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Plenarprotokoll 16/52

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

52. Sitzung

Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Inhalt:

Absetzung des Tagesordnungspunktes 28 . . . 5053 A Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 5069 A


Dagmar Wöhrl, Parl. Staats-
Tagesordnungspunkt 22: sekretärin BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5070 C
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5071 D
SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN: Annahme einer Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . 5073 B
Vereinbarung zwischen dem Deutschen Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5073 D
Bundestag und der Bundesregierung über
die Zusammenarbeit in Angelegenheiten Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . 5075 B
der Europäischen Union
Drucksache 16/2620) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Maurer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 5075 D
5053 B
Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . . 5053 B Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5076 B
Markus Löning (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5055 A
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 5077 C
Michael Stübgen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5055 D
Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 5079 C
Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 5057 D
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 5079 D
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5059 B Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 5080 A
Günter Gloser, Staatsminister AA . . . . . . . . . 5061 A Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/
Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . 5062 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5082 B
Peter Hintze, Parl. Staatssekretär Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5083 B
BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5063 D Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 5084 A
Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . . 5065 C
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . 5066 C
Tagesordnungspunkt 24:
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 5066 D
Erste Beratung des von der Bundesregierung
Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 5067 B eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Vertragsarztrechts und an-
Tagesordnungspunkt 23: derer Gesetze (Vertragsarztrechtsände-
rungsgesetz – VÄndG)
Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Eva (Drucksache 16/2474) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5085 B
Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Marion Caspers-Merk, Parl. Staats-
sekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5085 C
Energiepreiskontrolle sicherstellen
(Drucksache 16/2505) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5068 D Dr. Konrad Schily (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 5086 B
II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU) . . . . . . . . 5087 A kommunaler Gesellschaften transparent


gestalten
Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 5088 C (Drucksache 16/395) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5097 C
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ Dr. Max Stadler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5097 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5089 B
Eike Hovermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5090 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5098 D

Tagesordnungspunkt 25: Anlage 1


Bericht des Ausschusses für Bildung, For- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 5099 A
schung und Technikfolgenabschätzung gemäß
§ 56 a der Geschäftsordnung: Technikfolgen-
Anlage 2
abschätzung (TA) – TA-Projekt: Zukunfts-
trends im Tourismus Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
(Drucksache 16/478) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5090 D des Antrags: Eckpunkte für eine gerechte Re-
form der Erbschaft- und Schenkungsteuer
Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5091 A (Tagesordnungspunkt 26) . . . . . . . . . . . . . . . . 5099 D
Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5092 C Christian Freiherr von Stetten
Renate Gradistanac (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5094 A (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5099 D

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 5095 C Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5100 C

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ Carl-Ludwig Thiele (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 5101 B


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5096 B Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 5102 A
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/
Tagesordnungspunkt 26: DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5102 D

Antrag der Abgeordneten Christine Scheel,


Birgitt Bender, Ekin Deligöz, weiterer Abge- Anlage 3
ordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
SES 90/DIE GRÜNEN: Eckpunkte für eine des Antrags: Gegen Geheimniskrämerei –
gerechte Reform der Erbschaft- und Entscheidungen kommunaler Gesellschaften
Schenkungsteuer transparent gestalten
(Drucksache 16/2076) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5097 A (Tagesordnungspunkt 27) . . . . . . . . . . . . . . . . 5103 C
Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5103 D
Tagesordnungspunkt 27: Klaus Uwe Benneter (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 5104 D
Antrag der Abgeordneten Gisela Piltz, Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 5105 C
Dr. Max Stadler, Patrick Döring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ge- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
gen Geheimniskrämerei – Entscheidungen DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5106 B
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5053

(A) (C)

Redetext

52. Sitzung

Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Beginn: 11.00 Uhr

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: weniger um rein organisatorische und technische Fragen
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die der europapolitischen Kooperation zwischen Parlament
Sitzung ist eröffnet. und Regierung. Vielmehr wagen wir mit dieser Verein-
barung mehr Parlamentarismus und Demokratie. Der
Interfraktionell ist vereinbart worden, Punkt 28 – Be- Bundestag kann zukünftig das Gesicht Europas stärker
ratung des Antrags der Fraktion Die Linke mit dem Titel gestalten als jemals zuvor. Diese Vereinbarung ist längst
„Für die unbeschränkte Geltung der Menschenrechte in überfällig.
Deutschland“ – von der Tagesordnung abzusetzen. Sind
Sie mit dieser Vereinbarung einverstanden? – Ich höre (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Wir alle, die sich mit Europa beschäftigen, spüren:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Die Idee eines vereinigten Europas hat in den vergan-
(B) CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des genen Jahren an Strahlkraft verloren, und zwar nicht nur (D)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN bei den Bürgerinnen und Bürgern, den Medien und vie-
len Organisationen, sondern auch bei uns: In allen Frak-
Annahme einer Vereinbarung zwischen dem tionen ist das Unbehagen gegenüber der europäischen
Deutschen Bundestag und der Bundesregie- Integration gewachsen. Viele von uns schimpfen über
rung über die Zusammenarbeit in Angelegen- den Bürokratiekoloss in Brüssel. Nicht wenige schütteln
heiten der Europäischen Union den Kopf über die vermeintlich weltfremde europäische
– Drucksache 16/2620 – Gesetzgebungsmaschinerie. Immer mehr Kolleginnen
und Kollegen bedauern den sinkenden Einfluss nationa-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für len Handelns. Viele sehen keine Spielräume mehr für ei-
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich gene Akzente und Ideen, wenn es gilt, Richtlinien in na-
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. tionales Recht umzusetzen. In den Augen einiger von
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen uns ist die EU nur noch ein Büttel der Globalisierung
Michael Roth, SPD-Fraktion, das Wort. und nicht mehr das Instrument, um Globalisierung de-
mokratisch und sozial zu gestalten.
Michael Roth (Heringen) (SPD): Das ist eine ziemlich deprimierende Zustandsbe-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schreibung. Ich halte diese Beschreibung aber für falsch.
Man ist ja fast versucht, jeden der anwesenden Kollegen Auch wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind
per Handschlag und mit Namen zu begrüßen. Europa. Wir sind Teil der europäischen Gesetzgebung.
Wir vertreten die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: die auch Bürgerinnen und Bürger der Europäischen
Das geht dann aber von Ihrer Redezeit ab. Union sind. Auch wir tragen in hohem Maße für dieses
Europa Verantwortung. Daher müssen wir Europa parla-
mentarisieren. Wir müssen unser Parlament europäisie-
Michael Roth (Heringen) (SPD):
ren.
Deswegen erspare ich mir das, Herr Präsident. – Ich
glaube nicht, dass dies der Bedeutung der heutigen De- Auf diesem Weg sind wir mit der Vereinbarung ge-
batte gerecht wird. Bundestag und Bundesregierung meinsam einen großen Schritt vorangekommen.
schließen heute nämlich eine Vereinbarung über die Zu-
sammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
Union, wie es etwas nüchtern heißt. Es geht dabei jedoch FDP)
5054 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Michael Roth (Heringen)


(A) Auch das ist im parlamentarischen Alltag selten. Aber es zu nehmen versuchen? Kann man von Blockaden spre- (C)
ist folgerichtig. Wenn Parlamentsrechte unmittelbar be- chen, wenn Abgeordnete die Europapolitik des Bundes
rührt sind, dann sollten die traditionellen Linien zwi- auf ein breiteres Fundament stellen? Parlamente sind
schen der Opposition einerseits und der Koalitionsmehr- kein überflüssiges Beiwerk, kein Sahnehäubchen, son-
heit andererseits verschwimmen. dern das Fundament unserer Demokratie.
Ich danke daher ausdrücklich den Kollegen Rainder Die Beratungen über die Dienstleistungsrichtlinie zei-
Steenblock, Markus Löning, Alexander Ulrich, Thomas gen auf eindrucksvolle Weise, wie frühzeitige und um-
Silberhorn, Michael Stübgen und Axel Schäfer. Ich fassende Mitwirkung von Abgeordneten zu besserer
danke auch den Vertretern der Bundesregierung, Staats- Rechtsetzung führen kann. Lassen wir diesem Beispiel
minister Günter Gloser und Staatssekretär Peter Hintze, weitere folgen!
die für die Bundesregierung die Verhandlungen führten.
Bei ihnen hat man das parlamentarische Herz noch sehr (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
stark schlagen gehört; auch das hat sicherlich zum Erfolg bei Abgeordneten der FDP und des BÜND-
der Beratungen beigetragen. NISSES 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Wir übernehmen zukünftig verstärkt Verantwortung,
FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Das dürfen liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Schutzbehauptung
Sie jetzt nicht so betonen, sonst kriegen sie einzelner von uns, man habe nichts gewusst und nichts
dort Probleme!) gehört, gilt nicht länger. Diese Verantwortung verpflich-
tet uns zu größerem Einsatz, größerer Aufmerksamkeit,
Dank gilt aber auch unseren Mitarbeiterinnen und Mitar- größerer Sorgfalt und größerer Wertschätzung gegenüber
beitern, die im Hintergrund engagiert und hoch kompe- den Europapolitikerinnen und -politikern im ganzen
tent zum Erfolg beitrugen. Hause.
Der europäische Gesetzgebungsprozess ist bislang Europa darf auch nicht länger nur Angelegenheit der
stark von der Exekutive geprägt; im Rat sitzen Ministe- Mitglieder des Europaausschusses sein. Wir brauchen
rinnen und Minister. Unser Auftrag ist es, innerstaatlich den Sachverstand aller Fachpolitikerinnen und -politi-
deren Handeln zu kontrollieren und Einfluss auf die Ge- ker. Außerdem müssen dieser Vereinbarung weitere
setzgebung zu nehmen. Zukünftig werden die Informa- Schritte folgen: mehr europapolitische Kompetenz in der
tionsrechte des Bundestages erheblich ausgeweitet. Bundestagsverwaltung und in unseren Fraktionen, Än-
Alle Bundestagsabgeordneten haben Zugang zu allen derungen der Geschäftsordnung, die die Zusammenar-
Dokumenten und Berichten der EU-Kommission, des beit zwischen Fachausschüssen und EU-Ausschuss ver-
Rates und der Bundesregierung. Endlich befinden wir bindlicher regeln, sowie ein Verbindungsbüro des (D)
(B)
uns mit dem Bundesrat auf einer Augenhöhe. Die im Bundestages in Brüssel, nicht in Konkurrenz, sondern in
Verhältnis zum Bundestag bedenklich starke Position der Partnerschaft zu unserer ständigen Vertretung der Bun-
Länderregierungen, zugrunde gelegt im Art. 23 Grund- desrepublik. Dies sollten wir selbstbewusst nach außen
gesetz, war, ist und bleibt für uns ein Ärgernis. Daran hat vertreten; schließlich folgen wir damit dem Beispiel fast
auch die Föderalismusreform substanziell nicht viel ge- aller nationalen Parlamente in der Europäischen Union.
ändert.
Wir brauchen eine noch engere Kooperation mit
(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Leider, leider!) dem Europäischen Parlament in der Gesetzgebung.
Im Bereich der originären Bundeszuständigkeiten Wir alle wissen, wie schwierig es ist, einen kontinuierli-
– Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Handelspoli- chen Kontakt zu unseren Kolleginnen und Kollegen im
tik – verfügen wir zukünftig über mehr Informationsrechte Europäischen Parlament zu halten. Dennoch ist dies not-
als der Bundesrat. Stellungnahmen des Bundestages wer- wendig, um die Rechtsetzung zu verbessern. Außerdem
den verbindliche Grundlage für die Verhandlungen der brauchen wir hier im Bundestag regelmäßigere Plenar-
Bundesregierung im Rat. Abweichen kann die Bundes- debatten zu aktuellen europapolitischen Projekten.
regierung nur dann, wenn sie es mit außen- oder integra- Wir brauchen schlussendlich eine EU-Verfassung.
tionspolitischen Gründen zu rechtfertigen vermag. Die Wir brauchen eine europäische Verfassung, weil sie Eu-
Bundesregierung ist verpflichtet, Rechenschaft gegen- ropa handlungsfähiger und demokratischer macht und
über dem Bundestag abzulegen. Bei grundlegenden eu- weil sie den nationalen Parlamenten weitere Mitwir-
ropäischen Weichenstellungen – Eröffnung von Bei- kungsrechte eröffnet.
trittsverhandlungen, Vertragsänderungsverfahren – muss
sich die Bundesregierung um ein Einvernehmen mit dem Niemand von uns sollte sich der Illusion hingeben,
Bundestag bemühen. dass auf einen Schlag alles besser wird. Aber es gilt nun
die großartige Chance zu nutzen, die uns die zur Diskus-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gefällt nicht al- sion stehende Vereinbarung eröffnet. Auch wenn es
len. Einige Kommentatoren sprechen von neuer Blo- heute nicht danach aussehen mag – wir beraten ja in
ckade in der Europapolitik. Ein vermessener Vorwurf! überschaubarer Runde –, könnte diese Vereinbarung
Kann man von Blockaden sprechen, wenn der Bundes- durchaus einen bedeutenden Platz im Geschichtsbuch
tag zu einer besseren Gesetzgebung beizutragen ver- des Parlamentarismus in Europa finden. Allein, es liegt
sucht? Kann man von Blockaden sprechen, wenn wir in unserer Hand.
nicht erst bei der Umsetzung von Richtlinien in nationa-
les Recht, sondern schon bei deren Erarbeitung Einfluss Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5055
Michael Roth (Heringen)
(A) (Beifall im ganzen Hause) Die große Chance der Vereinbarung besteht in zwei (C)
Dingen. Zum einen wird das Demokratiedefizit in Eu-
ropa ein Stück weit abgebaut. Wir haben immer beklagt,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
dass Europa zu undemokratisch ist und dass die Parla-
Ich erteile das Wort Kollegen Markus Löning, FDP- mentarier zu wenige Mitspracherechte haben. Das än-
Fraktion. dern wir mit dieser Vereinbarung. Die Parlamentarier
können wieder mitreden, und zwar dann, wenn sie die
Markus Löning (FDP): Entscheidungen noch beeinflussen können.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zum anderen versetzt uns die Vereinbarung in die
Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir als ersten Satz Lage – das halte ich für fast noch wichtiger –, Debatten
aufgeschrieben – so ähnlich hat es auch der Kollege in Europa, die bislang mehr oder weniger unter Aus-
Roth gerade formuliert –: Das wurde Zeit. Seit 1993 schluss der nationalen Öffentlichkeit geführt werden, in
existiert eine solche Vereinbarung zwischen Bundesrat den Fokus der nationalen Öffentlichkeit zu rücken. Wir
und Bundesregierung. Zwar möchte ich mich dem be- können Europaangelegenheiten im Deutschen Bundes-
rechtigten Lob meiner Vorredner aus vollem Herzen an- tag thematisieren und so die Aufmerksamkeit der deut-
schließen und hinzufügen, dass wir, die Opposition, von schen Bürger und der deutschen Medien darauf lenken.
den Koalitionsfraktionen und den Mitgliedern der Bun- Wir können hier Europaangelegenheiten, über die bis-
desregierung, die das verhandelt haben, sehr fair behan- lang in Brüssel hinter verschlossenen Türen beraten
delt wurden. Dafür gebührt ihnen unser Dank, insbeson- wurde, thematisieren, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu
dere den Herren mit den zwei Herzen in der Brust, Herrn dem wir noch Einfluss ausüben können.
Gloser und Herrn Hintze.
Wir tragen eine große Verantwortung, das auch zu
(Beifall im ganzen Hause) tun. Nur wenn für die Bürger deutlich wird, dass wir zu
einem Zeitpunkt mitreden können, zu dem noch ein Ein-
Dennoch möchte ich kritisch fragen – diese Frage greifen möglich ist, werden wir in der Lage sein, die Eu-
stellt sich für mich leicht, weil ich dem Bundestag erst ropamüdigkeit der Bürger zu bekämpfen und den Bür-
seit 2002 angehöre –, was mit den Kollegen eigentlich gern zu zeigen, dass man bei Europa mitreden kann.
los gewesen ist, die seit 1993 dabei sind und die gewusst Man kann es vielleicht auf folgenden Nenner bringen: Es
haben, dass der Bundesrat und die Bundesregierung eine wird unsere Aufgabe sein, anhand dieser Vereinbarung
solche Vereinbarung beschlossen haben. Welches Selbst- in den nächsten Jahren das Raumschiff Brüssel dazu zu
verständnis hatte der Deutsche Bundestag in den letzten bringen, öfter hier in Berlin auf dem harten Boden der
Realität zu landen und sich hier mit den Tatsachen vor
(B) Jahren? Wir, die Abgeordneten, sollten uns also nicht (D)
nur lobend äußern, sondern auch deutlich machen, dass Ort auseinander zu setzen. Ich glaube, das ist eine nicht
so etwas nicht wieder passieren darf. Der Bundestag zu unterschätzende Aufgabe, die in den nächsten Jahren
braucht in Zukunft deutlich mehr Selbstbewusstsein. auf uns zukommt.
Das ist auch das richtige Stichwort im Hinblick auf diese
Vielen Dank.
Vereinbarung.
(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei
In der Substanz stimmen wir alle der Vereinbarung Abgeordneten der LINKEN und des BÜND-
zu. Nun muss diese Vereinbarung aber auch umgesetzt NISSES 90/DIE GRÜNEN)
werden. Dabei wird es verstärkt darauf ankommen, dass
nicht nur wir als Fachabgeordnete, die Europapolitiker,
uns damit beschäftigen, sondern dass auch in den Fach- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
bereichen und den Fachausschüssen – egal ob es nun die Ich erteile das Wort Kollegen Michael Stübgen, CDU/
Bereiche Arbeit, Inneres, Justiz oder Finanzen sind; ich CSU-Fraktion.
begrüße es deshalb außerordentlich, dass die Bundesre- (Beifall bei der CDU/CSU)
gierung mit einer ganzen Reihe von Fachministern ver-
treten ist – an den europapolitischen Vorlagen zu einem
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Zeitpunkt gearbeitet wird, zu dem wir noch Einfluss
nehmen können. Wir müssen unsere Arbeitsweise um- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
strukturieren und früher in die Prozesse eingreifen. Ich Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann mit
appelliere insbesondere an die Koalitionsabgeordneten: Blick auf die nicht übermäßige Präsenz vielleicht auch
Haben Sie die Traute, der Bundesregierung zu sagen, in formulieren, dass unsere Kolleginnen und Kollegen, die
welche Richtung sie marschieren soll! Es wird darauf jetzt nicht hier sind, ein derartig fundamentales Ver-
ankommen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den trauen in uns haben, dass sie wissen, dass wir das ver-
Koalitionsfraktionen, dass Sie der Bundesregierung ge- nünftig und richtig hinbekommen, und sie sich den
gebenenfalls die Leviten lesen und sagen: Wir, die Parla- wichtigen tagespolitischen Aktivitäten widmen können.
mentarier, bestehen darauf, dass es behandelt wird und (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dass ein bestimmter Beschluss gefasst wird. – Sie kön- NEN]: Nein, die sind auf dem Weg nach
nen sich darauf verlassen, dass wir, die Opposition, das Hause! Es ist Freitag!)
auf jeden Fall machen werden.
Wenn wir diese Zusammenarbeitsvereinbarung, über
(Beifall bei der FDP) die wir jetzt beraten und die Gegenstand unseres Antrags
5056 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Michael Stübgen
(A) ist, verabschieden und wenn sie in Kraft tritt, ist das eine ist wichtig, dass wir uns auch in diesem Fall umfassend (C)
entscheidende Wegmarke in einem ungefähr 15 Jahre informieren können.
währenden Prozess. Wir haben in Deutschland und in Eu-
Es wird in einem zweiten Kernbereich eine entschei-
ropa mit der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages
dende Weichenstellung geben. Es geht um unsere Mit-
1992 endgültig die Wende von Außenpolitik in Europa zu
wirkungsrechte. Jeder weiß, dass in Art. 23 Grundge-
europäischer Innenpolitik eingeleitet. Während des Zeit-
setz Mitwirkungsrechte für den Deutschen Bundestag
raums der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages hat
definiert sind. Jeder von uns weiß auch, wie sie in den
sich der Bundesrat richtigerweise – darauf ist schon hin-
letzten 15 Jahren angewandt oder eher nicht angewandt
gewiesen worden – umfassende Informations- und Mit-
worden sind. Wir schaffen mit dieser Vereinbarung nun
wirkungsrechte bei der europäischen Rechtsetzung
Kernbereiche, in denen der Deutsche Bundestag stärker
gesichert. Der Bundestag hat sich damals bei der Ratifi-
als bisher und eindeutiger als bisher bei der europäischen
zierung des Maastrichter Vertrages – ich war damals nicht
Rechtsetzung mitwirken kann. Ich will kurz auf drei
nur dabei, sondern auch Berichterstatter – deutlich weni-
Kernbereiche eingehen.
ger Informationsrechte und faktisch keine Mitwirkungs-
rechte gesichert. Wenn der Deutsche Bundestag in Zukunft nach
Art. 23 des Grundgesetzes einen Beschluss zu einem
Man könnte lange darüber spekulieren, warum das so europäischen Rechtsetzungsvorhaben fasst, dann wird
ist und warum es fast 15 Jahre gedauert hat, bis wir eine dieser Beschluss von der Bundesregierung nicht nur zu
Zusammenarbeitsvereinbarung, die der des Bundesrates berücksichtigen sein, wie das bisher der Fall ist, sondern
gleichwertig ist, abschließen konnten. Auf jeden Fall dieser Beschluss wird für die Bundesregierung eine ver-
war es so, dass dieses Thema in den Ausschüssen des bindliche Grundlage für ihre Verhandlungen bei den eu-
Bundestages immer wieder beraten worden ist. Das ge- ropäischen Räten sein. Wir führen in diesem Zusammen-
schah aber nach dem klassischen Schnittmuster, das wir hang ein neues Instrument ein, das auf unsere
bei vielen wichtigen Themen kennen. So haben SPD- Beschlussfassung folgt. Wenn die Bundesregierung bei
Fraktion und Grüne dieses Thema immer wieder aufge- ihren Beratungen in den europäischen Räten die wesent-
griffen, aber sie haben 1999 gänzlich den Mut verloren, lichen Grundlagen unseres Beschlusses nicht umsetzen
nachdrückliche Forderungen zu stellen. Ich muss zuge- kann, was natürlich vorkommen kann, dann wird sie ei-
ben, dass auch CDU/CSU und FDP diesen Mut, etwas nen Parlamentsvorbehalt einlegen und sich bemühen,
zu fordern, erst 1999 gewonnen haben. Es ist nun einmal vor der endgültigen Beschlussfassung im Europäischen
einfacher, aus der Opposition heraus Forderungen zu Rat Einvernehmen mit dem Bundestag herzustellen. Das
stellen, als wenn man Verantwortung in der Regierungs- heißt, wir werden in jedem Fall die Möglichkeit haben,
koalition trägt. Ich sage das deshalb, weil ich unterstrei- uns mit den neuen Rahmenbedingungen hier im Bundes-
(B) chen möchte, von welch besonderer Bedeutung die Tat- (D)
tag zu befassen und uns eine eigene Meinung zu bilden.
sache ist, dass dieser Zusammenarbeitsvereinbarung, die
wir heute beschließen, von allen Fraktionen dieses Hau- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
ses zugestimmt worden ist. Ich glaube, das ist ganz ent- bei Abgeordneten der FDP und des BÜND-
scheidend für die Qualität dieser Vereinbarung. NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Bei einem anderen Schwerpunkt geht es um, wie ich
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der es nenne, politisch schwerwiegende Rechtsetzungsvor-
FDP) haben der Europäischen Union. Ein Beispiel ist die so
Wir werden mit dieser Vereinbarung neue Wege in genannte Passerelle. Das heißt, der Europäische Rat
der Europapolitik und der Befassung mit Europapolitik kann einstimmig beschließen, dass in bestimmten Poli-
in diesem Bundestag gehen. Wir werden in Zukunft ein tikbereichen der Europäischen Union nicht mehr Ein-
allumfassendes Informationsrecht für alle europäi- stimmigkeit erforderlich ist, sondern die Mehrheitsent-
schen Belange haben. Wir werden alle Dokumente und scheidung genügt. Solche Entscheidungen sind politisch
Berichte der Gemeinschaftsorgane, der Kommission und deutlich brisanter, als auch ich mir das vor 15 Jahren
ihrer Dienststellen, des Rates und seiner Arbeitsgruppen, noch vorgestellt habe, als dieses Verfahren eingeführt
und auch die Dokumente der ständigen Vertretung in wurde. Es geht dabei nämlich darum, dass die Bundesre-
publik Deutschland die Möglichkeit verliert, und zwar
Brüssel zu allen europäischen Aktivitäten bekommen.
endgültig, in diesen Politikbereichen durch ein Veto ir-
Wir werden sie sehr frühzeitig bekommen, nämlich nach
gendeine europäische Rechtsetzung, die dann ja auch für
spätestens zehn Tagen. Sofern es sich um Rechtset-
Deutschland verbindlich ist, aufzuhalten.
zungsakte handelt – das ist ein Punkt, der mir bei den
Verhandlungen besonders wichtig war –, werden wir in- Die Bundesregierung hatte auf der Grundlage der alten
nerhalb dieser zehn Tage von der Bundesregierung eine Zusammenarbeitsvereinbarung bisher die Auffassung,
umfassende Folgenabschätzung, eine Prüfung der dass es für diese Vorhaben keine besondere Information
Rechtsgrundlage und eine Subsidiaritätsprüfung bekom- des Bundestages und auch kein Mitentscheidungsrecht
men. Das ist deshalb wichtig, weil wir im Gegensatz des Bundestages gebe, weil nämlich alle diese Möglich-
zum Bundesrat nicht die Expertise haben, das alles in keiten schon bei der Ratifizierung von europäischen Ver-
unserem Haus mit unseren Referenten und Ausschuss- trägen ziemlich genau festgelegt worden seien, allerdings
sekretariaten prüfen zu können. Wir werden in Zukunft pauschal. Wir legen in dieser Vereinbarung nun fest, dass
die Möglichkeit haben, auf die Expertise der Bundesre- es sich dann, wenn solche Vorhaben beraten werden, um
gierung und ihrer Europaexperten zurückzugreifen. Es Vorhaben im Sinne dieser Vereinbarung handelt. Das
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5057
Michael Stübgen
(A) heißt, wir werden allumfassende Informationsrechte und schen Gremien schon längst umgesetzt worden war. (C)
die vollen Mitwirkungsrechte haben. Es wird eine öffent- Trotzdem wurde darüber beraten und man musste sich in-
liche Debatte dazu geben, sodass auch die Bürger von tensiv damit beschäftigen. Zum Schluss konnte man nur
solch entscheidenden Vorhaben mehr erfahren. noch mutig „Kenntnisnahme“ empfehlen. Diese frustrie-
renden Erlebnisse werden der Vergangenheit angehören.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei
Abgeordneten der FDP und der LINKEN) Wir sind jetzt in der Lage, uns bei Rechtsetzungsvor-
haben zu einem sehr frühen Zeitpunkt in die Beratungen
In einem weiteren Bereich geht es darum, dass die
einzumischen. Wir werden in der Lage sein, europäische
Europäische Union bestimmte Beschlüsse fasst, der Eu-
Rechtsetzung mitzugestalten. Wir müssen dies aber auch
ropäische Rat zum Beispiel Beitrittsverhandlungen mit
tun.
einem assoziierten Land oder Vertragsveränderungs-
verhandlungen aufnimmt. Wir alle wissen, dass eine (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
solche Entscheidung im Vorhinein viel wichtiger ist als NEN]: Eben!)
letztlich die Ratifizierung, bei der wir nur noch Ja oder
Nein sagen können und faktisch – jedenfalls in der Ko- Wenn wir uns in Zukunft nicht bewegen, wird sich auch
alition – eigentlich gar nicht mehr Nein sagen können. in der Art und Weise der Behandlung der Europapolitik
Entscheidend ist, dass wir vor solchen Beschlüssen da- nichts ändern.
mit befasst werden. Das heißt, diese Zusammenarbeitsvereinbarung gibt
Hierzu wird geregelt, dass die Bundesregierung in uns die Möglichkeit, Europapolitik mitzugestalten. Un-
Zukunft vor Beginn von Beitritts- oder Vertragsverände- sere Aufgabe ist es, dies dann auch zu tun. Wir werden
rungsverhandlungen versucht, Einvernehmen mit dem also in Zukunft hoffentlich die Lust haben, europäische
Bundestag herzustellen. Auch hierzu werden wir eine Politik direkt mitzugestalten. Wir werden aber auch die
öffentliche Debatte haben. Hierüber können wir uns Last haben, dass sich das Ausmaß des Aufwands von je-
ebenfalls eine Meinung bilden. Sowohl die Bundesregie- dem Einzelnen von uns für die Beschäftigung mit euro-
rung als auch wir werden der Öffentlichkeit gegenüber päischer Politik massiv ausweiten wird.
Rechenschaft darüber ablegen müssen und können, wa- Danke schön.
rum wir uns für oder gegen solche Entscheidungen aus-
sprechen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Diese Zusammenarbeitsvereinbarung wird fundamen-
tale Auswirkungen auf unsere tägliche Arbeit, auf die
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Arbeit eines jeden Kollegen haben. Es wird sich zum
(B)
Beispiel die Menge an Informationen, die uns zur Ver- Nun hat Kollege Alexander Ulrich, Fraktion Die (D)
fügung stehen, sehr stark verändern. Wir werden in Zu- Linke, das Wort.
kunft eine Informationsflut bekommen, die mir manch- (Beifall bei der LINKEN)
mal schon Angst macht. Vor allen Dingen wird für uns
wichtig sein, dass wir in der Lage sind, die wirklich Alexander Ulrich (DIE LINKE):
wichtigen und entscheidenden Informationen rechtzeitig
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
herauszufiltern und mit ihnen zu arbeiten, um Einfluss
Meine Vorredner haben darauf hingewiesen, dass die
auf die europäische Rechtsetzung nehmen zu können.
Anwesenheit der Abgeordneten bei diesem doch wichti-
Ich sage es unumwunden: Wir brauchen, und zwar gen Thema sehr bescheiden ist. Es steckt vielleicht auch
möglichst bald, eine Datenbank für diese Informatio- eine gewisse Symbolik dahinter, dass mehr Zuschauer,
nen. Ich weiß, der Bundesrat hat viele Jahre an solch ei- die ich ganz herzlich begrüße, als Abgeordnete da sind.
ner Datenbank gearbeitet. Es handelt sich dabei auch um Es zeigt nämlich, dass scheinbar die Menschen in die-
ein sehr komplexes und kompliziertes Verfahren. Ich sem Land mehr Interesse an Europa haben, als der Bun-
will dazu nur sagen: Ich wünsche mir, dass wir es schaf- destag bisher an den Tag gelegt hat. Das zeigt mir aber
fen, gemeinsam mit dem Bundesrat kollegial solch eine auch – Herr Löning, auch Sie haben das ja kritisiert –,
Datenbank zu nutzen. Symbolisch ist das auch sehr ver- warum es so lange gedauert hat, bis es zu dieser Verein-
nünftig, weil wir beide ja die Verfassungsorgane sind, barung gekommen ist.
die über europäische Rechtsetzung mitentscheiden kön-
(Markus Löning [FDP]: Weil wir beide nicht
nen.
dabei waren!)
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
– Wir beide waren nicht dabei; da gebe ich Ihnen Recht. –
NEN]: Und es wäre besser, das nicht Parlakom
Es ist aber auch wichtig, festzuhalten, dass mit dieser
zu überlassen!)
Vereinbarung, die wir heute verabschieden, der Aufruf
Es wird aber auch etwas Positives passieren. Ich an uns alle ergeht, sie mit Leben zu erfüllen. Wir haben
glaube, fast jeder von Ihnen hat schon das frustrierende monatelang um diesen interfraktionellen Antrag gerun-
Erlebnis gehabt, dass man Berichterstatter für einen gen, über ihn verhandelt und auch gestritten. Es kommt
Richtlinienvorschlag der Europäischen Union geworden jetzt wirklich darauf an, wie die einzelnen Abgeordneten
ist, sich dann intensiv damit beschäftigte, aber dann, diese erweiterten Rechte des Bundestages wahrneh-
wenn man aufs Datum schaute, oft merkte, dass die men. Nur dann, wenn das geschieht, entfaltet diese Ver-
Richtlinie zwei bis drei Jahre alt war und in den europäi- einbarung eine langfristige Wirkung.
5058 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Alexander Ulrich
(A) Wir von der Fraktion Die Linke begrüßen die vorlie- gebung und er wird bei Entscheidungen von grundlegen- (C)
gende Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesre- der Bedeutung stärker einbezogen.
gierung zur Verbesserung der Europatauglichkeit dieses
Hauses. Es gibt jedoch – das ist angemerkt worden – be- Die Bundesregierung ist nun verpflichtet, sich vor der
reits seit 1993 eine ähnliche Vereinbarung zwischen Bun- Eröffnung von Vertragsänderungsverfahren oder Beitrit-
desregierung und Länderregierungen. Der 15. Deutsche ten um Einvernehmen mit dem Parlament zu bemühen.
Bundestag hatte bereits ein verstärktes Mitwirkungsrecht Auch wenn ich nicht glaube, dass die Regierungsfraktio-
in EU-Angelegenheiten angemahnt. Wahrscheinlich nen ihre erweiterten Rechte immer und tatsächlich nut-
musste jedoch erst die Linke in den Bundestag einziehen zen werden, wird sich die Fraktion Die Linke auch wei-
– das ist jetzt etwas scherzhaft gemeint –, um den not- terhin aktiv in die Gestaltung der Europapolitik
wendigen Rückenwind für das Gelingen dieser Vereinba- einbringen.
rung zu geben. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Um die Vorfeldbeobachtung in Brüssel zu gewährleis-
Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE ten, wird eine Vertretung des Bundestages in Brüssel
GRÜNEN]: Den Scherz haben Sie jetzt aber errichtet. Jede Fraktion wird Beschäftigte nach Brüssel
auch selber gemerkt! – Volker Kauder [CDU/ entsenden. Vielen Dank auch an die Haushälter für die
CSU]: Was trübt sich beim Kranken? A) der zusätzlichen finanziellen Mittel!
Urin, b) die Gedanken!)
Verglichen mit anderen Mitgliedstaaten reagiert
Es ist gut, dass es in den Verhandlungen nicht um Par- Deutschland auf die enorme Wichtigkeit der Europapoli-
tei- und Fraktionsinteressen ging, sondern uns die tik aber sehr spät. Wir gehören zu den Nachzüglern:
Rechte des Bundestages so wichtig waren, dass ein inter- Großbritannien, Schweden und Finnland verfügen be-
fraktionelles Handeln möglich wurde. reits seit Jahren über gut ausgebaute, effektive Struktu-
Die Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesre- ren in Brüssel. Ich möchte hier nur Dänemark erwähnen.
gierung ist ein zentraler Baustein für eine stärkere Einbe- Dort wurden die Beteiligungsrechte des Parlaments be-
ziehung des Bundestages in Fragen der Europapolitik. reits 1973 im Gesetz über den Beitritt zur EWG nieder-
Der Auftrag des Grundgesetzes, das gesetzgeberische gelegt. Die Union der 25 – bald 27 – Mitgliedstaaten
Handeln der Bundesregierung im Europäischen Rat zu muss handlungsfähig bleiben. Die Entfremdung der Bür-
legitimieren, soll damit weitaus besser als bisher abgesi- gerinnen und Bürger von Europa ist groß. Das zeigt sich
chert werden. nicht nur in der Ablehnung des Verfassungsvertrages in
Frankreich und den Niederlanden.
(B) Es geht nicht darum – darin sind sich alle Fraktionen (D)
einig –, neue Blockaden in der Europapolitik zu errich- Fakt ist, Europa geht in die falsche Richtung: weniger
ten. Vielmehr geht es darum, die Europapolitik des Bun- friedlich, weniger sozial und ohne grundlegende Demo-
des auf eine breitere Grundlage zu stellen und innerstaat- kratisierung. Mehr als 60 Prozent der Gesetzesinitiativen
lich zu einer besseren Gesetzgebung der Europäischen haben ihren Ursprung in Brüssel. Dem deutschen Bürger
Union beizutragen. verbleiben maximal 40 Prozent an demokratischer Ein-
flussnahme. Das Bundesverfassungsgericht hat in sei-
Was ist das Neue an der Vereinbarung? Die Informa- ner berühmten Maastrichtentscheidung die besondere
tionsrechte des Bundestages werden erheblich ausge- Bedeutung der Parlamente der Mitgliedstaaten für die
weitet, das heißt, die bisherige Informationspraxis wird demokratische Legitimation europäischer Politik hervor-
um schriftliche Berichte, Bewertungen und Folgenab- gehoben – ich zitiere –:
schätzungen ergänzt. Darüber hinaus geht eine Initiative
der Europäischen Kommission in dieselbe Richtung. Die Nimmt ein Verbund demokratischer Staaten hoheit-
nationalen Parlamente sollen und müssen stärker in die liche Aufgaben wahr und übt dazu hoheitliche Be-
Konzipierung und Durchführung der EU-Politik einge- fugnisse aus, sind es zuvörderst die Staatsvölker der
bunden werden. Mitgliedstaaten, die dies über die nationalen Parla-
mente demokratisch zu legitimieren haben.
(Beifall bei der LINKEN)
Dem wird der Bundestag bisher nicht gerecht. Vielmehr
Diese Einbeziehung des Bundestages ist wichtig und ein werden die Bürgerinnen und Bürger systematisch ent-
Fortschritt, gerade in Anbetracht der deutschen Ratsprä- mündigt und sie büßen politische Macht und Möglich-
sidentschaft, die auch eine Präsidentschaft des Bundes- keiten ein.
tags sein sollte.
Gerade die sozialen Bedürfnisse der europäischen
Neu ist außerdem, dass die Stellungnahmen, die das Bevölkerung werden ständig ignoriert. Als Beispiel
Parlament gemäß Art. 23 Grundgesetz abgeben kann, nenne ich bloß die Dienstleistungsrichtlinie, die dem So-
verbindliche Grundlage für die Verhandlungen der Bun- zialdumping Tür und Tor öffnen wird. Im Europa der 25
desregierung im Europäischen Rat sein werden. Die hat sich ein dramatisches Gefälle im Wohlstands- und
Bundesregierung darf nur aus wichtigen außen- oder in- wirtschaftlichen Entwicklungsniveau abgezeichnet. Ge-
tegrationspolitischen Gründen von den Stellungnahmen rade einmal die Hälfte der neuen Mitgliedstaaten erzielt
abweichen. Der Bundestag wird somit zu einem neuen, ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von mehr als 50 Pro-
besseren politischen Akteur in der europäischen Gesetz- zent des EU-15-Durchschnitts.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5059
Alexander Ulrich
(A) (Markus Löning [FDP]: Aber die holen kräftig Parlament gegen die Exekutive erkämpft hat, zu feiern? (C)
auf!) Das ist selten; ich weiß nicht, wie oft das in den letzten
20 bis 30 Jahren vorgekommen ist.
Von einer Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen
auf europäischer Ebene ist man, vom derzeitigen Stand Man kann die vorliegende Vereinbarung sicherlich
aus gesehen, sehr weit entfernt. Für die Bürgerinnen und nicht hoch genug einschätzen. Sie ist ein Lehrstück da-
Bürger existiert sie praktisch nicht. Die EU braucht eine für, wie man demokratische Errungenschaften wie die
demokratische und handlungsfähige Struktur, das bedeu- Entscheidungs-, Beteiligungs- und Informationsrechte
tet, sie braucht nicht mehr undurchschaubare bürokrati- für die vom Volk direkt gewählten Abgeordneten veran-
sche Prozesse, sondern transparente, für jeden Bürger kern kann. Allerdings muss man ehrlicherweise zuge-
nachvollziehbare Entscheidungen. ben, dass diese Vereinbarung nicht nur aus der Kraft des
Parlaments geboren wurde. Sie ist auch das Ergebnis ei-
Neben der verbesserten Beteiligung des Bundestages
ner historischen Konstellation, bei der alle Fraktionen
müssen wir bei wichtigen europäischen Fragen aber
sehr entschieden und engagiert in die gleiche Richtung
auch die Bevölkerung einbeziehen.
gearbeitet haben.
(Beifall bei der LINKEN)
Wie gesagt, die Situation, um zu dieser Vereinbarung
Wir müssen beim Thema Europa mehr direkte Demokra- zu kommen, war günstig: Die Unionsfraktion hatte sich,
tie wagen und die Bevölkerung zum Beispiel über eine als sie noch in der Opposition war, in dieser Frage mit ei-
veränderte EU-Verfassung in einer Volksabstimmung nem Papier ausgesprochen weit aus dem Fenster gelehnt;
entscheiden lassen. das hätte sie in der Regierungsverantwortung nie ge-
macht. Auch nach den Neuwahlen – die Entscheidung
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. des damaligen Kanzlers für Neuwahlen haben wir nicht
Markus Löning [FDP])
unbedingt begrüßt – war den vier Mitgliedern des Euro-
Ich begrüße ausdrücklich, dass heute in der „Financial paausschusses, die an diesem Papier mitgearbeitet hatten
Times Deutschland“ steht: Merkel offen für geänderten und die dann in die Regierung wechselten, dieses Papier
EU-Vertrag. Ich wünsche mir, dass auch die anderen noch im Kopf. Diese Situation mussten wir nutzen und
Fraktionen im Europaausschuss sagen: Dieser EU-Ver- wir haben sie genutzt. Dafür möchte ich mich bei den
trag muss geändert werden; er muss dem Volk in einer ehemaligen Mitgliedern des Europaausschusses und jet-
Volksabstimmung vorgelegt werden. zigen Regierungsmitgliedern Günter Gloser, Peter
Altmaier, Peter Hintze und Gerd Müller bedanken.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) Wir, die Linke, fordern, die Politik der geschlossenen und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (D)
Türen zu beenden. Wer die europäische Krise beenden CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)
will, muss die Angst vor den Bürgerinnen und Bürgern
ablegen. Wir brauchen ein europäisches Bewusstsein Nach meiner anderthalbjährigen Mitarbeit in der Fö-
bei den Bürgerinnen und Bürgern. deralismuskommission und nach meiner Mitarbeit an
dieser Vereinbarung weiß ich, wie schwer es ist, Rechte
Einen ersten kleinen Schritt in diese Richtung geht von Volksvertretern zu verankern, und wie weit wir
der Deutsche Bundestag mit der heute zu beschließenden
schon auf dem Weg in eine Exekutivrepublik sind, in
Vereinbarung. Dies ist übrigens die erste und bisher ein-
der es Parlamentarier schwer haben, auf Augenhöhe mit
zige interfraktionelle parlamentarische Initiative in die- der Regierung zu sein.
ser Legislaturperiode. Wir begrüßen diese Vereinbarung
ausdrücklich und bedanken uns für die konstruktive Zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sammenarbeit mit den beteiligten Kolleginnen und Kol- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
legen aus den Fraktionen, in der Bundesregierung und SPD, der FDP und der LINKEN)
aus der Verwaltung.
Lassen Sie uns diesen Erfolg als Beispiel dafür nehmen,
Vielen Dank. wie wir unsere Rechte als Parlamentarier einfordern
können. Denn wir sind es, die vor den Bürgerinnen und
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Bürgern für die getroffenen Entscheidungen gerade zu
neten der CDU/CSU, der SPD und des BÜND-
stehen haben.
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Eine Bemerkung zur Ausstattung der Abgeordne-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ten, über die wir in letzter Zeit häufig diskutiert haben.
Ich erteile das Wort Kollegen Rainder Steenblock, Angesichts unserer Arbeit, die wir zu leisten haben, und
Bündnis 90/Die Grünen. angesichts der Informationspflichten, die durch diese
Vereinbarung neu auf uns zukommen, müssen wir eine
andere Mitarbeiterstruktur haben, um entscheidungsfä-
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
hig zu sein.
NEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Deshalb finde ich es richtig, wenn sich ein Parlament aus
Heute ist ein guter Tag für die Demokratie in Deutsch- seiner Verantwortung heraus, begründete Entscheidun-
land. Denn wann haben wir in diesem Hohen Hause gen zu fällen, die aufgrund von Sachkompetenz zustande
schon einmal die Gelegenheit, neue Rechte, die sich das kommen, in der Öffentlichkeit auch in diesen Fragen
5060 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Rainder Steenblock
(A) stark macht und sagt: Wir sind es, die hier die Entschei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
dungen fällen und die Regierung kontrollieren. Lassen sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
Sie uns da weitermachen! SPD, der FDP und der LINKEN)
(Beifall im ganzen Hause) Der vierte Punkt ist ein technischer, den wir klären
müssen. Ziel ist – das begrüße ich sehr –, dass in der
Die Einzelheiten der von uns getroffenen Vereinba- konkreten Arbeit in den Fachausschüssen mehr über
rung will ich, da Sie diese schon von meinen vier Vor- Europa und europäische Vorhaben diskutiert wird. Wir
rednern gehört haben, nicht ein fünftes Mal erwähnen. müssen sehen, wie wir in den Fachausschüssen vorgehen
Ich möchte vielmehr an fünf Punkten deutlich machen, – in einigen Ausschüssen gibt es schon Unterausschüsse
was wir jetzt tun müssen, um diese Vereinbarung mit Le- zu europarechtlichen Fragen; ob das immer das beste
ben zu erfüllen. Medium ist, um diese Fragen im Ausschuss zu behan-
Der erste Punkt ist: Wir müssen die Debattenkultur deln, müssen die Fachausschüsse sicherlich selber ent-
europäisieren. Die Europäische Union legt jedes Jahr im scheiden; es ist auch darüber nachzudenken, ob feste
Frühjahr ein Strategieprogramm vor, in dem die langfris- Tagesordnungspunkte zu europarechtlichen Fragen fest-
tigen Strategien der Europäischen Union aufgezeigt wer- gelegt werden –, um das, was wir hier erreicht haben,
den. Ich bin sehr dafür, dass dieses Strategieprogramm nicht versickern zu lassen. Denn das Schlimmste, was
eine Grundlage unserer europapolitischen Arbeit wird passieren kann, ist – einige Kollegen haben das schon
und wir jedes Jahr im Frühjahr, wenn dieses Strate- angesprochen –, dass wir zwar jetzt Rechte haben, wir
gieprogramm der Europäischen Union veröffentlicht aber nach einem Jahr oder nach zwei Jahren, wenn ein
wird, im Deutschen Bundestag eine Debatte dazu führen, kluger Journalist recherchiert haben wird, wie wir diese
damit es nicht untergeht, sondern in den politischen wahrgenommen haben, aufgrund dieser öffentlichen Re-
Raum der nationalen Parlamente gehoben wird. Das cherchen feststellen müssen, dass wir von unseren Rech-
halte ich für ein wichtiges Moment, um handlungsfähig ten zu wenig Gebrauch gemacht haben.
zu werden. Deshalb stehen wir in der Verpflichtung, die Europa-
arbeit insbesondere in die Ausschussarbeit zu implemen-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tieren. Wir müssen dabei die Arbeit des Europaausschus-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
ses als Koordinationsgremium und die konkrete Arbeit
SPD, der FDP und der LINKEN)
in den Fachausschüssen neu justieren. Das ist ein ganz
Der zweite Punkt betrifft das Legislativprogramm. praktischer Ansatz. Ich glaube, wenn wir keine gute
Das Legislativprogramm, also die Gesetzgebungsvorha- Konstellation zwischen den Ausschüssen hinbekommen,
(B) ben der Europäischen Union, wird, ohne dass viele Fach- sondern Hakeleien einbauen, dann werden wir es eher (D)
kollegen es merken – das ist kein Vorwurf; ich kenne die mit Konkurrenzsituationen zu tun haben, als dass wir in
Arbeit in den Fachausschüssen gerade im Verkehrsbe- der Sache vorankommen.
reich und im Finanzbereich aus eigener Erfahrung; ich
Ein letzter Punkt; er ist vom Praktischen her der wich-
weiß, wie man da mit Papier zugeschüttet wird –, immer
tigste. Wir müssen unsere Bundestagsverwaltung in die
im Spätherbst veröffentlicht. Ich bin sehr dafür, dass wir
Lage versetzen, dass sie uns in die Lage versetzt, ver-
dieses Legislativprogramm ernsthaft durch alle Aus-
nünftige Arbeit zu machen.
schüsse jagen und sich die Fachleute aller Ausschüsse zu
diesem Legislativprogramm der Europäischen Union Es wurden bereits viele Vorarbeiten geleistet, an de-
verhalten müssen, um dann nicht hinterher sagen zu kön- nen auch die Fraktionen beteiligt waren. Herr Vizepräsi-
nen: Wir haben diese Vorlagen viel zu spät erhalten. Wir dent, Sie haben in Ihrer Zeit als Bundestagspräsident im
müssen uns selber disziplinieren, diese Vorlagen ernst Rahmen der Strukturierung der neuen Europaabteilung
nehmen und rechtzeitig darüber diskutieren. viele Erfahrungen gemacht. Dieses Vorhaben begleiten
Sie auch weiterhin.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Ich möchte mich an dieser Stelle sehr deutlich für
SPD, der FDP und der LINKEN) eine möglichst wenig ausdifferenzierte Verwaltungs-
struktur aussprechen. Es sollte vermieden werden – das
Der dritte Punkt, den ich vorschlagen möchte und der möchte ich deutlich sagen –, dass einzelne Einheiten der
im Rahmen der Verhandlungen zwischen den Fraktionen Verwaltung gegeneinander arbeiten können. Das ist zwar
schon zur Diskussion gestellt worden ist, ist die Einfüh- kein großes, öffentliches Thema, aber eine Verwaltungs-
rung einer Europafragestunde. Das heißt, in bestimm- struktur, die mit internen Abgrenzungsproblemen oder
ten Abständen, zum Beispiel jedes Vierteljahr, soll die Kompetenzrangeleien beschäftigt ist, kann uns in unse-
Regierung der Bundesrepublik Deutschland ganz kon- rer Arbeit sehr stark behindern. In diesem Zusammen-
zentriert zu europapolitischen Fragen befragt werden. hang ist auch die Integration des Brüsseler Büros ein
Ich glaube, das wäre eine Möglichkeit, die europapoliti- wichtiger Punkt.
schen Themen besser in unsere Arbeit zu integrieren und
mit der Bundesregierung ad hoc in einen Dialog zu tre- Ich sage das zum Abschluss, weil ich den Verhand-
ten. Der dritte Vorschlag, eine Europafragestunde einzu- lungsprozess mit Herzblut begleitet habe und davon
führen, ist gut praktikabel. Diesen Vorschlag sollten wir überzeugt bin, dass wir hierbei vorankommen müssen.
zur Erhöhung unseres eigenen Informationsstandes ver- Dieser Deutsche Bundestag hat diese Vereinbarung mei-
nünftigerweise rasch umsetzen. ner Ansicht nach verdient, weil hier hoch kompetente
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5061
Rainder Steenblock
(A) Leute sitzen, die darauf warten, an die entscheidenden nicht manchmal die falschen Botschaften gesetzt haben, (C)
Schalthebel zu kommen, die inzwischen immer häufiger ob wir nicht manche Gesetzgebungsinitiative durch eine
auf europäischer Ebene angesiedelt sind. oft sehr eingeschränkte Wahrnehmung diskreditiert ha-
ben. Ich glaube, hier müssen wir behutsam vorgehen,
Solange das Europäische Parlament nicht die Mög-
wenn wir einen offenen Diskurs mit der Bevölkerung
lichkeit hat, die demokratische Kontrolle in Gänze zu
wollen.
realisieren – wir Grünen haben das immer gefordert –, so
lange müssen die nationalen Parlamente sehr viel mehr Dieses neue, wenn auch häufig kritische Interesse
Arbeit übernehmen. Ich hoffe, dass wir das zusammen der Bürger ist gut für die Europäische Union; denn es
hinbekommen. erzeugt einen Rechtfertigungsdruck, dem sich die Or-
Diese Vereinbarung ist ein guter Ansatz zur Stärkung gane der Europäischen Union, aber auch wir, die Regie-
von Parlamentsrechten und zur Stärkung der europäi- rung und das Parlament, stellen müssen. Wir müssen
schen Arbeit. Dieser Deutsche Bundestag kann dadurch rechtfertigen, warum wir einen Rechtsakt auf europäi-
in Bezug auf die Lösung seiner Aufgaben zukunftsfähi- scher Ebene für notwendig halten. Wir müssen erklären,
ger werden. Ich wünsche uns allen viel Erfolg dabei. was das dem Bürger bringt. Wir müssen auch manchmal
vermitteln, warum etwas im Interesse der Europäischen
(Beifall im ganzen Hause) Union wichtig ist und warum man nicht nur an die Inte-
ressen des eigenen Landes denken sollte.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das kritische Interesse der Bürger verschafft uns auch
Als nächster Redner hat Staatsminister Günter Gloser
die Chance, die konkreten Vorteile der Europäischen
das Wort.
Union und der von ihr geschaffenen Rechtsakte zu ver-
mitteln. Die Gesetzgebung von Bund und Ländern – wir
Günter Gloser, Staatsminister im Auswärtigen Amt: haben das vorhin gehört – wird in wachsendem Maße
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und von Entscheidungen geprägt, die auf der Ebene der Eu-
Kollegen! Ungeachtet aller Erfolge in der Vergangenheit ropäischen Union getroffen werden. Gemeinsam mit
befindet sich die Europäische Union – einige Redner ha- dem Dreieck der europäischen Institutionen – Europäi-
ben das bereits ausgeführt – in einer schwierigen Lage. sches Parlament, Kommission und Rat in seiner gesetz-
An dieser Stelle wird immer an den Verfassungsprozess gebenden Funktion – bilden die nationalen Parlamente
und an die in Frankreich und den Niederlanden geschei- – davon bin ich felsenfest überzeugt – das demokratische
terten Referenden erinnert. Niemand weiß genau, wie Fundament der europäischen Bürger- und Staatenunion.
wir den ins Stocken gekommenen Prozess wieder in
Nationale Parlamentarier müssen als Mitgestalter ei-
(B) Gang setzen können. Wir wissen aber, dass wir ihn wie- nes Gesetzgebungsprozesses begriffen werden, der im- (D)
der in Gang setzen müssen. Die Akzeptanz der Europäi-
schen Union in der Bevölkerung hat gelitten. Wenn man mer häufiger von Brüssel aus angestoßen wird. Es ist
diesen Zustand mit „Europaskepsis“ umschreibt, ist das vorhin selbstkritisch bespiegelt worden, warum es so
vielleicht nicht ganz treffend; es gibt verschiedenen Fa- lange gedauert hat. Man muss an diesem Tag objektiv
cetten. sagen: Der Deutsche Bundestag verfügte bereits in der
Vergangenheit über einige Rechte, die aber nicht ent-
Wenige Monate vor dem 50. Jahrestag der Römischen sprechend ausgestaltet waren. Aufgrund der Defizite gab
Verträge möchte ich aber – auch wenn ich einige kriti- es Nachholbedarf. Deshalb gab es die breite Diskussion
sche Bemerkungen gemacht habe – betonen, dass die über Möglichkeiten zu mehr Beteiligung. Diese nun er-
Europäische Union eine einmalige Erfolgsgeschichte ist zielte Vereinbarung wird die Europapolitik des Bundes
und andere uns darum beneiden, dass wir es geschafft auf eine breitere Grundlage stellen und zur besseren Ge-
haben, eine solche Europäische Union auf friedlichem setzgebung der Europäischen Union beitragen.
Wege zu gründen.
Die Informations- und Beteiligungsrechte des Bun-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
destages sollen durch diese neue Vereinbarung ausge-
der CDU/CSU)
weitet werden. Alle von Ihnen angemahnten Dokumente
Ich möchte – in einigen Reden klang es so, als wäre und Berichte zu europäischen Aktivitäten, sowohl die
heute ein revolutionärer Tag – auf die Dinge eingehen, der Gemeinschaftsorgane Kommission und Rat als auch
die angesprochen worden sind. Die Menschen in Europa die der Bundesregierung, insbesondere die der Ständigen
haben gerade in den letzten Monaten verstanden, dass die Vertretung bei der Europäischen Union, werden dem
Europäische Union und die von ihr erlassenen Regelun- Bundestag umfassend vermittelt. Daneben wird eine
gen sie unmittelbar betreffen. Das belegen die intensiven Reihe von Unterrichtungsformen, die bereits Praxis sind,
Diskussionen über die bereits genannte Dienstleistungs- verbessert. Ich denke, diese Vereinbarung ist ein zentra-
richtlinie, die Gleichstellungsrichtlinie, die Hafenrichtli- ler Baustein für die verbesserte Europatauglichkeit des
nie oder über ein so großes Projekt wie die Erweiterung Bundestages. Aber gleichzeitig – das hat in den Ver-
der Europäischen Union. Auch wenn die Debatten kon- handlungen eine wesentliche Rolle gespielt – lässt diese
trovers geführt wurden und an der EU Kritik geübt wurde Vereinbarung der Bundesregierung den nötigen Spiel-
– wer ist die EU? –, ist erfreulich, festzustellen, dass die raum, den sie in den Verhandlungen in Brüssel braucht.
Menschen Europa wahrnehmen und über Europa disku- Wenn man die Situation in der Anfangszeit mit der heu-
tieren. Wir müssen uns aber fragen – mit „wir“ meine ich tigen vergleicht, sieht man, dass sich vieles verändert
die Bundesregierung und uns Parlamentarier –, ob wir hat.
5062 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Staatsminister Günter Gloser


