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Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht
28. Sitzung
Inhalt:
(A) (C)
Redetext
28. Sitzung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir beginnen die heutige Haushaltsberatung mit dem
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin und des Bun-
Sitzung ist eröffnet. deskanzleramtes, Einzelplan 04.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir Das Wort hat als erster Redner der Vorsitzende der
einen Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung behan- FDP-Fraktion, Dr. Wolfgang Gerhardt.
deln. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD haben
(Beifall bei der FDP)
fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die
Beratung des Antrags „Belarus nach den Präsident-
schaftswahlen“ zu erweitern. Der Antrag soll in der Aus- Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
sprache zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jede Bun-
beraten werden. Die Dauer der Aussprache zu diesem desregierung hat natürlich – –
Geschäftsbereich soll um eine halbe Stunde verlängert
(B) werden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (D)
Wir kommen zur Abstimmung über den Aufsetzungs- Herr Gerhardt, einen Moment bitte. – Kann ich darum
antrag. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer bitten, dass vor der Regierungsbank kein Personalver-
enthält sich? – Der Antrag ist angenommen mit den kehr und keine Diskussionen stattfinden? Danke.
Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Die Linke. der CDU/CSU und der SPD)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das war
klar!) Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesord- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jede neue
nungspunkt 1 – fort: Bundesregierung hat natürlich die Chance eines Neuan-
fangs. Sie bekommt sozusagen die ersten 100 Tage als
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Rabatt. Dann beginnt die Diskussion; dann sieht man ge-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die nauer hin. Wenn wir jetzt genauer hinsehen, Frau Bun-
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das deskanzlerin, müssen wir eines feststellen: Maßstab der
Haushaltsjahr 2006 Beurteilung ist nicht das Arrangement, das die beiden
großen Parteien in der Koalitionsvereinbarung getroffen
(Haushaltsgesetz 2006)
haben, Maßstab ist die Wirklichkeit. Diese zeigt eines:
– Drucksache 16/750 – Ein Personalwechsel reicht nicht; ein Politikwechsel ist
Überweisungsvorschlag: für die Bundesrepublik Deutschland notwendig.
Haushaltsausschuss
(Beifall bei der FDP)
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung Die entscheidenden Themen für die Menschen sind
Arbeit und Zukunftschancen. Aber es wird noch so ge-
Finanzplan des Bundes 2005 bis 2009 tan, als gäbe es nur Deutschland und seine Branchen.
Die Tarifverhandlungen werden so geführt. Die alten
– Drucksache 16/751 –
Wohlfahrtsversprechen werden von Ihrer Koalition noch
Überweisungsvorschlag: so gemacht. Die soziale Begleitung von Arbeitslosigkeit
Haushaltsausschuss
nimmt Sie so in Anspruch, dass das Prinzip „Vorfahrt für
Ich erinnere daran, dass wir für die heutige Ausspra- Arbeit“, über das wir uns mit Ihnen noch wenige
che insgesamt neun Stunden beschlossen haben. Wochen vor der Wahl einig waren, wieder in den
2204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Reformen werden akzeptiert, wenn sie als notwendig Die Beziehungen zwischen den Generationen müssen
auf eine für die ältere und für die jüngere Generation
(B) und gerecht empfunden werden. Oft hört man den Vor- gleichermaßen faire und gerechte Grundlage gestellt
(D)
wurf, diejenigen mit starken und breiten Schultern wür-
den hierzulande zu wenig tragen. Häufige Wiederholun- werden.
gen machen dieses Argument auch nicht wahr. Ich Die Politik der neuen Regierung gewinnt Vertrauen
möchte dies mit zwei Zahlen belegen. Ein Blick auf die durch Wahrheit und Klarheit – Steinbrücks Worte: „Weg
Einkommensteuerstatistik des Finanzministeriums ver- in die Realität“. Die große Koalition sorgt für klare Per-
hilft zu einer besseren Einsicht. Die 5 Prozent der Steu- spektiven angesichts der Chancen und Risiken der Glo-
erpflichtigen mit dem höchsten Einkommen schultern balisierung. Deshalb werden wir auch mehr für For-
knapp 43 Prozent des gesamten Einkommensteuerauf- schung und Entwicklung tun. Wir sind gerade dabei, mit
kommens. der Dienstleistungsrichtlinie die Märkte in Europa für
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Fritz exzellente deutsche Dienstleistungen zu öffnen.
Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beifall (Zuruf von der LINKEN: Oje, oje!)
bei der FDP!)
Wir sagen die Wahrheit über den Zustand der Staatsfi-
Auf die Steuerpflichtigen in der oberen Hälfte der Ein- nanzen, aber auch über die Lage bei Rente, Gesundheit
kommensstatistik entfallen sage und schreibe 92 Prozent und Pflege.
des Einkommensteueraufkommens. Man mag ja über
exzessive Auswüchse in Einzelfällen streiten. Aber un- Der Grundakkord unserer Politik lautet: Sanieren, In-
ser Steuersystem unter den Generalverdacht der Unge- vestieren, Reformieren. Nur durch Reformen gelingt die
rechtigkeit zu stellen, das geht an den Realitäten weit Überwindung der Investitionsschwäche. Nur durch mehr
vorbei. Investitionen kommen wir zu mehr Beschäftigung und
nur durch entschlossenes Sanieren erwirtschaften wir bei
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie den öffentlichen Finanzen die Handlungsspielräume, die
bei Abgeordneten der FDP) wir zur Finanzierung dringender Zukunftsinvestitionen
Reformen können den Hauptteil der Bundesausgaben benötigen.
leider nicht aussparen. Die große Koalition wird dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Sozialstaat neue Ziele setzen: weniger Verteilungsstaat der SPD)
herkömmlicher Prägung, mehr Gewicht auf Sozialinves-
titionen, um es mit einem Wort des Tübinger Philoso- Der Stimmungswandel und das anziehende Wirt-
phen Otfried Höffe zu sagen – damit der Begriff „Sozial- schaftswachstum erleichtern die Konsolidierung. Aber
investitionen“ den richtigen Klang bekommt. Deshalb das alleine reicht nicht aus,
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Oskar Lafontaine
(A) Menschenrechte reden. Das ist unsere Position in dieser Niemand im angelsächsischen Raum käme auf die (C)
Frage. Idee, eine Zentralbankverfassung zu verabschieden, wie
wir sie in Europa haben. Eine Zentralbank, die aus-
(Beifall bei der LINKEN – Carsten Schneider schließlich dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet ist,
[Erfurt] [SPD]: Lächerlich!) neigt zu gravierenden Fehlentscheidungen, die insbeson-
Ich werfe also noch einmal die Frage auf, ob Sie sich dere Wachstum und Beschäftigung hemmen. Wir haben
an das Völkerrecht halten wollen. das in den letzten Jahren oft genug erlebt. Ich möchte
also für meine Fraktion hier feststellen, dass es das Min-
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE deste wäre, die Verfassung der Europäischen Zentral-
GRÜNEN]: Wie war das mit der Folter, Herr bank an die Verfassung der amerikanischen Notenbank
Lafontaine? – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ anzupassen.
DIE GRÜNEN]: Jetzt zum Thema Folter!)
(Beifall bei der LINKEN)
– Ja, regen Sie sich nur auf! Das macht durchaus Freude.
Dann weiß man, dass Sie getroffen sind. Die amerikanische Notenbank ist nämlich nicht nur auf
Preisstabilität verpflichtet, sondern sie ist ebenso ver-
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) pflichtet, Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Es
ist bedauerlich, dass die Europäische Zentralbank in der
Ich stelle also die Frage, ob Sie sich an das Völkerrecht
jetzigen Situation, in der es in Europa noch keine klare
halten wollen. Es ist bekannt, dass weder der Jugosla-
Aufwärtsbewegung gibt, wiederum dabei ist, den Kurs
wienfeldzug
der Zinspolitik zu ändern. Wir werden das in einiger
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zeit, insbesondere in Deutschland, zu spüren bekom-
Jugoslawienfeldzug? Ihre Begrifflichkeit ver- men.
rät Sie!) Nun zum Maastrichtvertrag. Vorhin war von natur-
noch der Afghanistankrieg mit dem Völkerrecht zu ver- wissenschaftlicher Ausbildung die Rede. Einen Grund-
einbaren waren. Weniger bekannt ist, dass auch der Irak- satz lernt man bei dieser Ausbildung, nämlich dass man
feldzug von Deutschland mit getragen worden ist. Wenn die Theorie überprüft, wenn das Experiment sie perma-
das Bundesverwaltungsgericht feststellt, dass Deutsch- nent widerlegt.
land Beihilfe zum Irakkrieg geleistet hat (Beifall bei der LINKEN)
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Ist Herr Gysi Dass der Maastrichtvertrag durch das Experiment bestä-
gerade in Weißrussland?) tigt worden ist, kann nur jemand behaupten, der sehr,
(B)
und dass die Beihilfe zu einem völkerrechtswidrigen sehr kühn ist. Der Maastrichtvertrag ist eine Fehl- (D)
Krieg ebenfalls ein völkerrechtswidriges Handeln dar- konstruktion von Anfang an. Er hindert die Mitgliedstaa-
stellt, dann wäre doch zu erwarten, dass sich dieses Haus ten der Europäischen Union daran, eine vernünftige Fis-
mit diesem höchstrichterlichen Urteil beschäftigt. Aber kalpolitik zu betreiben.
das ist in den letzten Wochen und Monaten nicht gesche- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nein, Schul-
hen. den zu machen!)
(Beifall bei der LINKEN) Daher müsste er nicht nur ein bisschen korrigiert wer-
Die Außenpolitik hat keine klare Grundlage. Weder den, sondern er müsste grundlegend reformiert werden,
definiert sie, was Terrorismus ist, noch erklärt sie sich zu wenn wir Wachstum und Beschäftigung in Europa tat-
der Frage, ob es hier um Freiheit und Demokratie oder sächlich wollen.
um Rohstoffsicherung geht, noch hat sie klar erkannt, (Beifall bei der LINKEN)
dass das Völkerrecht beachtet werden muss, wenn wir
überhaupt Friedenspolitik betreiben wollen. Insofern Ich komme zur Innenpolitik und zur Bekämpfung
steht die Außenpolitik auf tönernen Füßen. Es besteht der Arbeitslosigkeit. Dabei spreche ich zwei Felder an.
nachher Gelegenheit, diese drei Sachargumente zu ent- Das eine ist die Finanzpolitik. Das andere ist die Lohn-
kräften. politik.
(Hubertus Heil [SPD]: Gern!) Der Bundesfinanzminister hat hier davon gesprochen,
dass seine Finanzpolitik nach seinem Urteil eine Finanz-
Wir sind sehr gespannt darauf. politik der doppelten Tonlage sei. Ich kann diese Selbst-
einschätzung nicht in vollem Umfang teilen, Herr Fi-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
nanzminister. Ich glaube, dass Sie hier weiterhin das
Ich komme zur Europapolitik und damit auch zur eintönige Lied des Neoliberalismus gesungen haben; in-
Frage der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Herr Kol- sofern konnte ich von doppelter Tonlage leider nichts er-
lege Ramsauer, Sie haben die Europapolitik der neuen kennen.
Regierung, die eine Fortsetzung der bisherigen ist, für (Beifall bei der LINKEN – Dr. Guido Westerwelle
richtig befunden. Wir glauben, dass es in den letzten Jah- [FDP]: Was ist daran eintönig?)
ren zwei gravierende strukturelle Fehlentwicklungen ge-
geben hat. Das eine ist der Maastrichtvertrag und das an- – Herr Kollege Westerwelle, manchmal ist das Lied des
dere ist die Verfassung der Europäischen Zentralbank. Neoliberalismus auch sehr farbig, aber es ist besonders
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2213
Oskar Lafontaine
(A) eintönig und bitter für diejenigen in unserem Land, die zelnen Felder konzentrieren. Zunächst einmal – darauf (C)
davon negativ betroffen sind, und das sind in den letzten hat meine Kollegin Gesine Lötzsch gestern bereits hin-
Jahren immer mehr geworden. gewiesen – ist die Quote öffentlicher Investitionen
Deutschlands anzusprechen. Das ist einfach nicht mehr
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Wolfgang zu fassen. Wieso glauben wir, dass wir uns als ein Indus-
Gerhardt [FDP]: Ich bringe Ihnen noch mal ei- triestaat, der in seiner Bedeutung für Europa von Ihnen,
nen Ausschnitt aus dem Geschichtsbuch!) Herr Kollege Ramsauer, gepriesen worden ist, weiter
Zunächst noch zur Grundausrichtung der Finanz- eine Quote öffentlicher Investitionen erlauben können,
politik. Wenn Sie sagen, Herr Bundesfinanzminister, die die seit vielen Jahren nur halb so hoch ist wie im Durch-
Finanzpolitik unterstütze Wachstum und Beschäftigung, schnitt der EU-Mitgliedstaaten? Wieso glauben wir, wir
dann müssen Sie das irgendwie begründen können. Sie können das auf Dauer durchhalten?
müssen zumindest irgendwie belegen können, dass die (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das müssen
Finanzpolitik expansiv ist. Das ist sie aber nicht. Sie jetzt ausgerechnet Sie sagen!)
werden hier kein Institut zitieren können, das Ihrer Fi-
nanzpolitik einen expansiven Impuls bestätigt. Vielmehr Keine Volkswirtschaft kann auf Dauer zu Wachstum und
ist es so, dass nicht nur der Bundeshaushalt zurückgeht, Beschäftigung finden, wenn nicht die öffentlichen Inves-
sondern auch die Gesamtheit der öffentlichen Haushalte. titionen einen entsprechenden Anteil an der gesamten
Wenn die Gesamtheit der öffentlichen Haushalte zurück- volkswirtschaftlichen Entwicklung haben.
geht, ist die Finanzpolitik – das sollte man hier feststel- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Peter Ramsauer
len – nicht expansiv, sondern eher restriktiv. Über Zah- [CDU/CSU]: Aber die privaten Investitionen
len kann man nicht streiten, es sei denn, man redet sich auch! Das müsste der Ökonom Lafontaine gut
die Welt schön oder verliert sich in irgendwelchen ideo- wissen!)
logischen Betrachtungen, die mit einer sachlichen Erör-
terung überhaupt nichts zu tun haben. Seit vielen Jahren werden an dieser Stelle gravierende
Fehler gemacht.
(Beifall bei der LINKEN – Renate Künast
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie waren Fi- Noch wichtiger als Investitionen in die öffentliche In-
nanzminister! Sie hätten das machen können!) frastruktur sind Investitionen in die geistige Infrastruk-
tur. Auch hier kann man nur sagen: Es ist angesichts der
Aber nicht nur die Haushaltspolitik ist der gegenwär- Tradition dieses Landes nicht zu fassen, dass wir bei den
tigen konjunkturellen Lage nicht angemessen. Noch viel Bildungs- und Forschungsausgaben im unteren Drittel
mehr gilt das für die Steuerpolitik. Aber dazu möchte ich der OECD-Statistik liegen. Das ist ein unhaltbarer Zu-
(B) das nach unserer Auffassung bestehende Kernproblem stand. (D)
der gegenwärtigen ökonomischen Entwicklung in
Deutschland formulieren, nämlich wie man die Erspar- (Beifall bei der LINKEN)
nisse wieder zurücklenkt in Investitionen. Wenn man Auch die jetzigen Entscheidungen der Regierung Merkel
dies als Kernaufgabe akzeptiert, dann muss man zu- ändern nichts daran.
nächst feststellen, dass dazu von Ihrer Regierung über-
haupt nichts angeboten wird. Das, was vorgelegt wird, Wenn wir wirklich zu den Industriestaaten aufschlie-
sind allenfalls Trippelschrittchen; in Wirklichkeit ge- ßen wollen, die in den letzten Jahren mehr Wachstum
schieht viel zu wenig. und Beschäftigung geschaffen haben, brauchen wir eine
andere Quote öffentlicher Investitionen und deutlich
Dass dies das Kernproblem ist, können Sie dem mehr Ausgaben für Forschung und Bildung. Das ist die
jüngsten Bericht der Bundesbank entnehmen. Dort steht, beste Investition in die Zukunft eines Volkes.
bezogen auf das letzte Jahr, schlicht und einfach:
(Beifall bei der LINKEN)
Somit wurde das inländische Sparaufkommen, an-
ders als in den 90er-Jahren, nicht mehr in vollem Nun stellt sich natürlich die Frage, wie man dies be-
Umfang von der gesamtwirtschaftlichen Sachkapi- werkstelligen kann. Damit komme ich zur Steuer- und
talbildung im Inland absorbiert. Abgabenquote. Ich hatte Ihnen, Frau Bundeskanzlerin,
beim letzten Mal die simple Frage gestellt, welche
Anders ausgedrückt: Es gelingt eben nicht mehr, die Er- Steuer- und Abgabenquote Sie eigentlich anstreben. In
sparnisse in unserem Lande in die Investitionen zu len- einer seriösen Debatte über Haushaltspolitik müsste
ken. Vielmehr wurde ein beträchtlicher und steigender diese Frage beantwortet werden können. Man müsste
Teil dem Ausland zur Verfügung gestellt. doch wissen, was man eigentlich will. Wenn man einen
Die deutsche Wirtschaftspolitik darf nicht zulassen, Haushaltsplan aufstellt, muss man sich die Frage stellen,
dass die Ersparnisse, die hier gebildet werden, nicht wie man die Einnahmeseite und die Ausgabenseite ge-
mehr hier in Investitionen fließen, sondern dem Ausland staltet. Aber offensichtlich ist diese Frage aufgrund ir-
zur Verfügung gestellt werden. Die Frage ist, wie wir das gendwelcher ideologischer oder anderer Barrieren in
ändern können. Deutschland überhaupt nicht mehr zu stellen.
(Beifall bei der LINKEN) Deshalb sage ich hier noch einmal: Wir haben eine
völlig unterdurchschnittliche Steuer- und Abgabenquote.
Wenn wir überlegen, wohin unsere Investitionen ge- Sie liegt nach der jetzigen Statistik bei 34 Prozent. Wir
lenkt werden können, dann müssen wir uns auf die ein- liegen damit um 6 Prozent unter dem europäischen
2214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Oskar Lafontaine
(A) Durchschnitt. Umgerechnet auf unser Sozialprodukt sind deren Sozialausgaben, dann ist dies eine Irreführung der (C)
das rund 130 Milliarden Euro. Das werden wir auf Bevölkerung, die wir Ihnen nicht durchgehen lassen
Dauer nicht durchhalten können, meine Damen und Her- können, Herr Bundesfinanzminister.
ren.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Sie haben diese Behauptung zwar vielfach wiederholt,
Dabei ist noch nicht einmal eingerechnet, dass wir die trotzdem bleibt sie schlicht und einfach eine Irreführung
Einheit finanzieren müssen. Das ist eine unglaubliche der Bevölkerung. Es sind 20 bis 30 andere Alternativen
Fehlentwicklung der Haushaltssteuerung in den letzten denkbar.
Jahren, die hier nur ganz bescheiden korrigiert werden
Sie wissen, dass wir eine Alternative immer wieder
soll.
ins Gespräch bringen: Statt dem Volk ständig in die Ta-
Sie haben darauf hingewiesen, dass sie korrigiert sche zu greifen, sollten Sie einmal den Mut haben, auch
werde, und sprachen dann von der Mehrwertsteuer. Es den Wohlhabenden in Deutschland in die Tasche zu grei-
war nun wirklich nicht akzeptabel, dass Sie, Herr Kol- fen.
lege Ramsauer, in diesem Zusammenhang von einer
(Beifall bei der LINKEN)
Übereinstimmung zwischen Reden und Handeln spra-
chen. Die Mehrwertsteuer ist leider ein eklatantes Bei- Denn die Entwicklung der Einkommen und Vermö-
spiel dafür, wie Parteien dazu beitragen, dass die Bevöl- gen läuft so stark auseinander, dass dies dringend gebo-
kerung immer politikverdrossener wird und sich immer ten ist.
mehr Menschen weigern, zur Wahlurne zu gehen.
An dieser Stelle haben Sie, Herr Bundesfinanzminis-
(Beifall bei der LINKEN) ter, den freundlichen Hinweis gegeben – ich bin ja dank-
bar, wenn ich von Ihnen etwas lernen kann –,
Hier haben sich die beiden Parteien der großen Koalition
eines Wahlbetruges schuldig gemacht. (Zuruf von der SPD: Genau!)
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Haben Sie dass das Kapital mobil sei. Sie waren also der Meinung,
unser Wahlprogramm nicht gelesen?) diese Tatsache sei mir nicht geläufig. Herr Bundes-
finanzminister, ich wohne an der deutsch-luxemburgi-
Das möchte ich im Rahmen der Generaldebatte anspre-
schen Grenze und ich habe mich schon, als Sie noch
chen. Wenn eine Partei sagt, sie befürworte eine Mehr-
andere Funktionen hatten, mit der Kapitalflucht beschäf-
wertsteuererhöhung um 2 Prozent, die andere Partei hei-
tigt.
lige Eide auf 0 Prozent Mehrwertsteuererhöhung
(B) schwört und am Schluss 3 Prozent herauskommen, dann (Lachen bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle (D)
ist die Bevölkerung der Bundesrepublik erbost, weil sie [FDP]: Aha!)
sich betrogen fühlt, und geht eben nicht mehr zu den
– Ich habe noch keinen von euch erwischt. Deswegen
Wahlurnen.
braucht ihr jetzt nicht zu lachen.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)
Hellmut Königshaus [FDP])
Gehen Sie einmal getrost davon aus, dass ich sehr
Das kann man Ihnen nicht so ohne weiteres durchgehen
wohl weiß, dass die Kapitalflucht ein Problem ist.
lassen.
So wie ich vorhin auf die Methoden der Naturwissen-
Dass Ihre Steuerpolitik, und zwar die Steuerpolitik al-
schaft verwiesen habe, möchte ich Ihnen einen hilfrei-
ler mit uns konkurrierenden Parteien, in den letzten Jah-
chen Hinweis zur Wirtschafts- und Finanzpolitik geben.
ren auf einem völlig falschen Pfad war, hat die Bundes-
Wenn wir in der Schule die uns gestellten Aufgaben
bank ebenfalls festgestellt. Ich zitiere: Die Untersuchung
nicht lösen konnten, dann waren wir zumindest so
zeigt,
schlau,
dass für den starken Defizitanstieg nach dem Jahr
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Gespickt!)
2000 zwar auch konjunkturelle Einflüsse eine Rolle
gespielt haben. Ausschlaggebend war aber der vom Nachbarn abzugucken, der es besser gewusst hat.
Rückgang der strukturellen Einnahmequote …
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN –
Deutlicher kann man dies nicht sagen. Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist lebens-
nah!)
Ich will es einmal anders formulieren: Hätten Sie die
Steuerreform 2000 nicht beschlossen, hätten Sie kein Das ist eigentlich auch etwas, was man von Ihnen erwar-
einziges Jahr die Maastrichtkriterien verfehlt. Auch dies ten könnte. Anscheinend ist das aber zuviel verlangt.
ist in ungezählten Untersuchungen dargestellt worden.
Also stimmt die Steuer- und Abgabenquote nicht. Wenn Sie hier mit der Ihnen eigenen Chuzpe sagen,
wegen der drohenden Kapitalflucht könnten wir die Ver-
So einfach wie der Bundesfinanzminister darf man es mögen in Deutschland nicht besteuern, dann muss man
sich nicht machen: Wenn er sagt, die einzige Alternative, doch die Frage stellen, warum in vielen anderen In-
die wir hätten, sei entweder eine Mehrwertsteuererhö- dustriestaaten eine ordentliche Vermögensbesteuerung
hung oder eine drastische Kürzung bei Renten oder an- möglich ist. Täuschen Sie das Volk nicht in dieser unver-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2215
Oskar Lafontaine
(A) schämten Art und Weise, wenn es darum geht, Vermö- Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte – man (C)
gen in Deutschland zu besteuern! kann dies nicht oft genug tun –, ist die Lohnentwick-
lung in Deutschland. Sie ist leider die miserabelste aller
(Beifall bei der LINKEN) Industriestaaten. Seit zehn Jahren haben wir kein Real-
Wir sollten nicht so tun, als wären wir allein auf der lohnplus mehr in Deutschland. Die Statistik weist einen
Welt und als hätten die anderen Staaten keine Erfahrun- Rückgang von 0,9 Prozent aus. Vergleichbare Staaten
gen auf diesem Gebiet gemacht. Es dürfte Ihnen sicher hatten in zehn Jahren ein Plus von real 20 Prozent wie
möglich sein, sich in Ihrem Hause die OECD-Statistik etwa die USA oder von 25 Prozent wie Großbritannien
über die Vermögensbesteuerung zu beschaffen. Dann und Schweden zu verzeichnen.
könnten Sie sehen, dass wir hinsichtlich der Vermögens-
Nun werden Sie sagen: Wir haben damit gar nichts zu
besteuerung im Vergleich zu anderen Industriestaaten
tun. – Das ist allerdings noch nicht einmal die halbe
weit zurückliegen, insbesondere im Vergleich zu den an-
Wahrheit. Natürlich sind die Politik der Bundesregierung
gelsächsischen Staaten.
und die Politik der Länderregierungen mit konstituierend
Ich möchte noch einmal einen Vorschlag machen, den für die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Durchsetzung
ich hier schon einmal vortragen durfte. Dieser Vorschlag in Deutschland. Wenn Sie beispielsweise – um ein aktu-
ist für jeden überprüfbar; man kann Ja oder Nein dazu elles Thema aufzugreifen – immer noch dem abgelutsch-
sagen. Das deutsche Geldvermögen – betroffen sind ten Bonbon der Arbeitszeitverlängerung als Motor der
also nicht das Sachkapitalvermögen und das Immobi- Beschäftigungsentwicklung anhängen, sind Sie auf dem
lienvermögen – beträgt 4 000 Milliarden Euro. Die Hälfte völlig falschen Weg.
davon gehört dem einen Prozent der Bevölkerung, das
Sie vorhin teilweise angesprochen haben, Herr Kollege (Beifall bei der LINKEN)
Ramsauer. Das sind 2 000 Milliarden Euro. Wenn man Die Arbeitszeitverlängerung ist eines der Betrugswörter
dieses Vermögen mit 5 Prozent besteuert – ich sage zum des Neoliberalismus, das Sie ununterbrochen gebrau-
Verständnis, dass die Durchschnittsrendite für dieses chen. Die Arbeitszeitverlängerung ist ein Begriff, der et-
Geldvermögen derzeit weit über 7 Prozent liegt –, dann was intendiert, worum es gar nicht geht. Es geht nicht
kann man 100 Milliarden Euro pro Jahr an Mehreinnah- um eine Verlängerung der Arbeitszeit, sondern einzig
men für die öffentliche Hand erzielen. und allein um eine Verlängerung der Arbeitszeit bei glei-
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Peter Ramsauer chem Lohn, das heißt um eine Stundenlohnkürzung und
[CDU/CSU]: Und wenn das Vermögen weg um nichts anderes.
ist? Was ergeben dann die 5 Prozent?) (Beifall bei der LINKEN)
(B) Wieso greifen Sie über die Mehrwertsteuererhöhung nur (D)
Wer eine Stundenlohnkürzung will, soll das dann
dem Volk in die Tasche und wieso sind Sie nicht in der auch sagen. Es ist ein Trauerspiel, dass eine Partei – ich
Lage, an das Vermögen der Wohlhabenden zu gehen? sehe sie hier –, die in ihrem Grundsatzprogramm, das ich
Das ist eine durchaus beschämende Entwicklung. miterarbeitet habe, Arbeitszeitverkürzungen vorsieht
Weil ich gerade in Richtung der Fraktion der Sozial- und nach wie vor die 30-Stunden-Woche propagiert, bei
demokratischen Partei Deutschlands blicke, möchte ich dieser Arbeitszeitverlängerung bzw. Stundenlohnkür-
Sie daran erinnern, dass die stolze Feststellung des Bun- zung mitmacht. Das ist wirklich eine traurige Fehlent-
desfinanzministers, dass wir mit die niedrigste Steuer- wicklung.
quote in Europa haben, vor Jahren auf jedem SPD-Par- (Beifall bei der LINKEN)
teitag mit großem Missfallen entgegengenommen
worden wäre. Dass Sie dies jetzt als eine große Leistung Wer allerdings glaubt, in der jetzigen Situation der lah-
verkünden, zeigt, wie sehr sich diese Partei gewandelt menden Binnennachfrage in Deutschland über Stunden-
hat. lohnkürzungen irgendeinen Beitrag zu mehr Wachstum
und Beschäftigung leisten zu können, ist nicht mehr
(Beifall bei der LINKEN) ganz bei Trost; um dies einmal in aller Klarheit zu sagen.
Es zeigt auch, wie sehr sich Ihre Einstellung zu den
(Beifall bei der LINKEN)
Staatsaufgaben und zu den Aufgaben der öffentlichen
Hand grundsätzlich verändert hat. Das hat große Nach- Weil wir den verhängnisvollen Trend der negativen
teile für die Beschäftigten und die Arbeitslosen in die- Lohnentwicklung in Deutschland durchbrechen müssen,
sem Land. wenn wir in irgendeiner Form etwas für Wachstum und
Wir brauchen eine andere Steuerpolitik. Ich habe Ih- Beschäftigung erreichen wollen, vertritt meine Fraktion
nen dazu Vorschläge gemacht. Es bestände dann die nach wie vor die Einführung eines gesetzlichen Min-
Möglichkeit, das Barvermögen – davon ist im Bericht destlohns. Wir haben nun einmal eine solch negative
der Bundesbank die Rede – in Richtung öffentliche In- Lohnspirale in Deutschland, dass es für dieses Parlament
vestitionen und in Bildungsinvestitionen umzulenken. dringend geboten ist, diesen Negativtrend aufzuhalten.
Es ist ein einfacher Weg. Aber aus ideologischer Ver- Wir haben bereits Tariflöhne von unter 4 Euro pro
blendung heraus wollen Sie diesen Weg nicht gehen, der Stunde. Dies kann nicht mehr hingenommen werden.
ein Kernproblem unserer Volkswirtschaft lösen würde. Die Verfassung unseres Landes, die in Art. 1 die Men-
schenwürde schützt, verpflichtet uns dazu, in Deutsch-
(Beifall bei der LINKEN) land Löhne sicherzustellen, von denen ein Arbeitnehmer,
2216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Oskar Lafontaine
(A) der arbeitet, auch anständig leben kann. Das ist die Idee Ich möchte Ihnen durchaus unseren Respekt ausspre- (C)
des Mindestlohns. chen. Ich bedauere es, dass Ihre Restlaufzeit durch Ihren
Nachfolger begrenzt wurde.
(Beifall bei der LINKEN)
(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ich habe noch
Ich möchte noch etwas zu den sozialen Sicherungs- eine längere Lebenserwartung vor mir! –
systemen sagen. Sie haben eine enorme volkswirtschaft- Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Man sieht Ih-
liche Bedeutung, die weitgehend verkannt wird. Wenn nen die Traurigkeit an, Herr Kollege!)
man nur darüber redet, wie hoch der Beitragssatz sein
soll, verkennt man die Aufgabenstellung völlig. Wenn Ganz im Ernst: Wir möchten Ihnen persönlich alles Gute
man nur darüber redet, welchen Prozentsatz vom Netto- wünschen und haben zumindest vor Ihren außenpoliti-
oder Bruttolohn die Rente irgendwann einmal ausma- schen Ansichten Respekt, auch wenn Ihre Rede heute in-
chen soll, wird die entscheidende Frage ausgeklammert. haltlich wieder einmal daneben war.
Es kann nicht sein, dass bei der Gestaltung der sozialen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen
Sicherungshöhe die Frage im Zentrum steht, wie hoch
bei Abgeordneten der FDP)
der Beitragssatz sein darf. Im Hinblick auf die Rente
sollte man doch fragen, wie viel Geld ein älterer Mitbür- Herr Lafontaine, ich kann mir vorstellen, dass es Sie
ger braucht, um anständig leben zu können. immer noch ein bisschen wurmt, dass die Westausdeh-
nung der PDS in Deutschland,
(Beifall bei der LINKEN)
(Lachen bei der LINKEN)
Was soll diese ganze Beitragssatzphilosophie, die Sie
hier seit vielen Jahren fälschlicherweise vertreten? Diese die Sie betrieben haben, am vergangenen Sonntag gran-
Beitragssatzphilosophie führt zu Fehlentscheidungen. dios gescheitert ist.
Auf den Beitrag starrend, verlieren Sie die entschei-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
dende Frage bei den sozialen Sicherungssystemen völlig
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
aus dem Auge.
Ich will Ihnen auch sagen, warum mich das freut: weil
Sie haben sich zudem an dieser Stelle einer Irrefüh-
Sie persönlich beispielsweise in Rheinland-Pfalz gegen
rung schuldig gemacht, indem Sie gesagt haben, es gehe
Kurt Beck in übelster Art und Weise Wahlkampf betrie-
um Beitragssatzstabilität. Es ging Ihnen ausschließlich
ben haben, auch mit Schlägen unter die Gürtellinie.
um Beitragssatzstabilität für die Unternehmerseite, wäh-
rend die Arbeitnehmer die Zusatzlasten in großem Um- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
fang allein aufgebürdet bekamen. Diese schäbige Fehl- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
(B) entwicklung muss ich hier feststellen. GRÜNEN) (D)
(Beifall bei der LINKEN) Aber dass Sie heute die Unverschämtheit haben, die Au-
ßenpolitik der Regierung unter Gerhard Schröder in ei-
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. nen Zusammenhang mit Oswald Spengler zu bringen,
Es gab in den letzten Jahren eine Politik, die im Ergebnis finde ich schon ahistorisch, um es freundlich auszudrü-
leider nicht bestätigt worden ist. Denn nur auf das Er- cken.
gebnis kommt es an. Die Politik der letzten Jahre hatte
zum Ziel, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Das ist nicht (Beifall bei der SPD – Lachen des Abg. Oskar
gelungen. Diese Politik, die Sie, meine Damen und Her- Lafontaine [DIE LINKE])
ren von der großen Koalition, fortsetzen, trägt nicht zu
Wir haben in der Amtszeit von Gerhard Schröder eine
mehr Wachstum und Beschäftigung bei. Sie wird also
Außenpolitik begründet, die auf zwei Säulen fußt:
die Arbeitslosigkeit ebenso steigern wie die Politik der
Deutschland ist unter den veränderten Bedingungen der
Vorgängerregierung.
Welt bereit, internationale Verantwortung zu überneh-
(Anhaltender Beifall bei der LINKEN – Steffen men und sich nicht wegzuducken. Aber Deutschland
Kampeter [CDU/CSU]: Huldigt ihm!) entscheidet selbst, was es mitmacht und was nicht. Des-
halb lassen wir die historisch richtige Entscheidung,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Nein zu sagen zum Irakkrieg, von Ihnen nicht im Nach-
hinein diskreditieren, auch nicht in diesem Hause.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hubertus Heil von der
SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD)
Die große Koalition hatte einen guten Start; das ist
Hubertus Heil (SPD): der Tenor der meisten Medien. Das ist auch notwendig,
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge- weil in der Bevölkerung sehr hohe Erwartungen an die
ehrter Kollege Gerhardt, ich möchte Sie ansprechen, große Koalition bestehen. In meinem Wahlkreis sagen
weil das möglicherweise die letzte längere Rede war, die viele: Wenn ihr schon koalieren müsst, weil das Wahler-
Sie als Fraktionsvorsitzender in diesem Haus gehalten gebnis entsprechend ist, dann müsst ihr auch Großes hin-
haben. bekommen. – Die beiden großen Volksparteien sind
auch in der Lage, große Dinge in diesem Land zu bewe-
(Otto Fricke [FDP]: Irrtum!) gen, weil die Möglichkeit besteht, die institutionalisier-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2217
Hubertus Heil
(A) ten Blockaden von Bundesrat und Bundestag vier Jahre treiben ein gemeinsames Spiel. Sie spielen wechselseitig (C)
hinter sich zu lassen. wirtschaftliche Dynamik gegen soziale Gerechtigkeit
aus. Die einen machen das, indem sie sagen: „Der Markt
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
ist das Problem der Menschen“. Sie meinen, der Natio-
Abwarten!)
nalstaat könne alle Probleme dieses Landes lösen, man
Bezogen auf die Wende in der Finanzpolitik, von der müsse nur die Einnahmen ordentlich erhöhen, die Instru-
so oft die Rede ist, möchte ich eines sagen: mente stünden zur Verfügung.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der Finanz- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist Ihrer
minister hat sie eingeleitet!) Denkweise ähnlich! Das ist nicht so weit ent-
fernt! Wer hat denn von den „Heuschrecken“
Wir haben sie uns schon früher gewünscht, im Interesse
gesprochen?)
von Bund, Ländern und Kommunen. – Darauf hat Peer
Steinbrück hingewiesen. – Wir hätten es auch geschafft, All das, was sich verändert hat, wird als große Ver-
wenn wir früher mit dem Abbau von Steuersubventio- schwörung des internationalen Finanzkapitals darge-
nen begonnen hätten. Wir haben dies jetzt gemeinsam stellt.
eingeleitet und ich finde, darauf können wir stolz sein.
