenadler, Blauracke, schutzmittel spielen dabei mit Sicherheit
sekten bestäubt. Raps, Sonnenblumen, Wiedehopf, Triel – wer kennt sie noch? auch eine Rolle.“ Andererseits: „Dort, wo
Ackerbohnen, Gurken, Äpfel – 70 Prozent Im 19. Jahrhundert, berichtet der Ornitho- man produzieren kann, wollen wir auch
der wichtigsten Nutzpflanzen profitieren loge und Arzt Karl Schulze-Hagen, waren die Möglichkeit zum Produzieren geben.“
von der Insektenbestäubung. Erdbeeren diese Arten nicht nur regelmäßige Brut- „Wir haben immer noch vor allem den
etwa, die nicht von Tieren bestäubt wer- vögel in Deutschland. Sie seien auch in ge- Auftrag, für die Ernährung zu sorgen“, sagt
den, sind leichter, glänzen nicht und ver- radezu „unvorstellbar hoher Individuen- der Industriemann. Damit ist Röser ganz
derben schneller. Langfristig, warnt Agrar- zahl“ vorgekommen. auf Linie der Agrarfunktionäre. Vorn tritt
ökologe Tscharntke, könnte gutes Obst Schert die Bauern der Verlust der Ar- nun Werner Schwarz vom Bauernverband
zum „Luxusgut“ werden. tenvielfalt? In der Agrarausbildung spielt Schleswig-Holstein ans Mikrofon. „Bio-
Schuld ist der Verlust an Lebensräumen, Naturschutz immer noch kaum eine Rolle. diversität kann auch auf großen Betrieben
„die Ursache Nummer eins für den Arten- Traditionell geht es den Landwirten da- stattfinden“, sagt Schwarz.
rückgang“, sagt Tscharntke. Die Äcker rei- rum, dem Boden den größtmöglichen Er- Doch gleich danach, wie zur Beruhi-
chen oft bis an die Straßen, es gibt kaum trag abzuringen. Immerhin, bei manchen gung: „Auf der Fläche werden wir weiter-
noch bunt blühende Randstreifen. Zwi- Agrarkonzernen setzt gerade ein Umden- hin die Reinkultur nötig haben.“
schen den Kulturpflanzen blitzt zumeist ro- ken ein. Ob aus Einsicht oder Sorge um Was das heißt, ist anschließend auf der
her Boden, durch Mittel wie das umstrittene Image und Geschäft, Nachhaltigkeit ge- Führung zu sehen. 210 Hektar sind in Ro-
Herbizid Glyphosat vom Bewuchs befreit. winnt an Bedeutung. thenstein unter dem Pflug. Das Getreide
Zudem mindert die massive Dün- steht wie eine Eins. Kein Unkraut
gung das Wachstum seltener, für In- stört die „Reinkultur“. Wo sind die
sekten wichtiger Ackerwildkräuter, Federn gelassen „Maßnahmen zur Förderung der Ar-
die magere Böden brauchen. Am Bestandsabnahme ausgewählter Vogelarten tenvielfalt“? Ein Biologe ist angereist,
Rand der Felder und auf den weni- in Deutschland 2015 um die Sache zu erläutern.
gen Brachen wachsen vor allem Al- gegenüber 1990 Schmale „Blühstreifen“ zeigt er
lerweltsgräser wie Knäuelgras oder alsbald an manchen Feldrändern, mit
Lieschgras, die den blütenbesuchen- Wildblumen besät, um Bestäuber an-
den Kerbtieren nichts bieten können. zulocken. Einige „Feldsteinhaufen“
Hinzu kommt: Tiere wie auch sind angelegt, auf denen sich Repti-
Pflanzen werden vergiftet. Früher lien aufwärmen können.
seien die Pestizide erst bei konkret Feld- Ufer- Braun- Kiebitz Rebhuhn Und es gibt nun „Feldlerchenfens-
drohendem Befall aufgebracht wor- lerche schnepfe kehlchen ter“ auf dem Gelände – rund 20 Qua-
den, sagt Tscharntke. Heute werde dratmeter große, bewuchsarme Insel-
das Saatgut häufig schon bei der Her- – 38% chen inmitten der Äcker, die es den
stellung mit den Stoffen „gebeizt“. Lerchen ermöglichen sollen, zwi-
Besonders problematisch sind die schen dem dichten Getreide den wär-
sogenannten Neonicotinoide. Saat- * menden Boden zu erreichen.
gut, das mit ihnen behandelt ist,
– 61 % – 65% Im Fluggesang stehen einige der
wächst zu Pflanzen heran, deren Vögel hoch über der Gruppe in der
Saft, Pollen und Nektar den Giftstoff *2013 gegenüber 1990 – 76% Luft. Trr-lit, triip, trieh macht es da,
enthalten. 80 bis 98 Prozent der Neo- Quelle: DDA 2017
–84% mit Trillern, Rollern und feinen Glis-
nicotinoide können im Boden zu- sandi. Das ist schön und klingt nach
rückbleiben, gelangen schließlich in Tüm- EIN BAUERNHOF im schleswig-holsteini- Sommer. Doch reicht das aus, um die Viel-
pel und Flüsse. Sie vergiften Honig- und schen Hügelland bei Eckernförde: „Land- falt zu retten?
Wildbienen, Ameisen, Schlupfwespen wirt – der wichtigste Beruf auf der Erde“ Programme wie jenes der BASF oder
oder die Larven von Eintagsfliegen. steht auf einem Plakat an der Scheune des auch das vergleichbare „F.R.A.N.Z“-Pro-
Schon winzige Mengen an Neonicotinoi- Betriebs Rothenstein. Drinnen haben sich jekt (Für Ressourcen, Agrarwirtschaft &
den verursachen Vergiftungen und Verhal- etwa 25 Gäste versammelt: Bauern aus Naturschutz mit Zukunft) der Michael
tensänderungen. Honigbienen finden nicht der Gegend; ein Mann vom Kieler Land- Otto Stiftung und des Deutschen Bauern-
mehr in ihre Stöcke zurück. Hummeln wirtschaftsministerium; Vertreter von verbandes können Erfolge aufweisen. Tat-
bringen weniger Jungköniginnen hervor, Bauernverband und von Naturschutzver- sächlich steigt die Zahl der Lerchen auf
die dem Volk das Überleben sichern. bänden. den Testflächen. Mehr Wildbienen zählen
Durch den Insektenschwund werden auch Markus Röser lehnt an einem der Steh- die Biologen, mehr Laufkäfer und Spinnen.
andere Tiere weniger. Niederländische For- tische und nippt an einem Filterkaffee. Doch die Maßnahmen wirken wie Flick-
scher zeigten, dass in Regionen mit hohem Röser ist Pflanzenschutzexperte bei BASF. werk, als wollte man einzelne Maschen ei-
Neonicotinoid-Einsatz die Zahl insektenfres- Der Chemiekonzern und Pestizidhersteller nes Netzes neu knüpfen, während es an an-
sender Vögel am stärksten zurückgeht. hat zum „Praxistag FarmNetzwerk Nach- derer Stelle schon wieder auseinanderfällt.
Ohnehin sind Vögel die auffälligsten haltigkeit“ geladen. Es ist eine Ausweitung der verfehlten
Opfer der Landschafts- und Artenkrise. In BASF unterstützt 53 konventionelle EU-Agrarpolitik mit anderen Mitteln.
der EU ist die Zahl der Brutpaare in der Bauernhöfe in Deutschland, Österreich Auch Brüssel versucht, die konventionelle
Agrarlandschaft zwischen 1980 und 2010 und Belgien dabei, die Artenvielfalt zu för- Landwirtschaft auf Ökologie zu trimmen.
um mehr als die Hälfte zurückgegangen. dern. Und Röser ist der Mann, der zwi- Der Versuch ist erkennbar gescheitert.
Besonders hart trifft es Bodenbrüter schen Naturschützern und Bauern vermit- Die EU fördert ein System, das allein
wie Feldlerchen, Braunkehlchen, Kiebitze teln soll. auf Effizienz setzt. Durchschnittlich 40 Pro-
100 DER SPIEGEL 36 / 2017
Wissenschaft
gibt einen Hofladen mit Wurst und Fleisch, das Wandern. Die Amphibien locken stoffabgabe, „zur Rechenschaft“ gezogen
Pferdeställe und Gästezimmer. Subunter- wiederum Weißstorch und Schreiadler an. werden. Insgesamt, so steht es im „Euro-
nehmer veranstalten Planwagenfahrten Manche Wiesen werden hier so spät ge- pean Nitrogen Assessment“, verursacht
und vermehren Wildsamen. mäht, dass sogar das rare Braunkehlchen die Überdüngung in der EU Schäden für
Gut Temmen ist ein Großbetrieb. Rund eine Chance hat. Die Gelege des Vogels Gesundheit, Ökologie und Klima von 70
40 Mitarbeiter beschäftigt Betriebsleiter fallen normalerweise der Mahd zum Opfer. bis 320 Milliarden Euro jährlich.
Hans-Martin Meyerhoff. „Das primäre Ziel Gut Temmen nimmt am Projekt „Land- Auch deutsche Fachbehörden drängen
für mich war immer, Gewinne zu machen“, wirtschaft für Artenvielfalt“ teil, für das auf einen tiefgreifenden Wandel. „Der in-
sagt Meyerhoff, der hier seit 1998 den Bio- der WWF mit Edeka und dem Ökoanbau- tensive Einsatz chemischer Pflanzenschutz-
landbau leitet. Der Ökovisionär ist kein verband Biopark kooperiert. 62 Biohöfe mittel ist ökologisch nicht nachhaltig und
Träumer, sondern Geschäftsmann. Den- beteiligen sich aktuell und produzieren be- gefährdet unsere Tier- und Pflanzenwelt“,
noch ist das hier eine andere Welt als die sonders artenfreundlich. konstatiert das Umweltbundesamt. Es gel-
der konventionellen Landwirtschaft. te, den Pestizideinsatz zu „minimieren“.
Künstlicher Mineraldünger und synthe- DIE AGRARWENDE – warum kommt sie nicht BfN-Präsidentin Jessel rät, die EU-För-
tische Pestizide sind in der Biolandwirt- überall? Was würde geschehen, wenn sich dergelder nicht mehr wie bisher nach dem
schaft verboten. Dadurch ändert sich alles. die Politik an dem Leitbild eines naturver- „Gießkannenprinzip“ zu zahlen, sondern
Auf Gut Temmen stammt der Dünger träglichen Landbaus orientieren würde, „zielgerichteter für den Erhalt der Böden,
aus dem eigenen Mist und aus einer „Mist- wie es Naturschützer schon lange fordern? der biologischen Vielfalt und für den
kooperation“ mit einem nahen Hühnerbe- Bauernpräsident Joachim Rukwied sorgt Grundwasserschutz“ einzusetzen.
trieb. Zudem baut Meyerhoff Rotklee und sich im SPIEGEL-Streitgespräch um Wett- Auch bei der Energiewende empfiehlt
Luzerne als „Vorfrüchte“ an, beides soge- Jessel ein Umsteuern. Bioenergie dürfte
nannte Leguminosen, die über Knöllchen- nur noch aus Rest- und Abfallstoffen ge-
bakterien in ihren Wurzeln Stickstoff aus wonnen werden, nicht mehr aus eigens da-
der Luft binden und so den Boden düngen. für angebautem Mais oder Raps.
Zur „Unkrautunterdrückung“ nutzt „Landwirte sollten viel mehr honoriert
Meyerhoff „Bodendecker“ mit „phytosa- werden, wenn sie naturverträglich wirt-
nitärer Wirkung“. Nur selten setzt er zu- schaften“, sagt die BfN-Chefin. Subventio-
gelassene Spritzmittel wie Wirkstoffe aus nen müssten an „gesellschaftliche Leistun-
dem Neembaum oder Pyrethrine ein, um gen“ geknüpft werden.