(A) Ich bin der Überzeugung, dass diese Vereinbarung Vielen Dank. (C)
uns eine Chance bietet, die Legitimität europäischer
Rechtssetzung in Deutschland zu erhöhen. Ich möchte (Beifall im ganzen Hause)
an dieser Stelle meinen ausdrücklichen Dank sagen an
diejenigen, die für die Fraktionen verhandelt haben, aber Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
auch an diejenigen, die ihnen zugearbeitet haben, die Ich erteile das Wort Kollegen Michael Link, FDP-
auch uns in den Ressorts zugearbeitet haben. Das waren Fraktion.
wichtige Beiträge. Ich danke auch dem Kollegen Peter
Hintze, der mit mir für die Bundesregierung diese Ver- (Beifall bei der FDP)
handlungen geführt hat, und den anderen Kollegen in der
Regierung, die uns im Hintergrund dabei unterstützt ha- Michael Link (Heilbronn) (FDP):
ben. Ich kann Ihnen versichern: Es bleibt bei dem einen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Herz. Aber ich glaube, man braucht Kopf und Herz, um Herr Staatsminister Gloser, ich würde nicht ganz so weit
die Europapolitik voranzubringen. Ich finde es ange- gehen, den heutigen Tag als revolutionär zu bezeichnen.
sichts der Positionen, mit denen die Fraktionen in diese Natürlich ist das ein guter Tag. Wir gehen nicht nur ei-
Debatte gegangen sind – Rainder Steenblock hat darauf nen Schritt in die richtige Richtung, sondern ich glaube,
hingewiesen –, bemerkenswert, dass wir einen, so denke hier wurde die richtige Balance gefunden zwischen den
ich, guten Kompromiss gefunden haben. Mitwirkungsrechten des Bundestages einerseits und der
Wir sollten aber nicht vergessen, dass der Verfas- Bewahrung der Kernbereiche exekutiven Handelns an-
sungsvertrag, den ich eingangs erwähnt habe, für die dererseits, die – das verstehen auch wir als Parlament –
weitere Einbindung der nationalen Parlamente wichtig natürlich sein müssen.
ist. Denn er ist ein wichtiger Schritt, um mehr und früher Es ist aber schon etwas anderes – das will ich einfach
beteiligt zu werden. Die Stärkung des Subsidiaritäts- noch einmal mit Blick auf die Öffentlichkeit sagen –, ob
prinzips war eine Intention der Bundesregierung. Sie es, wie im Grundgesetz, das ja bestehen bleibt, heißt, die
war im Konvent wie auch auf der Regierungskonferenz Bundesregierung berücksichtigt bei ihren Verhandlun-
ein besonderes deutsches Anliegen. Nicht zuletzt wegen gen die Stellungnahmen des Bundestages, oder ob es,
der mit dem Vertrag in dieser Hinsicht erzielten Fort- wie jetzt in unserer Vereinbarung, heißt, die Stellungnah-
schritte setzt sich die Bundesregierung dafür ein, die im men werden den Verhandlungen der Bundesregierung
europäischen Verfassungsvertrag gefundenen Lösungen zugrunde gelegt. Das ist ein substanzieller Unterschied
zu erhalten. und wir begrüßen die Formulierung in der Vereinbarung.
Die Elemente des Verfassungsvertrages machen die Das ist genau die richtige Balance.
(B) (D)
Europäische Union – das ist immer kritisiert worden – (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie
gerade demokratischer. Sie machen sie handlungsfähi- bei Abgeordneten der CDU/CSU und der
ger, effizienter und transparenter. Genau damit erreichen SPD)
wir das Ziel, Europa den Bürgerinnen und Bürgern näher
zu bringen. Ich gehe gern darauf ein – das wird auch ein Alle wichtigen Punkte sind hier bereits angesprochen
Thema der Präsidentschaft Deutschlands im nächsten worden. Ich will deshalb ein Beispiel nennen. Oft be-
Jahr sein –, dass wir nicht nur fragen müssen: Welche schworen wird ja das Demokratiedefizit in der Europäi-
Folgen haben bestimmte Gesetzesinitiativen für den Be- schen Union. Meine These ist: In keinem anderen Be-
reich Wirtschaft, für kleine und mittlere Unternehmen? reich ist das Demokratiedefizit größer als beim EU-
Genauso wichtig ist natürlich die Frage: Welche sozialen Haushalt. In keinem anderen Bereich haben wir gegen-
Folgen hat eine Initiative? Ich denke, das hat die Vergan- wärtig so wenig Mitwirkungsrechte der nationalen Parla-
genheit gezeigt. mente. Wir werden es nächstes Jahr erleben. Denn im
Laufe des nächsten Jahres soll uns die Ratifizierung des
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ohne dass neuen Eigenmittelbeschlusses vorgelegt werden – ein
man jetzt das Primärrecht ändern müsste, ist die Kom- schwieriger Prozess –; der Beschluss soll aber bereits ab
mission ohnehin bereits vom Europäischen Rat aufgefor- 1. Januar 2007 gelten. Über welches Recht haben wir da
dert worden, die nationalen Parlamente frühzeitig einzu- wirklich noch substanziell mit zu entscheiden?
beziehen. Wenn wir die Bürgerinnen und Bürger für
Europa gewinnen möchten, sollte unser Ziel sein, dass Umso wichtiger wird sein, dass wir im Vorhinein, vor
sich jeder Europäer ganz selbstverständlich sowohl als den Ratsverhandlungen – das sage ich besonders mit
Bürger seiner Stadt und seines Mitgliedstaats als auch Blick auf die Kollegen im Haushaltsausschuss –, tätig
als Bürger der Europäischen Union versteht. Ich bin werden. Wenn wir uns einmal vor Augen führen, um wie
– weil ich ja auch Parlamentarier bin – davon überzeugt, viel Geld es geht – jährlich über 22, 23 Milliarden Euro
dass die nationalen Parlamente, vor allem der Bundes- für Deutschland – und für wie lange wir uns mit dem Ei-
tag, dazu einen wesentlichen Beitrag leisten können. Ich genmittelbeschluss völkerrechtlich verbindlich binden –
denke, dass diese Vereinbarung die entsprechenden für über sieben Jahre; das heißt, wir können danach nicht
Werkzeuge liefert. Ich finde es gut, dass wir die Verein- mehr darüber entscheiden –, dann können wir feststellen,
barung wenige Wochen vor Beginn der deutschen Präsi- dass es umso wichtiger ist, dass wir in Zukunft ein kla-
dentschaft in der Europäischen Union geschaffen haben; res, deutliches Mitspracherecht bei der Formulierung der
denn ich glaube, dass diese Präsidentschaft durch ein ak- Verhandlungsposition der Bundesregierung haben,
tives Parlament begleitet werden muss. was dank dieser Vereinbarung der Fall ist.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5063
Michael Link (Heilbronn)
(A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten machen können. Dazu gehört – Herr Steenblock und an- (C)
der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) dere Kollegen haben das angesprochen – eine behutsame
Ausweitung der Personalkapazitäten beim Parlament
Gleiches gilt übrigens auch für die – ich sage es ein- und bei der Kommission. Wenn das im Übersetzerstab
mal salopp – Schattenhaushalte – Europäischer Ent- beschäftigte Personal etwas aufgestockt würde, damit
wicklungsfonds, Globalisierungsfonds –, die jetzt anste- die Vorlagen auch in der dritten Arbeitssprache, in
hen. Dort ist das Demokratiedefizit vielleicht noch Deutsch, abgefasst werden können, hätte ich nichts da-
größer als bei dem Haupthaushalt der EU; denn der wird gegen.
zumindest in der Öffentlichkeit besprochen. Beim Euro-
päischen Entwicklungsfonds mit einem immensen Be- Das gilt – das mag Sie überraschen – übrigens auch
trag – gerade für die Bundesrepublik Deutschland geht für die Bundesregierung. Unsere Zusammenarbeit im
es da um sehr viel Geld; wir sind, für diejenigen, die es Haushaltsausschuss mit den Kollegen der Europaabtei-
noch nicht wissen, jetzt der größte Zahler im Europäi- lung im BMF ist exzellent. Sie sind, was ihre Arbeitsbe-
schen Entwicklungsfonds; wir haben die Franzosen lastung angeht, am Limit. Wenn in Zukunft aufgrund der
überholt, sie liegen jetzt etwas hinter uns – ist das Demo- Vereinbarung mit uns und angesichts des Informations-
kratiedefizit noch größer. Dank der Vereinbarung kön- austausches zwischen Brüssel und den nationalen Parla-
nen wir aber genau bei diesem Punkt in Zukunft vonsei- menten noch mehr Arbeit auf sie zukommt, dann können
ten des Haushaltsausschusses und des Ausschusses für sie das irgendwann nicht mehr bewältigen. Wir müssen
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ganz uns trotz aller Sparzwänge darüber im Klaren sein: Wir
konkret vor den Ratsverhandlungen eingreifen. Das ist müssen die personellen Kapazitäten behutsam erweitern,
ein echter Fortschritt und deshalb ist das heute ein guter damit wir das, was wir heute beschließen, mit Leben fül-
Tag. len können.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zeitgleich zu der Vereinbarung, die wir heute be-
schließen, läuft in der Europäischen Union – Staatsminis- In den ersten Jahren, in denen diese neue Vereinba-
ter Gloser hat es angesprochen – der Prozess der Verstär- rung angewandt wird, entscheidet sich, was sie wert ist.
kung und Verbesserung der Informierung der nationalen Nun kommt es auf uns an. Heute ist der Bundestag euro-
Parlamente seitens der Kommission, Stichwort: Subsi- papolitisch erwachsen geworden. Machen wir etwas da-
diaritätsprüfung, Subsidiaritätskontrolle. Unser Peti- raus!
tum – ich vermute, ich spreche da auch für viele Kollegen (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei
(B) aus anderen Fraktionen – ist, dass wir dann unverzüglich (D)
Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN
Vorlagen bekommen. Wichtig ist aber auch, dass dann und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
geltendes Recht eingehalten wird, sprich: dass uns die
Vorlagen auch in deutscher Sprache, der dritten Ar-
beitssprache der Europäischen Kommission, zugestellt Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
werden. Hier muss die Bundesregierung dringend Druck Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatsse-
ausüben, dass das in Zukunft regelmäßig geschieht. kretär Peter Hintze.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU)
CSU und der SPD)
Peter Hintze, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
Wenn die Subsidiaritätsprüfung tatsächlich erfolgt,
minister für Wirtschaft und Technologie:
wenn dieser Prozess einmal im Gange sein sollte, sei es
– hoffentlich – mit einem Verfassungsvertrag, sei es mit Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
einem gesonderten Protokoll, dann spätestens müssen Stell dir vor, es geht um Europa, und keiner geht hin.
wir hier im Hause beschließen, wer bei uns federführend Dann kommt Europa zu dir und du darfst dich nicht be-
für diese Subsidiaritätsprüfung zuständig ist. schweren, wenn dir eine Richtlinie nicht passt.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Mein Petitum und das meiner Fraktion ist: Die Fach-
NEN]: Das ist wahr!)
ausschüsse sollen für die Stellungnahmen zu themati-
schen EU-Vorlagen zuständig sein. Aber die Federfüh- Das gilt nicht für die Anwesenden. In der Kirche ist es
rung im Hinblick auf die Subsidiaritätsprüfung sollte zwar immer so, dass die Anwesenden für diejenigen, die
naturgemäß beim Europaausschuss liegen. Das ist ein nicht kommen, kritisiert werden. Aber ich glaube, dass
wichtiger Punkt. Hier muss der Europaausschuss eine die Zahl der hier Anwesenden entgegengesetzt propor-
sehr wichtige Verantwortung für das Gesamtparlament tional zur Bedeutung dessen ist, worüber wir heute spre-
wahrnehmen. chen und was wir mit unserem Votum ausdrücklich un-
terstreichen werden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
bei Abgeordneten der LINKEN)
Zu guter Letzt – Herr Präsident, ich komme langsam
zum Schluss –: Es ist gut, dass wir neue Rechte bekom- Heute ist ein guter Tag für die Demokratie und ein guter
men haben. Wir müssen von ihnen aber auch Gebrauch Tag für das Parlament.
5064 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Parl. Staatssekretär Peter Hintze


(A) Die Bundesregierung, getragen von der großen Koali- leben – und dass wir den Wechsel auf die Regierungs- (C)
tion, hat mit dem Bundestag eine große Kooperation in bank nicht ohne Schaden für unser parlamentarisches
allen Europafragen vereinbart, und das ist gut so. Kol- Herz verkraftet hätten.
lege Steenblock hat in seiner Rede, der ich mit Freude
zugehört habe, ein gewisses Erstaunen darüber zum (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ausdruck gebracht, dass die Unionsfraktion das, was sie Ich glaube, das Ergebnis beweist, dass wir unser parla-
in der Opposition gesagt hat, in der Regierung tatsäch- mentarisches Herz auch auf der Regierungsbank behal-
lich verwirklicht. Dieses Erstaunen dürfen Sie gerne ins ten haben, auch wenn der eine oder andere Kollege – ein
Land tragen. Das ist nämlich ein Grundsatz, der uns be- prominenter sitzt in Reihe eins vorne rechts –
stimmt: In der Opposition wie in der Regierung reden
wir gleich. (Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Das werde
ich noch erläutern!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Lachen bei Abgeordneten des der Auffassung ist, man hätte noch mehr realisieren kön-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen nen, und auf andere Länder verweist.
Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist Deshalb will ich gleich vorwegnehmen: Wir haben in
er einmal gelobt worden und schon wird er unserer Vereinbarung die Grenzen, die das Grundgesetz
übermütig! – Michael Roth [Heringen] [SPD]: hier setzt, wirklich parlamentsfreundlich – der FDP-Kol-
Nicht ganz so übermütig, Herr Kollege! – lege hat das eben in seinem Beitrag auch so ausgedrückt –,
Markus Löning [FDP]: Herr Hintze, daran bis zum äußersten Rand, ausgefüllt. Die Wünsche, die
werden wir Sie bei Gelegenheit erinnern! War- wir als Opposition geäußert haben, die über diesen Rand
ten Sie es ab!) hinausgehen, hätten eine Änderung des Grundgesetzes
Es würde dem Parlament gut anstehen, wenn das gene- vorausgesetzt. Möglicherweise wird diese Debatte ein-
rell so wäre. mal kommen; aber im Rahmen der verfassungsmäßigen
Ordnung, die wir jetzt haben und innerhalb derer sich
(Markus Löning [FDP]: Herr Hintze, weiß das unsere Vereinbarung zu bewegen hat, sind wir eng an
auch die Kanzlerin? – Heiterkeit) den Rand gegangen und haben eine parlamentsfreundli-
che, ja die parlamentsfreundlichste Regelung überhaupt
– Absolut, Kollege Löning. Da Sie vorhin selbst gesagt
geschaffen.
haben, dass Sie zwar noch jung, aber voller Freude dabei
sind, weise ich Sie darauf hin: Die Bundeskanzlerin hat Ich will noch etwas Inhaltliches ansprechen. Manche
die Initiative der Opposition zur Stärkung der Mitwir- verweisen auf Skandinavien, dort sei es noch besser, weil
(B) kungsrechte des Parlaments vorangetrieben. Als Verant- das Parlament die Regierung fesseln, binden könne. (D)
wortliche auf Unionsseite hat sie darauf gedrungen, dass Doch wir wollten eine Regelung, die die Europafähigkeit
dieses Vorhaben in den Koalitionsvertrag aufgenommen des Bundestages stärkt und gleichzeitig die Handlungsfä-
wird. Das haben wir im Parlament umgesetzt. Darauf higkeit Deutschlands in Brüssel in vollem Umfange si-
können wir gemeinsam stolz sein. chert. Das unterscheidet uns vielleicht. Deutschland hat
ein großes Gewicht und eine große Verantwortung, dass
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
wir uns diese Handlungsfähigkeit erhalten. Es ist im eu-
neten der LINKEN)
ropäischen Rechtsetzungsprozess unmöglich, gefesselt
In der Tat werden nicht zuletzt die Rechte der Oppo- am Tisch zu sitzen – so kann man keine Kompromisse
sition gestärkt. Das war damals unser Anliegen. Das ist schließen, so kann man keine Lösungen finden.
auch richtig. Regierungsfraktionen haben immer mehr
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
informelle Kontakte. Da es um eine sehr wichtige Frage
NEN]: Die dänischen Kollegen!)
geht, wollten wir allerdings, dass das gesamte Parla-
ment, Regierung und Opposition, die Chance hat, an die- – Ehemalige Minister nicken aus der ersten Reihe der
sem europäischen Prozess mitzuwirken, und wir wollten Opposition. Ich freue mich, Herr Trittin, dass Sie diese
dafür sorgen, dass es über alle für seine Mitwirkung rele- Erkenntnis aus der Regierung in die Opposition mitge-
vanten Informationen verfügt. Denn es ist unbefriedi- nommen haben; das ist sehr schön. Wir haben das Ganze
gend – das haben alle Redner gesagt –, wenn wir hier ja auch gemeinsam vereinbart. Deswegen glaube ich,
ohnmächtig Richtlinien in nationales Recht umsetzen dass wir insgesamt eine sehr kluge Regelung gefunden
müssen und nicht politisch beraten, wenn es in Brüssel haben.
um die Erstellung, um die Weichenstellung, um die
Grundsätze dieser Richtlinien geht. Das wollen wir ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
meinsam ändern. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Ausgangspunkt des heutigen Tages war das Ja des
Eben hat ein Redner von „Doppelherz“ gesprochen. Bundestages zur europäischen Verfassung. Damals ha-
Ich glaube, damit meinte er nicht Gloser im Auswärtigen ben wir mit breiter Mehrheit – alle Fraktionen, die hier
Amt und Hintze im Wirtschaftsministerium, sondern da- im Parlament vertreten waren – Ja zu ihr gesagt. Ich darf
hinter steckte etwas die Sorge, dass nach Karl Marx das herzlich bitten, sich nicht von einer Falschüberschrift in
Sein allzu sehr das Bewusstsein bestimmt – mit diesem der „Financial Times Deutschland“, die schon durch den
Vorwurf mussten wir ja die ganzen Verhandlungen über Text unmittelbar darunter nicht gedeckt ist, einreden zu
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5065
Parl. Staatssekretär Peter Hintze
(A) lassen, wir hätten hier einen Kurswechsel vorgenom- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
men. Der Deutsche Bundestag hat klar Ja zum europäi- Ich erteile Kollegen Axel Schäfer, SPD-Fraktion, das
schen Verfassungsvertrag gesagt. Ich glaube, es steht uns Wort.
gut an, auch heute klar Ja zu diesem gemeinsamen Pro-
jekt zu sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eu-
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- ropapolitik ist auch Parteipolitik. Deshalb wird es gerade
NISSES 90/DIE GRÜNEN – Alexander in der Diskussion, die wir jetzt zusammengefasst voran-
Ulrich [DIE LINKE]: Da sagen wir Nein!) gebracht haben, darauf ankommen, dass wir in Zukunft
auch die parteipolitischen Unterschiede in der Europapo-
Denn diese europäische Verfassung bringt, was so viele
litik deutlich machen. Nur damit bringen wir Europa
Menschen sich wünschen: mehr Transparenz, mehr Effi-
auch inhaltlich ein Stück voran.
zienz und auch mehr Demokratie in Europa.
Es stimmt: Die Skepsis ist auch gestiegen; eine Lang- Gleichzeitig ist Europa unser gemeinsames Anliegen.
zeitstudie der Stiftung „Wissenschaft und Politik“ zeigt Deshalb war es so wichtig, dass es gelungen ist, sowohl
das. Interessant ist: Die Zahl derer, die Ja zu Europa sa- die Fraktionen der Regierungskoalition als auch alle
gen, ist gleich geblieben. Die Zahl derer, die Nein sagen, Fraktionen der Opposition für diese Vereinbarung zu ge-
ist gestiegen. Wo kommt das her? Es kommt aus dem winnen. Das ist in diesem Parlament nicht alltäglich und
großen Bereich der Bürger, die sich bisher in permissiver das kann auch gar nicht alltäglich sein. Weil es aber so
Enthaltung geübt haben, sich also wohlwollend nicht da- etwas Besonderes ist, sollten wir dieses Besondere hier
rum gekümmert haben, weil sie meinten: Es wird schon auch einmal ganz besonders unterstreichen.
richtig sein, wie es läuft. – Bei ihnen besteht heute grö- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ßere Skepsis. Diese können wir nur überwinden, wenn der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des
wir die europäischen Entscheidungsprozesse transparen- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ter machen. Denn wir brauchen eher mehr als weniger
Europa. Die Bürger wissen in ihrem Herzen auch, dass Es bleibt unsere Aufgabe, das Parlament gemeinsam
die Europäische Union die einzig tragfähige Antwort auf zu europäisieren; denn eines ist auch wahr: Diese Ver-
die Herausforderungen der Globalisierung ist. einbarung ist nicht das Ergebnis der bereits vollzogenen
Europäisierung des Parlaments und der großen Fort-
Mit der Vereinbarung, die wir heute getroffen haben, schritte, die über 600 Abgeordnete und alle Ausschüsse
schreiben wir einen ganz kleinen Abschnitt im Buch der erreicht haben, sondern ein Stück weit das Ergebnis des-
europäischen Geschichte fort, nämlich den Abschnitt sen, dass der Europaausschuss als Leitwolf bzw. -wöl- (D)
(B)
über die Parlamentarisierung der Entscheidungspro- fin vorangegangen ist. Auch das gehört dazu. Jetzt wird
zesse in der Europäischen Union. Das steht dem Bundes- es darauf ankommen, dass die anderen nicht nur ein Ru-
tag gut an. Ich bedanke mich bei allen, die daran mitge- del sind, sondern dass es zu einer gemeinsamen Kraftan-
wirkt haben. Den Politikern ist gedankt worden. Ich will strengung all derjenigen kommt, die hier Verantwortung
nun auch den Mitarbeitern danken tragen. Deshalb sollten wir das an dieser Stelle noch ein-
(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Denen habe mal ganz deutlich unterstreichen.
ich auch gedankt!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
und pars pro toto Christoph Thum von der SPD nennen, der CDU/CSU)
der Mitarbeiter der ersten Stunde war, damals, als schon Das ist in der Praxis ja auch schon ein Stück weit ge-
böse Schatten über der rot-grünen Regierung hingen, im lungen. Wir haben in einer wichtigen Frage gesagt, was
Mai des Jahres 2005. wir wollen, was wir also von der Regierung im Rat er-
(Heiterkeit bei der CDU/CSU) warten. Um die Positionierung des Deutschen Bundesta-
ges in Europafragen vor allen Dingen gegenüber der
Die SPD hat damals gedacht: Wer weiß, wofür das gut Bundesregierung geht es ja. Ich erinnere hier an die
ist, wir sollten uns jetzt schon einmal ein bisschen vorbe- Grundrechteagentur, die neu eingerichtet werden soll.
reiten. – Es sah damals ja so aus, dass Sie vielleicht in Durch eine gemeinsame Position ist es uns gelungen, die
der Opposition landen würden. Wir dachten: Wer weiß, Kanzlerin und den Außenminister im Rat darauf festzu-
wofür das gut ist, wir wissen ja auch nicht, ob wir in die legen, dass diese Agentur nicht einfach durchgewunken
Regierung kommen. – Wir haben dann gemeinsam etwas wird – mit einer Struktur, von der wir nicht sicher wis-
Gutes daraus gemacht. sen, ob sie etwas bringt –, sondern dass an dieser Stelle
Das schöne griechische Wort Krise bedeutet ja im weiterhin kritisch gearbeitet wird, bevor die Umsetzung
Grunde Frage bzw. Anfrage. Wir haben die Frage positiv erfolgt. Das ist ein Erfolg des Bundestages, zu dem es
beantwortet und etwas Gutes aus der Krise gemacht. aufgrund eines gewandelten Bewusstseins und einer ver-
Lassen Sie uns das gemeinsam nutzen! besserten Handlungsfähigkeit gekommen ist.
Schönen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Kolleginnen und Kollegen, es gehört auch zu den
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Wahrheiten dieser geschlossenen Vereinbarung, dass
des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE]) hier eine Reihe von lang gedienten Kolleginnen und
5066 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Axel Schäfer (Bochum)


(A) Kollegen am Ende gesagt haben, dass sie sich eigentlich Jetzt habe ich meinen Satz beendet. Bitte, Kollege (C)
mehr hätten vorstellen können. Na ja, denen muss man Dehm.
sagen, dass sie jetzt seit 25 oder 30 Jahren dabei sind
und wissen müssten, dass man es sich nicht so leicht ma- Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):
chen kann. Andere haben – ebenfalls parteiübergreifend; Es scheint heute ein revolutionärer Tag zu sein, weil
manche davon in großer Verantwortung – gesagt: Wenn sich Konsense andeuten, die gar nicht absehbar waren.
ich hier hätte entscheiden können, dann hätte ich euch,
dem Europaausschuss bzw. dem Parlament, bezüglich Grund unserer Ablehnung des Verfassungsvertrages
der Europäisierung nicht so starke Rechte zugestanden. – waren nicht die plebiszitären Elemente. Können wir uns
Auch dies zeigt, woran wir noch ein Stück mehr arbeiten gemeinsam darauf einigen, den Verfassungsvertrag, wie
müssen. Das sollte uns eine zusätzliche Motivation für es jetzt auch Frau Merkel sagt – so die „Financial Times
die Überzeugungsarbeit sein; denn die Arbeit leisten wir Deutschland“ von heute –, gründlich zu ändern, die Arti-
weiterhin hier. Auch wenn wir uns deutlicher in Rich- kel des Grundgesetzes, die in dem europäischen Verfas-
tung Brüssel positionieren: Wir positionieren und kon- sungsvertrag nicht genügend berücksichtigt sind, die
trollieren vor allen Dingen die Bundesregierung und wir Sozialbindung des Eigentums und das Angriffskriegs-
wollen sie auch zu einer Reihe von Dingen verpflichten. verbot, darin aufzunehmen und diese Verfassung dann
Ich glaube, das ist auch richtig so. unserer deutschen Bevölkerung zur Abstimmung zu stel-
len?
Was wir voranbringen wollen, ist eine Europäisie-
rung. Europäisierung bedeutet immer auch Parlamentari- (Beifall bei der LINKEN)
sierung und Parlamentarisierung geht nur mit Demokra-
tisierung. Die Kollegen von der Linksfraktion haben Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
angesprochen, dass zur Demokratisierung auch die di- Lieber Kollege Dehm, diese Verfassung wurde ge-
rekte Demokratie gehört. Ich bin sehr dafür und ich meinsam von Abgeordneten und Regierungsvertretern
glaube, es gibt auch hier in diesem Hause eine Mehrheit auch dieses Parlaments sowie des Europäischen Parla-
dafür, dass wir in Konsequenz dieser Diskussion wieder ments und der Kommission auf der Basis einer Überein-
die Debatte darüber aufgreifen, wie wir über das Instru- kunft von 28 Ländern erreicht; das ist eine gute Grund-
ment der Volksinitiative, des Volksbegehrens und des lage. Sie gilt es jetzt zu beschließen und umzusetzen.
Volksentscheids mehr direkte Demokratie in Ergänzung Wir müssen also dafür werben, dafür Mehrheiten zu be-
der repräsentativen Demokratie einführen können. kommen. Ich möchte Sie an unserer Seite haben, wenn
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der wir hier über mehr Demokratisierung durch das Grund-
LINKEN) gesetz reden. Zunächst aber müssen Sie mit uns gemein-
(B) sam für Mehrheiten für diese europäische Verfassung (D)
– Gerade weil ich jetzt Beifall von der ganz linken Seite werben. Darin wollen wir Sie überzeugen; wir setzen be-
des Hauses bekomme, möchte ich deutlich machen, dass stimmte Hoffnungen darauf.
ein wichtiger Impuls, dies umzusetzen, die europäische
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Verfassung ist. Sie nimmt Elemente der direkten Demo-
kratie in ganz Europa auf. Man kann aber nicht mehr di-
rekte Demokratie in Deutschland fordern, wenn man Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gleichzeitig eine europäische Verfassung mit mehr direk- Kollege Schäfer, gestatten Sie noch eine Zwischen-
ter Demokratie ablehnt. Das passt nicht zusammen, liebe frage, diesmal des Kollegen Seifert, auch Fraktion Die
Kolleginnen und Kollegen. Linke?