Wir haben bei den Steuersubventionen angesetzt und Wir haben Probleme mit dem ungeregelten internatio-
beispielsweise die Eigenheimzulage abgeschafft, damit nalen Kapitalverkehr, das ist keine Frage. Wir haben
der Staat handlungsfähig bleibt. Das ist eine der Leistun- aber auch hausgemachte Probleme in diesem Land, die
gen der großen Koalition in den ersten 100 Tagen. wir selbst lösen müssen. Es gibt Probleme in diesem
Land, die Sie nicht lösen wollen, weil Sie die Verände-
(Beifall bei der SPD) rungen der Zeit nicht begriffen haben und weil Sie im-
mer noch glauben, dass die Mauer steht und der Natio-
Wir wollen einen Erfolg der großen Koalition. Wir
nalstaat alles allein lösen kann.
wissen aber, dass nicht die ersten 100 Tage, sondern die
nächsten 1 000 Tage über den Erfolg der Koalition für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
unser Land entscheiden. Deshalb wollen wir Sozialde- der CDU/CSU)
mokraten verantwortungsbewusst und durchaus selbst-
bewusst in dieser Koalition weiterarbeiten. Wir haben Das ist die eine Seite des Hauses. Sie erklären den
große Aufgaben vor uns. Wir haben mit der Umsetzung Staat zum Löser aller Probleme und den Markt für das
der Genshagener-Beschlüsse begonnen und Impulse für Problem der Menschen.
Wachstum und Beschäftigung gesetzt. So haben wir ein (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Jetzt sind wir
Gebäudesanierungsprogramm aufgelegt, das ein Vielfa- dran!)
(B) (D)
ches an privaten Investitionen auslösen wird. 30 Prozent
der Wärmekosten könnten in Deutschland eingespart – Genau, jetzt sind Sie dran.
werden, wenn die Häuser vernünftig isoliert werden. Wir Die FDP erklärt den Menschen, der Staat sei ihr größ-
wollen mit diesem Programm ein Zeichen setzen. Wir tes Problem. Man müsste die Menschen nur vom Staat
investieren auch mehr in Bildung, Forschung und Wis- befreien, weil der Markt alle Probleme lösen kann, und
senschaft. Wir investieren mehr in die Familien. Das ist zwar nach dem alten Motto: Wenn jeder an sich selbst
konkrete Politik zur Zukunftssicherung und das wurde denkt, ist an alle gedacht.
von der Koalition auch mit sozialdemokratischer Hand-
schrift verwirklicht. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: So holz-
schnittartig hat nicht einmal Riemenschneider
(Beifall bei der SPD) gearbeitet!)
Wir konnten uns in den Koalitionsverhandlungen Das ist das wechselseitige Spiel dieser beiden Fraktio-
nicht in jedem Punkt durchsetzen; aber das ist das Wesen nen.
einer Koalition. Wir fühlen uns aber mit vielen Vereinba-
rungen durchaus wohl. Wir sagen, was mit uns geht und (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Jeder macht
was mit uns nicht geht. Die SPD wird in den nächsten sich sein Bild, auf das er einschlägt!)
Wochen und Monaten, in den nächsten Jahren in dieser
– Schreien Sie nicht so herum!
Koalition Motor der Erneuerung sein, weil unser Land
Erneuerung braucht. Wir als Sozialdemokraten wissen, dass wirtschaftli-
che Dynamik und soziale Gerechtigkeit sich wechselsei-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
tig bedingen. Die modernen Volkswirtschaften in
Der eingeschlagene Kurs muss konsequent fortgesetzt Europa, die es zum Teil besser als wir hinbekommen ha-
werden. Es geht darum, in diesem Land die Zukunft zu ben, beweisen, dass eine Volkswirtschaft wie die unsrige
sichern. Deshalb müssen wir auf Erneuerung setzen. Wir es sich nicht leisten kann, Menschen massiv von der
brauchen aber auch soziale Gerechtigkeit. Teilhabe an Bildungschancen auszugrenzen. Das ist die
harte Aufgabe, die wir bewältigen müssen.
Wir sollten uns einmal damit auseinander setzen, dass
wir in diesem wunderbaren Deutschen Bundestag zwei Dass die soziale Herkunft in Deutschland stärker über
exaltierte Positionen haben: auf der einen Seite die FDP, Bildungs- und Überlebenschancen entscheidet als in an-
auf der anderen Seite die PDS. Ich finde, wir müssen deren Ländern Europas, ist nicht nur verdammt unge-
einmal darüber reden, was Sie gemeinsam haben. Sie be- recht, wir können es uns in Zukunft auch wirtschaftlich
2218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Hubertus Heil
(A) nicht leisten, auch nur ein Kind in unserer Gesellschaft „Es gibt jetzt ein ganz modernes Instrument und Medi- (C)
zurück zu lassen. kament gegen deine lebensbedrohliche Krankheit, wir
können es dir aber nicht geben, weil kein Geld dafür da
(Beifall bei der SPD) ist“, dann müssen wir miteinander die Anstrengung un-
Aber wir wissen auch, dass soziale Gerechtigkeit nur ternehmen, eine breite finanzielle Grundlage für unser
dann zu verwirklichen ist, wenn wir eine dynamische Gesundheitswesen zu schaffen. Die SPD ist zu den dafür
Wirtschaft haben. Wir wissen auch, dass sich die Dinge notwendigen Dingen bereit.
verändert haben. Wir haben eine Globalisierung und
(Beifall bei der SPD)
Europäisierung der Wirtschaft. Der technische Fort-
schritt hat unsere Arbeitswelt verändert. Die demografi- Wir werden intensive Verhandlungen führen. Diesen
sche Entwicklung können wir nicht wegdiskutieren. Die- Bereich konnten wir im Koalitionsvertrag zugegebener-
sen neuen Herausforderungen müssen wir uns stellen. maßen nicht hinreichend klären, weil es Zeit braucht, um
Diese Koalition tut das auch. eine solide und vernünftige Lösung zu finden – Frau
Bundeskanzlerin, die wollen wir –, die etwas länger als
Wir müssen das beispielsweise auch auf dem Feld der
zwei oder drei Jahre trägt. Es geht nämlich darum, in
Gesundheitspolitik tun. Darüber wird in den nächsten
diesem Bereich in Zeiten des Wandels Sicherheit zu
Tagen viel zu reden sein. Ich finde es gut, dass wir uns
schaffen. Die Menschen in Deutschland müssen sich auf
miteinander vorgenommen haben, zu einer Lösung zu
das Gesundheitswesen verlassen können.
kommen. Gesundheit ist schließlich das Kernverspre-
chen unseres Sozialstaates. Das Kernversprechen unse- Das ist wichtig, um Vertrauen zu schaffen. Vertrauen
res Staates heißt: Wenn du krank wirst, wird dir medizi- ist inzwischen auch eine ökonomische Größe. Wer kein
nisch geholfen und du musst nicht arm werden. Das ist Vertrauen in diese Gesellschaft und in seine persönliche
keine Banalität angesichts der Situation in anderen Län- Zukunft hat, der ist so verunsichert, dass er sich bei-
dern. Es gilt, dieses Versprechen zu halten und zu er- spielsweise beim Konsum zurückhält. „Was kommt
neuern. noch?“, ist eine oft gestellte Frage. Im Gesundheitswe-
(Beifall bei der SPD) sen müssen wir das Prinzip des Miteinanders einhalten.
Die deutschen Sozialdemokraten sind dazu bereit.
Im Gesundheitswesen müssen eine Reihe von Dingen
angepackt werden, beispielsweise die Ausgabenseite. Dieses Land bietet alle Entwicklungschancen. Ich
Nach wie vor mobilisieren wir alle Kräfte für das Ge- finde, dass wir trotz all der Probleme, die wir haben,
sundheitswesen, aber wir erzielen damit nicht immer das auch darüber reden sollten, welche Stärken dieses Land
beste Ergebnis. Wir müssen zunächst einmal darauf ach- hat. Woran können wir anknüpfen? Trotz mancher Pro-
(B) ten, dass mit dem Geld der Beitragszahler vernünftig bleme im Bildungsbereich ist die Qualifikation von Ar- (D)
umgegangen wird. Es ist immer noch so, dass das Geld beiternehmerinnen und Arbeitnehmern immer noch her-
im Gesundheitswesen an manchen Stellen mit vollen vorragend. Wissenschaft und Forschung ist in vielen
Händen ausgegeben wird, während es an anderen Stellen Bereichen immer noch hervorragend. Wir haben immer
bereits fehlt, beispielsweise bei der Versorgung chro- noch eine hervorragende Infrastruktur und wir haben
nisch Kranker. Deshalb ist unsere erste Aufgabe, die – vergleichen Sie das mit aktuellen Ereignissen in ande-
Strukturen auf der Ausgabeseite zu verändern. Das geht ren Ländern – immer noch sozialen Frieden in Deutsch-
nur, wenn wir das gemeinsam angehen und ein breites land. Das ist nicht nur für die Demokratie, sondern auch
Kreuz gegenüber den Lobbyisten, die hier in Berlin ver- für die wirtschaftliche Entwicklung wichtig. Wir haben
suchen, ihre individuellen Interessen auf dem Rücken relativ wenig Streiks und soziale Unruhen haben wir in
der Versicherten durchzusetzen, haben. Wir wollen und Deutschland gar nicht. Diese vier Standortvorteile gilt es
werden diese Aufgabe gemeinsam schultern. Dabei las- zu erhalten. Dafür muss man arbeiten. Es gilt der Satz
sen wir uns auch nicht von Lobbyistenprotesten umbla- von Willy Brandt:
sen. Wir wollen, dass mit dem Geld der Krankenversi- Wer morgen sicher leben will, muss heute für Re-
cherten im Interesse der Menschen besser umgegangen formen kämpfen.
wird.
Das ist nach wie vor richtig.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Wir müssen jetzt die Strukturen verändern. In den
letzten 30 Jahren haben wir uns bemüht, die Kosten zu Wir müssen beispielsweise dafür sorgen, dass die
begrenzen. Wir brauchen aber langfristig eine breite Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
Grundlage für unser Gesundheitswesen. Das liegt an der auch unter veränderten Rahmenbedingungen zum Tra-
demografischen Entwicklung, an der guten Tatsache, gen kommen. Deshalb war es richtig, dass wir darauf be-
dass wir länger leben, und an der schlechten Tatsache, standen haben, dass die Tarifautonomie in Deutschland
dass immer weniger Menschen Beiträge an die Kranken- gesichert wird. Wer in diesem Hause, wie zum Beispiel
versicherungen leisten. Das liegt darüber hinaus an der die FDP, den Gewerkschaften das Kreuz brechen will,
Tatsache, dass wir zwar einen großartigen medizinischen wird auf den massiven Widerstand von Sozialdemokra-
Fortschritt haben, der jedoch unglaublich teuer ist. ten treffen. Das gilt nach wie vor.
Wenn wir als Abgeordnete nicht in wenigen Jahren (Beifall bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle
den Menschen in unseren Wahlkreisen sagen wollen: [FDP]: Das sind aber martialische Bilder!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2219
Hubertus Heil
(A) Wir wissen – Herr Westerwelle –, dass die meisten Meine Auffassung ist – die müssen Sie nicht teilen –, (C)
Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dass verlängerte Restlaufzeiten für alte, abgeschriebene
nicht im Gesetzblatt stehen, sondern in Tarifauseinan- Atommeiler möglicherweise die Renditen für die großen
dersetzungen hart erstritten wurden. Wir wissen, dass es Energieversorger erhöht hätten – das ist gar keine Frage;
unter dem Dach des Flächentarifvertrages Flexibilität alte, abgeschriebene Meiler länger laufen zu lassen, das
geben muss. Es gibt sie in Deutschland aber schon tau- ist die Lizenz zum Gelddrucken –, aber Investitionen in
sendfach. Schauen Sie sich das einmal an! moderne Kraftwerkstechnik wären damit auf die längere
Bank geschoben worden. Deshalb lassen Sie uns beim
In meinem Wahlkreis stellen sich die Betriebsräte vor
geordneten Ausstieg bleiben. Das ist schon vernünftig;
die Belegschaft, wenn es schwierig wird, und scheuen
das ist gar keine Frage. Wir hatten in Deutschland
sich nicht, ihren Kolleginnen und Kollegen schlechte
30 Jahre lang einen Konflikt zwischen Atomkraftbefür-
Mitteilungen zu machen, wenn es darum geht, das Un-
wortern und -gegnern. Wir haben es geschafft, diesen zu
ternehmen zu erhalten. Die in deutschen Unternehmen
befrieden. Es gibt in Deutschland einen Vertrag zwi-
gemachten Fehler sind meist von Managern zu verant-
schen der Energiewirtschaft und der Politik. Auch da
worten. Das muss man einmal deutlich sagen.
gilt: Pacta sunt servanda, Verträge sind einzuhalten. Wir
(Beifall bei der SPD) bleiben dabei.
Die Gewerkschaften in Deutschland sind nicht das Pro- (Beifall bei der SPD)
blem. Kluge Unternehmer wissen, dass man Probleme
gemeinsam mit Arbeitnehmervertretern lösen kann. Das Aber in der Energiepolitik gibt es eine Fülle von an-
gelingt in vielen Bereichen, ohne dass darüber groß be- deren Dingen, die wir trotz des Meinungsunterschiedes
richtet wird. in dieser Frage miteinander bewegen können. Ich
glaube, dass es notwendig ist, Energieeffizienz wirklich
Insofern betone ich: Es bleibt bei der Tarifautonomie, zu einem Exportschlager werden zu lassen. Bei dem
es bleibt auch bei der Mitbestimmung. Mitbestimmung Energiehunger, den Länder wie China und Indien haben,
ist ein wichtiges Thema bei den Betriebsratswahlen, die ist es so, dass wir einen Beitrag zur Sicherung von Ar-
in diesen Tagen stattfinden: In Deutschland muss es eine beitsplätzen in Deutschland leisten können, wenn wir
Garantie für die Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und unsere Technologien hier entwickeln und exportieren.
Arbeitnehmer am Haben und am Sagen geben. Gleichzeitig können wir einen Beitrag leisten, um Ener-
Es bleibt auch beim geordneten Ausstieg aus der giekrisen in der Welt zu entschärfen. Wir brauchen des-
Atomenergie. halb in Deutschland einen intelligenten Energiemix, der
nicht darauf verzichtet, auch Kohle als eine Brücke in
(Beifall bei der SPD) eine energiepolitische Zukunft zu begreifen, aber dabei (D)
(B)
auf höhere Wirkungsgrade setzt.
Das ist ganz wichtig. Machen wir uns nichts vor. Herr
Glos, wir müssen damit leben, dass es in der Koalition (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
zu diesem Thema unterschiedliche Auffassungen gibt.
Das ist nicht schlimm. Ich betone nur, warum wir der Ich sage ganz deutlich. Es gibt in China Kohlekraft-
Meinung sind, dass wir diese rückwärts gewandte De- werke, die grottenschlechte Wirkungsgrade haben. Wir
batte jetzt hinter uns lassen sollten, und warum wir uns in Deutschland haben in diesem Bereich Fortschritte er-
um andere Bereiche der Energiepolitik zu kümmern ha- zielt. Wir müssen die Möglichkeit ergreifen, diese zu ex-
ben: Energiepolitik ist eine zentrale Frage der wirtschaft- portieren. Wir haben die Notwendigkeit, erneuerbare
lichen Zukunft dieses Landes, ist eine Frage, die etwas Energien in diesem Land weiter auszubauen, damit wir
mit der Zukunft der Menschheit im Bereich Klima und auch diese Technologie exportieren können. Auch das
Umweltschutz zu tun hat, und ist im Übrigen – das hat sichert Arbeitsplätze und hilft, Krisen in der Welt zu ver-
Frank-Walter Steinmeier auf der Münchener Sicherheits- meiden.
konferenz deutlich gemacht – eine zentrale Frage der (Beifall bei der SPD)
Außen- und Sicherheitspolitik geworden.
Diese große Koalition ist keine Liebesheirat – das ha-
In den nächsten 20 bis 30 Jahren, am Ende des Erdöl- ben wir hin und wieder betont –, sondern sie ist eine Le-
zeitalters, werden wir nationale Konflikte um Ressour- bensabschnittsgemeinschaft.
cen erleben. Es gibt sie schon heute. Deshalb war es
richtig, zu fordern, dass Deutschland eine Vorreiterrolle (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist Ihnen
übernimmt – Rot-Grün hat damit angefangen –, die auf aufgefallen?)
drei Prinzipien basiert: erstens auf Versorgungssicher-
Aber sie ist ein Bündnis, das mehr bringen kann, als
heit, zweitens auf erneuerbaren Energien und drittens auf
viele vorher erwartet haben. Wir, Herr Kauder, haben im
Energieeffizienz.
letzten Jahr im Wahlkampf gegeneinander gestanden
Wir wollen in dieser Koalition miteinander nach Lö- und wir haben uns, wenn ich mich recht erinnere, nicht
sungen suchen, um in Deutschland neue Investitionen in geschont. Richtig ist auch, dass das Wahlergebnis keine
moderne Kraftwerkstechnologien auszulösen. Neben andere verantwortbare Mehrheit für dieses Land mit sich
dem notwendigen Wettbewerb auf den Strom- und Gas- gebracht hat. Ich sage aber auch aus Überzeugung, dass
märkten, den wir wollen, müssen wir in Deutschland es mir nicht nur darum geht, eine große Koalition zu ha-
neue Investitionen in moderne Kraftwerkstechnik auslö- ben, weil es nicht anders ging. Wir wollen die Chancen
sen. Dies ist das Bestreben der Sozialdemokraten. dieser großen Koalition durchaus gemeinsam begreifen.
2220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Hubertus Heil
(A) Ich habe es vorhin schon gesagt: Wir können miteinan- setzliche Krankenversicherung zurückkehren können. (C)
der Großes bewegen. Wir können die Blockaden zwi- Wir müssen diesen Menschen helfen und dürfen sie
schen Bundesrat und Bundestag hinter uns lassen. Wer, nicht im Regen stehen lassen. Das sind die Aufgaben,
wie viele der Kollegen hier im Haus, einmal in Arbeits- die vor uns liegen.
gruppen des Vermittlungsausschusses gearbeitet hat, der
kann mit Fug und Recht sagen: Dagegen ist ein orientali- (Beifall bei der SPD)
scher Bazar hin und wieder eine hochseriöse Veranstal- Auch in der Familienpolitik haben wir viel zu schul-
tung. tern. Keine Angst: Die Produktionsmittel bleiben in Pri-
Insofern sollten wir die Verantwortung in Deutsch- vatbesitz. Aber wir müssen uns darüber unterhalten, wie
land klar strukturieren. Es ist nicht nur eine Frage der wir ein familien- und kinderfreundliches Land werden.
Qualität und der Blockaden. Es ist auch eine Frage des Hier geht es um die zentralen Investitionen in die Zu-
Vertrauens der Menschen in Politik. Wenn Menschen kunft dieses Landes. Bildung, Wissenschaft, Forschung
nicht mehr klar zuordnen können, wer was auf welcher und Familienpolitik sind die Zukunftsfelder, die uns in
Ebene zu verantworten hat, dann schafft das Verdruss. Deutschland langfristig voranbringen. Das wird die SPD
Es ist wichtig, klar zu machen, dass der Bund, der Deut- in der großen Koalition deutlich machen.
sche Bundestag mehr für sich alleine entscheiden kann (Beifall bei der SPD)
und dass die Länderparlamente mehr für sich allein ent-
scheiden können. Deshalb wollen wir die Föderalis- Wir wollen und werden in der Außenpolitik Kurs
musreform. Dass man in den nächsten Tagen über das halten. Wir lassen uns nicht beirren von Leuten, die in
eine oder andere reden können muss, das ist unbescha- der Außenpolitik – das sage ich an die Adresse der
det. PDS – nichts anderes predigen als organisierte Verant-
wortungslosigkeit.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Aber ich bekunde: Wir wollen diese Staatsreform für
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
Deutschland, damit die Verantwortlichkeiten der Ebenen
GRÜNEN – Widerspruch bei der LINKEN)
klarer getrennt sind und damit die Menschen den Politi-
kern Verantwortlichkeiten klarer zuordnen können. Ein gestörtes Verhältnis zur Realität hat aber auch die
(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ FDP. Die FDP verkündet: Mit der Realität muss man
CSU]: Vereinzelt Beifall!) sich abfinden. – Ich kann mich an einen FDP-Politiker
erinnern, der den grandiosen Satz gesagt hat, im Zeitalter
– Ja, jetzt könnt ihr auch einmal klatschen, oder? der wirtschaftlichen Globalisierung könne Politik nicht
(B) mehr gestalten. Wer so etwas denkt, der sollte sich selbst (D)
(Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/
als Politiker abschaffen. Natürlich müssen wir gestalten,
CSU])
allerdings mit anderen Instrumenten als bisher. Unsere
Ich möchte zum Schluss sagen: Wir wollen Motor der Aufgabe besteht darin, die Entwicklung im Interesse der
Erneuerung in Deutschland sein. Diese Koalition ist gut Menschen zu gestalten.
gestartet. Die nächsten tausend Tage werden nicht ein-
fach. Wir wollen in diesem Jahr beispielsweise mit der Die PDS geht einen anderen Weg.
Reform des Gesundheitswesens nachvollziehbare Zu- (Ulrich Maurer [DIE LINKE]:
kunftssicherheit schaffen. Ich bin mir sicher, dass Ge- Die Linkspartei, bitte!)
sundheit bzw. das Krankheitsrisiko in diesem Land nur
solidarisch abzusichern ist, dass man dazu auch die – Nein, Sie bleiben die PDS, die WASG oder wer auch
Schultern heranziehen muss, die breiter sind. Wir haben immer Sie sind.
die Situation, dass 10 Prozent der Menschen in Deutsch- (Beifall bei der SPD)
land privat krankenversichert und 90 Prozent gesetzlich
krankenversichert sind. Aber die 10 Prozent haben Mit „links“ hat Ihre linkskonservative Art, Politik zu
30 Prozent des Einkommens. Daher werden wir über ei- machen, nicht viel zu tun. „Links“ hat etwas mit Aufklä-
nen Ausgleich in diesem Bereich zumindest reden müs- rung zu tun. „Links“ hat etwas mit Weltoffenheit zu tun.
sen. „Links“ hat etwas damit zu tun, den Menschen die
Wahrheit zu sagen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Die Situation, dass immer mehr Menschen in unserem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Land gar nicht mehr krankenversichert sind, muss uns der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
auch beschäftigen. Diese Aufgabe haben wir uns im Ko- GRÜNEN)
alitionsvertrag gestellt. Es kann nicht sein, dass immer Deshalb sage ich: Die SPD bleibt die linke Volkspar-
mehr Menschen ohne Krankenversicherung sind. Wenn tei in Deutschland.
sie dann krank werden, fallen sie ins Bergfreie oder den
Kommunen vor die Tür. Deshalb müssen wir darüber re- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
den, was wir tun können. Wer als Abgeordneter Bürger- Auf diese Weise werden wir unseren Beitrag zum Gelin-
sprechstunden durchführt, der weiß, wovon ich rede. gen der großen Koalition leisten.
Das betrifft unter anderem kleine selbstständige Unter-
nehmer, die gescheitert sind und nicht mehr in die ge- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2221
Hubertus Heil
(A) (Beifall bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle Wir von den Grünen und viele in diesem Parlament (C)
[FDP]: Ein bisschen Beifall, Herr Kauder! Er erwarten, dass Sie die internationale Politik der atoma-
ist doch jetzt auch Ihrer! – Dirk Niebel [FDP]: ren Abrüstung fortsetzen. Wenn diese durch eine strate-
Genau! Das war doch eine ordentliche Leis- gische Fehlentscheidung wie die der Amerikaner bezüg-
tung! Da können Sie doch wohl mal klat- lich Indiens gefährdet wird, erwarten wir, dass Sie das
schen!) klar und deutlich sagen. Wie wollen wir denn sonst dem
Iran, Nordkorea, Saudi-Arabien oder anderen Ländern
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – darüber wird wenig diskutiert – klar machen, dass sie
Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Kuhn vom keine Atomwaffen haben dürfen, wenn wir nicht deut-
Bündnis 90/Die Grünen. lich sagen, dass das internationale Regime der atomaren
Abrüstung gilt? Ich finde, dass Sie dazu ein klares Wort
sagen müssen.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Liebe Frau Bundeskanzlerin! Ich finde, wir müssen uns sowie bei Abgeordneten der SPD –
etwas stärker den Problemen, die vor uns liegen, zuwen- Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das hätte
den, als es in den bisherigen Beiträgen von FDP und Fischer alles gemacht?)
PDS/WASG getan wurde. Sie haben in Ihrer Regie- Ich komme nun zum Bereich Innenpolitik und möchte
rungserklärung klar gemacht, dass Sie eine „Koalition hier mit dem Thema Arbeitsmarktpolitik beginnen.
der Möglichkeiten“ sein wollen, die den Bürgerinnen Die Maßnahmen, die Sie bisher ergriffen haben, nämlich
und Bürgern in unserem Land systematisch neue Mög- den Rentenzuschuss beim Arbeitslosengeld II zu kürzen
lichkeiten eröffnet. Sie wollen die Freiheitsspielräume und die Pauschalen bei den Minijobs anzuheben, sind
für alle Menschen in Deutschland unter der Parole rein fiskalischer Art. Das ist keine Arbeitsmarktpolitik,
„Mehr Freiheit wagen!“ vergrößern. Diese beiden Sätze die hilft, die Menschen aus der Dauerarbeitslosigkeit he-
sind die Prüfsteine für die Reformen, die jetzt vor uns rauszuholen. Es wird nur eine Diskussion um Mindest-
liegen. Daran will ich mich bei dem, was ich für das löhne und Kombilöhne geführt. Wie wollen Sie den
Bündnis 90/Die Grünen sagen werde, orientieren. Menschen, die lange arbeitslos sind, oder den älteren Ar-
Ich möchte mit der Außenpolitik beginnen. In der beitslosen, die eigentlich keine Chance mehr auf einen
Außenpolitik haben Sie einen viel gelobten Start hinge- Arbeitsplatz haben, helfen, wieder in Arbeit zu kom-
legt; er sei Ihnen gegönnt. Aber klar ist: Jetzt liegen eine men? Ich finde, bisher liegt von Ihrer Regierung hierzu
ganze Reihe von großen Problemen vor uns. Eines von nichts vor. Auch in den einzelnen Etats des Bundeshaus-
(B) ihnen will ich ansprechen: Der Iran strebt nach dem Be- halts sind keine entsprechenden Zahlen zu finden. Es (D)
sitz von Atomwaffen und ist nicht mehr sehr weit davon liegt kein klares Konzept vor.
entfernt, dieses Ziel zu erreichen. Wir alle machen uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zu Recht Sorgen aufgrund der Bedrohungen, die dies für
Europa und insbesondere für Israel bedeuten würde. Ihre Antwort ist: Sie wollen die Lohnnebenkosten
senken. Sie tun dies aber nicht signifikant. Ich kann Ih-
In diesem Umfeld fand der Besuch Bushs, des Präsi- nen nicht ersparen, das so deutlich zu sagen. Sie wollen,
denten der Vereinigten Staaten, in Indien statt. Das wenn alles gut geht, den Beitrag zur Arbeitslosenversi-
Atomwaffenabkommen, über das dort verhandelt wurde, cherung um 2 Prozentpunkte senken. Den Beitrag zur
ist ein Abkommen zwischen Amerika und Indien. Indien Rentenversicherung wollen Sie um 0,4 Prozentpunkte
hat den Nichtverbreitungsvertrag jahrzehntelang nicht erhöhen. Sie werden, so wie die Dinge im Gesundheits-
unterzeichnet. Im Zusammenhang mit der internationa- bereich aussehen, die Sozialversicherungsbeiträge um
len Diskussion über atomare Abrüstung bedeutet dies fast 1 Prozentpunkt anheben müssen. Sie gehen hier ein
nichts anderes, als dass Indien, ein Land, das sich be- bisschen runter, dort ein bisschen rauf. Das ist kein Kon-
wusst nicht an die atomare Abrüstungspolitik der letzten zept für eine signifikante Senkung.
zehn Jahre gehalten hat, nun belohnt und offiziell in den
Status einer Atommacht gehoben wird, positiv sanktio- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
niert durch die Vereinigten Staaten. An dieser Stelle
Frau Merkel, ich möchte von Ihnen hierzu eine klare
muss die Regierung der Bundesrepublik Deutschland,
Antwort. Sie können nicht so tun, als würde die Mehr-
wenn sie sich dazu bekennt, dass Deutschland zur welt-
wertsteuererhöhung die Kosten für Gesundheit nicht er-
weiten atomaren Abrüstung steht, öffentlich deutlich
höhen. Sie wissen auch, dass die Verlagerung von Steu-
machen, dass sie dies für falsch hält.
ermitteln auf die Beiträge Auswirkungen haben wird und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Krankenversicherungsbeiträge steigen werden. Die
Politik, die Sie betreiben, ist nicht konsistent.
Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Außenminister
Steinmeier gesagt hat, er hätte sich einen besseren Zeit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
punkt für dieses Geschäft vorstellen können. Vielleicht
ist das eine Form diplomatischer Kritik. Ich habe gele- Ich habe die Sorge, dass sich der Anspruch, die große
sen, dass Sie, Frau Merkel, mit Präsident Bush telefo- Koalition stemme große Strukturprobleme, bei Ihnen
niert haben. So einfach funktioniert das aber nicht. nicht in die Wirklichkeit umsetzen lässt. So wie bisher
die Diskussion über Mindest- und Kombilöhne geführt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wurde, spricht alles dafür, dass auch das schief gehen
2222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Fritz Kuhn
(A) wird. Die einen sind für Mindestlöhne. Ich will für schläge 500 000 Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich (C)
meine Fraktion sagen: Wenn man das gut macht, also re- schaffen könnten, während Sie ansonsten nur
gional und branchenspezifisch differenziert vorgeht und 200 000 Arbeitsplätze schaffen könnten. Wir haben in
entsprechende Übergangsregelungen vorsieht, dann ist Deutschland das Problem, dass die Dauerarbeitslosen
das Konzept der Mindestlöhne richtig. Vor allem wenn keine Chance mehr haben. Deshalb müssen Sie Ihre Po-
man einen internationalen Vergleich vornimmt, lassen litik auf diesen Bereich konzentrieren und nicht die ge-
sich viele Argumente dafür finden. samte Skala der Löhne und der Beschäftigung heranzie-
hen.
Aber die Kombination von flächendeckendem Kom-
bilohn mit Mindestlöhnen ist ökonomisch der größte Un- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sinn, den Sie überhaupt anrichten können.
Ich möchte nun zur Gesundheitspolitik kommen. So-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weit wir das verfolgen können, sehen wir, dass sich in
den Diskussionen hier einiges Wildes abspielt. Heute
Ihre Vorstellung ist doch: Es wird ein Mindestlohn vor- Nachmittag gibt es ja wieder ein entsprechendes Treffen.
gegeben. Wenn die real existierenden Löhne unterhalb
des Mindestlohns liegen, gleicht der Staat die Differenz Ich will es einmal ganz einfach sagen. Wir haben fol-
aus. Wenn Sie das ernsthaft vorhaben – das war in der gende Situation: Wir haben ein sehr teures Gesundheits-
Diskussion –, dann sage ich: Das wird keinen einzigen system und wir belasten die Löhne falsch, weil wir zu
Arbeitsplatz schaffen. Das ist eine flächendeckende Mil- viel über den Lohn finanzieren.
liardensubvention des Arbeitsmarkts, wodurch Dauerar-
Übrigens, Herr Lafontaine, in Ihrer simplen Ökono-
beitslose aber keine bessere Perspektive bekommen. Das
mieanalyse kommen Sie immer mit der Steuer- und Ab-
wird dazu führen, dass die Wirtschaft, zum Teil mit Au-
gabenquote; Sie stellen aber nicht die Frage, wie hoch
genzwinkern gegenüber den Gewerkschaften, in diesem
die Lohngesamtkosten im internationalen Vergleich sind.
Bereich Arbeitsplätze schafft nach dem Motto: Wenn der
Gestern wurde die Zahl deutlich genannt: Im internatio-
Staat draufzahlt, kann es nicht verkehrt sein. So ein Kon-
nalen Vergleich haben wir die zweithöchsten Lohnge-
zept brauchen Sie uns in den nächsten Monaten nicht als
samtkosten nach Dänemark, und zwar deswegen, weil
Reformkonzept für den Arbeitsmarkt in der Bundesrepu-
wir mit den Lohnnebenkosten an der falschen Stelle an-
blik Deutschland auf den Tisch zu legen.
setzen. Sie halten das für eine neoliberale Diskussion.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mit Ihrem ökonomischen Dogmatismus, der etwas Eitles
hat und aus der Vergangenheit stammt – ich will mich
Frau Merkel, man muss feststellen, dass Sie für die nicht näher damit beschäftigen –, verabschieden Sie sich
Lösung der Probleme in diesem Land bislang keine kon- aus jeder ökonomischen Klarheit bezüglich der Investi- (D)
(B) sistente Antwort haben. Die beiden vordringlichen Pro-
tionen.
bleme sind, wie wir erstens neue Jobs im Niedriglohnbe-
reich schaffen können, sodass Arbeit auf dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erwerbsarbeitssektor endlich möglich ist, und wie wir sowie bei Abgeordneten der SPD)
zweitens die Schwarzarbeit effektiv bekämpfen können.
Frau Merkel, ich will hier ein klares Konzept sehen.
Rechnerisch entspricht das Schwarzarbeitsvolumen
Irgendein Mischmaschkonzept werden wir Ihnen nicht
5 Millionen Vollerwerbsarbeitsplätzen. Dazu habe ich
durchgehen lassen. Aus dem Konzept muss erstens klar
bisher nichts von Ihnen gehört.
werden, wie wir in Deutschland zu mehr Prävention
Wir Grünen haben ein Konzept. Da wir festgestellt kommen. Das beste Gesundheitssystem ist nämlich ei-
haben, dass die Schwarzarbeit deswegen so hoch ist, nes, das die Kosten vermeidbarer Krankheiten reduziert.
weil das Entstehen von Jobs auf dem Arbeitsmarkt ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
rade im unteren Lohnbereich durch die Lohnzusatzkos-
sowie bei Abgeordneten der SPD)
ten faktisch unmöglich gemacht wird, wollen wir das
Ganze verändern: Die Lohnzusatzkosten, die das größte Im Jahre 2005 haben Sie ein Präventionsgesetz – der
Problem sind, müssen wir im unteren Lohnbereich nied- Umfang der Zahlungen sollte immerhin 250 Millionen
riger ansetzen, nämlich nicht gleich mit 42 Prozent, wie Euro betragen – im Bundesrat scheitern lassen. Bislang
es heute der Fall ist. Ab dem ersten Euro muss ein gerin- ist an dieser Stelle nichts von Ihnen gefolgt. Wir könnten
gerer Beitrag für die Sozialversicherungssysteme erho- also einsparen, indem die Leute weniger krank werden
ben werden. Erst bei circa 1 800 bis 2 000 Euro wollen und wir hier in Deutschland eine vernünftige Prävention
wir beim vollen Satz sein. Das ist ein grünes Progres- durchführen. Hier sind wir im internationalen Vergleich
sionsmodell für die Sozialversicherungsbeiträge. schwächer als andere vergleichbare Länder. Das muss
sich ändern. Kommen Sie nicht mit einem Kompromiss,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in dem zur Prävention nichts essentiell Neues formuliert
Frau Merkel, der springende Punkt ist, dass Sie bei ist.
diesem Konzept mit einer bestimmten Summe Geld – sa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gen wir, mit 15 Milliarden Euro – wesentlich mehr Ar-
beitsplatzeffekte erreichen können, als wenn Sie dies be- Zweitens. Kommen Sie nicht mit einem Kompromiss,
zogen auf die ganze Breite der Lohn- und der nur auf der Einnahmenseite greift. Ich sage Ihnen:
Einkommensskala tun würden. Das IAB schätzt, dass Wenn Sie neues Geld für das Gesundheitssystem her-
Sie mit 15 Milliarden Euro bei Umsetzung unserer Vor- schaffen, den Verteilmechanismus zwischen der Ärzte-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2223
Fritz Kuhn
(A) schaft und den Kassen, zwischen denen, die heute von also die Phase des netten Lächelns, ist vorbei – einen (C)
dem Ganzen profitieren, aber nicht substanziell verän- Kompromiss schließen, der keine tatsächlichen Struktur-
dern, dann wird das neue Geld so schnell weg sein, so reformen im Gesundheitssystem bedeutet.
schnell können Sie gar nicht schauen, wodurch Sie
nichts zur Reform des Gesundheitssystems in Deutsch- Ich möchte etwas zum Thema Wirtschaft und Inno-
land beigetragen haben. vationen sagen. Auf diesem Gebiet sind Sie richtig
schwach. Sie stellen für vier Jahre 6 Milliarden Euro für
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Forschung zur Verfügung. Eine kleine Bemerkung
am Rande: In Deutschland geben wir jedes Jahr
Deswegen sind die Frage nach mehr Wettbewerb im
6 Milliarden Euro für Agrarsubventionen aus. – Aber
Gesundheitssystem, die Frage nach Transparenz für die
ansonsten beschließen Sie in diesem Bereich Kürzun-
Patientinnen und Patienten und die Frage nach Präven-
gen. Der EU-Finanzkompromiss im Dezember bedeutet
tion essenziell. Wir müssen nämlich auch die Ausgaben-
nichts anderes als eine Kürzung der Mittel für Forschung
seite des Gesundheitssystems – und nicht nur die Ein-
und Wissenschaft auf europäischer Ebene. Sie, liebe
nahmenseite – bearbeiten.
Frau Merkel, haben dem zugestimmt.