„nicht auch die Nützlinge umzuhauen“. Doch die Bundesregierung scheint be-
Man müsse „eine gewisse Toleranz ge- ratungsresistent. Kanzlerin Merkel erwähn-
genüber Unkräutern“ entwickeln, sagt te die Artenkrise mit keinem Wort, als sie
Meyerhoff. Tatsächlich ragen die Köpfe Ende Juni auf dem Deutschen Bauerntag
vieler Disteln aus der Wintergerste, doch sprach. Stattdessen versprach sie den Land-
die Ausfallkosten seien „überschaubar“. wirten, dafür zu sorgen, dass diese auch
„Wir denken in Fruchtfolgen über meh- weiterhin das Pflanzengift Glyphosat be-
MARIA FECK / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Herr Rukwied, fühlen sich die Bau- Bäuerinnen aber Menschen, die einen Fa- streifen an den Ackerrändern, auf denen
ern durch die Grünen diffamiert? milienbetrieb übernehmen, dann bewirt- Wildtiere gut unterkommen können; und
Rukwied: Ich stelle zumindest immer wie- schaften und ihn auch an eine nächste Ge- wir sind bereit, noch mehr zu tun. Man
der fest, dass manche Grüne gern polari- neration weitergeben wollen, also nach- darf aber die Wirtschaftlichkeit nicht außer
sieren und mit Schlagworten wie Massen- haltig arbeiten. Acht lassen. Wir haben eine schwierige Si-
tierhaltung und Tierqual um sich werfen. Göring-Eckardt: Das ist mir jetzt zu roman- tuation, die von der Komplexität des Welt-
Auch ich suche nach Lösungen, aber nicht tisierend. Wir haben schon lange nicht handels, den Ernährungsgewohnheiten
mit dieser Art der Konfrontation. mehr die kleinbäuerliche Landwirtschaft und vielem mehr abhängt.
Göring-Eckardt: Wir diffamieren nicht, im der Vergangenheit, wie auf den Verpackun- SPIEGEL: Was ist denn Ihr Leitbild? Was soll
Gegenteil. Wir lieben Landwirtschaft und gen der Industrie suggeriert wird. Stattdes- Landwirtschaft in Zukunft leisten?
gute Lebensmittel. Aber nicht Läusegift, sen sind seit 1975 Hunderttausende Höfe Rukwied: Die Bauern sollen zum einen
Antibiotika im Stall und Maiswüsten, wo weggestorben, es geht immer mehr hin zu nachhaltig wirtschaften, zum anderen
einst blühende Landschaften waren. Wir großen Agrarfabriken, nach dem Slogan hochwertige Lebensmittel erzeugen und
wissen, dass wir die Wende zu einer guten „Wachse oder weiche“. parallel dazu die Landschaft pflegen.
Landwirtschaft nur gemeinsam schaffen SPIEGEL: Sehen Sie keine Probleme, Herr SPIEGEL: Geschieht das, Frau Göring-
können. Wir zwei könnten Partner sein. Rukwied? Die Milchbauern darben, die Eckardt?
Rukwied: Grüne Politiker unterstellen oft, Schweinebauern kommen bei Preisen um Göring-Eckardt: Viel zu selten. Allerdings soll-
dass die Bauernfamilien ihre Tiere nicht die 1,50 Euro pro Kilogramm Fleisch kaum te man nicht den Bauern allein die Schuld
tiergerecht behandeln, sie nur als Ware über die Runden – mit der Folge, dass geben. Die Politik muss steuern. Es hängt
verstehen. In der Regel sind Bauern und Deutschlands Landschaft immer eintöni- viel davon ab, welche Art der Landwirt-
ger wird. schaft wir fördern. Landwirte, die das Was-
Rukwied: Da widerspreche ich. Es hat sich ser nicht so stark belasten, die ihre Tiere
Das Gespräch führten die Redakteure Philip Bethge und
Ann-Katrin Müller im Garten des Bauernverbands in doch einiges getan. Wir haben zum Bei- nicht so eng zusammenzwängen, die keine
Berlin. spiel seit zwei bis drei Jahren mehr Blüh- Pestizide auf die Felder sprühen, sollten da-
DER SPIEGEL 36 / 2017 103
Wissenschaft
für finanziell belohnt werden. Wir wollen können. Und da brauche ich Wirkstoffe, Göring-Eckardt: Ich habe genau das auf Ih-
keine industrielle Landwirtschaft mehr, son- auch chemisch-synthetische – immer unter rem Bauerntag gesagt und dafür Pfiffe ge-
dern eine Landwirtschaft, die auch Klima-, der Vorausgabe, dass sie nicht schädlich erntet.
Tier- und Naturschutz betreibt. Dass die sind für den Menschen. Rukwied: Ich habe Sie nicht ausgepfiffen!
Verbraucher durch eine Kennzeichnung SPIEGEL: Warum können sich die Bauern SPIEGEL: Warum gibt es eigentlich ständig
beim Fleisch wissen, wo es herkommt und nicht wenigstens von so umstrittenen Mit- Streit zwischen Bauern und Naturschüt-
wie die Tiere gehalten wurden. Ich wünsche teln wie dem Herbizid Glyphosat trennen? zern? Müsste der Landwirt nicht von Haus
mir, dass wir dabei in Deutschland voran- Rukwied: Auf Glyphosat zu verzichten ist aus Naturschützer sein?
gehen, dass wir zeigen: Es geht auch anders. nicht sinnvoll, wir brauchen es beispiels- Rukwied: Ich sage ganz selbstbewusst: Ja,
Rukwied: Wir sind doch jetzt schon besser weise für eine Bodenbearbeitung, die das wir Bauern sind Naturschützer! Und es
als der Rest der Welt. Erosionsrisiko verringert. gibt durchaus Projekte, die wir gemeinsam
Göring-Eckardt: Falsch. Wir hängen beim SPIEGEL: Ist der Stoff unschädlich? mit dem klassischen Naturschutz machen,
Ökolandbau hinterher und drücken mit Rukwied: Da muss ich mich auf die Wissen- beim Gewässerschutz, bei den Ackerrand-
Dumpinglöhnen die Schlachtpreise. Ich schaft verlassen. Die sagt: keine Gefahr. streifen, die naturfreundlich bepflanzt wer-
will auch schnell dafür sorgen, dass Trink- Göring-Eckardt: Das stimmt nicht. Die For- den. Auf der unteren Ebene funktioniert
wasser für die Verbraucher nicht teurer scher sind sich uneinig. Viele renommierte das besser als in der großen Politik.
wird, da die Gülle aus der Massentierhal- Wissenschaftler sagen sogar: „wahrschein- Göring-Eckardt: Da stimme ich zu. Das ist
tung das Grundwasser belastet. lich krebserregend“. auch ein Strukturproblem, unter anderem
Rukwied: Mir sind bis jetzt keine Fälle be- SPIEGEL: Pestizide wie Glyphosat gelten verursacht durch die Bundesregierung.
kannt, wo deswegen extra in die Wasser- auch als eine der Ursachen des Arten- Wenn der Naturschutz Projekte macht,
aufbereitung investiert werden musste. sterbens. Sollte der Pestizideinsatz einge- gibt es dafür Geld. Für den Landwirt gilt
Göring-Eckardt: Der Verband der Wasser- schränkt werden, etwa durch eine Pesti- das bisher nicht immer. Wenn man eine
wirtschaft hat gerade ausgerechnet, dass zidabgabe? neue Landwirtschaftsförderung will, ge-
Trinkwasser bis zu 60 Prozent teurer wird hört deshalb auch dazu, von den Landwir-
wegen der hohen Nitratwerte. Da sind die ten nicht zu verlangen, die Naturschutz-
privat
Thomas Müller
Christian O. Bruch
acht Milliarden Menschen auf der Erde.
Wäre es da nicht fahrlässig, weniger zu
produzieren, als wir können?
Göring-Eckardt: Aber mehr industrielle Mas-
sentierhaltung, Pestizide und Gentechnik
dürfen doch nicht die Antwort sein. Davon
halte ich überhaupt nichts. Im Moment sor-
gen wir eher dafür, dass sich Menschen in
anderen Ländern nicht selbst ernähren
können. Nehmen Sie nur die Sojaproduk-
tion: Weil wir Tierfutter aus Südamerika
importieren, haben die Bauern dort keine
Flächen mehr, auf denen sie ihre eigenen Heiner Geißler Juli Zeh Nils Minkmar
Lebensmittel anbauen können. Gleichzei-
tig werden tropische Regenwälder für neue Seit 12 Jahren regiert Kanzlerin Merkel, seit vier mit einer
Ackerflächen gerodet.
SPIEGEL: Eine Agrarwende würde geringere Großen Koalition. Und Deutschland geht es gut. Oder?
Erträge mit sich bringen. Ökolandwirt- Sind wir alle zu träge geworden, werden drängende
schaft braucht nämlich fast das Doppelte
der Fläche für denselben Ertrag. Der Deut- Zukunftsthemen verpasst? Befinden wir uns in einem neuen
sche labt sich dann an Bio, der Rest der
Welt kann sehen, wo er bleibt? Biedermeier, in dem die Deutschen ihr Glück im Garten
Göring-Eckardt: Nein. Das ist ja gerade nicht
und beim Sport suchen? Der ehemalige CDU-Generalsekretär
damit gemeint. Erstens wollen wir es eu-
ropaweit machen. Zweitens geht unsere Heiner Geißler und die Schriftstellerin Juli Zeh diskutieren
heutige Art der Nahrungsmittelproduk-
tion häufig zulasten von Menschen am an- mit SPIEGEL-Autor Nils Minkmar über diese Fragen und
deren Ende der Welt. Eine anständige suchen nach Zeichen der Repolitisierung.
Landwirtschaft und Lebensmittelproduk-
tion ist deshalb auch eine Art von Ent-
wicklungshilfe. Es ist die Wiedergutma-
chung für das, was wir andernorts auf der Montag, 18. September 2017, 20.00 Uhr
Erde an Kosten und Umweltschäden ver-
ursachen. Thalia Theater, Alstertor, 20095 Hamburg
SPIEGEL: Ein Thema, bei dem Sie sich einig
sein dürften, ist der Klimawandel. Forscher Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter www.thalia-theater.de.
sagen extremere Niederschläge voraus, die Eintritt: 9 bis 18 Euro. Einlass ab 19.30 Uhr. Änderungen vorbehalten.
zu Missernten führen könnten. Für Sie,
Herr Rukwied, ein Grund, künftig grün zu Die Veranstaltung wird per Live-Stream auf www.spiegel.de übertragen.
wählen?
Rukwied: Der Klimawandel ist eine große
Herausforderung für uns Bauern. Politisch
sind wir ein neutraler Verband.
Göring-Eckardt: Ob Sie persönlich grün wäh-
len werden, war die Frage.
Rukwied: Das werde ich dann noch mal gut
überlegen. (lacht)
SPIEGEL: Frau Göring-Eckardt, Herr Ruk-
wied, wir danken Ihnen für dieses Ge-
spräch.
DER SPIEGEL 36 / 2017 105
Wissenschaft
an einer kruden Regel orientiert und diese ist“, bekennt Sharpe. „Unglücklicherweise
Kerker in der fälschlicherweise sogar für ein Gesetz ge-
halten: Demnach war es erlaubt, die Frau
mit einer Tracht Prügel zu züchtigen,
brechen die Aufzeichnungen ausgerechnet
mit ihrer Befreiung ab.“
Ähnlich Erschütterndes förderte der His-
Mansarde solange der dazu benutzte Knüppel nicht
dicker war als sein Daumen.
Die unklare Gesetzeslage förderte aber
toriker mit dem Schicksal der Lady Grace
Chatsworth im Jahr 1670 zutage. Als die
Adlige hochschwanger und fiebernd im
Geschichte Alte Gerichtsakten noch weit schauerlichere Formen der häus- Bett lag, trat ihr Ehemann in höchst un-
geben Einblick in den elenden lichen Gewalt. Im Archiv des Erzbischofs rühmlicher Weise auf den Plan: Begleitet
von York stieß Sharpe auf vergilbte Ge- von mehreren Musikanten, fiel ihr Ange-
Alltag vormoderner Ehen: richts- und Kirchenakten, die von einem trauter in die Kammer neben ihrem Schlaf-
Oft trieb die häusliche Gewalt besonders bizarren Fall erzählen. gemach ein und veranlasste seine Kum-
Ein nahezu romanhaftes spätes Glück pane laut Zeitdokument dazu, „unter Ge-
bizarre Blüten. widerfuhr dem über 50 Jahre alten Witwer fährdung ihrer Gesundheit zu scheppern
Robert Warburton, als er 1792 die vermö- und sehr laut zu spielen“; bis Mitternacht
T
agsüber war der ehrwürdige John gende, aber in Liebesdingen unerfahrene quälte der Mann seine Frau mit dem ohren-
Pighills Pfarrer in einer englischen 40-jährige Catherine vor den Traualtar betäubenden Geschrammel.
Kirche aus dem 15. Jahrhundert. Am führte. Nach einer knappen Weile woh- Gab es überhaupt einen Weg, der aus
Abend verwandelte sich der Geistliche in liger Zweisamkeit stellten sich bei Robert der Hölle solcher Verbindungen heraus-
einen widerlichen Haustyran- führte? Eine Scheidung kam in
nen. Mal kündigte er seiner der Regel nicht infrage, weil
Gattin Elizabeth an, ihr Blut sie gegen die Prinzipien der
trinken zu wollen; bei anderer Kirche verstieß.