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem


Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ja, die gestatte ich.
Das Wichtigste aber ist: Lasst uns bei all den Diskus-
sionen über die Instrumente, die wir in Zukunft haben Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
werden und die wir verbessert nutzen wollen, immer Lieber Herr Kollege Schäfer, ist Ihnen vielleicht ent-
auch über die Inhalte reden. Unser Ziel ist es, in diesem gangen, dass wir die europäische Verfassung nicht we-
gemeinsamen Europa besser und erfolgreicher für den gen der plebiszitären Elemente, sondern wegen ihrer
Frieden einzutreten und mehr für soziale Gerechtigkeit Ausrichtung auf Militarisierung, das heißt: den Zwang
und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu tun. Wir wollen zur Aufrüstung, und wegen der ausdrücklichen Festle-
Bildung und Forschung voranbringen – gung auf ein neoliberales Wirtschaftskonzept abgelehnt
haben?
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Zuruf von der CDU/CSU): Schon wieder die-
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des ses Klischee!)
Kollegen Dehm?
Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Erstens. Es gibt in der europäischen Verfassung, die
– wenn ich den Satz beendet habe – und den Nationa- wir gemeinsam wollen, überhaupt keine Festlegung auf
lismus bekämpfen. Aufrüstung. Das muss man einfach einmal feststellen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5067
Axel Schäfer (Bochum)
(A) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP hört, als wir von den Länderregierungen oft besser unter- (C)
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) richtet wurden als von der eigenen Bundesregierung.
Zweitens. Wir sind für eine soziale Marktwirtschaft (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
und eine Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Ich bin auch
sehr dafür, dass man den Kapitalismus kritisiert, wo er Allerdings trifft dieser Fortschritt, dass wir mit dem
bestimmte Auswüchse angenommen hat. Das allerdings Bundesrat gleichziehen, nur auf die Unterrichtung zu.
hat mit den Festlegungen in der europäischen Verfassung Fraglich ist, was künftig mit Stellungnahmen des Bun-
nichts zu tun, lieber Kollege. destages über die bloße Unterrichtung durch die Bundes-
regierung hinaus passiert. Immerhin haben wir die Bun-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der desregierung dazu verpflichten können, dass sie künftig
CDU/CSU) Rechenschaft darüber ablegen muss, inwieweit eine Stel-
Ein Letztes: Wir wollen Europa weiter verbessern, lungnahme des Bundestages in den europäischen Gre-
weil wir in allen Ländern gegen einen zum Teil wachsen- mien umgesetzt werden konnte. Aber es bleibt dabei,
den Nationalismus kämpfen. Das gehört zur gemeinsa- dass Stellungnahmen des Bundestages von der Bundes-
men europäischen Identität. Unsere gemeinsame Identität regierung nicht beachtet, sondern nur zur Kenntnis ge-
ist das Gegenbild zum Nationalismus. Das wichtigste nommen werden müssen. Kern des Problems ist Art. 23
Interesse, das wir als Nationalstaaten haben – in Deutsch- des Grundgesetzes; das wurde bereits angesprochen.
land wie in Frankreich, in Polen wie in Großbritannien Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen,
und allen anderen Ländern –, ist die europäische Eini- dass es in einer Reihe von Mitgliedstaaten der Europäi-
gung. Mit dieser gemeinsamen Vereinbarung kommen schen Union wesentlich weiter gehende Mitwirkungs-
wir diesem Ziel einen großen Schritt näher. Ich danke al- rechte gibt, als wir sie heute beschließen. Man muss
len, die daran mitgewirkt haben. dazu nicht einmal auf die skandinavischen Staaten ver-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie weisen, lieber Kollege Hintze. Niemand von uns hat ge-
bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und fordert, das skandinavische Modell in Deutschland ein-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zuführen. Warum wir uns allerdings nicht getraut haben,
das österreichische Modell zu probieren, das dort seit
vielen Jahren reibungslos funktioniert, konnte mir bis-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: lang niemand erklären.
Ich erteile Kollegen Thomas Silberhorn, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
(B) (D)
Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Es bleibt also das Problem, dass Art. 23 des Grundge-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich reihe setzes unsere Handlungsmöglichkeiten etwas beschränkt.
mich heute gerne ein in den fraktionsübergreifenden Auch nach der Föderalismusreform ist das die mit Ab-
Konsens in diesem Hause. Die Vereinbarung zwischen stand unübersichtlichste Vorschrift des Grundgesetzes,
Bundestag und Bundesregierung über die Zusammenar- die noch dazu in ihren praktischen Konsequenzen be-
beit in EU-Angelegenheiten ist ein erkennbarer Fort- scheidene Auswirkungen zeitigt. Ob und wann wir erneut
schritt auf unserem Weg, europäischen Angelegenheiten darüber diskutieren müssen, hängt nach meiner festen
in Deutschland mehr Gewicht zu verleihen. Dieser Weg Überzeugung vom Verhalten der Bundesregierung ab.
führt über die Beteiligung des Deutschen Bundestages
zu unserem Ziel, mehr Verständnis und Akzeptanz für Wir werden die Bundesregierung daran messen müs-
europäische Politik zu gewinnen, aber auch dazu, die Le- sen, wie sie künftig mit unseren Stellungnahmen um-
gitimationsbasis europäischer Entscheidungen zu stär- geht, und müssen erwarten können, dass sich die Bun-
ken, indem in jedem Mitgliedstaat die nationalen Parla- desregierung ernsthaft darum bemüht, unsere Positionen
mente intensiv damit befasst werden. in den europäischen Gremien tatsächlich umzusetzen.
Dazu ist es – dieser Hinweis sei mir gestattet – nicht im-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mer erforderlich, im Ministerrat Mehrheiten zu organi-
neten der FDP) sieren. Es gibt auch Gelegenheiten, wo es genügt, seine
Position zu markieren.
Die Vereinbarung, die wir heute beschließen, bringt
eine erhebliche Ausweitung der Unterrichtungspflich- Ich darf daran erinnern, dass der Europaausschuss des
ten der Bundesregierung mit sich. Dass es mehr als fünf- Bundestages eine einvernehmliche Haltung zur europäi-
zig Jahre europäischer Integration bedurfte, um so weit schen Grundrechteagentur kommuniziert hat. Wir ha-
zu kommen, ist nicht unbedingt ein Ruhmesblatt. Aber ben das höflich – nicht in Form einer Stellungnahme,
umso mehr freut es mich, dass wir es sind, die diesen sondern eines Briefwechsels – getan. Ich möchte aber
Fortschritt erreicht haben. auch darum bitten, dass die Bundesregierung dieses Vo-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und tum sehr ernst nimmt. Wir werden genau darauf achten,
der SPD) ob sich die Bundesregierung unserer ablehnenden Hal-
tung anschließt, und zwar nicht, weil wir etwas gegen ei-
Wir ziehen damit in Bezug auf die Unterrichtung des nen effektiven Grundrechtsschutz hätten, sondern weil
Parlamentes mit dem Bundesrat gleich und können zu- ich persönlich davon überzeugt bin, dass es besser wäre,
versichtlich sein, dass die Zeit der Vergangenheit ange- den europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu stärken,
5068 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Thomas Silberhorn
(A) als eine neue Behörde zu gründen, in der Beamte schöne Lassen Sie mich noch einen europäischen Aspekt an- (C)
Berichte schreiben. fügen: Wir sind von der Europäischen Kommission ein-
geladen, unsere Stellungnahmen auch direkt an die
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
Kommission zu richten. Ich wünsche mir, dass wir die
bei Abgeordneten der FDP, des BÜNDNIS-
Kommission dazu verpflichten, uns auch wirklich zu
SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)
antworten,
Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung künftig
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und
auch bei europäischen Vorlagen den Bundestag in einer
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Form beteiligt, wie wir es von den nationalen Gesetzge-
bungsvorhaben gewohnt sind. Niemand hindert die Bun- denn ich möchte doch, dass ein nationales Parlament,
desregierung daran – zum Teil wird es schon praktiziert –, das einen förmlichen Beschluss fasst, nicht wie ein x-be-
Berichterstattergespräche zu organisieren. Es sollten alle liebiger Lobbyverband behandelt wird.
zuständigen Kollegen aus den Ausschüssen die Gelegen-
heit erhalten, mit den Beamten, die für die Bundesregie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
rung in Brüssel verhandeln, eine europäische Initiative bei der LINKEN – Jürgen Trittin [BÜND-
zu erörtern. Ich glaube, dass wir es mit einem solchen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Pischetsrieder
Modell versuchen sollten. Ich sehe darin auch eine Gele- bekommt immer Antwort!)
genheit, den Parlamentarischen Staatssekretären diese Ich glaube, dass wir die konkrete Chance haben, im
Aufgabe mit zu übertragen. Es gibt hin und wieder Dis- Zuge der Diskussion über den europäischen Verfas-
kussionen über den Aufgabenbereich der Parlamentari- sungsvertrag auch noch einmal über den Frühwarnme-
schen Staatssekretäre. Es wäre für sie eine vornehme chanismus zu diskutieren und ihn vielleicht zu vereinfa-
Aufgabe, Berichterstattergespräche zu europäischen chen, aber auch, ihn um den Punkt zu ergänzen, dass die
Vorlagen zwischen Regierung und Ministerialbeamten Kommission uns Antwort geben muss, wenn wir uns als
auf der einen Seite und den Mitgliedern dieses Hauses Parlament an sie wenden.
auf der anderen Seite zu organisieren.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
(Beifall im ganzen Hause)
Auch der Deutsche Bundestag wird seine Arbeits-
weise ändern müssen. Wir müssen uns bei europäischen
Vorhaben auch am Fahrplan der Europäischen Union Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
orientieren. Wir müssen viel stärker als bisher Netz- Ich schließe die Aussprache. – Wir kommen zur Ab-
werke in die europäischen Institutionen hinein knüpfen, stimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU,
(B) (D)
aber auch zu unseren Kollegen aus den anderen Mit- der SPD, der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/
gliedstaaten. Außerdem wird es künftig viel stärker Auf- Die Grünen eingebrachten Antrag zur Annahme einer
gabe jedes einzelnen Abgeordneten sein – dies war es Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und
auch bisher schon –, die europäischen Implikationen sei- der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Ange-
nes Fachbereiches zu berücksichtigen und tatsächlich legenheiten der Europäischen Union. Wer stimmt für den
mit zu bearbeiten. Antrag auf Drucksache 16/2620? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig ange-
Durch die Vereinbarung, die wir heute beschließen, nommen.
werden wir auch ein Stück weit in Mitverantwortung für
das genommen, was die Bundesregierung in Brüssel mit (Beifall im ganzen Hause)
berät und mit beschließt. Ich plädiere dafür, dass wir uns
bei EU-Vorhaben auf die vorbereitenden Akte konzen- Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 23 auf:
trieren – auf Weißbücher, auf Grünbücher, auf das Jah- Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
resarbeitsprogramm der Kommission, auf die Legislativ- Kurt Hill, Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann,
pläne –, damit wir schon im Vorfeld über das orientiert weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-
sind, was auf europäischer Ebene geplant ist, und recht- KEN
zeitig eingreifen können. Allerdings werden wir, liebe
Kolleginnen und Kollegen, selbst wenn wir das tun, im- Energiepreiskontrolle sicherstellen
mer dann, wenn es um eine förmliche Stellungnahme – Drucksache 16/2505 –
des Bundestages geht, vor dem Problem stehen, dass die
Bundesregierung schon zwei, drei Jahre in Expertenrun- Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
den verhandelt und man uns dann vonseiten der Ministe- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
rialbeamten vorhält: Jetzt kommt Ihr Abgeordneten? Wir Verbraucherschutz
sitzen doch schon zwei Jahre daran! Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Dazu gehört meines Erachtens auch die Bereitschaft Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
des Parlaments einschließlich der Regierungsfraktionen, die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
die Kontrollfunktion des Bundestages gegenüber der höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bundesregierung sehr ernsthaft wahrzunehmen und sich
Meine Herren, ich würde Sie gerne veranlassen, dem
bei Bedarf einzuschalten.
kommenden Redner die Chance zu geben, zum Pult zu
(Beifall bei der LINKEN) kommen und dann Gehör zu finden. – Ich eröffne die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5069
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Aussprache und erteile Kollegen Oskar Lafontaine, setzentwurf sehr zügig zu verabschieden. Gleichwohl (C)
Fraktion Die Linke, das Wort. glaube ich, dass die intellektuelle Redlichkeit gebietet,
darauf hinzuweisen, dass der damalige Ansatz, den
(Beifall bei der LINKEN)
Energieverbrauch über quasi staatlich verordnete Preis-
steigerungen zu steuern, ganz anders war, auch wenn es
Oskar Lafontaine (DIE LINKE): Ausnahmen, beispielsweise für die Industrie – darüber
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- wurde heftig diskutiert –, gab.
ren! Die Entwicklung der Energiepreise ist ein für die
Bevölkerung erstrangiges Thema. Die Energiepreise ha- Dann kam der Ansatz – er wurde hauptsächlich von
ben sich in den letzten Jahren enorm nach oben bewegt; der rechten Seite dieses Hauses befürwortet –, die Ener-
dabei denke ich natürlich auch an die Veränderungen giepreise über eine so genannte Deregulierung zu steu-
nach unten, die wir derzeit in einem Segment sehen. ern bzw. zu senken, damit sie international konkurrenz-
Aber insgesamt kann gesagt werden, dass sich die Ener- fähig würden. Es gab sicherlich gute Argumente dafür.
giepreise in den letzten Jahren sehr stark erhöht haben. Auf den ersten Blick ist der Ansatz, dass mehr Wettbe-
werb zu niedrigeren Preisen und zu günstigeren Angebo-
Es gibt den Satz, dass die Energiepreise für die Bevöl- ten für die Verbraucher führt, nicht ohne weiteres von
kerung eine ähnliche Bedeutung haben wie die Brot- der Hand zu weisen. Mittlerweile sieht man aber, dass
preise. Man muss diesen Vergleich nicht unbedingt über- die Deregulierung nicht zu den gewünschten Ergebnis-
nehmen. Aber dass die Energiepreise für die soziale sen geführt hat. Das müssen auch die Befürworter der
Situation vieler Menschen in Deutschland eine große Deregulierung akzeptieren. Heute stellt sich die Frage,
Bedeutung haben, ist, glaube ich, in diesem Hause völlig warum die Deregulierung nicht zu den gewünschten Er-
unstreitig. gebnissen geführt hat. Man muss den Begriff „Deregu-
(Beifall bei der LINKEN) lierung“ hinterfragen und sich klar machen, was damit
gemeint ist. Es gibt Leute, die Deregulierung mit einer
In diesem Zusammenhang erinnere ich insbesondere Gesetzlosenwirtschaft, mit einer völlig deregulierten
an die Entwicklung der Löhne der großen Mehrheit der Wirtschaft gleichsetzen. Ich möchte in diesem Zusam-
Bevölkerung sowie an die Situation vieler Rentnerinnen menhang darauf hinweisen, dass dort, wo keine Gesetze
und Rentner. Die Reallöhne sind seit zehn Jahren prak- wirken, der Preisgestaltung und damit auch der Gewinn-
tisch nicht mehr gestiegen. Auch in letzter Zeit hat sich gestaltung keine Grenzen gesetzt sind. Ich bin der Mei-
kaum etwas entscheidend verbessert. Ich erinnere des nung, dass eine solche Situation im Energiesektor, insbe-
Weiteren an die Situation derjenigen, die soziale Leis- sondere im Strom- und Gasbereich, in Deutschland
tungen empfangen, beispielsweise ALG-II-Empfänge- eingetreten ist. Daher ist es erfreulich, dass überall da-
(B) rinnen und -Empfänger, der Alleinerziehenden sowie der rüber nachgedacht wird, was zu tun ist, um die Preise (D)
Rentnerinnen und Rentner mit geringem Einkommen, wieder in den Griff zu bekommen.
die der Entwicklung der Energiepreise, insbesondere der
Strom- und Gaspreise, vielleicht noch viel hilfloser aus- Ich will die Debatte auf keinen Fall kontrovers füh-
geliefert sind als der Durchschnittshaushalt. Wenn man ren; das brächte gar nichts. Vielmehr will ich begrüßen,
sich die Zahlen vor Augen führt, dann stellt man fest, dass überall nach Wegen gesucht wird, den Preisanstieg
dass die Energiepreissteigerungen im letzten Jahr die einzudämmen. So lese ich beispielsweise, dass das Wirt-
Privathaushalte mit 8 Milliarden Euro zusätzlich belastet schaftsministerium über das Kartellrecht tätig werden
haben. Alles, was man bislang abschätzen kann, deutet will. Es ist im Sinne der Verbraucher, wenn es gelingt,
darauf hin, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird. mittels des Kartellrechts eine Preissenkung vorzuneh-
Mittlerweile geht es nicht mehr in erster Linie um men. Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen
ökologische Belange. Vielmehr verschiebt sich der Ak- – darauf habe ich bereits in der letzten Haushaltsdebatte
zent zunehmend auf das Soziale. hingewiesen –, dass einige Bundesländer – unabhängig
von der jeweiligen parteipolitischen Ausrichtung der
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir vor fast zehn Landesregierung – daran denken, die Gültigkeitsdauer
Jahren – deshalb habe ich meine Fraktion gebeten, heute der Preisgenehmigung zu verlängern, die in der Hoff-
das Wort ergreifen zu dürfen – einen anderen Ansatz hat- nung auf die preissenkende Wirkung der Deregulierung
ten. Wir wollten über die Energiepreise den Energiever- außer Kraft gesetzt worden ist. Aber wir können bislang
brauch steuern. Diese ökologische Abgaben- und Steu- nicht feststellen, dass die Deregulierung gegriffen hat.
erreform wurde 1998 auf den Weg gebracht. Damals war
die Situation aber völlig anders. Die Energiepreise stag- Wir sind vielmehr in der Situation, dass die deutschen
nierten eine gewisse Zeit und waren auf einem niedrige- Strom- und Gaspreise mit an der Spitze in der Europäi-
ren Niveau. Bereits 1998 – damals regierte Rot-Grün –, schen Union liegen. Das ist nicht nur eine soziale Frage,
als wir über den Ansatz beraten haben, über die Energie- sondern auch eine ökonomische Frage und somit für die
preise den Energieverbrauch zu steuern, habe ich intern rechte Seite dieses Hauses ein Anlass, etwas zu tun. Es
darauf hingewiesen, dass es wünschenswert wäre, Vor- ist nicht nur die Stahlindustrie, die sich zur Wehr setzt,
sorge für den Fall zu treffen, dass die Energiepreise und es ist nicht nur beispielsweise die schwedische In-
enorm steigen und in sozialer Hinsicht für eine ganze dustrie insgesamt, die sich dafür ausspricht, die Strom-
Reihe von Haushalten zum Problem werden könnten. preise zu reregulieren und in diesem Sektor aus Wettbe-
Ich konnte mich damals mit diesem Anliegen nicht werbsgründen wieder die öffentliche Verantwortung
durchsetzen. Es ging vor allen Dingen darum, den Ge- einzuführen, sondern es sind auch viele kleine Betriebe,
5070 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Oskar Lafontaine
(A) die von dieser Preisentwicklung in erheblichem Umfang meiner Fraktion vorgeschlagene Ansatz der Preiskon- (C)
negativ betroffen sind. trolle der beste Ansatz; denn wenn wir einen Zugriff auf
die Preise haben, können wir Auswüchse und Abzocke,
(Beifall bei der LINKEN)
die wir in der letzten Zeit erlebt haben, wirklich stoppen.
Es ist überhaupt keine Frage, dass hier etwas gesche- Ein letzter Satz noch: Wenn Vorstandsmitglieder von re-
hen muss. Wir glauben nicht, dass die monopolartige gionalen Energieversorgern sagen, sie brauchten eine
Struktur kurzfristig verändert werden kann, bei allen An- Umsatzrendite – ich bitte Sie, darüber einmal nachzu-
sätzen, die ich hier vorgetragen habe. Wir glauben, dass denken – von 15 Prozent – ich schaue jetzt einen an, der
die Länderregierungen Recht haben, die die Preisregu- weiß, wen ich meine –, dann ist für das Parlament wirk-
lierung wieder einführen und die Höhe der Energiepreise lich die Zeit gekommen, einzugreifen; denn Umsatzren-
wieder der öffentlichen Kontrolle unterwerfen wollen. diten von 15 Prozent sind schlicht und einfach Abzocke
und Wucher.
(Beifall bei der LINKEN)
Deshalb haben wir unseren Antrag vorgelegt. Dabei (Beifall bei der LINKEN)
möchte ich durchaus aufgrund meiner eigenen Erfahrun-
gen sagen, dass es nicht unbedingt so sein muss wie bis- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
her, dass ein oder zwei Beamte in den Länderregierun- Ich erteile das Wort der Parlamentarischen Staatssek-
gen für die Energiepreisaufsicht zuständig sind. Dies retärin Dagmar Wöhrl.
führt nämlich zu einer sehr starken Nähe der zuständigen
Beamten zu den jeweiligen Regionalunternehmen und
Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
dazu, dass die Energiepreisaufsicht nicht unbedingt in
minister für Wirtschaft und Technologie:
vollem Umfang funktioniert. Ich möchte sehr wohl dafür
plädieren, dass man so etwas wie eine parlamentari- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
sche Kontrolle und eine Verbraucherkontrolle schafft, Herren! Ich glaube, wir werden heute eine Debatte über
die beispielsweise in Großbritannien, wie in unserem die Energiepreise führen, in der wir nicht sehr viel Dis-
Antrag ausgeführt, eingeführt worden ist und große Wir- sens haben werden. Wir wissen, dass Energiepolitik
kung hat. Parlamentarische Kontrolle und Verbraucher- Wirtschaftspolitik ist. Deswegen ist es für die Bundesre-
kontrolle, das wäre mehr Demokratie im Sinne dessen, gierung sehr wichtig, wettbewerbsfähige Energie-
was wir seit vielen Jahren angeregt haben. preise zu bekommen. Wir wissen um die Problematik
der steigenden Strompreise. Wir wissen, was diese vor
(Beifall bei der LINKEN) allem für die stromintensive Industrie und ihre Wettbe-
Es kann auf jeden Fall nicht akzeptiert werden – das werbsfähigkeit bedeuten. Das betrifft vor allem den
(B) Wettbewerb mit den Industrien der Nachbarstaaten. (D)
möchte ich hier noch einmal sagen –, dass die Energie-
wirtschaft sagt: Wenn ihr zu solch abstrusen Forderun- Wir wissen, dass für die Bürger vor Ort die Schmerz-
gen kommt, wieder verstärkt die Preise zu kontrollieren, grenze hinsichtlich der Preise erreicht ist.
dann investieren wir nicht mehr in Deutschland. – Das
ist für mich ein Eklat und zeigt, dass sich dort teilweise Ohne Zweifel sind wir bei der Regulierung im
monopolartige Strukturen herausgebildet haben, wobei Monopolbereich, beim Netz, im letzten Jahr gut voran-
die Monopole nicht mehr bereit sind, sich parlamentari- gekommen. Inzwischen liegen die ersten Genehmi-
scher Kontrolle zu unterwerfen. Aber genau das muss gungsbescheide der Bundesnetzagentur und der Landes-
unser Anliegen sein. regulierungsbehörden vor. Wie wir gesehen haben,
führen sie überwiegend zu einer substanziellen Sen-
(Beifall bei der LINKEN)
kung der Netzentgelte.
Wenn es ein Argument gibt, so vorzugehen, dann das
Argument, dass Energieunternehmen in nicht zu über- Eines muss uns in diesem Zusammenhang aber klar
bietender Selbstherrlichkeit sagen: Das lassen wir uns sein: Auch wenn wir eine Senkung der beantragten
nicht bieten. Wenn ihr das macht, dann investieren wir Netzentgelte erreichen, wird das hinsichtlich der Strom-
nur noch im Ausland. preise vor Ort nicht den gewünschten Erfolg bringen.
Bei der Kundengruppe der privaten Haushalte macht
Im Übrigen glaube ich, dass sehr wohl Investitionen dies nämlich nur einen ganz geringen Anteil aus.
der Energiewirtschaft in die Modernisierung des Net-
zes angeregt werden müssten. Wir schlagen alternativ Wenn wir hinsichtlich der Netzentgelte regulieren,
vor, die Netze in öffentliche Verantwortung zu überfüh- dürfen wir aber nicht nur die Kostensenkung im Blick
ren, weil das Ganze – siehe andere Länder – sonst über- haben, sondern wir müssen auch beachten: Wir wollen
haupt nicht funktioniert. Versorgungsqualität. Wir wollen Versorgungssicherheit.
Sichere Netze kosten nun einmal etwas. Sichere Netze
(Beifall bei der LINKEN) bekommt man nicht umsonst.
Wir haben unseren Antrag vorgelegt, weil wir glau- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ben, dass wir nicht länger tatenlos zusehen können. Wir neten der SPD)
greifen alle Ansätze auf, die hier vorgetragen worden
sind. Entscheidend ist aber die Zeit. Die Zeit sollte uns Bei allen Diskussionen um die Beibehaltung von
veranlassen, einen Ansatz zu suchen, der möglichst Preiskontrollen oder sogar die Einführung neuer Preis-
schnell realisiert werden kann. Vielleicht ist der von kontrollen sollten wir eines nicht aus dem Blick verlie-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5071
Parl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl
(A) ren: Die effektivste Form der Preiskontrolle ist immer sprochen, Herr Lafontaine –, um die Missbrauchsauf- (C)
noch ein funktionierender Wettbewerb. sicht zukünftig effizienter zu gestalten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aber nicht Manfred Zöllmer [SPD] und des Abg. Hans-
im Monopol!) Kurt Hill [DIE LINKE])
Die Frage für uns ist: Wie schaffen wir es, im Strom- Mit der Erleichterung beim Nachweis von Preismiss-
und auch im Gasbereich zu einer höheren Wettbe- brauch und mit der Beweislastumkehr zuungunsten der
werbsintensität zu kommen? Druck auf die Preise wird Energieversorgungsunternehmen geben wir dem Kartell-
am besten dadurch gewährleistet, dass neue Anbieter in amt ein gutes Instrumentarium an die Hand. Dieses
den Markt eintreten. sollte nicht als staatliche Kontrolle angesehen werden,
sondern als effektives Instrumentarium.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der
LINKEN: Woher sollen die kommen?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Die Bürger sind mündig. Die Bürger werden durch ihr Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen: Wir
Verhalten entscheiden. Sie haben zukünftig mehr Wahl- brauchen dringend – das wird auch ein wichtiges Anlie-
freiheit. Danach wird sich die Preisobergrenze bestim- gen während unserer Ratspräsidentschaft sein – einen
men. Schon jetzt besteht die Möglichkeit, den Lieferan- verbesserten grenzüberschreitenden Stromaustausch.
ten zu wechseln. Leider nehmen die Bürger sie noch Die EU-Kommission hat schon die ersten Maßnahmen
nicht so wahr. Es muss in diesem Zusammenhang viel- eingeleitet; allerdings muss die Integration des Energie-
leicht noch mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden. sektors in den Binnenmarkt noch viel schneller vorange-
Heute Nachmittag liegen im Bundesrat Verordnungen hen. Zugleich sind wir selber gefordert, hier die gesetzli-
auf dem Tisch, in denen es noch einmal um Vereinbarun- chen Möglichkeiten zu schaffen, damit die geplanten
gen zum Lieferantenwechsel geht. Wir brauchen auch Infrastrukturmaßnahmen in Zukunft schneller umgesetzt
für die Haushaltskunden vor Ort ein größeres Angebot werden können.
an Lieferanten. Das heißt, wir brauchen neue Erzeuger,
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mehr Erzeuger, unabhängige Erzeuger.
mich zum Schluss zusammenfassend sagen: Wir haben
(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: 80 Prozent der eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, von denen die
Kernkraftwerke gehören den Monopolisten! Industrie – ich nenne als ein Beispiel die Härtefallrege-
Woher soll der Wettbewerb kommen?) lungen –, aber auch die privaten Verbraucher vor Ort
profitieren werden. Wir prüfen darüber hinaus, ob in Zu-
(B) – Wenn Sie mich weiterreden lassen, gebe ich Ihnen die kunft gewisse Anlaufstellen für die Verbraucher geschaf- (D)
Antwort darauf. fen werden sollen. Die Engländer haben dafür ein schö-
Wir haben ein Problem, die Marktzugangsbarrie- nes Wort: Consumer Watchdogs. Es handelt sich um
ren. Die Frage ist: Wie erreichen wir es, für neue Anbie- Anlaufstellen für die Menschen vor Ort, wohin die Bür-
ter einen diskriminierungsfreien Zugang zu schaffen, so- ger mit ihren Sorgen und Beschwerden hinsichtlich ihrer
dass auch investiert wird? Ein Investor, der ein Energierechnung gehen können und sich Rat holen kön-
Kraftwerk baut, muss nachher auch die Möglichkeit ha- nen.
ben, sich an das Netz anzuschließen. Hier sind wir als All diese Maßnahmen, die wir planen, verfolgen ein
Gesetzgeber gefordert. Wir werden die Rechtsverord- übergeordnetes Ziel, nämlich das Ziel der Schaffung ei-
nung noch in diesem Jahr auf den Weg bringen, um mehr ner größeren Wettbewerbslandschaft, die uns allen eine
Rechtssicherheit für einen solchen Kraftwerksbauer zu sichere und günstige Energieversorgung garantiert.
schaffen. Wir brauchen in diesem Bereich grünes Licht
für neue Kraftwerksinvestitionen. Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Wir wissen, dass die meisten Maßnahmen, die schon
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
auf den Weg gebracht worden sind oder die im Ministe-
rium erst noch angedacht werden, nicht von heute auf Ich erteile das Wort Kollegin Gudrun Kopp, FDP-
morgen wirken können. Es gibt zu wenig Anbieter. Auf Fraktion.
dem Gasmarkt erscheinen zurzeit überhaupt keine neuen (Beifall bei der FDP)
Anbieter. Wenn man sich auf der einen Seite die Groß-
handelspreise und auf der anderen Seite die Stromerzeu-
Gudrun Kopp (FDP):
gungspreise anschaut, wird natürlich augenfällig – da
sind wir wieder einer Meinung –, dass es dazwischen ei- Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Der
nen sehr großen Abstand gibt. Die Frage ist also: Wie Antrag der Linken fordert eine Preiskontrolle, und zwar
verhindern wir, dass die wenigen Anbieter ihre dominie- eine dauerhafte. Ich glaube, dabei geht es insbesondere
rende Marktstellung, die unstrittig vorhanden ist, ausnut- um die Frage, ob und wie viele Interventionsmechanis-
zen? men der Staat in einer freien Marktwirtschaft etablieren
darf. Es stimmt nicht, dass wir zügellosen Wettbewerb
Wir wollen dem Kartellamt befristet ein Instrumen- propagieren. Nein, Herr Lafontaine, Sie wissen sehr ge-
tarium an die Hand geben – Sie haben es schon ange- nau, dass wir einen durch Gesetze und Regeln geordneten
5072 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Gudrun Kopp
(A) Wettbewerb in Deutschland und keinen zügellosen wün- haben, denjenigen, die den Markt derzeit beherrschen (C)
schen. Im Kern geht es bei Ihrem Antrag um die Frage: – sie haben sehr hohe Margen –, Konkurrenz zu machen.
Wettbewerb oder Sozialismus? Ich glaube, dass die Ant-
wort sehr leicht ist. (Beifall bei der LINKEN)
Das wäre der richtige Ansatz.
(Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD und
der LINKEN) Ich kann Ihnen nur sagen: Es gibt sehr viele neue
Energieanbieter, die verzweifelt sind, weil sie keine
Ich werde Ihnen ein Beispiel nennen: Herr Lafontaine Möglichkeit finden, in den Markt einzutreten.
hat davon gesprochen, dass es im Energiebereich eine
dauerhafte Preiskontrolle geben solle und das Verfü- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: In die Netze zu
gungsrecht über Energie so ähnlich wie das Recht auf kommen, das ist das zweite Problem!)
Brötchen anzusehen sei. Das ist genau der Punkt: Wenn
– Keine Frage; das ist völlig richtig. Wir müssen dieses
Sie wollen, dass im Energiebereich dauerhaft vom Staat
Grundproblem lösen und einen diskriminierungsfreien
Preise vorgegeben werden sollen, dann müsste das auch
Netzzugang gewährleisten. Wir sind im Moment auf
für das Grundnahrungsmittel Brot bzw. für Brötchen gel-
dem Weg, dies zu tun.
ten. Aber auch die Grundnahrungsmittel unterliegen bei
uns dem freien Wettbewerb. (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Aber die kann Wir müssen uns die selbst verursachten Kosten, Steu-
man sich noch leisten! – Gegenruf des Abg. ern und Abgaben anschauen. Da müssen wir ansetzen.
Rainer Brüderle [FDP]: Hören Sie einmal zu! Ich sage Ihnen eins, Frau Wöhrl: Wir als Liberale kön-
Dann lernen Sie etwas!) nen zum Beispiel nicht verstehen, dass Sie nicht das ent-
sprechende Instrument nutzen, um staatlich verursachte
– Ja, und auch wir wollen, dass sich alle Menschen Ener- Kosten zu senken. Warum befürworten Sie nicht, dass
gie leisten können. Das ist gar keine Frage. Dafür möch- wenigstens 10 Prozent der CO2-Zertifikate versteigert
ten wir aber den Wettbewerb fördern. werden können, damit man mit den Erlösen zum Bei-
Der Wettbewerb ist im Moment eingeschränkt; das ist spiel die Stromsteuer senken kann? Das wäre ein guter
gar keine Frage. Es gibt eine Marktkonzentration und Ansatz.
wir sind hier nicht auf dem richtigen Weg. Deshalb ha- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ben wir auch Ja zu einer Regulierungsphase gesagt. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Diese musste sein und sie läuft ja im Augenblick. Sie ist GRÜNEN)
(B) allerdings bis zum Sommer des kommenden Jahres be- An diesem Punkt bewegen Sie sich aber leider nicht und (D)
fristet. Bis dahin, wenn dieser Phase der nächste Schritt
folgt, nämlich die Anreizregulierung, ist unser An- das finde ich sehr bedauerlich.
spruch, dafür zu sorgen, dass Markt und Wettbewerb Minister Glos hat gesagt, er wolle das Kartellrecht
greifen und Kostensenkungen möglich werden. dahin gehend ändern, dass die Missbrauchsaufsicht er-
(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Die Menschen leichtert wird. Auch das scheint ein richtiger Weg zu
müssen aber in diesem Winter heizen!) sein – auch wir möchten keinen Missbrauch –; wir ken-
nen die genaue Ausformulierung noch nicht. Frau
Wir sind gegen staatliche Dauerinterventionen und für Wöhrl, Teil zwei einer solchen Missbrauchsaufsicht
einen freiheitlichen Ansatz. – Teil eins betrifft das Recht – sollte eine entsprechende
Personalausstattung des Bundeskartellamtes regeln.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ohne sie wird es nicht möglich sein, die Missbrauchs-
der CDU/CSU) kontrolle tatsächlich so durchzuführen, wie es eigentlich
Bundeswirtschaftsminister Glos hat gesagt: Wir müs- nötig wäre. Daher möchte ich hier an die Bundesregie-
sen uns die gesamte Kostenstruktur anschauen und müs- rung appellieren, das Personal zu verstärken. Im Übri-
sen überprüfen, an welcher Stelle Kosten- und Preis- gen, es rechnet sich, weil das Bundeskartellamt Bußgel-
senkungen realisierbar sind. Das ist richtig. Allerdings der einnimmt, wodurch Kosten gesenkt werden können.
muss man an diesem Punkt sehen, dass 75 Prozent der Wichtig ist – das ist eben schon angesprochen wor-
Tarifkundenpreise bereits festgelegt sind. Der eine Teil den –, bei der strikten Regulierung die Grenzkuppelstel-
dieser Kosten ist staatlich verursacht, wie Steuern und len in Europa zu bedenken. Diese Stellen sind eine Art
Abgaben. Hinzu kommt staatlicherseits die Mehrwert- Flaschenhals. Wenn wir auf dem deutschen Markt neue
steuererhöhung. Sie ist politisch gewollt, nämlich von Anbieter haben möchten – daran arbeiten wir sehr ver-
der Mehrheit dieses Hauses. Der andere Teil dieser Kos- zweifelt –, dann müssen wir Anreize für eine Beseiti-
ten – etwa 30 Prozent der Tarifkundenpreise – ist regu- gung dieser Engpässe schaffen.
liert: die Netzkosten. Es bleibt eine Marge von
25 Prozent. Einige meinen, wir müssten weiter an dieser Ich habe Ihnen eben gesagt, dass es wichtig ist, dass
Schraube drehen. der Staat die Stromkosten, für die er selbst verantwort-
lich ist – über 40 Prozent –, senkt. Ich möchte noch et-
Natürlich gibt es in diesem Bereich Oligopolgewinne. was hinzufügen. Wir müssen uns natürlich fragen, wie
Aber es ist wichtig, dass wir gerade dort Wettbewerb er- wir dafür sorgen können, dass Energie auch künftig kos-
möglichen, damit neue Anbieter überhaupt die Chance tengünstig ist. Ich kann Ihnen nicht vorenthalten, kritisch
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5073
Gudrun Kopp
(A) anzumerken, dass eine Entscheidung über den künftigen Unternehmen übernommen. Aber bei den kerntechnolo- (C)
Energiemix dringend erforderlich ist. Die kostengünstige gischen Anlagen gibt es eine Versicherungshöchst-
und klimaschonende Stromproduktion aus Kernkraft grenze. Diese Grenze, die es weltweit gibt, existiert auch
darf nicht einfach beendet werden. für andere Anlagen, beispielsweise für Chemieanlagen.
Die Unternehmen müssen sich aufgrund des internatio-
(Widerspruch bei der SPD – Hans-Kurt Hill nalen Wettbewerbs im Hinblick auf vertragliche Verein-
[DIE LINKE]: In Baden-Württemberg sind die
barungen so positionieren, dass ihre Wettbewerbsfähig-
Strompreise am höchsten!)
keit gewährleistet ist. Versicherungsschutz besteht also
Wir müssen die Laufzeiten der Kernkraftwerke vielmehr und die Kosten dafür sind entsprechend berücksichtigt.
verlängern. Über diese Frage schwelt ein dauerhafter Zum Schluss habe ich eine Bitte an das Wirtschafts-
Streit in der Koalition; das wissen wir. Dieser Streit ministerium. Ich finde es ganz erfreulich, dass Bundes-
muss, wie meine Fraktion hofft, zugunsten eines breit wirtschaftsminister Glos jetzt in die Offensive gegangen
aufgestellten Energiemixes beendet werden. ist und erklärt hat, dass er sich ganz massiv dafür einset-
Wir wollen, dass zukünftig in neueste Technologien zen wird, am Standort Deutschland mehr Wettbewerb im
für Kohle- und Gaskraftwerke investiert wird. Dabei Energiebereich zu ermöglichen. Störend ist allerdings,
muss auch der Klimaschutz berücksichtigt werden. Da- dass es innerhalb der Koalition einen Streit – dieser
für müssen wir Investitionsanreize schaffen. Das setzt Streit dringt auch nach außen – zwischen dem Bun-
aber voraus, dass die Politik den notwendigen Rahmen desumweltminister und dem Bundeswirtschaftsminister
setzt. Ich sage es noch einmal, Frau Wöhrl: Es ist kata- gibt. Ich wünsche mir, dass es gelingt – auch die Kanzle-
strophal, dass die Bundesregierung bis heute kein Ener- rin ist hierbei gefordert –, in Deutschland die Weichen in
gieprogramm vorgelegt hat. Richtung einer vernünftigen Wettbewerbspolitik zu stel-
len. Es darf nicht sein, dass beim Energiegipfel Herr
(Beifall bei der FDP) Gabriel möglicherweise die Chance nutzt, immer mehr
Der gesamte Rahmen muss abgesteckt werden: Wo- Zuständigkeiten für die deutsche Energiepolitik an sich
hin wollen Sie? Welche Ziele haben Sie? Das Ener- zu ziehen. Das würde in der Öffentlichkeit zu Irritatio-
gieprogramm sollte nicht erst Ende 2007, also nach Ende nen führen.
der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vorgelegt werden, Letztlich muss es auch möglich sein, endlich eine
sondern schon jetzt. Für den deutschen Energiemarkt ist Entscheidung über den Standort eines Endlagers für
eine solche Orientierung absolut notwendig. Atommüll zu treffen. Wir dürfen solche Entscheidungen
nicht weiter vor uns herschieben.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(B) Es gibt viel zu tun. Der Gipfel wird nicht viel bringen. (D)
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Wahrscheinlich wird er nicht mehr sein als eine Ge-
Kollegin Bulling-Schröter von der Linksfraktion? sprächsrunde, die nicht wirklich zu Ergebnissen führen
wird. Es sollte aber vor allen Dingen darum gehen, die
Gudrun Kopp (FDP): energieintensiven Unternehmen in Deutschland, die im-
Ja, gerne. merhin 600 000 Arbeitsplätze unterhalten, tatsächlich
am Standort Deutschland zu halten, damit wir auch in
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Zukunft diese Arbeitsplätze und unseren wirtschaftli-
Danke schön, Frau Kollegin Kopp. – Sie haben über chen Wohlstand –
eine zukünftige Verlängerung der Laufzeiten für AKWs
gesprochen. Ihre Fraktion wünscht sich das. Sie haben in Vizepräsidentin Petra Pau:
diesem Zusammenhang über Möglichkeiten gesprochen, Frau Kollegin Kopp, Sie müssen bitte zum Schluss
Energie günstiger zu produzieren. Ich denke, darin liegt kommen.
ein großer Widerspruch. Denn nach wie vor sind die
AKWs nicht oder nur zu einem kleinen Teil haftpflicht- Gudrun Kopp (FDP):
versichert. Sie wissen das sicher. Eine Enquete-Kommis- – im europäischen und internationalen Wettbewerb
sion hat die tatsächlichen Kosten berechnet. Diese liegen bewahren können.
sehr viel höher als der Anteil, der in den Strompreisen
für AKW-Strom enthalten ist. Vielen Dank.
Ich denke – auch Sie fordern das –, dass die Kosten in (Beifall bei der FDP)
die Preise einfließen müssen. Es sollte nicht so sein, dass
Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Ir- Vizepräsidentin Petra Pau:
gendwann müssen – das sagt auch Ihr umweltpolitischer Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege
Sprecher Herr Kauch – diese Kosten in die Preise ein- Manfred Zöllmer.
fließen. Wie stehen Sie dazu?
Manfred Zöllmer (SPD):
Gudrun Kopp (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin, es ist richtig, dass anfallende Kosten Vor kurzem mussten die Verbraucherinnen und Verbrau-
einkalkuliert werden müssen. Das werden sie auch. cher wieder einmal lesen, dass die Stromversorger zu Be-
Denn die Kosten für die Versicherung werden von den ginn des kommenden Jahres Preiserhöhungen angekündigt
5074 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Manfred Zöllmer
(A) haben. Die Schmerzgrenze ist für die Verbraucherinnen rinnen und Verbraucher von sinkenden Preisen profitie- (C)
und Verbraucher und die Wirtschaft längst überschritten. ren.
Blickt man in aktuelle Statistiken, so ist festzustellen,
dass manche Anbieter in Deutschland die Strompreise Wer Verbraucherinteressen auf diesen Märkten im
seit dem Jahr 2000 um mehr als 50 Prozent angehoben Blickfeld hat, darf jedoch nicht nur auf den Preis
haben. Auch Preiserhöhungen um 30 Prozent sind keine schauen. Neben günstigen Preisen muss aus Verbrau-
Seltenheit. chersicht auch die Versorgungssicherheit gewährleis-
tet sein. Der deutsche Verbraucher sitzt pro Jahr im
Dabei reden wir nicht über marginale Belastungen Durchschnitt 23 Minuten wegen Stromausfalls im Dun-
oder über ein paar Euro mehr oder weniger pro Monat, keln.
die die Verbraucherinnen und Verbraucher gut tragen
können. Millionen Haushalte in Deutschland bekommen Die Netzqualität in Deutschland muss auch in Zu-
durch die ständigen Energiepreiserhöhungen handfeste kunft so gut sein, dass der Inhalt von Tiefkühltruhen
Probleme. Mehr als 5 Millionen Haushalte in Deutsch- nicht durch längere Stromausfälle verdorben wird und
land müssen laut Armutsbericht der Bundesregierung die Menschen nicht längere Zeit im Dunkeln sitzen. Al-
mit einem Nettoeinkommen zwischen 500 und 900 Euro lein ein niedriger Preis kann uns nicht glücklich machen.
monatlich auskommen. Weitere Preiserhöhungen sind da Eine gute Verbraucherpolitik muss günstige Preise und
kaum verkraftbar. Zu Recht hat der Bund der Energie- Versorgungssicherheit miteinander verbinden. Deshalb
verbraucher darauf hingewiesen, dass nach der Miete die brauchen wir politische Rahmenbedingungen, die beides
Energiekosten bei einem steigenden prozentualen Anteil sicherstellen.
zum zweitgrößten Ausgabeposten vieler Haushalte wer- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Zum Beispiel
den. Bei weiteren drastischen Erhöhungen sind die Ener- Emissionshandel! Versteigerungen!)
giekosten in naher Zukunft für viele Menschen in diesem
Land kaum mehr zu tragen. Es bleibt richtig, die Regulierung der Energienetze
durch die Bundesnetzagentur durchführen zu lassen. Al-
Dabei stehen den Verbraucherinnen und Verbrauchern lein die Regulierungsentscheidungen der Bundesnetz-
in Anbetracht der Marktsituation kaum Optionen zur agentur aus den letzten Tagen führten dazu, dass die
Verfügung, an diesen finanziellen Belastungen etwas än- Netzentgelte bei der EnBW Regional AG in Stuttgart
dern zu können. Das, was an individueller Einsparmög- zum 1. September um 14 Prozent gekürzt wurden und
lichkeit zur Verfügung steht, wird von vielen Verbrau- die Netzentgelte bei der Vattenfall Europe AG in Berlin
cherinnen und Verbrauchern bereits genutzt. Trotz aller und Hamburg um 15 Prozent gesenkt werden. Nach ei-
neuen Geräte, die uns insbesondere die Kommunika- ner Modellrechnung der Bundesnetzagentur können die
(B) tionstechnologie ins Haus gebracht hat, ist der Verbrauch Kürzungen einen durchschnittlichen Haushaltskunden in (D)
je Haushalt in den letzten zehn Jahren um etwa 8 Prozent Stuttgart um rund 37 Euro entlasten. Für Berlin und
gestiegen. Hamburg werden die durchschnittlichen Einsparmög-
lichkeiten mit circa 31 Euro bzw. 47 Euro angegeben.
Das eigentliche Problem liegt in der Tat an dem zu
Wichtig bleibt, dass die Unternehmen die Senkung der
geringen Wettbewerb im Energiesektor, der den Ver-
Netznutzungsgebühren an die Haushalte weitergeben.
braucherinnen und Verbrauchern kaum Wahlmöglichkei-
Das ist ein ganz entscheidender Punkt.
ten lässt. Derzeit werden 80 Prozent des Energiemarktes
von nur vier Firmen dominiert. Wir haben es hier mit ei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nem monopolistisch oder oligopolistisch strukturierten
Markt zu tun. Aber auch bei der Netzregulierung darf die Bundes-
netzagentur das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.
(Beifall bei der LINKEN) Kleine Stadtwerke, deren Kosten schon heute unterhalb
der durchschnittlichen Kosten vergleichbarer Unterneh-
– Zu Ihren Forderungen komme ich gleich.
men liegen, dürfen nicht weiter geknebelt werden. Ich
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wir können weiß, wovon ich spreche.
trotzdem klatschen!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
– Das ist auch in Ordnung. Das ist die Situation. Langfristig würden nur die großen Anbieter profitieren,
Es gibt ein gutes Beispiel dafür, wie der Weg vom wenn viele kleine Stadtwerke in ihrer ökonomischen
Monopol hin zu einem Wettbewerbsmarkt erfolgreich Existenz bedroht wären und am Markt nicht weiterma-
beschritten werden kann: Das ist der Telekommunika- chen könnten.
tionsmarkt. Bereits kurz nach Einführung des Wettbe- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Dann sollte
werbs sind die Preise auf diesem Markt drastisch gefal- man einmal einen kommunalen Finanzaus-
len. Die Verbraucherinnen und Verbraucher zahlen heute gleich herstellen!)
für ein inländisches Ferngespräch nur noch 5 Prozent
des Betrages, den man vor Jahren dafür zahlen musste. – Keine Sorge, wir kümmern uns um diese Problematik.
Ich weiß, dass der Telekommunikationsmarkt und der Da können Sie sicher sein. Dieser Hinweis macht eines
Gas- und Strommarkt nicht das Gleiche sind. Die Situa- deutlich: In diesem Zusammenhang gibt es keine einfa-
tion auf diesen Märkten ist unterschiedlich. Aber dieses chen Lösungen. Das, was Sie mit Ihrem Antrag fordern,
Beispiel zeigt: Durch eine gute Regulierung und mit zu- nämlich eine Verlängerung der Preisgenehmigung, ist
nehmendem Wettbewerb werden auch die Verbrauche- schon gar keine einfache Lösung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5075
Manfred Zöllmer
(A) (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Hoch die der andere anführt, aufzunehmen, sonst ist es näm- (C)
kompliziert!) lich keine Debatte.
Die nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerin
Thoben hat die gleiche Forderung erhoben. Am Mitt- Manfred Zöllmer (SPD):
woch, den 30. August, hat die „Financial Times Aber gerne, Herr Kollege Lafontaine. Ich gebe Ihnen
Deutschland“ unter der Überschrift „Stromriesen begrü- nur den Hinweis, die Anträge Ihrer Fraktion vorher et-
ßen Preisaufsicht“ Folgendes geschrieben: was genauer zu lesen. Ich darf einmal Ihren Antrag zitie-
ren. Dort heißt es auf der zweiten Seite:
Die Forderung der nordrhein-westfälischen Wirt-
schaftsministerin Christa Thoben (CDU) nach einer Der Deutsche Bundestag fordert deshalb die Bun-
Verlängerung der staatlichen Aufsicht über den desregierung auf,
Strompreis ist bei den Stromkonzernen inoffiziell – die Preiskontrolle nach § 12 BOTElt über den
auf große Zustimmung gestoßen. 30. Juni 2007 hinaus beizubehalten …
„Preisaufsicht ist klasse“, hieß es am Dienstag bei Das ist die Forderung Ihrer Fraktion. Dazu habe ich
den Versorgern hinter vorgehaltener Hand. „Sie ist mich eben geäußert.
ein staatlich beglaubigtes Gütesiegel und schützt
uns vor Vorwürfen, dass wir unsere Preise unge- (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Sie haben
bührlich anheben“, so ein Energie-Manager, der mich angesprochen und gehört, was ich gesagt
nicht namentlich genannt werden wollte. habe!)