Sie wissen, dass wir bei der Strukturreform für eine
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Bürgerversicherung sind, durch die die Finanzierung
des Gesundheitssystems auf eine breitere und solidari- Alle Welt weiß, dass die Zukunft der Arbeitsplätze in
schere Grundlage gestellt wird. Ich habe die Sorge, dass der Wissensgesellschaft liegt. Die einzige Chance für
Sie aufgrund der Aufstellung, die Sie nun einmal Deutschland besteht darin, eine Spitzenstellung in der
haben – die Kopfpauschale auf der einen Seite und die Wissensgesellschaft mit Innovationen, also mit neuen
Bürgerversicherung auf der anderen Seite –, zu einem Produkten und Dienstleistungen, zu erreichen, die an-
richtig miesen, faulen Kompromiss kommen werden. dere, egal mit welchen Lohnkosten, noch nicht bereit-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stellen können. Was machen Sie? Sie flüchten sich unter
dem Namen „Mutter aller Reformen“ der Föderalismus-
In der Diskussion sind die lohnbezogenen Arbeitge- reform in die Kleinstaaterei und geben als Bundesregie-
berbeiträge – gedeckelt oder nicht gedeckelt –, die Ar- rung auf einem Gebiet, wo es gilt, die Wissensgesell-
beitnehmerbeiträge auf der breiteren Grundlage aller schaft zu gestalten, den Anspruch auf, an dieser Stelle
Einkunftsarten, ein kleines Kopfgeld bzw. eine kleine ein Wort mitzureden.
Kopfprämie und schließlich ein Gesundheitssoli. Ich
sage Ihnen klipp und klar voraus: Dieses Gemisch, das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sie hier vorhaben, wird schlechtere Ergebnisse zur Folge sowie bei Abgeordneten der SPD)
(B) haben als jedes der einzelnen Modell allein, die vorher in Damit Ihnen der Koalitionskompromiss nicht um die (D)
der Diskussion waren. Darauf können Sie Gift nehmen. Ohren fliegt, sitzen Sie mit dem dicken Hintern der gro-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ßen Koalition auf dem vereinbarten Paket der Föderalis-
musreform,
Deswegen müssen Sie, Frau Merkel, wenn Sie den
Anspruch haben, mit der großen Koalition die großen (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
Strukturprobleme in unserem Land zu lösen, schon mehr anstatt endlich das zu machen, was in den Ländern
Mut beweisen als mit dieser Kompromissmischtechnik, – zum Teil auch von der SPD – als Notwendigkeit er-
die Sie in anderen Bereichen, so wie es im Koalitions- kannt wird, nämlich das Bildungssystem der Zukunft ge-
vertrag steht, angewendet haben. meinsam zu gestalten.
Wenn Sie die Frage zum Verhältnis zwischen gesetz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
licher Krankenversicherung und der PKV nicht auf-
greifen und Sie keinen Risikostrukturausgleich zwischen Ich frage: Frau Merkel, wo ist eigentlich der Wirt-
diesen beiden Versicherungssystemen schaffen, dann schaftsminister?
können Sie alles, was Sie hier machen wollen, ein- (Zurufe von der FDP: Da ist er doch!)
packen. Was soll das für ein System sein, wenn nur die
Kapital- oder Mieteinkünfte der Mitglieder in der gesetz- – Er ist jetzt also da.
lichen Krankenversicherung herangezogen werden, aber
Wenn es darum geht, für Deutschland Innovationspo-
nicht die der Mitglieder in der PKV?
litik zu gestalten, dann kann ich nur sagen: Der Autis-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mus, Herr Glos, mit dem Sie zweimal in der Woche eine
Presseerklärung herausjagen, man solle den Ausstieg aus
Das heißt, dass Sie an das Vermögen der kleinen Leute, der Atomenergie rückgängig machen, ist keine wirt-
falls diese Mieteinnahmen zur Alterssicherung haben, schaftspolitische Gestaltung für ein zukunftsfähiges In-
herangehen, dass aber die Gutverdienenden in der PKV dustrieland.
außen vor bleiben. Das ist keine Verbreiterung; das, was
Sie offensichtlich anstreben, ist vielmehr ein richtig mie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ser Kompromiss. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wir werden die Diskussion begleiten. Aber wir lassen Lieber Michael Glos, ich habe in der Zeitung gelesen,
es Ihnen nicht durchgehen, dass Sie um des Koalitions- dass Sie sich beim Besteigen eines Hybridautos anläss-
friedens willen – ich sage noch einmal: Der Honeymoon, lich eines Besuches in Japan den Kopf gestoßen hätten.
2224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Fritz Kuhn
(A) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gestern hat uns der Finanzminister erklärt, dies sei (C)
NEN]: Üben!) ein Jahr der Konjunkturunterstützung. Die Konjunktur,
wie sie sich derzeit entwickelt, braucht keine Unterstüt-
Nehmen Sie das als Wink Gottes.
zung in Form einer Neuverschuldung um 7 Milliar-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ den Euro. Notwendig ist vielmehr eine Haushaltskonso-
DIE GRÜNEN) lidierung, die Sie in diesem Jahr aber nicht angehen.
Der Herrgott, lieber Herr Glos, wollte Ihnen sagen, dass (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
Sie sich einmal systematisch um Themen wie ökologi- DIE GRÜNEN)
sche Modernisierung, nachhaltige Mobilität und eine
neue Energiepolitik kümmern sollen; denn da liegt die in- Ich nenne Ihnen auch den Grund dafür. Es ist eine bil-
dustriepolitische Zukunft der Bundesrepublik Deutsch- lige Nummer: Sie wollen im ersten Jahr der großen
land. Koalition den schwierigen und unbequemen Weg der
Haushaltskonsolidierung nicht einschlagen. Sie haben
(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: So gottesfürchtig den Haushalt einer Honeymoon-Koalition vorgelegt; es
kenne ich die Grünen gar nicht!) ist kein Haushalt einer Koalition, die die Zukunft gestal-
Frau Merkel, ich erhebe den Vorwurf, dass Sie sich ten will.
vor der Beantwortung der Fragen, mit was wir in Zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
kunft unser Geld verdienen wollen, welche Visionen wir sowie bei Abgeordneten der FDP)
in der Industriepolitik und beim Aufbruch Deutschlands
in eine neue Wirtschaftspolitik haben, und vor Ihrer Ver- Es ist ganz einfach. Hans Eichel kam immer in Be-
antwortung für die Zukunft, die Sie an dieser Stelle ha- drängnis und Panik, wenn zu wenig Einnahmen erzielt
ben, mit Ihren kleinen Trippelschritten aus dem Staub wurden. Peer Steinbrück kommt in Panik, weil die Ein-
machen. nahmen plötzlich zu hoch sind. Anders ist doch die Hek-
tik, mit der Sie die Mehrwertsteuererhöhung beschließen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wollen, nicht zu erklären.
Wenn Herr Glos so weitermacht, werden Sie in der Sie betreiben in diesem Jahr eine schöne Honey-
Wirtschaftspolitik keinen Blumentopf gewinnen. Herr moon-Haushaltspolitik und verüben im nächsten Jahr
Glos, Sie haben sich etwas vorschnell in die Tradition mit der Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte
von Ludwig Erhard gestellt. Ludwig Erhard hatte eine einen Anschlag auf die Konjunktur und die wirtschaftli-
klare Vorstellung von der Marktwirtschaft. Er wusste, che Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Die
dass man die Wirtschaft auf der einen Seite in Ruhe las- Theorie, die der Finanzminister gestern erläutert hat – er
(B) sen muss, aber auf der anderen Seite einen echten Rah- ist leider gerade nicht anwesend –, hatte ein bisschen mit (D)
men schaffen muss, der den Wettbewerb erst ermöglicht. Voodoo zu tun. Sie handeln nach dem Motto „Jetzt so
Wo ist Ihr Engagement für mehr Wettbewerb in der viel Anlauf nehmen, dass der Anschlag auf die Konjunk-
Bundesrepublik Deutschland? Was machen Sie zum Bei- tur im nächsten Jahr verdaut werden kann“. Frau Merkel,
spiel im Energiebereich? Vier große Energiekonzerne das ist so, als wenn Sie über das Wasser laufen und der
beherrschen den Markt und können die mittelständische Gefahr des Einsinkens dadurch begegnen wollten, dass
Energiewirtschaft, die es bei uns schließlich auch gibt, Sie schneller Anlauf nehmen.
mit den Durchleitungsgebühren richtig in die Knie zwin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gen. Dazu habe ich von Ihnen noch nichts gehört, Herr
Glos. Vor dieser Frage haben Sie sich gedrückt. Deswe- Was Sie vorgelegt haben, ist wirtschaftlicher Unsinn.
gen sind Sie kein guter Wirtschaftsminister. Es gibt eine Alternative, und zwar den Subventionsab-
bau. Alle Institute – das Kieler Institut für Weltwirt-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – schaft, das DIW und andere – rechnen Ihnen vor, dass
Widerspruch bei der LINKEN) Sie schon in diesem Jahr unter der Defizitgrenze von
Wir müssen auch über den Haushalt reden, Frau 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bleiben könnten
Merkel. Dieser Haushaltsplanentwurf entspricht nicht und auf einen solchen Anschlag auf die Konjunktur ver-
der Gestaltung neuer Möglichkeiten – ich beziehe mich zichten könnten. Unser Bundeshaushalt steckt noch vol-
damit auf Ihre Regierungserklärung –; es ist vielmehr ein ler Subventionen, die wir abbauen können. Wir werden
ziemlich bequemer Haushalt, weil er die Konsolidie- Ihnen das in den Beratungen im Einzelnen zahlengenau
rung nicht an der Stelle in Angriff nimmt, an der sie be- vorrechnen.
ginnen müsste.
Ich möchte noch etwas zum Thema Entwicklungs-
Die Einnahmen brummen. Wir werden in Deutsch- finanzierung sagen, Frau Merkel. Davor haben Sie sich
land 6 Milliarden bis 7 Milliarden Euro – die Angaben völlig gedrückt. Sie haben sich in der Regierungserklä-
schwanken je nach Institut – zusätzlich einnehmen. Die rung dazu bekannt, dass die Bundesregierung ihr Ziel,
Einnahmen brummen, aber was machen Sie? Statt sich 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Entwick-
um Zukunftsgestaltung, Gestaltung neuer Möglichkeiten lungsfinanzierung einzusetzen, bis 2015 erreichen will.
und Freiheit für künftige Generationen zu bemühen, er- Aber der Haushalt gibt keinerlei Aufschluss über die
höhen Sie im Jahr 2006 in dem Moment, wo die Einnah- Frage, wie Sie das tun wollen. Sie haben keinen Umset-
men brummen, die Verschuldung um weitere 7 Milliar- zungsplan und Sie haben die französische Initiative einer
den Euro. Flugticketbesteuerung, aus der das Vorhaben finanziert
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2225
Fritz Kuhn
(A) werden könnte – 13 Staaten haben dem Vorschlag zuge- gung: Zehn Jahre werdet ihr auf jeden Fall noch warten, (C)
stimmt –, durch Schweigen und Wegschauen nicht ge- bis etwas Vernünftiges passiert. Sie sagen ständig, dass
rade positiv begleitet. Sie haben keine Antwort auf die Sie in zehn Jahren im internationalen Vergleich überall
entscheidende Frage, wie wir in Zukunft die Entwick- auf Platz drei stehen wollen. Ich sage Ihnen angesichts
lung finanzieren sollen. Ihrer Politik aber: Sie werden auch in zehn Jahren bei
der Kinderbetreuung auf dem letzten Platz stehen. Sie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) müssen dringend etwas ändern, wenn Sie die Vereinbar-
Ich sage Ihnen ohne düstere Prophetie – der düstere keit von Familie und Beruf, die Sie sich auf die Fahne
Prophet Oskar Lafontaine hält sich jetzt an Oswald geschrieben haben, tatsächlich gewährleisten wollen.
Spengler mit seinem Hauptwerk „Der Untergang des
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Abendlandes“; ich würde sagen, das passt zu Ihnen, lie-
ber Herr Lafontaine –: Wir sollten aufhören, den Streit über die Lösung des
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN demografischen Problems, also die Tatsache, dass es in
sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutschland zu wenige Kinder gibt, auf dem Rücken der
jungen Frauen und Männer auszutragen.
Was wir an der Entwicklungsfinanzierung einer gerech-
ten Weltordnung fehlen lassen, werden wir später teuer (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
zu bezahlen haben. Deswegen ist es notwendig, unser DIE GRÜNEN)
Versprechen hinsichtlich der 0,7 Prozent endlich einzu- Wenn diese noch zehn Jahre die blöde Diskussion, die
lösen. nach dem Muster verläuft, diejenigen, die heute 20 oder
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 25 sind, seien an der demografischen Entwicklung
schuld, verfolgen müssen, dann werden sie noch weniger
Ich möchte noch zwei Punkte im Zusammenhang mit Kinder bekommen. Vielmehr sollte sich die Politik auf
der Gesellschaftspolitik ansprechen, Frau Merkel. Denn ihr Kerngeschäft besinnen, die Rahmenbedingungen für
ob eine Koalition groß ist oder nur faul und behäbig, Familienfreundlichkeit und Kinderfreundlichkeit sowie
zeigt sich auch daran, ob sie zentrale Probleme unserer für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbes-
Gesellschaft wahrnimmt, angeht und löst. sern. Alles andere werden dann die Menschen machen.
Das Erste ist die Kinderpolitik. Davon wird erstaun- Weiter sollten wir uns nicht einmischen. Aber den Druck
lich viel geredet; aber es wird sehr wenig gemacht. Die müssen wir herausnehmen. Sonst sagen die jungen
Vereinbarkeit von Beruf, Karriere und Kindern ist in Leute: Von euch lassen wir uns das nicht mehr vorhal-
Deutschland im internationalen Maßstab nicht ausrei- ten!
(B) chend gewährleistet. Wir sind an dieser Stelle ein Ent- (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wicklungsland. Der Hauptgrund ist, dass in Deutschland,
vor allem in den süddeutschen Bundesländern, in Bayern Lassen Sie mich noch ein Wort zum Thema Integra-
und Baden-Württemberg, Plätze für Kinder unter drei tion und Einwanderung sagen. Frau Merkel, Sie haben
Jahren in den Kinderkrippen fehlen. Ich rede nicht über sich in Ihrer Regierungserklärung und in vielen anderen
die Qualität der Betreuung – darüber müssten wir eigent- öffentlichen Äußerungen zur Integration bekannt. Aber
lich auch diskutieren –, sondern nur darüber, dass viele das wird durch Ihre Haushaltspolitik nicht bestätigt;
Mütter und Väter keine Betreuungsplätze für ihre unter denn Sie haben die Mittel für Integrationskurse um
dreijährigen Kinder finden. Mit dem Elterngeld – das ist 67 Millionen Euro gekürzt. Das sind 32 Prozent des be-
durchaus ein diskutables Konzept, auch wenn es viel treffenden Gesamtetats. Sie bekennen sich zwar in Sonn-
kostet – machen Sie aber den dritten bzw. den vierten tagsreden zur Integration. Aber dort, wo es um Sprach-
Schritt vor dem ersten. Deswegen fordern wir vom kurse und Landeskunde geht, kürzen Sie rabiat. Ich halte
Bündnis 90/Die Grünen Sie auf: Schaffen Sie zuerst eine das für nicht verantwortbar.
ausreichende Zahl an Betreuungsplätzen für Kinder un-
ter drei Jahre! Wenn dann noch Geld übrig ist, können (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wir darüber reden, was noch Sinnvolles gemacht werden sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
kann. Aber es darf nicht umgekehrt sein. Frau Böhmer wird sicherlich sagen, dass 2005 nicht alle
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mittel abgerufen worden seien und dass daher die Kür-
zungen gerechtfertigt seien. Aber es ist logisch, dass wir
Was hat denn eine junge Mutter davon, ein Jahr lang das zunehmend mehr Sprachkurse in Deutschland brauchen.
von Ihnen geplante Elterngeld in Anspruch zu nehmen, Diese Kurse sind ein Renner. Wenn Sie nachgedacht hät-
wenn sie weiß, dass es anschließend schief geht, weil sie ten, dann wäre Ihnen bestimmt eingefallen, wie Sie die
keinen Betreuungsplatz für ihr Kind hat? nun gestrichenen Mittel hätten vernünftig einsetzen kön-
Sie haben im Koalitionsvertrag eine Überprüfung der nen.
Entwicklung bei den Kinderkrippen bis 2010 vorgese- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
hen. Wer weiß schon, ob es, wenn Sie 2010 feststellen,
dass die Situation bei den Kinderkrippen noch immer so Stattdessen nerven Sie die Menschen mit albernen
mies ist wie heute, nicht wieder vier, fünf Jahre dauert, Einbürgerungstests. Sie sollten sich einmal die Paralle-
bis eine vernünftige Zahl an Betreuungsplätzen erreicht lität vor Augen führen. Auf der einen Seite werden die
wird? Aus heutiger Perspektive bedeutet Ihre Ankündi- Mittel für Integration gekürzt. Auf der anderen Seite ist
2226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Fritz Kuhn
(A) das, was von Baden-Württemberg vorgeschlagen wurde, haltige Politik im Interesse künftiger Generationen reali- (C)
nichts anderes als ein Idiotentest. sieren. Dieser Haushalt wäre eine Chance, zu springen.
Ich hoffe, dass Sie in den Beratungen der nächsten Mo-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
nate wenigstens an der einen oder anderen Stelle ein
DIE GRÜNEN und der LINKEN)
Stück vorankommen.
Den von Hessen vorgeschlagenen Einbürgerungstest
hätte selbst die Hälfte der Deutschen nicht bestanden. Vielen Dank.
Deutschland würde wirklich aussterben, wenn wir die (Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE
Einwanderung mit solchen Tests regelten. GRÜNEN)
Frau Merkel – ich sage das in erster Linie an die
Adresse der Union –, Sie haben noch immer ein ideolo- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
gisches Problem. Wir sind faktisch ein Einwanderungs- Das Wort hat jetzt die Bundeskanzlerin Dr. Angela
land und sind in wirtschaftlicher Hinsicht sogar auf Ein- Merkel.
wanderung angewiesen. Es gibt keine innovative
Ökonomie, die nicht systematisch Einwanderung zu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
lässt. Schauen Sie doch auf die USA oder nach Groß- neten der SPD)
britannien! Aber Sie wollen es nicht. Sie haben nicht be-
griffen, dass wir hier einen Sprung nach vorn machen Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
müssen, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie mir zunächst eine Vorbemerkung. Wir alle haben
gestern die Nachricht von der Freilassung des Afghanen
zum Beispiel bei der konsequenten Anwendung des Ein- Abdul Rahman gehört. Ich denke, wir sind uns in die-
wanderungsgesetzes. Ich wünsche mir, dass Sie da mehr sem Hohen Hause einig: Wir haben diese Nachricht mit
tun. großer Erleichterung aufgenommen.
Zeigen Sie mir ein Land in Europa oder auf der Welt,
(Beifall im ganzen Hause)
das systematisch hoch ausgebildete junge Schüler und
Schülerinnen oder Studenten und Studentinnen, die Bes- Es war für uns schon erschütternd, zu hören, dass
ten, abschiebt wie zum Beispiel die junge Kurdin, die Herrn Rahman der Tod drohte, nur weil er zum Christen-
beim Bundespräsidenten eingeladen war und vier Wo- tum konvertiert ist. Ich möchte deshalb allen danken, die
chen später abgeschoben werden sollte, und das nur aus die Bemühungen der Bundesregierung um seine Freilas-
Dogmatismus, nur weil wir nicht in der Lage sind, eine sung unterstützt haben. Denn es war die einhellige Un- (D)
(B)
vernünftige Einwanderung solcher Menschen in terstützung in unserem Land und international, die dazu
Deutschland zu realisieren! geführt hat, dass er freigelassen worden ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Vorsitz: Präsident Dr. Norbert Lammert)
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Warum sage ich das zu Beginn? Ich sage das, weil wir
Frau Merkel, wir können uns das, was Sie da – ich be- damit deutlich gemacht haben, dass wir es nicht akzep-
haupte: aus ideologischer Verblendung – veranstalten, tieren, wenn Menschenrechte missachtet werden, dass
weder gesellschaftlich noch unter Gerechtigkeitsge- wir es nicht akzeptieren, wenn die Religionsfreiheit ein-
sichtspunkten und schon gar nicht unter Wirtschaftsge- fach außer Kraft gesetzt wird. Wir akzeptieren das aus
sichtspunkten leisten, weil wir gut ausgebildete Leute in zwei Gründen nicht: weil es zum einen um das Schicksal
unserem Land brauchen. Deswegen fordere Sie auf, Ihr einzelner Menschen geht, weil wir es den Betroffenen
ideologisches Konzept zu überdenken; sonst werden Sie schuldig sind, zum anderen aber auch uns selbst. Denn in
Deutschland nicht zu einem Land der Möglichkeiten und einer Zeit globaler Märkte, in einer Zeit, in der wir inter-
der neuen Freiheiten machen. national vor großen Herausforderungen stehen, in einer
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) solchen Zeit dürfen wir unsere Werte der Demokratie
und der Menschenrechte nicht nur im Munde führen,
Ich komme zum Schluss. Wenn ich sehe, was Sie bis- sondern wir müssen sie auch behaupten. Das können wir
her auf den Tisch gelegt haben, dann bekomme ich nicht nur, wenn wir entschlossen und ohne Zögern für sie ein-
den Eindruck, dass Ihre Koalition groß ist. Sie ist eher treten, damit auch außerhalb unseres Landes erkennbar
breit. Sie arbeitet nach dem Mechanismus „Von diesem wird, dass wir sie behaupten wollen.
ein bisschen, von jenem ein bisschen“, aber vermeidet
klare Strukturreformen. Dabei haben wir alle zusammen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
in den letzten Jahren gelernt, dass es auf strukturelle Re- neten der SPD und der FDP)
formen ankommt und dass es nicht damit getan ist, le-
Wir müssen uns immer wieder selbst vergewissern,
diglich hier und dort ein bisschen zu verändern.
dass wir das wollen; denn wir leben am Anfang des
Deswegen sage ich: Wenn Sie diese Politik nicht än- 21. Jahrhunderts in einer veränderten Welt, in einer Welt,
dern, werden Sie bei der ökologischen Modernisierung die nach dem Ende des Kalten Krieges neue Gefährdun-
nichts erreichen und auch bei den Innovationen nicht. gen kennt, in einer Welt, in der wir neue Wettbewerber
Sie werden nicht in sozial gerechter Weise mehr Freiheit haben. Das heißt, unser demokratisches Selbstverständ-
für alle bewirken und vor allem werden Sie keine nach- nis steht insoweit auf dem Prüfstand, als wir in jedem
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2227
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) einzelnen Fall beweisen müssen, ob wir es mit unserer Ich kann das für den gesamten Bereich der Entwick- (C)
Politik ernst meinen oder nicht. lungspolitik sagen. Herr Kuhn, ich bekenne mich heute
noch einmal zu der ODA-Quote. Ich sage Ihnen aber
Wir sind in den letzten 130 Tagen schon mit vielen
auch, dass die Wege, die dorthin führen, noch nicht ge-
Dingen konfrontiert worden. Ich denke nur an den Kari-
nau beschrieben sind. Unsere Glaubwürdigkeit wird aber
katurenstreit, durch den uns bewusst geworden ist, dass
auch davon abhängen, ob wir unsere internationalen Ver-
auch unsere Grundwerte – auf der einen Seite die Presse-
pflichtungen einhalten.
freiheit, auf der anderen Seite die Religionsfreiheit – im-
mer wieder in einem Spannungsverhältnis stehen. Ich Ich muss allerdings leise darauf hinweisen, dass auch
denke auch – das wurde heute schon angesprochen – an vergangene Regierungen – nicht nur die letzte, sondern
die Diskussion über den Iran und die Frage, inwieweit auch schon die vorletzte – nicht immer konsequent wa-
wir verhindern können, dass der Iran in den Besitz von ren. Ich sage Ihnen nur: Die Herausforderungen des
Atomwaffen kommt, und inwieweit Deutschland in die- 21. Jahrhunderts werden uns immer stärker dazu zwin-
sem Prozess – im Übrigen seit Jahren – Verantwortung gen, auch an dieser Stelle deutlich zu machen, dass wir
übernommen hat. glaubwürdig sind, weil ansonsten andere auf der Welt
Die Tatsache, dass drei Mitgliedstaaten der Europäi- uns und unsere Wertvorstellungen nicht ernst nehmen.
schen Union – Frankreich, Großbritannien, Deutsch- Ich glaube, dass die Dringlichkeit in den nächsten Jahren
land – gemeinsam Verhandlungen geführt haben und zunimmt. Daraus wird sich die Erfüllung unserer Ver-
weiter in diesen Prozess eingebunden sind, stellt uns vor pflichtungen ergeben.
die Herausforderung, nicht nur passiv zu kommentieren,
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
ob die Diplomatie eine Chance hat, sondern aktiv jeden
Tag dafür zu arbeiten, dass Diplomatie zum Erfolg führt. Ich bin froh, dass wir uns im Zusammenhang mit
Wenn an diesem Donnerstag ein Treffen der Außen- Weißrussland in der Europäischen Union, aber auch
minister von sechs Staaten stattfindet, dann beweist hier in Deutschland ganz klar geäußert haben. Die dor-
Deutschland damit, dass es seine Chance in diesem Pro- tige Opposition bedarf unserer Unterstützung, weil Op-
zess nutzen und deutlich machen will, was in der inter- position zu einem demokratischen Gemeinwesen gehört.
nationalen Gemeinschaft geht und was nicht geht und Als demokratisches Gemeinwesen kann man Weißruss-
wo Schranken gesetzt werden müssen. land leider noch nicht bezeichnen. Es gab dort massive
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Wahlfälschungen und das muss benannt werden.
FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
Wir haben in dieser Woche über die Frage gespro- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(B) (D)
chen, ob sich Deutschland im Rahmen der Europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Kongo enga- Ich sage das deshalb zu Beginn meiner Rede, weil das
gieren soll. Das ist eine schwierige Frage. Es kann nie- Eintreten für Werte unsererseits von anderen außerhalb
mand sagen, dass es im Kongo keinerlei Risiken gibt. Deutschlands, außerhalb Europas beobachtet wird und
Wir haben uns aber seit Jahren in einem diplomatischen weil das konsequente Eintreten für Werte natürlich auch
Prozess und in der Entwicklungshilfe engagiert und wir Respekt verschafft, und zwar in einer Welt, in der wir
haben dafür gesorgt, dass demokratische Strukturen auch ökonomisch vor neuen Herausforderungen stehen.
langsam eine Chance bekommen können. Wir haben Diese neuen Herausforderungen haben damit zu tun,
Geld investiert, wir haben Polizisten ausgebildet und wir dass Menschen in China, in Indien, in den mittel- und
haben dafür Sorge getragen, dass dort heute nicht mehr osteuropäischen Staaten plötzlich sagen: Auch wir haben
Millionen von Menschen umkommen. Das ist ein Rie- jetzt die Möglichkeit, am Wettbewerb teilzunehmen;
senerfolg und diejenigen, die das selber beobachtet ha- auch wir wollen, dass unser Lebensstandard steigt. Wir
ben, wie das einige Kollegen getan haben, haben davon können nicht erklären, warum wir zwar für uns etwas in
berichten können. Anspruch nehmen, es anderen aber nicht gönnen. Das
wäre keine demokratische Haltung.
Jetzt stellt sich eine ganz entscheidende Frage: Ge-
lingt es, dort Wahlen durchzuführen, und soll sich die Wegen des verstärkten Wettbewerbs sind wir aufge-
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik dort fordert, deutlich zu machen, was wir wollen. Wir sind
für einen begrenzten Zeitraum engagieren? Darüber für das Modell der sozialen Marktwirtschaft, für den
muss intensiv diskutiert werden. Aber das, was nicht Ausgleich zwischen sozialer Gerechtigkeit und wirt-
geht, ist, traurig zu gucken, wenn uns eines Tages wieder schaftlicher Stärke, für die Teilhabe jedes Einzelnen, für
Bilder von der Straße von Gibraltar erreichen, die zei- die Unteilbarkeit der Menschenrechte, für die Unantast-
gen, wie Flüchtlinge aus Afrika nach Europa kommen barkeit der Würde des Menschen. Das sind unsere Maß-
wollen, auf der anderen Seite aber dann, wenn wir von stäbe. Sie müssen sich jetzt in einer Welt beweisen, die
der UNO um Hilfe gebeten werden, Nein zu sagen und wir nicht durch Abschottung gestalten können. Nachdem
nicht mitzumachen. Das geht nicht. wir die Mauer durch Deutschland beseitigt haben, kön-
nen wir jetzt nicht eine Mauer um Deutschland ziehen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
Nach meiner Auffassung müssen wir deutlich machen,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dass wir nur durch Offenheit und durch ein Bekenntnis
Natürlich geht es bei diesen Fragen nicht nur um mili- zur Freiheit bestehen können. Ich meine eine verantwor-
tärische Unterstützung. Der Prozess im Kongo zeigt das. tete Freiheit, die neue Gerechtigkeit schafft. Das ist der
2228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Ich sage Ihnen voraus: Wenn wir eine Beimischungs- als dass wir nächstes Jahr um diese Zeit Krokodilstränen
pflicht eingeführt haben werden, werden Sie von den weinen und sagen: Das haben wir voriges Jahr nicht ge-
Grünen die Ersten sein, die für sich proklamieren, dass wusst. – Diese Spirale einer kurzsichtigen Haushalts-
politik wird durchbrochen. Das erfordert am Anfang
(B) sie diese Idee hatten. Aber dann waren wir es, die die Mut, aber bringt am Ende Verlässlichkeit und schafft (D)
Pflicht der Beimischung von Biodiesel für alle Kfz mit
Dieselmotor eingeführt haben werden, was den Markt Vertrauen. Ich bin der Meinung, dass es besser ist, Ver-
erheblich erweitern wird. trauen zu schaffen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Dafür müssen wir die jetzigen Umstellungsschwierigkei-
ten in Kauf nehmen, vernünftig ausdiskutieren und trotz- Wir werden das große Projekt der Unternehmensteu-
dem unsere Haushaltsziele erfüllen. erreform angehen. Das wird ein Projekt sein, das die
Mitarbeit vieler erfordert. Deutschland, dessen Stärken
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) im mittelständischen Bereich liegen – da sind wir uns in
Sie wissen: Es muss gespart werden; zum Haushalt diesem Haus wahrscheinlich wieder alle einig –, muss
komme ich gleich. Aber wo man auch mit dem Sparen eine rechtsformneutrale Besteuerung der Unternehmen
anfängt, ist es nicht recht. Irgendwann kommt es beim hinbekommen. Mit der Begründung, dass sich die
Finanzminister oder im Zweifelsfalle manchmal auch Rechtsformen der Unternehmen im 20. Jahrhundert nun
bei der Kanzlerin – vorher noch beim Kanzleramtsminis- einmal so entwickelt haben, werden wir im Rahmen der
ter – zusammen. globalen Diskussionen des 21. Jahrhunderts nicht durch-
kommen. Die Leute werden uns sagen: Ihr seid doch
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sonst so fix und helle. Lasst euch was einfallen! – Dass
Seit wann ist Steuererhöhung sparen? Pein- aber die uns oft empfohlenen Modelle, die zu Steuermin-
lich!) dereinnahmen jenseits der 25 Milliarden Euro führen
werden, angesichts der augenblicklichen Situation des
Wenn wir sparen wollen, dann müssen wir es an be-
Haushalts nicht besonders hilfreich sind, muss auch je-
stimmten Stellen auch tun. Deshalb werden wir die
der sehen. Insofern hat die Bundesregierung eine ziem-
Dinge zusammenbringen.
lich komplizierte Aufgabe zu bewältigen, und zwar
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gemeinsam mit den Verantwortlichen in dieser Gesell-
NEN]: Beim Ehegattensplitting können Sie schaft, von den Kommunen über die Länder bis zum
sparen!) Bund. Ich halte diese Reform für ausgesprochen wichtig
und deshalb werden wir sie auch durchführen.
Ich bin sehr erleichtert, dass diese große Koalition
bzw. der Bundesumweltminister zusammen mit dem Für mich ist auch wichtig, die Erbschaftsteuer zu
Bundeswirtschaftsminister bei der Ausarbeitung des Na- verändern, und zwar als klares Zeichen an die Mittel-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2233
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) ständler. Wir müssen vor allen Dingen auch mental die- ruf entscheiden, für eine begrenzte Zeit die Möglichkeit (C)
jenigen unterstützen, die trotz der Globalisierung im eröffnen können, nicht einen wahnsinnigen Einkom-
Erbschaftsfall das Geld nicht in irgendeine Kapitalan- mensverlust zu erleiden, sondern diese Zeit zu überbrü-
lage investieren, sondern ganz bewusst sagen: Ich lasse cken. Das ist nicht unumstritten. Bisher haben wir Fami-
das Geld in meinem Betrieb. Ich möchte in dem Betrieb, lienpolitik sehr häufig vorrangig als Sozialpolitik für
der eine Tradition hat, weiterarbeiten. – Diesen Men- Bedürftige verstanden. Diese Position will ich auch nicht
schen müssen wir den Rücken stärken. Deshalb ist die völlig aufgeben. Angesichts der Tatsache, dass 40 Pro-
Erbschaftsteuerreform so wichtig. zent der Akademikerinnen in Deutschland keine Kinder
haben – die dazugehörigen Männer haben übrigens
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
ebenfalls keine, darüber wird nur nicht so oft gespro-
FDP)
chen –, müssen wir uns aber überlegen, wie wir einen
Sechstens. Zur Familienpolitik kann ich an dieser Bruch in der Biografie dieser Frauen vermeiden können.
Stelle nur kurz etwas sagen. Wir haben ein demografi- Diese Überlegungen halte ich für vernünftig. Daher ist
sches Problem, wir sind kein kinderfreundliches Land es richtig, dass wir die Diskussion über das Elterngeld
und wir haben in diesem Bereich viele Aufgaben zu lö- jetzt und nicht erst im Jahr 2015 führen.
sen. Ich weiß nicht, ob man nach der Reihenfolge vorge-
hen kann, Herr Kuhn, „erst Betreuung, dann Elterngeld“. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Ich glaube, wir müssen auf verschiedenen Ebenen
Ich komme nun zu einem zentralen Bereich, der in der
gleichzeitig arbeiten.
Koalition hinsichtlich seiner Wirksamkeit unterschied-
Ich habe den Eindruck, dass hier in den letzten Jahren lich bewertet wird. Das sind – siebtens – die Fragen, die
ein erhebliches Umdenken erfolgt ist; das sage ich auch mit der Arbeitsmarktpolitik, mit Hartz IV, also der Zu-
für die CDU/CSU-Fraktion und für die CDU als Partei. sammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe,
mit dem Niedrig- und dem Kombilohn zusammenhän-
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Aber nicht
gen.
für die CSU!)
Schauen Sie sich einmal die Betreuung der unter Drei- Lassen Sie mich wegen der aktuellen Situation ein
jährigen in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden- Wort zum Kündigungsschutz sagen. Wir haben nicht
Württemberg und Hamburg an! Die Situation ist in allen wenig Zeit während der Erarbeitung der Koalitionsver-
Bundesländern nicht besonders befriedigend, in den einbarung auf den Punkt Kündigungsschutz verwendet.
Städten ist sie fast noch am besten. Wir haben viele Modelle betrachtet und Verbände be-
fragt. Ich weiß, dass das Thema in der CDU/CSU-Bun-
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE destagsfraktion einen etwas anderen Stellenwert hat als (D)
(B)
GRÜNEN]: In Bayern ist das eine Katastro- in der SPD-Bundestagsfraktion, aber wir haben uns auf
phe!) etwas geeinigt. Zur Verlässlichkeit gehört, dass wir das,
– Wir können die Statistiken gerne austauschen. – Aber was wir miteinander vereinbart haben, und zwar nicht im
das ist nicht das Problem. Halbschlaf, sondern nach dem Verwerfen von Optionen
und dem Hinzunehmen von Optionen, als Grundlage he-
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: ranziehen. Wir müssen das mit dem Ziel tun, dass wir
Doch!) nur die Dinge umsetzen, die wir gemeinsam umsetzen
Tatsache ist, dass es für Kinder unter drei Jahren zu we- können. Wir wollen nur die Maßnahmen umsetzen, die
nige Betreuungsmöglichkeiten gibt. Aber dafür sind zu mehr Arbeitsplätzen führen. Mein Vorschlag ist, mit
vorrangig die Länder zuständig. Durch die Mehrwert- der Verlässlichkeit dieser Koalitionsvereinbarung einen
steuererhöhung und die Übernahme der Kosten für die Schritt voranzugehen.
Unterkunft leisten wir unseren Beitrag und verschaffen
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
den Ländern und Kommunen Spielräume, damit sie im
Bereich der Ganztagsbetreuung etwas machen können. Alles andere würde nur zu unergiebigen Diskussionen
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- führen und die Menschen würden nicht verstehen, was
NEN]: Endlich!) wir vor 130 Tagen aufgeschrieben haben. Das ist das
Problem. Wir müssen zuerst das umsetzen, was wir ver-
Das darf nicht in Vergessenheit geraten. einbart haben. Wenn wir in zwei Jahren merken, dass es
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) weitergehen muss, dann darf es kein Denkverbot geben.
In dieser Sache bin ich ganz nah bei Peter Ramsauer.