Gelegenheit verprügelte er die „Der Tod war nach durch-
Frau derart brutal mit einem schnittlich zehn Jahren die
Stuhl, dass sie zu erblinden wahrscheinlichste Ursache für
drohte. das Ende einer Ehe“, sagt
Als Pighills am 8. August Sharpe.
1725 starb, hatte er freilich Bei gänzlich zerrütteten Be-
nicht einen einzigen Tag für ziehungen erlaubten die Kle-
seine häuslichen Untaten bü- riker immerhin die Trennung
ßen müssen. Wie etliche ande- „von Tisch und Bett“ (a mensa
re Familiendespoten profitier- et toro) – doch selbst bei dieser
te der Kirchenmann von einer Übereinkunft blieben Mann
Rechtsprechung, die eher nach und Frau nach dem Scheitern
den Regeln des Glücksspiels ihrer Ehe aneinandergekettet:
funktionierte, wie der Histori- Sie durften nicht erneut heira-
ker James Sharpe heute meint. ten, solange der Partner noch
Seit Jahrzehnten studiert lebte, und mussten sexuell ent-
der mittlerweile emeritierte haltsam leben, sonst würden
Gewaltforscher, mit welchem sie sich der Untreue schuldig
Furor die Briten sich in ihrer machen.
langen Geschichte gegenseitig In diesem Zustand kirch-
an die Gurgel gingen. Das In- licher Repression geriet laut
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WirtschaftsWoche OHB SE VAUDE Sport Vorstandsvorsitzender
GmbH & Co. KG des Verwaltungsrats,
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Ausstellungen mal blau: die spiegelglatte lung des Fotografen Peter Garagentore und halb herun-
Heimat als Schicksal Ostsee, der Rhein; oft ist sie Bialobrzeski, die am 8. Sep- tergelassene Rollläden, eine
gefühlt schon immer da: die tember im Haus der Photo- McDonald’s-Filiale, einen
Wo das sein könnte, Heimat, Reetdächer im Norden, die grafie der Hamburger Deich- Hähnchenimbiss, das Fahrge-
das ist für viele gar nicht Zwiebeltürme der Kirchen torhallen beginnt. Die zweite schäft auf einer Dorfkirmes.
mehr so einfach zu beantwor- im Süden, die Fachwerkhäu- Heimat heißt sie, begleitet Bialobrzeskis Projekt lehrt,
ten in ihrem digitalisierten, ser in Westfalen. Heimat in von einem gleichnamigen dass es zwei Heimaten gibt:
globalisierten, dauermobilen diesem Sinne ist Klischee, Bildband (Hartmann Books; eine gedachte, verklärte,
Leben. Aber wie Heimat aus- eine Postkartensehnsucht. 154 Seiten; 45 Euro). Bia- ideale – und eine reale. Hei-
zusehen hätte, im Idealfall, Dass ein Ort nicht schön sein lobrzeski ist fünf Jahre lang mat als Schicksal. Die Motive
das glauben die meisten muss, um sich dort zu Hause durch Deutschland gereist sind unspektakulär, und
dann doch zu wissen: heime- zu fühlen, dass es im Gegen- und hat auffallend unauffälli- ebendeshalb sind sie uns ver-
lig. Heimat ist schön, und teil oft die gewöhnlichen ge Szenerien festgehalten: traut; die Farben sind trübe
Heimat ist idyllisch. Mal ist Orte sind, an denen wir das eine Bushaltestelle und einen wie ein Eintopf – und ebenso
sie grün: der deutsche Wald; tun – das zeigt eine Ausstel- Verkehrskreisel, geschlossene beruhigend. tob
tem zu entwerfen, so wie all dem entgegenstellen. Aber gewiss wäre sie, wenn man
Hegel, aber für die heutige alle vier Jahre schon mal über das große Ganze redet,
Zeit“. Hat sie wirklich davon dankbar für einen kurzen Hinweis vorab: Da kommt übri-
gelassen? Nur ist sie dafür gens noch was.
als Politikerin leider im
Wagenknecht falschen Fach gelandet. lck An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Elke Schmitter im Wechsel.
„Amerika zerfällt“
SPIEGEL-Gespräch New Yorker Milliardäre, ein Comic-Bösewicht als Präsident –
woran liegt es nur, dass Salman Rushdies neuer Roman „Golden House“
wirkt, als wäre die Realität zur Fiktion geworden und die Fiktion zur Realität?
M
anhattan, 21. Stock eines Bürohau- „Golden House“ erscheint am 5. Septem- Ihrer Figuren, der belgische Filmemacher
ses nahe dem Central Park, weni- ber zeitgleich in den Vereinigten Staaten René Unterlinden, ist bereit für einen Teu-
ge Blocks vom Trump Tower ent- und Deutschland. Es ist – ungewöhnlich felspakt mit dem diabolischen Nero Golden,
fernt. Die Gänge cremefarben, der weiche für Rushdie – ein Gesellschaftsroman. Ein gleichzeitig schneiden Sie quasi live die poli-
Teppich, die Tapeten, alles in Creme. In indischer Milliardär, der sich Nero Golden tische Gegenwart mit diesem irren Joker-
diesem Stockwerk residiert die Literatur- nennt, kommt Anfang 2009 mit seinen Söh- Präsidenten in das Romangeschehen hinein.
agentur Wylie. Hinten, am Ende des Gan- nen nach New York. Zur gleichen Zeit lebt Rushdie: Ich kam bislang nicht auf die Idee,
ges, liegt das Büro des legendären Agen- in dieser Stadt ein anderer Milliardär, den meinen Roman mit Thomas Mann zu ver-
turgründers Andrew Wylie. Er ist nicht da. alle den Joker nennen, in Anspielung auf gleichen. Aber es stimmt.
Er hat sein Zimmer heute einem seiner be- den Bösewicht der „Batman“-Comics. Die- SPIEGEL: Wann haben Sie beschlossen, den
rühmtesten Autoren zur Verfügung ge- ser Joker hat irgendwann die Idee, Präsi- Joker auftreten zu lassen?
stellt. Salman Rushdie, hellblaues Hemd, dent der USA zu werden. Niemand nimmt Rushdie: Ziemlich spät. Plötzlich hatte ich
weiße Turnschuhe, ist blendender Laune. seine politischen Ambitionen ernst. Doch diese Idee: Auf der einen Seite sind die
Dabei ist die Lage ernst. Die Wahl Trumps es kommt anders. Der Joker wird Präsi- echten Menschen, an einem echten Ort, in
zum Präsidenten und die ersten Monate dent – und stellt die Grundlage des freien einer echten Zeit, die sich mit ihren echten
seiner Regierung haben auch Salman Amerika infrage. Lebensproblemen beschäftigen. Aber so-
Rushdies Glauben an Amerika, an das bald man heraufsteigt auf die Ebene der
Amerika, das er liebt und in dem er seit SPIEGEL: Herr Rushdie, Ihr Roman „Wut“, Macht, befindet man sich in einem
dem Jahr 2000 lebt, erschüttert. eine Art Liebeserklärung an das alte Cartoon. Eine reale Welt, die von grotes-
Salman Rushdie, 1947 in Bombay gebo- Amerika, erschien am 11. September 2001. ken Figuren regiert wird. Die Idee zum Jo-
ren, im Alter von 14 Jahren von seinem Als 2015 Ihr Roman „Zwei Jahre, acht ker war ja leicht: Joker und Trump …
Vater in ein englisches Elite-Internat ge- Monate und achtundzwanzig Nächte“ er- SPIEGEL: … wie die Trumpfkarte auf Eng-
schickt, wurde 1981 bekannt mit dem ge- schien, ereigneten sich die Terrorangriffe lisch heißt …
nialen, postkolonialen, magisch-realisti- von Paris. Haben Sie etwas Angst vor dem Rushdie: … sind die beiden ungewöhnlichs-
schen Roman „Mitternachtskinder“. Eine 5. September, wenn Ihr neuer Roman he- ten Spielkarten. Der Joker ist nun wirklich
indisch-britische Traumkarriere begann. rauskommt? ein angsteinflößender Charakter. Vielleicht
Dann kam der Valentinstag des Jahres der angsteinflößendste Charakter, der je er-
1989. Der iranische Revolutionsführer Aja- funden wurde. Und er hat einige nützliche
tollah Khomeini erkannte in Rushdies Ro- „Sobald man aufsteigt Merkmale, zum Beispiel unglaublich weiße
man „Die Satanischen Verse“ eine Belei-
digung des Propheten und rief alle gläubi-
auf die Ebene der Haut und komisches Haar. Leider nicht
orange, sondern grün, aber immerhin.
gen Muslime der Welt dazu auf, Salman Macht, befindet man sich SPIEGEL: Im Roman ist das Haar nur mit
Rushdie zu ermorden. Es folgte ein Leben einer Ku-Klux-Klan-Haube bedeckt …
in Angst, unter totaler Überwachung und
in einem Cartoon.“ Rushdie: Ja, das schien eine nützliche Re-
Geheimhaltung. Seit 17 Jahren lebt er frei verenz, die jeder augenblicklich versteht.
und ohne Polizeischutz in New York. Ob- Rushdie: Oh nein, nein. Wir hatten die Und so musste ich den Namen Donald
wohl die Fatwa nicht aufgehoben, die Be- schlechten Nachrichten doch schon. Wir Trump nicht verwenden.
lohnung, die auf seine Ermordung ausge- sind inmitten der schlechten Nachrichten. SPIEGEL: Haben Sie den echten Trump mal
setzt ist, sogar auf fast vier Millionen Euro SPIEGEL: Im Roman schreiben Sie: „Die Ar- getroffen?
erhöht wurde. Aber Rushdie will sein Le- beit läuft gut, wenn das Leben schrecklich Rushdie: Oh ja. Einige Male. Aber nicht
ben nicht von diesem bizarren Urteil be- ist“ – war das in Ihrem Falle auch so? mehr, seit er ernsthafte Ambitionen auf
herrschen lassen. Es klingt wie ein dunkler, Rushdie: Ich denke, ja. Es war sonderbar, das Präsidentenamt entwickelt hat.
dummer Spaß, dass die Fatwa nur von wie dieses Buch zu mir kam. Es ist nicht SPIEGEL: Wie war Ihr Eindruck?
demjenigen widerrufen werden kann, der normal für mich, einen 500-Seiten-Roman Rushdie: Er war immer sehr freundlich zu
sie verhängt hat. Leider ist Khomeini ein in zwei Jahren zu schreiben. Das ist mir mir. Ich habe ihn mal in der Oper getroffen,
halbes Jahr nach dem Urteilsspruch gestor- noch nie passiert. Aber ich war wie beses- als wir beide „La Traviata“ gesehen haben.
ben. Pech für Rushdie. Die Fatwa gilt für sen. Mein voriges Buch ist ja eine Art New- Bei einem Konzert von Crosby, Stills and
immer. York-Märchen, diesmal sollte es kein Mär- Nash im Madison Square Garden haben
Jetzt hat der Mann, der sich im Allein- chen werden. Eher ein Gesellschaftsroman. wir fast nebeneinandergesessen. Und ein-
gang mit islamischen Fundamentalisten Dabei hatte ich noch gar keine Ahnung, mal bei einem Charity-Event. Er war wirk-
anlegte, einen Roman über das Amerika worum es gehen sollte. Es gab nur Nero lich sehr nett. Er hat mir seine Box bei den
der vergangenen zehn Jahre geschrieben: Golden und meinen Wunsch, einen Gesell- U. S. Open angeboten. Er fragte mich:
schaftsroman von heute zu schreiben. „Sind Sie an Tennis interessiert?“ Ich sagte:
Das Gespräch führte der Redakteur Volker Weidermann SPIEGEL: Die Konstruktion erinnert etwas an „Ja.“ Er sagte in seiner trumpy Art: „Sie
in New York. „Doktor Faustus“ von Thomas Mann. Eine wissen, ich habe die beste Box. Meine Box
DER SPIEGEL 36 / 2017 111
Kultur
ist besser als jede andere Box.“ Und: Identität. Mittlerweile ist das Gender-The- die sich damit beschäftigt haben, wie Ian
„Wann immer Sie dort hingehen wollen, ma so allgegenwärtig und kompliziert ge- McEwan oder Philip Roth, sind von der Poli-
sind Sie mein Gast.“ Aber ich ging nicht … worden. Und politisch bedeutsam, seit die tical Correctness niedergestreckt worden.
SPIEGEL: Klar, Sie sind Tischtennisfan. neue Regierung das Thema negiert. In die- SPIEGEL: Ein gefährliches Terrain.