(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Warum hat er Dazu gilt das, was ich gesagt habe.
seinen Namen nicht genannt?) (Zuruf des Abg. Oskar Lafontaine [DIE
LINKE])
Sie sehen also: Sie sind mit Ihrer Forderung auf dem
Holzweg. Eine Wiederbelebung der Bundestarifordnung – Das ist, denke ich, völlig klar.
Elektrizität über das Auslaufen im nächsten Jahr hinaus
ist der falsche Weg. Im Zweifel hilft ein genauer Blick in den Antrag, den
Sie selbst gestellt haben.
Lieber Kollege Lafontaine, Sie haben eben ausge-
führt, dass man mit einer Verlängerung der Bundestarif- Vizepräsidentin Petra Pau:
ordnung Elektrizität in der Lage sei, die – so haben Sie Kollege Zöllmer, der Kollege Maurer möchte Ihnen
das genannt – „Abzocke“ wie in der Vergangenheit zu mit einer Zwischenfrage eine Verlängerung Ihrer Rede-
(B) verhindern. Diese Aussage ist Folge eines Trugschlus- zeit ermöglichen. Lassen Sie das zu? (D)
ses: Bisher gilt diese Genehmigungspflicht; die Pro-
bleme, über die wir sprechen, haben wir aber jetzt. Sie
machen einen Denkfehler. Sie sollten über Ihre Forde- Manfred Zöllmer (SPD):
rung einmal nachdenken. Sie gaukeln den Verbrauche- So viel Großzügigkeit bin ich gar nicht gewohnt.
rinnen und Verbrauchern etwas vor, was Sie nicht errei- Aber er darf natürlich eine Zwischenfrage stellen.
chen können. Sinkende Preise erreichen wir nur durch
einen funktionierenden Wettbewerb. Dafür müssen wir Ulrich Maurer (DIE LINKE):
die Rahmenbedingungen verbessern. Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Ich habe die
schlichte Frage an Sie, wie Sie die von Ihnen angekün-
Vizepräsidentin Petra Pau: digte Absenkung der Preise um 37 Euro für den durch-
schnittlichen Haushaltskunden im Gebiet der EnBW
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
durchsetzen werden.
Lafontaine?
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Manfred Zöllmer (SPD): Das ist eine sehr gute Frage!)
Aber ja.
Manfred Zöllmer (SPD):
Vizepräsidentin Petra Pau:
Die geltenden Gesetze versetzen die Bundesnetzagen-
tur in die Lage, die Netzentgelte entsprechend festzuset-
Bitte. zen.

Oskar Lafontaine (DIE LINKE): (Ulrich Maurer [DIE LINKE]: Ja!)


Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie zur Kenntnis genom- Das ist das eine. Auf der anderen Seite gibt es eine öffent-
men haben, dass ich vorgetragen habe, dass die bisherige liche Diskussion und einen sehr starken und sehr massi-
Praxis nicht funktioniert. Das weiß ich, weil ich sie jah- ven Druck der Verbraucherinnen und Verbraucher in
relang verantwortet habe. Daher habe ich vorgeschlagen, Richtung Stromkonzerne. Ich kann das nur begrüßen. Ein
eine parlamentarische Kontrolle vorzusehen. Haben Sie Beispiel ist der Gassektor. Dort gab es viele tausend Kla-
ferner zur Kenntnis genommen, dass ich auf die erfolg- gen von Verbraucherinnen und Verbrauchern unter Bezug
reiche Praxis in Großbritannien verwiesen habe? Wenn auf die Billigkeitsklausel. Es kam zu sehr interessanten
wir schon diskutieren, bitte ich darum, die Argumente, Gerichtsurteilen, in denen vielen Verbraucherinnen und
5076 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Manfred Zöllmer
(A) Verbrauchern Recht gegeben wurde. Das heißt, auch in (Gudrun Kopp [FDP]: Ja!) (C)
der jetzigen Situation gibt es für die Verbraucherinnen
und Verbraucher durchaus Möglichkeiten, sich gegen Wir haben hier jetzt über die privaten Haushalte gespro-
eine unverschämte Abzocke – wenn es sie gibt – zu weh- chen. Wir müssen aber auch über die kleinen und mittel-
ren. ständischen Betriebe reden, für die die Energiekosten
immer dramatischer werden.
Zusätzlich – das ist ganz wichtig – brauchen wir eine
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Stärkung des Wettbewerbs bei Erzeugung und Vertrieb
Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Wer ist
und damit einen diskriminierungsfreien Netzzugang
schuld daran? – Gudrun Kopp [FDP]: Selbst-
für neue Kraftwerke. Wir brauchen Investitionen in
verständlich!)
neue Kraftwerke. Das ist aus Verbrauchersicht völlig un-
verzichtbar. Es gibt eine Reihe von Neubauprojekten. – Da Sie die Mehrwertsteuer erhöhen wollen, müssen
Diese müssen vorangetrieben werden. Wir brauchen eine wir über Schuld nicht mehr reden. Durch die Erhöhung
Netzanschlussverordnung, die es möglich macht, zu ver- der Mehrwertsteuer kommt auf einen Vierpersonenhaus-
besserten Angeboten zu kommen. Wir diskutieren im halt eine Belastung von 100 Euro pro Jahr zu,
Moment über ein Infrastrukturplanungsbeschleuni-
gungsgesetz. Auch hier müssen die Weichen so gestellt (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
werden, dass die Angebotsseite ihr Angebot erhöhen DIE GRÜNEN – Beifall bei der LINKEN)
kann. und zwar ohne dass Sie das Geld in die Sozialsysteme
Ich begrüße, was der Bundeswirtschaftsminister im stecken, wie wir es gemacht haben. An dieser Stelle
Zusammenhang mit der GWB-Novelle angekündigt hat. seien Sie also ganz still und tun Sie Buße.
Ich glaube, das ist der richtige Weg, um die Miss- Wir müssen, meine Damen und Herren, klar sehen:
brauchsaufsicht zu verschärfen. Das ist die Alternative Was sind die Gründe dafür, dass die Preise steigen? Der
zur Kontrolle. Sie muss verschärft werden. Wir brauchen erste Grund ist in der Tat, dass Gas und Öl knapper wer-
eine Beweislastumkehr und müssen das Wettbewerbs- den. Vor zwei Tagen hat die Börse gejubelt, dass der Öl-
recht zeitgemäß mit dem notwendigen Biss versehen. preis etwas gesunken ist und das Öl nur noch 60 Dollar
Das Ministerium ist hier auf einem sehr guten Weg. pro Barrel gekostet hat. Aber man muss auch sehen, dass
Sie fordern im Übrigen in Ihrem Antrag einen Strom- das Barrel Ende 2001 20 Dollar gekostet hat, dass der
sozialtarif. Ich fand das sehr interessant. Warum fordern Preis sich also mittlerweile verdreifacht hat. Das hängt
Sie eigentlich Sozialpreise nur für Strom, warum nicht auch mit den knapper werdenden Ressourcen zusam-
auch für Benzin, Brötchen oder Jeans? men. Darauf kann man nur reagieren, indem man mehr
(B) auf erneuerbare Energien, Energieeinsparung und Ener- (D)
(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Sie werden gieeffizienz setzt. Das ist ein ganz notwendiger und
Ihre Heizkostenrechnung zahlen können, aber wichtiger Schritt.
die armen Haushalte können das nicht, und der
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
Winter wird schlimm!)
DIE GRÜNEN und der LINKEN)
Überlegen Sie doch einfach einmal, was Sie uns hier mit
Der zweite Grund für die enorm gestiegenen Energie-
Ihrem Antrag vorlegen. Das, was Sie hier dargestellt ha-
preise ist – das hat auch die Linke aufgegriffen –, dass
ben, ist nicht der richtige Weg. Wir müssen den Weg des
die Energiekonzerne ihre Macht am Markt missbrau-
Wettbewerbs beschreiten. Er wird den Verbraucherinnen
chen.
und Verbrauchern auf Dauer sinkende Preise bescheren.
Das ist der richtige Weg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN)
Herzlichen Dank.
Momentan werden die Verbraucherinnen und Verbrau-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) cher mit den hohen Energiepreisen wirklich abgezockt.
Wir können es nicht mehr akzeptieren, dass auf der einen
Vizepräsidentin Petra Pau: Seite die Energiepreise ins Unendliche steigen und auf
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol- der anderen Seite die Gewinne der Energieunternehmen
legin Höhn das Wort. in Milliardenhöhe steigen. Das darf man nicht akzeptie-
ren, meine Damen und Herren; denn diese Unternehmen
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- machen Gewinne auf Kosten der Verbraucherinnen und
SES 90/DIE GRÜNEN) Verbraucher.

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sprechen heute über ein reales Problem. Viele Haus- Es ist richtig, auf Wettbewerb zu setzen; keine Frage.
halte sind in der Tat total erschrocken, wenn sie ihre Aber genauso muss gefragt werden: Was machen wir, so-
Strom- oder Gasrechnung bekommen. Es gibt viele lange es keinen Wettbewerb gibt? Da müssen wir uns die
Haushalte, für die das eine enorme soziale Belastung ist. einzelnen Punkte genau vornehmen. Einen dieser Punkte
Das betrifft übrigens nicht nur Privathaushalte, sondern haben Sie, Frau Kopp, doch angesprochen, nämlich die
auch Gewerbebetriebe. Emissionszertifikate. Ich halte es für eine absolute Un-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5077
Bärbel Höhn
(A) verschämtheit, dass Unternehmen Emissionszertifikate, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
die sie umsonst von der Bundesregierung bekommen, in und bei der LINKEN)
ihre Bilanzen und damit den Verbrauchern und Kunden
in Rechnung stellen. Wir müssen die Trennung von Netz und Betrieb hinbe-
kommen. Das gilt übrigens auch bei der Bahn. Wer will,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass die Preise im Gleichgewicht bleiben, der muss für
und bei der LINKEN) die Trennung von Netz und Betrieb sorgen.
Wir reden hierbei über keine Kleinigkeit, sondern über Vielen Dank, meine Damen und Herren.
5 Milliarden Euro pro Jahr. Rechnen Sie einmal aus, was
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
das pro Kopf der Bevölkerung bedeutet: Jeder Mensch in
und bei der LINKEN – Hans-Kurt Hill [DIE
der Bundesrepublik Deutschland muss durchschnittlich
LINKE]: Wir müssen dafür sorgen, dass die
60 Euro pro Jahr bezahlen, nur weil die Unternehmen
Bahn staatlich bleibt!)
Kosten in ihre Bilanzen stellen, die sie gar nicht haben.
Das ist eine absolute Unverschämtheit, mit der wir end-
lich Schluss machen müssen. Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Joachim Pfeiffer.
und bei der LINKEN)
Bei einem Vierpersonenhaushalt reden wir hier immer- Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
hin über 240 Euro pro Jahr. Wenn er um diese Kosten Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
entlastet werden könnte, wäre das eine Menge für jeden Herren! Ich glaube, es wäre ganz sinnvoll, in dieser De-
Haushalt. batte mit Fakten zu argumentieren und die Historie zu
beleuchten, bevor man das Kind mit dem Bade ausschüt-
Es gibt in diesem Land mittlerweile eine Menge Ver-
tet. Der Wettbewerb und die Liberalisierung, die im
braucherinnen und Verbraucher, die sich wehren. Eine
Jahre 1998 von der damaligen unionsgeführten Bundes-
halbe Million Menschen klagt inzwischen dagegen, die
regierung zusammen mit der FDP eingeleitet wurden,
Gaspreiserhöhung, die ihnen ins Haus geschickt worden
haben dazu geführt, dass es bis heute zu Liberalisie-
ist, zahlen zu müssen. Das finde ich richtig, meine Da-
rungs- und Rationalisierungseffekten in einer Größen-
men und Herren. Wir sollten sie unterstützen.
ordnung von ungefähr 8,5 Milliarden Euro gekommen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist.
und bei der LINKEN) (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Bei wem?)
(B) (D)
Diese halbe Million Menschen gewinnt übrigens jeden – Im Erzeugungsbereich, in dem Überkapazitäten und
Prozess. Warum? Weil die Richter anerkennen, dass wir Ineffizienzen beseitigt wurden. – Im Gegenzug wurden
momentan keinen Wettbewerb haben und dass eine An- im selben Zeitraum zusätzliche staatliche Belastungen in
gemessenheit dieser Preiserhöhungen, solange die Un- Höhe von 12 Milliarden Euro induziert.
ternehmen nicht darlegen, wie die Mehrkosten entstan-
den sind, nicht gegeben ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deshalb müssen wir alles tun, um hier zu einer Ände- Liebe Frau Höhn, ich muss schon sagen: Es ist ziem-
rung zu kommen. Ich habe eben die Emissionszertifikate lich populistisch und dummdreist, wenn Sie sich hier als
angesprochen. Ich finde es gut, was die Bundesregierung Vorkämpferin gegen hohe Strompreise darstellen, ob-
jetzt erwägt, nämlich die Missbrauchsaufsicht, die Ände- wohl Sie selbst zu verantworten haben, dass diese staat-
rung des Kartellrechts. Es ist richtig, dahin zu kommen. lich administrierte Belastung von 1998 bis 2005 von
Genauso richtig ist aber, den Verbrauchern über das Ver- 2 Milliarden Euro auf 12 Milliarden Euro gestiegen ist.
bandsklagerecht mehr Möglichkeiten zu geben, für ihre Das ist die Faktenlage.
Rechte einzutreten und ihren Strom zu angemessenen
Preisen beziehen zu können. Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Kollege Pfeiffer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
DIE GRÜNEN und der LINKEN) Kollegin Höhn?

Der entscheidende Punkt ist aber, dass wir endlich die Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Trennung von Netz und Betrieb erreichen müssen.
Sie hatte gerade Zeit für ihre Ausführungen. Nein.
(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE
(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
LINKE])
NEN – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE
Was wir im Energiebereich haben, ist eine absolute Un- GRÜNEN]: Aha! Weil Sie nicht argumentie-
verschämtheit. Vergleichbar wäre es, wenn ein Teil der ren wollen!)
Autobahnen VW, ein Teil Opel und ein Teil Ford gehörte Was ist passiert? Die Staatsquote ist von 25 Prozent
und Daimler – vielleicht auch umgekehrt – hohe Kosten auf derzeit über 40 Prozent gestiegen.
zahlen müsste, wenn dessen Fahrzeuge auf diesen Auto-
bahnen fahren wollten. Das darf nicht sein. (Dr. Max Stadler [FDP]: Aha!)
5078 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Dr. Joachim Pfeiffer


(A) Im Hinblick auf die Strompreise, die die Haushalte zu Unser Schluss ist ein anderer als der des Antragstel- (C)
zahlen haben – davon haben Sie gesprochen –, beträgt lers: Obwohl der Wettbewerb im Moment noch nicht
die Staatsquote weit mehr als 40 Prozent. Das ist der do- richtig funktioniert, wollen wir ihn nicht sofort wieder
minierende Faktor. abschaffen und durch staatliche Reglementierungen er-
setzen,
(Gudrun Kopp [FDP]: Richtig! Plus Mehr-
wertsteuererhöhung!) (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Ein gro-
ßer Fehler wäre das!)
Das kann man nicht nur auf die Monopole oder Oli-
gopole, auf die ich gleich eingehe, schieben. Wir sollten die dann das Gegenteil dessen, was wir wollen, bewirken
uns vielmehr an die eigene Nase fassen und überlegen, würden. Wir wollen dafür sorgen, dass der Wettbewerb
welche Ursachen die hohen Strompreise wirklich haben. funktioniert.
An dieser Stelle können Sie sich nicht exkulpieren. (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Genau!)
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie können wir es schaffen, dass der Wettbewerb
Sie trauen sich ja noch nicht einmal, Fragen funktioniert? Die Frau Staatssekretärin hat es ausgeführt:
zuzulassen!) In der Tat besteht sofortiger Handlungsbedarf. Wir den-
ken, dass eine marktkonforme, verbesserte Missbrauchs-
Ich nenne nur folgende Stichworte: Ökosteuer auf
kontrolle – die Instrumente wurden genannt – der rich-
Strom, Erneuerbare-Energien-Gesetz, Kraft-Wärme-
tige Ansatz ist,
Kopplung, Konzessionsabgabe und Emissionshandel;
auch beim Emissionshandel zeigen sich inzwischen die (Beifall bei der CDU/CSU)
Auswirkungen der Regelungen, die Ihr Kollege Trittin
eingeführt hat. nicht etwa die Verlängerung der Tarifpreisgenehmigung,
durch die wir im Erzeugungsbereich reglementierend in
(Beifall bei der CDU/CSU – Gudrun Kopp die Preisbildung eingreifen würden.
[FDP]: Die Mehrwertsteuererhöhung nicht
Damit aber nicht genug, es gibt noch andere Dinge,
vergessen! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE
die wir tun können. Ich sage ganz klar: Für uns ist die
GRÜNEN]: Lassen Sie mich doch meine
Grenze der Belastbarkeit erreicht, was die staatliche
Frage stellen, wenn Sie sich trauen, zu argu-
Reglementierung und die staatlichen Abgaben anbe-
mentieren!)
langt. Daran müssen wir denken, wenn wir nächstes Jahr
Die aktuelle Lage sieht also wie folgt aus: Über an die Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
40 Prozent sind staatlich induziert, weitere 35 Prozent gehen.
(B) sind Netznutzungsentgelte. (D)
(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Darauf habe
Es besteht in der Tat ein natürliches Monopol. Die ich gewartet! Wie viel Prozent sind das? Sagen
Verbändevereinbarung hat nicht funktioniert. Der Son- Sie doch mal die Zahl! Gerade einmal 5 Pro-
derweg, den wir auf europäischer Ebene beschritten ha- zent!)
ben, wurde nicht goutiert. Deshalb haben wir im letzten Daran müssen wir denken, wenn wir an die Novellierung
Jahr mit der Novellierung des Energiewirtschaftsgeset- des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes gehen, daran müs-
zes die Grundlage geschaffen, dass durch eine Regulie- sen wir denken, wenn wir das Stromsteuergesetz weiter-
rung dieses Monopolmarktes Wettbewerb initiiert und entwickeln. Deshalb müssen wir darüber nachdenken, ob
simuliert wird, zunächst durch eine direkte Kostenregu- wir beim Emissionshandel, beim NAP II, die richtigen
lierung und ab dem Jahre 2008 durch eine Anreizregu- Instrumente zum Einsatz bringen; dort haben wir die
lierung, die dazu führen wird, dass die Monopolrenditen Stellgrößen in der Hand. Der Staat hat seinen Beitrag zu
in diesem Bereich nicht mehr so stark wie bisher zum leisten, damit es bei den Energiepreisen mehr Wettbe-
Tragen kommen. Preisdämpfend sind in diesem Zusam- werb gibt.
menhang auch die Entscheidungen der Bundesnetzagen-
tur, die aus meiner Sicht einen wirklich guten Job macht. Wir müssen des Weiteren dafür sorgen – das kann
Ihre Entscheidungen gehen in die richtige Richtung. nicht nur die Bundesnetzagentur machen, da sind auch
wir entsprechend gefordert –, dass der Markt bezüglich
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Handel und Liberalisierung funktioniert, und zwar nicht
neten der SPD) nur auf Deutschland beschränkt. Wir brauchen einen
funktionierenden europäischen Markt für Strom und für
Zum Thema Wettbewerb. Es ist völlig richtig, dass es
Gas. Für Strom haben wir eine Börse; sie muss mit wei-
nicht gelungen ist, die Stromerzeugungskapazitäten von
terer Liquidität versorgt werden. Wir brauchen so etwas
1998 bis heute im nötigen Umfang zu diversifizieren und
auch für Gas. Im Oktober wird die Strombörse EEX
den Wettbewerb zu beleben. Gegenwärtig befinden sich
auch den Handel mit Gas aufnehmen, was mit Sicherheit
in diesem Wettbewerbsbereich immer noch, entweder di-
zu höherer Transparenz führen wird.
rekt oder indirekt, 80 bis 90 Prozent der Stromerzeugung
in der Hand der vier großen Unternehmen. Das kann Wir brauchen eine Verbesserung der Interkonnektoren
selbstverständlich zu Marktmissbrauch führen. Diese – der Übergangsstellen, der Kuppelstellen – für Strom
Determinante macht weniger als 20 Prozent aus; beim bzw. Gas ins europäische Ausland, damit der Wettbe-
Rest handelt es sich zum Beispiel um Bereiche wie den werb auf dem Markt besser funktioniert und wir mehr
Vertrieb, in denen der Wettbewerb nicht funktioniert hat. Liquidität bekommen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5079
Dr. Joachim Pfeiffer
(A) Die Bundesnetzagentur hat diese Woche in der Um- Vielen Dank. (C)
setzung des Energiewirtschaftsgesetzes den wichtigen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Schritt getan, die Ausschreibungsbedingungen für die
neten der SPD)
Regelenergie in Form der Minutenreserve festzulegen.
Andere werden entsprechend folgen. Wir müssen hier
die Effizienzen stärken; auch das wird preisdämpfend Vizepräsidentin Petra Pau:
wirken. Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Hill.
Wir müssen vor allem darauf hinwirken, dass der
Netzzugang für neue Anbieter verbessert wird; da sind Hans-Kurt Hill (DIE LINKE):
wir im Erzeugungsbereich an der richtigen Stelle. Wir Herr Dr. Pfeiffer, gestatten Sie mir kurz folgende An-
müssen dafür sorgen, dass neue Anbieter in den Markt merkung: Sie haben eben ganz klar und deutlich gesagt,
eintreten. Das können dezentrale sein wie Stadtwerke, dass Sie dagegen sind, die Staatsquote beim Strom-
die im Übrigen auch Angst haben um die Monopolren- preis weiter zu erhöhen. Sie erhöhen die Staatsquote al-
diten, die sie für die Nutzung ihrer Netze einstreichen. lerdings dadurch, dass Sie die Mehrwertsteuer erhöhen.
Mir ist es egal, ob es ein privates oder ein öffentliches Das ist doch wohl richtig.
Unternehmen ist, das die Monopolrendite verdient – eine
Monopolrendite ist nie der richtige Weg. Deshalb müs- Da Sie eben die erneuerbaren Energien angesprochen
sen auch durch die Regulierung der Netznutzungsent- haben, möchte ich hiermit festhalten: Die Kosten für die
gelte entsprechende Effizienzreserven gehoben werden. erneuerbaren Energien machen gerade einmal 5 Prozent
Die Stadtwerke haben aber auch Chancen: durch die de- des Strompreises aus. Sie erhöhen die Mehrwertsteuer
zentrale Erzeugung von Strom, sei es durch erneuerbare aber um 3 Prozentpunkte. Ich finde, das muss hier in der
Energien oder durch konventionelle, sowie durch den Öffentlichkeit einmal ganz klar gesagt werden. Es wird
Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung. Auch ausländi- der Eindruck erweckt, als ob die erneuerbaren Energien
sche Anbieter sind herzlich eingeladen, als Wettbewer- Schuld daran tragen, dass die Strompreise so hoch sind.
ber einzusteigen. Das führt zu einer Intensivierung des Das ist schlichtweg falsch. Das ist das falsche Signal.
Wettbewerbs. Wir müssen sicherstellen, dass diesen Wir brauchen die erneuerbaren Energien,
neuen Anbietern der Netzzugang ermöglicht wird. (Beifall bei der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
damit wir in Zukunft günstig Strom produzieren und uns
Kollege Pfeiffer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der von Uran, Erdöl und Gas unabhängig machen können.
(B) Kollegin Bulling-Schröter? (D)
Danke.
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): (Beifall bei der LINKEN und dem
Nein. – Wir müssen den Netzzugang verbessern. Es BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ist nicht akzeptabel, dass neue Anbieter über Jahre hin-
weg mit fragwürdigen Argumenten am Netzzugang ge- Vizepräsidentin Petra Pau:
hindert werden. Kollege Pfeiffer, möchten Sie reagieren?
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Souverän!)
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Insofern will ich zusammenfassen: Es nützt nichts, Herr Kollege Hill, ich habe doch überhaupt nicht ge-
das Kind mit dem Bade auszuschütten und in blinden gen die erneuerbaren Energien gesprochen. Hätten Sie
Aktionismus zu verfallen, vielmehr brauchen wir ein dif- mir zugehört,
ferenziertes Vorgehen. Wir müssen dort, wo wir handeln
können als Staat, das heißt, bei den Steuern und Abga- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
ben und bei der Missbrauchsaufsicht, im Erzeugungsbe- GRÜNEN]: Hören Sie sich selbst zu!)
reich, unsere Hausaufgaben machen. Wir müssen die dann wüssten Sie, dass ich gesagt habe, dass über
Bedingungen des Marktes so gestalten, dass Wettbewer- 40 Prozent staatlich induziert sind. Hier sind die Öko-
ber in den Markt eintreten können. Hinzu kommen muss steuer auf Strom, die im Wesentlichen unseren grünen
aber, dass die Kunden die Souveränität zeigen, den An- Freunden zu verdanken ist,
bieter zu wechseln. Viel zu wenige wechseln ihren Gas-
oder Stromanbieter. Auch das führt zu einer Verschlep- (Dr. Rainer Wend [SPD]: Uns auch!)
pung des Wettbewerbes. die KWK, die erneuerbaren Energien, die Konzessions-
abgabe und die Mehrwertsteuer zu nennen. Dies führt
Wenn diese Dinge auf die Schiene gebracht sind, wer-
dazu, dass heute über 40 Prozent des Strompreises staat-
den wir im Ergebnis nicht nur die Strom- und Gaspreise
lich induziert sind. Das ist der Sachverhalt und das kön-
stabilisieren können, sondern zudem Effizienzgewinne
nen wir auch nicht auf andere abwälzen.
erzielen. Wir werden für den Verbraucher etwas tun und
wir werden für die Wirtschaft etwas tun, indem wir die Ich habe gesagt, dass für mich das Ende der Belast-
Wettbewerbsfähigkeit erhöhen, aber bitte mit marktwirt- barkeit erreicht ist. Im Hinblick auf die vorhandenen
schaftlichen Instrumenten und nicht mit staatlichem Di- Stellgrößen müssen wir darüber nachdenken, wie wir
rigismus. hier zu Entlastungen kommen können und wie wir es auf
5080 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Dr. Joachim Pfeiffer