So verlässlich, wie wir an dieser Stelle waren, müssen Aber lasst uns erst einmal das machen, was wir uns vor-
die Kommunen jetzt auch das Geld ausgeben. genommen haben.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
Das Kernproblem wird sein – Herr Kuhn, ich stimme
FDP)
Ihnen zu –, Lösungen für den unteren Lohnbereich, für
Wir beschreiten mit dem Elterngeld einen neuen über 55-Jährige, für junge Arbeitslose zu finden und
Weg. Über diesen Weg müssen wir diskutieren, er wird neue Erwerbstätigkeiten anzubieten. Wir haben uns vor-
nicht ganz einfach sein. Denn zum ersten Mal wird die genommen, uns von bestimmten Dingen zu trennen und
Frage gestellt, wie wir gut ausgebildeten Frauen jenseits Instrumente, die sich nicht bewährt haben – inzwischen
der ganz kleinen Verdienste, die sich für Kinder und Be- liegt der erste Revisionsbericht zu Hartz vor –, über
2234 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
(Rainer Brüderle [FDP]: Jawohl!) Um ungefähr so viele Abgeordnete, wie jetzt noch von
Ihnen anwesend sind, wäre Ihre Fraktion im Deutschen
So weit wie Sie sind wir an dieser Stelle niemals gegan- Bundestag kleiner, hätten Sie Ihren Wortbruch beim
gen. Unsere Vorschläge waren viel vernünftiger und rea- Thema Mehrwertsteuer vor der Wahl angekündigt.
litätsnäher als Ihr Bierdeckelbeschluss. Aber ich sage Ih-
(B) nen: Sie lösen die Probleme unserer Staatsfinanzen nicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D)
durch höhere Steuern, sondern nur durch Wachstum und der LINKEN)
die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Das setzt ein neues Der Vizekanzler hat heilige Eide geschworen. Gestern
Steuersystem voraus. hat Herr Steinbrück seine Rede zum Haushalt vorgetra-
(Beifall bei der FDP) gen, ein Finanzminister, der nur auf der Regierungsbank
sitzt, weil Sie, als es um die Mehrwertsteuer ging, gelo-
All das waren übrigens auch Ihre Worte, bis Sie dann gen haben. Sie haben vor der Wahl etwas anderes als
Kanzlerin wurden. nach der Wahl gesagt.
Jetzt kommen wir zur zweiten tragenden Säule der (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
großen Koalition, zu Herrn Müntefering.
Dieser sozialdemokratische Finanzminister hat uns ges-
(Beifall des Abg. Olaf Scholz [SPD]) tern erzählt – Sie haben es ja gehört –: Egal wie sich die
Haushaltslage entwickelt und egal ob die Staatsfinanzen
Machen wir uns doch einmal die Freude, nachzulesen, in diesem Jahr auch so ausreichen würden, die Mehr-
was der Vizekanzler, der jetzt neben Ihnen, Frau Bun- wertsteuer wird auf jeden Fall erhöht.
deskanzlerin, sitzt, gesagt hat, und zwar nicht irgend-
wann im letzten Jahrhundert, (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja! So etwas
muss man sich hier anhören!)
(Olaf Scholz [SPD]: Obwohl auch das noch
gar nicht so weit zurückliegt!) Vom Saulus zum Paulus? Ich würde sagen: vom Paulus
zum Saulus. Darüber müssen wir uns auseinander set-
sondern vor wenigen Monaten im Bundestagswahl- zen.
kampf, als er noch Vorsitzender der SPD war. Er hat ge-
sagt, dass wir wirtschaftliche Probleme haben, weil die (Beifall bei der FDP)
Binnennachfrage in Deutschland nicht anspringt. Wür-
Es war geradezu bezeichnend, wie die Rede des Kol-
den wir die Mehrwertsteuer jetzt erhöhen, also Pro-
legen Heil bei Ihnen von der CDU/CSU aufgenommen
dukte und Dienstleistungen spürbar teurer machen,
worden ist und umgekehrt die Rede von Frau Merkel bei
würde das die Binnennachfrage noch weiter abwürgen.
Ihnen von der SPD.
Dann hat er gesagt: Wer stöhnt, weil die Benzinpreise so
hoch sind, gleichzeitig aber eine Erhöhung der Mehr- Nach dem vergangenen Wahlsonntag kann man sa-
wertsteuer ankündigt, der hat die Interessenlage der gen: Keine Regierung zuvor hat eine so große Macht-
Menschen nicht im Blick. fülle in Bundestag und Bundesrat besessen wie die jet-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2237
Dr. Guido Westerwelle
(A) zige, aber noch nie war der gemeinsame Nenner einer Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Ko- (C)
Regierung so klein wie jetzt bei Schwarz-Rot. alition, wenn Sie regieren wollen und die großen Chan-
cen von Schwarz-Rot beschreiben, was alles möglich
(Beifall bei der FDP – Dr. Peter Struck [SPD]: sei, was man mit anderen Mehrheiten niemals machen
Das ist ja Quatsch, absoluter Quatsch!) könne, dann müssen Sie wenigstens beim Arbeitsmarkt
Jetzt gibt es, Frau Bundeskanzlerin, Herr Vizekanzler, anfangen. Man muss doch kenntlich machen: Bei einer
keine Ausreden mehr. Sie können nicht mehr auf andere Lockerung des Kündigungsschutzes geht es nicht darum,
Häuser verweisen. Sie können nichts mehr auf die böse dass Menschen leichter entlassen werden können; es
Opposition schieben, die Sie nicht so lässt, wie Sie es geht darum, dass Menschen leichter eingestellt werden
gerne hätten. Jetzt tragen Sie die volle Verantwortung. können.
Sie, Frau Bundeskanzlerin, können nicht mehr philoso- (Beifall bei der FDP)
phisch sagen: Liebe Genossen, Sie kennen doch unsere
Probleme in der Union. Sie, Herr Vizekanzler, können Wo sind Ihre hehren Prinzipien an dieser Stelle?
nicht mehr sagen: Liebe Unionsleute, das kriege ich in Wenn man sich nicht einig ist, sagt man, man gehe
meiner Partei nicht durch. – Sie wollten zusammen re- kleine Schritte in die richtige Richtung. Schnecken-
gieren. Sie stehen in der Verantwortung gegenüber dem tempo ist das neue politische Prinzip. Ich zitiere die
Volk. Sie haben sich auf die Regierungsbank gesetzt. Bundeskanzlerin Angela Merkel, und zwar was sie als
Jetzt müssen Sie Deutschland auch dienen. Fangen Sie damalige CDU-Vorsitzende und Oppositionsabgeord-
endlich damit an! nete auf dem Parteitag der CDU gesagt hat:
(Beifall bei der FDP – Joachim Poß [SPD]: Ja, meine Güte, eine Schnecke kann auch in die
Sich das von dem sagen zu lassen!) richtige Richtung kriechen. Aber was wir in
Kommen wir nun zu den Herausforderungen, die an- Deutschland brauchen, ist nicht eine Schnecken-
gegangen werden müssen. Wenn wir die Arbeitslosig- spur, sondern ist ein Sprung nach vorne.
keit in Deutschland signifikant senken wollen, dann Ich will festhalten: Diese große Koalition muss erst
müssen wir zuallererst die Strukturen in Deutschland noch beweisen, ob sie wirklich groß ist. Groß werden Sie
verändern. Das ist nichts Neues, sondern war schon im- nicht dadurch, dass Sie von großer Zahl sind; groß wer-
mer, bisher jedenfalls, Programm der Kolleginnen und den Sie erst dadurch, dass Sie endlich die Strukturrefor-
Kollegen der Unionsfraktion. Sie, Frau Merkel, sind in men in diesem Lande angehen. Sie sagen, nach den
Ihrer Rede über die Punkte Arbeitsmarkt und Kündi- Landtagswahlen beginne die zweite Welle. Wir warten
gungsschutz elegant hinweggegangen, indem Sie von ei- noch auf die erste, meine sehr geehrten Damen und Her-
(B) ner aktuellen Diskussion gesprochen haben. Wir haben ren. (D)
das versteinerte Gesicht von Herrn Müntefering gese-
hen. (Beifall bei der FDP)
(Lachen des Bundesministers Franz Zur Gesundheitspolitik. Was wir in der Gesundheits-
Müntefering) politik erleben, ist bemerkenswert. Schon in der letzten
Legislaturperiode gab es in diesem Bereich sozusagen
– Sie lachen. eine große Koalition. Man konnte verfolgen – das war
(Franz Müntefering, Bundesminister: Über beeindruckend –, wie Sie, Frau Bundeskanzlerin, Frau
Sie!) Schmidt die Streicheleinheiten gegeben haben, die sie
braucht. Man muss sich das einmal vorstellen: Da will
Sie mögen sich. Sie herzen sich. sich eine Koalition in der Gesundheitspolitik einigen,
(Dr. Peter Struck [SPD]: Nur kein Neid!) vorher wird aber erst einmal vereinbart, dass die Ge-
sundheitsministerin Ulla Schmidt bitte nicht dabei sein
Das ist prima. Da will ich nicht stören. soll, weil sie stören könnte.
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wird durch
der SPD) Seehofer vertreten!)
Angela und Franz, das ist das neue Traumpaar. – Sie wird durch Herrn Seehofer vertreten.
Ich komme nun zu dem, was Herr Müntefering heute Von Herrn Seehofer haben wir alle noch ein Bonmot
im „Handelsblatt“ zum Kündigungsschutz schreibt. Ih- im Kopf, als es vor drei Jahren die informelle große Ko-
nen hat das gefallen, deswegen waren Sie auch so zu- alition in der Gesundheitspolitik gab. Morgens um vier
rückhaltend und haben auf Ihren Händen gesessen, als Uhr haben Sie in die Kamera gesagt: Das wird jetzt die
Frau Merkel geredet hat. Zitat von Herrn Müntefering, große Jahrhundertreform.
der nun wirklich nicht der liberalen Opposition zuge-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein!)
rechnet werden kann:
Eine Jahrhundertreform sollte es werden. Die Jahrhun-
Eigentlich stand auch noch der Kündigungsschutz
dertreformen haben mittlerweile Halbwertszeiten von
auf der Tagesordnung. ... Ich habe das gestoppt,
Monaten.
nachdem Teile der Union sich Schritt für Schritt
von der Koalitionsvereinbarung in diesem Punkt (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Um vier Uhr
verabschiedet haben. sind Sie selten wach!)
2238 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Das einzige Ergebnis wird sein, dass der Strom aus sehr Wir erleben heute eine besondere Situation. Uns liegt
viel unsicheren Kraftwerken, vorzugsweise aus Ost- zum ersten Mal ein Haushalt vor, den Peer Steinbrück
europa, nach Deutschland kommen wird. Das ist ökono- und die jetzige Bundesregierung zu verantworten haben.
mischer und ökologischer Irrsinn! Sie wissen das; Sie Ich habe seit 1980 schon viele Haushaltsdebatten im
haben das immer gesagt. Aber Sie finden nicht zusam- Bundestag mitgemacht und ich bedanke mich bei Ihnen,
men. Der kleinste gemeinsame Nenner ist nicht das rich- Herr Finanzminister: Es ist ein Haushalt der Vernunft,
tige Rezept für Deutschland. Mut zu echten Neuanfän- der den Anforderungen des kommenden Jahres ent-
gen und zu einem Politikwechsel, genau das braucht spricht.
Deutschland. (Otto Fricke [FDP]: Das ist das aktuelle Jahr!)
(Beifall bei der FDP) Ich gratuliere Ihnen auch zu der soliden Haushaltsfüh-
rung, die Sie damit bewiesen haben.
Wer in diesen Zeiten noch nicht verstanden hat, dass
neue Schulden und höhere Steuern nicht die Antwort (Beifall bei der SPD)
sind, der wird nur erleben, dass die Arbeitslosigkeit wei-
Das heißt zwar nicht, Herr Finanzminister, liebe Kol-
ter steigt. Im letzten Jahr sind pro Woche 2 000 sozial-
leginnen und Kollegen im Kabinett, dass wir alle Maß-
versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in
nahmen so beschließen werden, wie sie vorgelegt wur-
Deutschland weggefallen. Das ist das Ergebnis von ver-
den. Wir werden im Haushaltsausschuss mit Sicherheit
schlafenen Reformen. Deswegen müssen Sie endlich mit
noch einiges korrigieren.
den Strukturreformen anfangen. Sie können sich nicht
damit herausreden, dass andere Sie behindern. Sie haben Ich will einige Punkte nennen, bei denen mir Korrek-
die größte Machtfülle, die jemals eine Regierung gehabt turen wichtig sind. Das ist zum einen die Kürzung des
hat, und rühmen sich ihrer. Dann müssen Sie jetzt auch Weihnachtsgeldes für Angehörige des öffentlichen
endlich in die Gänge kommen und anfangen, Deutsch- Dienstes. Wir wollen eine soziale Staffelung erreichen.
land zu dienen! Das haben Sie unserem Land verspro- Gerade in diesem Bereich kann man nicht alles über ei-
chen. Fangen Sie endlich damit an! nen Kamm scheren.
2240 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Ich will noch ein Wort zur Familienpolitik sagen. Es Also: Generell Ja zu dem Einsatz. Wir brauchen aller-
gab einige Probleme nach dem Genshagener Beschluss dings einen klaren Auftrag für die Soldatinnen und Sol-
zur steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungs- daten, eine klare Arbeitsteilung der europäischen Natio-
kosten. Wir haben das nun ordentlich geregelt. In diesem nen und eine klare örtliche und zeitliche Begrenzung.
Zusammenhang ist mir eines aufgefallen – das sage ich Ich werbe in meiner Fraktion um Zustimmung für den
als Vater von drei erwachsenen Kindern und als Großva- Einsatz und ich habe keinen Zweifel, dass meine Frak-
tion diesen Einsatz mit großer Mehrheit mittragen wird.
(B) ter von fünf Enkelkindern –: Wir geben in Deutschland (D)
rund 100 Milliarden Euro – Peter Ramsauer hat vorhin Dieser Einsatz bedeutet übrigens keine Überforderung
eine niedrigere Zahl genannt; das ist jedenfalls die Zahl, der Bundeswehr. Herr Jung, da werden wir uns einig
die man mir mitgeteilt hat – für die Familienförderung sein: Diesen Einsatz mit diesem Kontingent kann die
aus. Bundeswehr noch leisten.
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Insgesamt!) Im Übrigen ist das, was wir anderswo, zum Beispiel
in Afghanistan, machen, hier nach wie vor besonders
Zu diesem Ergebnis kommt man, wenn man alles, auch hervorzuheben. Dass die Bundesregierung da in der
die steuerlichen Vorteile, berücksichtigt. Ich finde, es Kontinuität zu unserer rot-grünen Außenpolitik steht, ist
muss möglich sein, 1 Milliarde oder 2 Milliarden Euro zu loben und dafür bedanke ich mich. Das ist ein Beitrag
aus diesen 100 Milliarden Euro quasi herauszuschnei- von Steinmeier.
den, damit jeder Kindergartenplatz in Deutschland ge-
bührenfrei ist. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zu Weißrussland haben wir etwas gesagt: Wir haben
der CDU/CSU und des Abg. Otto Fricke einen gemeinsamen Antrag der Fraktionen der CDU/
[FDP]) CSU, SPD, FDP und der Grünen; es ist gut, dass es die-
sen gemeinsamen Antrag gibt.
Darin sind wir uns, Frau von der Leyen, mit der Kanzle-
rin einig. Wir müssen das nun auf den Weg bringen. Es (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
muss doch möglich sein, in unserem so gut organisierten Man muss nur fragen, warum andere nicht dabei sind.
Staat einen Schnitt an dieser Stelle vorzunehmen und es
anders zu machen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das Elterngeld ist ein wichtiger Schritt auf einem Ich sage nur: Wir in den Koalitionsfraktionen haben eine
richtigen Weg. Ich möchte nur eine persönliche Bemer- klare Position zu den Menschenrechtsverletzungen in
kung dazu machen: Der Staat kann so viel Geld für Kin- Weißrussland.
der- und Familienförderung in die Hand nehmen, wie er Zum Föderalismus. Frau Merkel, ein Wort der Kritik
will. Aber das Entscheidende sollte eigentlich sein, dass muss erlaubt sein, auch wenn ich Ihre Politik mittrage
man Kinder in die Welt setzt, weil sie eine Freude und – wie Sie wissen –, mal mehr und mal weniger.
eine Bereicherung des Lebens sind, und nicht, weil man
soziale Sicherungssysteme finanzieren will. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
2242 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Ich habe in meiner ersten Rede zur Föderalismusreform, Insgesamt sind wir, glaube ich, auf einem guten Weg und
die, wie ich gehört habe, auf der Regierungsbank nicht das Land kann sich auf diese Regierung verlassen.
nur Freude hervorgerufen haben soll – das ist mir aber Vielen Dank.
auch egal –,
(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Abgeordneten der CDU/CSU)
Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das Gefühl
kenne ich! – Otto Fricke [FDP]: Sehr guter
Parlamentarier!) Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Oskar
einen Punkt nicht angesprochen, auf den ich jetzt aus- Lafontaine noch einmal um das Wort gebeten.
drücklich eingehen will: Ich glaube, dass in zehn oder
15 Jahren unsere Nachfolgerinnen und Nachfolger (Beifall bei der LINKEN)
– manche von uns werden auch noch dabei sein –, die
hier in diesem Plenarsaal sitzen und über Politik, über Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
die Probleme des Landes diskutieren werden, die Frage Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
aufwerfen, ob wir nicht zu viele Bundesländer haben, ob ren! Die Reihenfolge der Redner geht etwas durcheinan-
wir wirklich 16 Bundesländer brauchen. Brauchen wir der.
die? Ich sage Nein.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wo ist Frau
(B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D)
Jochimsen? Uns ist Frau Jochimsen verspro-
der CDU/CSU und des Abg. Dr. Guido
chen worden!)
Westerwelle [FDP] und des Abg. Dr. Hakki
Keskin [DIE LINKE]) Wir dachten, es sei jetzt schon der Kulturetat an der
Ich weiß, wie schwierig das ist; mein Freund Jens Reihe. Leider ist das nicht der Fall. Das gibt mir die Ge-
Bullerjahn in Sachsen-Anhalt hat ja gerade in seinem legenheit, auf einige der Argumente, die hier vorgetra-
Wahlkampf gesagt, dass wir nicht so viele brauchen. gen worden sind, kurz einzugehen.
Auch an diesem Punkt muss man ansetzen, wenn man Zunächst zu der Feststellung des Fraktionsvorsitzen-
eine wirkliche Föderalismusreform durchführen will. den der SPD, dass er es bedauert, dass eine Reihe gut
Es bleibt dabei – das will ich noch als ernste Bemer- verdienender Unternehmen nach wie vor Arbeitsplätze
kung zum Schluss sagen; Volker Kauder weiß das abbauen. Ich begrüße es, Herr Fraktionsvorsitzender
auch –: Ich will im Rahmen der Föderalismusreform Struck, dass Sie dies hier angesprochen haben, möchte
keine Zuständigkeit des Bundes für die Schulen bekom- aber darauf hinweisen, dass der Appell an Unterneh-
men. Ich möchte lediglich erreichen, dass die Länder be- men, sie müssten sich patriotisch verhalten, in unserer
reit sind, sich nicht dagegen zu wehren – das so genannte wirtschaftlichen Ordnung schlicht und einfach ins Leere
Kooperationsverbot –, wenn der Bund in der Lage und geht. Unternehmen verhalten sich nicht patriotisch, Un-
willens ist, ihnen Geld für Bildung zukommen zu lassen. ternehmen wollen schlicht und einfach ihre Gewinne op-
timieren.
(Beifall bei der SPD)
Ich will die Unterhaltung mit der Kanzlerin nicht stö-
Ich begreife es tatsächlich nicht – da schaue ich auch in ren, möchte aber trotzdem einen wichtigen Punkt an-
Richtung FDP; auch Sie sind in Landesregierungen ver- sprechen.
treten –,
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir hüpfen
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Aber in nicht nicht alle, wenn Sie rufen!)
mehr so vielen!)
Die Situation, dass die Unternehmen zurzeit auf der ei-
dass in der Debatte so getan wird, als ob wir die Länder nen Seite exorbitante Gewinne machen, auf der anderen
zwingen wollten, Geld von uns anzunehmen. Ich will Seite aber Massenentlassungen ankündigen, ist ein un-
darüber reden, wie wir eine Kooperation organisieren haltbarer Zustand in unserer Gesellschaft.
können, wenn der Bund der Meinung ist, dass im Bil-
dungsbereich, an Hochschulen oder Fachhochschulen et- (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2243
Oskar Lafontaine
(A) Unsere Fraktion belässt es nicht bei dem Appell an Ich habe einige Fragen zur Außenpolitik gestellt, die (C)
die Unternehmen, sich patriotisch zu verhalten – das ha- alle nicht beantwortet worden sind. Es wäre erstens von
ben wir nun schon jahrzehntelang getan –, sondern wir Interesse, zu erfahren, was die Kanzlerin unter Terroris-
machen zwei Vorschläge: Einmal wollen wir die so ge- mus versteht. Das könnte die Deutschen ja interessieren.
nannte Heuschreckendebatte aufgreifen, die der Arbeits- Offensichtlich ist sie nicht in der Lage, darauf eine Ant-
minister vor einigen Monaten angestoßen hat, und die wort zu geben. Es wäre zweitens von Interesse, zu erfah-
Zulassung solcher Fonds in Deutschland reregulieren. ren, ob sie tatsächlich die Auseinandersetzungen im Vor-
Wir können dann hier testen, ob Sie es mit der Kritik deren Orient als Auseinandersetzungen über Freiheit und
ernst gemeint haben, dass Unternehmen aufgekauft, aus- Demokratie versteht oder ob sie erkennt, dass es hier um
geschlachtet und dann wieder verkauft werden, oder ob die militärische Sicherung der Rohstoffe geht. Es wäre
das schlicht und einfach wieder Wahlkampfgetöse war, von Interesse für die Deutschen, das zu erfahren. Die
das keine reale Grundlage hatte. Wir werden einen sol- Frage, ob eine Regierung in Zukunft das Völkerrecht re-
chen Vorschlag auf jeden Fall einbringen und namentli- spektiert, kann doch nicht so abenteuerlich sein, dass
che Abstimmung beantragen. man darauf keine Antwort weiß.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Das Zweite betrifft – da könnte dem sehr beschäftig- Die Frage ist, welchem Zweck Debatten überhaupt noch
ten Kollegen Struck weitergeholfen werden – die Bin- dienen. Der Kollege Kuhn, der leider auch nicht mehr
dung der Managergehälter an Aktienoptionen. Das ist anwesend ist, hat eine Frage aufgeworfen, die auch rele-
nämlich die Erklärung dafür, warum sich Vorstände vant ist, nämlich auf welcher Grundlage man mit dem
nicht mehr patriotisch verhalten. Auch Vorstände neigen Iran verhandelt.
in unserer Wirtschaftsordnung dazu, ihre Einkommen
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir warten
maximieren zu wollen. Solange Aktienoptionen in der
nicht alle auf Oskar! Wo ist Gysi denn eigent-
Vorstandsentlohnung in großem Umfang angeboten wer-
lich? Hat sich Frau Pau hier schon gemeldet?)
den, werden die Vorstände auch bei exorbitanten Gewin-
nen weiterhin Personalabbaupläne ausarbeiten, weil sie Wenn man mit dem Iran verhandelt, dann muss man
damit ihr eigenes Einkommen maximieren. Das muss doch eine klare Antwort auf eine Kernfrage der atoma-
unterbunden werden. Einen entsprechenden Vorschlag ren Rüstung haben: Meint man, eine gerechte Weltord-
werden wir machen. Sie können dann zu diesem Vor- nung könne aufgebaut werden, wenn die einen Atom-
schlag Ja oder Nein sagen. waffen für sich beanspruchen, während man sie den
anderen im gleichen Atemzug verbietet? Diese Frage
(Beifall bei der LINKEN)
muss doch beantwortet werden.
(B) (D)
Ich wollte noch einige Bemerkungen zu den Ausfüh-
(Beifall bei der LINKEN)
rungen der Bundeskanzlerin machen, die jetzt auch ver-
schwunden ist. Ich frage für das Parlament, ob es über- Eine Regierung muss doch irgendeinen gedanklichen
haupt noch Sinn hat, zuzuhören, wenn diejenigen, die Ansatz dazu vortragen können. Es ist erschütternd, zu
sich geäußert haben, gleich verschwinden oder in tiefe sehen, wie heute das Prinzip der Beliebigkeit gilt.
Unterhaltungen verstrickt sind.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Selbstge-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Unverschämt!) rechte Arroganz!)
Das ist auf jeden Fall keine Verfahrensweise, die dem Man erzählt irgendetwas Gefälliges und glaubt, es werde
Parlament zum Ansehen gereicht. irgendwie ankommen. Das ist mittlerweile Grundlage
der Politik.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich will zu zwei Punkten, die die Kanzlerin angespro-
Die Bundeskanzlerin hat ein paar Bemerkungen zu
chen hat, noch kurz etwas sagen:
ihrer Politik gemacht. Entscheidend aber war der Vor-
halt, den der Kollege Westerwelle gemacht hat, als er Sie hat die Rentenpolitik der Regierung mit der Aus-
darauf verwiesen hat, dass sie vor einigen Monaten ein sage gerechtfertigt, die demografische Entwicklung er-
Konzept zur Steuerpolitik unterschrieben hat, das zwar fordere zwingend die Verlängerung der Lebensarbeits-
nicht unser Konzept, aber immerhin ein Konzept war. zeit. Diese Aussage stößt zwar auf große Zustimmung,
Wenn jemand einige Monate später etwas ganz anderes ist aber schlicht und einfach grundfalsch. Das Lebensal-
vertritt, dann stellt sich die Frage, welche Konzeption ter darf nicht über die Rentengesetzgebung entscheiden.
der Betreffende überhaupt hat. Das gilt nicht nur für die Entscheidend ist nun einmal die Produktivitätsentwick-
Steuerpolitik, das gilt auch für die Gesundheitspolitik lung unserer Volkswirtschaft. Schon seit langem steigt
und eine ganze Reihe anderer Politikbereiche. Die Frage, die Lebenserwartung der Menschen. Trotzdem haben
wofür diese Regierung steht, kann nicht beantwortet wir das Rentensystem aufgrund enormer Produktivitäts-
werden, wenn die Chefin dieser Regierung nicht in der steigerungen in diesem Umfang bewahren können. Des-
Lage ist, deutlich zu machen, für welche längerfristige halb ist es schlicht falsch, zu behaupten, die demografi-
Konzeption sie eigentlich steht. Das ist das Bedauerli- sche Entwicklung bestimme die Rentengesetzgebung.
che an dem Vorhalt, den Herr Westerwelle hier gemacht Entscheidend ist die Entwicklung der Produktivität unse-
hat. rer Volkswirtschaft.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
2244 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Oskar Lafontaine
(A) Leider wird von diesem zentralen Begriff überhaupt wahren, obwohl im früheren Entwurf eine erneute glo- (C)
nicht geredet, wenn diese Frage hier angesprochen wird. bale Minderausgabe vorgesehen war. Mehr noch: Es ist
gelungen, den Ansatz für die Kulturförderung im vorlie-
Ich will noch etwas zur Familienpolitik sagen. Es
genden Gesetzentwurf zu erhöhen.
war wieder sehr spannend, festzustellen, dass man da-
rauf verweist, dass die Geburtenrate zurückgegangen ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Ich sage hier für meine Fraktion: Die Geburtenrate eines der SPD – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir
Volkes ist das Urteil ebendieses Volkes über die Wirt- sind keine Kulturbanausen!)
schafts- und Sozialpolitik seiner Regierung.
Es steigt der verfügbare Gesamtbetrag für 2006 ge-
(Beifall bei der LINKEN) genüber dem Haushaltsjahr 2005 um 2,1 Prozent. Die
Diesen Zusammenhang muss man sehen. Wenn man ihn von uns geförderten Einrichtungen werden von Kürzun-
nicht sieht, dann kann man keine Familienpolitik ma- gen also verschont. Sie haben im BKM einen verlässli-
chen, die zu anderen Geburtenraten führt. chen Partner.
In diesem Zusammenhang sprach die Kanzlerin von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der Verlässlichkeit und vom Kündigungsschutz. Sie der SPD)
meinte, beim Kündigungsschutz komme es darauf an, In Zeiten knapper Kassen und dramatischer Spar-
beim Abbau des Kündigungsschutzes verlässlich zu zwänge ist dies für die Kultur in Deutschland ein wichti-
sein. Hier möchte ich noch einmal sagen: Wenn Men- ges positives Signal, auch in Richtung Länder und Kom-
schen eine Familie gründen wollen – um diese Men- munen.
schen geht es –, dann suchen sie eine ganz andere Form
von Verlässlichkeit als die Scheinverlässlichkeit, von der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
die Kanzlerin hier gesprochen hat. Diese Menschen
möchten verlässlich wissen, ob sie in ein paar Monaten Die Kultur darf eben nicht zum Steinbruch bei der Sanie-
noch Geld auf dem Konto haben. rung der Staatsfinanzen werden.
Solange Arbeitsmarktpolitik darin besteht, alles abzu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
bauen, was den jungen Menschen diese Verlässlichkeit der FDP)
geben könnte, so lange werden keine Familien gegründet
Sie ist die geistige Basis, die Klammer, die unsere Ge-
und so lange werden in Deutschland immer weniger
sellschaft bei zunehmender Globalisierung und Orientie-
Kinder zur Welt kommen.
rungslosigkeit zusammenhält. Sie gibt uns Halt, Heimat
(B) (Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter und Identität zugleich. (D)
[CDU/CSU]: Selbstgerechte Arroganz!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort nun dem Staatsminister im Kanz- Im Zeitraum von 2001 bis 2004 verzeichnen wir auf
leramt, Bernd Neumann. der Länderseite einen Rückgang der Kulturausgaben um
250 Millionen Euro und bei den Gemeinden einen Rück-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gang um 230 Millionen Euro.
Bernd Neumann, Staatsminister bei der Bundes- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ist
kanzlerin: wirklich ein Skandal!)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun- – Herr Otto, das war die Antwort auf die von Ihnen ge-
deskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung am stellte Frage. Das ist ein Minus von 6,8 Prozent bzw.
30. November 2005 gesagt – ich zitiere –: 6,2 Prozent.
Deshalb ist Kulturförderung für diese Bundesregie- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ist
rung keine Subvention. ... Sie ist eine Investition, ein Hammer!)
und zwar eine Investition in ein lebenswertes
Deutschland. Die Kulturausgaben des Bundes bleiben dagegen im
Prinzip stabil. Wir haben im letzten Jahr, 2005, mit
Ich wiederhole das gern. Die Bundesregierung bekennt 1,038 Milliarden Euro etwa die gleiche Ausgabenhöhe
sich zu ihrer kulturpolitischen Verantwortung. Kunst wie 2001.
und Kultur stärken das geistige Fundament und den Zu-
sammenhalt unserer Gesellschaft. Eine lebenswerte, eine Es verwundert daher nicht, dass in diesen Tagen die
kreative und eine offene Gesellschaft ist ohne Impulse, Städte Wittenberg, Wolfenbüttel und Weimar ihre The-
die die Künste geben, nicht denkbar. sen zur kulturpolitischen Situation in Deutschland vor-
gestellt haben. Das hat seinen Grund. Die Autoren stel-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
len fest, man könne nicht die kulturpolitischen
Mit diesem Haushalt unterstreicht die Bundesregie- Kompetenzen auf Bundesebene beschneiden wollen bei
rung, dass sie ihrer kulturpolitischen Verantwortung ge- gleichzeitiger Absenkung der Kulturfinanzierung auf
recht wird. Ich konnte mich mit meiner Zielsetzung Länder- und Kommunalebene; das schade dem An-
durchsetzen, den Kulturhaushalt vor Kürzungen zu be- spruch Deutschlands als Kulturstaat.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2245
Staatsminister Bernd Neumann
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C)
neten der SPD)
Unser größtes Projekt in Berlin ist die Fertigstellung der
Ihre Schlussfolgerung angesichts der sinkenden Aus- Museumsinsel. Das ist ein nationales Projekt mit inter-
gaben der Länder ist ein Appell an den Bund, hier stär- nationaler Ausstrahlung. Schon jetzt ist dieses Welterbe-
ker tätig zu werden. Das ist gut gemeint, aber der Bund Ensemble einer der bedeutendsten Orte der Kunst in der
kann nicht finanziell das ausgleichen, was die Länder Welt. Unser Haushalt macht es möglich, ohne Zeitver-
einsparen, zug an der weiteren Umsetzung des so genannten Mas-
terplans zur Sanierung der Museumsinsel in Berlin-Mitte
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das
zu arbeiten. Es ist unser größtes Bauvorhaben und es
stimmt!)
zeigt eindrucksvoll, was es heißt, in Kultur zu investie-
zumal sich seine Verantwortung auf Bereiche von natio- ren.
naler und gesamtstaatlicher Bedeutung beschränkt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Diese nimmt er sehr engagiert wahr.
neten der SPD)
Ich habe in der vergangenen Woche Weimar – inter-
national Inbegriff deutscher Kultur – besucht. Hier Es bedarf einer gemeinsamen Anstrengung, der Be-
kommt der Bund seiner gesamtstaatlichen Verantwor- deutung der Kultur und ihrer Förderung auch mit Blick
tung nach. Wir unterstützen die Klassik Stiftung Weimar auf den Haushalt Nachdruck zu verleihen.
mit 11 Millionen Euro im Jahr und wir verlängern die (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
Traditionslinien Weimars zur zeitgenössischen Kunst
auch in diesem Jahr, indem wir, anders als geplant, das Diese Anstrengung muss sich jährlich wiederholen, auch
Kunstfest Weimar erneut fördern. Hier wird das Be- für den Haushalt 2007, Herr Kollege Kampeter.
kenntnis zur Kulturnation mit Taten unterlegt. (Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD] –
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] Der ist ein guter Förderer der Kultur!)
[FDP]) Ich bin der Überzeugung: Der vorgelegte
Nicht alles ist finanzierbar. Deutschland ist kein Staa- Haushaltsentwurf 2006 ist eine Basis, die fraktionsüber-
tenbund, sondern ein Bundesstaat. Deutschland ist eine greifend tragfähig ist und die an sich von allen Parteien
europäische Kulturnation. Daraus ergibt sich für mich unterstützt werden könnte.
geradezu eine Verpflichtung zu föderaler Kooperation Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(B) zwischen Bund und Ländern. Dieser Verpflichtung (D)
kommt die Bundesregierung nicht nur durch einen stabi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
len Haushalt, sondern auch durch Verbesserung der Rah- bei Abgeordneten der FDP – Wolfgang
menbedingungen für die Kultur nach. Wir haben im letz- Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Gute Ar-
ten Vierteljahr die Beibehaltung des ermäßigten beit!)
Mehrwertsteuersatzes für Kulturgüter beschlossen.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Präsident Dr. Norbert Lammert:
Wichtiger Schritt!) Ich erteile das Wort nun der Kollegin Dr. Angelica
Schwall-Düren für die SPD-Fraktion.
Wir haben mit dem Folgerecht im Kunsthandel für
Künstler EU-weit vergleichbare Bedingungen geschaf-
fen. Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Gestern war die positive Nachricht zu vernehmen, dass
neten der SPD und des Abg. Hans-Joachim der Geschäftsklimaindex erneut, zum vierten Mal in
Otto [Frankfurt] [FDP]) Folge, angestiegen und auf ein Niveau geklettert ist wie
Wir haben mit der UNESCO-Konvention zum Verbot seit 1991 nicht mehr. Wahrlich eine erfreuliche Bot-
der rechtswidrigen Übereignung von Kulturgut auch schaft; aber die FDP, insbesondere Herr Gerhardt und
dem Kunsthandel weltweit eine sichere Grundlage gege- Herr Westerwelle, setzt das Schlechtreden Deutschlands
ben. Wir haben mit der im Kabinett beschlossenen No- fort
velle des Urheberrechts mit dem Wegfall der Bagatell- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ach
klausel, die an sich vorgesehen gewesen ist, ein du lieber Gott!)
wichtiges Signal für den Schutz des geistigen Eigentums
von Künstlern und Autoren gesetzt. und trägt damit weiterhin zu einem Klima bei, das den
Investitionen nicht gerade zuträglich ist.
(Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter
[CDU/CSU]: Sehr wichtig war das!) (Beifall bei der SPD – Hans-Joachim Otto
[Frankfurt] [FDP]: Wir sind doch nicht Ihre
Die kulturpolitische Rolle des Bundes liegt ganz kon- Jubeltruppe; wir sind die Opposition!)
kret in der Förderung dessen, was von nationaler ge-
samtstaatlicher Bedeutung ist. Das gilt nicht nur, aber Deutschland ist auf einem guten Weg. Das ist auch
auch für die Hauptstadt. wichtig; denn Deutschland wird als Motor in Europa
2246 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Markus Meckel
(A) Weg von einer kompetenten Stiftung zur Verfügung ge- sichtig behandelt werden. Wir beschreiben Kulturpolitik (C)
stellt werden können. Das sollten wir, so denke ich, mit- als sehr wichtiges Politikfeld. Wenn es auch noch Kür-
einander auf den Weg bringen. zungen, zum Beispiel in der Programmarbeit oder in der
auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, gibt – daran
Klar ist, dass die Länder zwischen Russland und der müssen wir noch arbeiten –, so haben wir doch einen gu-
Europäischen Union – Belarus ist im Augenblick am ten Einstieg gefunden. Von diesem Punkt aus müssen
stärksten gefährdet – in Zukunft unsere Aufmerksamkeit wir uns jetzt auf den Weg machen.
brauchen werden. Ich hoffe sehr, dass es uns während
der deutschen EU-Präsidentschaft im nächsten Jahr ge- (Zuruf von der SPD: So ist es richtig!)
lingen wird, europäische Initiativen zu entwickeln, damit
Günther Oettinger hat gestern bei Sandra Maischberger
wir gerade diesem Raum mehr Aufmerksamkeit schen-
gesagt, wir müssten in Deutschland nicht nur Ökonomie
ken und ihm mehr Unterstützung für eine demokratische
und Wirtschaft, sondern ganz besonders unsere Kultur
und Wohlfahrtsentwicklung bieten können.
und Werte betonen. Ich denke, damit hat er einen guten
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Satz gesagt, den wir alle hier umsetzen sollten.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ihr seid ja
Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Hilfreiche ganz schön großkoalitionär geworden!)