Rushdie: Ich gehe auch sehr gern zum Ten- ser Stadt ist es ein Riesending. Dann Lon- Rushdie: Eine Gegend voller Landminen.
nis, aber ich dachte mir dann doch: viel- don, ganz anders. Dessen Identitätsmanie Aber ich sagte mir: Was soll’s. Und ich
leicht nicht in Donald Trumps Box … ist seit dem ganzen Brexit-Unsinn die Fan- habe auch nicht ins Blaue hinein geschrie-
SPIEGEL: Dass er Ihren neuen Roman liest, tasie vom alten England. Von der alten ben. Ich habe ein paar Wochen in der
erwarten Sie eher nicht, oder? glorreichen Zeit, die nichts mit Europa und Transgender-Community von Bombay ver-
Rushdie: Oh, ich glaube, er ist kein so großer diesen ganzen schmutzigen Ausländern zu bracht. Das war eine extrem starke Erfah-
Leser. Nein, im Ernst: Er sollte Besseres zu tun hatte. Rule, Britannia! Der Moment, rung. Einige waren sehr zufrieden und mit
tun haben. Er muss ein Land regieren. Das in dem England groß war. In Indien ist es sich im Reinen, einige sehr schüchtern, an-
macht er ja nicht so besonders gut. wieder ganz anders. Dort geht es um na- dere regelrecht beschädigt. Ich habe dort
SPIEGEL: Das vom Joker regierte Amerika tionale Identität und Authentizität. Reli- wahnsinnig viel gelernt. Ich habe auch
Ihres Romans scheint dem Untergang ge- giöse Sektierer, den Hindu-Moslem-Kon- zwei Freunde in New York, die eine Ge-
weiht. flikt. Jeder Teil der Welt, in dem ich mein schlechtsumwandlung hinter sich haben –
Rushdie: Aber der Roman endet doch opti- Leben verbracht habe, ist gespalten in Fra- einmal von Mann zu Frau, einmal von
mistisch. Mit Hoffnung und Liebe. Die Zei- gen der Identität. Und auf komplett unter- Frau zu Mann. Das gab mir wenigstens
ten sind dunkel, ja, aber ich wollte etwas schiedliche Weise. Das alles kommt in mei- etwas Halt und Verständnis. Für einen
Helles am Schluss. Mir schien, es gibt zur- nem Roman zusammen. Schriftsteller ist das ein irres Thema, allein
zeit zu viele Dystopien in der Literatur. SPIEGEL: Ein Opfer der Gender-Besessen- schon die Sprache, wie schnell die sich in
Jeder schreibt Dystopien. Sogar Kinderbü- heit im Roman ist Nero Goldens Sohn Dio- dem Bereich verändert. Da kommt man
cher sind Dystopien. All diese Bücher über nysos, der eine starke weibliche Seite in als Autor kaum mit.
die Welt, die schrecklich ist, dann wird es sich trägt und von den Furien der Eindeu- SPIEGEL: Warum ist das Thema so explosiv?
schlimmer, und am Ende geht es ganz tigkeit zu einer Geschlechtsumwandlung Rushdie: Na ja, die Frage nach der Sexuali-
schlecht aus. Und ich wollte eine Art Sieg getrieben wird. tät ist doch für alle menschlichen Wesen
der menschlichen Natur am Ende. Rushdie: Eigentlich gehöre ich der falschen die zentrale Frage. Und wenn die Idee,
SPIEGEL: Aber auch Ihr Roman trägt apo- Generation an, um darüber zu reden. Weil dass es im Grunde zwei Geschlechter gibt
kalyptische Züge. ich altmodische Ansichten habe. Aber ich und davon jeweils heterosexuelle und ho-
Rushdie: Ich sehe ihn eher als griechische wollte mich dadurch nicht einschränken mosexuelle Versionen, plötzlich verschwin-
Tragödie. Ich kam nach Amerika, um hier lassen. Ich wollte die ganze Komplexität det. Wenn nun herauskommt, es gibt mehr
zu leben, weil es Dinge gibt, die ich liebe, dieses Themas und wie die Menschen als zwei Geschlechter, dann gibt es beson-
deshalb bin ich hier. Es ist vor allem New ders junge Menschen, die davon total ab-
York City, das ich so liebe – aber es ist sorbiert werden. Jeder junge Mensch ist
alarmierend und traurig zu sehen, wie das „Eine Menge Autoren mit der Frage beschäftigt: Wer bin ich?
Amerika, das ich mein Leben lang im Kopf
hatte, das ich als Vision, als Bild immer in
sind von der Politi- Und plötzlich wird diese Frage enorm kom-
pliziert. Das macht es auch viel schwieri-
mir trug, das ich durch die Literatur, die cal Correctness nieder- ger, jung zu sein. Und dann kommt noch
Filme lieben gelernt habe, vor unseren Ideologie dazu und übernimmt das Feld.
Augen zerfällt und entwürdigt wird.
gestreckt worden.“ Dazu die individuelle Scham. So wird es
SPIEGEL: In Ihrem Roman stürzt ein Haus zu diesem kolossalen sozialen, explosiven
ein. darüber denken herausfinden. Dionysos Thema.
Rushdie: Tja, wenn man ein Buch nach kann die Krise, die er in sich trägt, nicht SPIEGEL: Der Roman umfasst die Zeit der
einem Haus benennt, ist schon vieles klar. lösen. Vielleicht haben die, die ihm zu Obama-Jahre. Was ist falsch gelaufen, dass
Häuser haben schlechte Aussichten in der einer Geschlechtsumwandlung raten, nicht die in die Trump-Ära mündeten?
Literatur, sie gehen oft unter. „Der Unter- gerade geholfen. Das Buch bewertet das Rushdie: Es ist nicht viel falsch gelaufen.
gang des Hauses Usher“ und so viele an- nicht. Es waren gute Jahre für dieses Land.
dere. Wann immer es ein Haus im Titel SPIEGEL: Wie bitte? Der verwirrte Mann SPIEGEL: Der Roman scheint aber zumindest
gibt, stürzt es am Ende ein. wird von den Ideologen der Eindeutigkeit, eine Teilschuld bei den amerikanischen Li-
SPIEGEL: Hauptthema des Buchs sind die den Gender-Furien, schließlich in den beralen zu finden, den Künstlern, Autoren,
schwankenden, ungewissen Identitäten Selbstmord getrieben. Filmemachern. Apathie, Zynismus, voraus-
aller Figuren. Rushdie: Nicht nur wegen der Gender-Fu- eilende Enttäuschung zum Beispiel.
Rushdie: Die Hauptcharaktere sind ja auf- rien. Sondern wegen einer generellen Rushdie: Ich glaube nicht, dass die Verant-
gebrochen, um ihre Identität zu verfäl- Konfusion, die er nicht bewältigen kann. wortung bei der Linken liegt. Diese ganze
schen. Sie auszulöschen. Und sie durch Aber es gibt in der Tat Dinge, die heute ge- Idee, dass wir uns sofort schuldig fühlen
eine andere zu ersetzen. Identität ist heute schehen, die mich beunruhigen. Zum Bei- müssen, ist falsch. Die Selbstbezichtigung
eine weltweite Obsession. spiel bei kleinen Jungs, die gern rosa Hem- ist ja ein Leitmotiv der Linken: Irgend-
SPIEGEL: Wie sieht Ihre eigene Identitäts- den tragen und mit Puppen spielen. Früher jemand bläst das World Trade Center in
obsession aus? haben die Leute gesagt: „Oh, das ist ja ein die Luft – und Amerika soll den Fehler bei
Rushdie: Es sind drei Orte, die mein Leben kleiner Homo, der könnte schwul werden sich selbst suchen. Ich denke nicht so.
geprägt haben: Bombay, London und New und so weiter“, aber das war es dann auch. SPIEGEL: Also, was lief falsch?
York. In all diesen Städten ist die Frage Heute aber wird den Eltern des Jungen ge- Rushdie: Ich denke, erstens müssen wir ak-
der Identität extrem spannungsreich. Aber raten, mal über eine Geschlechtsumwand- zeptieren, dass Hillary Clinton keine gute
an jedem dieser Orte bedeutet es etwas lung für ihn nachzudenken. Das erscheint Kandidatin war. Und dass ihre Kampagne
komplett anderes. Wann immer hier in mir – nun sagen wir es so: eine extreme Re- nicht gut war. Vor allem, weil sie die Nord-
New York über Identität gesprochen wird, aktion auf etwas, das vielleicht keine staaten ignoriert hat, weil sie dachte, die
geht es um Gender-Identität oder Rassen- extreme Sache ist. Eine Menge Autoren, hätte sie sowieso in der Tasche. Die Repu-
112 DER SPIEGEL 36 / 2017
MARTIN SCHOELLER / PICTURE PRESS
BRIDGEMAN IMAGES
blikaner haben sie nicht ignoriert. Trump Rushdie: Etwas zu wissen, Experte zu sein, SPIEGEL: Ein Wettkampf der Fiktionen. Und
hat die drei entscheidenden Staaten mit das gilt heute als elitär. Vor Kurzem gab wir sind auf die Verliererseite geraten.
zusammen 75 000 Stimmen Vorsprung ge- es eine Umfrage unter Wählern der Repu- Warum?
wonnen. Wenn das nicht passiert wäre, blikaner, in der eine Mehrheit erklärte, sie Rushdie: Die anderen sind die besseren Er-
müssten wir über den ganzen Mist hier glaubte, dass Universitäten schlecht für finder. Und das hat Konsequenzen für Leu-
nicht reden. Dann: Rassismus. Es ist un- Amerika seien. Sie schadeten dem Land. te in meinem Job. Die Berufserfinder. Ich
möglich, die Bedeutung von Rassismus bei Lernen ist schlecht für Amerika! Wir le- habe natürlich darüber nachgedacht:
dieser Wahl überzubewerten. Es gab eine ben in einer Zeit, in der Sprache von den Wenn die Welt so voll ist mit surrealen
große Gruppe weißer Amerikaner, die es Füßen auf den Kopf gestellt wird. Leute, Unwahrheiten, könnte es die falsche Zeit
nicht ertragen hat, dass ein schwarzer die Fake News verbreiten, nennen echte sein, um seine Bücher mit weiteren sur-
Mann ins Weiße Haus einzieht, dass die Nachrichten Fake News. realen Unwahrheiten zu füllen. Aber ich
First Family schwarz ist. Das hat die extre- SPIEGEL: Das sind die neuen Großmeister habe schon immer diese Paradoxie geliebt:
me Rechte enorm gestärkt. Das andere ist der Fiktion, nicht mehr Sie, Herr Rushdie. dass Literatur der Ort ist, um Wahrheit zu
die Angst des weißen Amerika vor der De- Rushdie: Natürlich hat das zum großen Teil suchen. Fiktion ist der Ort, an den du gehst,
mografie. Sie wissen, sie werden schon bald mit dem Internet zu tun. Die Zerstörung um Wahrheit zu finden. Es war so oft
in der Minderheit sein. Die Zeit arbeitet der Wahrheit. Es gibt so unendlich viel schon so in der Geschichte der Literatur.
für den Gegner. Es ist die große Angst, die Müll im Internet, und der wird auf dersel- In der Sowjetunion sind die Menschen zu
Kontrolle über das Land zu verlieren. ben Ebene behandelt wie die Wahrheit. den Schriftstellern gegangen, um die Wahr-
SPIEGEL: Angst aus dem Geiste der Statis- Das Bewusstsein der Menschen für das, heit zu erfahren, obwohl die Dinge erfun-
tik. Dabei haben Forschung und Wissen- was real und was irreal ist, erodiert. den haben – und die Leute, die behauptet
schaft bei der Rechten einen schwereren haben, die Wahrheit zu sagen, haben in
Stand denn je. * Gespielt von Jack Nicholson, 1989. Wahrheit alles erfunden.
DER SPIEGEL 36 / 2017 113
Not only a Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control);
Belletristik Sachbuch
FUN READ 2
3
(1)
(–)
Maja Lunde
Die Geschichte der Bienen
Walter Moers Prinzessin Insomnia &
btb; 20 Euro
2
3
(2)
(4)
Boris Palmer Wir können
nicht allen helfen
Peter Wohlleben Das geheime
Siedler; 18 Euro
9 (5) Mariana Leky Was man von hier 11 (13) Jens Gnisa Das Ende
aus sehen kann DuMont; 20 Euro der Gerechtigkeit Herder; 24 Euro
»Peter Littger hat mein broken English 16 (10) Sebastian Fitzek 17 (9) Remo H. Largo
geheilt.« Florian Schröder Das Paket Droemer; 19,99 Euro Das passende Leben S. Fischer; 24 Euro
SPIEGEL: Daher auch die Angst totalitärer Rushdie: Nein, er ist eher ein Echo. Ein und dir ist sofort klar: Hier hat Trump
Regime vor der Literatur. Echo Trumps, ein Echo des Jokers. Der nicht eine Stimme bekommen.