(A) jeden Fall schaffen, die Kosten nicht weiter zu erhöhen. vorangekommen. Die ersten Bescheide der Bundesnetz- (C)
Das habe ich gesagt und das ist überhaupt kein Wider- agentur liegen vor; einige Redner haben das heute er-
spruch. wähnt. Es ist zu zum Teil drastischen Senkungen der
Netzentgelte gekommen, und zwar bei kleinen genauso
(Beifall bei der CDU/CSU – Bärbel Höhn
wie bei großen Anbietern.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie erhöhen
aber trotzdem! Zwischen Reden und Handeln Die Reaktionen zeigen, dass die Unternehmen einige
ist ein Unterschied bei Ihnen! In Ungarn wird Schwierigkeiten haben, sich an diese neue Situation zu
gerade einer entlassen, weil er lügt! Passen Sie gewöhnen. Im Fall von Vattenfall ist es aber tatsächlich
auf, was Sie sagen!) zu Preissenkungen gekommen. Der jüngste Bericht der
Bundesnetzagentur, den ich zur Lektüre empfehle, zeigt,
Vizepräsidentin Petra Pau: wie sich die Senkungen der Netzentgelte auf die Strom-
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Rolf preise der anderen, auch großen Anbieter auswirken. Da
Hempelmann. gibt es komplizierte Verrechnungen zu beachten. Lesen
Sie sich den Bericht einmal durch! Das würde auch die
Frage beantworten, die gerade gestellt wurde: Wie ist ei-
Rolf Hempelmann (SPD):
gentlich sichergestellt, dass sich diese Entwicklung am
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Ende auch im Strompreis abbildet?
gen! Man sieht, dass diese Debatte die Gemüter bewegt.
Es ist ja auch ein wichtiges Thema und das Problem, das Wir waren auf diesem Weg erfolgreich; es ist zu sin-
dem Antrag und dieser Debatte zugrunde liegt, ist auch kenden Netzentgelten gekommen. Wir erwarten nun von
nicht zu leugnen. Das ist übrigens ähnlich wie bei der der Bundesnetzagentur, dass sie für alle Anbieter einen
gestrigen Debatte zum FDP-Antrag, mit dem sie sich auf diskriminierungsfreien Netzzugang durchsetzt. Ich bin
das Bundeskartellamt bezog. der festen Überzeugung, dass dies letztlich auch Auswir-
kungen auf die Stromerzeugung haben wird. Ein diskri-
Wir befinden uns in der Tat in einer Situation ständig minierungsfreier Netzzugang bewirkt, dass ein Anbieter
steigender Energiepreise. Frau Höhn hat eben darauf mit einem günstigeren Angebot bis zum Endkunden
hingewiesen: Es ist nicht nur der Strompreis, sondern es durchdringen kann. Damit wird Druck auf die Konkur-
sind die Energiepreise. Offenbar ist es für uns leichter, renz, also die anderen Anbieter, erzeugt.
eine Kostensteigerung beim Benzin, Heizöl oder Gas zu
akzeptieren, weil hier die Entwicklung der Kosten für Das reicht natürlich bei weitem nicht. Die Parlamen-
die Primärenergie natürlich sehr viel stärker nachvoll- tarische Staatssekretärin beim Bundeswirtschaftsminis-
ziehbar ist als beim Strom, wo dies nur indirekt der Fall ter hat bereits deutlich gemacht, dass wir darüber hinaus
(B) ist und es lediglich um einen Kostenbestandteil geht. eine Kraftwerksanschlussverordnung benötigen. Wir (D)
stehen in der Situation – das haben wir uns auch ge-
Ich will das jetzt aber nicht relativieren. Auch die Stei- wünscht –, dass es sehr viele Interessenten gibt, die in
gerung der Strompreise um 30 Prozent seit 1998 – beim Deutschland Kraftwerke bauen wollen; das sind große
Heizöl waren es zum Beispiel 200 Prozent – ist eine Be- wie kleine, etablierte wie neue Anbieter. Der Gedanke
lastung für die privaten Haushalte und für das Gewerbe. der Nichtdiskriminierung beinhaltet, dass weder die al-
Es ist selbstverständlich, dass wir uns Gedanken darüber ten noch die neuen, weder die großen noch die kleinen
machen müssen, wie wir auf diesem Gebiet erfolgreicher Anbieter zu diskriminieren sind. Wir müssen uns viel-
werden, als wir es in der Vergangenheit waren. mehr wünschen, dass alle, die in Deutschland Kraft-
Ich sage gleich vorweg: Nach meiner Auffassung werke bauen wollen, auch die Gelegenheit dazu bekom-
kann es nicht der richtige Weg sein, die staatliche Preis- men.
kontrolle auf Dauer beizubehalten, sondern der richtige Wir sollten uns hier von der Vokabel „Überkapazität“
Weg kann nur sein, bei der Schaffung von mehr Wettbe- trennen, Herr Dr. Pfeiffer. Dieser Begriff stammt aus der
werb zügig voranzuschreiten. Zeit vor der Liberalisierung und kommt eher aus dem
Wir sollten in diesem Zusammenhang übrigens nicht Bereich der Versorgungsunternehmen. Wir sollten ein
so tun, als würden wir hier bei null anfangen. Das kann Interesse daran haben, dass das Angebot am Markt höher
weder im Interesse der FDP, die gestern einen Antrag ge- ist als die Nachfrage, weil das letztlich einen heilsamen
stellt hat, noch der Grünen, die sich in dieser Debatte Druck auch auf die Erzeugerpreise ausübt.
durchaus unterstützend in Richtung des Antrages geäu-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ßert haben, noch im Interesse der Fraktionen der Regie-
der CDU/CSU)
rungskoalition sein; denn mit dem Energiewirtschaftsge-
setz haben wir im letzten Jahr gemeinsam einen ganz Insofern ist es wichtig, die Rahmenbedingungen so zu
wichtigen Schritt getan. setzen, dass wir ein möglichst großes Angebot bekom-
men, also möglichst viele neue Kraftwerke.
Ich glaube, man muss einmal festhalten, dass damit
letztlich alle vier im Vermittlungsausschuss die Basis da- Ein Instrument in diesem Zusammenhang ist die
für geschaffen haben, dass wir zumindest in einem wich- Kraftwerksanschlussverordnung. Sie kann kurzfristig
tigen Teilbereich, den wir nicht geringreden sollten, aber nur sicherstellen, dass die vorhandenen Netzkapazi-
nämlich im Bereich der Netze, Wettbewerb oder zu- täten so auf die Anbieter, die mit neuen Kraftwerken auf
mindest wettbewerbsähnliche Situationen in einem na- diesen Markt wollen, verteilt werden, dass dem Ge-
türlichen Monopol schaffen. Wir sind auf diesem Weg sichtspunkt der Nichtdiskriminierung Rechnung getra-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5081
Rolf Hempelmann
(A) gen wird, dass also zum Beispiel ein Unternehmen, des- Fortsetzung der Preiskontrolle – wie von den Linken ge- (C)
sen Schwestergesellschaft das örtliche Netz betreibt, fordert – das richtige europa- und börsentaugliche In-
keinen entsprechenden Vorzug hat. Ich denke, dass wir strument ist.
alle daran interessiert sind, diese Verordnung möglichst
schnell auf den Tisch zu bekommen, um hier vorwärts zu Ich halte es für lohnenswerter, die Aufmerksamkeit
kommen. auf die Vorschläge zur Verbesserung der Möglichkeiten
des Bundeskartellamts zur Feststellung des Missbrauchs
Ich glaube, dass mit dieser Verordnung noch etwas einer marktbeherrschenden Stellung zu richten, die aus
geleistet werden muss: Die Bundesnetzagentur muss dem Bundeswirtschaftsministerium angekündigt worden
mit einem zusätzlichen Instrumentarium ausgestattet sind. Es ist interessant, dass sich das Bundeskartellamt
werden. Es muss sichergestellt sein – zum Teil ist das in seit etwa einem Dreivierteljahr mit der Einpreisung kos-
den Instrumenten enthalten –, dass sie da, wo sie Eng- tenlos erhaltener Zertifikate befasst, ohne bisher zu ei-
pässe feststellt, die ein Hindernis dafür sind, dass Anbie- nem Ergebnis gekommen zu sein. Zwar haben Anhö-
ter mit neuen Kraftwerken auf den Markt kommen, auch rungen stattgefunden und im Wirtschaftsausschuss
die Möglichkeit hat, über eine Engpassbewirtschaftung wurde zu dem Thema Bericht erstattet, aber das Bundes-
entsprechende Vorgaben zu machen. Aus den Erkennt- kartellamt sieht sich offenbar nicht in der Lage, den
nissen dieser Engpassbewirtschaftung muss sie dann Lö- Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung jus-
sungen zur Beseitigung der Engpässe herauskristallisie- tiziabel festzustellen.
ren, und zwar in einer möglichst marktgerechten Form,
die keinen Investitionsdirigismus bedeutet. Wenn wir Das kann unterschiedliche Gründe haben. Es kann
das erreichen – wenn also das Netz sukzessive mit dem daran liegen, dass es keinen Missbrauch einer marktbe-
Kraftwerkspark wächst –, dann haben wir die große herrschenden Stellung gibt. Das muss man jedenfalls
Chance, dass jede Kilowattstunde aus neu gebauten An- zunächst einmal objektiv als eine Möglichkeit berück-
lagen das Angebot nachhaltig vergrößert. sichtigen. Es kann schließlich sein, dass dies im Emis-
sionshandel systemimmanent vorgesehen ist. Wenn man
Wir haben nichts davon, wenn neue Kraftwerke ge- aber davon ausgeht, dass Ansätze von Missbrauch er-
baut werden, aber nur ein Teil davon ans Netz kommt kennbar sind, dann fehlt offenbar das Instrumentarium,
oder, falls sie alle ans Netz kommen, nicht in voller Ka- dies den betreffenden Marktakteuren nachzuweisen. Wir
pazität laufen können, weil Netzbarrieren – möglicher- warten darauf, dass uns das Bundeswirtschaftsministe-
weise nicht nur im unmittelbaren Umfeld des Kraftwer- rium entsprechende Regelungen vorlegt, durch die die
kes, sondern insgesamt im deutschen oder europäischen Missbrauchsaufsicht gestärkt wird.
Netz – den Stromfluss behindern.
(B) (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Sprechen Sie Allerdings meine auch ich – das wurde eben bereits (D)
auch von Windkraft?) gesagt –, dass man das Kind nicht mit dem Bade aus-
schütten sollte. Wir wollen nicht die Verlagerung der
– Ich spreche in der Tat auch von der Windkraft. Auch Preisaufsicht von der einen auf die andere Behörde,
ihr sollte ein diskriminierungsfreier Zugang gewährt nämlich auf das Bundeskartellamt. Die bloße Feststel-
werden. Das gilt insgesamt für die erneuerbaren Ener- lung einer überhöhten Marge – das ist im Übrigen in
gien genauso wie für alle anderen Komponenten im rechtlicher Hinsicht ein wenig konkreter Begriff – wird
Kraftwerksmix. sicherlich nicht ausreichen, um den Missbrauch einer
Wir waren beim Thema Kraftwerksanschlussverord- marktbeherrschenden Stellung festzustellen. Meines Er-
nung. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch se- achtens benötigen wir hier in der Tat zielführendere Vor-
hen, dass sich die Welt verändert hat. Wir müssen die schläge aus dem Wirtschaftsministerium.
neue Situation im Blick behalten, das heißt die Verände- Ebenso müssen wir vermeiden, dass es am Ende einen
rungen, die sich durch das Unbundling – also die Ent- Wettlauf zwischen zwei Regulierungsbehörden gibt,
flechtung bzw. die Trennung zwischen Netzbetreiber zwischen der Bundesnetzagentur auf der einen und dem
und Kraftwerk – ergeben haben. Bundeskartellamt auf der anderen Seite. Die Zuständig-
Wie war es früher? Früher waren innerhalb eines Ge- keiten müssen aufeinander abgestimmt werden. Es muss
bietsmonopols Netz und Kraftwerke in einer Hand. Der deutlich werden, dass die Arbeit der einen Behörde, die
Betreiber hat selbst geplant, wie er seinen Kraftwerk- sich immerhin mit einem Drittel des Strompreises be-
spark weiterentwickelt und was am Netz verändert wer- fasst, mit der der anderen kompatibel ist.
den muss.
Es muss auch klar sein, dass es zwischen beiden Be-
Diese Situation gibt es heute nicht mehr, zum einen hörden keinen Wettlauf um den möglichst niedrigen
aufgrund der Entflechtung, zum anderen aus einem Preis, um den billigen Jakob geben darf – es ist nicht von
zweiten Grund: Strom wird nicht mehr nur innerhalb ei- der Hand zu weisen, dass auch so etwas passieren kann –;
ner bestimmten Region um das jeweilige Kraftwerk ge- denn eines ist ebenfalls klar: Wir brauchen im Bereich
liefert, sondern auch deutschland- oder möglicherweise des Stroms genauso wie in anderen Bereichen hohe Qua-
sogar europaweit. Der Strom wird zudem an der Börse lität. Hohe Qualität kostet etwas. Sie hat auch etwas mit
gehandelt. Vor diesem Hintergrund müssen alle Instru- Investitionen zu tun. Deswegen muss die Bundesnetz-
mente, die wir entwickeln, letztlich zum einen börsen- agentur bei ihrem Tun diesen Aspekt ebenfalls immer
tauglich und zum anderen europatauglich sein. Auch in mit im Blick haben, aber eben auch das Bundeskartell-
diesem Zusammenhang muss man bezweifeln, ob eine amt, wenn es entsprechend ausgestattet ist.
5082 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Rolf Hempelmann
(A) Wir wollen den Ausbau der Netze, wir wollen den minister Glos vor kurzem vorgetragen wurden, greifen (C)
Ausbau des Kraftwerkparks. Dazu bedarf es eines an- zu kurz. Zum einen haben die Tarifaufsichten der Länder
ständigen Investitionsklimas. Damit rede ich nicht den- in den letzten Jahren die Preissteigerungen nicht verhin-
jenigen das Wort, die sozusagen wie der pawlowsche dern können; so scharf scheint dieses Instrument doch
Hund reflexartig immer dann, wenn sich die Politik äu- nicht zu sein. Übrigens ist bezeichnend, dass gerade Mi-
ßert, davon sprechen, sie stellten die Investitionen ein. nisterpräsident Stoiber hierbei Bundesminister Glos in
Aber umgekehrt müssen Investitionen natürlich auch am den Rücken fällt. Er hat in dieser Woche dessen Vor-
Kapitalmarkt durchsetzbar sein. Dafür muss man Kre- schläge abgelehnt und stattdessen eine Selbstverpflich-
dite aufnehmen können. Das hat etwas mit den in Zu- tung mit den Konzernen vereinbart. Das mag gut sein,
kunft zu erwartenden Strompreisen und der zu erwarten- aber wir wüssten schon gern, was die CSU wirklich will.
den Rendite zu tun. Deswegen muss sowohl die Arbeit
Wer tatsächlich Verbraucherschutz und zukünftig be-
der Bundesnetzagentur als auch die des Bundeskartell-
zahlbare Energiepreise haben will, muss die Ursachen
amts immer beides im Blick haben: einen fairen Preis
der Strompreissteigerung und der Energiepreissteige-
genauso wie eine möglichst hohe Qualität.
rung tiefgründiger hinterfragen. Begründet werden die
Dies zeigt, dass die Aufgabe durchaus anspruchsvoll vielen Strompreiserhöhungsanträge auch mit gestiege-
ist und dass es sich verbietet, den Bürgerinnen und Bür- nen Beschaffungskosten. Tatsächlich sind seit 1999 die
gern vorzugaukeln, es gäbe einfache Lösungen. Diese Weltmarktpreise drastisch gestiegen. So hat sich der
einfachen Lösungen gibt es nicht. Es gibt auch nicht die Preis für Kohle auf über 60 US-Dollar je Tonne bereits
schnelle Lösung, auch nicht in Form einer Preiskon- verdoppelt und der Preis für ein Barrel Erdöl seit 1998
trolle. auf 60 US-Dollar verfünffacht. Der Preis für Erdgas ist
in Europa seit 1999 verdreifacht worden; in Großbritan-
Vizepräsidentin Petra Pau: nien und den USA, wo man sehr viel auf Erdgas setzt,
Kollege Hempelmann, Sie müssen zum Schluss kom- hat er sich sogar vervierfacht. Der Preis für Uran, Frau
men. Kopp, hat sich seit 1999 ebenfalls verfünffacht; er be-
trägt jetzt 100 US-Dollar je Kilogramm.
Rolf Hempelmann (SPD): Wer zukünftig bezahlbare Energiepreise haben will,
Lassen Sie uns deswegen die Arbeit der Bundesnetz- muss aus der Nutzung der fossilen und der atomaren
agentur unterstützend begleiten und die Vorschläge des Energien aussteigen. Dies ist die entscheidende Strate-
Bundeswirtschaftsministeriums, bezogen auf das Bun- gie.
deskartellamt, möglichst bald zur Kenntnis nehmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Darüber sollten wir dann sachgerecht diskutieren.
(B) sowie bei Abgeordneten der SPD) (D)
Vielen Dank.
Herr Pfeiffer, Sie haben gesagt, die beantragten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Strompreiserhöhungen seien korrekt, weil ökologische
der CDU/CSU) Maßnahmen zu einem zunehmend höheren Strompreis
führten. Darüber kann ich nur den Kopf schütteln. Wenn
Vizepräsidentin Petra Pau: die Verbraucherinnen und Verbraucher endlich die vielen
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der persönlichen Energieeinsparmöglichkeiten nutzten,
Kollege Hans-Josef Fell das Wort. könnten sie ihre Stromrechnung drastisch senken.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sowie bei Abgeordneten der SPD)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
Natürlich kommen durch die Förderung der erneuer-
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Antrag
baren Energien über die im EEG festgelegte Umlage
der Linken und die heutige Debatte um die Energiepreis-
Mehrkosten auf die Stromkunden zu. Aber zum einen
kontrolle kreisen um einen sehr wichtigen Teilaspekt für
sind diese Mehrkosten sehr gering. Zum anderen sind sie
Strom- und Gaspreise. Zu Recht wird auf das Missver-
bereits gesunken, und zwar – hören Sie gut zu, Herr
hältnis zwischen explodierenden Gewinnen der vier gro-
Dr. Pfeiffer – von 0,54 Cent pro Kilowattstunde im Jahr
ßen Konzerne und ihren zunehmenden Tarifsteigerungs-
2005 auf hochgerechnet 0,50 Cent in diesem Jahr, und
wünschen hingewiesen.
das trotz gestiegener Mengen eingespeisten Stroms. Wir
Kollegin Höhn hat bereits auf viele Wettbewerbsmaß- sehen allerdings – genauso wie die große Koalition – die
nahmen hingewiesen; ich will sie nicht wiederholen. Notwendigkeit, der Bundesnetzagentur die Möglichkeit
Auch im Antrag der Linken steht sicherlich viel Wichti- zur Kontrolle zu geben, damit keine überhöhten Ge-
ges. Aber ich weise auch darauf hin, dass derjenige, der winne mit der Umlage erzielt werden. Das ist in der No-
niedrigere Verbraucherpreise will und die Gewinne von velle des EEG, die wir nächste Woche beschließen wer-
Großen schröpfen will, aufpassen muss, dass mit diesen den, gut geregelt.
Maßnahmen nicht auch Stadtwerke und neue Energiean-
Die Behauptung der Konzerne in ihren Anträgen auf
bieter getroffen werden. Hierauf müssen wir vorsorglich
Strompreiserhöhung, dass Mehrkosten für erneuerbare
achten.
Energien aufgebracht werden müssten – hören Sie gut
Auch andere Vorschläge, beispielsweise die Tarifauf- zu, Herr Dr. Pfeiffer –, fallen wie ein Kartenhaus zusam-
sicht der Länder zu verlängern, wie sie von Bundes- men. Das Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv hat in
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5083
Hans-Josef Fell
(A) einer Studie nachgewiesen, dass die Einspeisung von ten, dass effiziente Stadtwerke und Mittelständler nicht (C)
Windstrom bereits die Stromkosten senkt. bürokratisch erwürgt werden. Schließlich brauchen wir
noch Teilnehmer, die an dem von uns angestrebten Wett-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
bewerb partizipieren.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Nach Berechnungen des BWE auf der Basis dieser Stu- NEN])
die gibt es durch die Einspeisung von Windstrom Strom-
kosteneinsparungen in Höhe von 1 Milliarde Euro im Ich bin dankbar für das, was Frau Staatssekretärin
Jahr. In einer Eon-Studie wird sogar von dreimal so ho- Wöhrl in der heutigen Debatte gesagt hat. Weil sie den
hen Einsparungen ausgegangen. Damit sind die Spar- eben beschriebenen Zusammenhang sieht, hat sie davor
effekte, die sich insbesondere für die energieintensiven gewarnt, zu erwarten, dass eine Netzentgeltregulierung
Industriebetriebe positiv auswirken, höher als die Aus- per se eine Strompreisverbilligung bringt. Vielmehr ist
gaben für die Windenergieförderung nach dem EEG. Das eine solche Regulierung erst die Voraussetzung für mehr
ganze Gerede von teueren erneuerbaren Energien ist also Wettbewerb und eine marktwirtschaftliche Entwicklung.
falsch und entbehrt jeder Grundlage.
Wenn wir dabei sind, der Ehrlichkeit und Offenheit
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Ehre zu geben, dann muss man das wiederholen, was
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der hier verschiedentlich angeklungen ist. Die Politik des
LINKEN) Staates hat in entscheidender Weise zur Verteuerung der
Strompreise beigetragen. Seit 1998 hat sich die Staatslast
Übrigens beginnen solche Effekte bereits bei anderen verfünffacht. 40 Prozent der Stromrechnung unserer
erneuerbaren Energien zu wirken. In diesem Sommer Haushalte sind staatliche Abgaben. Übrigens – auch
war der angeblich so sündhaft teure Fotovoltaikstrom an das räumen wir von der Union ein – entfällt der kleinste
der Börse kurzzeitig billiger als der Strom aus Kernener- Teil davon auf die Förderung der erneuerbaren Energien.
gie. Es sind 2 Prozent, nicht 5 Prozent. Wenn Sie sich schon
für das Thema einsetzen, dann bleiben Sie bei den richti-
Vizepräsidentin Petra Pau: gen Zahlen. Dann wird manche Diskussion einfacher.
Kollege Fell, die Auswertung dieser Studie müssen
wir leider auf später verschieben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
An der Stelle – da lassen wir uns nichts in die Schuhe
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schieben – ist der Koalitionsvertrag völlig klar. Wir ste-
(B) Ich komme zum Schluss. hen zu den erneuerbaren Energien und wir werden, (D)
wie es im EEG steht, im Herbst 2007 überprüfen, wie
Frau Kopp, Sie haben Recht: Wir müssen alles tun, das im Detail aussieht. Vorher darüber zu diskutieren, ist
um die Strompreise zu senken. Helfen Sie mit, dass wir aus meiner Sicht nicht richtig bzw. nicht angemessen,
vollständig auf erneuerbare Energien umsteigen und die auch nicht im Sinne der Investoren.
Energieeinsparpotenziale nutzen! Das ist in Zukunft die
entscheidende Möglichkeit, bezahlbare Energiepreise Sie fragen, was mit dem Rest geschieht. Ich sage der
– auch für die sozial Schwachen – herbeizuführen. Ehrlichkeit halber, dass der Rest im Staatshaushalt ver-
schwindet. Das mag der eine oder andere bedauern, aber
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Realität ist so, wie sie ist. Der Staatshaushalt ist
sowie bei Abgeordneten der SPD) schwierig. Wir sind noch nicht am Ende des Sanierungs-
prozesses. Wir haben zwar die Nettoneuverschuldung
Vizepräsidentin Petra Pau: halbiert, aber wir sind noch nicht in der komfortablen
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Lage, dass wir jetzt schon über neue Subventionen oder
Dr. Georg Nüßlein für die Unionsfraktion das Wort. über Steuersenkungen reden können. Ich sage das den
selbst ernannten Verbraucherschützern – Frau Höhn ist
(Beifall bei der CDU/CSU) leider nicht mehr da –, die früher für die ideologisch be-
dingte Verteuerung eingetreten sind und jetzt in der De-
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): batte „Haltet den Dieb!“ rufen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
(Beifall bei der CDU/CSU)
Meine Herren! Wir wollen mehr Wettbewerb im Strom-
bereich. Dem stehen die natürlichen Monopole im Netz- Die Problematik für die Haushalte und für die Wirt-
bereich entgegen. Deshalb müssen wir eine Netzentgelt- schaft wurde aus meiner Sicht heute ausreichend erläu-
regulierung praktizieren, was wir momentan tun. Das tert. Auf die Frage, was zu tun ist, erleben wir bei den
ist aber nicht, wie heute manchmal der Eindruck erweckt Linken – aber nicht nur links, sondern insgesamt in
wurde, das Ende eines Prozesses, sondern der Anfang, Deutschland – einen beliebten Reflex, nämlich den Ruf:
die Voraussetzung für einen chancengleichen Zugang zu Der Staat muss das jetzt richten. Ich stelle eine Frage.
den Netzen und damit für den von uns angestrebten Wir haben derzeit und noch bis zum 1. Juli 2007 eine
Wettbewerb. staatliche Kontrolle der Preise.
Herr Kollege Fell, Sie haben in einem Punkt Recht: (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Die Sie
Wir müssen bei diesem Prozess sehr genau darauf ach- auslaufen lassen wollen!)
5084 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Dr. Georg Nüßlein


(A) Was hat sich denn getan? Wir beklagen auf der einen Sie, meine Damen und Herren, von diesen alten Kamel- (C)
Seite den Anstieg der Strompreise und die staatliche len abrücken würden.
Kontrolle und Sie sagen, ein Mittel dagegen sei die Fort-
führung der staatlichen Kontrolle. Das kann doch nicht (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Immer
sein. Das ist vollkommen unlogisch. diese Staatsgläubigkeit!)

(Beifall bei der CDU/CSU) Sie müssen doch sehen, dass der Sozialismus gescheitert
ist. Wenn Sie mal so weit wären, könnten wir miteinan-
Wenn wir die Preiskontrolle aufrechterhalten, dann ge- der vielleicht einen sinnvolleren Dialog führen.
hen auch die sonstigen Maßnahmen, über die wir heute
diskutiert haben, zum Beispiel die, die das Kartellrecht (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg.
und die von Ihnen angesprochene Billigkeitskontrolle Gudrun Kopp [FDP])
nach dem BGB betreffen, in weiten Teilen ins Leere, Betrachten wir das Problem abschließend noch ein-
weil die Preise staatlich genehmigt sind. Wo soll der mal von einer anderen Seite. Wenden wir uns der Rolle
Missbrauch herkommen? Es gibt doch ein staatliches des Staates zu. 40 Prozent des Preises sind staatlich be-
Zertifikat für diese Preise. dingt. Das setzen ohnehin wir hier fest – übrigens zum
Nachteil der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Vizepräsidentin Petra Pau: (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Zwischenfrage NEN]: Das ist nicht zum Nachteil der Verbrau-
des Kollegen Hill? cher!)

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):


32 Prozent entfallen auf die Netzentgelte. Das läuft über
die Regulierungsbehörde. Also sind schon gut 70 Pro-
Ja.
zent staatlich festgelegt. Für den Rest, die Erzeugung,
haben wir eine Börse. Im Hinblick darauf kann man na-
Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): türlich sagen: Dort spielen die großen vier eine entspre-
Vielen Dank, Herr Kollege Nüßlein. – Es ist doch chende Rolle; sie können sich parallel verhalten.
festzustellen, dass sich der staatliche Anteil am Strom-
preis in den letzten zwei Jahren nicht erhöht hat. Das be- (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was Sie sa-
deutet, dass der Wunsch nach Regulierung vonseiten der gen, ist reine Ideologie!)
Länder nicht daraus resultiert, dass sich die Staatsquote – Nein! – Die Realität sieht aber anders aus. Die Realität
erhöht hat, sondern daraus, dass die Gewinne der Kon- sieht doch so aus: Es gibt 150 Marktteilnehmer dort. An
(B) zerne ins Unermessliche gestiegen sind und die Kunden der Börse gibt es eine hohe Liquidität. Der Preis an die- (D)
– sprich: die Haushalte – nicht mehr in der Lage sind, die ser Börse liegt im europäischen Mittel. Sie haben halt
momentanen Preise zu bezahlen. Ich frage Sie: Wenn die keine Ahnung von Börse und Markt, Herr Kollege.
Staatsquote nicht gesunken ist, dann hat das doch bisher
funktioniert und wird vielleicht auch in der Zukunft (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
funktionieren? Es wäre völlig falsch, auf der einen Seite für Wettbe-
werb zu sorgen und auf der anderen Seite dann das, was
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): wirklich Markt ausmacht, nämlich eine Börse, wieder
Wenn Sie sich anschauen, dass sich insbesondere im staatlich zu kontrollieren und die Ergebnisse zu revidie-
Emissionshandel Gewinne der Stromversorger durch die ren. Das ist der falsche Ansatz.
Einrechnung von Opportunitätskosten ergeben, dann ha-
(Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann
ben Sie in dem Punkt zwar Recht, aber die Maßnahme
[CDU/CSU])
ist die falsche. Wir müssen uns dann überlegen, wie wir
mit dem Emissionshandel umgehen. Ich sage Ihnen auch Zum Vertrieb sage ich Ihnen: Man wird am Schluss
ehrlich: Wer für das Instrument des Emissionshandels eine gewisse Marge brauchen, weil man sonst keine
eintritt, nämlich die Internalisierung externer Kosten, der Wettbewerber findet. Wer soll denn in einen Markt ein-
muss mit einem Preisanstieg rechnen. Darum geht es treten, auf dem Preis und Kosten gleich hoch sind?
letztendlich. Es wird gesagt: Die haben die Zertifikate
kostenlos bekommen. – Das ist richtig. Aber die Einprei- (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Und es
sung gelingt nur auf Märkten, auf denen entsprechende sich nicht lohnt!)
Preise letztlich auch durchsetzbar sind. In einem Markt, Welche Motivation soll da vorhanden sein? Auch das ist
in dem der Wettbewerb funktioniert, sähe die Situation Marktwirtschaft. Sie werden das nie lernen.
anders aus. Deshalb wollen wir Wettbewerb erreichen
und auf diese Art und Weise das Thema angehen. Wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
wollen nicht staatlich genehmigte Preise oder gar noch Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Markt-
staatlich genehmigte Gewinne einführen. wirtschaft hat die PDS noch nie verstanden!)

(Beifall bei der CDU/CSU)


Vizepräsidentin Petra Pau:
Wir wollen natürlich nicht so weit gehen, wie der Kollege Nüßlein, Sie haben offensichtlich eine sehr
Kollege Lafontaine heute angeregt hat, und auch noch anregende Wirkung in Bezug auf Zwischenfragen. Las-
die Netze verstaatlichen. Es wäre viel gewonnen, wenn sen Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Hill zu?
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5085
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) (Zurufe von der CDU/CSU: Nein! – Ute Kumpf Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C)
[SPD]: Wir wollen nach Hause!) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Auch dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
– Das entscheidet der Redner. sen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla-
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
mentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.
Ich hätte es gern getan. Wir klären das anschließend.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der
der SPD) Bundesministerin für Gesundheit:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was wir statt Regulierung über das ohnehin gebotene Wir haben heute in Berlin die Situation, dass Ärzte und
Maß hinaus brauchen, ist: Effizienzsteigerung, moderne Ärztefunktionäre hier demonstrieren und gleichzeitig
Technik, um den Verbrauch zu reduzieren, standortver- wir ein Gesetz beraten, das die Situation der ärztlichen
trägliche Ausgestaltung des Emissionshandels. Darüber Versorgung in Deutschland deutlich verbessern wird.
müssen wir uns unterhalten. Auch über das Thema Ver-
steigerung kann man aus meiner Sicht diskutieren. Wir Wir haben Vorschläge aufgegriffen, die schon lange
brauchen einen wohl ausgewogenen Energiemix, bei im Raum standen, und diese in das Gesetzgebungsver-
dem es von der Wirtschaftlichkeit auf der einen Seite bis fahren eingebracht. Es ist leider so, dass im Bereich der
hin zur Umweltverträglichkeit auf der anderen Seite Gesundheitspolitik Streitfragen stärker wahrgenommen
geht, bei dem es von den erneuerbaren Energien auf der werden als die Fragen, über die man sich einig ist. Wir
einen Seite bis hin zur Kernkraft auf der anderen Seite sind uns in diesem Haus darüber einig, dass das ärztliche
geht. Wir brauchen vor allem mehr Wettbewerb, euro- Berufsrecht entschlackt, verändert und an neue Heraus-
päisch, national und getragen von den Verbraucherinnen forderungen angepasst werden muss. Wir sind uns in
und Verbrauchern, die leider noch nicht in dem Maß be- diesem Haus auch darüber einig, dass es Sinn macht,
reit sind, ihre Anbieter zu wechseln. Nur 2 Prozent ha- dass die ärztlichen Tätigkeitsfelder so neu gestaltet bzw.
ben bisher von der Möglichkeit Gebrauch gemacht. Ich verändert werden, dass zum Beispiel Ärzte auch als An-
würde mir wünschen, dass da Bewegung ins Spiel gestellte beruflich tätig sein können, dass Ärzte Zweit-
kommt. praxen eröffnen dürfen und dass mehr Flexibilität in das
System der Niederlassungen gebracht wird.
Abschließend: Der Kompromiss in Bayern, der über
den 1. Juli 2007 hinausreicht, hat deutlich gezeigt, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(B) man einiges bewegen kann, und zwar nicht nur auf einer (D)
gesetzlichen Basis, sondern auch in einem vernünftigen Wir haben heute in Deutschland keine generelle Un-
Dialog. Den wünsche ich uns energiepolitisch intern ge- terversorgung mit ärztlichen Leistungen, sondern wir ha-
nauso wie draußen mit den Anbietern. ben gleichzeitig Überversorgung und Unterversorgung.
So steht beispielsweise in Berlin ein Vertragsarzt für die
Vielen herzlichen Dank.
Behandlung von 531 Einwohnern zur Verfügung, in
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Brandenburg dagegen muss ein Vertragsarzt 825 Patien-
neten der SPD – Rolf Hempelmann [SPD]: Ein tinnen und Patienten betreuen. Konkret heißt das: Eine
bisschen Folklore am Schluss musste sein!) Unterversorgung haben wir in den ostdeutschen Ländern
sowie in den ländlichen Gebieten, mittlerweile im Wes-
ten wie im Osten. Eine Überversorgung haben wir in fast
Vizepräsidentin Petra Pau:
allen Universitätsstädten und in den Ballungszentren;
Ich schließe die Aussprache. hier ist eine Maximalversorgung gegeben. Verantwort-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf lich dafür ist zum einen das ärztliche Berufsrecht, das
Drucksache 16/2505 an die in der Tagesordnung aufge- flexible Lösungen eher verhindert hat, zum anderen
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- mangelt es aber auch an finanziellen Anreizen. Dieses
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Problem werden wir nach Verabschiedung des Vertrags-
so beschlossen. arztrechtsänderungsgesetzes sehr beherzt angehen.
Wir werden nun das ärztliche Berufsrecht deutlich
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: entschlacken. Wir wollen einen Internisten aus Schöne-
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- berg nicht zwingen, nach Rathenow umzuziehen.
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- (Dr. Margrit Spielmann [SPD]: Aber schön ist
rung des Vertragsarztrechts und anderer Ge- es dort!)
setze (Vertragsarztrechtsänderungsgesetz –
VÄndG) Aber dieses Gesetz ermöglicht es ihm künftig, beispiels-
weise in Rathenow eine Zweitpraxis zu gründen. Es wird
– Drucksache 16/2474 – dafür sorgen, dass künftig Kooperationen möglich wer-
Überweisungsvorschlag: den, und es macht es für Ärzte leichter, andere Ärzte an-
Ausschuss für Gesundheit (f) zustellen.
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
5086 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk


(A) Wir brauchen Berufsausübungsgemeinschaften zwi- Auch angesichts der heute schon angesprochenen (C)
schen allen zur vertragsärztlichen Versorgung zugelasse- Ärzteproteste – dabei geht es wirklich um Grundsätzli-
nen Leistungserbringern. Dazu ist es Ärztinnen und Ärz- ches, um Existenzen – sollen und wollen wir den Gedan-
ten in Zukunft gestattet, auch über die bisherige ken der Subsidiarität noch stärker in den Vordergrund rü-
Altersgrenze hinaus in von Unterversorgung bedrohten cken.
Regionen zu praktizieren.
(Beifall bei der FDP)
In einem weiteren Schritt wird die Koalition die ärzt-
Wir haben zahlenmäßig überversorgte und wir haben
liche Gebührenordnung reformieren. Danach wird es
zahlenmäßig unterversorgte Gebiete. Aber ob das in der
künftig möglich sein, regionale Zu- und Abschläge zu
Wirklichkeit immer so ist, ob diese Gebiete also tatsäch-
gewähren. Auch dies wird dazu beitragen, dass sich für
lich unterversorgt oder überversorgt sind, das weiß man
Ärztinnen und Ärzte in Zukunft die Niederlassung in
leider eben immer nur vor Ort. Ich bin immer noch An-
ländlichen Räumen wieder mehr lohnt.
fänger in diesem Parlament: Ich habe mit Erstaunen ge-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sehen, dass dieser Gesetzentwurf 43 Seiten hat.
Ein weiterer Aspekt ist mir besonders wichtig: Das (Ute Kumpf [SPD]: Der große Bruder kann es
Gesetz beseitigt auch die bestehenden Einkommensun- erklären!)
terschiede zwischen Ost und West, insbesondere in drei
Nicht alles ist für jemanden, der nur Arzt und kein Jurist
Bereichen: bei den privatärztlichen und zahnärztlichen
ist, ganz verständlich. Wir sollten in der Ausschussarbeit
Leistungen sowie bei freiberuflichen Hebammen.
darauf hinwirken, möglichst viel Verantwortung vor Ort
(Beifall der Abg. Dr. Margrit Spielmann anzusiedeln.
[SPD])
Ein Arzt kann mit 58 Jahren befähigt sein; er muss es
Es trägt somit ein Stück zu einem einheitlichen Einkom- nicht. Er kann auch mit 68 Jahren ausgesprochen befä-
mensniveau in Deutschland bei und sorgt so für mehr higt sein; er muss es nicht. Ich kann eine solche Angele-
Gerechtigkeit. Angesichts der Herausforderungen der genheit nicht generell regeln. Das kann nur eine Verant-
Zukunft, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es nämlich wortungsgemeinschaft vor Ort. Deswegen muss man
notwendig, diese Unterschiede in der gesundheitli- von einer Regelung von oben Abstand nehmen, großzü-
chen Versorgung zu beseitigen. Es kann nämlich, wenn gig sein und ein bisschen Freiheit wagen: Die Verant-
wir ein hohes Niveau bei der Versorgung haben wollen, wortung sollte vor Ort getragen werden; dort sollte die
nicht angehen, dass wir solche sehr großen Unterschiede Qualitätskontrolle stattfinden. Wir haben – noch – Kas-
weiterhin tolerieren. senärztliche Vereinigungen. Die dort Beschäftigten müs-
(B) sen die Verantwortung übernehmen. (D)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP)
Sie nicht zu tolerieren, ist, glaube ich, ein Stück Solidari-
tät, aber auch ein Stück Qualität. Es wird dazu führen, Ich denke, es ist etwas Richtiges und Wichtiges ange-
dass wir ärztliche Leistungen für diejenigen Menschen, stoßen worden. Ich hoffe, dass dieses Gesetzeswerk ver-
die sie brauchen, auf jeden Fall wieder zugänglich ma- schlankt wird, dass wir mit weniger Paragrafen und mit
chen. weniger Verweisen auskommen, dass es so formuliert
wird, dass man es auch vor Ort verstehen kann und dass
Mit diesem Gesetz gehen wir in die richtige Richtung. man nicht in langen Auslegungsdebatten verharrt.
Ich wünsche mir sehr, dass bei allem Dissens und trotz
aller Diskussionen auch zur Kenntnis genommen wird, Ich weiß, dass die Kompetenten nicht immer begierig
dass diese Koalition handelt. Sie hat es in Bezug auf das nach der Verantwortung sind. Man delegiert gern zurück,
Vertragsarztrecht bereits getan. Vielleicht wird auch ein- lässt es die anderen entscheiden und freut sich, wenn der
mal mehr über positive Aspekte im Gesundheitswesen Gesetzgeber entschieden hat; schließlich war man es
berichtet, auch wenn die Medien natürlich eher an der dann nicht selbst, also die Personen vor Ort oder die ei-
Skandalisierung anderer Dinge interessiert sind. Lassen gene Gruppe, sondern der Gesetzgeber. Der Gesetzgeber
Sie uns zu unserer eigentlichen Aufgabe zurückfinden: sollte die Personen vor Ort darauf aufmerksam machen,
Gesundheit für alle in der Bundesrepublik Deutschland. dass sie die Kompetenten sind und daher geeigneter
sind, die Verantwortung zu tragen. Insofern hoffe ich,
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) dass die Beratungen dieses Gesetzes eine Verschlankung
bewirken, die Subsidiarität fördern und daher die ärztli-
Vizepräsidentin Petra Pau: che Versorgung sichern und verbessern helfen. Ich freue
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege mich auf die Beratungen.
Dr. Konrad Schily.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Harald
Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Dr. Konrad Schily (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich Vizepräsidentin Petra Pau:
glaube, dass dieser Gesetzentwurf ein Schritt in die rich-
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
tige Richtung ist; aber ich habe meine Zweifel daran,
Dr. Hans Georg Faust.
dass die darin enthaltenen zahlreichen Regelungen ziel-
führend sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5087