Rede!)
– Ich fand es beeindruckend, dass er so etwas sagt.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Lothar Mark [SPD]: Dass von einem Schwa-
Das Wort hat die Kollegin Monika Griefahn, SPD- ben so etwas kommt!)
Fraktion.
– Dass von einem Schwaben so etwas kommt – genau
das habe auch ich gedacht.
Monika Griefahn (SPD):
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Ich finde, dass ein wichtiger Satz in unserer Koali-
legen! Ich schlage den Bogen zurück zur Kultur. Die tionsvereinbarung lautet: „Kulturförderung ist keine
Goethe-Institute können im Bereich der Kultur, also Subvention, sondern Investition in die Zukunft.“
unterhalb der politischen Ebene, durch ihre Programme (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
und Begegnungen in den Ländern, in denen die politi- der CDU/CSU)
schen Bedingungen noch nicht so gut sind, sehr viel er-
reichen. Das gilt auch für Belarus. Insofern ist die Kul- Mit der Förderung von Künstlerinnen und Künstlern en-
turpolitik für uns ein sehr wichtiger Faktor. gagieren wir uns für kulturelle Kreativität. Das ist
(B) nicht nur ein Lebensmittel für Menschen, sondern auch (D)
Wenn man die Struktur eines Haushaltsentwurfs als Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
Gradmesser dafür nimmt, welche Bedeutung man einem Denn nur mit Kreativität können wir neue Produkte und
bestimmten Bereich beimisst, dann kann man zur Kul- Designs entwickeln und damit in der Welt konkurrenzfä-
turpolitik vielleicht sagen: 1 Milliarde Euro im Haushalt hig sein.
des Kulturstaatsministers und etwa 545 Millionen Euro
im Haushalt des Auswärtigen Amtes – das ist nicht wirk- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
lich viel. Wenn man aber berücksichtigt, was wir damit Kulturelle Kompetenz schafft auch fachliche Kompe-
bewegen und dass im Haushalt des Kulturstaatsministers tenz. Wer beispielsweise ein Musikinstrument erlernt,
eine Erhöhung stattgefunden hat, sieht das anders aus. erlangt bessere Fähigkeiten in den Bereichen Sprache
Mit den Mitteln, die wir für den Dialog zur Verfügung und Mathematik. Das müssen wir alle erkennen und un-
stellen, haben wir viele Kontakte mit den NGOs und Op- terstützen. So, wie unser Körper täglich Vitamine
positionsbewegungen vor Ort ermöglichen können. Die braucht, so braucht unser Geist Kunst und Kultur.
Kulturpolitik ist daher ein sehr wichtiger Faktor, den wir
alle unterstützen müssen. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Deswegen freue ich mich, dass wir in diesem Jahr so- Genauso brauchen Künstlerinnen und Künstler die Frei-
wohl im Haushalt des BKM als auch bei den Stipendien heit, um künstlerisch tätig zu sein. Aus diesem Grund
– auch das ist ein wichtiger Austauschfaktor – eine Stei- bleibt es – das ist mir ganz wichtig – Aufgabe des Staa-
gerung verzeichnen können. Aus dem 6-Milliarden-Pro- tes, zu gewährleisten, dass Kunst und Kultur unbelaste-
gramm werden dem DAAD, der Humboldt-Stiftung und ter von ökonomischen Zwängen entstehen können. Wir
anderen zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt. Da- werden sie nicht ganz unbelastet machen können, aber
durch haben wir die Möglichkeit, in den Ländern direkt ein bisschen unbelasteter. Das ist ein wichtiger Punkt.
Multiplikatoren zu gewinnen. Wir brauchen allerdings auch Stiftungen und Privat-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten personen als Förderer, um die kulturelle Vielfalt, die wir
der CDU/CSU) glücklicherweise immer noch haben, zu gewährleisten.
Die Kombination macht es. Aber ich sage ausdrücklich:
Damit haben wir das umgesetzt, was wir im Koalitions- Der Staat hat hierbei eine wichtige Aufgabe.
vertrag festgeschrieben haben.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wolfgang
Der Etat für Kultur ist der kleinste und damit sensi- Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU] – Zuruf von
belste Etat im Bundeshaushalt. Deswegen sollte er vor- der FDP: Das ist unstrittig!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2251
Monika Griefahn
(A) Als wunderbares Beispiel für einen sehr guten Beitrag Die Wahrnehmung Deutschlands im Ausland wird (C)
zur freien Entfaltung der Künste können wir die Kultur- aber nicht nur durch die mediale Außenvertretung geför-
stiftung des Bundes erwähnen. Der Etat von nunmehr dert, sondern auch durch seine Hauptstadt. Vieles davon
knapp 38 Millionen Euro bedeutet eine Erhöhung der ist deutlich zu sehen und begründet den Ruf Berlins als
Mittel um knapp 2,2 Millionen Euro als letzten der drei eine Kulturmetropole im Herzen Europas. Das zeigen
Erhöhungsschritte. die steigenden Zahlen von Besuchern, die wir nicht nur
hier im Reichstag, sondern auch auf der Museumsinsel
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Was haben. Tatsache ist, dass Berlin mittlerweile viele Künst-
wird eigentlich aus der Fusion? – Gegenruf ler und Kulturschaffende aus aller Welt fast magisch an-
des Staatsministers Bernd Neumann: Lang- zuziehen scheint. Das liegt an der
sam!)
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Neuen
So können wir innovative Programme und Projekte mit Regierung!)
nationaler und internationaler Ausstrahlung fördern und
wir können Deutschland im Dialog mit vielen Ländern hohen Qualität und Vielfalt dessen, was es in Berlin zu
als Kulturnation präsentieren. Herr Otto – ich komme sehen gibt. Es liegt aber auch an dem Klima von Innova-
dazu –, wir hoffen, dass die Fusion mit der Kulturstif- tion und Offenheit für Kultur. Dies wird auch durch
tung der Länder die Möglichkeit für zusätzliche Pro- Bundesmittel gefördert, nämlich für die Stiftung Preußi-
jekte, also für einen Mehrwert, schafft, den wir gemein- scher Kulturbesitz, für viele Einzeleinrichtungen, aber
sam mit den Ländern erreichen können. Ich glaube, dass auch zum Beispiel für den Hauptstadtkulturfonds, also
das eine gute Perspektive ist. von der individuellen Szene bis hin zu den großen tradi-
tionellen Einrichtungen. Ich glaube, das ist ganz wichtig.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wann
kommt das denn voran?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
Zur Außendarstellung Deutschlands trägt in ganz be-
sonderem Maße die Deutsche Welle bei. Auch ihr Wenn wir über Berlin reden, dann liegen das Faszi-
kommt in diesem Haushalt eine kleine Steigerung zu- nierende und die Kraft von Innovation und Fortschritt
gute. Ich denke, das ist nötig. Denn der Etat der Deut- darin, dass wir auch Vergangenes einbeziehen und be-
schen Welle ist seit 1998 erheblich geschrumpft. Wenn wusst machen. Die Kultur einer Gesellschaft wird auch
wir wollen, dass die Deutsche Welle weiterhin die Dia- dadurch geprägt, dass sie sich an das, was sie war, erin-
logarbeit und die Präsentation Deutschlands in der Welt nert und daraus Schlüsse zieht. Insofern spielt auch un-
leistet, wenn wir wollen, dass unsere Sichtweisen zu sere Gedenkstätten- und Erinnerungsarbeit eine ganz
(B) Politik, Kultur und Wirtschaft in vielen Ländern vermit- wesentliche Rolle für die Bundeskulturarbeit und damit (D)
telt werden, und wenn wir wollen, dass die deutsche auch für diesen Haushalt.
Sprache gefördert wird, dann müssen wir uns auch fi-
(Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD])
nanziell zur Deutschen Welle bekennen.
Nachdem wir in den vergangenen Legislaturperioden
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bereits ein Gesamtkonzept zur Aufarbeitung der NS-
bei Abgeordneten der FDP)
Diktatur erarbeitet haben, werden wir jetzt auch die jün-
Ganz besonders begrüße ich die immer stärker wer- gere deutsch-deutsche Geschichte in ein Gesamtkonzept
dende Zusammenarbeit der Deutschen Welle mit den öf- fassen.
fentlich-rechtlichen Anstalten. Nachdem deutlich ge- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Zeit
worden ist, dass German TV kein tragfähiges Konzept wird es ja!)
darstellt, arbeiten die Sender nun mit Hochdruck zusam-
men daran, das Deutsche Welle Fernsehen zu einem at- Wir haben die Birthler-Behörde in den Aufgabenbereich
traktiven Angebot zusammenzuführen und damit allen des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien über-
Menschen in der Welt anzubieten. Ich glaube, das ist ein führt. Wir arbeiten an einem Gesamtkonzept zur stärke-
ganz wichtiger Punkt. ren Vernetzung und systematischen Förderung der ge-
sellschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte und der
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wolfgang Folgen der SED-Diktatur. Den verantwortungsvollen
Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]) Umgang mit der Zukunft der Birthler-Behörde, die ja
Mit diesem Haushalt wollen wir deutlich machen, eine ganz besondere Behörde ist, werden wir dann auch
dass der Dialog der Kulturen für uns einen besonderen in den maßgeblichen haushaltsrelevanten Entscheidun-
Stellenwert hat. Mit Programmen in den Sprachen Dari gen zum Ausdruck bringen. Zum Beispiel wollen wir
und Paschtu zur Unterstützung der Afghanen, jetzt endlich ein Modellprojekt angehen, um die alten, zerris-
selbstständig zu werden, mit einem arabischen Fernseh- senen Akten wieder zusammenzusetzen; ich meine das
programm, mit der Ausbildung von Journalisten und mit berühmte „Schnipselprojekt“.
dem Internetportal der Deutschen Welle in 30 Sprachen (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Was? Das
gehen wir einen guten Weg. Wenn wir einen friedlichen Schnitzelprojekt? – Vereinzelt Heiterkeit)
Dialog wollen, müssen wir auch die Verständigung för-
dern. Das geht über diese Medien sicherlich ganz beson- Das wollen wir im Rahmen eines Modellprojekts aus-
ders gut. probieren. Dann wird sich zeigen, ob das funktioniert.
2252 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Monika Griefahn
(A) Die Aufarbeitung von Geschichte spielt auch in ei- An diesem Beispiel wird auch deutlich, wie Public (C)
nem anderen Zusammenhang eine wichtige Rolle. Das Private Partnership tatsächlich funktionieren kann. Ich
Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität habe dafür geworben, dass sich einerseits der Staat zur
wird im Haushalt 2006 erstmals mit 300 000 Euro etati- Kulturförderung bekennt, andererseits aber auch die Ver-
siert. Damit stellen wir als Koalition klar, dass wir die antwortung von Stiftungen, Einzelpersonen und Firmen
Themen Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration in ei- nicht zu unterschätzen. Denn jeder muss sich auch in fi-
nem europäischen Kontext angehen, insbesondere mit nanzieller Hinsicht für Kunst und Kultur einsetzen. Das
unseren Partnern in Polen, Ungarn, der Slowakei und kann nicht einfach dem einen oder dem anderen übertra-
Österreich; weitere sollen hinzukommen. gen werden. Ich denke, das sollte weder allein von Pri-
vaten und Stiftungen noch allein vom Staat gemacht
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Russ- werden. Das ist der richtige Ansatz, an dem wir weiter-
land zum Beispiel!) arbeiten müssen.
Ich glaube, das ist der richtige Ansatz, um die vielfälti- Der Zusammenhang von privatem Engagement und
gen bereits bestehenden Institutionen und Initiativen in Investment spielt auch beim Thema Filmfinanzierung
diese Netzwerkstruktur einzubinden und in einen Dialog eine wichtige Rolle. Ich freue mich, dass wir mit
über diesen Teil der europäischen Vergangenheit zu tre- 14,3 Millionen Euro einen Teil der 90 Millionen Euro in
ten. den Haushalt eingestellt haben, die für ein neues Modell
(Beifall bei der SPD – Hans-Joachim Otto der Filmfinanzierung zur Verfügung stehen werden. Hier
[Frankfurt] [FDP]: In der Koalitionsvereinba- knüpft Herr Neumann an die gute Arbeit seiner Vorgän-
rung steht aber, dass auch in Berlin etwas ge- gerin, der Staatsministerin Weiss, an. Ich hoffe, dass wir
schaffen werden soll!) bis zum Sommer ein Modell erarbeitet haben, mit dem
wir dann tatsächlich die staatlichen Mittel mit privaten
Da der Etat für das Haus der Geschichte in Bonn um Mitteln vervielfachen können, wie es in vielen anderen
2,5 Millionen Euro erhöht wurde, kann auch das Kon- europäischen Ländern gang und gäbe ist.
zept der Ausstellung zum Thema Vertreibung weiterge-
führt werden. Diese Ausstellung wird bald auch in Ber- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
lin zu sehen sein, später vielleicht auch in Polen.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine gute
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Oh!
Ausstellung!)
Das ist aber schade!)
(B) Das entspricht unserer gemeinsamen Forderung, die wir (D)
auch in den Koalitionsvertrag aufgenommen haben, dass Monika Griefahn (SPD):
wir mit Bedacht sichtbare Zeichen für unsere Auseinan- Wir haben noch viel vor. Das gilt für die auswärtige
dersetzung mit der Vertreibung in Europa setzen wollen. Kultur- und Bildungspolitik wie auch für die gemein-
Für das Jüdische Museum in Berlin wird es eine same Arbeit mit den Ländern im Rahmen der Föderalis-
Bauerweiterung geben. Für die geplante Überdachung musreform. Wir müssen immer aufs Neue für den ent-
des Innenhofes, die so genannte Laubhütte, wurde in den sprechenden Platz der Kultur kämpfen. Das gilt auch für
Haushalt eine Verpflichtungsermächtigung von 2,5 Mil- das Staatsziel Kultur, das wir noch erkämpfen müssen.
lionen Euro eingestellt. An dieser Stelle möchte ich Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen Sie mit!
Michael Blumenthal, dem Direktor des Jüdischen Mu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
seums, Dank sagen; der CDU/CSU)
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]:
Jawohl! Das ist richtig so!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
denn er hat in bewundernswerter Weise private Sponso- Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
rengelder eingeworben, um dieses Projekt verwirklichen Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Aus-
zu können. wärtigen Amtes, Einzelplan 05.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Außerdem rufe ich Zusatzpunkt 1 auf:
der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
Jetzt kann eine sinnvolle und architektonisch gute Er- CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-
weiterung realisiert werden, um die jährlich 700 000 Be- SES 90/DIE GRÜNEN
sucher dieses Museums – das muss man sich einmal vor-
stellen; das hat man nie erwartet – sehr ausführlich über Belarus nach den Präsidentschaftswahlen
die Geschichte der Juden in Deutschland zu informieren,
damit sie nicht nur durch das Mahnmal mit dem Holo- – Drucksache 16/1077 –
caust konfrontiert werden, sondern die gesamte und sehr Das Wort hat der Bundesaußenminister Dr. Frank-
vielfältige Geschichte der Juden erfahren, sowohl unter Walter Steinmeier.
kulturellen als auch unter wissenschaftlichen Gesichts-
punkten. Das ist, wie ich glaube, ein wichtiger Aspekt. (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2253
(A) Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des wird heute demokratisch regiert. Trotzdem ist die Welt (C)
Auswärtigen: – Sie wissen das – kein krisenfreier Raum. Auf dem Bal-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen kan, im Irak, auch im Kongo – worauf noch zu kommen
und Herren Abgeordnete! Vor wenigen Wochen haben sein wird – oder in Afghanistan erleben wir, wie fragil,
wir Johannes Rau in einem Staatsakt verabschiedet. wie unterstützungsbedürftig diese Transformationspro-
Viele, die ihn kannten, wissen, dass ihn in den letzten zesse oft über eine lange Dauer sind. Wir sehen tagtäg-
Jahren vor allen Dingen eine Frage umgetrieben hat, lich auch, welch verheerende Konsequenzen ihr Schei-
nämlich die Frage der Möglichkeiten von Politik ange- tern haben kann und wie ganze Regionen in Bürgerkrieg
sichts radikal veränderter Politikbedingungen. Viele von und Anarchie versinken können. Was den islamistischen
Ihnen waren so wie ich Gast bei seiner Berliner Rede Terrorismus angeht, so sind wir natürlich seit einer
2002, in der er schon fast beschwörend an uns alle appel- Reihe von Jahren mit einer ganz neuen Qualität von Be-
liert hat: drohung konfrontiert.
Wir müssen die Globalisierung als politische He- Drittes und letztes Beispiel zu diesem Thema: Auch
rausforderung verstehen und politisch handeln. Deutschland selbst ist in zunehmendem Maße von welt-
weiten Krisen betroffen. Ob es nun Touristen aus
Damit wir die Globalisierung gestalten können,
Deutschland sind, die während ihres Urlaubs zu Opfern
brauchen wir neue politische Antworten.
von Naturkatastrophen oder terroristischen Gewaltakten
Ich sage: Um beides müssen wir uns bemühen, auch werden, ob es unsere Wirtschaft ist, die mit Korruption
und gerade in der großen Koalition: um politische Ant- und fehlender Rechtssicherheit in einzelnen Staaten
worten auf Veränderungen, die von vielen Menschen als kämpfen muss, oder ob es Bürgerinnen und Bürger sind,
bedrohlich empfunden werden, und um neue Antworten, die sich angesichts steigender Gas-, Öl- und Energie-
um den Menschen Mut zu machen. Ich finde, wir brau- preise Gedanken um unsere Energiesicherheit machen:
chen Mut zur Veränderung, Mut, manchen ausgetretenen Instabilität, Krisen und Krieg in unserer nahen und fer-
Pfad zu verlassen, Mut, der der allgemeinen Mutlosig- nen Nachbarschaft haben unmittelbare Auswirkungen
keit ohne Arroganz, aber mit Selbstbewusstsein begeg- auf unsere Sicherheit und auf unseren Wohlstand.
net.
Dem muss eine verantwortungsvolle Außenpolitik
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Rechnung tragen. Sie muss auf akute Krisen rasch und
der CDU/CSU) effizient reagieren, negative Entwicklungen frühzeitig
erkennen und in enger Zusammenarbeit mit unseren
Meine Damen und Herren, das ist sicherlich zuvör- Partnern abzuwenden versuchen. Dies muss, wie ich
derst Aufgabe der Innenpolitik. Es ist, wie ich mittler- finde – das ist mein Plädoyer –, frei von Aktionismus
(B) weile erfahren habe, aber auch und gerade Aufgabe der (D)
und mit Augenmaß, mit Besonnenheit und verantwor-
Außenpolitik; denn Globalisierung bedeutet, dass die tungsvoll geschehen.
Kontinente zusammenrücken, dass Informationen in
Echtzeit überall verfügbar sind. Das verändert die Rah- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
menbedingungen unserer Außenpolitik, und zwar ganz
Mit Bezug auf eine Erfahrung aus dieser Woche sage
gravierend. Das möchte ich an drei kleinen Beispielen
ich: Wir legen bei all dem großen Wert auf Prävention.
erläutern.
Deutschland hat sich gerade auf diesem Gebiet ein gro-
Erstens. Mit fortschreitender Globalisierung wächst ßes Maß an Renommee und Reputation erworben. Das
der Anspruch an Tempo und Qualität der Informa- ist nicht zu unterschätzen. Nicht nur deshalb bleibt die
tionsverarbeitung. Ob es sich um Naturkatastrophen zivile Krisenprävention ein wichtiges Forschungs- und
oder Bürgerkriege handelt, die Menschen in aller Welt Handlungsfeld für die deutsche Außen- und Entwick-
verfügen nach kurzer Zeit über einen Wust von Informa- lungshilfepolitik.
tionen, deren schnelle und zuverlässige Bewertung und
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Einordnung oft kaum möglich ist. Gleichwohl oder viel-
der CDU/CSU)
leicht sogar deswegen erwarten sie von uns rasche und
überzeugende Reaktionen. Das Auswärtige Amt beschäftigt sich seit vielen Jah-
ren sehr intensiv mit der zivilen Katastrophenvorsorge
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
und setzt sich in Wissenschaft, Politik und Praxis dafür
Aus meiner Sicht als Außenminister sage ich: Wo frü- ein. Ich selbst habe in dieser Woche gemerkt, wie erfolg-
her möglicherweise die Weisung an eine Botschaft ge- reich wir dabei sind, ohne dass das die breite Öffentlich-
nügt hat, um eine Reaktion auszulösen, ist heute eine keit bisher zur Kenntnis genommen hat. Deutschland
ganze Kaskade von Abstimmungen notwendig: mit Part- war in dieser Woche Veranstaltungsort der Dritten Inter-
nern in Europa und den Vereinten Nationen, es gibt öf- nationalen Frühwarnkonferenz, die nicht nur deshalb be-
fentliche Erklärungen, Erläuterungen im Parlament und deutsam war, weil Bill Clinton dort war. Die Anwesen-
Gespräche mit den NGOs. heit von Bill Clinton war aber natürlich auch ein
Ausdruck dafür, auf welches Maß an Respekt diese Ver-
Zweitens. In den letzten Jahren haben immer mehr
anstaltungen und die Bemühungen im Zuge dieser drei
Staaten demokratische Transformationsprozesse
Veranstaltungen in Deutschland inzwischen stoßen.
durchlaufen; das haben Sie intensiv verfolgt, auch hier
im Parlament. Auch wenn man das beim Zeitunglesen (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hartmut
nicht glauben mag: Die Mehrzahl der Weltbevölkerung Koschyk [CDU/CSU])
2254 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Gleichzeitig ist unsere Außenpolitik aber einem Wan- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
del ausgesetzt. Wir stehen vor neuen Herausforderun- Jetzt kneifen Sie hier! Den Kopf in den Sand
gen: Globalisierung, transnationaler Terrorismus, Ausei- stecken, das können Sie!)
nandersetzung mit den Modernisierungskonflikten in der Das ist die Lehre, die wir als Europäer zu ziehen haben;
islamischen Welt, der Aufstieg neuer Mächte wie Indien denn das hat Europa gespalten. Aber auch die Vereinig-
und China, der Versuch anderer Mächte, alte Macht zu- ten Staaten haben ihre Lehre aus der Auseinanderset-
rückzugewinnen – ich erinnere hier insbesondere an zung um den Irakkrieg gezogen. Sie wissen jetzt, dass
Russland –, die Energiepolitik, die Anfang des Jahres sie auf Bündnispartner angewiesen sind, dass es keine
endlich auch als Teil der Außenpolitik auf die deutsche Toolboxmentalität geben darf, dass man nicht eine
Agenda gekommen ist und nicht mehr nur aus dem Coalition of the Willing durchsetzen kann, sondern in
Blickwinkel der Wirtschaft und der Ökologie betrachtet den bewährten Bündnissen und insbesondere in der Zu-
wird, die demografische Entwicklung, auch im interna- sammenarbeit mit den europäischen Bündnispartnern
tionalen Zusammenhang, die Rückkehr der Nuklearpoli- dafür sorgen muss, dass man zu guten Ergebnissen
tik als ein Faktor der internationalen Politik sowohl in kommt.
(B) ziviler wie auch in militärischer Hinsicht – über die (D)
Frage des iranischen Nuklearprogramms hat der Außen- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
minister gerade gesprochen; ich lobe ausdrücklich den Sie haben die Lage falsch eingeschätzt, das
Verhandlungsstil der Bundesregierung im Rahmen der war alles!)
EU 3 – und schließlich die Fortsetzung der Freiheits- Dazu gehört für uns insbesondere die Frage, wie wir uns
und Selbstbestimmungsbestrebungen, die wir schon seit als Bündnispartner der Vereinigten Staaten profilieren
Jahrzehnten beobachten können, die in den Jahren 1989 können, wie wir dafür sorgen können, dass die Amerika-
und 1990 durch die Überwindung der Teilung von Jalta ner auf uns angewiesen sind.
erfolgreich waren und die sich jetzt fortsetzen in der
Ukraine, in Georgien und auch in Weißrussland; dazu Es geht kein Weg an der Weiterentwicklung eigener
wird der Kollege Grund später noch etwas sagen. Fähigkeiten und Kompetenzen vorbei. Dazu gehört
eben auch die Weiterentwicklung der Gemeinsamen Au-
Wir brauchen also eine strategische Debatte über ßen- und Sicherheitspolitik und ihres militärischen
Kontinuität und Wandel in unserer Außen- und Sicher- Standbeins, der Europäischen Sicherheits- und Verteidi-
heitspolitik. Wir müssen deutlich machen, wie wir die gungspolitik. Wir müssen dafür sorgen, dass sich NATO
Prinzipien und die Kontinuität, die ich zu Anfang be- und EU stärker ergänzen und nicht gegeneinander einge-
schrieben habe, mit den Herausforderungen durch den setzt werden.
Wandel, der sich in der Welt vollzieht, verbinden. Wir
haben unsere Außen- und Sicherheitspolitik in den letz- Wir müssen auch ein Interesse daran haben, dass das
ten Jahren seit der Wiedervereinigung zu sehr vernach- Berlin-Plus-Abkommen stärker mit Leben erfüllt wer-
lässigt. Wir sind als Deutsche zu sehr selbst- und gegen- den kann. Wir sehen, dass diese Zusammenarbeit in Bos-
wartsbezogen gewesen. Nun besteht die Möglichkeit, nien ein großer Erfolg ist. Aber wir wissen auch, dass es
den guten Start der neuen, großen Koalition dazu zu nut- in der NATO auf den Widerstand der Türkei trifft und
zen, eine Standortbestimmung unserer Außenpolitik vor- dass auf europäischer Seite die Franzosen und die Grie-
zunehmen und die Kontinuität mit dem Wandel und des- chen dieser Zusammenarbeit skeptisch gegenüber ste-
sen Herausforderungen zu verbinden. hen.
Da stellt sich zunächst einmal die Frage, wie wir das Wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union
Verhältnis zu den Vereinigten Staaten gestalten und werden will, muss sie beweisen, dass sie diesen euro-
die transatlantischen Beziehungen verbessern. Auf die transatlantischen Ansatz unterstützt. Sie muss dafür sor-
Einbeziehung der NATO habe ich schon hingewiesen. gen, dass die gemeinsame Zusammenarbeit im Rahmen
Es ist ein historischer Fehler, zu glauben, unsere Verbin- des Berlin-Plus-Abkommens mit Leben erfüllt werden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2261
Eckart von Klaeden
(A) kann. Die Forderung nach einer verstärkten Zusammen- also all die Unterstützung zuteil werden lassen, die für (C)
arbeit gilt, wie gesagt, auf NATO-Ebene für die Türkei den Transformationsprozess erforderlich ist.
und genauso auf europäischer Ebene – auch das will ich
ganz deutlich sagen – für Frankreich. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Die Richter kriegen ein Visum?)
Die euro-transatlantische Politik nach 1990 ist enorm
Dieses Projekt wird erfolgreich sein, wenn wir es auf
erfolgreich gewesen. Wir wollen und müssen diese Er-
freundschaftlicher Basis und in enger Abstimmung mit
folge fortsetzen.
der Europäischen Union verfolgen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Es ist ebenfalls wichtig, darauf hinzuweisen, dass die
neten der FDP) Transformation der Ukraine und auch anderer Nachbar-
Wer heute einmal seinen Blick auf den Balkan richtet staaten nicht gegen Russland gerichtet ist. Wir müssen
und sich vor Augen führt, welche Situation wir dort da- auch sagen, dass die Beziehungen zu Russland davon
mals vorgefunden haben – Genozid, Kriege, Massengrä- abhängen, wie glaubwürdig sich Russland verhält, wenn
ber –, und wer heute sieht, wie sich die Gesellschaften es um die Beachtung der Prinzipien des Europarates
und Staaten auf dem Balkan nach und nach in Richtung geht. Ich denke da vor allem an den Umgang mit den ei-
mehr Demokratie und mehr Rechtsstaatlichkeit transfor- genen Nachbarn und an die Frage, ob Russland Rechts-
mieren, der kann wirklich von einem großen Erfolg spre- staatlichkeit und Demokratiebewegung unterstützt oder
chen. Selbst die 80 000 Menschen, die zum Begräbnis eher ein Hindernis dafür darstellt.
von Milošević in Belgrad von der dortigen Sozialisti- Es geht auch – auch dieser Punkt gehört dazu – um
schen Partei zusammengekarrt worden sind, sind doch die innenpolitische Entwicklung in Russland. Die letzten
eher ein Beweis für den Erfolg als für das Gegenteil. Signale, die wir von dort empfangen haben, haben uns
Es ist diese euro-transatlantische Perspektive, die die- nicht hoffnungsfroh gestimmt. Deswegen, Frau Bundes-
sen Ländern Stabilität gegeben hat. Deswegen müssen kanzlerin, meinen herzlichen Dank dafür, dass Sie in der
wir trotz aller Fragen, wie es mit der Erweiterung so- Botschaft in Moskau Mitglieder der Bürgerrechtsbewe-
wohl im Hinblick auf die NATO als auch auf die Euro- gung und der Opposition empfangen haben.
päische Union weitergeht, diese Perspektive fortentwi- Wir müssen alles dafür tun, Russland auf seinem Weg
ckeln. Ich habe großes Verständnis dafür, dass wir über zu mehr Demokratie und mehr Rechtsstaatlichkeit zu un-
die Frage der Vertiefung innerhalb der Europäischen terstützen. Ich glaube, dass das letztlich auch im Inte-
Union sprechen müssen. Aber wir dürfen diese euro- resse Russlands, insbesondere im wirtschaftlichen Inte-
päisch-transatlantische Perspektive für die betroffenen resse Russlands, ist. Denn Rechtsstaatlichkeit ist auch
(B) Länder nicht aufgeben. ein enormer Standortfaktor. Investitionen in Russland (D)
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und in anderen Transformationsländern werden sich
NEN]: Was denken Sie denn im Fall der Tür- langfristig nur dann lohnen können, wenn man sich dort
kei, Herr von Klaeden?) auf rechtsstaatliche Verfahren verlassen kann.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie ist die Grundlage dafür, dass die demokratische Ent-
wicklung in diesen Ländern erfolgreich fortgesetzt wird. Die Herausforderung, die vom Iran ausgeht, ist schon
Es ist unsere gemeinsame Verpflichtung, diesen Weg vom Außenminister angesprochen worden. Auch dort
weiterzugehen. zeigt sich, dass die enge Kooperation zwischen Europa,
den EU 3, und den Vereinigten Staaten bisher erfolgreich
(Beifall bei der CDU/CSU) gewesen ist. Es hat immer wieder die Gefahr gegeben,
Diese Perspektive, die Heranführung an die Europäi- dass der Iran mit seinem Versuch, die P 5 im Sicherheits-
sche Union und eine mögliche Mitgliedschaft in der rat voneinander oder die europäischen Drei von den Ver-
NATO, gilt eben auch für die Ukraine. Der Ukraine einigten Staaten zu trennen, Erfolg haben würde. Die
kommt aufgrund ihrer Größe, ihrer geostrategischen feste gemeinsame Überzeugung auf beiden Seiten des
Lage und ihrem Potenzial eine besondere Bedeutung zu, Atlantiks, auf europäischer Seite und auf amerikanischer
die wir in den zurückliegenden Jahren nicht ausreichend Seite, hat dazu geführt, dass der Iran mit seinen Bemü-
gewürdigt haben. Deswegen haben wir ein großes Inte- hungen bisher nicht erfolgreich gewesen ist. Ich be-
resse am Gelingen des Transformationsprozesses. Wir grüße, dass es im UN-Sicherheitsrat wohl zu einer so ge-
würden unsere eigenen Prinzipien verraten, wenn wir die nannten präsidentiellen Erklärung kommen wird. Das ist
Ukraine auf diesem Weg nicht unterstützen würden. ein gutes Zeichen. Wir müssen auf dem Weg weiterge-
hen, eine diplomatische Lösung zu suchen. Denn ein mi-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- litärisches Nuklearprogrammm des Irans ist für uns unter
neten der FDP – Zuruf von der LINKEN: Was keinen Umständen akzeptabel.
heißt das?)
Es ist der Iran gewesen – um daran zu erinnern –, der
Das heißt zum Beispiel, dass wir alle Bitten aus der internationales Vertrauen verletzt und internationale Ver-
Ukraine beachten sollten. Dazu gehören die Ausbildung träge gebrochen hat. Die Europäische Union und die
von Richtern, mit denen wir die Entwicklung zur Vereinigten Staaten haben dem Iran immer wieder gol-
Rechtsstaatlichkeit unterstützen, und der Aufbau von dene Brücken gebaut. Es ist nicht zuletzt die barbarische
wirtschaftlichen Beziehungen. – Wir sollten der Ukraine Sprache des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad Is-
2262 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Monika Knoche
(A) Wir müssen jetzt eine Entscheidung bezüglich des dass wir das Mandat des Parlaments, das das beste Recht (C)
Kongos fällen und Sie lenken mit Debatten zu Weißruss- des Parlaments ist, wahrnehmen und entscheiden, wo die
land ab. Truppen hingehen und was sie dort machen. Wenn das
EU-Mandat steht, werden wir diese demokratische Ver-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
antwortung für den soldatischen Auftrag nicht wahrneh-
NEN]: Das ist doch unglaublich!)
men können.
Mit dem Kongo müssen wir uns ausgiebig befassen, ich
(Beifall bei der LINKEN)
will hier nur einige wenige Worte dazu sagen. Schauen
wir uns an, wie das Mandat zustande gekommen ist. Al-
ler Voraussicht nach wird es ein UN-Mandat nach Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Kap. VII sein. Es soll also ein militärischer Einsatz er- Das Wort hat der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/
folgen, an dem sich die Deutschen vielleicht nicht aktiv, Die Grünen.
aber passiv beteiligen, während die Franzosen die aktive
Rolle übernehmen. Ich möchte dazu sagen: Es sollte ge- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
währleistet sein, dass freie demokratische Wahlen durch- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehr-
geführt werden. ter Außenminister, ich wollte meine Rede eigentlich mit
(Kurt Bodewig [SPD]: Das ist doch schon der Bemerkung einleiten, dass, wenn Ihre Lageeinschät-
etwas!) zung, dass die größte Gefahr für die Sicherheit von zer-
fallenden Staaten ausgeht und es die größte Herausforde-
Die Menschen im Kongo haben nicht die Zuversicht rung ist, für Stabilität und Sicherheit zu sorgen, richtig
und den Glauben, dass Wahlen ihnen Frieden, Freiheit ist, es dann ganz verkehrt ist, ausgerechnet die Mittel für
und Demokratie bringen werden. Krisenprävention und zivile Konfliktbewältigung, wie in
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ihrem Haushalt geschehen, zu kürzen, zumal in einem
Woher wissen Sie denn das? Sind Sie einmal Haushalt, der sich ansonsten nicht durch Konsolidie-
da gewesen?) rungsüberanstrengungen auszeichnet.
Denn es gibt dort verschiedene Milizen, deren Führer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
demokratische Wahlen ablehnen. Niemand kann voraus- Ich lasse das aber weg, weil ich mit Interesse zur
sagen, ob eine Wahl bürgerkriegsähnliche Zustände aus- Kenntnis genommen habe, dass es, verehrte Kollegin
lösen wird. Auch der Einsatz deutscher Soldaten im Knoche, kein Grund zur Debatte in diesem Parlament
Kongo kann nicht gewährleisten, dass die Präsident- sein soll, wenn mitten in Europa Menschen, die bei einer
schaftswahl friedlich verläuft. Wahl kandidiert und sich für Demokratie eingesetzt ha- (D)
(B)
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ben, von maskierten Polizeibeamten einkassiert und ein-
NEN]: Es hat eine Volksabstimmung gege- gesperrt werden. Das ist ein Problem für Europa. Das
ben! – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/ können wir in Europa nicht akzeptieren und es ist pein-
CSU]: Die Bevölkerung hat mit 85 Prozent für lich, wenn Sie dazu schweigen.
die neue Verfassung gestimmt!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
Eine freie demokratische Wahl muss aber unser erstes der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Ziel sein.
Ich bin der festen Überzeugung, dass deutsche Au-
(Beifall bei der LINKEN) ßenpolitik Friedenspolitik bleiben muss. Das heißt, sie
muss in die Politik der Vereinten Nationen eingebunden
Was geschieht, wenn das Ziel nicht innerhalb des vor-
sein. Sie muss im Rahmen einer gemeinsamen europäi-
gesehenen Zeitraums von vier Monaten erreicht wird?
schen Außen- und Sicherheitspolitik gestaltet werden.
Sie werden doch hier nicht in aller Öffentlichkeit sagen
Deswegen ist es notwendig, dass die Herausbildung ei-
wollen, dass die Truppen dann unverrichteter Dinge wie-
ner gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik – ge-
der abziehen werden. Sie werden ein neues Mandat for-
rade um diesen Teil des Verfassungsvertrages geht es –
dern und dann werden die europäischen Truppen zu ei-
tatsächlich Wirklichkeit wird. Wir müssen von den na-
ner Bürgerkriegspartei werden. Sie könnten Parteinahme
tionalen Alleingängen wegkommen.
betreiben und genau das muss vermieden werden.