Rushdie: Genau. Es ist der Ort für die an- Name Golden zum Beispiel – das ist ja SPIEGEL: Und warum haben Sie Ihre Figur
dere Wahrheit. Wobei ich aber sagen schon mal ein leiser Anklang auf diesen nach dem Berliner Boulevard Unterlinden
möchte, dass wir natürlich hier in keinem speziellen Präsidenten, und wie dieser spe- genannt?
totalitären Staat leben. All die Leute, die zielle Präsident liebt er es, seinen Namen Rushdie: Ach, den Namen hab ich mir nur
sagen, Amerika sei heute ein faschistischer riesig groß auf Sachen zu schreiben. Aber ausgedacht. Wissen Sie, was das Tollste ist
Staat, helfen uns nicht. Wir müssen immer er ist keine Allegorie auf Trump. am New Yorker Telefonbuch? Dieses un-
daran denken, präzise in der Sprache zu SPIEGEL: Der Roman ist ja wahnsinnig zeit- fassbar reiche Reservoir an erfundenen Na-
sein. Und es gibt wirklich viele Dinge in nah geschrieben. men in dieser Stadt voller erfundener Bio-
diesem Land, die mich alarmieren, aber Rushdie: Nachdem die Entscheidung gefal- grafien. Eine Stadt voller Leute, die sich
wir sind nicht mal in der Nähe eines len war, die Politik mit hineinzuschreiben ihre Namen einfach ausgedacht haben.
faschistischen Staates. Wir können hier in den Roman, war klar, dass gegen Ende Amerikanische Namensfindung war schon
reden, und niemand greift ein. Ich kann immer noch frisiert und umgeschrieben immer sehr kreativ. Heute ist der kreativs-
dieses Buch schreiben, und es ist mir egal, werden müsste. Wir sind ja hart dran an te Bereich der Bereich der afroamerikani-
was der Präsident darüber denkt. Das sind der Gegenwart, und am Ende sollte das schen Namen. Das ist herrlich surreal. Ich
doch alles Zeichen dafür, dass es immer Buch so gegenwartsnah wie nur irgendwie meine: Wer heißt denn bitte LeBron? Nie-
noch eine ziemlich freie Gesellschaft ist. möglich sein. Also wenn in der Welt etwas mand auf der Welt heißt LeBron. LeBrons
SPIEGEL: Umso wichtiger, dass die Literatur geschieht, würde ich nachjustieren müssen. Eltern haben sich das ausgedacht. LaShan-
ihre Freiheit nutzt. Aber in Sachen Rassismus musste ich nun da! Ich lach mich kaputt! Afroamerikani-
Rushdie: Ich will es damit nicht zu weit trei- wirklich nichts nachjustieren. Schon die sche Namen sind explodiert in diesem Be-
ben. Denn ich glaube natürlich nicht daran, Wahlkampagne war die Öffnung der Büch- reich surrealer Schönheit.
dass Literatur dafür da ist, irgendetwas Be- se der Pandora. All diese giftigen Teufel SPIEGEL: Also musste dieses erfundene
stimmtes zu tun. Dass sie eine Aufgabe hat, Land voller erfundener Personen am Ende
Ziele zu erreichen oder so was. Nein. Nein. einen Präsidenten bekommen, dessen gan-
Nein. Aber – wir haben über Identität ge- „Es gibt derzeit diese ze Weltsicht auf Erfindung beruht? Auf
sprochen – Literatur hat immer schon ge-
wusst, dass Identität sehr, sehr kompliziert
schreckliche Gewohn- einer Fiktion?
Rushdie: Ich denke, ja. Ich will nur nicht
ist. Dass die Natur des menschlichen We- heit, dass Trump jedes Trump das letzte Wort darüber geben, wo-
sens niemals homogen ist. Dass wir alle rum es in diesem Roman geht. Es geht in
Charakterzüge in uns tragen, die sich wi-
Thema übernimmt.“ dem Roman um alles, worüber wir jetzt
dersprechen. Und jedes große Werk der geredet haben. Und es gibt derzeit diese
Fiktion, jeder große Charakter zeigt uns sind da aus der Büchse gesprungen. Mir schreckliche Gewohnheit, dass Trump jedes
das. Ob es Madame Bovary ist oder Oskar war klar, dass selbst wenn Trump nicht Thema entführt und übernimmt. Jedes. Wir
Matzerath. Jeder ist die Widersprüchlich- nominiert worden wäre, selbst wenn er die reden über Essen – und schon reden wir
keit in sich. Das ist die Kunst der Literatur. Wahlen nicht gewonnen hätte – dass all über Trump. Wir reden über Baseball, und
Und in unserem Zeitalter, in dem uns allen dies nicht zurück in die Büchse gehen wür- schon reden wir über Trump. Jedes Thema
gesagt wird, wir müssen uns definieren, de. Das lässt sich nicht wieder wegsperren. führt zu Trump in diesen Tagen. Es wird
vereindeutigen, da könnte es helfen, ein Da war ich absolut sicher, egal wie die wirklich ärgerlich. Alle Straßen führen zu
oder zwei Romane zu lesen, die uns daran Wahlen auch immer ausgehen würden. Trump. Und ich widerstehe dem.
erinnern, dass wir nicht beschränkt und SPIEGEL: Was Ihren Helden, den Erzähler SPIEGEL: Stimmt. Es hat sogar dazu geführt,
eindimensional sind, sondern ungeheuer René Unterlinden, am meisten beunruhigt, dass wir das Wort Fatwa jetzt seit andert-
vielfältig. Literatur ist eben nicht Politik. ist die Frage: Wer sind diese 60 Millionen halb Stunden nicht erwähnt haben.
Sie kann aber politisch wirksam sein. Ein Menschen, die den Joker gewählt haben? Rushdie: Oh, ja, das hat wirklich lange ge-
Porträt der Zeit zeichnen. Er sieht den Landsleuten ins Gesicht, und dauert. Das F-Wort. Danke. Aber ich habe
SPIEGEL: „Wir waren die Monster, die wir im- er weiß nicht, wer die Monster gerufen dazu in meiner Autobiografie „Joseph An-
mer gefürchtet hatten“, heißt es im Roman. hat. ton“ auch wirklich alles gesagt.
Rushdie: Das ist doch das zentrale Thema Rushdie: Ja, stimmt. Wobei: In New York SPIEGEL: Die einzige Frage, die dazu bleibt:
des Buches. Ob es möglich ist, zugleich können Sie ein wenig zuversichtlicher sein, Hat sich für Sie etwas geändert, seitdem
böse und gut zu sein. Und ich denke, die weil diese Stadt ja in überwälti- es fast so wirkt, als stünde der
Antwort ist: offensichtlich ja. Gut, also mir gender Mehrheit demokratisch ganze Westen unter permanen-
ist es natürlich total egal, ob Hitler nett zu gewählt hat. Es gibt allerdings ter Morddrohung?
Hunden war oder Vegetarier, in einigen Restaurants in New York, da Rushdie: Ja, aber das wissen die
Fällen ist das Ungleichgewicht so drastisch, weiß ich, die sind voller Trump- Leute seit dem 11. September. Da-
dass die Frage irrelevant ist. Aber die meis- Wähler. nach haben Journalisten zu mir
ten Menschen haben doch gute wie schlech- SPIEGEL: Aha. Was essen die so, gesagt: Jetzt haben wir verstan-
te Seiten. Wir alle haben Dinge getan, für die Trump-Wähler? den, worum es geht, jetzt, wo es
die wir uns schämen, und Dinge, auf die Rushdie: Teuer. Die Restaurants uns passiert ist. So ist es wohl. Und
wir stolz sind. Dieses Selbstbild ist mora- sind in Midtown, wo die reichen es ist seitdem nicht besser gewor-
lisch kompliziert, aber ohne das verstehen Leute sind. Du gehst in diese den. Wir leben in Zeiten, in denen
wir uns selbst nicht und auch sonst nieman- Restaurants, und du weißt, ja, du sich alles in Höchstgeschwindig-
den. Meine Romanfigur Nero Golden ist siehst es: Diese Leute sind jetzt Salman Rushdie keit dramatisch ändern kann. Und,
ein sehr dubioser Mann. Ich wollte einen glücklich! Golden House ja, wir können uns sogar unterhal-
Charakter, mit dem man mitfühlen kann, SPIEGEL: Die neuen Könige im Aus dem Englischen ten und das F-Wort nicht erwäh-
ohne ihm seine Verbrechen zu vergeben. Reich der Fiktionen. von Sabine Herting. nen, das ist doch auch herrlich!
SPIEGEL: Ist Nero Golden ein weiteres Spie- Rushdie: Ja, und dann gehst du C. Bertelsmann; SPIEGEL: Herr Rushdie, wir dan-
gelbild Donald Trumps? in andere Läden in Downtown, 512 Seiten; 25 Euro. ken Ihnen für dieses Gespräch.
DER SPIEGEL 36 / 2017 115
Kultur
A
m Tag der Amtseinführung des neuen Präsidenten, lauerte, die man besser nicht herausforderte. Er kleidete
als wir Sorge hatten, er könnte, während er Hand sich teuer, doch er hatte etwas Lautes, Animalisches an
in Hand mit seiner außergewöhnlichen Frau durch sich, sodass man an das Biest im Märchen denken musste,
die jubelnde Menschenmasse ging, ermordet werden, das sich in menschlicher Kleidung unbehaglich fühlt. Wir
als so viele von uns wegen der geplatzten Hypotheken- alle, seine Nachbarn, fürchteten uns ziemlich vor ihm,
blase kurz vor dem wirtschaftlichen Ruin standen und obwohl er gewaltige, plumpe Anstrengungen unternahm,
als Isis noch eine ägyptische Göttin war, traf ein unge- sich freundlich und nachbarschaftlich zu zeigen, er wink-
krönter etwa siebzigjähriger König mit seinen drei mut- te uns energisch mit seinem Stock zu und beharrte zu
terlosen Söhnen aus einem fernen Land in New York unpassenden Zeiten darauf, dass die Leute für einen
City ein, um seinen Palast im Exil zu beziehen, dabei Cocktail zu ihm kamen. Er beugte sich vor, wenn er
verhielt er sich, als gäbe es an dem Land oder an der stand oder ging, als müsste er ständig gegen einen starken
Welt oder an seiner eigenen Geschichte nichts auszuset- Wind ankämpfen, den nur er spürte, ein wenig in der
zen, und begann wie ein gütiger Herrscher, seine Nach- Hüfte abgeknickt, aber nicht sehr. Das war ein mäch-
barschaft zu regieren – doch trotz seines charmanten tiger Mann; nein, mehr als das – ein Mann, der die Vor-
Lächelns und der Fähigkeit, seine Guadagnini-Geige von stellung, mächtig zu sein, überaus liebte. Der Stock
1745 zu spielen, trug er ein schweres, billiges Parfum, den schien eher dekorativen als funktionalen Zwecken zu
unverkennbaren Geruch von krasser, despotischer Gefahr, dienen. Wenn er durch die Gärten ging, erweckte er den
diese Art Duft, der uns warnt, hüte dich vor diesem Kerl, Eindruck, er versuche, unser
denn er könnte jeden Augenblick deine Hinrichtung Freund zu sein. Oft streckte er
anordnen, wenn du zum Beispiel ein T-Shirt anhast, das
ihm nicht gefällt, oder wenn er mit deiner Frau schlafen
den Arm, um unsere Hunde zu
tätscheln oder das Haar unserer
Sein Auftreten war
will. Die nächsten acht Jahre, die Jahre des vierundvier- Kinder zu verwuscheln. Aber derb, aber er
zigsten Präsidenten, waren auch die Jahre der zunehmend Kinder und Hunde zuckten vor
unberechenbaren und alarmierenden Herrschaft des seiner Berührung zurück. So war unermesslich
Mannes über uns, der sich selbst Nero Golden nannte,
der nicht wirklich ein König war, und am Ende dieser
manches Mal, wenn ich ihn
beobachtete, dachte ich an
reich, und darum
Zeit brach ein großes – und metaphorisch gesprochen, Dr. Frankensteins Monster, ein war er natürlich
apokalyptisches – Feuer aus. Abbild des Menschlichen, dem
Der alte Mann war klein, ja man könnte sagen, ge- es ganz und gar misslang, wahre akzeptiert.