(A) Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): Leistungsvolumina in Menge und Preis, die auch bei (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehrleistungen Kostendeckung zulassen.
Vertragsarztrechtsänderungsgesetz – das klingt kompli-
ziert und trocken, es wird am Freitagnachmittag behan- (Beifall bei der CDU/CSU)
delt, dieses Thema ist nur etwas für Spezialisten. So wenig wie der Arzt mit seiner Arbeitskraft und sei-
Weit gefehlt! Dass sich heute in Berlin erneut Tau- nem Vermögen für Mehrleistungen haften darf, so wenig
sende von Ärzten zum Protest versammeln, hat auch viel dürfen vermeidbare Leistungsausweitungen das Gesamt-
mit dem zu tun, was wir endlich mit diesem Gesetz ver- system belasten. Hier sind wir aufgefordert, vernünftige
ändern. Wir sollten und wir werden die Sorgen und Nöte Rahmenbedingungen zu schaffen und zusammen mit der
der Ärzte ernst nehmen, genauso wie wir uns um eine Ärzteschaft selbststeuernde Mechanismen zu entwi-
flächendeckende Versorgung durch Krankenhäuser und ckeln.
um die Arbeits- und Rahmenbedingungen für die Kran- Die Debatte darüber, ob Ärzte zu viel, zu wenig oder
kenkassen kümmern. Aber im Mittelpunkt unserer Be- richtig verdienen, halte ich für höchst überflüssig. Auch
mühungen steht der Patient, der kranke Mensch. die Erkenntnis darüber, dass das Durchschnittsjahresein-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei kommen von Ärzten vor Steuern bei 80 000 Euro liegt,
Abgeordneten der FDP und der LINKEN) hilft uns hier nicht weiter. Es gibt die gut verdienenden
Spezialisten in modern ausgestatteten Gemeinschafts-
Dieser wird in der gesundheitspolitischen Diskussion praxen in Großstädten. Es gibt Ärztinnen und Ärzte in
nur allzu leicht vergessen. familiärer Tradition in den alten Bundesländern, die die
Im Vertragsarztrechtsänderungsgesetz geht es ganz schuldenfreie Praxisimmobilie über Generationen wei-
entscheidend um den Patienten. In seiner Not wendet er tergeben, einen treuen Patientenstamm haben und fest-
sich nicht an die Politik, nicht an die Krankenkasse und stellen, dass ihr Einkommen zwar rückläufig, aber noch
auch nicht an die Verbraucherberatung. Nein, er wendet hinreichend ist.
sich in seiner Not an seinen Arzt. Die Arzt-Patienten-Be- Es gibt aber eine zunehmende Zahl von Ärzten, vor-
ziehung ist die wichtigste Beziehung in unserem Ge- nehmlich in den neuen Bundesländern, die sich bei der
sundheitssystem und diese müssen wir schützen: schüt- Praxisniederlassung hoch verschuldet haben, die in den
zen vor allzu starker Reglementierung durch die Politik, dünn besiedelten Gebieten im häufigen Bereitschafts-
schützen auch vor bürokratischen Eingriffen durch die dienst große Strecken fahren müssen, keinen Privat-
Krankenkassen, schützen aber auch dann, wenn diese patienten in ihrer Kartei haben und denen beim Gedan-
enge Beziehung materiell ausgenutzt wird. ken an ihre Altersversorgung schlecht wird.
(B) Die Rahmenbedingungen für diese enge, sensible Be- (D)
(Beifall des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜND-
ziehung sind in Deutschland nach wie vor gut. Wir las- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Annette Widmann-
sen sie uns auch nicht schlechtreden. Mauz [CDU/CSU]: So ist es!)
(Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann Unter den Ärzten, die heute in Berlin demonstrieren, fin-
[CDU/CSU]) den sich sicher alle Gruppen, am wenigsten aber die von
Insbesondere die Erreichbarkeit und der Zugang zu den mir zuerst genannte.
Leistungen des Gesundheitssystems werden in der Wis-
Mit dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz lösen wir
senschaft übereinstimmend gelobt. Wer über Wartezei-
die Finanzprobleme der Ärzteschaft nicht. Wir gehen
ten in deutschen Arztpraxen klagt, sollte sich einmal die
aber – das ist bei Gesetzgebungsverfahren sicher unge-
Wartelisten im europäischen Ausland, insbesondere im
wöhnlich – Hand in Hand mit der Ärzteschaft eine ent-
sozialen Skandinavien, anschauen.
scheidende Verbesserung der Rahmenbedingungen an.
Die medizinische, die ärztliche Versorgung ist auf ho- Insbesondere der 107. Deutsche Ärztetag in Bremen hat
hem Niveau. Zunehmend sind die Leistungen der Haus- berufsrechtliche Grundlagen geliefert, die wir nun in
und Fachärzte qualitätsgesichert, und das Tag und Nacht. Gesetzesform gießen.
Flächendeckend sind Vertragsärzte auch zu ungünstigen
Zeiten im Einsatz. Das Notarztsystem in Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU)
sucht international seinesgleichen. Endlich können Ärzte ohne Begrenzung andere Ärzte
Wie steht es um den anderen Partner in der Arzt- anstellen, endlich können Ärzte neben ihrer Vertrags-
Patienten-Beziehung, den Arzt? Über 12 000 deutsche arzttätigkeit auch als angestellte Ärzte im Krankenhaus
Ärzte arbeiten nach teurer staatlicher Ausbildung im arbeiten und endlich dürfen sie auch außerhalb ihres Sit-
Ausland; immer mehr ausscheidende Hausärzte, die zes an weiteren Orten vertragsärztlich tätig sein.
keine Praxisnachfolger finden; immer mehr junge Medi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
zinerinnen und Mediziner, die nicht in den eigentlichen
Arztberuf gehen: Das muss uns zum Nachdenken brin- Diese Möglichkeiten sind gar nicht hoch genug einzu-
gen und zum Handeln zwingen. schätzen.
Die Fragen der Vergütung sollen im Rahmen der an- Die von mir angesprochenen Versorgungsdefizite in
stehenden Gesundheitsreform gelöst werden. Hier müs- einzelnen Regionen Deutschlands sollen zum einen
sen wir von den Budgets weg und hin zu vereinbarten durch zusätzliche Vergütungsanreize und zum anderen
5088 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Dr. Hans Georg Faust


(A) durch die Aufhebung der Altersgrenze für Ärzte in un- Ärzte in der Pflicht, im Interesse ihrer Patienten den Dia- (C)
terversorgten Gebieten beseitigt werden. log mit der Politik, mit uns, fortzusetzen.
(Beifall der Abg. Dr. Margrit Spielmann (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
[SPD])
Wenn in einem eng umgrenzten Gebiet örtlich Versor- Vizepräsidentin Petra Pau:
gungsprobleme bestehen, obwohl regional eine ausrei- Nun spricht für die Fraktion Die Linke der Kollege
chende Versorgung gegeben ist, dann kann in Zukunft Frank Spieth.
auch hierauf flexibel reagiert werden. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Frank Spieth (DIE LINKE):
Zwei wichtige Punkte des Vertragsarztrechtsände-
rungsgesetzes möchte ich noch ansprechen. Der eine Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Punkt ist die Verbesserung der Rechte der Patientenver- Dr. Faust, weiten Teilen Ihrer Aussagen kann ich zustim-
treter in den Selbstverwaltungsgremien auf Bundes- und men. Den heute protestierenden Ärzten sollten wir ange-
Landesebene, wobei hier zusätzlich die Finanzierung der sichts ihrer Bereitschaft, sich mit dem Gesundheits-
Patientenbeteiligung verbessert wird. Der andere wich- reformgesetz kritisch auseinander zu setzen, und der
tige Punkt ist die Erleichterung bei der Einziehung der Diskussion über die Frage, ob das Vertrauensverhältnis
Praxisgebühr. Das bisher aufwendige und teure Rechts- zwischen Arzt und Patient und umgekehrt nicht allmäh-
verfahren wird so vereinfacht, wie es auch in anderen lich zerstört wird, sagen, dass ihre Kritik berechtigt ist
Lebensbereichen bei säumigen Zahlern üblich ist. und es in der Tat darauf ankommt, Positionen zu bezie-
hen.
Gerade die Erleichterung bei der Einziehung der Pra-
xisgebühr zeigt die Probleme auf, die Ärzte neben Hono- Allerdings möchte ich an dieser Stelle auch darauf
hinweisen, dass sich der Bundesverband der Hausärzte
rarsorgen und verkrusteten Strukturen noch haben: Das
sind die Probleme mit der Bürokratie. Da hilft das Ver- an diesem Protest ausdrücklich nicht beteiligt, weil er
tragsarztrechtsänderungsgesetz ein wenig weiter. Ich er- sagt: Wir als Hausärzte und als Ärzte insgesamt müssen
mehr tun, als nur auf unsere Vergütung zu schauen. Wir
hoffe mir aber vieles vom anstehenden Gesundheitsre-
formgesetz. tragen eine Gesamtverantwortung in diesem System. –
Deshalb möchte ich hier die Gelegenheit nutzen, den
Nun kann man den Wert von Disease-Management- Ärzten zu sagen: Mehr Ethik und nicht nur Monetik! Das
Programmen sicher nicht am Dokumentationsaufwand sehen viele Ärzte ebenso.
festmachen. Wenn aber nach der Statistik einer von fünf
(B) Nun zum Vertragsarztrechtsänderungsgesetz. Mit die- (D)
ausgefüllten Bögen von den Krankenkassen wegen Do-
sem Gesetz der Bundesregierung soll eine Abmilderung
kumentationsmängeln zurückgewiesen wird, dann er-
drohender hausärztlicher Unterversorgung – um die
höht sich der bürokratische Aufwand für die Ärzte
geht es im Wesentlichen – erreicht werden. Frau Staats-
enorm. Weniger Bögen von weniger Krankenkassen, Zu-
sekretärin, wir unterstützen dieses Anliegen. Wir unter-
rücksendungen nur bei Inplausibilitäten, mehr gesunder
stützen zudem wesentliche Teile der Vorschläge, die in
Menschenverstand und weniger Behördenmentalität
diesem Gesetz enthalten sind. Unsere Fragen zielen aber
würden aus meiner Sicht entscheidend weiterhelfen.
darüber hinaus. Wir haben im Rahmen der Selbstbefas-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP sung von Sachverständigen in Bezug auf die Unterver-
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sorgungsproblematik die Befürchtung gehört, dass das
nicht ausreicht. Diese Befürchtung teilen wir. Es geht in
Alles in allem wird mit dem Vertragsarztrechtsände-
der Tat um die Frage, ob wir nur mithilfe von Anreizsys-
rungsgesetz berechtigten Forderungen der Ärzteschaft
temen erreichen können, dass Ärzte sich künftig in
Rechnung getragen. Mit der anstehenden Gesundheitsre-
strukturschwachen Regionen, zum Beispiel in der Eifel,
form gehen wir die Ablösung der Budgets und die Erfül-
im Thüringer Wald oder im Bayerischen Wald, nieder-
lung der Forderungen nach einer angemessenen Hono-
lassen.
rierung in Euro und Cent an und verlieren die Sorgen
über eine überbordende Bürokratie nicht aus dem Blick. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Im
Ostseeraum!)
Den in Berlin demonstrierenden ärztlichen Kollegen
möchte ich sagen: Wir haben Verständnis für ihre be- – Auch im Ostseeraum. Das Problem ist überall das glei-
rechtigten Anliegen. Das Verhältnis Arzt – Patient ist ein che. Ich könnte Ihnen Beispiele aus Thüringen nennen,
hohes Gut und verdient jeden Schutz. Aber Gesundheits- wo wir über Jahre hinweg mit ganz extremen Anreizsys-
politik ist mehr als das Durchsetzen von Einzelinteres- temen versucht haben, Ärzte anzusiedeln, es aber nicht
sen. geschafft haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – (Jens Spahn [CDU/CSU]: Was sind denn
Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- extreme Anreizsysteme?)
NEN]: Das sollte sich mal die Koalition hinter
Deshalb muss tatsächlich darüber nachgedacht wer-
die Ohren schreiben!)
den, ob wir neben den Anreiz- und Bonussystemen auch
Neben dem Recht auf Demonstration auf dem Gendar- Malussysteme einführen. Ganz konkret heißt das, dass
menmarkt sehe ich als ärztlicher Kollege die deutschen wir in der Debatte über dieses Gesetz darüber nachden-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5089
Frank Spieth
(A) ken müssen, ob wir Abschläge erheben, wenn Ärzte in troffen werden. Natürlich ist es zu begrüßen, wenn (C)
Gebieten zugelassen werden, in denen Überversorgung gesetzgeberisch auf inhaltlich begründete neue Versor-
herrscht. Diese Mittel könnten in einem Fonds gesam- gungsformen und veränderte Bedingungen im Gesund-
melt werden, sodass wir mit diesen Geldern in den Ge- heitswesen reagiert wird, zumal in diesem Fall durch die
bieten, in denen ein Mangel an Ärzten herrscht, eine Gremien der ärztlichen Selbstverwaltung eine komfor-
wirksame, zusätzliche Unterstützung leisten könnten. table Vorarbeit geleistet wurde. Ich bezweifle aber, dass
die Idee, Filialpraxen in unbegrenzter Zahl und räumlich
Ein weiterer Punkt wird meine Kollegen von der FDP, unbegrenzt zu betreiben, zielführend ist. Das ist eine Re-
insbesondere Herrn Dr. Schily, nicht begeistern: Wir gelung, die noch über die Zweigpraxenregelung der
müssen darüber nachdenken, ob wir Ärzten abverlangen, Selbstverwaltung hinausgeht. Die Versorgungslücke –
sich zunächst in unterversorgten Gebieten für fünf Jahre Stichwort: Hausarztmangel im Osten – wird sich meiner
niederzulassen. Vielleicht müssen wir ein solches neues Meinung nach damit vermutlich nicht schließen lassen,
Steuerungsinstrument einführen. Ich glaube, eine De- sondern es könnte sich eher noch ein Einfallstor für ver-
batte darüber wäre des Schweißes der Edlen wert. Viele zerrten oder unlauteren Wettbewerb ergeben.
Experten sagen, dass dies sehr vernünftig wäre.
Prinzipiell kann ich die Kritik der Bundesärztekam-
Wir dürfen nicht nur liberalisieren, sondern müssen
mer verstehen. Sie sagt, dass der Gesetzentwurf in der
auch regulierend in den Prozess eingreifen. Dadurch
jetzt vorliegenden Fassung mit der berufsrechtlichen Re-
wollen wir nicht zwangsläufig mehr Bürokratie auf-
gelung, die in der Vergangenheit auch in die Landesge-
bauen, sondern wir wollen im Sinne der Menschen han-
setzgebung Einzug gehalten hat, noch nicht kompatibel
deln, die einen Anspruch auf ärztliche Versorgung ha-
ist. Da ist sicherlich noch einiges zu tun.
ben.
Ich komme zum Schluss. Im Gesetzgebungsverfahren Es wird immer wieder argumentiert – auch im Zu-
werden wir darüber diskutieren, wie wir den Menschen, sammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf –,
die in den unterversorgten Gebieten tage- oder sogar wo- dass mehr Wettbewerb ins System soll. Aus ärztlicher
chenlang auf eine hausärztliche Leistung warten, helfen Sicht ist der Wettbewerb um die beste Qualität zu präfe-
können. Im Namen meiner Fraktion biete ich dabei jede rieren. Ich wage die These, dass das Vertragsarztsystem
Unterstützung an. in marktwirtschaftlicher Hinsicht nur einem einge-
schränkten Wettbewerb unterliegen kann – das hängt mit
(Beifall bei der LINKEN) den regionalen Unterschieden zusammen, die schon an-
gesprochen wurden –, es sei denn, es werden Wettbe-
Vizepräsidentin Petra Pau: werbsverzerrungen in Kauf genommen.
(B) Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat In diesem Zusammenhang muss über die Regelungen (D)
der Kollege Dr. Harald Terpe das Wort. des Gesetzentwurfs zu den Medizinischen Versor-
gungszentren noch diskutiert werden, insbesondere
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): über die Nachbesetzungsregelungen und die Unklarhei-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich ten hinsichtlich der Finanzierung.
möchte zu Beginn die Pauschalpolemik nach dem Motto Lassen Sie mich zum Abschluss noch darauf hinwei-
„Mehr Ethik statt Monetik“ zurückweisen. Das bin ich sen, dass ich persönlich kein Verständnis dafür habe,
meinen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen einfach
wenn fast 16 Jahre nach der Vollendung der deutschen
schuldig. Einheit immer noch an dem Grundsatz „Gleicher Lohn
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für gleiche Arbeit“ gerüttelt wird.
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!)
SPD und der FDP)
Dem sperrigen Wort „Vertragsarztrechtsänderungsge- Ich kann daher nicht nachvollziehen, warum Sie mit Ih-
setz“ ist nicht auf Anhieb anzumerken, dass es dabei um rem Gesetzentwurf die ostdeutschen Zahnärzte weiter
Liberalisierung und Flexibilisierung geht. Wer wünschte benachteiligen wollen. In dieser Frage waren wir mit
sich nicht eine Zunahme von Freiheit? Ich jedenfalls dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz schon weiter.
kenne in meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
mern und in Brandenburg eine Reihe von Vertragsärzten, sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN-
die sich gerne von zunehmend erforderlicher Mehrarbeit KEN)
und existenzgefährdender Unterfinanzierung befreien
würden. Sie sehen, es gibt bei diesem Gesetzentwurf reichlich
Diskussionsbedarf.
Ich denke – das ist schon gesagt worden –, dass der
Gesetzentwurf eine Reihe sinnvoller Regelungen ent- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
hält. An einer entscheidenden Stelle versagt der Gesetz-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
entwurf aber: Er geht nicht mit der Einführung einer leis-
tungsgerechten Vergütung einher; die ist leider auf
2009 verschoben worden. Ich denke, es wäre besser, Vizepräsidentin Petra Pau:
wenn das Hand in Hand ginge mit den gesetzlichen Re- Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
gelungen, die jetzt in Bezug auf die Liberalisierung ge- Eike Hovermann für die SPD-Fraktion das Wort.
5090 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

(A) Eike Hovermann (SPD): rung der Anschubfinanzierung für die integrierte Versor- (C)
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! gung schon angesprochen worden ist. Das ist sinnvoll.
Als Erstes eine Replik auf Herrn Dr. Terpe und Herrn Natürlich steht hier, Herr Dr. Faust, der Patient im Mit-
Spieth. Ich glaube, wir sollten die unselige Diskussion telpunkt. Aber es muss wohl in Zukunft auch noch
„Ethik statt Monetik“ fallen lassen. Es geht um ein aus- schärfere Regelungen in Bezug auf die Frage geben, was
gewogenes Verhältnis zwischen Ethik und Monetik. eine echte integrierte Versorgung ist und was eine Ver-
Ethik ohne Monetik ist überhaupt nicht vorstellbar. Diese sorgung ist, die sich nur integriert nennt, aber nicht inte-
unselige Debatte führen wir schon seit Jahrzehnten. griert gemacht wird.
Herr Dr. Faust hat als Hintergrund dieses Gesetzes (Beifall des Abg. Dr. Hans Georg Faust [CDU/
den 107. Ärztetag erwähnt. Die bisherigen berufsrecht- CSU] und des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜND-
lichen Regelungen zu verändern, ist völlig richtig. Sehr NIS 90/DIE GRÜNEN])
wesentlich war auf diesem Ärztekongress natürlich auch All diese Schritte, die mit diesem Gesetzentwurf in-
die Debatte über den § 140, die integrierte Versorgung, tendiert sind, sind uneingeschränkt begrüßenswert.
um die elendige Versäulung zwischen den Versorgungs- Gleichwohl gilt zu bedenken, was der Jurist einen Ver-
ebenen endgültig zu überwinden. Darin liegen nämlich fassungswunsch nennt, der oft in einem Missverhältnis
erhebliche strukturelle Probleme. Wir werden sehen, ob zur Verfassungsrealität steht. – Die Präsidentin mahnt
das gelingt. schon. – Wir werden sehen, wie die Umsetzung, die von
Wir werden mit dem Gesetz sicherlich vieles errei- der Finanzierung abhängt, vonstatten geht. Beim Fonds
chen. Das Gesetz ist uneingeschränkt zu begrüßen und in gibt es, jenseits des heroischen und evidenzbasierten
seinem Vollzug natürlich immer wieder zu begleiten, weil Kampfes um den Einbezug des „s“, noch viele wichtige
es sich, Herr Dr. Terpe, wie bei den DRGs um ein lernen- Fragen, zum Beispiel bezüglich der 1-Prozent-Ober-
des System handelt. Man muss einmal schauen, wenn das grenze. Ich bin dennoch guten Mutes, dass wir im Laufe
Gesetz in die Realität umgesetzt worden ist, wie sich die der Diskussion über dieses Gesetz diese und andere Fra-
Realität entlang des Gesetzes entwickeln wird. gen beantworten werden. Ich bitte Sie zuzustimmen.

Sie haben mit Recht den KBV-Vorschlag aufgenom- Vielen Dank fürs Zuhören und einen schönen Tag
men, das Missverhältnis zwischen Unterversorgung und noch.
Überversorgung durch Zu- und Abschläge zu regulie- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
ren. Doch dafür, Herr Spieth, muss auch die Monetik bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
stimmen. Das heißt, wenn Sie ein Verhältnis zwischen GRÜNEN)
Abschlägen und Zuschlägen schaffen, muss man genü-
(B) gend Spielräume haben, um das so zu gestalten, dass es Vizepräsidentin Petra Pau: (D)
nicht zu einem Kampf zwischen denen, die einen Zu-
schlag erhalten, und denen, die einen Abschlag erhalten, Ich schließe die Aussprache.
kommt. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
Natürlich vereinfacht das Gesetz die Gründung von wurfs auf Drucksache 16/2474 an die in der Tagesord-
Medizinischen Versorgungszentren. Laut Kassenärzt- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
licher Bundesvereinigung – es liegt eine gute Sammlung dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
von Charts vor – hat es da erhebliches Wachstum gege- Dann ist die Überweisung so beschlossen.
ben. Noch ist das Verhältnis zwischen Gründungen im Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
ländlichen Bereich und denen in den Ballungszentren re-
lativ ausgewogen. Es wird allerdings auf die Fragen an- Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
kommen – hier komme ich auf Ethik und Monetik zu- dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
rück –, wo es in Zukunft Steigerungsraten geben wird, in (18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-
welcher Rechtsform dies stattfindet und wer Geld zur nung
Verfügung stellt. Denn das wird sehr teuer. Technikfolgenabschätzung (TA)
Herr Schily, um offen auf einen Punkt einzugehen, TA-Projekt: Zukunftstrends im Tourismus
der mich sehr interessiert hat: Man kann als Arzt sowohl
mit 58 als auch mit 68 Jahren befähigt sein; wahrschein- – Drucksache 16/478 –
lich gilt das für Politiker, Klempner und Tankstellenwär- Überweisungsvorschlag:
ter ebenso. Nur, wenn das Gesetz keine Rahmenrege- Ausschuss für Tourismus (f)
lungen vorgibt, wer entscheidet dann eigentlich über die Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Frage der Befähigung? Sonst heißt es möglicherweise: Verbraucherschutz
Du musst jetzt raus aus deiner Praxis, du bist nicht befä- Ausschuss für Arbeit und Soziales
higt. – Dazu muss es Klarstellungen geben, die, vermute Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ich, von der KV nicht so gerne gegeben würden; deshalb Ausschuss für Gesundheit
muss der Gesetzgeber sie liefern. Dergleichen muss in Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz, kurz VÄG ge- Technikfolgenabschätzung
nannt, in Zukunft eingeflochten werden. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Vieles ist schon angesprochen worden; ich will das Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
nicht alles wiederholen. Ich weiß nicht, ob die Verlänge- Ausschuss für Kultur und Medien
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5091
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für land als ein weltoffenes und gastfreundliches Land zu (C)
diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es präsentieren. Ich danke an dieser Stelle allen, die dazu
dazu Widerspruch? – Ich höre keinen. Dann ist das so ihren Beitrag geleistet haben.
beschlossen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Die Kollegin Marlene Mortler hat für die Unionsfrak- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
tion das Wort.
Allen voran danke ich der Deutschen Zentrale für
(Beifall bei der CDU/CSU) Tourismus, die eine sehr bedeutende Rolle spielte. Ge-
nauso wichtig ist mir, darauf hinzuweisen, dass wir er-
Marlene Mortler (CDU/CSU): neut 25 Millionen Euro in den Bundeshaushalt einge-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und stellt haben, um im Ausland und im Inland weiterhin
Herren! Dass es Tourismus gibt, dass wir in Urlaub fah- nachhaltig für unseren Tourismusstandort werben zu
ren, dass wir auf Geschäftsreisen unterwegs sind, ist für können.
viele Menschen in unserem Land selbstverständlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Welche Bedeutung der Tourismus hat, was wirklich da-
hintersteckt, ist allerdings den wenigsten Menschen be- Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass wir in diesem
wusst. Deshalb bin ich froh und dankbar, dass wir als Jahr zum ersten Mal die Grenze von 52 Millionen Über-
Koalitionsfraktionen uns entschieden haben, diese De- nachtungen überschreiten werden, allein was die interna-
batte, auch wenn es Freitagnachmittag ist, zu führen und tionalen Übernachtungen betrifft. Es ist auch keine
über den Tourismus und die TAB-Studie, um die es Selbstverständlichkeit, dass das so bleibt. Deshalb war
heute geht, zu sprechen. das Motto der Fußball-WM „Die Welt zu Gast bei
Freunden“ sehr wichtig.
Meine Damen und Herren, kein Geringerer als Zu-
kunftsforscher Opaschowski hat es auf den Punkt ge- Welche Schlussfolgerungen können wir heute ziehen?
bracht. Er sagt: Die Freizeitwirtschaft ist so wichtig, Es wurde professionell vorgegangen. Die DZT – ich
dass ich sie in der Rolle einer Leitökonomie sehe. – In habe sie erwähnt – und viele andere waren daran betei-
der Tat, die Wachstumsraten in der Freizeitwirtschaft ligt. Die Fußball-WM hat dem Image unseres Landes ei-
liegen weit über denen der Gesamtwirtschaft. Damit nen zusätzlichen Schub gegeben. Das hat, was die touris-
wird die Freizeitwirtschaft die Lokomotive sein, die die tische Nachfrage betrifft, eine Langzeitwirkung.
Wirtschaft des 21. Jahrhunderts antreibt. (Ute Kumpf [SPD]: Das wird sich noch zei-
(Beifall bei der CDU/CSU) gen!)
(B)
Der Tourismus hat sich in den letzten zehn Jahren Im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft haben über (D)
weltweit rasant entwickelt. Während noch vor zehn Jah- 90 Prozent der Menschen gesagt, dass sie Deutschland
ren 540 Millionen Menschen unterwegs waren, sind es weiterempfehlen wollen. Das ist, wie ich finde, eine tolle
heute bereits über 808 Millionen Menschen. Dieser Auf- Zahl. Aber ich betone: Wir dürfen uns nicht auf diesen
wärtstrend scheint ungebrochen. Der World Travel and Lorbeeren ausruhen. Wir müssen immer wieder überle-
Tourism Council hat von einem Umsatz in der Reise- gen: Wo stehen wir und wo stehen die anderen? Gibt es
branche von über 1,5 Billionen US-Dollar gesprochen. bei uns Defizite? Wo müssen wir hin und wo wollen wir
Das heißt, jeder zehnte US-Dollar wird im Bereich Rei- hin? Denn der internationale Markt schläft nicht.
sen ausgegeben. Diese Zahlen machen die volkswirt- Es waren aber nicht nur die sportlichen Ereignisse,
schaftliche Bedeutung des Tourismus deutlich. Ich sehe die unser Land vorangebracht haben. In der TAB-Studie
es als unsere Aufgabe der Zukunft an, da nicht nur mit- wird auch darauf hingewiesen, welche Vorteile die
zuspielen, sondern weiterhin in der Spitze zu sein und EU-Osterweiterung unserem Land bringt. Ich finde es
den Stürmer zu spielen. toll und bemerkenswert, dass die TAB-Studie, die DZT
und eine Studie der Fachhochschule Worms zum glei-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
chen Ergebnis kommen: Wenn wir unsere Chancen im
Der Tourismusmarkt ist ein Wachstumsmarkt. Fast Tourismus nutzen, wird Deutschland Reiseland Nummer
alle europäischen Volkswirtschaften profitieren von ihm. eins für die osteuropäischen Länder. Wir werden vonein-
Allein in Europa gibt es in diesem Bereich 25 Millionen ander profitieren.
Arbeitsplätze. Auf Deutschland heruntergebrochen ent-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
spricht das 2,8 Millionen Menschen, die in diesem Be-
bei Abgeordneten der FDP)
reich arbeiten. Das klingt nicht gerade weltbewegend.
Aber für mich ist die Tatsache entscheidend, dass Ar- Es ist sicherlich die räumliche Nähe, die für uns spricht,
beitsplätze im Tourismus nicht exportierbar sind. aber auch das gute Image, das wir uns in den letzten Mo-
naten aufgebaut haben. Nutzen wir also diese Möglich-
Lassen Sie mich im Zusammenhang mit der Situation
keiten!
in Deutschland einen Blick in die Gegenwart bzw. in die
jüngste Vergangenheit werfen: Womit haben wir uns in Ein Manko besteht sicherlich bei der Verkehrsinfra-
den letzten drei Monaten beschäftigt? Wir hatten ein struktur; hier gibt es Defizite. Wir müssen dringend un-
traumhaftes Incoming. Das heißt, es sind sehr viele Men- sere Hausaufgaben machen bei den Verkehrsverbindun-
schen aus dem Ausland zur Fußballweltmeisterschaft gen nach Osten, die wir in den Bundesverkehrswegeplan
nach Deutschland gekommen. Unser Ziel war, Deutsch- aufgenommen haben. Aber auch die osteuropäischen
5092 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Marlene Mortler
(A) Staaten müssen beherzt ihre Infrastruktur modernisieren Marlene Mortler (CDU/CSU): (C)
und erweitern. Ich bin persönlich fest überzeugt davon, Wir müssen mit der Reisebranche verstärkt in einen
dass wir den stärkeren Tourismus, der sich hier entwi- Dialog treten, um die Sicherheit der Reisen zu verbes-
ckeln soll und auch wird, nicht alleine den Billigfliegern sern.
überlassen können und überlassen sollten.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Schauen Sie doch einmal auf die Uhr!)
neten der SPD)
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Tourismusbranche befindet sich im Umbruch.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich bewährte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Geschäftsmodelle nicht mehr bewähren. Sie müssen auf neten der SPD)
den Prüfstand, weil sich das Kundenverhalten geändert
hat. Wir müssen auch feststellen, dass die Nachfrage er- Vizepräsidentin Petra Pau:
heblich von der Qualität abhängt. Die Kundenzufrieden- Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Jens
heit lässt sich dabei nicht einfach mit den vergebenen Ackermann das Wort.
Sternen gleichsetzen.
Ich habe vom Umbruch gesprochen, von der Entwick- Jens Ackermann (FDP):
lung unserer Gesellschaft. Hier spielt die Demografie Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
eine wichtige Rolle. Den großen Einfluss des demogra- gen! Mit dem Bericht „TA-Projekt: Zukunftstrends im
fischen Wandels auf den Tourismus wollen wir am Tourismus“ werden die vielfältigen Chancen und He-
25. Oktober in einer Anhörung näher beleuchten. Den rausforderungen gezeigt, denen sich Deutschland im Be-
alten Menschen, meine Damen und Herren, gibt es nicht: reich des Tourismus stellen muss. In dem Bericht wer-
Die alten Menschen sind materiell, gesundheitlich, geis- den Trends genannt, die erfreulicherweise stark mit der
tig ganz unterschiedlich aufgestellt. Der eine hat einen EU-Erweiterung in Verbindung gebracht werden. Die
großen Geldbeutel, der andere einen kleinen. Aber alle FDP-Fraktion begrüßt diesen Fokus auf unsere östlichen
verbindet eines: die nach wie vor ungebrochene Reise- Nachbarn und die Chancen, die sich daraus ergeben.
lust. Für all diese unterschiedlichen Menschen brauchen
wir Antworten, innovative Ideen und Angebote. (Beifall bei der FDP)
Ich komme zum Schluss. Als dritten Komplex möchte Seit dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten werden
ich ganz eindringlich die Risiken und Krisen an- die Möglichkeiten für die deutsche Tourismusbranche
(B) sprechen. Risiken und Krisen sind von ungebrochener immer offensichtlicher. (D)
Aktualität. Ich denke an die in Heathrow vereitelten An-
(Martin Zeil [FDP]: So ist es!)
schläge, ich denke aber auch an neue Krankheiten, an
Epidemien, an die Zunahme von Naturkatastrophen und Zum einen können die deutschen Reiseunternehmen
extremen Wetterereignissen. Entscheidend ist, dass wir durch das steigende Interesse deutscher Touristen am
die Menschen in unserem Lande ernst nehmen, wenn es östlichen Europa stark profitieren, zum anderen bergen
um die Sicherheit geht. die neuen EU-Mitgliedsländer insbesondere im Bereich
der Geschäftsreisen und als Messestandort ein hohes
Vizepräsidentin Petra Pau: Tourismuspotenzial für Deutschland selber. Das ist ein
Kollegin Mortler, das war eigentlich ein sehr schöner Beispiel für eine gute Entwicklung in Europa und ein
Schlusssatz. Ich bin ein geduldiger Mensch, aber – – Argument gegen die nach wie vor vorhandene Skepsis
hinsichtlich der EU-Erweiterung.
Marlene Mortler (CDU/CSU): (Dr. Konrad Schily [FDP]: Richtig! – Martin
Eine Befragung hat nämlich deutlich gemacht, dass Zeil [FDP]: Ja!)
die Sicherheit für die Menschen inzwischen an erster Der Bericht ist vom Januar 2006. Vieles, was in der
Stelle steht, sie kommt vor einem guten Preis-Leistungs- Vorausschau geschrieben wurde, ist nach wie vor aktu-
Verhältnis. ell. Doch seitdem hat sich enorm viel getan – unter ande-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rem seit der Fußballweltmeisterschaft, die der Touris-
neten der SPD) musbranche viele neue Impulse geliefert hat.
Deshalb darf die Sicherheit nicht länger ein Tabuthema (Martin Zeil [FDP]: Ja, aber der Regierung
sein. Wir müssen verstärkt auf die Möglichkeiten hin- leider nicht!)
weisen, die das Auswärtige Amt mit seinen Reisewar-
Wir müssen aber darauf achten, dass diese Impulse, die
nungen und Reisehinweisen bietet.
die WM gebracht hat, auch nachhaltig sind, sodass wir
auch später noch davon profitieren können. Die WM war
Vizepräsidentin Petra Pau: ein großer Erfolg und hat allen gezeigt, zu welchen Leis-
Kollegin Mortler, das ist jetzt wirklich absolut unkol- tungen unser Land nicht nur im Sport fähig ist,
legial.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Zuruf von der SPD: Ja, das stimmt!) der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5093
Jens Ackermann
(A) dass Deutschland ohne falsche Bescheidenheit Welt- löst, sondern noch viel mehr verschärft. Im Ergebnis (C)
meister der Herzen genannt werden kann und dass der führen sie insbesondere im Bereich der Geringqualifi-
Slogan „Zu Gast bei Freunden“ die Atmosphäre im Land zierten zu einer Verdrängung von Arbeitsplätzen und zu
gegenüber den Gästen und Touristen treffend auf den einer Abwanderung in die Schwarzarbeit.
Punkt gebracht hat. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Sie wollen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wohl Hungerlöhne?)
An dieser Stelle möchte ich im Namen der FDP-Frak- Das nutzt erst recht niemandem.
tion der Gastronomie und der Hotellerie in Deutsch- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
land für ihr Engagement und ihr beachtliches Ar- der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Wer hat
beitspensum in den heißen Tagen des Juni danken; denn Ihnen denn das aufgeschrieben?)
jeder noch so kleine Schankbetrieb wurde zu einer ver-
längerten Fankurve in den unterschiedlichsten nationa- Außerdem sollten die Ausbildungsmöglichkeiten für
len Farben und zu einer Visitenkarte Deutschlands. Jugendliche unter 18 Jahren verbessert werden, statt
ständig eine Ausbildungsplatzabgabe zu fordern.
Um die Stärkung des Tourismusstandorts Deutsch-
land, die durch die WM 2006 erreicht werden konnte, (Renate Gradistanac [SPD]: Davon steht
dauerhaft zu sichern, müssen die Rahmenbedingungen nichts im Bericht! Haben Sie den Bericht gele-
für den Tourismussektor verbessert werden. sen?)
Wie viel attraktiver wäre die Einstellung eines Jugendli-
(Martin Zeil [FDP]: Ladenschluss aufheben!)
chen unter 18 Jahren, wenn im Bereich des Jugendar-
Damit investieren wir in die wichtigste Dienstleistungs- beitsschutzes die zulässige Arbeitszeit für Jugendliche
und Wachstumsbranche, die wir haben. Doch welche von 22 Uhr auf 23 Uhr ausgedehnt werden würde!
Rahmenbedingungen meine ich? Insbesondere für die (Martin Zeil [FDP]: Ganz genau!)
Tourismusbranche sind Freiräume, in denen sich Unter-
nehmen entwickeln können, ganz wichtig; denn es sind Die Chancen für Haupt- und Realschüler auf einen Aus-
vor allem mittelständische Unternehmen, die vom Tou- bildungsplatz im Tourismussektor würden steigen.
rismus leben. (Beifall bei der FDP – Annette Faße [SPD]:
Den Projektbericht vor Augen appelliere ich deshalb Thema verfehlt! Sie haben den Bericht, den
an die Bundesregierung, es den Nachbarn in Europa wir heute diskutieren, nicht gelesen! – Weite-
gleichzutun und einen reduzierten Mehrwertsteuer- rer Zuruf der Abg. Renate Gradistanac [SPD])
(B) satz für die Bereiche Hotellerie und Gastronomie einzu- – Frau Kollegin Gradistanac, ein junger Mensch, der von (D)
führen. Gesetzes wegen um 22 Uhr mit der Arbeit aufhören
(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Zuruf muss, wartet doch auch auf einen Arbeitskollegen, der
von der SPD: In jeder Rede die Mehrwert- um 23 Uhr Feierabend hat, um mit ihm dann in die Disco
steuer!) zu gehen und bis 4 Uhr morgens zu feiern.
Es ist doch nur fair, den deutschen Gastronomen den (Zurufe von der SPD: Das ist seine Privatsache! –
gleichen Satz anzubieten, der auch für die Mitbewerber Ich mache nachts auch, was ich will!)
zehn, 20 Kilometer weiter hinter der Grenze gilt. – Natürlich ist das seine Privatsache. Aber es ist doch
(Beifall bei der FDP – Renate Gradistanac [SPD]: unfair – –
Haben Sie den Bericht überhaupt gelesen?)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ohnehin ist es für die gesamte Wirtschaft nicht von Vor- Herr Kollege Ackermann, diese Debatte müssten Sie
teil, die Mehrwertsteuer im nächsten Jahr anzuheben. außerhalb des Plenarsaals fortsetzen.
(Beifall bei der FDP – Martin Zeil [FDP]: Das
ist der größte Mist!) Jens Ackermann (FDP):
Das mache ich. – Es geht mir um diejenigen, die ei-
Durch jede Erhöhung der Mehrwertsteuer wird der Kon-
nen Ausbildungsplatz haben könnten, diesen aber nicht
sum gehemmt. Dies schadet letztlich vor allem der Gas-
bekommen, weil die Politik die Hürden so hoch ansetzt.
tronomie.
(Beifall bei der FDP)
Ich möchte aber auch noch einen anderen Punkt an-
sprechen – Kollegin Mortler hat es schon zum Ausdruck Ein letzter Satz, Frau Präsidentin: Die Ausschussvor-
gebracht –: Es geht um die Beschäftigungszahl. Meiner sitzende hat bereits angesprochen, dass die Tourismus-
Meinung nach könnten wir im Bereich des Tourismus branche sehr stark durch höhere Gewalten beeinflusst
noch mehr Beschäftigung und Ausbildungsplätze als wird, durch Klima und Wetter. Wir sollten nicht weitere
bisher haben. Hier müssen wir uns aber auch um die Einflüsse durch staatliche Gewalt hinzukommen lassen,
Rahmenbedingungen kümmern. Wenn wir vom Touris- und zwar in unser aller Interesse.
mus als wichtigem Zukunftstrend sprechen, dann muss Herzlichen Dank.
dies auch an den Beschäftigungszahlen deutlich werden.
Durch Mindestlöhne – egal, in welcher Form sie festge- (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD:
legt sind – werden die Arbeitsmarktprobleme nicht ge- Thema verfehlt!)
5094 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: In meiner Rede möchte ich insbesondere auf den (C)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe hier nicht demografischen Wandel eingehen, weil wir von der
nur einen Knopf, um das Signal „Präsident“ einzuschal- SPD-Arbeitsgruppe dieses Thema vorgeschlagen haben.
ten, das normalerweise anzeigt, dass die Redezeit abge- Die Bevölkerungszahl schrumpft, die Gesellschaft altert.
laufen ist. Ich habe noch einen Knopf, den ich noch nie Das lässt sich eindrücklich an den Statistiken, die im Be-
benutzt habe. Ich hoffe immer noch, dass ich ihn auch richt aufgeführt sind, ablesen. Ich möchte einige Zahlen
nie benutzen muss. Ich gebe aber zu: Heute strapazieren nennen: 1994 waren 15,4 Prozent der Bevölkerung in
Sie meine Geduld sehr. Deutschland über 65 Jahre, Ende 2004 waren es
18,6 Prozent. Im Jahr 2050 sollen 37 Prozent der Bevöl-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der kerung über 60 Jahre sein.
SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN) Die Reiselust der älteren Menschen wächst stetig. Un-
ter allen Altersgruppen in Deutschland geben sie den
Das Wort hat die Kollegin Renate Gradistanac für die höchsten Anteil ihres Einkommens für Reisen aus. Seni-
SPD-Fraktion. orenhaushalte verwendeten im Jahr 2003 4,1 Prozent ih-
res Konsumbudgets für Pauschalreisen; der Durchschnitt
Renate Gradistanac (SPD): aller Altersgruppen lag bei 2,7 Prozent. – Die so genann-
ten Best-Ager, Jungsenioren im Alter von 50 bis 64 – au-
Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr ver-
ßer Ihnen, Herr Ackermann, gehören wir wahrscheinlich
ehrten Damen und Herren! Ich freue mich sehr, dass wir
alle dazu –, machen die meisten Urlaubsreisen. Die Tou-
heute über das Thema „Zukunftstrends im Tourismus“
rismusbranche wird sich daher auf das zunehmende Alter
sprechen. Ich habe den Eindruck, manche haben über-
ihrer Kundinnen und Kunden einstellen müssen. Nicht
haupt nicht gewusst, was heute auf der Tagesordnung
nur Marktforscher sind der Meinung, dass die Seniorin-
steht.
nen und Senioren in absehbarer Zeit zum Wachstums-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) motor der Branche werden.