Wenn man das aber sagt und wenn man das Mandat
(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer [Göt-
der Vereinten Nationen am Anfang einer Rede hochhält,
tingen] [CDU/CSU]: Keine Ahnung!)
dann muss man auch bereit sein, einen Beitrag zu leisten,
Wenn man den Prozess unterstützen will, dann darf wenn es darauf ankommt. Wir können uns keine Debatte
man keine europäischen Truppen dorthin führen. über die Frage leisten, wie es zum Beispiel der Bundes-
wehrverband getan haben soll, ob es wohl möglich ist,
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: aus einer 250 000 Personen starken Armee 450 Soldaten
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten. für vier Monate zur Absicherung eines Wahlprozesses zu
schicken. Das würde, wenn das wahr wäre, in der Tat
von einer falschen Prioritätensetzung zeugen.
Monika Knoche (DIE LINKE):
Die Hierarchie der europäischen Entscheidungen er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
laubt es de facto nicht – das ist ein zentrales Argument –, sowie bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2265
Jürgen Trittin
(A) Wir sollten auch nicht so tun, als wenn die Debatte dieser Situation noch einmal darüber nachdenken, ob das (C)
über den Kongo – darin stimme ich dem Bundesaußen- wirklich zu den großen Traditionen Ihrer Partei gehört.
minister ausdrücklich zu – erst jetzt begonnen hätte. Sie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ist sehr viel älter. Ich will an dieser Stelle all denen, die
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
von Neokolonialismus und ähnlichem Zeug schwätzen,
der SPD – Dr. Werner Hoyer [FDP]: Ausge-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) rechnet!)
ganz deutlich sagen: Ich möchte mich bei den Wenn wir uns einig sind, dass das die Herausforde-
17 000 MONUC-Soldaten aus Bangladesch, aus Indien, rungen sind, dann werden wir gerade mit Blick auf den
aus Guinea-Bissau und aus Pakistan bedanken, die dort Nahen Osten unsere Bemühungen, zu einem Dialog
seit Jahren im Einsatz sind. beizutragen, der tatsächlich auf Verständigung zielt, fort-
setzen. Ich habe die erste Reaktion von Herrn Olmert auf
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, seinen Wahlsieg mit großem Interesse zur Kenntnis ge-
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) nommen, nämlich die Ansage: Wir wollen auf der Basis
Ich möchte mich bei ihnen bedanken, weil sie dazu bei- der Zweistaatlichkeit zu einer Lösung kommen. Wenn
getragen haben, dass über 80 Prozent der Kongolesen als Ergebnis freier Wahlen in den palästinensischen Ge-
gesagt haben: „Ja, wir wollen wählen.“ Sie haben dazu bieten aber eine Bewegung gewonnen hat, deren Ziele
beigetragen, dass über 16 000 Kindersoldaten jetzt nicht wir in Europa nicht teilen, sondern sogar als terroristisch
mehr rauben, plündern und vergewaltigen, sondern de- eingestuft haben, dann muss es in dieser Situation einen
mobilisiert worden sind. Prozess des Aufeinanderzubewegens geben. Es muss
klar sein, dass das Existenzrecht Israels nicht infrage ge-
Vor diesem Hintergrund muss man die Bitte der Ver- stellt werden darf.
einten Nationen sehen. Sie wollen, dass die Europäer für
einen befristeten Zeitraum von wenigen Monaten zur (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Absicherung des Wahlprozesses in der Hauptstadt sind. Es muss klar sein, dass es einen Gewaltverzicht gibt.
Die Europäer sollen diese mutigen Soldaten unterstüt- Und es muss klar sein, dass die Zweistaatlichkeit wirk-
zen. 60 MONUC-Soldaten haben ihr Leben für die Mis- lich anerkannt wird. Das ist eine unabdingbare Forde-
sion hergegeben. Diese mutigen Menschen wollen wir rung an jede palästinensische Regierung.
nicht nur bezahlen. Wir wollen sichtbar Flagge zeigen,
damit diese Wahlen ordentlich zu Ende gehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
Wir alle wissen, dass am Ende einer Wahl immer auch SPD und der LINKEN)
(B) einer feststeht, der die Wahl verloren hat. Wir haben uns (D)
zwar angewöhnt, bei uns im Fernsehen so zu tun, als Das ist – ich füge das an dieser Stelle hinzu – aber natür-
würde das nicht stimmen. In Wirklichkeit verliert aber lich auch eine Anforderung an die israelische Regierung.
jemand. Es gehört sich bei Zweistaatlichkeit nicht, dass man Ge-
fängnisse im anderen Staat besetzt, um das einmal
(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- freundlich auszudrücken.
SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und
Schließlich komme ich zu den Themen Iran und
der SPD)
weltweite Abrüstung. Wir wollen, dass dieser Konflikt
Dazu beizutragen, diese demokratische Normalität zu er- zivil gelöst wird. Ich sage Ihnen deutlich: Solch eine Lö-
fahren und das durchzustehen, das ist die Anforderung sung wird es nur geben, wenn sie gemeinsam mit
an uns. Ich finde, die Bundesregierung muss hier fol- Europa, mit Russland, mit China und, ich füge hinzu:
gende Fragen deutlich beantworten: Sind die Kräfte vor mit den USA gefunden wird.
Ort hinreichend? Sind sie hinreichend multinational? (Uta Zapf [SPD]: Richtig!)
Wie ist der zeitliche Rahmen abzusichern? Das ist die
Aufgabe der Bundesregierung. Denn der Iran wird zu Recht darauf beharren, dass er Si-
cherheitsgarantien bekommt. Sie wird er nicht akzeptie-
Aber man kann sich hier nicht so schlank aus der Ver- ren, wenn er sie nicht auch von den USA bekommt. Das
antwortung stehlen, wie Sie von der Linkspartei das ge- ist aber genau der Hintergrund, vor dem, lieber Frank
macht haben. Steinmeier, der Deal zwischen Indien und den USA so
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kontraproduktiv gewesen ist. Wie sieht denn die Situa-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und tion weltweit aus? Es ist doch frappierend, dass sehr
der SPD) energiereiche Länder – nicht nur der Iran, sondern auch
Brasilien – Atomkraftwerke möchten. Sie wollen sie
Lieber Herr Hoyer, ich glaube, von der heutigen Um- doch nicht, weil sie sie für die Energieversorgung nötig
armung werden Sie sich so schnell nicht erholen. haben, sondern weil ihnen klar ist, dass mit der Uranan-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN reicherung ein wunderbares Instrument besteht, um Uran
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und als Rückversicherung für nicht friedliche Mittel zur Ver-
der SPD) fügung zu haben.
(Lothar Mark [SPD]: Da hat er Recht!)
Die Partei Hans-Dietrich Genschers steht heute in dieser
Frage Seite an Seite mit Oskar Lafontaine. Sie sollten in Das ist der Kern des Ganzen.
2266 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Jürgen Trittin
(A) Wenn wir wollen, dass der Iran seine Urananreiche- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (C)
rung aussetzt, wenn wir auf die Strategie setzen, im GRÜNEN]: Ja, genau!)
Rahmen der Nichtverbreitung zu sagen, dass Urananrei-
Mit Blick auf die EU-Präsidentschaft der Bundesre-
cherung und, ich füge hinzu: Wiederaufbereitung konse-
publik im nächsten Jahr sage ich: Es ist gerade kein Zei-
quent internationalisiert werden sollen, dann ist es vor
chen einer ambitionierten europäischen Orientierung,
diesem Hintergrund kein Fortschritt, dass Inspektoren in
wenn sich Deutschland in einer Situation, in der die
Indien künftig alle Bereiche ansehen dürfen, aber genau
Kommission zu Recht sagt, dass wir eine europäische
diesen Schlüsselbereich nicht. Ich habe Verständnis,
Energiepolitik brauchen, mit den Staaten an die Spitze
wenn Mohammed al-Baradei sagt: Ich finde es schön,
setzt, die der Meinung sind, dass das Letztentschei-
dass ich da überhaupt einmal reinkomme. – Aber wir als
dungsrecht in der Energiepolitik auch weiterhin bei den
Staatengemeinschaft, die wir an dem Regime der Nicht-
nationalen Großunternehmen – in Deutschland also bei
verbreitung interessiert sein müssen, dürfen uns dieses
RWE, Eon, EnBW und anderen – bleiben soll. Das ist
Interesse nicht zu Eigen machen. Dieser Deal war kon-
kein Schritt in Richtung mehr Versorgungssicherheit, ge-
traproduktiv und falsch. Ich finde, dass dieser falsche
nauso wenig wie eine erneute Subventionierung der
Schritt, der den Iran in seiner Verhandlungsposition ge-
Atomkraft. Das ist das Ziel.
stärkt hat, nicht auch noch nachträglich damit belohnt
werden darf, dass hier nun nuklear verwendbares Mate- Wir werden Europa nur dann für die Bürger überzeu-
rial geliefert wird. Sie stehen nun in der Verantwortung, gender gestalten können, wenn wir mehr Europa wagen.
bei Ihrem Einsatz für die Errichtung eines globalen Daher müssen wir Schluss damit machen, uns immer,
Nichtverbreitungsregimes tatsächlich Standhaftigkeit zu wenn es – wie in diesem Fall in der Energiepolitik – hart
zeigen und diesem Deal nicht hinterherzulaufen. auf hart kommt, auf den nationalen Vorbehalt zurückzu-
ziehen. Wir brauchen in dieser Frage eine Europäisie-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung.
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich glaube, dass wir uns zurzeit in einer Phase befin-
den – das wird auch an der Debatte über die Energie-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
politik deutlich –, in der Europa, das bei Klimaverhand-
lungen, bei Fragen des Welthandels und der Gestaltung Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kol-
der Globalisierung bisher eigentlich eine treibende und legin Knoche.
produktive Kraft war, seltsam ziellos daherkommt.
Monika Knoche (DIE LINKE):
(B) Diese Ziellosigkeit hat auch etwas mit der Haltung und (D)
dem Verhalten der Mitgliedstaaten zu tun. Herr Trittin, Sie waren sehr bemüht, Allianzen zwi-
schen der FDP und der Linken und womöglich auch zwi-
Ich habe heute bereits einige erstaunliche Aussagen schen der polnischen rechtskonservativen Regierung und
gehört. Herr von Klaeden zum Beispiel befürwortet der Linken herzustellen.
plötzlich die Visumfreiheit für die Ukraine.
(Markus Löning [FDP]: Genau! Dementieren
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Sie das jetzt mal!)
GRÜNEN]: Ach was, wirklich? Das liegt wohl
am Ausschuss! – Eckart von Klaeden [CDU/ Ich möchte Ihnen sagen: Das war ein sehr kurzes Ver-
CSU]: Na ja! Ohren waschen!) gnügen für Sie; denn nichts davon trifft zu.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Heiter-
– Das ist doch Ihre neue Position. – Aber mit noch grö-
keit)
ßerem Erstaunen habe ich zur Kenntnis genommen, dass
ausgerechnet die Linkspartei erklärt hat, die Position der – Ja, in dieser Einschätzung besteht zwischen der FDP
polnischen Regierung, die den europäischen Verfas- und der Linken keine Differenz.
sungsprozess für tot erklärt, sei richtig.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Was ich aber bedenklich finde, ist, dass Sie die Argu-
GRÜNEN]: Und die wollen auch noch links mente gegen den Einsatz der Parlamentsarmee im Falle
sein!) eines EU-Mandats für den Kongo, die ich vorgetragen
Das, was dazu in der Verfassung steht, ist das komplette habe, einfach von sich gewiesen haben. Das wundert
Gegenteil von neoliberal. mich sehr. Vielleicht sind Ihnen die Institutionen und die
Entscheidungswege nicht sehr vertraut. Aber wenn diese
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entscheidung auf EU-Ebene angesiedelt und das Mandat
und bei der SPD – Dr. Andreas Schockenhoff erst einmal erteilt ist, werden interne Vereinbarungen
[CDU/CSU]: Nein! Das ist post-neoliberal!) und Übereinstimmungen getroffen, was eine Krise ist
und was im Falle einer Krise zu tun ist. Dann wird das
Die polnische Regierung möchte nichts anderes als die
deutsche Parlament nicht mehr gefragt sein.
Schaffung eines gigantischen Binnenmarktes, um ihre
korporativen Vorteile nutzen zu können. Sie will aber Nun sagen Sie, die Parteien, die sich hier im Hause
keine politische Vertiefung, also keine Demokratisierung für ein verfassungskonformes Vorgehen ausgesprochen
der Europäischen Union. haben, gingen schräge Allianzen ein. Ich denke, die Ar-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2267
Monika Knoche
(A) gumentation von Frau Homburger ist nicht ganz tref- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C)
fend. Aber zumindest einen wichtigen Punkt hat sie an- Herr Kollege Trittin, bitte.
gesprochen: dass ab dem Moment, ab dem die
europäische Armee unter europäischem Mandat steht, Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
kein nationales Parlament mehr seine Pflichten erfüllen Frau Präsidentin! Liebe Kollegin Knoche, das unter-
kann. Das kann niemanden kalt lassen, der sich Demo- scheidet uns. Wir sind der Auffassung, dass es egal ist,
krat nennt und die Demokratie in anderen Teilen Euro- ob Demonstranten wie beispielsweise bei dem G-8-Gip-
pas verteidigen will. fel durch die italienische Polizei misshandelt und un-
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der rechtmäßig inhaftiert wurden oder ob das in Weißruss-
CDU/CSU: Was ist denn mit all den Toten? land passiert.
Das lässt Sie doch auch absolut kalt!) (Monika Knoche [DIE LINKE]: Nichts ande-
Als wir über das Thema Belarus schon einmal disku- res habe ich gesagt!)
tiert haben, habe ich unzweideutig zum Ausdruck ge- Wir wollen nicht mit unterschiedlichen Maßstäben mes-
bracht, wie sehr wir das dortige diktatorische System sen. Dazu gehört auch, dass man das Unrecht auf der ei-
verurteilen. nen Seite nicht dadurch entschuldigt, dass es auf der an-
(Widerspruch bei Abgeordneten des BÜND- deren Seite auch Unrecht gibt.
NISSES 90/DIE GRÜNEN – Markus Löning (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
[FDP]: Gilt das auch für Castro?) bei der CDU/CSU und der SPD)
In dieser Debatte habe ich vorgeschlagen, diese Frage Meine zweite Bemerkung bezieht sich auf intellek-
einmal kompakt zu behandeln und dabei auch einzube- tuelle Redlichkeit. Ich bin gerne bereit, Ihren Text nach-
ziehen, welche Wege der Demokratisierung – auch wel- zulesen. Ich habe gehört, Sie haben sich zur Haltung der
che nicht importierbaren oder exportierbaren Wege der osteuropäischen Regierungen zum Verfassungsprozess
Demokratisierung – es beim Prozess der Transformation explizit positiv geäußert. Es tut mir Leid, wenn ich das
postsowjetischer Staaten gibt. Man muss eine ernsthafte falsch verstanden habe. Ich meine aber, dass ich das
Politik betreiben und darf sich nicht in ideologische richtig verstanden habe.
Schlagwörter verlieben, die man hier im Bundestag ver-
breitet. Man darf andere Positionen nicht diskreditieren. (Monika Knoche [DIE LINKE]: Haben Sie!)
(Markus Meckel [SPD]: Und das aus Ihrer Es gibt in diesem Zusammenhang nur eine fundierte
Ecke!) Aussage, und das ist die Aussage des polnischen Staats-
(B) präsidenten. Das fand ich in der Tat bemerkenswert. (D)
Wir werden Ihren Antrag nicht ablehnen, wir werden
ihm nur nicht zustimmen. Sie wissen auch, warum. Sie Es passt im Übrigen auch. Als ich mir angehört habe,
haben uns bewusst nicht an diesem Prozess beteiligt. Sie was die Vertreterinnen und Vertreter der Linksfraktion
wollen uns außen vor haben. Wir karten nicht nach. Wir bei der gemeinsamen Ausschusssitzung mit dem franzö-
verlangen, dass eine solche Debatte als eine eigenstän- sischen Europaausschuss über die Frage, wie es in
dige Debatte in diesem Haus geführt wird. Europa weitergeht, vertreten haben, habe ich eine ver-
blüffende Übereinstimmung bis ins Wörtliche mit den
Zu Ihrer Bemerkung, wir würden darüber hinwegse- Anhängern von Sarkozy festgestellt. Das ist nicht mein
hen, dass Demonstranten abgeführt wurden, möchte ich Europa. Mein Europa ist ein Europa der Demokratie und
sagen: Zwei Abgeordnete der Linksfraktion werden der sozialen Rechte. Sie finden in dieser Verfassung sehr
demnächst als Prozessbeobachter nach Genua reisen. viele demokratische und soziale Rechte, die wir im
Grundgesetz übrigens vermissen.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie
hätten lieber in den Kongo fahren sollen und (Monika Knoche [DIE LINKE]: Ich spreche
sich die Situation dort anschauen sollen!) vom Konvent!)
Dort hat es schwerste Verletzungen – wenn Sie so wol- Dritte Bemerkung. Wenn man über die Rolle des Par-
len: Menschenrechtsverletzungen – gegeben; schließlich lamentes beim Einsatz der Bundeswehr und dessen
kam jemand zu Tode. Es ging gegen das Demonstra- Rechte spricht, dann brauchen wir keine Belehrung. Ich
tionsrecht, das die Menschen beim G-8-Gipfel wahrge- sage Ihnen: Es wird auch in Europa Zusagen über den
nommen haben. Einsatz deutscher Soldaten generell nur unter dem Vor-
behalt des Parlamentes geben.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich finde, dass man solche Anfragen seriös prüft und
Frau Kollegin, Ihre Redezeit von drei Minuten ist um. nicht nach dem Motto verfährt: Weil die Anfrage von
den Vereinten Nationen kommt, können wir nicht Nein
Monika Knoche (DIE LINKE): sagen. Nicht dass Sie mich missverstehen! Ich hätte von
Wenn es um ein Europa der Demokratie geht, dann Ihnen erwartet, auf die Anfrage der Vereinten Nationen
müssen wir zum Beispiel die Vorgänge in Italien in un- nicht mit einem einfachen Verweis auf Neokolonialis-
sere Beobachtung mit einschließen. mus zu reagieren, sondern sich ernsthaft mit der Situa-
tion vor Ort zu beschäftigen und mit der Frage, wie es
(Beifall bei der LINKEN) gelingen kann, die Wahlen vernünftig über die Bühne zu
2268 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Jürgen Trittin
(A) bringen. Das ist das Minimum, um außenpolitische und der vielen, die als Zivilisten dort sind, militärisch er- (C)
Glaubwürdigkeit zu beweisen. gänzen. Herr Hoppe, weil auch Kabila, Bemba, der Vor-
sitzende der Wahlkommission, der hier im Ausschuss für
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wirtschaftliche Zusammenarbeit war und vorgetragen
bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- hat, und der Verteidigungsausschuss das befürworten
geordneten der FDP) und weil die Entsandten aus den Fraktionen – wenn ich
das so sagen darf –, die dort waren, zurückgekommen
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sind und gesagt haben, dass vieles dafür spricht, sich an
Das Wort hat der Kollege Walter Kolbow, SPD-Frak- dieser Mission zu beteiligen, ist es sicherlich richtig, die
tion. Vorbereitungszeit zu nutzen und dann zu einer Entschei-
dung zu kommen, die den Menschen im Kongo und un-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
serem strategisch wichtigen Nachbarkontinent Afrika
gerecht wird.
Walter Kolbow (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
und Kollegen! Der Stand der Debatte lässt mich anders BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
beginnen als geplant. Es ist festzuhalten – das werden Der Herr Außenminister hat hier selbstverständlich
auch der Kollege Grund, die Kollegin Zapf und der Kol- die strategischen und operativen Schwerpunkte der
lege Bodewig, die Beobachter bei den Wahlen in Belarus deutschen Außenpolitik vorgetragen. Ja, die Globali-
waren, noch zum Ausdruck bringen –, dass Ihre Position sierung muss positiv gestaltet werden. Ja, die deutschen
gegenüber diesen unfairen Wahlen unhaltbar und diesem Beiträge zur Bekämpfung des internationalen Terroris-
Parlament unwürdig ist. Sie ist nicht hinzunehmen. mus sind zu leisten. Die EU muss vertieft und verträg-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP lich erweitert werden. Die transatlantischen Beziehun-
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen sind zu intensivieren und die Reform der Vereinten
Nationen ist weiter zu betreiben. Dabei gilt es – auch das
Das ist ein Schlag ins Gesicht von Alexander Konsulin ist in den Debattenbeiträgen angeklungen –, die Felder
und der anderen Verhafteten sowie der Demokratiebewe- Energieversorgung und internationale Sicherheit, Demo-
gung und der Zivilgesellschaft. Das können Sie von der grafie und internationale Sicherheit sowie Migration und
Linkspartei am besten dadurch wieder gutmachen, dass internationale Sicherheit aktiv zu begleiten.
Sie unserem Antrag zustimmen. Das wäre die richtige
Position. Ich denke, wir sind uns in diesem Haus einig, dass
auch für die neue Regierung das gilt, was bisher für alle
(B) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Bundesregierungen nach dem Krieg gegolten hat: Die (D)
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- deutsche Außen-, Sicherheits-, Entwicklungshilfe- und
SES 90/DIE GRÜNEN) Menschenrechtspolitik dient dem Frieden. Das ist die
Ich bin dem Kollegin Trittin sehr dankbar, dass er Grundkonstante unserer Politik, die Demokratie und so-
noch einmal nicht nur auf die Notwendigkeit, sondern ziale Gerechtigkeit auch außerhalb unseres Vaterlandes
auch auf die Selbstverständlichkeit des Parlamentsvor- fördert.
behalts bei der Entscheidung darüber hingewiesen hat, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
ob man sich auf Anfrage der UN an einer EU-Mission bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
im Kongo beteiligt. Das ist das Nonplusultra. Hier und GRÜNEN)
nirgendwo anders wird entschieden.
Ich denke, dass wir hier – das hat die Kanzlerin heute
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Morgen zu Recht gesagt – unsere Werte mit unseren In-
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE teressen in Einklang bringen werden. Dabei wünschen
GRÜNEN – Lothar Mark [SPD]: Das wird wir dem Außenminister, der einen guten Start hatte, viel
auch so bleiben! Jawohl!) Erfolg. Herr Hoyer, Sie haben sich mit Ihren Anmerkun-
Bis zur Entscheidung werden alle Fragen zu stellen und gen fahrlässig oder sogar vorsätzlich an der Erschwe-
auch zu beantworten sein. Manchmal ist es auch so, dass rung dieses Starts beteiligt.
man sich diese Mandate erarbeiten und Informations- (Markus Löning [FDP]: Na, na, na! –
lücken und Emotionen, die man durch Sozialisation Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das war jetzt wohl
möglicherweise gewonnen hat, schließen bzw. überwin- daneben!)
den muss, um zu richtigen Entscheidungen zu kommen.
Wir als sozialdemokratische Bundestagsfraktion sind auf
Dies scheint doch eine zu gelingende Mission zu sein. diesem Weg an der Seite der Bundeskanzlerin. Wir wün-
Sie wird gelungen sein, wenn wir die Wahlen erfolgreich schen Ihnen viel Glück und Erfolg bei diesen verantwor-
abgesichert haben, wenn zum Verfassungsprozess auch tungsvollen Aufgaben.
noch der Demokratisierungsprozess – durch Wahlvor-
gänge zum Präsidentenamt und zum Parlament – hinzu- Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik sowie die
gekommen ist und wenn wir – auch das ist gesagt wor- Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik werden auf-
den – 15 000 Kindersoldaten entwaffnen, demobilisieren grund ihrer Professionalität und Verlässlichkeit aner-
und wieder mit ihren Familien zusammenführen konn- kannt und brauchen den weltweiten Vergleich nicht zu
ten. Wir wollen und müssen die gute Arbeit der NGOs scheuen. Die Markenzeichen der deutschen Politik sind
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2269
Walter Kolbow
(A) und bleiben Kontinuität und Verantwortungsbewusst- sie davon, dass wir alle gemeinsam von der EU profitie- (C)
sein. Die Anmerkung sei mir gestattet: Wer Überlegun- ren? Ich glaube, wir sind uns in diesem Hause weitge-
gen zu Veränderungen anstellt oder gar versehentlich das hend einig, dass wir eine starke Identifikation der Bevöl-
Wort Revision in den Mund nimmt, der sollte diesen Teil kerung hinsichtlich der weiteren Integration in Europa
seiner Ausdrucksweise im Dialog privatissime et gratis wollen.
überdenken.
(Beifall des Abg. Harald Leibrecht [FDP])
(Beifall bei der SPD)
Es ist für Europa entscheidend, Erfolge zu erzielen.
An dieser Stelle sollte unser Glückwunsch nicht nur Ich glaube nicht, dass es wichtig ist, viele neue Politik-
an Herrn Olmert, sondern auch an unseren Freund Peretz gebiete zu besetzen, sondern es ist wichtig, in den Poli-
von der Arbeiterpartei gehen. Diese beiden Politiker tra- tikgebieten, für die die EU zuständig ist und in denen sie
gen eine große Verantwortung. Die neue israelische Re- handlungsfähig ist, Erfolge zu erzielen und sich darauf
gierung braucht alle Kräfte, um zu einer friedlichen Ent- zu konzentrieren, diese Erfolge nach außen deutlich zu
wicklung zu kommen. Ich glaube, wir sind uns darüber machen.
einig, dass nach den Wahlen die Hamas und die neue is-
raelische Regierung endlich aufeinander zugehen kön- Ein gutes Beispiel dafür ist das, was die Kommissarin
nen. Wir in Deutschland unterstützen die politische For- Reding zurzeit macht. Sie hat die Handy-Verträge und
derung des Nahostquartetts nach einer schnellen damit die Mobilfunkunternehmen kritisiert. Im Sinne der
Wiederaufnahme der Roadmap. Verbraucher muss für Handys ein Binnenmarkt entste-
(Vorsitz: Vizepräsident Wolfgang Thierse) hen; denn es kann nicht sein, dass beim transnationalen
Telefonieren abkassiert wird. Hier ist die EU gefragt und
Ich komme gerade von einer Balkanreise zurück. Ich sie kann an dieser Stelle deutlich machen, was für einen
habe in Belgrad, aber auch in Priština gesehen, wie bei Mehrwert sie uns Bürgern bietet. Das ist ein gutes Bei-
den Wiener Verhandlungen um ein Ergebnis gerungen spiel dafür, was nach außen vermittelt werden muss. Es
wird. Wir müssen dafür Sorge tragen, Präsident Tadić in zeigt im Übrigen, wo der Binnenmarkt funktionieren
Serbien in seinem Bemühen zu unterstützen, die demo- muss. Das muss auch vonseiten der Europäischen Union
kratischen Kräfte gegen die radikalen Nationalisten und durchgesetzt werden.
gegen die Milošević-Sozialisten zu stärken, damit von
dort Friedens- und Verhandlungsbereitschaft erkennbar (Beifall bei der FDP – Dr. Werner Hoyer
ist, [FDP]: Sehr gutes Beispiel!)
(Beifall bei der SPD) Lassen Sie mich zwei kurze Anmerkungen zur Ener-
(B) giepolitik der Europäischen Union machen. Ich glaube, (D)
die die Kosovaren signalisieren, die – darin sind sie sich
dass es auch in der Energiepolitik wichtig ist – darin wi-
einig – zur Kooperation mit den Serben bereit sind. Um-
derspreche ich Ihnen ausdrücklich, Herr Trittin –, dass
gekehrt scheint mir dies im Augenblick nicht der Fall zu
die EU zunächst ihre ureigene Aufgabe wahrnimmt,
sein.
nämlich einen funktionierenden Binnenmarkt im Sinne
Herr Außenminister, Sie werden in der internationa- der Verbraucher sicherzustellen. Wir brauchen Wettbe-
len Gemeinschaft akzeptable, nicht besserwisserische, werb auf dem Energiemarkt. Günter Rexrodt hat seiner-
aber engagierte deutsche Beiträge einbringen. Die so- zeit im Deutschen Bundestag damit begonnen, in
zialdemokratische Bundestagsfraktion ist an Ihrer Seite. Deutschland auf diesen Wettbewerb hinzuarbeiten, und
Ihre Regierung, Herr Trittin, hat dann dafür gesorgt, dass
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
es kein Erfolg geworden ist.
Vizepräsident Wolfgang Thierse: Wir müssen für Wettbewerb auf dem Energiemarkt
Ich erteile das Wort Kollegen Markus Löning, FDP- sorgen, damit unsere Verbraucher davon profitieren kön-
Fraktion. nen. Das ist die eine Seite.
(Beifall bei der FDP – Jürgen Trittin [BÜND-
Markus Löning (FDP): NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo liegt die Diffe-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr renz?)
Steinmeier, Sie sagten vorhin, dass die EU mehr als nur
Binnenmarkt und Verfassung ist. Ich will Ihnen in die- Die andere Seite ist, dass wir unsere Energieinteressen
sem Punkt ausdrücklich zustimmen. gegenüber Dritten gemeinsam vertreten müssen. Dass
die Energiepolitik ein Teil der Gemeinsamen Außen-
Als Vorbemerkung will ich deutlich machen, wie
und Sicherheitspolitik wird, ist ein guter und wichtiger
wichtig es ist, dass wir unsere Werte in Osteuropa hoch-
Schritt. Gemeinsam sind wir stärker. Wir haben gemein-
halten und dort die Bemühungen um Demokratie unter-
same Interessen, die wir endlich einmal definieren müs-
stützen.
sen. Das Durcheinander am Schwarzen Meer, im kauka-
Die EU ist aber eben auch Binnenmarkt und Verfas- sischen Raum und anderswo, wo jeder der europäischen
sung. Die Frage, die wir uns angesichts der Krise und Partner seine eigene Politik verfolgt, ist unerträglich und
der fehlenden Glaubwürdigkeit der EU stellen müssen, kontraproduktiv. Es geht zu unseren Lasten. Andere ma-
ist: Wie begegnen wir der Europamüdigkeit und Euro- chen deutlicher, was sie wollen, und sie profitieren da-
paskepsis unserer Bevölkerung und wie überzeugen wir von.
2270 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Markus Löning
(A) Was wir in der Energiepolitik nicht brauchen – inso- Erfolg und für die Bürger von Vorteil ist. Daran müssen (C)
weit ist die Entscheidung des Gipfels zu begrüßen –, wir in den nächsten Monaten und Jahren arbeiten.
sind weitere gemeinsame Institutionen und eine Erweite-
rung der Zuständigkeiten der EU. Die EU sollte zunächst Vielen Dank.
einmal das erfolgreich machen, wofür sie schon zustän- (Beifall bei der FDP)
dig ist.
Ich möchte noch einige Bemerkungen zum Lissabon- Vizepräsident Wolfgang Thierse:
prozess machen. Das Abschlussdokument enthält eine Ich erteile das Wort Kollegen Manfred Grund, Frak-
endlose Aufreihung von Punkten, die im Wesentlichen tion der CDU/CSU.
richtig sind. Aber ich warne ausdrücklich davor, Ziele
wie die Schaffung von jährlich 2 Millionen neuer Ar- Manfred Grund (CDU/CSU):
beitsplätze innerhalb der EU festzuschreiben. Andere Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
Länder sind damit erfolgreich; wir sind es nicht. Damit gen! Sehr verehrte Damen und Herren! Es muss schon
werden Erwartungen an die EU geweckt, die sie nicht er- etwas Besonderes passiert sein, wenn sich der Deutsche
füllen kann. Bundestag innerhalb von drei Wochen zweimal mit ei-
nem Thema, mit einem Land wie Belarus beschäftigt,
Es ist unredlich, wenn wir vom Europäischen Rat et- und dies sogar – abweichend von der Tagesordnung – in
was beschließen lassen, das wir in Deutschland nicht der Haushaltswoche. Was ist passiert? Warum weichen
umsetzen. Das führt zu Verdrossenheit, weil dann, wenn wir von der Tagesordnung ab? Es ist uns nicht egal,
es nicht klappt, mit dem Finger auf die EU gezeigt und wenn in einem europäischen Land, anderthalb Flugstun-
der Vorwurf erhoben wird, dass nur große Sprüche ge- den von hier entfernt, Tausende Menschen mit Poli-
macht werden, aber nichts umgesetzt wird. Dabei liegt zeiknüppeln durch die Straßen getrieben werden, nur
die Schuld dafür bei den nationalen Regierungen. Dort weil sie von ihrem Menschenrecht auf Demonstrations-
müssen die Hausaufgaben gemacht werden, statt zu ver- und Versammlungsfreiheit Gebrauch machen.
suchen, die Schuld auf Brüssel zu schieben.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
(Beifall bei der FDP) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Auf dem EU-Gipfel wurde die Umsetzung der Es ist uns nicht egal, wenn Tausende verhaftet und in
Dienstleistungsrichtlinie begrüßt. Es ist zwar schön, Gefängnisse gebracht werden – die Angehörigen erfah-
dass etwas passiert, aber es handelt sich in diesem Fall ren noch nicht einmal, wo sie sind – und ihnen Haftstra-
fen von bis zu zwölf Jahren drohen, nur weil sie von die-
(B) um einen völlig mutlosen Schritt. Es fehlt der politische sem Recht Gebrauch gemacht haben. Es darf uns nicht (D)
Mut. Ich glaube, das müssen wir alle deutlicher nach au-
ßen vertreten. Der Erfolg der Europäischen Union be- egal sein, wenn Menschen beginnen, ihre Angst vor ei-
steht gerade darin, dass wir alle unsere Märkte geöffnet ner Diktatur zu überwinden. Das bedarf unserer aktiven
und den politischen Mut gehabt haben, darauf zu bauen, Unterstützung.
dass wir letztendlich alle gewinnen, wenn wir unsere (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Märkte auch für unsere Nachbarn öffnen. Das war das
Erfolgsrezept der Europäischen Union. In diesem Sinne Liebe Frau Knoche, ich verstehe oft nicht die mögli-
ist der Kompromiss der Dienstleistungsrichtlinie außer- cherweise besondere Affinität der Linkspartei zu Dikta-
ordentlich enttäuschend. turen. Ob es Milošević oder Saddam Hussein gewesen
ist, ob es Fidel Castro oder Lukaschenko ist, ich verstehe
An dieser Stelle lässt sich auch noch die Position der nicht, was an der Politik dieser Diktatoren sozialistisch
Bundesregierung zur Freizügigkeit anführen, die eben- oder demokratisch sein soll. Sie ist einfach reaktionär
falls von großer Mutlosigkeit geprägt ist. Es ist sehr und menschenverachtend.
schade. Sie verschenken eine große Chance, zu zeigen, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
welchen Mehrwert Europa bringen kann. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wi-
(Beifall bei der FDP) derspruch bei der LINKEN)
Am 19. März dieses Jahres fanden Präsidentschafts-
Lassen Sie mich zur Verfassungsdebatte nur so viel wahlen in Belarus statt. Diese Wahlen waren per se ille-
feststellen: Sie haben sich im Koalitionsvertrag sehr viel gitim; denn sie beruhten auf einer Verfassungsänderung,
vorgenommen. Inzwischen haben Sie erkannt, dass das, auf einem Referendum vom 17. September 2004, mit
was Sie angepeilt haben – nämlich schnell neue Impulse dem sich Lukaschenko die Möglichkeit verschafft hat,
zu geben –, nicht realistisch ist, und jetzt rudern Sie zu- zu einer dritten bzw. sogar zu einer vierten Amtszeit an-
rück. Die Kanzlerin rudert zurück, auch öffentlich. zutreten. Die OSZE-Beobachter, die schon 2004 dort ge-
wesen sind, bestätigen: Diese Wahlen waren gefälscht
Ich glaube, dass es neben der Denkpause, die wir hin-
und widersprachen der belarussischen Verfassung. Das
sichtlich der Verfassung einlegen müssen, wichtig ist, in
steht unzweifelhaft fest.
der Zeit bis zur Ratifikation der Verfassung Erfolge vor-
zuweisen. Es wird nicht genügen, den Text etwas zu än- Nun hat sich Lukaschenko am 19. März selbst inthro-
dern. Für die Stimmung in den Mitgliedsländern wird nisiert. Er hätte durchaus die Möglichkeit gehabt, sich
vielmehr wichtig sein, klar zu machen, dass Europa ein einen demokratischen Anschein zu geben; denn 50 bis
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2271
Manfred Grund
(A) 60 Prozent der belarussischen Gesellschaft – wir können russischen Zivilgesellschaft Informationen zukommen (C)
es nicht genauer quantifizieren – sind durchaus mit der zu lassen und sie auf ihrem Weg zu ermutigen.
wirtschaftlichen Situation einverstanden. Hinzu kommt,
dass die Entwicklungen in den Nachbarländern alles an- Bei den Gesprächen, die wir mit Russland führen,
dere als ermutigend sind. Den Belarussen fehlt es erstens dürfen wir Belarus nicht ausnehmen. Der Schlüssel für
an Perspektiven und zweitens an Informationen. die Lösung der Situation in Belarus liegt nämlich in
Russland. Russland subventioniert die belarussische
Ich, der ich zusammen mit anderen Kollegen als Wirtschaft mit wahrscheinlich 7 Milliarden Euro im
Wahlbeobachter dort gewesen bin – es wäre wünschens- Jahr; ohne diese Mittel würde das System in sich zusam-
wert gewesen, wenn auch die Linksfraktion einen Wahl- menbrechen.
beobachter gestellt hätte – und erlebt habe, wie man
Wahlen manipuliert und Menschen einschüchtert, weil Also: Dialog mit Russland und der Opposition in
ich aus einer Diktatur komme, habe in Belarus die glei- Belarus, abgestimmte Initiativen innerhalb der Europäi-
che Situation vorgefunden, die ich bis 1989 in der DDR schen Union, in jeder Weise Ermutigung der belarussi-
zur Genüge erlebt habe. Den Menschen werden Informa- schen Zivilgesellschaft, die Gott sei Dank beginnt, ihre
tionen vorenthalten. Sie leben in Angst und Abhängig- Angst vor dem Diktator zu überwinden. Dazu braucht
keit und es fehlt ihnen an Perspektiven. Wir konzedieren unser Antrag eine breite Zustimmung. Wir selbst brau-
aber mit Freude, dass die Belarussen beginnen, ihre chen einen langen Atem, weil sich das Problem nicht
Angst abzulegen, und dass sich die Oppositionsparteien von heute auf morgen lösen lassen wird. Demokratischer
das erste Mal seit 1996 organisieren und sich mit Wandel braucht eben etwas länger. Wir sind aber auf ei-
Alexander Milinkewitsch auf einen Kandidaten verstän- nem guten Weg und dafür bin ich uns und Ihnen allen
digt haben, der durchaus in der Lage ist, Vertrauen zu sehr dankbar.
vermitteln. Herzlichen Dank.