drungen und kämmte sein Haar, das trotz seines fort- Menschlichkeit zu zeigen. Seine
geschrittenen Alters noch durchwegs dunkel war, ölig Haut war ledrig dunkel, und sein Lächeln blitzte vor
glatt nach hinten, um seinen diabolisch spitzen Haaran- Goldfüllungen. Sein Auftreten war derb und nicht unbe-
satz zu betonen. Seine Augen waren schwarz, sein Blick dingt höflich, aber er war unermesslich reich, und darum
stechend, doch was die Leute als Erstes wahrnahmen – war er natürlich akzeptiert; aber in unserer urbanen Ge-
meistens hatte er seine Hemdsärmel aufgerollt, damit meinschaft aus Künstlern, Musikern und Autoren alles
sie es auch tatsächlich bemerkten –, waren seine Unter- in allem nicht beliebt.
arme, die so dick und stark wie die eines Wrestlers waren Wir hätten ahnen müssen, dass ein Mann, der den Na-
und in großen, gefährlichen Händen mit klobigen, men des letzten julisch-claudischen Kaisers von Rom an-
smaragdbesetzten Goldringen mündeten. Nur wenige nahm und sich dann in einer domus aurea niederließ, sich
Leute hatten ihn je die Stimme heben hören, obwohl öffentlich zu seinem Irrsinn, seinem Fehlverhalten, seinem
wir nicht bezweifelten, dass in ihm eine Stimmgewalt Größenwahn und dem bevorstehenden Untergang bekann-
te und dem Ganzen ins Gesicht lachte; dass so ein Mann wenn es klingelte. Er verweigerte Journalisten oder
dem Schicksal den Fehdehandschuh vor die Füße warf Fotografen den Zutritt zu seinem Haus, aber in seiner
und den sich nähernden Tod verhöhnte, wobei er rief, regelmäßig stattfindenden Pokerrunde waren oft zwei
„Ja! Vergleicht mich, wenn ihr wollt, mit diesem Unge- Männer zugegen, silberhaarige Schwerenöter, die man
heuer, das Christen in Öl tauchte und anzündete, um des stets in hellbraunen Lederjacken und mit breit gestreiften
Nachts seinen Garten zu beleuchten! Das auf der Lyra Krawatten sah, denen der Verdacht anhing, ihre reichen
spielte, während Rom brannte (damals gab es keine Gei- Ehefrauen getötet zu haben, obwohl in einem Fall keine
gen)! Ja: Ich selbst habe mir den Namen Nero, aus dem Anklage erhoben wurde und sie im anderen Fall nicht
Hause Caesars, gegeben, der Letzte dieser blutigen Dy- standhielt.
nastie, und macht damit, was ihr wollt. Mir gefällt einfach
Ü
der Name.“ Er ließ seine Bösartigkeit vor unseren Nasen ber seine eigene nicht vorhandene Ehefrau schwieg
baumeln, schwelgte darin, forderte uns heraus, sie zu er- er. In seinem Haus mit den vielen Fotografien, des-
kennen, voll Verachtung für unsere Auffassungsgabe und sen Wände und Kaminsimse von Rockstars, No-
überzeugt von seiner Fähigkeit, jeden zu besiegen, der belpreisträgern und Adeligen bevölkert waren, gab es kein
sich gegen ihn erheben sollte. Und es stimmt: Lange Zeit Bild der Mrs. Golden, oder wie auch immer sie sich ge-
verstanden wir ihn nicht, und als wir ihn allmählich ver- nannt hatte. Ganz eindeutig, es musste etwas mit Schande
standen, stellten wir uns ihm nicht entgegen, bemühten zu tun haben, und wir tratschten zu unserer Schmach
uns nicht, ihn zu Fall zu bringen. darüber, was das wohl gewesen sein mochte, wir stellten
Er kam wie einer dieser gestürzten europäischen uns das Ausmaß und die Schamlosigkeit ihrer Treulosig-
Monarchen in die Stadt, diese Oberhäupter von abge- keiten vor, beschworen sie als eine höchst wohlgeborene
setzten Häusern, die noch immer die großen Ehrentitel Nymphomanin herauf, deren Sexleben anstößiger war als
als Nachnamen nutzten, von Griechenland, von Jugo- das eines Filmstars, von deren Abschweifungen ein jeder
slawien oder von Italien, und die die düstere Vorsilbe wusste, nur ihr Ehemann nicht, der sie, vor Liebe blind,
Ex- so behandelten, als gäbe es sie nicht. Sein Auftreten weiterhin anbetungsvoll betrachtete, sie für die liebende,
zeigte, er war kein Ex-Irgendwas; er war durch und durch keusche Ehefrau seiner Träume hielt, bis zu dem schreck-
majestätisch, mit seinen steifkragigen Hemden, mit sei- lichen Tag, als seine Freunde ihm die Wahrheit aufdeckten,
nen Manschettenknöpfen, den maßgefertigten englischen sie kamen in Scharen, um sie ihm zu offenbaren, und wie
Schuhen, mit seiner Art, auf geschlossene Türen zuzu- er tobte!, wie er sie beschimpfte!, er nannte sie Lügner
gehen, ohne den Schritt zu verlangsamen, da er wusste, und Verräter, sieben Mann mussten ihn festhalten und da-
sie würden sich für ihn auftun; auch mit seinem miss- ran hindern, denen, die ihn gezwungen hatten, der Realität
trauischen Wesen, das ihn jeden Tag Einzelgespräche ins Gesicht zu sehen, etwas anzutun, und schließlich sah
mit seinen Söhnen führen ließ, um sie zu befragen, was er ihr ins Gesicht, er akzeptierte sie, er verbannte sie aus
ihre Brüder über ihn sagten; und mit seinen Autos, mit seinem Leben und untersagte ihr, jemals wieder ihre Söh-
seinem Gefallen an Spieltischen, seinem unhaltbaren ne anzusehen. Schlampe, sagten wir uns, hielten uns für
Aufschlag beim Tischtennis, seiner Vorliebe für Pros- weltklug, und die Klatschgeschichte stellte uns zufrieden,
tituierte, Whiskey und höllisch scharf gewürzte, gefüllte und wir beließen es dabei, da wir in Wahrheit mehr mit
Eier und mit seinem oft wiederholten Spruch – an dem unseren eigenen Dingen beschäftigt und nur bis zu einem
absolute Herrscher von Caesar bis Haile Selassie Gefallen bestimmten Punkt an den Angelegenheiten des N. J. Gol-
hatten –, die einzige Tugend, die es wert sei, beachtet den interessiert waren. Wir wendeten uns ab und führten
zu werden, sei die Loyalität. Er wechselte oft sein Handy, unser Leben weiter.
gab fast niemandem die Nummer und ging nicht dran, Welch schrecklichen Fehler wir machten. I
ULLSTEIN BILD
„Wundervoll schöne Stunden“
Zeitgeschichte War Hitler in Wahrheit nur ein sexuell verwirrter Serienmörder? Der Psycho-
Experte Volker Elis Pilgrim brüskiert die historische Zunft und weiß alles besser.
D
en Menschen, so sagen Psycholo- diese Aufgabe übernommen, ein psycho- scheidende Szene zeigt den Marsch fran-
gen, interessieren im Grunde nur logisch versierter Experte für steile The- zösischer Truppen durch einen Engpass
zwei Dinge auf dieser Welt: der sen. Der Bestsellerautor („Muttersöhne“, und den Angriff der Tiroler, die oben am
Tod und der Sex. Die Angst vor dem Ende „‚Du kannst mich ruhig ›Frau Hitler‹ nen- Berg schwere Felsbrocken deponiert hat-
und der Geschlechtstrieb sind demnach nen‘“) erforschte Hitlers Sexleben über ten. Marianne Hoppe schreibt:
die stärksten Kräfte überhaupt. Alle ande- mehrere Jahre hinweg und gewann Als die Franzosen kamen, da machten
ren menschlichen Regungen – der Glaube schließlich den Hamburger Osburg Verlag sie die Stricke los, und dann fielen die gan-
oder die Liebe, der Drang zu Geld oder für ein auf vier Bände angelegtes Groß- zen Steine auf die Franzosen herab. Und
Macht – folgen mit weitem Abstand. projekt, dessen erster Teil nun unter dem da, glaube ich, kriegte Hitler eine Art von
Diese Erkenntnis beflügelt Autoren und Titel „Hitler 1 und Hitler 2. Das sexuelle Erregung und hat so die Knie gerieben bei
Buchverlage zu immer neuen Kombinatio- Niemandsland“ erscheint. Das mehr als diesem Ereignis, wie die Steine da runter-
nen dieser beiden Grundmuster des irdi- 900 Seiten starke Werk widmet sich dem rollten auf die Franzosen drauf, und hat
schen Seins. Die Verbindung von Tod und Stoff so gründlich – und den Leser er- gestöhnt. Ich weiß nicht, ob er verrückt
Sex lässt auf viele Leser – und entspre- schöpfend – wie kein anderes je zuvor. war, aber da kriegte er so eine Art von
chend hohe Auflagen – hoffen. Pilgrims Schlüsselszene stammt aus den Orgasmus, sagen wir mal.
Umso erstaunlicher, dass die Person des Memoiren der Schauspielerin Marianne Die Schauspielerin will noch während
Massenmörders Adolf Hitler erst jetzt auf Hoppe. Die von Hitler verehrte Diva be- der Vorführung den Kinoraum verlassen
die Tauglichkeit für ein solches Konstrukt richtet dort über einen Kinoabend in der haben, weil ihr „der Mann unheimlich“ ge-
getestet wird. Volker Elis Pilgrim, 75, hat Berliner Reichskanzlei. Gezeigt wurde der worden sei. Pilgrim entwickelt aus ihrer
Luis-Trenker-Film „Der Rebell“ über den Beobachtung den „Anfangsverdacht“,
Volker Elis Pilgrim: „Hitler 1 und Hitler 2. Das sexuelle Tiroler Volksaufstand gegen Napoleon und „dass es bei Hitler einen Zusammenhang
Niemandsland“. Osburg Verlag; 924 Seiten; 28 Euro. die mit ihm verbündeten Bayern. Die ent- zwischen Sexualität und Gewalt gegeben
118 DER SPIEGEL 36 / 2017
hat, ja noch genauer, dass ihm Gewalt an
Männern und deren Tötung Lust verschaff-
te“. Da die „Lust am Töten“ jedoch das
entscheidende Merkmal von „Serien-
killern“ sei, stelle sich zwangsläufig die
Frage: „War Hitler also ein Serienkiller,
der zum Zwecke seiner Befriedigung mor-
den ließ?“
Ob Hitler wirklich im Kino onaniert hat,
kann Pilgrim gar nicht wissen, die Schau-
spielerin hatte ja nur Bewegungen beob-
achtet und ein Stöhnen gehört. Dennoch
wird bei Pilgrim aus dem „Anfangsver-
dacht“ bald schon Gewissheit. Immer wie-
STAR-MEDIA / INTERTOPICS
der zitiert er nun Hoppes Kinoerlebnis
zum Beweis seiner These, dass tödliche
Gewalt Hitler Lust verschafft habe. Das
Gleiche geschieht mit der Frage, ob Hitler
ein „Serienkiller“ gewesen sei: Das Frage-
zeichen wird wenig später gestrichen und Gastgeber Hitler (l.), Gast Chamberlain (stehend) 1938: „Wenn der wüsste“
die Vermutung zur Tatsachenbehauptung.