Der TA-Bericht geht auf eine Initiative unseres Tou- Ältere Menschen wollen heutzutage keine Senioren-
rismusausschusses zurück. Ich danke dem Büro für reise buchen. Sie fühlen sich dazu zu gesund, vital, aktiv
Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag und mobil. Es gilt, vermehrt touristische Angebote zu
für die hervorragende Arbeit, insbesondere Frau Scherz, entwickeln, die sich auf die Erwartungen der Seniorin-
Herrn Petermann und Herrn Revermann. nen und Senioren einstellen. Das gilt sowohl für die
Gruppe der Älteren, die viel Geld ausgeben können, als
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie auch für diejenigen, die gerne reisen, aber über ein klei- (D)
(B)
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- neres Budget verfügen. Die Branche ist nach meiner
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Beobachtung sensibilisiert.
Der Bericht ist in drei Schwerpunkte gegliedert: ers- Das nächste Jahr ist zum „Europäischen Jahr der
tens der demografische Wandel in Deutschland, zweitens Chancengleichheit für alle“ erklärt worden. Es stellt
die EU-Osterweiterung und die Auswirkungen auf den sich die Frage, was verbessert werden muss, um jeder
Tourismus und drittens Reisen angesichts von Krisen Zielgruppe gleiche Chancen zu ermöglichen. Das gilt
und Risiken. insbesondere für den barrierefreien Tourismus, bei dem
es noch Nachholbedarf gibt.
Die Tourismuswirtschaft gilt weltweit als Leitökono-
mie der Zukunft; das haben Sie richtig schön herausge- (Beifall im ganzen Hause)
stellt, Frau Mortler. Gerade deshalb ist es wichtig, dass
wir in Deutschland, in den Ländern und in den Touris- Das wissen wir spätestens seit unserem Wettbewerb „Fa-
milienzeit ohne Barrieren“ aus dem Jahr 2003. Die Jury
musregionen relevante Entwicklungen rechtzeitig erken-
nen und uns darauf einstellen. stieß damals auf ausgezeichnete Angebote, die exzellent
erarbeitet waren. Es gab aber auch Fälle von erschrecken-
(Beifall bei der SPD) der Unkenntnis. Wettbewerbe auf Bundes- und Länder-
ebene stellen positive Beispiele heraus, an denen sich an-
Die Ergebnisse des Berichts liegen seit einiger Zeit dere orientieren sollten.
vor und wurden auch bei verschiedenen Gelegenheiten
diskutiert. Bei meinen Veranstaltungen im Schwarzwald, Was die Haushaltsberatungen für das Jahr 2007 an-
in Bad Wildbad, und in Munderkingen, am Rande der geht, freuen wir uns, dass der barrierefreie Tourismus
Schwäbischen Alb, stießen die Ergebnisse auf großes In- benannt wird. Wir wünschen uns aber mehr Mittel für
teresse. diesen Bereich, um die Barrierefreiheit wirklich voran-
zubringen.
(Zuruf von der SPD: Nicht so viel Werbung!)
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem
Das hat mich besonders gefreut, zeigt es doch, dass BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LIN-
die Mehrheit der Branche interessiert ist, sich auf die KEN)
Herausforderungen, aber auch auf die Chancen der Zu-
kunft vorzubereiten. Um bis ins höchste Alter fit zu bleiben, gewinnt die
Prävention immer mehr an Bedeutung. Urlaub für die
(Zustimmung bei der SPD) Gesundheit und kombinierte Fitness- und Wellnessange-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5095
Renate Gradistanac
(A) bote sind zunehmend gefragt. Besonders medizinische (Beifall bei der LINKEN) (C)
Wellnessangebote sind ein Wachstumsmarkt. Allerdings
muss das Fachpersonal hierfür hervorragend qualifiziert Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
sein. Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
Das Wandern, das lange Zeit als verstaubte Sportart legen! Meine Damen und Herren auf den Besuchertribü-
galt, erlangt eine ungeahnte Renaissance. Bei mir im nen! Die Technikfolgenabschätzung über touristische
Schwarzwald gibt es den „Wanderhimmel Baiersbronn“. Trends bietet uns eine gute Möglichkeit, wichtige Punkte
Vielleicht haben Sie Lust, einmal zu kommen. Es ist ein darzulegen, die wir für die Zukunft favorisieren wollen.
gelungenes Beispiel, wie das Wandern zu einem ganz- Für die Linke erlaube ich mir, drei Punkte herauszugrei-
heitlichen Erlebnis aus Fitness, Entspannung, Naturerle- fen: erstens den sozialen Faktor, der mit dem Tourismus
ben und Geselligkeit werden kann. verbunden ist; zweitens den regionalen Gestaltungsfak-
tor und drittens den arbeitsplatzintensiven Wirtschafts-
Lassen Sie mich ein zweites Beispiel aus dem faktor.
Schwarzwald nennen – ich bin aber überzeugt, dass Sie
ebenfalls unzählige Beispiele anführen könnten, liebe Erstens ist hier hinsichtlich des sozialen Faktors
Kolleginnen und Kollegen –: Ein Viersternehotel mit an- schon sehr viel von Menschen gesprochen worden, die
geschlossener Landwirtschaft hat zum Schwarzwälder viel Geld haben, und solchen, die über weniger verfü-
Fuchsfest eingeladen. Die regionale Identität wird dort gen. Meines Erachtens müssen wir uns mehr auf diejeni-
bewusst gestärkt und herausgestellt. Auffallend war, gen konzentrieren, die weniger Geld haben, also zum
dass dort viele Großeltern mit ihren Enkelkindern waren. Beispiel darüber reden, was Empfängerinnen und Emp-
Diese haben dort einen besonders schönen Tag erlebt. fänger von Arbeitslosengeld II machen, die fast gar nicht
verreisen können. Brauchen die etwa keine Erholung?
Der zweite Schwerpunkt des Berichts bezieht sich auf Ich denke, sie brauchen mehr Erholung als manche, die
die EU-Osterweiterung, die die deutsche Tourismus- nicht wissen, wohin mit ihrem Geld.
wirtschaft vor Herausforderungen stellt. Davon war be-
reits die Rede. Sie bringt aber auch Chancen. Prognosen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Wi-
kommen zu dem Ergebnis, dass die deutsche Tourismus- derspruch bei der CDU/CSU und der FDP)
wirtschaft aller Voraussicht nach mittelfristig zu den Ge- Also müssen wir dafür sorgen, dass es entsprechende
winnern der EU-Osterweiterung zählen wird. Möglichkeiten gibt und dass bei Ihnen, liebe Kollegin-
Reisen im Angesicht von Risiken und Krisen sind die nen und Kollegen von der CDU/CSU, nicht darüber phi-
dritte Säule des Berichts. Darunter versteht man Gewalt, losophiert wird, ob sie überhaupt Urlaub machen dürfen.
(B) Kriminalität, Terror, Gesundheitsrisiken, Naturkatastro- Ich halte es für sehr gut, dass für diese Menschen zum (D)
phen und den Klimawandel. Der globale Klimawandel Beispiel in der Oberlausitz aufgrund der Zusammenar-
wird weitere ernsthafte Folgen für Wetter und Natur ha- beit von DRK und der Tafel die Möglichkeit besteht,
ben. In dem Projekt „Klimawandel – Auswirkungen, Ri- 50 Kilometer entfernt von ihrem Heimatort, zumindest
siken, Anpassung“ – kurz KLARA – sind die Folgen des für fünf Tage mit ihren Kindern für sehr wenig Geld Ur-
Klimawandels für Baden-Württemberg erforscht wor- laub machen zu können. Solche Beispiele sind zu favori-
den. sieren und weiterzuentwickeln.
Es ist im ureigenen Interesse der Tourismusbranche, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
sich mit den Ergebnissen, auf die ich aus Zeitgründen neten der SPD)
nicht näher eingehen kann, auseinander zu setzen. Wir
haben die Möglichkeit, in der von uns geplanten Anhö- Zweitens geht es um den regionalen Gestaltungsfak-
rung die einzelnen Punkte zu behandeln. tor, den Tourismus bietet. Wenn wir alle darin überein-
stimmen, dass Tourismus einer der Wirtschaftsfaktoren
Klar ist: Bund, Länder und Tourismusbranche sind der Zukunft ist, dann haben wir doch die Möglichkeit,
gefordert. Der Bericht ist eine hervorragende Grundlage, hier etwas zu gestalten. Niemand wird sich wundern,
die durch die Anhörung ergänzt wird. Ich verbinde damit wenn ich an dieser Stelle auf die Barrierefreiheit zu
die Erwartung, dass die Bundesregierung ein touristi- sprechen komme. Es reicht eben nicht aus, immer mehr
sches Leitbild für Deutschland entwickelt. Insellösungen zu haben. Wir brauchen Lösungen, die
grundsätzlich Barrierefreiheit bieten, und zwar nicht nur
Ich habe eine Minute meiner Redezeit eingespart. für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer, sondern
(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU) selbstverständlich auch für blinde und gehörlose Men-
schen. Es bringt Nutzen für alle, zum Beispiel auch für
Vielen Dank. die, die nicht so gut zu Fuß sind oder – wie Kinder –
kurze Beine haben, wenn wir dies zu einem in der gan-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem
zen Region durchgängigen gestalterischen Prinzip ma-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LIN-
chen. Das heißt nicht, dass ich die Alpen planieren will,
KEN)
sondern nur, dass ich möchte, dass sie dort, wo es geht,
für möglichst alle begehbar, berollbar und benutzbar
Vizepräsidentin Petra Pau: sind. Das Gleiche trifft natürlich für mein Zittauer Ge-
Herzlichen Dank. – Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja birge wie für jede andere Urlaubsregion in diesem Land
Seifert für die Fraktion Die Linke. zu.
5096 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Dr. Ilja Seifert


(A) Drittens komme ich auf den Wirtschaftsfaktor Tou- werden, dass wir aber im Alter nicht immobil sein wol- (C)
rismus und sein Potenzial zu sprechen, Arbeitsplätze zu len, sondern reisen möchten. Das belegen die Zahlen und
schaffen. Hier ist schon mehrfach angesprochen worden, wird hundertfach beschrieben. Nun frage ich Sie, wozu
dass diese Arbeitsplätze erstens nicht exportiert werden wir eine solche Studie haben, wenn wir uns nicht nach
können und sie zweitens mehr werden. ihr richten. Es ist zwar nett, dass die Zahlen vorliegen,
und wir haben allen Grund, dankbar zu sein. Nächstes
Wenn wir das schon registrieren, dann bitte ich da-
Jahr ist das Jahr der Chancengleichheit für alle. Es
rum, an dieser Stelle auch einmal den Menschen eine
wurde schon darauf hingewiesen, dass die Senioren auf-
Chance zu geben, die es ohnehin schwerer haben. Hier
grund des demografischen Wandels eine wichtige
treffen also Wirtschaftsfaktor und sozialer Faktor zusam-
Gruppe sind und wie wichtig die Barrierefreiheit ist.
men. Es gibt in der Gastronomie und in der Hotellerie in-
Wenn ich mir aber den vorgelegten Haushaltsentwurf
zwischen mehrere sehr gute Ausbildungsmöglichkeiten
anschaue, dann stelle ich fest: Dort steht zwar, wie wich-
für Menschen mit so genannten Lernschwierigkeiten.
tig der barrierefreie Tourismus ist. Aber alle Titel, die
Ich bitte darum, dass diesen Menschen anschließend damit zusammenhängen, sind entweder drastisch ge-
die Chance gegeben wird, in diesem Bereich auch wirk- kürzt oder auf null zurückgefahren worden. Deshalb
lich zu arbeiten. Sie können es, sie können es gut; man frage ich: Wozu nutzt die Studie, wenn wir uns in unse-
muss ihnen nur die Möglichkeit dazu geben. Dazu müs- rem Handeln nicht danach richten?
sen sie nicht einsteinverdächtig sein und sich mit Atom-
physik beschäftigen; vielmehr reicht es aus, wenn sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
Teller ordentlich hin- und wieder wegtragen können, des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])
wenn sie Betten ordentlich machen und die Zimmer or- Im Einzelplan des Bundesministeriums für Bildung
dentlich reinigen können. Das ist der Beruf, den sie er- und Forschung ist eine Kürzung in Höhe von über
lernt haben, den sie gern ausüben möchten und in dem 2,2 Millionen Euro vorgenommen worden. Im letzten
sie Selbstbestätigung und dadurch Befriedigung finden Jahr belief sich der Etat noch auf 2,5 Millionen Euro.
können. Nun stehen nur noch 328 000 Euro für Vorhaben betref-
Das sind Wirkungen des Tourismus, die wir brauchen. fend den barrierefreien Tourismus zur Verfügung. Das
Tourismus hat eine Zukunft. Lasst uns auf die sozialen bedeutet, dass von ehemals 30 Vorhaben nur noch acht
Aspekte besonders Rücksicht nehmen! finanziert werden können. Da die Studie aber belegt, wie
wichtig der barrierefreie Tourismus ist, ist eine solche
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Kürzung unverständlich, zumal die Studie vom Januar
(Beifall bei der LINKEN und der SPD) dieses Jahres ist. Die Bundesregierung hatte also Zeit,
(B) sich darauf einzustellen. (D)
Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
Das Wort hat die Kollegin Undine Kurth für die Frak- des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Sie haben zum Beispiel den Ansatz für die Innovations-
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
initiative „Barrierefreie Modellregion für den integrati-
GRÜNEN): ven Tourismus“ – genau diese Art des Tourismus gilt als
wichtig – auf null zurückgefahren. Dafür ist also gar kein
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Geld mehr da. Im letzten Jahr waren es noch 1,8 Millio-
Liebe Gäste auf der Zuschauertribüne, Sie alle haben si-
nen Euro. Viele Projekte wurden abgeschlossen. Es gibt
cherlich mitbekommen, dass wir hier über die Studie
nun Forschungsergebnisse aus 26 Projekten, die nicht
„Zukunftstrends im Tourismus“, erstellt vom Büro für
ausgewertet werden. Es ist zwar schön, dass wir sie ha-
Technikfolgenabschätzung, vom Januar dieses Jahres re-
ben. Wir können uns immer darauf berufen und betonen,
den. Wir haben damit eine hervorragende wissenschaftli-
wie wichtig diese Ergebnisse sind. Aber wir machen
che Zuarbeit erhalten. Es gibt allen Grund, den Kollegin-
nicht weiter.
nen und Kollegen herzlich zu danken. Wir, die
Parlamentarier, können sehr stolz sein, über ein solches (Zurufe von der SPD: Das ist nicht alles unsere
Büro zu verfügen. Es ist übrigens weltweit einmalig. Sache! Das ist Ländersache!)
Herzlichen Dank.
– Wenn der Bund solche Ergebnisse generiert, dann müs-
(Beifall im ganzen Hause) sen wir sie doch auswerten und die entsprechenden Pro-
Wir haben mehrfach gehört, wie gut und interessant jekte weiter unterstützen. Was haben wir denn davon,
die Daten dieser Studie sind, dass es um verschiedene wenn wir das nicht tun?
Bereiche geht und dass es wichtig ist, sich auf die sich
Im Etat für das Bundesministerium für Gesundheit
abzeichnenden Entwicklungen einzustellen, weil Pla-
wurden zum Beispiel die Zuschüsse für das Reisemaga-
nung, insbesondere Infrastrukturplanungen, in jedem
zin „Grenzenlos“ komplett gestrichen. Die Mittel für die
Wirtschaftszweig Zeit benötigen und vorausschauend
Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle wur-
sein müssen.
den von 120 000 Euro – das ist sowieso nicht viel; jede
Ein wichtiges Thema ist – darauf wurde mehrfach Kürzung tut hier doppelt weh – auf 100 000 Euro zusam-
hingewiesen – der demografische Wandel. Überall und mengestrichen. Ich habe mir die Mühe gemacht, die Be-
allenthalben hören wir, dass wir alle zunehmend älter troffenen anzurufen, und habe festgestellt, dass sie vor-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5097
Undine Kurth (Quedlinburg)
(A) her gar nicht gefragt wurden, welche Auswirkungen die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: (C)
Kürzungen haben werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Die Studie wird zu Recht hoch gelobt; denn sie ist Piltz, Dr. Max Stadler, Patrick Döring, weiterer
wichtig. Wir können dafür dankbar sein. Aber sie nutzt Abgeordneter und der Fraktion der FDP
uns nur etwas, wenn wir uns mit ihren Ergebnissen aus- Gegen Geheimniskrämerei – Entscheidungen
einander setzen und unsere Entscheidungen danach fäl- kommunaler Gesellschaften transparent ge-
len. stalten
Vielen Dank. – Drucksache 16/395 –
Überweisungsvorschlag:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechtsausschuss (f)
und bei der LINKEN) Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Vizepräsidentin Petra Pau: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Ich schließe die Aussprache.
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. Wir neh-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf men die Rede des Kollegen Dr. Günter Krings für die
Drucksache 16/478 an die in der Tagesordnung aufge- Unionsfraktion zu Protokoll, ebenso die Rede des Kolle-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- gen Klaus Uwe Benneter für die SPD-Fraktion.2)
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Die Debatte eröffnet der Kollege Dr. Max Stadler für
so beschlossen. die FDP-Fraktion.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Dr. Max Stadler (FDP):
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Christine Scheel, Birgitt Bender, Ekin Deligöz, Herren! Am Ende der heutigen Tagesordnung geht es um
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des ein Thema, das auf der kommunalen Ebene viele Bürge-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN rinnen und Bürger sehr stark bewegt, das aber bisher
noch nicht so recht die Aufmerksamkeit des Deutschen
Eckpunkte für eine gerechte Reform der Erb- Bundestages gefunden hat, obwohl wir für die Lösung
schaft- und Schenkungsteuer des Problems zuständig sind. Deswegen möchte ich trotz
(B) der fortgeschrittenen Stunde am Freitagnachmittag die (D)
– Drucksache 16/2076 –
Gelegenheit nutzen, Sie mit der Thematik vertraut zu
Überweisungsvorschlag: machen, und vor allem die Kolleginnen und Kollegen
Finanzausschuss (f) von der SPD und der CDU/CSU einladen, mit den Op-
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
positionsfraktionen gemeinsam nach einer Lösung zu su-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend chen.
Haushaltsausschuss
Es geht, kurz gesagt, um Folgendes: Nach dem
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für GmbH-Gesetz und nach dem Aktiengesetz tagen die
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Aufsichtsgremien, also die Aufsichtsräte, prinzipiell
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten nicht öffentlich. Die Mitglieder der Aufsichtsräte sind
erhalten sollte. zur Verschwiegenheit über das, was in diesen Sitzungen
geschieht, verpflichtet. Das ist auch richtig, soweit es um
Diese Aussprache werden die Zuschauer und Zuhörer echte private Gesellschaften geht. Dafür sind diese Ge-
auf der Tribüne nun nachlesen müssen, weil wir die setze auch geschaffen. Nun hat sich in letzter Zeit die
Rede des Kollegen von Stetten für die Unionsfraktion zu Tendenz entwickelt, dass immer mehr kommunale Ein-
Protokoll nehmen, ebenso die Rede von Florian Pronold richtungen, Dienststellen und Verwaltungsstellen eben-
für die SPD-Fraktion, die Rede des Kollegen Carl- falls in die Rechtsform der GmbH und in größeren Städ-
Ludwig Thiele für die FDP-Fraktion, den Beitrag der ten sogar in die der Aktiengesellschaft überführt worden
Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke sind. Dabei handelt es sich aber nicht etwa um eine echte
und die Rede von Christine Scheel für die Fraktion des Privatisierung, sondern nur um eine Organisationsände-
Bündnisses 90/Die Grünen.1) rung, weil die Kommunen zugleich meistens zu 100 Pro-
zent Inhaber dieser Gesellschaften geworden sind.
Damit ist die Aussprache geschlossen.
Damit ändert sich in den Sitzungen der Aufsichtsgre-
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf mien scheinbar wenig. Es geht um kommunalpolitische
Drucksache 16/2076 an die in der Tagesordnung aufge- Themen, um Busfahrpläne, um Stromtarife, um die
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Frage, ob eine Stadt ein Hallenbad baut, und ähnliches
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung mehr, also um ganz normale kommunalpolitische Dis-
so beschlossen. kussionen und Entscheidungen. Aber eines ändert sich

1) Anlage 2 2) Anlage 3
5098 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

Dr. Max Stadler


(A) durch diese Organisationsform: Während das Kommu- Wir können uns nicht darauf zurückziehen, dass wir (C)
nalrecht die Öffentlichkeit solcher Sitzungen vorsieht, die Lösung der weiteren Entwicklung in der Rechtspre-
schreibt, wie schon dargestellt, das Gesellschaftsrecht chung überlassen; denn hier geht es um Bundesgesetze.
gerade die Nichtöffentlichkeit vor. Damit fehlt ein Stück Es ist unsere Verantwortung, uns des Themas anzuneh-
Transparenz, es fehlt ein Stück demokratischer Diskus- men.
sionskultur und demokratischer Kontrolle. Das zeigt uns,
(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE
dass die Vorschriften, die für private Gesellschaften ge-
LINKE])
dacht sind, auf die kommunalen Gesellschaften nicht
passen. Ich darf mit dem Hinweis darauf schließen, dass die
Praktiker auf ein Tätigwerden des Deutschen Bundesta-
Nun gibt es zwei höchstrichterliche Entscheidun- ges warten. Der Passauer Oberbürgermeister Albert
gen aus diesem Jahr, die uns deutlich vorgeben, dass der Zankl, der übrigens der CSU angehört, hat am 20. Sep-
Grundsatz der Öffentlichkeit und Transparenz stärker zu tember der Bundesjustizministerin einen Brief geschrie-
beachten ist. Die erste Entscheidung des Bayerischen ben und darin den Gleichklang von Kommunalrecht, das
Verwaltungsgerichtshofs vom 8. Mai 2006 geht auf ei- von der Öffentlichkeit von Sitzungen ausgeht, und Ge-
nen Rechtsstreit zurück, den eine Bürgerinitiative in Pas- sellschaftsrecht für kommunale GmbHs angemahnt. Er
sau ausgelöst hat. Die Bürgerinitiative ist nämlich auf schreibt wörtlich – ich zitiere –:
die Idee gekommen, zu verlangen, dass wenigstens die
Tagesordnungen solcher Gremiensitzungen bekannt ge- Ich würde mich sehr freuen, wenn mein Schreiben,
geben werden, damit die Bürgerinnen und Bürger zu- das die Meinung vieler Kommunen widerspiegelt,
mindest wissen, worum es geht. Der Bayerische Verwal- eine entsprechende Gesetzesänderung anstoßen
tungsgerichtshof hat entschieden, dass diesem Begehren würde.
aufgrund der überragenden Bedeutung des Grundsatzes (Uwe Barth [FDP]: Bravo!)
der Öffentlichkeit und Transparenz stattzugeben ist.
Ich bitte Sie, unseren Antrag nicht reflexartig abzu-
Aber der Verwaltungsgerichtshof konnte sich natür- lehnen, weil er von der Opposition kommt, und lade Sie
lich nicht über die bundesgesetzliche Regelung hinweg- ein, sich mit uns zu bemühen, dieses Problem, das, wie
setzen, nach der die Sitzungen selbst nicht öffentlich gesagt, viele Menschen in den Kommunen bewegt, im
bleiben müssen. Damit fehlt das Kernstück der öffentli- Deutschen Bundestag zu lösen.
chen Debatte, nämlich die Teilhabe der Bürgerinnen und
Bürger an dem, was in diesen Sitzungen gesprochen und Vielen Dank.
(B) entschieden wird. Dieses Problem müssen wir lösen. (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Eine weitere Entscheidung, nämlich die des Bayeri- der SPD und der LINKEN)
schen Verfassungsgerichtshofs vom 26. Juli 2006, gibt
uns ebenfalls eine Richtschnur. Da ging es um das Pro- Vizepräsidentin Petra Pau:
blem, dass der Freistaat Bayern auf parlamentarische Wir haben die Rede der Kollegin Katrin Kunert für
Anfragen hin erklärt hat, er gebe keine Auskunft, und die Fraktion Die Linke und ebenso die Rede des Kolle-
dies damit begründet hat, dass die Anfragen wiederum gen Jerzy Montag vom Bündnis 90/Die Grünen zu Pro-
solche Gesellschaften betreffen, die in privater Rechts- tokoll genommen.1)
form betrieben werden, aber zu 100 Prozent staatlich Damit schließe ich die Aussprache.
sind. Hierzu hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof
gesagt: Egal wie die öffentliche Hand tätig wird, in wel- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
cher Form, ob in den hergebrachten öffentlich-rechtli- Drucksache 16/395 an die in der Tagesordnung aufge-
chen Formen oder in der Form privater Gesellschaften – führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
die demokratische Kontrolle muss sichergestellt sein. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Die FDP schlägt daher vor, dass wir diese Grundsätze
jetzt auf die Lösung unseres Problems übertragen. Ich Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
könnte mir beispielsweise vorstellen, dass wir im Schluss der heutigen Tagesordnung.
GmbH-Gesetz und im Aktiengesetz eine Öffnungsklau-
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
sel einbauen, die es den Städten, Landkreisen und Ge-
destages auf Mittwoch, den 27. September 2006, 13 Uhr,
meinden ermöglicht, diese Gremiensitzungen künftig
ein.
genauso öffentlich abzuhalten wie zum Beispiel eine
normale Stadtratsitzung. Natürlich wird es Teile geben, Ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise – soweit not-
bei denen es um Interna geht, die nicht öffentlich bleiben wendig – und ein schönes Wochenende.
müssen, aber im Grundsatz brauchen wir mehr Transpa-
renz. Die Sitzung ist geschlossen.

Gleichzeitig müssen dann natürlich die Vorschriften (Schluss: 15.24 Uhr)


über die Verschwiegenheitspflicht der Aufsichtsräte ge-
lockert werden; das passt sonst nicht zusammen. 1) Anlage 3
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5099

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 22.09.2006 Nešković, Wolfgang DIE LINKE 22.09.2006
DIE GRÜNEN
Nitzsche, Henry CDU/CSU 22.09.2006
Bär, Dorothee CDU/CSU 22.09.2006
Polenz, Ruprecht CDU/CSU 22.09.2006
Bareiss, Thomas CDU/CSU 22.09.2006
Rupprecht SPD 22.09.2006
Barth, Uwe FDP 22.09.2006 (Tuchenbach),
Marlene
Bellmann, Veronika CDU/CSU 22.09.2006
Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 22.09.2006
Dr. Berg, Axel SPD 22.09.2006
Schily, Otto SPD 22.09.2006
Bluhm, Heidrun DIE LINKE 22.09.2006
Dr. Schwanholz, Martin SPD 22.09.2006
Burchardt, Ulla SPD 22.09.2006
Stiegler, Ludwig SPD 22.09.2006
Dyckmans, Mechthild FDP 22.09.2006
Vaatz, Arnold CDU/CSU 22.09.2006
Eichel, Hans SPD 22.09.2006
Dr. Westerwelle, Guido FDP 22.09.2006
Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 22.09.2006
(B) DIE GRÜNEN Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 22.09.2006 (D)

Ernst, Klaus DIE LINKE 22.09.2006 Zypries, Brigitte SPD 22.09.2006

Freitag, Dagmar SPD 22.09.2006


Anlage 2
Dr. Friedrich (Hof), CDU/CSU 22.09.2006
Hans-Peter Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Eckpunkte für eine
Griefahn, Monika SPD 22.09.2006 gerechte Reform der Erbschaft- und Schen-
kungsteuer (Tagesordnungspunkt 26)
Hettlich, Peter BÜNDNIS 90/ 22.09.2006
DIE GRÜNEN
Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Am
Hilsberg, Stephan SPD 22.09.2006 17. März 2005 haben der damalige Bundeskanzler
Gerhard Schröder, sein stellvertretender Regierungschef
Hinz (Essen), Petra SPD 22.09.2006 Joschka Fischer sowie die CDU-Vorsitzende Angela
Merkel und der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber bei
Hübner, Klaas SPD 22.09.2006 einer gemeinsamen Sitzung zum Jobgipfel beschlossen,
die geltende Erbschaftsteuergesetzgebung dahin gehend
Leutheusser- FDP 22.09.2006 zu ändern, dass bei einem Betriebsübergang auf die
Schnarrenberger, nächste Generation die Erbschaftsteuer für das betriebs-
Sabine notwendige Vermögen zunächst gestundet und nach
zehn Jahren völlig entfallen soll.
Lötzer, Ulla DIE LINKE 22.09.2006
Es gab einen großen parteiübergreifenden Konsens,
Meckel, Markus SPD 22.09.2006 und die FDP – so hatte ich Herrn Thiele damals zumin-
dest verstanden – hat diese Initiative, auch wenn sie an
Merten, Ulrike SPD 22.09.2006 den Gesprächen im Kanzleramt nicht beteiligt war, eben-
falls positiv gesehen.
Meyer (Hamm), CDU/CSU 22.09.2006 Es ist kein Staatsgeheimnis, dass das Gesetz nachträg-
Laurenz lich im Bundestag nicht umgesetzt wurde, weil die
5100 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

(A) damaligen rot-grünen Regierungsfraktionen eine ge- scheidet, in das Unternehmen einzusteigen und das fi- (C)
wisse Unlust an der Bearbeitung dieses Themas hatten. nanzielle Risiko und die Mitarbeiter zu übernehmen,
Es mögen auch ideologische Gründe eine Rolle gespielt dann werden wir ihm für jedes Jahr der Betriebsfortfüh-
haben, jedenfalls wurde trotz großer Ankündigung das rung 10 Prozent in der Erbschaftsteuer erlassen. So kann
Gesetz in der letzten Legislaturperiode nicht geändert nach zehn Jahren das gesamte betriebsnotwendige Ver-
und diese für unsere Familienunternehmen so dringend mögen erbschaftsteuerfrei auf die nächste Generation
notwendige Entlastung nicht umgesetzt. übergehen. Damit bleibt das Kapital im Unternehmen er-
Nach dem Regierungswechsel im Herbst 2005 haben halten und steht für zusätzliche Investitionen und Inno-
die neuen Koalitionspartner diese Initiative erneut aufge- vationen zur Verfügung. Den entsprechenden Gesetzent-
griffen und im Koalitionsvertrag die Umsetzung bis zum wurf wird die Bundesregierung in den nächsten Wochen
1. Januar 2007 festgeschrieben. Daran fühlen wir uns ge- vorlegen. Und dann hoffe ich, dass die Fraktion des
bunden und das Finanzministerium hat die Einbringung Bündnisses 90/Die Grünen – so wie damals ihr Vize-
eines entsprechenden Gesetzentwurfes für die nächsten kanzler Joschka Fischer – die Notwendigkeit einer um-
Wochen angekündigt. fassenden Entlastung erkennt.

Heute beraten wir in erster Lesung einen Antrag der


Florian Pronold (SPD): In einem Punkt muss ich
grünen Bundestagsfraktion zu einem ähnlichen Thema.
den Kolleginnen und Kollegen der Grünen-Fraktion
Zunächst ist es ist erfreulich, dass auch Sie hier einen
Recht geben: Ererbtes und geschenktes Vermögen stellt
Handlungsbedarf sehen. Es gibt allerdings einen großen
leistungsloses Einkommen dar, das einen stärkeren steu-
Unterschied zwischen dem, was die Regierung auf den
erlichen Zugriff der Allgemeinheit rechtfertigt. Dabei
Weg bringen will, und dem, was Sie heute vorgelegt ha-
gilt es natürlich insbesondere, die Weitergabe hoher Pri-
ben. Die Regierung will die betroffenen Bürger entlasten
vatvermögen konsequenter und höher zu besteuern, als
und Sie wollen durch eine verbreiterte Bemessungs-
das bisher der Fall ist.
grundlage die Bürger mit zusätzlichen Steuern belasten.
In Ihrem Antrag heißt es wörtlich – und mit Genehmi- In der Tat ist die Vermögensbesteuerung bei uns im
gung des Präsidenten zitiere ich aus dem eingebrachten internationalen Vergleich mit weniger als einem Prozent
Antrag der grünen Bundestagsfraktion –: des Bruttoinlandsprodukts extrem niedrig. Länder wie
Die verbreiterte Bemessungsgrundlage bewirkt hö- Großbritannien und die USA bitten die Vermögensbesit-
here Belastungen. zer in erheblich größerem Maße zur Kasse, als wir das
tun. Hier besteht – insbesondere, seit die Regierung Kohl
Und weiter heißt es: die Vermögensteuer hat auslaufen lassen – deutlicher
(B) Nachholbedarf. In den nächsten Jahrzehnten werden im- (D)
Die Steuermehreinnahmen sollen die Bundesländer
mense Reichtümer zwischen den Generationen weiterge-
für verstärkte Bildungsinvestitionen und den Aus-
geben, der größte Teil der Bevölkerung wird dabei
bau der Kinderbetreuung einsetzen.
jedoch leer ausgehen. Es muss gelingen, einen angemes-
Es wird also wieder einmal deutlich, dass Sie die Bür- senen Anteil dieser Mittel zu mobilisieren, um vor allem
ger durch höhere Steuern belasten und nicht entlasten die Finanzierung des Bildungswesens deutlich zu ver-
wollen. Wann lernen Sie endlich, dass bei Unterneh- bessern. Die SPD hat sich auf verschiedenen Parteitagen
mensübergängen nicht der Neid im Vordergrund stehen zu dieser Aufgabe bekannt, sie bleibt auch für die anste-
darf, sondern der Erhalt des Unternehmens und seiner henden Reformen der Erbschaftsteuer aktuell.
Gesellschafter in Deutschland?
Etwas verwundert bin ich darüber, dass die Grünen
Nur wenn die Unternehmer auch zukünftig in bei den Sonderregelungen für Betriebsvermögen relativ
Deutschland ihren Lebensmittelpunkt haben, wird un- konkret werden, bei der höheren Besteuerung der priva-
sere Gesellschaft von ihren beruflichen Erfolgen und ih- ten Erbschaften aber sehr vage bleiben. Ich hoffe, das
rem sozialen Engagement profitieren. Wer allerdings die liegt nicht daran, dass ein guter Teil ihrer Klientel zu den
großen Personengesellschaften aus Deutschland vertrei- glücklichen Millionenerben gehört.
ben will, der sollte ihre Vorschläge zur Verbreiterung der
Bemessungsgrundlage aufnehmen. Im Einzelfall würde Eine Reform der Erbschaftsteuer und des Bewertungs-
dies zu einer Verdoppelung der Erbschaftsteuerbelastung gesetzes ist überfällig. Die Koalition hat sich bemüht, sie
führen. Das kann nicht der richtige Weg sein. Zahlreiche so schnell wie möglich auf den Weg zu bringen. Nachdem
betroffene Bürger würden unser Land vor dem Erbfall nun aber die lange erwartete Entscheidung des Bundes-
verlassen und sich in den Nachbarländern steuerlich ver- verfassungsgerichts noch für dieses Jahr angekündigt ist,
anlagen lassen. In zahlreichen Nachbarländern hat der würde es wenig Sinn machen, vorher noch neue Regeln
Gesetzgeber die Erbschaftsteuer sogar vollständig abge- zu beschließen. Das würde ja heißen, dass wir eventuell
schafft. im nächsten Jahr gezwungen wären, das gerade verab-
schiedete Gesetz nochmals zu korrigieren. Das Ergebnis
Meine Fraktion will weiterhin die Erbschaftsteuer für wäre weniger Rechtssicherheit und mehr Bürokratie.
das gesamte betriebsnotwendige Vermögen zunächst
dem Erben stunden. Wenn er die Firma verkauft, wenn Deshalb plädiere ich dafür: Lassen Sie uns das Urteil
er also das versilbert, was seine Vorfahren mühsam auf- der Verfassungsrichter abwarten und dann die Reform
gebaut haben, dann wird er auch weiterhin ganz normal der Erbschaftsteuer zügig umsetzen. Bei diesem Zeitplan
Erbschaftsteuer zahlen müssen. Wenn er sich aber ent- sollte es gelingen, das neue Recht zum 1. Januar in Kraft
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5101