Die entscheidende Frage ist aber, wie die Menschen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
nicht nur in Minsk, sondern auch in der belarussischen und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Provinz informiert werden können. Hier haben wir, die
Europäische Union und insbesondere Deutschland, mit
Vizepräsident Wolfgang Thierse:
Informationsprogrammen, mit Radioprogrammen zu
wirken begonnen, um das Meinungsmonopol des Staates Ich erteile das Wort Kollegen Norman Paech, Frak-
bzw. des Regimes zu brechen. Wir sollten an diesen In- tion Die Linke.
formationsprogrammen festhalten bzw. sie sogar aus- (Beifall bei der LINKEN)
(B) dehnen. (D)
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Ulla Dr. Norman Paech (DIE LINKE):
Burchardt [SPD]) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bun-
desaußenminister, Sie haben es erwähnt: Morgen emp-
Wir wollen keine Subversion ausüben. Aber wir wollen, fangen Sie Vertreter der fünf ständigen Mitglieder des
dass die Menschen Informationen bekommen. Das ist UNO-Sicherheitsrates, um mit ihnen ein Problem zu be-
der erste Punkt. sprechen, das die USA als das größte außenpolitische
Zweitens. Mit unserem fraktionsübergreifenden An- Problem der nächsten Zukunft bezeichnet haben, näm-
trag – eine Fraktion trägt ihn nicht mit – fordern wir lich das iranische Atomprogramm. Nun haben die
Lukaschenko und sein Regime auf, die Verhafteten frei- USA sich entschlossen, wie damals im Falle des Iraks
zulassen bzw. für faire und transparente Verfahren zu den Schraubstock des UN-Sicherheitsrats auch dem Iran
sorgen, zu denen auch die Öffentlichkeit zugelassen ist. anzulegen. Man weiß allerdings nie, wer dabei mehr in
Wir möchten, dass Alexander Kosulin, einer der Opposi- die Klemme kommt: der, der dreht, oder der, der einge-
tionsführer, umgehend freigelassen wird und dass ein in- klemmt werden soll.
tensiver Dialog darüber geführt wird – das sage ich an (Beifall bei der LINKEN)
die Adresse der Europäischen Union, aber auch an die
unserer Regierung –, wie wir in Zukunft mit dem Re- Sie versichern zwar immer – ich glaube Ihnen das
gime in Belarus umgehen sollen. Welches Angebot ha- auch –, Herr Steinmeier, dass es nicht zu militärischen
ben wir im Rahmen der europäischen Nachbarschafts- Sanktionen kommen soll. Aber was verleitet Sie eigent-
politik zu machen? Bei welchen Angeboten ist das lich, Ihren Kollegen Rumsfeld und Cheney nicht zu
Regime bereit, mit uns zusammenzuarbeiten? Wie kön- glauben, die immer wiederholen, dass nichts ausge-
nen wir die Zivilgesellschaft und die Opposition stär- schlossen werden darf und damit auch nicht die militäri-
ken? Das hat viel mit Information zu tun. sche Option? Wer sich – das ist die Warnung – in den
Mechanismus des UNO-Sicherheitsrats begibt, wird es
Möglicherweise, Herr Kollege Trittin, müssen wir uns schwer haben, sich aus ihm wieder herauszulösen, bevor
auch überlegen, ob wir demnächst tatsächlich 60 Euro alle seine Mittel ausgeschöpft sind. Kapitel VII der
für ein Schengenvisum nehmen können, das jemand aus UNO-Charta ist in den Händen Ihrer Kollegen ein ver-
Belarus braucht, um in die baltischen Staaten, nach giftetes Friedensangebot, weil die militärische Option
Polen oder nach Deutschland zu kommen. Ich glaube, immer enthalten ist.
dass wir in der Lage sind, Visaerleichterungen von Visa-
missbrauch zu trennen. Wir sind aufgefordert, der bela- (Beifall bei der LINKEN)
2272 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Axel Schäfer (Bochum) (SPD): (Zuruf der Abg. Uta Zapf [SPD])
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Entsprechendes gilt aber auch für unser Land. Eine
ist erfreulich, dass es in diesem Hause in der außen- und Form, Euroskeptizismus und Nationalismus zu fördern,
europapolitischen Debatte unter vier Fraktionen eine ist das, was wir leider von der Linkspartei hören.
große Übereinstimmung gibt, vor allem weil das nicht
überall in Europa der Fall ist. (Beifall des Abg. Markus Löning [FDP])
(Beifall des Abg. Lothar Mark [SPD]) Das ist im Übrigen der Abschied von europäischen Tra-
ditionen, die von bedeutenden Menschen wie Altiero
Dennoch sollten wir gerade auf dieser Grundlage durch- Spinelli begründet worden sind.
aus unterschiedliche Pointierungen vornehmen. Es
(B) kommt ja nicht nur darauf an, dass man diskutiert, son- Ein Fünftes. Wir Deutsche haben eine besondere Ver- (D)
dern auch darauf, wie man diskutiert. Also: nach vorn antwortung. Das wird sich auch in der Ratspräsident-
gewandt, mit Mut und nicht mit Kleinmut! schaft zeigen. Aber wir müssen bestimmte Dinge schon
jetzt praktizieren. Wir fangen damit an, zum Beispiel mit
Der erste Punkt. Wir setzen den europäischen Ver- der Übereinkunft von Bundestag und Bundesregierung
fassungsprozess fort. Ende dieses Jahres werden zwei über eine stärke Europäisierung des Parlaments. Ich
Drittel aller Länder ratifiziert haben; wir sind dabei. Wir kündige hier für die SPD an: Wir werden einmal
sollten diejenigen, die jetzt die Ratspräsidentschaft über- schauen, ob es 2009 gelingt, dass unser Kandidat oder
nehmen – Portugal, Tschechien, Schweden –, daran erin- unsere Kandidatin aus Deutschland für die EU-Kommis-
nern, dass sie eine besondere Verantwortung haben, in sion hier vor diesem Hause in einer öffentlichen Anhö-
der Zeit ihrer Präsidentschaft die Ratifizierung erfolg- rung zu Europa Rede und Antwort steht, bevor er oder
reich durchzuführen. sie in Brüssel angehört wird. Das wäre ein guter Beitrag.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
Wenn wir diesen Prozess am Leben halten, setzen wir und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
auch ein eindeutiges Kontra zu Sprüchen wie „Die Ver-
Zusammenfassend Folgendes, liebe Kolleginnen und
fassung ist tot“ oder „Nizza oder der Tod“. Wir können
Kollegen: Wir leisten als Deutsche einen Beitrag zu
seriös nicht vor 2009 entscheiden, wie bestimmte Pro-
Europa. Der deutsche Europabeitrag in der ersten Hälfte
bleme überwunden werden müssen; Stichwort: die bei-
des 20. Jahrhunderts waren der Griff danach, Weltmacht
den Referenden in den Niederlanden und in Frankreich.
zu werden, und der Weltkrieg. Der deutsche Beitrag in
Ein Zweites. Die Beitrittsperspektive bleibt. Europa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, in einem
ist für europäische Länder offen, seit die Grenzen offen gemeinsamen Europa als Deutsche dem Frieden in der
sind. Es darf sich keine Methode entwickeln, die da Welt zu dienen. Daran arbeiten wir; das ist wichtig. Das
heißt: Das Boot ist voll. – Das Boot braucht wohl eine ist deutsche Politik in Europa; das ist europäische Politik
neue Steuerung und einen stärkeren Motor, aber wir in Deutschland.
müssen die von uns eingegangenen Verpflichtungen er-
füllen und mit der europäischen Perspektive auch allen (Beifall bei der SPD)
Hoffnungen gerecht werden, die in den Ländern beste-
hen. Gleichzeitig müssen wir deutlich machen – da sind Vizepräsident Wolfgang Thierse:
wir wieder bei der Verfassung –, dass die Aufnahme Kollege Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
weiterer Staaten nur möglich ist, wenn wir eine gemein- Kollegen Dehm? – Das verlängert Ihre Redezeit.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2275
(A) Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Die Wahlen dort waren eine Farce und alle wissen das. (C)
Meine Redezeit war schon zu Ende. Ich hoffe, dass auch die Linken sich davon einmal über-
zeugen lassen.
(Heiterkeit bei der SPD – Zuruf von der FDP:
Dann kriegen Sie neue!) Meine Damen und Herren, die weißrussische Opposi-
tion hat sich nach Kräften bemüht, den Wählern trotz al-
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): ler Behinderungen, Einschüchterungen und Verhaftun-
Ich frage Sie trotzdem sehr gerne, Kollege Schäfer. gen eine echte Alternative zu bieten; doch sie hatte von
Geben Sie mir Recht, dass es keinen Hauch von Natio- Anfang an keine Chance. Ich bewundere den großen
nalismus gibt, wenn man sich auf den heißen konstitutio- Mut und die Zivilcourage der Menschen, die nach die-
nellen Atem unseres Grundgesetzes von 1949 und nicht sem Wahlbetrug in Minsk auf die Straße gingen.
auf den eiskalten Hauch des Neoliberalismus bezieht, in- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
dem man in einer neuen europäischen Verfassung, in ei- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
nem neuen Europa die Sozialbindung des Eigentums
nach Art. 14 – „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch Natürlich werden hier Erinnerungen an die orangene Re-
soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ – volution in der Ukraine wach, wo die Demokratie bei
verankert, statt Neoliberalismus hineinzuwünschen? den Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag letzt-
endlich wieder beeindruckend bestätigt wurde.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Herr Dehm, ich würde Ihnen mal Jetzt geht es darum, das weißrussische Volk, die De-
empfehlen, zu lesen, was da drinsteht!) mokraten dort nicht allein zu lassen. Die Menschen in
Weißrussland haben wahrlich etwas Besseres verdient
als diesen ewiggestrigen Diktator Lukaschenko.
Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
Die europäische Verfassung hat wichtige, zentrale (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
Elemente des Grundgesetzes übernommen. Sie brauchen SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
hier keine Ausrede zu finden, warum Sie zusammen mit SES 90/DIE GRÜNEN)
den französischen Neofaschisten eine Kampagne gegen Ich danke Kollegen Grund, dass er klar ausgespro-
die EU-Verfassung machen. Dafür gibt es keine Ent- chen hat, dass gerade wir Deutschen im wiedervereinig-
schuldigung! ten Deutschland eine besondere Verantwortung haben,
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP demokratische Kräfte in unterdrückten Staaten zu
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) unterstützen. Ich bin froh über die Debatte, die wir heute
hier führen, und über den interfraktionellen Antrag. Das
(B) (D)
sind, glaube ich, ganz wichtige Signale, die zur richtigen
Vizepräsident Wolfgang Thierse:
Zeit aus diesem Hohen Haus kommen. Solche Signale
Ich erteile das Wort Kollegen Harald Leibrecht, FDP- der Unterstützung und der Solidarität werden in Weiß-
Fraktion. russland durchaus gehört, auch wenn es dort nach wie
(Beifall bei der FDP) vor große Unterdrückung und Einschränkungen der
Pressefreiheit gibt.
Harald Leibrecht (FDP): Mit dieser Debatte machen wir Lukaschenko und Co
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das unmissverständlich deutlich, dass wir die Existenz eines
weißrussische Volk hat gewählt; aber eine echte Wahl Unterdrückungsregimes mitten in Europa nicht einfach
war es nicht. Ich danke den Wahlbeobachtern, auch aus hinnehmen. Wir Deutschen, aber auch die anderen euro-
diesem Hohen Haus, die nach Weißrussland gefahren päischen Regierungen müssen jetzt endlich handeln. Wir
sind, sich die Sache dort angeschaut haben und scho- müssen die Demokratiebewegung dort unterstützen, mit
ckiert zurückgekommen sind. Das weißrussische Volk Kontakten, Besuchen und Einladungen, aber natürlich
wurde einmal mehr von Lukaschenko betrogen; das auch mit Geld, Material und Informationen. Wir müssen
müssen wir deutlich und klar aussprechen. auch Sanktionen gegenüber der weißrussischen Nomen-
klatura durchsetzen, also zum Beispiel Konten einfrieren
(Beifall bei der FDP)
oder weitere Reisebeschränkungen für politische Füh-
Der Betrug fing bereits sehr viel früher an, schon bei der rungskräfte aussprechen.
Kandidatenaufstellung, und hat sich durch den ganzen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Wahlkampf gezogen.
der CDU/CSU und der SPD)
Ein Regime wie in Weißrussland, das die Menschen-
Da muss auch Russland mitmachen.
rechte mit Füßen tritt, das seinem eigenen Volk freie
Wahlen abspricht, das friedliche Demonstranten mit Ich bin Frau Kollegin Beck für ihre klaren Worte dank-
Knüppeln niederschlägt und unbequeme Kritiker ohne bar. Wir haben diese oft eingefordert. Aber ich hätte mir
Grund verhaften lässt, muss endlich deutlich und klar diese kritischen Worte im Hinblick auf die demokratische
von der internationalen Völkergemeinschaft in die Entwicklung in Russland, über die wir sehr besorgt sind,
Schranken gewiesen werden. damals von unserem früheren Außenminister Fischer und
dem früheren Bundeskanzler Schröder gewünscht.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD) Danke schön.
2276 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Harald Leibrecht
(A) (Beifall bei der FDP – Markus Löning [FDP]: Europäischen Union deutlich werden, dass der von der (C)
So ist das! – Marieluise Beck [Bremen] Regierungskoalition gewählte Dreiklang – sanieren, re-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie formieren und investieren – auch in der Europäischen
mich demnächst als Außenministerin haben? – Union beherzigt wird. Die Europäische Union darf sich
Gegenrufe von der CDU/CSU: Ja!) nicht von den internen Problemen, vor denen die Mit-
gliedstaaten stehen, abkoppeln. Eine solide Haushaltspo-
Vizepräsident Wolfgang Thierse: litik ist sicher nicht die allein selig machende Politik für
Ich erteile das Wort Kollegen Thomas Silberhorn, mehr Wachstum und Beschäftigung. Aber sie ist unab-
CDU/CSU-Fraktion. dingbar dafür, dass wir auf diesem Weg vorankommen.
Wir müssen deshalb an die Adresse unserer Kollegen
Thomas Silberhorn (CDU/CSU): im Europäischen Parlament deutlich sagen, dass wir er-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und warten, dass auch die Europäische Union spart und eine
Herren! Selten stand eine Bundesregierung in der Au- solide Haushaltspolitik betreibt. Ich möchte in diesem
ßen- und Europapolitik so kurz nach Regierungsantritt Zusammenhang die Bundesregierung ermutigen, an der
vor so gewaltigen und auch drängenden Herausforderun- Ausgabenobergrenze, die beim Europäischen Rat in
gen. Ich glaube, es ist sowohl der Bundeskanzlerin als Brüssel im Dezember vereinbart worden ist, festzuhalten
auch Ihnen, Herr Bundesaußenminister, ausgesprochen und sie nicht neu zu verhandeln. Es gibt genügend
gut gelungen, mit Umsicht, mit Hartnäckigkeit und mit Gelegenheiten für die Kollegen aus dem Europäischen
einigem Geschick diese Herausforderungen anzugehen Parlament, auf der Ausgabenseite Umschichtungen vor-
und zu zeigen, dass Sie Ihr Amt vom ersten Tag an im zunehmen. Ich erinnere daran, dass beim Forschungsrah-
Griff haben. Deswegen möchte ich die Gelegenheit nut- menprogramm 20 Prozent des Haushaltsvolumens für
zen, Ihnen dafür ein herzliches Dankeschön zu sagen. die Verwaltung aufgewandt werden. Bei den Program-
men SOKRATES und LEONARDO sind es etwa 40 Pro-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) zent. Daran erkennt man, dass es in der Tat eine ganze
Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind in Reihe von Punkten gibt, die das Europäische Parlament
der Tat gewaltig. Gestatten Sie mir, dass ich mich hier verändern kann.
auf die europäischen Fragen beschränke.
Vizepräsident Wolfgang Thierse:
Die Europäische Union hat nach der Osterweiterung
und nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages in den Kollege Silberhorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage
Niederlanden und in Frankreich ihren neuen Rhythmus des Kollegen Dehm?
(B) ersichtlich noch nicht gefunden. Ganz im Gegenteil: Wir (Zuruf von der CDU/CSU: Schon wieder? – (D)
müssen feststellen, dass die Heterogenität in den Mit- Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Er
gliedstaaten zugenommen hat. Wir müssen auch feststel- hat es doch schon tausendmal probiert!)
len, dass ganz entgegengesetzte Vorstellungen in der
Ordnungspolitik und bei den integrationspolitischen Zie-
len vorherrschen. Wir müssen erneut folgende Fragen Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
beantworten: Wollen wir in Richtung Liberalisierung Ja, bitte schön.
oder in Richtung eines neuen Wirtschaftspatriotismus
gehen? Wollen wir weiterhin vertiefte Integration oder Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):
wollen wir zurück zu einer gehobenen Freihandelszone?
Nachdem ich die Redezeit des einen Koalitionspart-
Es ist an der Zeit, dass wir gemeinsam unsere Ziele ners verlängert habe, möchte ich das in paritätischer
neu definieren und den Kurs neu bestimmen. Für mich Weise auch für den anderen Koalitionspartner tun.
ist dabei klar: Wir können nicht den Weg zurück in Rich-
tung einer neuen Abschottung gehen. Dieser Weg ist si- Herr Kollege Silberhorn, Sie waren mit uns in Paris.
cherlich nicht dazu geeignet, die vor uns stehenden He- Dieses Treffen hat sowohl in der Rede des Kollegen
rausforderungen zu bewältigen. Wir müssen vielmehr Trittin wie auch vorhin in der Rede des Kollegen Schäfer
weiter nach vorne schauen. Dabei dürfen wir aber nicht eine Rolle gespielt. Als Kollege Schäfer die Nähe zu den
in eine operative Hektik verfallen, solange noch weitge- Neofaschisten aufgemacht hat, hat es ganz gewiss nicht
hend geistige Windstille über den zukünftigen Kurs nur uns, sondern auch einigen anderen den Atem ver-
herrscht. Ich rate uns deswegen, beim Vorwärtsgehen schlagen. Können Sie sich wirklich dem Eindruck an-
nicht so schnell zu laufen, dass wir über die eigenen schließen, dass die Gaullisten, Konservativen, Sozialde-
Füße stolpern, wie das jetzt beim europäischen Verfas- mokraten und andere, also diejenigen Kolleginnen und
sungsvertrag passiert ist. Ich hoffe, dass dies im Hinblick Kollegen aus Frankreich, die mit uns zusammen saßen
auf die Erweiterungsstrategie nicht ein weiteres Mal pas- und über die Parteigrenzen hinweg sagten, der Vertrags-
siert. entwurf der europäischen Verfassung sei gescheitert,
man wolle nicht wieder zurück zu ihm, in irgendeiner
Ein erster denkbarer Schritt ist die Hinwendung zu ei- Nähe zu den Neofaschisten standen? Können Sie sich
ner soliden Finanzpolitik in der Europäischen Union. vorstellen, warum ausgerechnet während der „Non-
Ich möchte dieses Thema im Rahmen dieser Haushalts- Kampagne“, die von Links dominiert wurde, die Akzep-
debatte nur kurz streifen. Das betrifft zwar erst die tanz von Le Pen, also der Neofaschisten, auf ein Drittel
Haushalte ab 2007, aber ich denke, es muss auch in der gesunken ist?
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2277
(A) Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Ich darf dann einige Anmerkungen zum Thema (C)
Herr Kollege Dehm, Sie haben schon vorhin an den Binnenmarkt machen. Ich glaube, dass es sinnvoll ist,
heißen Atem appelliert, den Sie dem Grundgesetz ent- sich in der Zeit, in der wir mit der institutionellen Re-
nehmen wollen. Ich meine, dass anstatt des heißen form nicht wirklich weiterkommen, denjenigen Heraus-
Atems ein kühler Kopf angebracht wäre, damit Sie sich forderungen zuzuwenden, die wir im Binnenmarkt ha-
in den politischen Aussagen, die Sie zum europäischen ben. Mir scheint, dass auf dem Gipfel letzte Woche
Verfassungsvertrag treffen, nicht in einer Linie mit Par- einige Ansätze dazu entwickelt wurden. Es ist dringend
teien am rechten Rand wiederfinden. notwendig, dass wir die Dienstleistungsrichtlinie ver-
abschieden und damit das deutliche Signal setzen, dass
(Markus Löning [FDP]: Das machen die doch wir den Binnenmarkt vollenden wollen. Es ist auch das
in Deutschland ohne Probleme!) Signal erforderlich, dass die Überregulierung, die wir
auf der europäischen Ebene immer wieder spüren, abge-
Ich möchte darauf hinweisen, dass die Kollegen aus baut wird; denn auch das ist ein Wachstumshemmnis. Es
der Assemblée Nationale in Paris den Verfassungsver- ist erfreulich und zu begrüßen, dass wir in der Energie-
trag keineswegs für tot erklärt, uns aber die Problematik politik nun ein europäisches Konzept erarbeiten wollen
geschildert haben, dass sie ihrer Bevölkerung nach dem und im ersten Halbjahr 2007 im Rahmen der deutschen
Scheitern des Referendums nicht ein zweites Mal einen Ratspräsidentschaft die Gelegenheit haben werden, da-
identischen Vertragstext zur Abstimmung vorlegen kön- rüber zu beraten.
nen, weil sich die Abgeordneten aus der Assemblée Na-
tionale natürlich verpflichtet fühlen – das muss man an- Ich meine, wir sind gut beraten, wenn wir mit diesen
erkennen –, vor dem Votum ihrer Wähler Respekt zu Maßnahmen den Wettbewerb aufnehmen und dafür sor-
bezeugen. gen, dass wir uns in Europa so aufstellen, dass wir auch
im Verhältnis zu anderen Regionen dieser Welt, zu den
(Zuruf von der FDP: Das USA, zu Japan und zum asiatischen Raum insgesamt,
ist ja auch richtig so!) tatsächlich wettbewerbsfähig werden. Deswegen ist es
notwendig, dass wir in der Binnenmarktpolitik den Blick
Die Wähler könnten es möglicherweise als einen Affront nicht nur auf die Europäische Union richten, sondern
empfinden, wenn man den Eindruck erweckt, als müsse auch darauf achten, dass wir nach außen hin wettbe-
man die Dinge nur richtig erklären und dann würden die werbsfähig werden.
Menschen beim zweiten Mal schon richtig abstimmen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Das war also keine Absage an den Verfassungsver-
Wenn das gelingt, wenn wir eine neue wirtschaftliche
trag. Sie wissen sehr gut, dass es in Frankreich konkrete
(B) Dynamik und Wettbewerbsfähigkeit im Innern haben, (D)
Vorstellungen gibt, wie man in Bezug auf diesen Vertrag
dann ist es auch möglich, das Vertrauen der Bürger in die
weiter vorgehen könnte. Deswegen wird dieser Vertrag
Europäische Union ein Stück weit zurückzugewinnen.
auch von französischer Seite nicht beerdigt. Aber es
wird nach Möglichkeiten gesucht, wie man weiter vor- Lassen Sie mich zum Thema Erweiterung nur einige
gehen kann. wenige Sätze sagen. Ich glaube, wir müssen sehr vor-
sichtig sein, wenn ausgerechnet die Europaskeptiker den
Ich rate dazu, dass wir uns die Denkpause, die die Eu- Eindruck erwecken, als ginge es ihnen gar nicht schnell
ropäische Kommission vorgeschlagen hat, auch wirklich genug, möglichst viele Staaten in die Europäische Union
zu Herzen nehmen und sie möglicherweise bis Mitte aufzunehmen. Das sollte uns unsererseits skeptisch ma-
2007, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die französischen chen. Wir sollten die Erwartungen an Beitrittskandidaten
Wahlen stattgefunden haben, verlängern. Wir sollten und mögliche künftige Beitrittskandidaten aber nicht so
diese Zeit nutzen, von den hehren Zielen des Wün- hoch setzen, dass die Ziele nicht erreichbar sind. Wir
schenswerten hin zu dem zu kommen, was in der Situa- müssen eine Strategie entwickeln, die berechenbar und
tion, in der wir uns jetzt befinden, tatsächlich machbar in sich schlüssig ist. Dazu gehört, dass wir die Beitritts-
ist. kriterien ernst nehmen und keine politischen Rabatte
gewähren. Es ist eine Frage unserer eigenen Glaubwür-
Wir werden – davon bin ich fest überzeugt – Hand-
digkeit, die Einhaltung der Kriterien, die wir selbst auf-
lungsdruck bekommen, die institutionelle Reform, die
gestellt haben, einzufordern. Die Kriterien müssen er-
mit diesem europäischen Verfassungsvertrag angegan-
füllt werden, bevor es zu einem Beitritt kommt.
gen werden sollte, tatsächlich zu erledigen, denn wir se-
hen, dass wir nach dem Beitritt Bulgariens und Rumäni- Zur Politik der europäischen Erweiterung gehört ein
ens mit dem Vertrag von Nizza nicht weiterkommen. Weiteres: Egal wie weit sich die Europäische Union
Jeder weitere Beitritt setzt zwingend voraus, dass wir die noch ausdehnen wird, es wird immer Staaten geben, die
institutionelle Reform regeln, das heißt, die Europäische jenseits der Außengrenze der Europäischen Union lie-
Union tatsächlich handlungsfähig machen. Meine Emp- gen. Deswegen ist es erforderlich, die Erweiterungsstra-
fehlung dazu wäre, dass wir spätestens den Beitritt, der tegie mit einer Nachbarschaftspolitik zu verbinden, die
nach dem von Bulgarien und Rumänien folgt, als politi- aber etwas differenzierter ausfallen muss, als sie es heute
schen Hebel nutzen, um Druck zu erzeugen, damit wir ist. Dazu gehört, dass wir Modelle entwickeln, die eine
mit der institutionellen Reform – ich füge hinzu: mit all enge Kooperation mit der Europäischen Union unterhalb
dem, was ansonsten im Verfassungsvertrag steht – tat- der Schwelle einer Mitgliedschaft ermöglichen. Dieses
sächlich vorankommen. „Alles oder nichts“ muss durch differenzierte Modelle
2278 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Thomas Silberhorn
(A) der Kooperation gedämpft werden. Dabei müssen wir je- Für die Mehrheit im Hause ist Krieg wieder zu einem (C)
doch nach Staaten und Regionen differenzieren. Denn es Mittel der Politik geworden; für die Minderheit in die-
muss deutlich werden, dass wir nicht denselben Instru- sem Hause darf Krieg kein Mittel der Politik sein.
mentenkasten für jeden Nachbarstaat anwenden können.
(Beifall bei der LINKEN)
Lassen Sie mich zum Schluss einige Bemerkungen Das ist die Grunddifferenz. Zwischen diesen Positionen
über die Rolle des Bundestages in der Europapolitik kann man keine Brücke bauen. Deswegen verstehe ich
machen; das wird uns in den nächsten Wochen noch in- alle, die immer sagen, dass die Außenpolitik der Linken
tensiv beschäftigen. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass es verhindere, regierungsfähig zu werden. Wenn der
wir im Rahmen der Vereinbarung, die wir mit der Bun- Preis für eine Regierungsbeteiligung ist, Ja zu Militär-
desregierung schließen wollen, deutlich machen, dass es einsätzen, Ja zu Krieg zu sagen, dann – das würde ich
eine wirksamere Kontrolle der Bundesregierung durch immer sagen – wollen wir nicht regieren, dann bleiben
den Deutschen Bundestag geben muss, und zwar mit wir Opposition.
dem Ziel, die demokratische Legitimation dessen, was
die Bundesregierung an Rechtsetzung im Rat leistet, zu (Beifall bei der LINKEN)
stärken. Zudem brauchen wir eine höhere Aufmerksam- Wenn man das akzeptiert – Sie können sich noch ver-
keit der deutschen Öffentlichkeit für das, was wir auf eu- ändern! –, muss man sich im Weiteren die Frage stellen,
ropäischer Ebene tun. Das Forum für diese öffentliche wo die strategischen Differenzen liegen. Ich möchte hier
Aufmerksamkeit ist der Deutsche Bundestag. Deswe- ein paar Dinge aussprechen, die in diesem Hause norma-
gen glaube ich, dass wir Abgeordnete einen ganz spezifi- lerweise nicht so ausgesprochen werden. Die Mehrheit
schen Beitrag dazu leisten können, mehr Transparenz hier im Hause – vier Fraktionen – wollen das Verhältnis
und mehr demokratische Legitimation der europäischen zu den USA enger bzw. wieder enger gestalten. Ich
Rechtsetzung zu erreichen und damit auch eine höhere möchte – das soll hier ausgesprochen werden –, dass
Akzeptanz der Europapolitik in unserer Öffentlichkeit. sich Deutschland und Europa von der imperialen Politik
der USA abkoppeln.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Beifall bei der LINKEN)
Das setzt voraus, dass wir als Bundestag mitgestalten
und damit Mitverantwortung übernehmen für das, was Das muss man aktiv betreiben. Das ist Gegenstand einer
Deutschland im Rahmen der Europapolitik in Brüssel selbstständigen, einer souveränen und dann auch gegen
mitberät und mitentscheidet. Krieg gerichteten Politik.
Erika Steinbach
(A) wollen wir auch ein versöhntes Europa, ein Europa, in andererseits – eigentlich zwei konträre Dinge – als Aus- (C)
dem die vielen Völker nach den Verwerfungen zweier gangspunkte am Ende zum selben Ergebnis führen: Die
Weltkriege dauerhaft friedlich miteinander leben kön- deutsche Außenpolitik muss Menschenrechte einbezie-
nen. Davon ist die deutsche Außenpolitik geprägt. hen.
So wie in Deutschland noch heute Millionen von Der Menschenrechtsausschuss begleitet die deutsche
Menschen mit ihren Traumata und ihren unverarbeiteten Außenpolitik intensiv und aufmerksam. Mit der großen
Kriegs- und Nachkriegserfahrungen leben, gibt es auch Koalition gibt es wieder eine Menschenrechtspolitik, die
in unseren Nachbarländern millionenfache Empfindlich- diesen Namen wirklich verdient. Denn es reicht nicht,
keiten und Schmerzen, die ihre Ursache in der Vergan- Geld zur Verfügung zu stellen. Menschenrechtsverlet-
genheit haben. Davon blieb und bleibt insbesondere die zungen müssen in Gesprächen mit anderen Regierungen
deutsche Europapolitik bis heute nicht unberührt. Sie ist angesprochen werden. Es dürfen nicht einfach Persil-
vielmehr von dem Bestreben geleitet, das aufzuarbeiten. scheine ausgestellt werden. Putin ist eben kein lupenrei-
ner Demokrat, wie der verflossene Bundeskanzler
Nahezu jede Begegnung mit mittel- und osteuropäi- meinte, feststellen zu müssen.
schen Staatschefs ist von diesen Erfahrungen geprägt.
Aber auch in den Begegnungen zwischen einzelnen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
Menschen, die glücklicherweise tagtäglich tausendfach wie des Abg. Harald Leibrecht [FDP])
stattfinden, wird dem Rechnung getragen. Auf diesem
Ich begrüße sehr, dass Bundesaußenminister
Feld brauchen wir eine sensible Politik, die einen Aus-
Steinmeier und Bundeskanzlerin Merkel Menschen-
gleich zwischen Innen- und Außenpolitik findet, die die
rechtsdefizite in ihren bilateralen Gesprächen nicht mit
Menschen in ihrer Würde und ihre Menschenrechte nicht
einem Mantel falsch verstandener Rücksichtnahme be-
verletzt, sondern von dem Grundsatz, dass Menschen-
decken, sondern den Finger in die Wunde legen und un-
rechte unteilbar sind, geleitet ist.
ser eigenes Wertefundament damit deutlich machen. Es
Wir brauchen und wollen mit unseren weltweiten war ein bedeutsames Zeichen der Bundeskanzlerin, bei
Kontakten eine Frieden stiftende und Demokratie för- ihrem Antrittsbesuch in Russland ein intensives Ge-
dernde globale Außenpolitik. Die Grundlagen jedweder spräch mit den Vertretern von Menschenrechtsgruppen
Demokratie sind doch garantierte und gelebte Men- zu führen. Hier hat wirklich ein Paradigmenwechsel in
schenrechte. Sie dürfen nicht nur auf dem Papier stehen der deutschen Außenpolitik stattgefunden, der unter-
– Papier ist geduldig –, sondern das, was in den Verfas- drückten Menschen hilft und ihnen ein wenig das Gefühl
sungen der Länder steht, muss mit Leben erfüllt sein. der Verlorenheit nimmt.
Wir hören aber: Was geht uns Afrika an? Was geht Ich bin mir sicher, dass bei dem anstehenden Besuch
(B) (D)
uns Afghanistan an? Was kümmert uns Tschetschenien? der Bundeskanzlerin in China nicht über die gravieren-
Was kümmern uns Belarus, Kuba oder China? Diese den Defizite geschwiegen wird, die China vorzuweisen
Fragen begegnen allen Politikern dieses Hauses tagtäg- hat, sondern dass die Menschenrechtsdefizite dort ange-
lich. Wir müssen eines deutlich machen: In einer globali- sprochen werden, zum Beispiel die Laogai-Lager, die
sierten, in einer klein gewordenen Welt geht uns das alle von einer elementaren Menschenrechtsfeindlichkeit
etwas an. Wir alle müssen uns darum kümmern; denn sind.
das Fehlen von elementaren Menschenrechten und Le- Der heutige Tag hat eines deutlich gemacht: Die men-
bensmöglichkeiten in anderen Ländern führt zu Wande- schenrechtspolitischen Themen werden in der Außenpo-
rungsbewegungen und zu Verwerfungen, die früher oder litik Deutschlands heute wirksamer vertreten als zuvor.
später bis nach Deutschland reichen. Das können und Das ist gut so.
müssen wir den Menschen im Lande erklären und deut-
lich machen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Nein, das ist Quatsch!)
Eine engagierte Menschenrechtspolitik hat eine dop-
pelte Wirkung: Die Bundeskanzlerin und der Außenminister haben das
beide deutlich gemacht. Ich danke Ihnen, Herr Außenmi-
Erstens die Wirkung – das stelle ich bewusst an den nister Steinmeier. Ich begrüße das nachdrücklich und
Anfang, weil es mir am Herzen liegt –, dass sie geschun- sage nur eines: Weiter so!
denen, unterdrückten und missbrauchten Menschen in
den Ländern hilft, mit denen wir Handel und Wandel (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
treiben. Hier haben wir die Verantwortung, nicht nur neten der SPD)
Geschäfte zu machen, sondern auch zu schauen, unter
welchen Bedingungen die Menschen in diesen Ländern Vizepräsident Wolfgang Thierse:
leben, unter welchen Bedingungen diese Geschäfte am Ich erteile das Wort Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion.
Ende ablaufen und ob die Menschen, mit denen wir han-
deln, ein menschenwürdiges Dasein haben.