Nun kennt die Weltgeschichte leider
eine lange Reihe von Serienmördern, aber
eines unterscheidet sie alle vom „Führer“: zu dokumentieren. Hitlers früher politi- liegen. Also schließt Pilgrim messerscharf:
Jeder Täter hat selbst Hand angelegt, um scher Weggefährte Ernst Hanfstaengl etwa Eine „nackte Beinspreizung“ der üblichen
seine Opfer zu töten (und sich gegebenen- prägte den Begriff vom „sexuellen Nie- Art sei hier unmöglich gewesen, kein klas-
falls zu befriedigen). Pilgrim ficht das nicht mandsland“, in dem sein Freund unter- sischer Beischlaf also. Es folgt eine mehr
an. „Die Spezialität des Serienkillens“, so wegs gewesen sei. Überliefert sind Aus- als 20 Seiten lange, nicht immer nachvoll-
schreibt er, „ist das langsame, ausgeklü- sagen des Hausverwalters auf dem Berghof ziehbare Rekonstruktion mit einem ziem-
gelte, extremquälerische Totmachen.“ Ge- bei Berchtesgaden, der regelmäßig die lich überraschenden Ergebnis: Braun habe
nau das habe Hitler – eben nur mithilfe Bettlaken inspizierte, auf denen Hitler und auf dem Sofa gesessen und Hitler vor ihr
seiner Helfershelfer – praktiziert. seine Partnerin Eva Braun die Nacht ver- auf dem Boden gekniet, dann sei es „oral-
Die „Serienkiller“-These ist für Pilgrim bracht hatten. Verräterische Flecken wur- vaginal“ zum Äußersten gekommen.
deswegen so wichtig, weil er damit so ganz den angeblich nie gefunden. Außerdem litt Eine wirklich mutige Behauptung, zu-
nebenbei auch noch ein Welträtsel gelöst Hitler laut amtsärztlichem Protokoll unter mal sie nur auf der vermuteten Größe
haben will: warum es zum Holocaust kam. einem „rechtsseitigen Kryptorchismus“, eines Sofas und ein paar harmlosen An-
„Hitlers aberative Sexualität“, so behaup- also unter einem sogenannten Hodenhoch- deutungen Eva Brauns beruht. In den fol-
tet der Psycho-Experte, habe den Diktator stand, was zwar nicht zur Impotenz führte, genden zehn Jahren, bis zum Selbstmord
„in die kolossalste Vernichtung“ getrieben, aber ein entspanntes Sexualleben auch im Führerbunker, sei das Paar dann sexuell
„derer sich je ein Mann schuldig gemacht nicht gerade beförderte. Von Hitler selbst untätig gewesen. Eva Braun werden „la-
hat“. stammt das kuriose Bekenntnis, er habe tent lesbische“ Neigungen bescheinigt
Der Holocaust also als millionenfacher „den Drang zum körperlichen Besitz einer (weil sie sich immer nur mit Freundinnen
Serienmord eines Triebtäters? Zu dieser Frau überwunden“, die deutsche Nation umgeben habe), Hitler selbst durfte sich
originellen Erkenntnis ist tatsächlich noch sei seine wahre Braut. als „Serienkiller“ ausleben.
kein Historiker gelangt. Im Gegenteil: Die Nur eine Sexszene lässt Pilgrim gelten. Pilgrim hat sogar eine Erklärung für
Zunft streitet eher darüber, ob Hitler nun Und die erinnert tatsächlich an die Affäre diese besondere sexuelle Disposition des
heterosexuell aktiv oder inaktiv war, nur Bill Clintons mit Monica Lewinsky – aller- Diktators parat. Hitler bestehe in Wahrheit
eine Minderheit hält ihn für homosexuell. dings mit umgekehrten Vorzeichen. Die aus zwei Personen: „Hitler 1“ sei unauf-
Pilgrims ganzer Zorn richtet sich gegen Beleglage ist schmal, umso lebhafter dafür fällig und harmlos gewesen und habe bis
die „Hetero-Mehrheitsfraktion der Hitler- Pilgrims Fantasie. Der Plot geht so: 1918 existiert. Dann, nach seiner Verwun-
Biografik“, die vergebens zu belegen ver- In ihren Tagebuchfragmenten notierte dung im Gaskrieg, habe sich im Lazarett
suche, dass Hitler ein „phallisch-vaginal Eva Braun für den März 1935 „ein paar ein „medizinischer Supergau“ ereignet.
penetrativ-friktiv agierender Frauenlieb- wundervoll schöne Stunden“ mit Hitler Durch einen Kunstfehler der Militärpsy-
haber gewesen“ sei. in dessen Wohnung am Münchner Prinz- chiater sei „Hitlers bisher verdrängtes
Pilgrim liebt solche Wortungeheuer, regentenplatz. Ein paar Jahre später, am Serienkiller-Potenzial aus Versehen gezün-
scheut aber auch vor ordinären Zuspitzun- 30. September 1938, war nun der britische det worden“. Damit war nun, angeblich,
gen nicht zurück („Der ‚Führer‘ war kein Premier Neville Chamberlain am Rande „Hitler 2“ geboren. Was genau damals
‚Ficker‘“), um seine manchmal gewiss der Münchner Konferenz dort zu Gast. geschah, wird der Experte allerdings erst
ermüdeten Leser vor dem Einnicken zu Eva Braun, so berichtete eine Freundin, später verraten.
bewahren. Hauptgegenstand seiner Em- soll danach spöttisch gesagt haben: „Wenn Sorgen muss man sich deswegen um Pil-
pörung ist die Hitler-Biografie von Volker der wüsste, welche Geschichte dieses Sofa grims Verleger machen, den Hamburger
Ullrich, die einige Argumente für eine hat.“ Wolf-Rüdiger Osburg. Wenn sein – mit Ver-
gelebte Sexualität des Diktators aufführt. Für Pilgrim ein klarer Beweis: Da, auf laub – etwas größenwahnsinniger Autor
Das darf Pilgrim nicht gelten lassen, sonst diesem Sofa, war was zwischen Adolf und wirklich noch drei weitere Bände über die
wäre seine Serienkiller-Theorie obsolet. Eva. Aber was genau? Die Ausmaße dieses Serienkiller-Psyche Adolf Hitlers veröffent-
Also präsentiert der Autor Beleg für Be- Sitzmöbels seien bekannt, nur eine kleine lichen will, steht sein Kleinverlag vor einer
leg, um Hitlers heterosexuelle Abstinenz Frau könne dort mit angezogenen Beinen großen Herausforderung. Martin Doerry
E
in warmer Abend in wirkt er belehrend, mal sar-
Berlin, eine Terrasse. kastisch bis zynisch.
Liao Yiwu stellt eine Immer wieder polemi-
Schale mit Trauben auf siert Ai gegen eine ver-
den Tisch, schenkt Tee ein meintliche Verherrlichung
und erzählt von seiner un- Liu Xiaobos durch dessen
geheuren Wut. Sie hat zu Anhänger, spottet über des-
tun mit Ai Weiwei, dem an- sen „Apotheose“ – ausge-
deren großen Exilchinesen rechnet er, den seine eige-
in Deutschland. nen Fans auf Twitter als
Liao, 59, ist ein be- „Ai Shen“, als „Gott Ai“
wunderter, mit wichtigen verehren.
Preisen ausgezeichneter Follower, die ihm nun
Schriftsteller. Ai, 60, ist ein aber kritisch antworten
Weltstar unter den Künst- oder sich einfach über seine
lern, ein Liebling auch des Ausfälle wundern, nennt
großen Publikums. Ihr An- Ai „Lügner“, „Schildkrö-
sehen, ihre Vergangenheit ten“ oder, wie den Exil-
könnte sie verbinden, doch schriftsteller Yu Jie, einen
das Gegenteil ist der Fall. „Trottel, der gepanschten
Ihr Verhältnis wird nicht Alkohol verkauft“.
mehr zu retten sein, und Inzwischen fordern sogar
niemand kann wissen, wel- Leute, die Ai vor Jahren
che Folgen diese Spannun- nach dessen eigener Verhaf-
gen noch haben. tung wegen eines angeb-
Der Anlass ist heikel, lichen Steuervergehens un-
vor allem aber tragisch und terstützt hatten, ihr damals
nicht verwunden. Vor we- gespendetes Geld zurück.
nigen Wochen starb ihr Seine Reputation sei „abge-
CHAD BATKA / NYT / REDUX / LAIF
gieren. Es sei lächerlich zu sagen, er habe hinter entdeckt, hängt vor allem mit China An das Aufwachsen in der Verbannung,
schlecht über Liu Xiaobo gesprochen, Liu und mit dortigen Deutungs- und Rang- an das Gefühl, ein Ausgestoßener zu
sei ein alter Freund gewesen, ein Bruder. kämpfen zusammen. Solche Äußerungen sein.
Liu hätte nicht verurteilt werden dürfen. haben ja außerdem eine echte Wirkung Buergel sagt aber ebenso, der heutige
Er verteidigt aber den Tweet, in dem er auf die Regimegegner dort: Jede Polemik Ai sei ein Zerrissener, er wolle vieles hin-
schrieb, dass Liu im Krankenhaus bis zu- verstärkt das Gefühl der Uneinigkeit, nährt ter sich lassen, er wolle nicht als weiterer
letzt in guter Stimmung zu sein schien und die Unsicherheit. Dissidentenmythos dienen. Gleichzeitig
seine Frau, die bei ihm sein durfte, ebenso. Der in Peking lebende Dissident Hu Jia mische er sich über Twitter fast „Trump-
Ai erwähnt auch Lius Haftbedingungen, sagt, man könne davon ausgehen, dass sich mäßig“ in das ein, was diskutiert werde,
die offenbar besser waren und dann komme durchaus
als die für andere. Natür- auch Unsinn heraus. Es sei
lich sei das eine List der Re- wichtig, dem Künstler das
gierung gewesen, denn es vorzuhalten, er jedenfalls
sollte bemerkt werden, sei jemand, der durchaus
dass er gut behandelt wer- mit ihm streite.
de. Er denke aber, sagt Ai, Und nun?
Liu habe diese Privilegien Lenken die im Westen
teilweise für sich akzeptiert. produzierten Nebengeräu-
Liao Yiwu dagegen sche nicht auch von den
spricht von einem Märty- wichtigsten Fragen ab?
rertod. Doch die Exilanten spre-
Vielleicht will Ai wirk- chen es jeweils selbst an –
lich nur klarmachen, dass dass da noch viele in den
Liu Xiaobo, um den sich Gefängnissen sind, dass
viele Menschen weltweit dort „unvorstellbare“ Be-
bemühten, deshalb eine dingungen herrschten. Das
Ausnahme war. Seine Mei- wird immer seltener er-
nung ist diese: Wenn man wähnt, je reicher und ein-
Rechte für politische Ge- flussreicher China wird.
fangene einfordere, sollte Aber welche Diskussion
man das grundsätzlicher ist die angemessenere: die
tun und nicht nur sagen, allumfassende über das
lasst ihn frei wegen seiner System und die Zustände –
Krankheit oder weil er oder die über einzelne
Nobelpreisträger ist. Opfer?
Auch auf Liao Yiwu Freunde und Menschen-
kommt er zu sprechen, und rechtler hoffen darauf,
er stellt die Qualität der dass Liu Xiaobos Witwe
Freundschaft mit dem weg- eine neue Freiheit erleben
gesperrten Liu infrage, Ai darf. Die Künstlerin Liu
betont an dieser Stelle, Liu Xia hat sich nie auch nur
KAI MÜLLER / DER SPIEGEL
M
enschen sind fehlbare Wesen. Sie lügen und be- vertrauen, der unseren Stand der Technik nur ein kleines
trügen, sie stehlen und morden. Und solange nie- Stück weiterdreht und auf diese Weise ein glaubwürdiges
mand davon erfährt, haben sie ganz gute Chan- Szenario entwickelt.
cen, ungestraft davonzukommen. Doch wie würden sie Wenn der Zuschauer Bailey zuhört, ist er hin- und her-
sich verhalten, wenn es in ihrer Welt keinen toten Winkel gerissen. Wir haben es selbst erlebt, wie befriedigend es
mehr gäbe? Wenn nichts verborgen bliebe, weil Kameras ist, wenn ein paar junge Männer, die auf einem U-Bahnhof
sie auf Schritt und Tritt überwachten? einen Obdachlosen angezündet haben, durch Bilder einer
In seinem Roman „The Circle“ erzählt der amerikani- Überwachungskamera identifiziert werden können. Aber
sche Autor Dave Eggers vom Leben unter den Augen wie verändert sich unser Leben, wenn der öffentliche
eines Gottes, den die Menschen selbst erschaffen haben Raum lückenlos observiert wird?
und der alles sieht. Der vor vier Jahren erschienene Best- Das Problem des Films ist, dass sich der Messias Bailey
seller entwirft die Vision eines modernen Überwachungs- in den weit aufgerissenen Augen von Mae spiegelt. Sie ist
staates. Der Regisseur James Ponsoldt hat das Buch nun eine vom Glanz der Firma geblendete Jüngerin, lange ohne
verfilmt. Ahnung von den Schattenseiten. Die Hauptfigur eines
Films kann stark sein oder schwach, mutig
oder feige, gut oder böse. Dumm sollte sie
nicht sein.
Schon bei Eggers’ Roman konnte der Leser
angesichts der erstaunlich naiven Heldin, die
alles immer nur „faszinierend“ und „inspirie-
rend“ findet, das Gefühl haben, sein Gehirn
werde in einen viel zu kleinen Schädel ge-
presst.