(A) treten zu lassen, selbst wenn das Verfahren erst im gerade Mittelständler und Unternehmensinhaber den (C)
nächsten Jahr abgeschlossen werden kann. Steuerstandort Deutschland verlassen und ihren Wohn-
sitz im benachbarten europäischen Ausland, nämlich in
Die nötigen Vorarbeiten hat die Koalition geleistet. Österreich oder der Schweiz, angesiedelt haben. Hier-
Das gilt auch für den Punkt der Weitergabe von Be- durch entgehen schon jetzt dem deutschen Fiskus Jahr
triebsvermögen. Wie Sie wissen, haben wir schon heute für Jahr zig Millionen, wenn nicht Milliarden Euro an
eine außerordentliche Privilegierung von Betriebsver- Steuereinnahmen. Steuerbürger, die aus steuerlichen
mögen im Erbschaftsteuerrecht. Wir haben uns nun geei- Gründen Deutschland verlassen haben, zahlen eben in
nigt, das noch einmal zu verbessern. Der Kompromiss Deutschland weder eine Schenkungsteuer, noch eine
sieht vor, die Erbschaftsteuer für produktives Betriebs- Erbschaftsteuer, noch eine Lohn- und Einkommensteuer.
vermögen nach zehn Jahren völlig zu erlassen, wenn die
Diese Gelder sind für den deutschen Fiskus verloren.
Arbeitsplätze im Betrieb erhalten werden.
Hierzu gibt es auch sehr prominente Beispiele aus dem
Dabei sind zwei Dinge wichtig: Zum einen müssen Bereich des Sportes. Nicht umsonst wirbt Österreich in
wir zuverlässig verhindern, dass vererbtes Privatvermö- Deutschland für den Steuerstandort Österreich und hat
gen in Betriebsvermögen umgewidmet wird und sich bedauerlicherweise damit Erfolg.
Millionenerben damit ein Steuerschlupfloch schaffen.
Hierfür ist bereits eine ganze Reihe von Vorkehrungen In dieser Situation gehen die Grünen daher und erklä-
ausgearbeitet worden, die das steuerlich anerkannte pro- ren, dass die Bemessungsgrundlage verbreitert und das
duktive Betriebsvermögen eng begrenzen. Steueraufkommen aus der Erbschaftsteuer erhöht wer-
den soll. Sie zeigen damit, dass sie den Ernst der Lage
Zum anderen darf es dieses Steuergeschenk nur ge- des Standorts Deutschland nicht verstanden haben. Ein
ben, wenn der vollständige Erhalt der Arbeitsplätze für solcher Vorschlag ist widersinnig. Wir dürfen aus
mindestens zehn Jahre sichergestellt wird. Nur dann hat Deutschland nicht weiter die Leistungsträger mit ihrem
diese Regelung eine Berechtigung und nur dann kann sie Kapital hinaustreiben. Wir müssen attraktiver werden,
vor dem Verfassungsgericht bestehen. damit Kapital und Leistungsträger nach Deutschland
kommen.
Es ist schon erstaunlich, dass dieser vernünftige Kom-
promiss nun gerade von denen infrage gestellt wird, die Begründet wird diese Haltung der Grünen neben dem
seit Jahren nach dieser Sonderregelung verlangen. Die fiskalischen Interesse damit, dass die derzeitige Rege-
Unternehmensverbände haben uns immer gesagt, dass lung nicht verfassungsgemäß sei, weil Geldvermögen,
die Erbschaftsteuer den Bestand von Arbeitsplätzen ge- Grund- und Immobilienvermögen, land- und forstwirt-
fährdet. Der Beweis dafür steht allerdings bis heute aus. schaftliches Vermögen und Betriebsvermögen derzeit
(B) Jetzt sind wir bereit, ihnen die Erbschaftsteuer zu erlas- sehr unterschiedlich bewertet werden. Es ist auch den (D)
sen, wenn sie die Arbeitsplätze sichern. Dass nun die Ar- Grünen nicht verwehrt, sich mit dem derzeitig geltenden
beitsplatzklausel kritisiert wird, macht die ganze Argu- Bewertungsgesetz auseinanderzusetzen. In dem Bewer-
mentation der Verbände unglaubwürdig. tungsgesetz hat der Gesetzgeber seinerzeit sehr deutlich
Noch erstaunlicher ist es, wenn Regierungsmitglieder differenziert zwischen Gleichem und Ungleichem; denn
den erreichten Kompromiss infrage stellen. Um es klar nach Art. 3 GG muss Gleiches gleich und Ungleiches
zu sagen: Wer eine Regelung zur Betriebsübergabe ohne auch ungleich behandelt werden. Er ist damit einer Ent-
Arbeitsplatzklausel will, verschenkt die Steuergelder der scheidung des Bundesverfassungsgerichts gefolgt, dass
Arbeitnehmer an reiche Firmenerben. Das wird es mit die unterschiedliche Bewertung der verschiedenen Ver-
der SPD nicht geben. Die CSU ist seit Jahren die vehe- mögensarten geradezu verlangt hatte.
mente Vorkämpferin einer Erleichterung der Betriebs-
Aus gutem Grund hat der Gesetzgeber berücksichtigt,
übergabe. Sich jetzt nicht an den Kompromiss zu halten,
dass Betriebsvermögen einer stärkeren Sozialpflichtig-
ist das typische Doppelspiel der CSU. Das wird diesmal
keit unterliegt als sonstiges Vermögen. Hieraus folgt
keinen Erfolg haben.
eine privilegierte Behandlung bei der Bewertung von
Ich denke, es gibt keinen Anlass für den vorliegenden Betriebsvermögen. Betriebsvermögen ist die Vorausset-
Antrag. Die Koalition hat eine vernünftige Vereinbarung zung dafür, dass es überhaupt Betriebe und Arbeitsplätze
getroffen. Sobald das Verfassungsgericht entschieden gibt. Wenn hier die Bemessungsgrundlage deutlich er-
hat, müssen wir sie zügig umsetzen. höht werden soll, so kommt dieses einer stärkeren Belas-
tung des Mittelstandes, insbesondere der Inhaber von
Carl-Ludwig Thiele (FDP): Dieser Antrag der Grü-
Betrieben und letztlich auch deren Beschäftigten gleich.
nen zeigt ganz deutlich die Politik der Grünen auf: Es Dadurch wird insbesondere in mittelständischen Betrie-
sollen höhere Steuereinnahmen für den Staat durch die ben in einem Erbfall die Fortführung eines Unterneh-
Erbschaft- und Schenkungsteuer erzielt werden. Es wer- mens gefährdet. Häufig fehlt der Kopf eines Unterneh-
den auch gleich gute Zwecke angegeben, für die dieses mens, zudem müssen die Erben Kapital – welches nicht
zusätzlich einzunehmende Geld auch gleich wieder aus- liquide in der Firma vorhanden ist – dadurch aufbringen,
gegeben werden kann. dass Teile des Betriebes veräußert werden oder der Be-
trieb mit Fremdkapital belastet werden muss. Jede dieser
Der Antrag übersieht allerdings, dass gerade aufgrund Maßnahmen verschlechtert die Situation eines Betriebes
der deutschen Besteuerung und insbesondere der derzei- und gefährdet damit die in dem Betrieb vorhandenen Ar-
tigen erbschaftsteuerlichen Belastung viele Bürger und beitsplätze.
5102 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

(A) Es ist auch widersinnig, eine Vereinfachung des Be- genüber anderen Formen des Zusammenlebens beim Er- (C)
wertungsgesetzes erreichen zu wollen, wenn parallel ben und Beschenken bevorzugt bleiben.
eine Komplizierung des Erbschaftsteuerrechtes vorge-
nommen werden soll. Die Fraktion Die Linke ist für eine Reform der Erb-
schaft- und Schenkungsteuer, weil durch eine solche Re-
Die derzeit beim Bundesverfassungsgericht vorlie- form mehr Verteilungsgerechtigkeit möglich wäre. Eine
gende Klage ist seinerzeit unter Rot-Grün von dem SPD- gerechte Erbschaftsbesteuerung muss die Gleichbehand-
geführten Finanzministerium für unzulässig und unbe- lung aller der Steuer zugrunde liegenden Vermögensvor-
gründet erklärt worden. Deshalb hat die Bundesregie- teile umfassen. Das schließt eine weitere steuerliche Be-
rung seinerzeit beantragt, die Klage abzuweisen. vorzugung von Grundbesitz und Betriebsvermögens aus.
Voraussetzung hierfür ist eine realitäts- und marktnahe
Die FDP wird die von den Grünen geforderte steuerli- Bewertung dieser Vermögensarten. Wir fordern die
che Mehrbelastung insbesondere des Betriebsvermögens Gleichbehandlung aller Erben: Dies kann nur durch eine
nicht unterstützen. Die Neiddebatte in unserem Land ist Vereinheitlichung der Steuerklassen, Freibeträge und
eben auch bei den Grünen angekommen. Volkswirt- Steuertarife realisiert werden.
schaftlich ist es aber Unfug, durch eine verschärfte steu-
erliche Belastung von Erbschaften weiter Kapital aus Die Erbschaftsteuer existiert, weil sie über wichtige
Deutschland zu vertreiben. Deshalb wird die FDP dem haushaltspolitische und verteilungspolitische Funktionen
Antrag der Grünen nicht zustimmen. für das Gemeinwesen verfügt. Sie nicht zu nutzen und
angesichts der bevorstehenden „Erbenwelle“ nicht zu re-
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): In den Jahren 2011
formieren, bedeutet den freiwilligen Verzicht auf drin-
bis 2015 werden nach Berechnungen der Dresdner Bank gend notwendige Einnahmen für die öffentliche Hand
circa 1,3 Billionen Euro vererbt werden. Bereits jetzt und auf gebotene Verteilungsgerechtigkeit.
werden jährlich mindestens 50 Milliarden Euro an Erben Laut DIW sind durch eine gerechtere Besteuerung
übertragen. Die Erb- und Schenkungssummen werden in von Erbschaften und Schenkungen jährlich 6 bis 9 Mil-
den nächsten Jahren weiter steigen; eine erfreuliche Tat- liarden Euro an fiskalischen Einnahmen realisierbar. Das
sache für die Erbinnen und Erben, die von diesem leis- waren bis 2 bis 5 Milliarden Euro Mehreinnahmen für
tungslosen Einkommen profitieren können. Die Mehr- die Bundesländer. Die milliardenschweren Erbschaften
heit der Erben und Beschenkten muss sich jedoch mit und Schenkungen können einen Beitrag zur haushälteri-
sehr bescheidenen Summen zufrieden geben: In den Jah- schen Stabilität und Verteilungsgerechtigkeit leisten.
ren 2001 und 2002 erhielten 60 Prozent aller Haushalte Nutzen wir diese Chance.
eine Erbschaft von weniger als 51 000 Euro und circa
(B) 30 Prozent sogar weniger als 13 000 Euro. (D)
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die insgesamt riesige Gesamterbmasse ist also sehr Unser Antrag mit Eckpunkten für eine gerechte Reform
ungleich verteilt und wird nicht dazu beitragen, Vertei- der Erbschaftsteuer und Schenkungsteuer soll die
lungsgerechtigkeit zu befördern. Im Gegenteil. Wenige schwarz-rote Koalition antreiben, endlich die Erbschaft-
werden noch reicher und vermögender. Der Abstand zu steuerreform im Kabinett zu verabschieden und in den
den Haushalten mit geringem Einkommen vergrößert Bundestag einzubringen, um das verwirrende Chaos
sich auch in Zukunft. Arm bleibt also arm und reich wird zwischen Union und SPD und mit den verschiedenen
noch reicher. Dies haben nicht zuletzt Untersuchungen Bundesländern zu beenden. Die Erbschaftsteuerreform
im Rahmen des zweiten Armuts- und Reichtumsberichts ist nicht zu vererben an eine nächste Legislaturperiode
der rot-grünen Bundesregierung in 2005 ergeben. Die und sie kann auch nicht ausgesessen werden.
Ungleichheit der Lebensverhältnisse in unserer Gesell-
schaft wird sich weiter vertiefen und das soziale Gefüge Die schwarz-rote Koalition hat sich in vielen Politik-
belasten. Im internationalen Vergleich sind unsere Ver- feldern darauf verständigt, nicht zu entscheiden, sondern
teilungs- und Besitzverhältnisse verkrustet und ohne Dy- Entscheidungen in der Sache zu verschieben. Bei der
namik. Die Erbschaftsteuer ändert daran leider bis dato Gesundheitsreform steht die Koalition bereits vor dem
nichts, obwohl gerade dieser Steuer eine fiskalische und Schlichtungsfall für den Koalitionsausschuss. Bei der
verteilende Funktion zugewiesen wird. Erbschaftsteuer geht der Verschiebebahnhof nicht, weil
mit Ende des Jahres die Regelungen des Bewertungsge-
Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die setzes wegen Befristung auslaufen. Ohne neues Gesetz
Grünen geht jedoch an diesem Kernproblem vorbei. Es gibt es Steuerausfälle bei den Erbschaftsteuereinnahmen
wird darin zwar mehr Verteilungsgerechtigkeit gefor- für die Bundesländer. Niemand kann dies wollen!
dert, offen bleibt jedoch, wie eine derart ungleiche Ver-
teilung durch eine Erbschaftsteuerreform aufgebrochen Eine erneute Verlängerung des Bewertungsgesetzes,
werden kann. Die im Antrag formulierten Forderungen ohne dass eine verfassungsgemäße Änderung der Be-
zum Bewertungsrecht sind wichtig. Nicht zuletzt garan- wertungsgrundsätze für unterschiedliche Vermögens-
tiert die Gleichbehandlung aller Vermögensarten eine arten wie Grund-, Immobilien- und Betriebsvermögen
verfassungsgemäße Besteuerung. Eine grundlegende geregelt wird, kommt für uns nicht infrage. Eine gleich-
Reform darf sich jedoch darauf nicht beschränken: mäßige Besteuerung von Geldvermögen und Immobi-
lienvermögen muss endlich gewährleistet werden. Steuern
Es stellt sich auch die Frage, warum eingetragene sparende Gestaltungen müssen ein Ende finden. Es geht
Partnerschaften und Ehegemeinschaften steuerlich ge- hierbei um Steuergerechtigkeit für die Berechnung der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5103

(A) Bemessungsgrundlage der Erbschaft- und Schenkung- ben soll durch einen hohen Freibetrag von 2 Millionen (C)
steuer. Unliebsame politische Entscheidungen dürfen Euro der Erwerb im Erbschaftsfall sofort steuerbefreit
seitens der großen Koalition nicht länger in die Verant- werden, um die Unternehmensnachfolge, die Fortfüh-
wortung des Verfassungsgerichts delegiert werden. Es ist rung des Betriebes und die Sicherung der Arbeitsplätze
ureigene Aufgabe der Politik und damit des Parlaments, zu gewährleisten. Omas Häuschen bleibt selbstverständ-
in der Sache zu entscheiden. lich steuerbefreit. Die persönlichen Freibeträge sollen in
der Höhe so bleiben, wie sie sind. Die steuerliche Diskri-
Auch die Regelung zur Unternehmensnachfolge im minierung der eingetragenen Lebenspartnerschaften
Rahmen des Erbschaftsteuerrechts erlaubt keinen weite- wollen wir beenden.
ren Aufschub. Kleine und mittlere Unternehmen brau-
chen eine sichere Perspektive für die Regelung der Fir- Große Erbschaften und Schenkungen sollen einen hö-
mennachfolge. Es geht um die Sicherung und den Erhalt heren Beitrag für unser Gemeinwesen erbringen, so wie
von vielen Arbeitsplätzen im Mittelstand. Die Regelung es auch in anderen Ländern üblich ist. Wir wollen für
zur Unternehmensnachfolge muss den Erhalt der Ar- kleine Vermögen die Steuersätze senken, um die Wir-
beitsplätze nachweisen. Sonst wird die Koalition der kung der verbreiterten Bemessungsgrundlage abzufe-
Sozialpflichtigkeit des Eigentums nicht gerecht. dern, und für große Vermögen anheben. Im Ergebnis
sollen breitere Schultern eine höhere Last für das Ge-
Die Erbschaft- und Schenkungsteuer hat derzeit ein meinwohl tragen. Jedes Kind soll gleiche Bildungschan-
jährliches Volumen von rund 4 Milliarden Euro. Sie cen erhalten, dazu ist die Umverteilung von Vermögen
kann allein von ihrem Volumen her nicht mit den großen im Rahmen des Erbschaftsfalls ein angemessener Zeit-
Aufkommen aus der Mehrwert- oder Einkommensteuer punkt. Die große Koalition soll sich um diese Fragen
von jeweils rund 140 Milliarden Euro verglichen wer- nicht drücken, sondern unverzüglich entscheiden und ih-
den. Sie ist eine reine Ländersteuer, sie steht aber im ren Gesetzentwurf vorlegen.
Mittelpunkt von Gerechtigkeitsfragen und wichtigen Ge-
rechtigkeitsempfindungen in der Gesellschaft. Die
Chancengleichheit für die nächste Generation bildet den Anlage 3
Bezugspunkt. Eine zunehmende ungleiche Vermögens-
verteilung kann mithilfe der Erbschaftsteuer zugunsten Zu Protokoll gegebene Reden
von gerechteren Startchancen für alle Kinder korrigiert
werden. Auch die Bildungsausgaben sind Ländersache. zur Beratung des Antrags: Gegen Geheimnis-
Mehr Investitionen in Schule, Ausbildung und Universi- krämerei – Entscheidungen kommunaler Ge-
täten fallen nicht vom Himmel, sondern müssen vom sellschaften transparent gestalten (Tagesord-
nungspunkt 27)
(B) Gemeinwesen mit Steuern finanziert werden. (D)
Das jährliche Erbschaftsvolumen nimmt stetig zu. Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Das Anliegen der
2,5 Billionen Euro werden die Deutschen in den nächs- FDP berührt einen wichtigen Punkt. Bürger einer Stadt
ten zehn Jahren vererben laut „Wirtschaftswoche“ vom oder Gemeinde wollen nicht nur über das Geschehen,
31. Juli 2006. Deshalb stellen sich verstärkt soziale welches sich direkt im Rathaus abspielt, informiert wer-
Gerechtigkeitsfragen. Aus der Erbschaftsteueraufkom- den, sondern auch über die Tätigkeit von Unternehmen,
mensstatistik 2002 ergibt sich, dass bei einem steuer- die der öffentlichen Hand gehören.
pflichtigen Erbschaftsvolumen von 19,3 Milliarden Euro
5,82 Milliarden Euro auf das Grundvermögen, 1,5 Mil- Das ist auch das gute Recht des Bürgers. Schließlich
liarden Euro auf Betriebsvermögen und 0,08 Milliarden müsste er im Zweifel auch mit seinen Steuergeldern da-
Euro auf land- und forstwirtschaftliche Vermögen entfie- für einstehen, wenn es in diesen Unternehmungen zu
len. 11,86 Milliarden Euro betrug die Kategorie Sonsti- Verlusten kommt.
ges Vermögen, darunter fällt das Geld- und Wertpapier-
Als überzeugte Entbürokratisierer und Deregulierer,
vermögen.
meine verehrte Kollegen von der FDP, sollten wir uns
Bisher gehen die verschiedenen Vermögensarten un- aber auch bei Ihrem Antrag die Frage stellen, ob hier
gleichmäßig in die Bemessungsgrundlage der Erbschaft- eine Gesetzesänderung wirklich notwendig ist. Denn wir
steuer ein. Immobilien werden nur mit Werten erfasst, halten es ja mit Montesquieu und wissen: „Wenn es nicht
die oft bis zu 50 Prozent unter Marktniveau liegen. Auch notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwen-
Grundstücke werden mit nicht aktuellen Bodenrichtwer- dig, keines zu machen.“
ten erfasst. Wir wollen, dass Geld-, Grund- und Immobi- Viele Kreise, Städte und Gemeinden in unserem Land
lienvermögen sowie Betriebsvermögen endlich gleich- haben sich für kommunale Unternehmen in der Rechts-
mäßig in die Besteuerungsgrundlage eingehen. Dazu form einer GmbH entschieden, weil sie eine flexible
brauchen wir nicht auf eine Entscheidung des Bundes- Rechtsform mit vielen Gestaltungsmöglichkeiten für
verfassungsgerichts zu warten, um eine verfassungsge- ihre kommunale Aufgabenerfüllung suchten. Und zu-
mäße Erfassung aller Vermögensarten zu gewährleisten. mindest in puncto Transparenzregelung erhalten sie
Damit würde vielen Steuer sparenden Gestaltungen mit- diese Gestaltungsfreiheit auch.
tels Vermögensumschichtungen der Boden entzogen.
Wir wollen, dass Begünstigungen in Gestalt von Freibe- Die Satzung einer GmbH kann die Mitglieder eines
trägen offen und transparent ausgewiesen werden. Für fakultativen Aufsichtsrats weitgehend von der Ver-
das Betriebsvermögen von kleinen und mittleren Betrie- schwiegenheitspflicht des § 93 Abs. 1 AktienG befreien.
5104 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

(A) Ihre Forderung nach einer gesetzlichen Eingrenzung der kommunale Gesellschaften wären aber keine gesell- (C)
Verschwiegenheitspflicht ist bereits in § 52 Abs. 1 schaftsrechtliche Regelung mehr, sondern hätten einen
GmbHG geregelt. dezidiert kommunalverfassungsrechtlichen Regelungs-
zweck. Das Kommunalverfassungsrecht ist aber Sache
Sie stützen den von Ihnen angenommenen Hand- des Landesgesetzgebers. Das, was Sie laut Überschrift
lungsbedarf insbesondere auf die Entscheidung eines mit Ihrem Antrag erreichen wollen, kann gesetzlich also
bayerischen Verwaltungsgerichts. Sie zitieren eine Pas- nur in den Landtagen geregelt werden.
sage am Schluss dieses Urteils in Ihrem Antragstext
zwar richtig. Einen Handlungsauftrag an den Gesetzge- Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, haben Ver-
ber kann ich dieser Stelle allerdings beim besten Willen trauen in das verantwortungsbewusste Handeln der
nicht entnehmen. Im Gegenteil: Das Verwaltungsgericht Kreistage sowie der Stadt- und Gemeinderäte in unserem
stellt in einer zentralen Passage seines Urteils – die Sie Land. Diese werden in aller Regel die Transparenz für
geflissentlich ignorieren – ausdrücklich klar: „Zum an- ihre Kommunalunternehmen nicht als Bedrohung, son-
deren hat das Bundesgesetz in § 52 Abs. 1 GmbHG eine dern als Ausdruck einer bürgernahen Kommunalpolitik
flexible Regelung geschaffen, in der auch kommunalge- begreifen. Wir wollen uns nicht anmaßen, besser zu wis-
setzliche Erwägungen, und hier insbesondere das Öffent- sen als die Entscheidungsträger vor Ort, wie Transparenz
lichkeitsprinzip, berücksichtigt werden können.“ Dieser und Offenheit zu sichern ist.
klaren Feststellung des Gerichts ist nichts hinzuzufügen. Ich will Ihnen als Antragsteller aber sehr gerne zusi-
Bei aller gemeinsamen Begeisterung für die Transpa- chern: Sollte es Ihnen im Laufe der weiteren Beratungen
renz in kommunalen Gesellschaften sollten wir doch gelingen, tatsächliche Defizite im Bundesrecht aufzuzei-
Acht geben, dass wir nicht Mauern an Stellen durchbre- gen, also Punkte, in denen das Bundesrecht die Offenle-
chen, wo der Gesetzgeber schon längst Fenster einge- gung von Unternehmensinformationen unzumutbar und
unangemessen behindert, werden wir gerne über einen
baut hat.
gesetzgeberischen Handlungsbedarf nachdenken. Aus
Was wir aber nicht gebrauchen können und nicht wol- Ihrem Antragstext kann ich solche Defizite allerdings
len, ist ein Sonder-GmbH-Recht für Kommunen. Der noch nicht erkennen. Hier müssten Sie dann schon ein
Reiz der GmbH liegt aus der Sicht vieler Städte und wenig mehr in die Tiefe gehen.
Kreise ja gerade darin, dass sie in dieser Rechtsform ih- Wir als Unionsfraktion – das möchte ich abschließend
ren Vertragspartnern in der freien Wirtschaft gleichsam betonen – sehen vor allem keinen Grund, den Kommu-
gesellschaftsrechtlich auf Augenhöhe gegenübertreten nen und ihrem Willen, Transparenz herzustellen, zu
können. Und es mutet schon etwas merkwürdig an, wenn misstrauen. Aber so ganz werde ich den Verdacht nicht
gerade diejenigen, die zu den glühendsten Verfechtern los, dass die FDP in dieser Hinsicht gewisse Vorbehalte
(B) der Ausgründung kommunaler Unternehmen in private hat. Wie sonst wäre es zu erklären, dass Sie in Ihrem An- (D)
Rechtsformen gehören, nun offenbar Zweifel bekom- trag ausdrücklich nur von transparenten Entscheidungen
men, ob diese Privatrechtsform wirklich so geeignet ist. bei „kommunalen Unternehmen“ sprechen? Wenn das
Selbst für die Fälle, wo das GmbH-Recht für die Zwe- Gesellschaftsrecht angeblich diese Transparenz verhin-
cke eines kommunalen Unternehmens nicht geeignet dert, warum fordern Sie dann keine Änderung auch im
sein sollte, müssen wir uns vor einer weiteren Befrach- Hinblick auf Gesellschaften des Bundes und der Länder?
tung und Verkomplizierung unseres Gesellschaftsrechts Ist Transparenz etwa weniger wichtig, wenn statt kom-
durch eine neue Unterform der GmbH hüten. Statt das munaler Gebühren Steuergelder des Bundes oder der
unternehmerische Rad für die Kommunen neu zu erfin- Länder in eine GmbH investiert werden? Oder handeln
den, sollten wir einfach zur Kenntnis nehmen, dass das von Bundestag oder Landtagen benannte Aufsichtsrats-
öffentliche Recht längst eine kommunale Unterneh- mitglieder Ihres Erachtens per se verantwortungsbe-
mensform in Gestalt der Anstalt öffentlichen Rechts be- wusster als kommunale Aufsichtsräte?
reithält. Zumindest diese Schieflage zulasten der Kommunen
in Deutschland sollten sie schnellstens aus Ihrem Antrag
Alle mit der Gründung von GmbHs verfolgten Ziele
streichen.
wie größere Flexibilität, einfache Kreditbeschaffung am
Markt, schnellere Entscheidungswege, steuerliche Vor-
teile, günstigere Kostensituation, können mit dieser seit Klaus Uwe Benneter (SPD): Sehr geehrte Kollegin-
Jahrzehnten eingeführten Rechtsform ebenso gut oder nen und Kollegen von der FDP! Ich bin doch sehr er-
gar noch besser erreicht werden. staunt, dass ausgerechnet Sie, die Sie stets noch mehr
Bürokratieabbau und noch mehr Effizienz in der Verwal-
Und jetzt kommt das Beste: Hier kann der Landesge- tung fordern, nun den Deutschen Bundestag am Freitag-
setzgeber sogar in noch viel höherem Maße, als der FDP nachmittag in diesem überflüssigen Umfang beschäfti-
das offenbar vorschwebt, Transparenz und Informations- gen. Wenn Sie doch bereits alle Antworten selbst haben,
pflichten anordnen. warum stellen Sie dann eine Große Anfrage an die Bun-
desregierung zu genau diesem Themenkomplex?
Nun mag es ja sein, dass Ihnen als Antragsteller die
Optionen, die das GmbH-Recht für die Eingrenzung der Es geht um das Verhältnis zwischen dem kommunal-
Verschwiegenheitspflichten des Aufsichtsrats vorsieht, rechtlichen Öffentlichkeitsprinzip und den gesellschafts-
nicht ausreichen. Wer mehr will, wird den Kommunen rechtlichen Verschwiegenheitspflichten, die in den Fäl-
diese Transparenz wohl schon vorschreiben müssen. len relevant wird, in denen Kommunen öffentliche
Solche Informationspflichten und Transparenzgebote für Aufgaben auf privatrechtliche Organisationsformen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006 5105

(A) übertragen. Diese Frage ist nicht neu und in der Fachlite- Katrin Kunert (DIE LINKE): Erstens: Kompliment (C)
ratur bereits ausführlich behandelt. an die FDP, sie hält ein Super-Plädoyer gegen die Priva-
tisierung von Aufgaben der öffentlichen Daseinsvor-
In den §§ 394 und395 AktG finden sich Sonderrege- sorge. Alle in ihrem Antrag aufgeführten Probleme wür-
lungen, die den Konflikt zwischen Berichtspflichten des den sich heute nicht so drastisch darstellen, wenn die
Aufsichtsrates gegenüber einer Gebietskörperschaft und Aufgaben der Daseinsvorsorge kommunal erbracht wür-
seiner Verschwiegenheitspflicht aufzulösen suchen.
den. Es steht auch in der Begründung des Regensburger
Wenn man diese bestehenden Vorschriften richtig aus-
Urteils, dass mit zunehmender Privatisierung die öffent-
füllt und anwendet, kommt man bereits zu befriedigen-
lich-rechtlichen Bindungen ausgehebelt werden können.
den Ergebnissen. Es ist nicht ersichtlich, warum darüber
hinaus gesetzgeberischer Handlungsbedarf bestehen Eine zweite Vorbemerkung: Würde man das Mitspra-
soll. che- und Entscheidungsrecht der Bürgerinnen und Bürger
Grundsätzlich besteht eine Schweigepflicht der ein- und der Kommune als Vertretungskörperschaft wirklich
zelnen Aufsichtsratsmitglieder auch in privatrechtlich stärken wollen, wäre zunächst an eine Rekommunalisie-
organisierten Unternehmen in überwiegend öffentlicher rung von Aufgaben der Daseinsvorsorge zu denken. Das
Trägerschaft. Falls keine ausdrückliche Berichtspflicht haben inzwischen auch die Kommunen erkannt. In sei-
vorliegt, haben nur die Aufsichtsratsmitglieder selbst ner Presseerklärung vom März dieses Jahres begrüßt der
darüber zu entscheiden, ob Informationen weitergegeben Deutsche Städte- und Gemeindebund ausdrücklich die
werden sollen. Es ist allerdings durch zwingendes Geset- Überlegungen einiger Städte und Gemeinden, bisher pri-
zesrecht nicht von vornherein ausgeschlossen, dass ein vat erbrachte Leistungen der öffentlichen Daseinsvor-
Aufsichtsrat als Kollektivgremium beschließt, nicht ge- sorge wieder zu kommunalisieren. Die neue Vorsitzende
heimhaltungsbedürftige Beratungsgegenstände und Be- des Ausschusses für Finanzen und Kommunalwirtschaft
ratungsabläufe einer breiten Öffentlichkeit zugänglich des Städte- und Gemeindebundes, Frau Ursula Pepper,
zu machen. Daher ist es nur folgerichtig und angemes- wies darauf hin, dass eine Rekommunalisierung von
sen, diese Fragen der Literatur und der Rechtsprechung Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge dazu dienen
und deren Rechtsfortentwicklung zu überlassen und könne, kommunale Gestaltungsmöglichkeiten zurückzu-
nicht sofort an eine gesetzliche Regelung zu denken. Ge- gewinnen. Die Stadt Ahrensburg in Schleswig-Holstein,
rade Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der in der Frau Pepper BM ist, hat sich entschieden, die Gas-
FDP, sträuben sich doch sonst immer gegen angebliche versorgung in der Stadt nicht mehr von einem privaten
oder tatsächliche gesetzliche Überregulierungen. Unternehmen, sondern von einer kommunalen Gesell-
schaft durchführen zu lassen. Und wenn Sie sich in der
Es bleibt den Kommunen doch unbenommen, bei der
FDP-Fraktion Gedanken über die Transparenz bei kom-
(B) Entsendung von Aufsichtsräten die Frage der Berichter- munalen Unternehmen machen, frage ich, wie Sie mit (D)
stattung gegenüber der Öffentlichkeit vor deren Bestel-
Transparenz bei echten Privatisierungen umgehen wol-
lung mit diesen Personen abzuklären.
len.
Aktueller gesetzgeberischer Handlungsbedarf ist nicht
gegeben. Für eine gute Corporate-Governance der Unter- Tatsache ist, dass bereits heute immer mehr Aufgaben
nehmen in alleinigem oder mehrheitlich öffentlichem der öffentlichen Daseinsvorsorge durch kommunale Un-
Besitz könnte gegebenenfalls ein Kodex für öffentliche ternehmen erbracht werden; zu 75 Prozent sind dies Un-
Unternehmen ähnlich dem Corporate-Governance-Ko- ternehmen in der Rechtsform der GmbH. Tatsache ist
dex für börsennotierte Unternehmen entwickelt werden. auch, dass aus den unterschiedlichsten Gründen die
Gegen eine gesetzliche Regelung speziell für öffentliche Kommunen immer mehr an Einfluss auf ihre eigenen
Unternehmen spricht aber die Gefahr einer möglichen Unternehmen verlieren. Eine Ursache dafür ist, dass Öf-
Benachteiligung anderer Anteilsinhaber, soweit die öf- fentlichkeit und die Wahrung der Interessen der Unter-
fentliche Hand nur einen Teil der Anteile selbst hält. nehmen nicht unter einen Hut zu bringen sind.
Für die GmbH mit Aufsichtsrat ist die praktische Be- Kommunale Mandatsträger in den Aufsichtsräten sind
deutung der Verschwiegenheitspflichten durch die nach zur Verschwiegenheit verpflichtet. Diese Verschwiegen-
GmbH-Recht jedem Gesellschafter zustehenden Aus- heitspflicht kann dann zu Interessenskonflikten führen,
kunfts- und Einsichtsrechte ohnehin gemindert. Für den wenn sie sich ihrer Gemeinde gegenüber verpflichtet
fakultativen Aufsichtsrat einer GmbH kann der Gesell- fühlen, über Angelegenheiten des Unternehmens von be-
schaftsvertrag die Auskunftspflichten regeln. sonderer Bedeutung berichten zu müssen. Es ist nicht
definiert, in welchem Maße eine Verschwiegenheits-
Wenn Sie schon unbedingt gesetzgeberisches Han-
pflicht der kommunalen Vertreter in den Aufsichtsräten
deln fordern, so ist jedenfalls der Bundestag nicht der
im Interesse des Gemeinwohls – im Interesse der Kom-
richtige Ort. Allenfalls auf Landesebene und im Rahmen
mune und damit der Bürgerinnen und Bürger – einge-
der Kommunalverfassungen könnte Handlungsbedarf
sinnvollerweise angemeldet werden. Dort sollte geprüft schränkt werden kann. Dies ist in den Gemeindeordnun-
werden, ob für die oben genannten Berichtspflichten ge- gen der Länder sehr unterschiedlich geregelt. Es ist
setzliche Grundlagen geschaffen werden sollten, soweit nämlich ein Aushandlungsprozess, der von Kommune
noch nicht geschehen. zu Kommune unterschiedlich ausgehen kann, also nach
dem Motto: einmal mehr und einmal weniger Transpa-
Hier im Bundestag, verehrter Herr Kollege Stadler, ist renz. Die Leidtragenden sind in jedem Fall die Bürgerin-
Ihnen in dieser Sache nicht zu helfen. nen und Bürger. Bestes Beispiel sind Unternehmen im
5106 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 52. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. September 2006

(A) Verkehrs- oder Versorgungsbereich, die nicht bereit sind, ren können. Mit dem unter Rot-Grün in Kraft getretenen (C)
ihre Tarif- bzw. Preiskalkulation offen zu legen. Informationsfreiheitsgesetz haben wir diesem Anspruch
Taten folgen lassen. Anders übrigens als Sie, meine Da-
Hier gibt es also tatsächlichen Handlungsbedarf. Das
men und Herren von der FDP, die Sie dem Gesetz da-
sehen wir nicht anders. Es müssen bundesweite einheitli-
mals Ihr Ja verweigert haben. Vor diesem Hintergrund
che Standards in Bezug auf die Einschränkung der Ver-
halten wir auch den Ansatz für richtig, kommunalpoli-
schwiegenheitspflicht im Interesse des Gemeinwohls
tisch relevante Entscheidungen transparent und über-
vorgegeben werden. Dies kann nicht im Belieben der
prüfbar zu gestalten. Dies muss, im Grundsatz, auch für
Länder oder einer Kommune oder gar des Bürgermeis-
kommunale wirtschaftliche Betätigungen gelten.
ters liegen. Insofern stimmen wir dem Grundanliegen Ih-
res Antrages zu. In der Tat ist es in den Kommunen inzwischen gän-
Allerdings geht uns der Antrag nicht weit genug. gige Praxis, Aufgaben der kommunalen Daseinfürsorge
in privatrechtlichen Unternehmensformen wahrzuneh-
Erstens. Geht es Ihnen in der FDP um eine deutliche men, da die Kommunen so wirtschaftlicher und effizien-
Erhöhung der Transparenz von Entscheidungen nur ter agieren können. Städtische Kliniken, Stadtwerke oder
kommunaler Unternehmen. Und Ihre gewünschte Neu- Messen als GmbH – alles Beispiele, wie viele Kommu-
regelung soll sich ausschließlich auf kommunale GmbH nen in Deutschland in der Unternehmensform einer
und AG beziehen, die zu 100 Prozent kommunal sind. GmbH wirtschaftlich erfolgreich agieren.
Das derzeit geltende GmbH- und AG-Recht bezieht sich
aber ausdrücklich auf alle Unternehmen, das heißt mit Diese Entwicklung bedeutet in der Tat ein Span-
jedem Gesellschafter, unabhängig von der Höhe der Be- nungsverhältnis zwischen dem das Kommunalrecht be-
teiligung wird ein umfassendes Informationsrecht ge- herrschenden Öffentlichkeitsprinzip einerseits und den
genüber dem Unternehmen eingeräumt. Es stellt sich die Vertraulichkeits- und Verschwiegenheitspflichten des
Frage, was Sie mit dieser Einengung wirklich wollen. Privatrechts andererseits. Die Kommunen sind bei ihrer
täglichen Arbeit immer wieder damit konfrontiert, dieses
Zweitens werden in Ihrem Antrag Unternehmen, an Spannungsverhältnis im Einzelfall auszuloten, abzu-
denen Bund und Länder beteiligt sind, vollkommen aus- grenzen und auszugestalten. Auch das im FDP-Antrag
geblendet. Wir meinen, auch diese Beteiligungen müs- zitierte VG Regensburg spricht davon, dass die Grenz-
sen in die Diskussion um mehr Transparenz einbezogen ziehung zwischen den verschiedenen Interessen und
werden. Schutzprinzipien im Einzelfall austariert werden müsse
und nicht ein für allemal festzulegen sei. Das Urteil sagt
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der jedoch auch, dass die einschlägigen Normen des GmbH-
(B) Anlass, der dem heutigen Antrag der FDP-Fraktion zu- Rechts, insbesondere § 52 GmbHG, den hierfür erforder- (D)
grunde liegt, mutet – lassen Sie mich das mal etwas sa- lichen Regelungsspielraum eröffneten. Vor diesem Hin-
lopp formulieren – etwas „sehr dünne“ an. Da hatte das tergrund finde ich die Empörung, mit der die FDP gegen
Verwaltungsgericht Regensburg über die Zulassung ei- die „Geheimniskrämerei“ in den Kommunen wettert,
nes ÖDP-Bürgerbegehrens zu entscheiden, in dem die mehr Theaterdonner für die Galerie denn sachlich be-
Transparenz kommunaler Unternehmen in Passau the- gründet. Was durchaus nicht bedeutet, dass man nicht
matisiert werden sollte. In seiner Entscheidung urteilte über eine weitere Ausgestaltung von Transparenzrege-
das Gericht, das Bürgerbegehren sei zulässig, da es kei- lungen nachdenken könnte.
nen Widerspruch zum geltenden GmbH-Recht darstelle, Doch ich möchte an dieser Stelle eines klar sagen:
wenn in dem Begehren mehr Transparenz bei kommuna- Diese Debatte darf nicht zu einer Schlechterstellung für
len Unternehmen gefordert werde. Kommunal-GmbHs führen. Das GmbH-Recht gilt für
Dass dieser Einzelfall aus Bayern, inklusive der bür- alle Gesellschaften mit beschränkter Haftung gleicher-
gerbegehrenfreundlichen Entscheidung des Verwal- maßen und dieser Grundsatz sollte auch nicht angetastet
tungsgerichts, Anlass für eine parlamentarische Initia- werden. Nur dann, wenn „gleiches Recht für Gleiche“
tive der FDP wird, finde ich schon bemerkenswert. gilt, ist ein fairer, freier Wettbewerb gesichert, für den
Wahrscheinlich ist dies aber dem Umstand geschuldet, sich ja die FDP sonst immer so vehement stark macht.
dass der Kollege Stadler im Doppelpack Passauer Abge- Kommunale Gesellschaften haben – wie jedes andere
ordneter und Stadtrat in Passau ist und daher die Aktivi- Unternehmen auch – das Recht, am wirtschaftlichen
täten der dort beheimateten ÖDP besonders beobachtet. Wettbewerb teilzunehmen. Dann müssen sie auch den-
Auch ich, lieber Kollege Stadler, bin ja bekanntlich aus selben Regularien unterstellt werden, wie jedes andere
Bayern. Von daher ist mir die marktschreierische und Unternehmen auch. Würden kommunale Unternehmen
populistische Arbeit der ÖDP bekannt, insbesondere ihre mit Sonderkonditionen belastet, wären sie gegenüber
rhetorische Empörung, mit markigen Sprüchen gegen privaten Konkurrenten – die aus Sicht der FDP vorzugs-
die so genannte Geheimniskrämerei in Rathäusern zu würdig seien – am Markt benachteiligt.
wettern. Ich denke nicht, dass wir uns dies hier in Berlin
Die allgemeine Forderung im FDP-Antrag, „so viel
zu Eigen machen sollten.
Transparenz wie möglich“ herzustellen, vermag nicht
Doch lassen Sie mich nun zur Sache selbst kommen. darüber hinwegzutäuschen, das konkretisiert werden
Wir Grünen stehen für eine der Transparenz verpflichte- muss, wie weit „das Mögliche“ gehen soll. Hier bleibt
ten Politik. Die Bürgerinnen und Bürger sollen staatli- die FDP jede Antwort schuldig. Die Debatte ist an dieser
ches Handeln nachvollziehen und damit auch kontrollie- Stelle folglich nicht zu Ende, sondern sie beginnt erst.

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44
ISSN 0722-7980

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