Weil Regisseur Ponsoldt den Zuschauer
ständig durch Maes Augen sehen lässt, wirkt
der ganze Film über weite Strecken leicht be-
griffsstutzig. „The Circle“ ist schon fast zur
Hälfte vorbei, da wird der Heldin erst klar,
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bergauf. In der Miniserie „Les cœurs brûlés“ (1992) lockte „Lotte in Weimar“ (1975),
Darc bis zu zehn Millionen Franzosen vor den Fernseher, „Die Leiden des jungen Wer-
und ab 2003 trat sie mit Delon in der Krimiserie „Frank thers“ (1976) –, die Verarbei-
Riva“ auf. Darc drehte Fernsehreportagen und schrieb tung aktueller Stoffe erregte
mehrere Bücher. Zuletzt erschien „Une femme libre“, eine jedoch immer wieder Missfal-
freie Frau. Mireille Darc starb am 28. August in Paris. ks len. Günther verließ die DDR
DER SPIEGEL 36 / 2017 125
Kontrollverlust
Der Satz, der untrennbar mit
Taylor Swift, 27, verbunden ist,
stammt nicht aus einem ihrer
Lieder. Er lautet: „I would very
much like to be excluded from
this narrative“, und lässt sich in
etwa so übersetzen: „Ich würde
es sehr begrüßen, wenn ich in
dieser Geschichte nicht weiter
auftauchen würde.“ Die Sänge-
rin, Multimillionärin und Meiste-
rin der Selbstinszenierung hatte
ihn im vorigen Jahr inmitten ih-
rer Fehde mit Kanye West und
Kim Kardashian auf Instagram
gepostet. Swift zitiert ihn selbst-
ironisch am Ende des Videos zu
ihrer neuen Single „Look What
You Made Me Do“, das vor
einer Woche erschienen ist und
seitdem alle Rekorde gebrochen
hat. Und nun hat Swift erneut
das Problem, nicht kontrollieren
zu können, in welchen Kontex-
ten sie auftaucht: Breitbart, die
rechtspopulistische Nachrichten-
Website von Stephen Bannon,
twitterte begeistert Zeilen ihres
Liedes. Andrew Anglin, Grün-
der der rechtsradikalen Internet-
seite „The Daily Stormer“, hatte
Swift bereits vor einiger Zeit als
„arische Göttin“ bezeichnet. Im
Internet kursieren Versuche, den
Sex und Vernunft seln. Ihre Sex-Partei, die 7500 setzt und als Prostituierte ge-
Die australische Politikerin Mitglieder hatte und im Bun- arbeitet. Ihre Geschichte da-
und einstige Sexarbeiterin desstaat Victoria aktiv war, zu klingt abenteuerlich: Sie
Fiona Patten, 53, benennt ihre gründete sie aus Frustration. habe als Gesundheitsakti-
Partei um: Sie meldete die Patten ärgerte sich über den vistin Kondome in einem Bor-
2009 gegründete Australian politischen Umgang mit The- dell verteilt. Dort sei sehr
Sex Party ab und ließ die men wie Gleichstellung, Ho- viel los gewesen. Patten: „Und
WILLIAM WEST / AFP / GETTY IMAGES
Reason Party registrieren. mo-Ehe oder staatliche Zen- dann hieß es: ‚O Mann, die-
Patten hofft, mit der neuen sur: „Die Gesellschaft beweg- ser eine Typ wartet schon irre
Vernunft-Partei mehr Wäh- te sich in die eine Richtung, lange.‘ Also sagte ich: ‚Okay,
ler zu mobilisieren und die Politik in die andere.“ Bis den übernehme ich.‘“ Inner-
von der Lokalpolitik weg- dahin hatte sie sich für die halb der ersten Woche nach
zukommen. Sie möchte ins Belange von kleinen Betrie- Gründung traten der Reason
australische Parlament wech- ben der Pornoindustrie einge- Party 250 Menschen bei. ks
DPA
und versuchen, wie auch immer damit fer- Diesmal richtig. Groß genug und gleich in
tigzuwerden. Eine Problematik, die auch Tatort der Schleyer-Entführung 1977 Sperenberg. Mit ausreichend vielen Start-
unseren Kindern und Enkeln noch zu und Landebahnen, die rund um die Uhr
schaffen machen wird. Als Rettungssanitäter war ich vor Ort, als genutzt werden können. Den BER-Torso
Detlef von Seggern, Pforzheim Alfred Herrhausen ermordet worden war. fürderhin als Regierungs- und Verwaltungs-
Gerade arbeite ich diese traumatischen Er- flughafen nutzen. Zur Mahnung an jeden
Es ist schon empörend und ein Hohn ge- lebnisse auf. Für die Eskalation von Gewalt Funktionsträger unserer Republik, Selber-
genüber den Opfern und deren Angehö- jeglicher Art gibt es keine Entschuldigung. bauenwollen in Zukunft tunlichst sein zu
rigen, einem Mörder eine derartige Bühne Torsten Hein-Zinn, Biebesheim am Rhein (Hessen) lassen. Dann hat das vergrabene Geld we-
zu geben. Einem Mörder, der nicht im nigstens noch heilsame Wirkung.
Geringsten erkennen lässt, wie er seine Das „Gespräch“ mit Herrn Boock hat mich Michael Jeinsen, Berlin
Schuld wiedergutzumachen gedenkt, und tief getroffen. Sie führen ein Interview mit
der sich lieber in Selbstmitleid ergeht. einem Mörder, der geradezu technokra- Solch eine herausragende Journalistenarbeit
Dr. Michael Graw, Lübeck tisch die Morde an Schleyer et cetera be- möchte man sich auch zu den Sanierungs-
schreibt. Das unglaubliche Leid, das er und arbeiten der Kölner Oper wünschen.
Herr Boock sollte einfach nur schweigen, seine Gesinnungsgenossen verschuldet ha- Horst Weinen, Köln
die Tatbeschreibungen interessieren nie- ben, wird kaum thematisiert.
manden mehr. Für Schleyer, Buback, Pon- Gerold Korte, Nordhorn Einst ist es von den Briten zur Warnung
to, Rohwedder, Herrhausen, die vielen jun- vor minderwertiger Ware aus Deutschland
gen Polizisten und Fahrer würde ich gern Ein Requiem erdacht worden, ab jetzt können wir das
antworten: Es ist scheiße, vor 40 Jahren Gütesiegel „made in Germany“ unseren
gestorben zu sein. Nr. 34/2017 Wie aus dem Projekt des Berliner Denkenden und Lenkenden als weltweit
Flughafens BER ein deutsches Debakel wurde
Rüdiger Kreusch-Brinker, Melle (Nieders.) anerkannte Warnung auf die Stirne kleben.
Was für ein Horror – danke für diesen pe- Uwe Engelage, Renningen (Bad.-Württ.)
„Die Bundesregierung erließ fragwürdige nibel recherchierten Bericht! Nur neben-
Antiterrorgesetze“? Im Zusammenhang bei: Gab es auf der ummittelbaren Füh- Was in dem Artikel viel zu kurz gekom-
mit dem Schleyer-Attentat haben weder rungsebene je auch nur eine einzige Frau? men ist, ist die Rolle der jeweiligen Bun-
die damalige Bundesregierung noch wir in Dr. Karin Varchmin-Schultheiß, Dortmund desregierung, die ja auch finanziell betei-
den Beschlusslagen entgegen manchen ligt war. Wir haben in wenigen Wochen
Wünschen die Verfassung auch nur ein ein- Aus meiner Erfahrung als Bauleiter hilft Bundestagswahl, aber der BER ist über-
ziges Mal angetastet. Das sogenannte Kon- bei derart verfahrenen Projekten nur eins: haupt kein Thema. Da fehlt mir ein großes
taktsperre-Gesetz, das Sie möglicherweise der Abbruch der mangelhaften Bauteile „J’accuse“ Ihrerseits!
meinen, wurde vom Bundestag beschlos- und der komplette Neubeginn mit einer Rolf Klotzbucher, Braunschweig
sen, nachdem der nordrhein-westfälische anderen Mannschaft, ohne irgendwelche
Justizminister Diether Posser für unsere Schuldzuweisungen und Bestrafungen! In Wer schützt uns vor diesen skrupellosen,
Landesregierung eine gesetzliche Regelung der Regel ist dies im Nachhinein die bil- unfähigen Menschen, die ihre Macht miss-
gefordert hatte. Die war notwendig gewor- ligste Lösung, so schmerzhaft die Entschei- brauchen? Sollen wir AfD und Konsorten
den, um die Gefangenen, die freigepresst dung auch sein mag. wählen? Wir Berliner und unsere Nachkom-
werden sollten, daran zu hindern, durch Andreas Pfaffinger, Kufstein (Österreich) men tragen gemeinsam die schwere finan-
illegale Kassiber ein gemeinsames Aus- zielle Bürde BER bis ans Ende unserer Tage,
reisezielland zu verabreden. Das hätte die Deutschland war mal weltweit geachtet während auf die vielen Verantwortlichen
Verhandlungsmöglichkeiten der Bundes- für drei Dinge: Fußball, Autos, Ingenieurs- dicke Abfindungen und Pensionen warten.
regierung zum Nachteil der Rettung kunst. Dem „Sommermärchen“ 2006 wur- Helga Kohlrusch, Berlin
Schleyers dramatisch verkürzt. Es ist be- de wohl nachgeholfen. Beim Dieselskandal
merkenswert, dass die RAF angesichts der haben Regierungen mitgeholfen durch Anfang des 20. Jahrhunderts wurden höchst
zahlreichen von ihr schon begangenen Mor- Wegsehen. Ein technisches Großprojekt komplizierte Projekte wie die Zeche Zoll-
de eine Verhandlungsmöglichkeit mit der kann durch zu viel Politik zerstört werden. verein Schacht 12 in Essen oder die Hütten-
Bundesregierung politisch für möglich hielt. Was bleibt jetzt noch übrig von der BRD werke in Duisburg und Völklingen in weni-
Dr. Burkhard Hirsch, Düsseldorf, Bundestagsvizepräsident (Bananen-Republik Deutschland)? ger als einem Viertel der Zeit errichtet.
a. D., 1975 bis 1980 Innenminister von Nordrhein-Westfalen Volker Ollesch, Ahaus (NRW) Rolf Kreibich, Berlin
Als Projektleiter kann ich bestätigen, dass Populismus in der Köderdose Ihr Artikel projiziert den Istzustand in die
die Anzahl der Auftraggeber, die sich nicht Zukunft und verweist auf den dann anfal-
so verhalten, wie Sie es beschreiben, gering Nr. 34/2017 AfD-Chefin Frauke Petry kündigt im lenden Energieverbrauch, ohne Verbesse-
SPIEGEL-Gespräch an, schärfer gegen Rechtsextreme
ist. Entweder ist das Projekt im Budget- rungen bei Elektroautos und der Energie-
in den eigenen Reihen vorgehen zu wollen
und Zeitrahmen: „Dann können wir doch versorgung einzuberechnen. Was ist denn
dies und das noch zusätzlich machen.“ Frau Petry gebärdet sich wie alle Populis- Ihre Alternative? Diesel und Benzin?
Oder das Projekt dauert länger als geplant: ten: Auf kritische Fragen reagiert sie be- Dr. Alexander von Witzleben, Brüssel (Belgien)
„Dann können wir in der Zeit doch noch leidigt, eigene grenzüberschreitende Aus-
dies und das zusätzlich machen.“ Bei der sagen verdreht sie bei Nachfragen. Das Bei einem weiteren Ausbau der alternati-
Größe des Flughafens und der Hybris der Foto – Petry gewohnt adrett in hellblauer ven Energien wird in etwa acht Jahren die
Politik sind die Auswirkungen dieses Ver- Bluse vor braunem Hintergrund – passt Strommenge für alle 48 Millionen Autos
haltens jedoch exponentiell schlimmer. sehr hübsch dazu. zur Verfügung stehen. Da durch den tech-
Kay Schulz, Trier Cornelia Plach, Saarbrücken nischen Fortschritt und den Wegfall der
Herstellung von 48 Milliarden Liter Benzin
Solange die beteiligten Politiker nicht per- Was soll denn mit diesem aggressiven In- und Diesel der Stromverbrauch sinkt, wird
sönlich für ihr Fehlverhalten zur Verant- terview bewirkt werden? Den angestammt sich diese Zeitspanne noch verkürzen.
wortung gezogen werden können, wird es Rechten wird dies Wasser auf die Mühlen Dr. Jörg Hocke, Wiesbaden
Debakel dieser Größenordnung geben. gießen, und manchen altdemokratischen
Fritz Winkelbauer, Stadtbergen (Bayern) Leser könnten die zu persönlichen Angrif-
fe abstoßen. Die Diskussion über Petrys
Moralinsaure Neider Patchworkfamilie mit neun Kindern halte
ich für entbehrlich.
Nr. 34/2017 Die Russlandjobs von Altkanzler Schröder Peter Wiessner, Feldkirchen-Westerham (Bayern)
bringen SPD-Chef Schulz in Bedrängnis
Ich verstehe nicht, warum sich halb Trotz der rhetorischen Versiertheit Frauke
Zitate
Die „Frankfurter Allgemeine“ zur
Aus dem „Usinger Anzeiger“ SPIEGEL-Meldung „Stolz auf Schröder“
(Nr. 35/2017):