Uta Zapf (SPD):
Zweitens – das ist für eine stabile Innenpolitik im Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
eigenen Lande wesentlich – dämmt eine menschen- glaube, über die Frage, wer den Wettbewerb in Sachen
rechtsorientierte Außenpolitik millionenfache Wande- Menschenrechte gewinnt, sollten wir uns vielleicht ein
rungsbewegungen nach Deutschland ein. So können wir anderes Mal unterhalten, wenn wir etwas mehr Zeit da-
feststellen, dass Humanismus einerseits und Egoismus für haben.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2281
Uta Zapf
(A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Ich danke Außenminister Steinmeier von Herzen, (C)
Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) dass er so schnell eine sehr deutliche Stellungnahme zu
den Vorgängen auf dem Oktoberplatz und zu den Wahlen
Wir haben heute schon, weil fast alle Redner Belarus abgegeben hat.
erwähnt haben, sehr viel über Menschenrechte gespro-
chen. Die letzten freien und fairen Wahlen in Belarus ha- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
ben 1994 stattgefunden. Damals wurde Lukaschenko bei Abgeordneten der FDP und des BÜND-
zum Präsidenten gewählt; übrigens war er Herausforde- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
rer eines amtierenden Präsidenten. Seitdem hat es keine Ich bin besonders dankbar, dass Herr Steinmeier den
freien und fairen Wahlen mehr gegeben. Ich habe dies- Kontakt zu seinem russischen Kollegen Lawrow aufge-
mal mit fünf Kollegen und Kolleginnen dieses Hauses nommen und mit ihm über die Situation in Belarus ge-
die Wahlen beobachtet. Wir sind alle zum selben Ergeb- sprochen hat. Danach haben beide erklärt, auch weiter-
nis gekommen. hin die dortigen Vorgänge zu beobachten. Diesen Ansatz
müssen wir wählen. Wie bereits mehrfach erwähnt
Dies war bereits die dritte Wahl, die ich in Belarus be- wurde, führt der Weg über Russland.
obachtet habe. Sie wissen ja, dass ich mich seit über
zehn Jahren sehr intensiv mit diesem Land beschäftige. Lukaschenko hat, wie ich gestern der Presse entnom-
Man kann nicht sagen, dass eine dieser Wahlen frei und men habe, die „tollen“ Polizisten gelobt, die dort abge-
fair gewesen ist. Allerdings kann man sagen, dass es bei räumt haben. Er hat sie „tolle Kerle“ genannt, die ein-
all diesen Wahlen überhaupt nicht notwendig gewesen zelne Zwischenfälle schnell und genau geregelt und alles
wäre, Manipulationen vorzunehmen und Repressionen wieder in Ordnung gebracht hätten. „In Ordnung ge-
auszuüben, weil Lukaschenko – das ist Ironie und Tragik bracht“ heißt, dass im Moment Hunderte friedlicher De-
zugleich – vermutlich bei allen drei Wahlen zwar nicht monstranten – manche sprechen von bis zu 1 000 – im
das prozentuale Ergebnis erreicht hätte, das er erreicht Gefängnis sitzen. Dort werden sie unter Umständen
zu haben vorgibt, dass er aber doch eine Mehrheit des misshandelt; davon haben wir schon gehört. Ich weiß,
Volkes hinter sich gehabt hätte. Auch Herr Grund hat dass auch Freunde von mir darunter sind. Zum jetzigen
darauf schon hingewiesen. Zeitpunkt wissen wir nicht, wo sie sich befinden.
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2001 hat Rund 200 Personen sind bereits verurteilt worden, je-
die OSZE in ihrem Wahlbeobachtungsbericht festge- weils zu zehn bis 15 Tagen Gefängnis; das ist dort das
stellt, dass es in diesem Land eine sehr lebendige, sehr übliche Strafmaß. 42 Journalisten sitzen im Knast, zwölf
gute und sehr intensive zivile Gesellschaft gibt. Es gibt von ihnen sind aus dem Ausland. Von vielen fehlt ein
Lebenszeichen. Kosulin ist wegen Hooliganismus ver-
(B) sie immer noch. Aber seit 2001 beobachten wir, dass die (D)
Repressionen gegen diese zivile Gesellschaft von Jahr zu haftet worden. Das ist eine „schöne Sache“; aber nun
Jahr zunehmen. Es wird versucht, die freie Presse und droht ihm unter Umständen eine Anklage wegen Terro-
die politische Opposition mundtot zu machen, und die rismus. Milinkewitsch ist zwar noch in Freiheit; aber
Einhaltung der Menschenrechte gestaltet sich immer wir wissen nicht, was noch geschieht.
problematischer. Ich bin froh, dass er nach Wien, nach Oslo und im
April zum Außenministertreffen nach Luxemburg einge-
Je stärker die Opposition wurde – sie hat sich zusam- laden worden ist;
mengefunden und sich geeinigt; sie hat ihren Wahlkampf
auf demokratische Weise geführt –, je stärker sich die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Zivilgesellschaft zu Wort gemeldet hat, desto brutaler ist der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS-
die Repression geworden, mit dem Ziel, den Menschen SES 90/DIE GRÜNEN)
Angst zu machen. Wir alle, die wir diese Wahl beobach- denn das wird dazu beitragen, dass man in Belarus
tet haben, waren am letzten Sonntag auf dem Platz, auf merkt, dass wir ein Auge auf die dortigen Geschehnisse
dem die Demonstrationen stattgefunden haben. Dort ha- haben. Wir wollen ihn schützen. Wir wollen
ben wir die Menschen gesehen und in ihre Gesichter ge- Lukaschenko nicht stürzen. Wir wollen Milinkewitsch
schaut. So wir ihrer Sprache mächtig waren – ich hatte nicht als Präsidenten etablieren. Aber wir wollen zeigen,
das Glück, einen Dolmetscher dabei zu haben –, haben dass wir die Einhaltung der demokratischen Werte, zu
wir auch mit ihnen reden können. denen sich auch Lukaschenko bekannt hat, einfordern:
der Redefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Medien-
Man konnte gegenüber früheren Wahlen deutlich spü-
freiheit, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte und
ren, dass sie sich nun getraut haben, in Mengen auf die
des Rechts auf Opposition, also des Rechts, anderer Mei-
Straße zu gehen.
nung als Lukaschenko zu sein. Dafür ist Milinkewitsch
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ein Symbol. Deshalb ist er als Person so wichtig.
der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
SES 90/DIE GRÜNEN) der CDU/CSU und der FDP)
Sie haben ihre Angst verloren, weil der Druck so stark Es ist vieles über Dialog und über Sanktionen gesagt
ist, dass sie ihn nicht mehr ertragen können. Anschlie- worden. Bei allem Ärger und bei aller Wut, die uns ange-
ßend sahen sie sich natürlich enormen Repressionen sichts dessen, was dort passiert ist, erfüllen, müssen wir
durch die Polizei ausgesetzt. dennoch den Dialog weiterführen.
2282 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Uta Zapf
(A) (Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU] (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C)
sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE
obwohl wir den Europäischen Menschenrechtsgerichts-
LINKE])
hof haben, der seinesgleichen in der Welt sucht und der
Wir haben früher eine Politik der Sticks and Carrots be- eine unglaubliche Wirkung entfaltet. Leider ist der Kol-
trieben. Aber sie essen die Karotten nicht und wir haben lege Bindig nicht mehr in diesem Hause. Er hat ausrei-
auch nicht so viele Stöcke. Deshalb müssen wir über chend in Monitoringverfahren und in sonstigen Verfah-
eine ausgewogene Politik nachdenken; denn ohne Dia- ren bei Menschenrechtsinstitutionen mitgewirkt. Wir
log wird es uns von außen nicht gelingen, diejenigen in brauchen keine Duplizität. Ich weiß nicht, was eine euro-
der Administration, die Demokratie wollen, auf den Weg päische Menschenrechtsagentur wem gegenüber vermit-
in eine bessere Zukunft für Belarus mitzunehmen. Auf teln soll. Denn alle Mitglieder der Europäischen Union
diesem Weg wollen wir Belarus begleiten und wollen wahren nach meiner Beobachtung die Menschenrechte,
unsere Freunde, die heute schon so mutig sind, schützen. sonst wären sie auch nicht aufgenommen worden.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Im Europarat sitzen zum Beispiel die Länder Russ-
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) land – darüber ist eben schon gesprochen worden –,
Aserbaidschan und Georgien. Diese Länder befinden
sich in Bezug auf diese Fragen noch in der Entwicklung,
Vizepräsident Wolfgang Thierse:
einer Entwicklung, die von den anderen Mitgliedstaaten
Ich erteile das Wort Kollegen Joachim Hörster, CDU/ des Europarates befördert werden kann. Das tut den
CSU-Fraktion. Menschen in diesen Ländern gut, aber auch uns; denn je
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) demokratischer die Länder in unserem Umfeld sind,
umso sicherer können wir uns fühlen.
Joachim Hörster (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])
der 17. und letzte Redner in dieser Debatte. Ich richte also die Bitte an die Bundesregierung, im Rah-
(Ute Kumpf [SPD]: Haben Sie richtig gezählt? – men ihrer Möglichkeiten zu prüfen, ob die Schaffung ei-
Walter Kolbow [SPD]: Und willkommen!) ner Menschenrechtsagentur wirklich zu den Prioritäten
der Europäischen Union gehören sollte.
Ich habe mir also die Frage gestellt, welche Punkte ich
noch vortragen kann, die noch nicht erörtert worden Weil der Herr Bundesaußenminister so freundlich
sind. Es gibt tatsächlich einige. Deshalb will ich die war, am Schluss seiner Rede ein Plädoyer für die aus-
(B) Möglichkeit nutzen und sie im Folgenden konkretisie- wärtige Kultur- und Bildungspolitik zu halten – ich (D)
ren. stimme völlig mit ihm überein – und die auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik als kulturelle Grunddi-
Wir haben im Zusammenhang mit der Entwicklung in mension der deutschen Außenpolitik zu bezeichnen, will
Weißrussland eine sehr intensive Debatte über Men- ich anmerken, dass wir versuchen müssen, die auswär-
schenrechte geführt. Damit beschäftigt sich auch die tige Kultur- und Bildungspolitik in der praktischen Poli-
Parlamentarische Versammlung des Europarates, die tik – je mehr, umso besser – tatsächlich auch zu instru-
keine unbedeutende Einrichtung ist, die aber in diesem mentalisieren und entsprechend einzusetzen; denn es
Hohen Hause weitestgehend unbeachtet bleibt. Ihre wird ja immer davon gesprochen, dass die auswärtige
Chancen werden nach meinem Dafürhalten nur sehr un- Kultur- und Bildungspolitik die dritte Säule der deut-
zureichend genutzt. schen Außenpolitik sei.
In der Parlamentarischen Versammlung des Europa- Ich glaube, wenn das so ist, dann können wir es auf
rates sind Parlamentarier aus 46 Ländern versammelt; Dauer nicht dabei bewenden lassen, dass die Mittler-
25 Länder von ihnen gehören der Europäischen Union organisationen – das Goethe-Institut, der Deutsche Aka-
an. Die meisten der anderen Länder haben aller Voraus- demische Austauschdienst, das ifa, die deutschen
sicht nach nie eine Chance, Mitglied der Europäischen Auslandsschulen usw. – diese Aufgaben wahrnehmen,
Union zu werden. Das wäre im Übrigen weder für diese sondern dann müssen wir sie bündeln und in den Regio-
Länder noch für die Europäische Union gut. Gleichwohl nen der Welt zielgerichtet einsetzen, in denen es für uns
könnte der Europarat helfen, dass sich diese Länder, die von größtem Interesse ist. Das betrifft auch den Wissen-
Nachbarstaaten der Europäischen Union sind, an die schaftsaustausch und den Bildungsaustausch.
Standards annähern, die wir zum Beispiel auf dem Ge-
biet der Menschenrechte oder durch die Europäische So- Ich will ein praktisches Beispiel nennen. Ich habe
zialcharta haben. Deswegen wäre es sinnvoll, den Euro- heute Morgen in einer Sitzung des Unterausschusses
parat in der deutschen Außenpolitik stärker und Auswärtige Kulturpolitik des Auswärtigen Ausschusses
intensiver wahrzunehmen und für diese Möglichkeiten gehört, dass in Syrien eine deutsche Schule errichtet
zu nutzen. wird. Die syrischen Absolventen deutscher Universitä-
ten machen ungefähr 24 Prozent der dortigen Hoch-
In diesem Zusammenhang halte ich es für ziemlich schullehrer aus. Das hängt noch mit unserer Vergangen-
kontraproduktiv, dass die Europäische Union darüber heit aus der Zeit der Teilung zusammen. Das sind Leute,
nachdenkt, in Wien eine Menschenrechtsagentur ein- die unserem Kulturkreis gegenüber aufgeschlossen sind.
zurichten, Es macht keinen Sinn, dass wir dort eine entsprechende
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2283
Joachim Hörster
(A) Vereinigung haben, während wir gleichzeitig beim datinnen und Soldaten leisten dort einen hervorragenden (C)
Goethe-Institut Stellen abbauen. Einsatz. Ich möchte ihnen an dieser Stelle für den ge-
fährlichen Einsatz danken, den sie im Interesse unserer
In der arabischen Region gibt es ein Defizit in der Bil-
Sicherheit leisten.
dung und beim Zugang zu Informationen und die
Analphabetenrate ist besonders bei Frauen hoch. Des- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
halb bin ich der Auffassung, dass wir, wenn wir die deut- FDP sowie des Abg. Winfried Nachtwei
sche auswärtige Kulturpolitik zielgerichteter einsetzen, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
mithelfen können, diese Zustände dort abzubauen; denn
Bildung, Wissen und Kenntnisse sind die besten Mittel Herr Lafontaine hat heute Morgen behauptet, unsere
gegen Fundamentalismus und gegen Risiken, die uns Soldatinnen und Soldaten seien in Afghanistan an terro-
von dort drohen. ristischen Aktivitäten beteiligt. Ich halte eine solche Un-
terstellung für unsere Soldatinnen und Soldaten für gera-
In diesem Sinne wäre ich dankbar, wenn der auswärti- dezu ehrabschneidend und beleidigend und weise diese
gen Kulturpolitik die entsprechende Aufmerksamkeit Behauptung mit Nachdruck zurück. Sie leisten einen
gewidmet würde und die Bereitschaft bestünde, im Rah- Friedensdienst.
men der bestehenden Strukturen – vielleicht mit kleinen
Änderungen – die Voraussetzungen dafür zu schaffen, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
dass die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik operativ und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
begleitend neben den anderen außenpolitischen Maßnah- Ich bin dafür dankbar, dass die Auslandszulage der
men eingesetzt werden kann. Soldatinnen und Soldaten steuerfrei bleibt und diese Dis-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und kussion hier nicht fortgesetzt worden ist. Es ist ein Un-
der FDP) terschied, in einem Büro in Brüssel zu arbeiten oder in
Kabul in einem gefährlichen Einsatz für unser Land zu
Herr Präsident, ich schenke den Kollegen, die hier an- sein. Ich bin der Auffassung: Unsere Soldatinnen und
wesend sind, 30 Sekunden und bedanke mich für die Soldaten haben diese steuerfreie Auslandszulage ver-
Aufmerksamkeit. dient.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
FDP) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Vizepräsident Wolfgang Thierse:
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Mit diesem Haushaltsentwurf schaffen wir die Grund-
(B) lage dafür, den Transformationsprozess der Bundeswehr (D)
Wir kommen damit zur Abstimmung über den Antrag fortzusetzen. Dabei füge ich hinzu: Unsere internatio-
der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und nalen Verpflichtungen sind groß. Das gilt für unsere
des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Belarus Verpflichtungen im Zusammenhang mit den Vereinten
nach den Präsidentschaftswahlen“. Wer stimmt für den Nationen und der NATO, aber auch für unsere Verpflich-
Antrag auf Drucksache 16/1077? – Wer stimmt dage- tungen im Zusammenhang mit der Europäischen Union.
gen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stim- Im Hinblick auf den Einsatz zur Gewährleistung eines
men der Antrag stellenden Fraktionen bei Enthaltung der demokratischen Prozesses im Kongo, der notwendig ist,
Fraktion Die Linke angenommen. diskutieren wir über diese Verpflichtungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt Ich will hier nur noch folgende Bemerkung machen,
zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der um die Debatte von vorhin nicht zu verlängern. Es
Verteidigung, Einzelplan 14. Ich erteile dem Bundes- stimmt schon: Bisher sind im Kongo 4 500 Polizisten
minister der Verteidigung, Franz Josef Jung, das Wort. ausgebildet worden, die selbstverständlich einen Beitrag
zur Gewährleistung der Sicherheit leisten. Aber es ist der
Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi- Wunsch der Vereinten Nationen und es entspringt ihrer
gung: Lagebeurteilung, dass es zur Absicherung dieses demo-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und kratischen Prozesses eines Engagements der Europäi-
Herren! Wenn die Bundeswehr ihre hervorragende Ar- schen Union bedarf. In diesem Sinne sollten wir die Sta-
beit für die Sicherheit Deutschlands positiv fortsetzen bilisierung und die demokratische Entwicklung dort
soll, dann braucht sie dafür die notwendige finanzielle positiv unterstützen und unseren Beitrag leisten.
Grundlage. Deshalb bin ich froh und dankbar, dass es bei
Wir sind mittlerweile der größte Truppensteller für
den Beratungen des Haushalts 2006 gelungen ist, eine
die von der NATO geführten Operationen; es sind rund
Stabilisierung zu erreichen und den Abwärtstrend zu
5 000. Wir leisten den größten Beitrag im Zusammen-
stoppen, weil dies zur Erledigung der Aufgaben der
hang mit den europäischen Missionen. In Bosnien-Her-
Bundeswehr notwendig ist.
zegowina sind rund 1 000 deutsche Soldatinnen und Sol-
Gerade im Hinblick auf die Auslandseinsätze – sei es daten im Einsatz. Ich will vor diesem Haus sagen, dass
der auf dem Balkan, der am Horn von Afrika oder der in wir auch Verantwortung und Verpflichtung für die
Afghanistan – brauchen wir die notwendige finanzielle schnelle Einsatztruppe haben. Es ist in der Bevölkerung
Unterstützung auch für den Schutz und die Ausbildung nicht jedem bekannt, dass wir im zweiten Halbjahr bei
unserer Soldatinnen und Soldaten. Ich finde, unsere Sol- der NATO-Response-Force, der schnellen Einsatztruppe
2284 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Vizepräsident Wolfgang Thierse:
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich erteile das Wort Kollegin Elke Hoff, FDP-Frak-
tion.
(B) Wir sind dabei, ein Weißbuch zur sicherheitspoliti- (D)
schen und strategischen Standortbestimmung der Bun- (Beifall bei der FDP)
deswehr zu erarbeiten. Das ist richtig und gut. Seit 1994
gibt es ein solches Weißbuch nicht mehr. Die letzte Re- Elke Hoff (FDP):
gierung hat diesbezüglich auch keine Kabinettsbe- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
schlüsse gefasst. Es gibt nur die Verteidigungspoliti- Kollegen! Herr Minister Jung, Sie haben in sehr ein-
schen Richtlinien. Ich finde aber, die Sicherheit unseres drucksvollen Worten die vielfältige Aufgabenstellung
Landes ist so wichtig, dass sie nicht nur Angelegenheit und Zielsetzung dargelegt, die die Bundeswehr erfüllen
eines einzelnen Ministers sein darf, sondern Angelegen- soll. Aber der Blick auf den Verteidigungshaushalt lässt
heit der gesamten Bundesregierung sein muss. Deswe- an der einen oder anderen Stelle erhebliche Zweifel auf-
gen werden wir das Weißbuch im Bundeskabinett verab- kommen.
schieden.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD) Als Ausdruck all Ihrer hehren Zielsetzungen legen
Sie heute den Verteidigungshaushalt für das Jahr 2006
Die Bundeswehr leistet mit ihren Investitionen einen vor. Ihn kann man aber nur als Übergangshaushalt be-
erheblichen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung. zeichnen. Er orientiert sich nämlich weitgehend an der
Im Jahreswirtschaftsbericht sind 6 Milliarden Euro In- bisherigen Bundeswehrplanung. Bei seiner Verabschie-
vestitionen durch die Bundeswehr vorgesehen, und zwar dung wird das Haushaltsjahr zur Hälfte vergangen sein
in verschiedensten Bereichen, vom Satellitenkommuni- und die finanzpolitischen Grausamkeiten werden erst im
kationssystem über den Eurofighter, Hubschrauber, Fre- Jahr 2007 über den Einzelplan 14 hereinbrechen.
gatten, das Luftverteidigungssystem bis hin zu Trans-
portfahrzeugen. Ich will nicht alles aufführen, aber eines Der Transformationsprozess, den Sie eben ange-
sage ich Ihnen: Wir sind es unseren Soldaten schuldig, sprochen haben, Herr Minister, bleibt aber nicht stehen.
ihnen eine optimale Ausrüstung für ihre gefährlichen Aus diesem Grund wird auch dieser Haushalt den Anfor-
Einsätze im Ausland zu geben. Deshalb ist es notwendig, derungen nicht gerecht.
die Investitionen in diesem Bereich weiter voranzutrei- (Beifall bei der FDP)
ben.
Der investive Anteil ist mit 25 Prozent erneut viel zu ge-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ring veranschlagt. Ein investiver Anteil von annähernd
neten der SPD und der FDP – Alexander 30 Prozent ist für die Aufgaben einer Armee im Einsatz,
2286 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Elke Hoff
(A) die sich nach dem Willen der Bundesregierung darüber (Zuruf von der CDU/CSU: Nicht so bissig!) (C)
hinaus verstärkt um den Heimat- und Katastrophen-
schutz kümmern soll, unerlässlich. Bis zum Jahr 2011 Die Risiken dieses Haushaltsentwurfs sind allerdings
wird die Unterdeckung bei den Rüstungsinvestitionen bereits vorgezeichnet: Die geplante Anhebung der Mehr-
auf mehr als 6 Milliarden Euro anwachsen. Dass dies wertsteuer um 3 Prozent im nächsten Jahr wird in den
unmittelbare Auswirkungen auf unsere Rüstungsindus- Verteidigungsetat ein Loch von annähernd 300 Millio-
trie und die damit verbundenen Arbeitsplätze haben nen Euro reißen.
wird, steht außer Zweifel. Die notwendige deutliche An- (Zuruf von der FDP: Aha!)
hebung im investiven Bereich wird nur durch eine wei-
tere Absenkung der Betriebs- und Personalkosten mög- Dazu kommen globale Minderausgaben; Preisstandan-
lich sein. Ich kann an dieser Stelle aber wenig passungen; die angekündigte, aber im Haushalt nicht
Entschlossenheit zur Eröffnung neuer Spielräume erken- vorgesehene Erhöhung der Zahl der Wehrpflichtigen und
nen, zum Beispiel indem Dienstleistungen wie das Tra- und und.
velmanagement der Bundeswehr, Teile der Ausbildung,
der Personalgewinnung und vieles mehr konsequent pri- Dies alles lässt nach heutigem Ermessen die dringend
vatisiert werden. benötigte Anhebung des Investitionsanteils in weite
Ferne rücken, und das, obwohl wir Europäer von unse-
(Beifall bei der FDP) ren amerikanischen Partnern immer wieder darauf hin-
gewiesen wurden, dass unsere Verteidigungsetats chro-
Wie Sie, Herr Minister, bei den bestehenden Rahmenbe- nisch unterfinanziert seien. Der kürzlich erschienene
dingungen das ehrgeizige Ziel erreichen wollen, die Zahl „Quadrennial Defense Review“ des Pentagon kommt zu
der zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr von heute dem Ergebnis, dass wir Europäer aufgrund fehlender Fä-
100 000 auf 75 000 abzusenken, steht in den Sternen. higkeiten nur noch für Stabilisierungsmissionen gefragt
(Beifall bei der FDP) seien, aber nicht mehr für Einsätze mit hoher Intensität.
Schon jetzt ist feststellbar, dass vieles, was unsere Solda-
Der Transformationsprozess lebt unbestritten zu ei- tinnen und Soldaten für ihre aktuellen und zukünftigen
nem erheblichen Teil von der Einsicht in seine Notwen- Einsätze zwingend benötigen, nicht beschafft wird, und
digkeit, er lebt aber auch von sicheren finanzpolitischen wenn, dann nicht in der vereinbarten Stückzahl.
Rahmenbedingungen. An dieser Stelle möchte ich mich
daher ausdrücklich bei allen Soldatinnen und Soldaten Fast die Hälfte der Mittel für die militärische Be-
der Bundeswehr bedanken, die diesen unsicheren Pro- schaffung entfallen auf Fluggeräte, die nicht nur im An-
zess bisher so bravourös begleitet und gemeistert haben. kauf, sondern vor allem bei der Materialerhaltung, beim
(B) Betrieb und in der Ausbildung wesentlich mehr Mittel (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten verschlingen werden als die bisherigen Geräte. Bei der
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Ausstattung unserer Soldatinnen und Soldaten – dies ha-
Abg. Hans Raidel [CDU/CSU]) ben Sie zu Recht betont, Herr Minister Jung – muss je-
Herr Minister, außerdem möchte ich noch sagen, dass doch der Schutz im Einsatz oberste Priorität haben. Be-
ich wenig Verständnis dafür habe, dass sich der Gesamt- schaffungsmaßnahmen, die für den tatsächlichen Einsatz
personalumfang der Bundeswehr seit 1989 halbiert hat, notwendig sind und sich zudem aus der neuen Aufga-
während die Zahl der Spitzendienstgrade – der Besol- benstruktur ergeben, beispielsweise der Unterstützungs-
dungsgruppe B 3 und höher – seither lediglich um hubschrauber Tiger, das Allschutztransportfahrzeug
11 Prozent reduziert wurde. Gerade Streitkräfte mit ho- Dingo, der neue Schützenpanzer Puma oder auch der
hen Belastungen brauchen im Verhältnis mehr und bes- Spähpanzer Fennek, sind deshalb unumgänglich.
ser bezahlte Indianer als zu viele hoch dotierte Häupt- (Beifall bei der FDP)
linge.
Sie müssen in ausreichender Anzahl sowohl für den Ein-
(Jürgen Koppelin [FDP]: Ein Staatssekretär satz als auch für eine qualifizierte Ausbildung beschafft
weniger wäre auch gut gewesen!) werden. Wenn die Soldaten erst im Einsatz lernen, mit
– Auch das wäre eine Lösung gewesen. neuem und technisch hochwertigstem Gerät umzugehen,
darf man sich später nicht wundern, wenn daraus entste-
Herr Minister, Sie haben am 8. März in einer Presse- hende Bedienungsfehler das teure Material beschädigen.
meldung der dpa angekündigt, noch in diesem Jahr – ich
betone: noch in diesem Jahr – 4 000 zusätzliche Stellen Alle Beschaffungsmaßnahmen gehören erneut auf
für Wehrpflichtige zu schaffen. Offenbar ist diese Mel- den Prüfstand.
dung Ihren Haushältern entgangen; denn gegenüber dem (Beifall bei der FDP)
Stellenansatz für das Jahr 2005 mit 38 000 Grundwehr-
dienstleistenden finden sich im aktuellen Entwurf gerade Wenn das Heer 60 Prozent aller Eingreifkräfte und mehr
einmal 32 000 wieder – auf den ersten Blick ein Minus als die Hälfte aller Stabilisierungskräfte stellt, benötigen
von 6 000 Stellen. Aber wie wir ja auch bei der Mehr- wir dann für die zukünftigen Einsätze der Bundeswehr
wertsteuererhöhung gelernt haben, ist zwei plus nicht in wirklich 180 Eurofighter und den A400M in der Stück-
jedem Fall ein Mehr. Vielleicht kommen wir im Laufe zahl von 60? Wird MEADS tatsächlich den Schutz ge-
der Debatte auch in diesem Bereich des Haushalts zu be- währleisten, der den Bedrohungen unseres Landes und
lastbaren Zahlen. unserer Streitkräfte entspricht? Vor allem: Führt der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2287
Elke Hoff
(A) finanzielle Aufwand auch zu einem zusätzlichen Gewinn Eine „bestimmte Finanzsituation“ – so ist das auch (C)
von Fähigkeiten? heute.
Durch weitere Privatisierungen gibt es noch eine Doch diskutieren wir hier nicht über einen aus der
Vielzahl von Möglichkeiten, die ausufernden Betriebs- blanken Not geborenen Sparhaushalt. Was uns vorliegt,
kosten des Unternehmens Bundeswehr in den Griff zu ist eine gute Grundlage, die Transformation der Bun-
bekommen. Die Bundesregierung muss daher endlich deswehr konsequent weiterzuführen. Der Haushalt 2006
definieren, was die Kernaufgaben der Bundeswehr sind, ist ein Dokument der Transformation. Transformation
sodass wir den Umbau der Bereiche, in denen Privatisie- heißt, Strukturen, Ausbildung und Ausrüstung der Streit-
rungen einen Sinn ergeben, weiter und schneller voran- kräfte den geänderten Erfordernissen anzupassen, damit
treiben können. Ich hoffe, dass wir dazu etwas im Weiß- wir auch künftig ein verlässlicher Partner unserer
buch wiederfinden werden. Freunde und Verbündeten bleiben, in Europa, in der
NATO und in den Vereinten Nationen.
(Beifall bei der FDP)
In diesem Jahr stehen knapp 24 Milliarden Euro zur
Uns allen ist klar, dass der Verteidigungsetat weniger Verfügung. Bis 2009 – das sieht der Finanzplan des
Spielraum lässt, als uns lieb sein kann. Aber den Spiel- Bundes vor – soll der Etat dann um rund 1 Milliarde
raum, den es gibt, müssen wir so kreativ und undogma- Euro steigen. Das ist gut, aber das ist auch unbedingt
tisch nutzen, wie es eben nur geht. Ansonsten werden notwendig. Wichtiger vielleicht noch als die absoluten
der außenpolitische Anspruch und die haushaltspoliti- Zahlen sind die Verschiebungen innerhalb des Vertei-
sche Realität immer weiter auseinander klaffen. digungshaushaltes. Klar erkennbar ist die Tendenz,
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. dass die Betriebskosten sinken, die verteidigungsinvesti-
ven Ausgaben aber steigen werden. Diese Entwicklung
(Beifall bei der FDP) ist nicht zufällig. Sie ist das Resultat einer Politik, die
von zwei sozialdemokratischen Verteidigungsministern
Vizepräsident Wolfgang Thierse:
entschlossen eingeleitet wurde. Weil dieser eingeschla-
gene Kurs richtig ist, hält auch die neue Regierung an
Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Peter Bartels, ihm fest.
SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
(Johannes Kahrs [SPD]: Guter Mann!)
Ein Ziel der Transformation ist es, die vorhandenen
Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Finanzmittel besser und effektiver einzusetzen, um die
(B) erforderlichen Ausrüstungsinvestitionen vornehmen zu (D)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der können. Das Stationierungskonzept, die Korrekturen bei
Haushalt 2006 ist der erste Haushalt, den die große Ko- der Rüstungsplanung, die erweiterte Kooperation mit der
alition vorlegt. Der Verteidigungsetat ordnet sich dabei Wirtschaft – dies alles gehört zu einer Politik, die zu-
in ein Gesamtkonzept ein. Wir haben eine schwierige nächst einmal vieles auf den Prüfstand gestellt hat, von
Gratwanderung vor uns: auf der einen Seite einen klaren fliegenden Verbänden bis zum Gebäudemanagement.
Konsolidierungskurs, auf der anderen Seite die notwen- Dabei stellte sich heraus: Nicht alles, was schon immer
digen Investitionen. Diese Gratwanderung betrifft alle so war, muss genau so bleiben. Es stellte sich aber auch
Ressorts. Der Verteidigungshaushalt bildet keine Aus- heraus, Frau Hoff: Nicht alles, was privat gemacht wird,
nahme. ist am Ende billiger und besser.
Dass nicht alles Wünschenswerte finanzierbar ist, Die Transformation ist inzwischen an vielen Orten
wissen wir. Wir leben schon eine ganze Weile damit, mit Händen zu greifen. Als Abgeordneter aus der Mari-
dass die haushaltspolitischen Spielräume begrenzt sind. nestadt Kiel weiß ich, wie zügig und zielgerichtet etwa
Das ist gewissermaßen die Konstante der vergangenen die Aufstellung der neuen Einsatzflottille 1 vor sich
Jahre, ganz unabhängig davon, wer regierte. Der dama- geht. Was vor kurzem noch Planung war, hat heute schon
lige Verteidigungsminister Volker Rühe zum Beispiel hat Adresse, Namen und Gesichter.
1997 in der Haushaltsdebatte einen schönen Sinnspruch
geprägt. Er sagte: In diesem Zusammenhang verdient das Engagement
der Soldatinnen und Soldaten und der Zivilangestellten
Welche Größenordnung eine Armee auch immer hohe Anerkennung. Für sie bedeutet Transformation
hat, sie wird knapp bei Kasse sein, und … in einem vielfach, neue Aufgaben an neuen Orten mit neuen Kol-
gewissen Umfang ist es auch notwendig. Ich kenne legen und Kameraden zu übernehmen. Hinzu kommen
keine Armee auf der ganzen Welt, die finanziell üp- Veränderungen im persönlichen Umfeld, wenn Standorte
pig versorgt wäre. geschlossen und Dienstposten verlegt werden. Es sind
Ein anderer Minister, mein jetziger Fraktionsvorsitzen- gerade die gestandenen Soldaten und die erfahrenen
der Peter Struck, formulierte seine Einsicht in die Not- Zivilangehörigen, die wir vom Sinn und Nutzen der
wendigkeit in der Debatte zum Bundeshaushalt 2004 so: neuen Bundeswehr überzeugen müssen. Das gelingt
umso besser, je mehr die neuen Strukturen sichtbar mit
Auch ich hätte natürlich gerne mehr Geld; aber je- Leben erfüllt werden. Bei aller Veränderung: Die Bun-
der von Ihnen weiß, dass wir in einer bestimmten deswehr ist nicht auf der Suche nach neuen Aufgaben.
Finanzsituation sind. Sie soll nicht zur Ersatzpolizei werden. Das ist – trotz
2288 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Herr (Beifall bei der LINKEN)
Naumann, hat in einem Festvortrag kürzlich das Lob der Die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammen-
Marine gesungen und hat Folgendes gesagt: arbeit und Entwicklung hat jüngst mehrfach auf die Rie-
Am wirkungsvollsten ist … eine Strategie, die sich sendiskrepanz zwischen den Weltmilitärausgaben und
der Machtprojektion „onward from the sea“ bedie- den globalen Ausgaben für öffentliche Entwicklung hin-
nen kann, auch weil diese kaum von Überflug- und gewiesen: hie 1 Billion Dollar und da 58 Milliarden Dol-
Zugangsrechten abhängig ist. lar.
Das ist Klartext. Da weiß man, wohin man mit diesen (Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministe-
schwimmenden Plattformen will. Diese Plattformen sind rin: 78 Milliarden Dollar!)
geeignet für Expeditionary Forces, also für Eingreiftrup-
pen, die langfristig Einsätze durchführen sollen. Auch – Entschuldigung, 78 Milliarden Dollar. Die Diskrepanz
hier stellt sich die Frage: Was sind das für Expeditionen, bleibt trotzdem bestehen. – Sie hat gefordert, dass die
die da gestartet werden sollen? deutsche Politik hier zu einer grundlegenden Gewichts-
verschiebung beitragen müsse. Dumm ist nur, dass zwei
(Beifall bei der LINKEN) Drittel dieser Weltmilitärausgaben von der NATO aufge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2291
Paul Schäfer (Köln)
(A) bracht werden. Der NATO-Generalsekretär wird nicht kommen, gedenken, während man einen anderen Teil (C)
müde, eine Steigerung dieser Ausgaben zu fordern. nicht mitberücksichtigt. Insofern sollte das Ganze breiter
anlegt werden als das Mahnmal, das Sie hier skizziert
(Beifall bei der LINKEN)
haben.
Hier wäre ein wichtiges Betätigungsfeld für die Bun-
desregierung. Sie könnte die Überprüfungskonferenz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
hinsichtlich der konventionellen Streitkräfte in diesem
Die Transformation der Bundeswehr bedeutet, wahr-
Jahr nutzen, um über eine qualitative Abrüstung zu re-
zunehmen, dass es neue außenpolitische Aufgaben gibt
den. Sie könnte auch den diesjährigen NATO-Gipfel
und sich damit die Rolle der Streitkräfte ändert. Man
nutzen, um eine Initiative einzubringen, wonach sich die
muss weg vom Schwerpunkt der reinen Landesverteidi-
NATO-Mitgliedsländer zu einer jährlichen Absenkung
gung hin zu einer Bundeswehr, die dort, wo es nötig ist,
ihres Wehretats um 5 Prozent verpflichten.
in der Lage ist, internationale und humanitäre Verant-
(Beifall bei der LINKEN) wortung in Bündnissen zu übernehmen. Für uns Grüne
und insgesamt in der Bundesrepublik war es ein langer
Das wäre eine ganz tolle Initiative. Diskussionsprozess, bis man zu der verantwortungsvol-
Herr Minister, setzen Sie sich doch einmal mit Ihrer len Position gekommen ist, in einzelnen Fällen auch mit
Fachkollegin zusammen. Sie könnten das sozusagen in- militärischer Gewalt Friedenspolitik machen zu müssen.
nerhessisch regeln und sich überlegen, ob nicht eine sol-
che Initiative im November anlässlich des NATO-Gip- Wir müssen in der Phase, in der wir uns im Moment
fels eingebracht werden könnte. Abrüstung immer nur sicherheitspolitisch befinden, sehr viel mehr Bedacht an
woanders zu fordern, geht nicht. Nein, auch hier bei uns den Tag legen, wenn wir über den Einsatz des Militärs
geht es um Abrüstung. diskutieren. Erlauben Sie mir eine persönliche Bemer-
kung. Ich glaube, wir müssen aufpassen, nicht in einen
Danke. Automatismus bei den Einsätzen im militärischen Be-
reich hineinzurutschen. Wir müssen wieder darüber
(Beifall bei der LINKEN)
sprechen, wie wir Einsätze verantwortungsvoll zu einem
Ende führen können. Wir müssen uns offen darüber un-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: terhalten, dass es bei aller Notwendigkeit und allen
Ich erteile das Wort dem Kollegen Alexander Bonde, Gründen für Einsätze auch eine Grenze der verfügbaren
Bündnis 90/Die Grünen. Kapazitäten und der Belastbarkeit der Soldatinnen und
Soldaten gibt. Ich persönlich betrachte es mit großer
(B) Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sorge, dass diese Fragestellungen bei dem Einsatz, in (D)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und den uns die Bundesregierung gerade manövriert, nicht
Herren! Wir haben es in dieser Debatte schon oft gehört: wirklich auf der Tagesordnung standen und nach mei-
Die Bundeswehr befindet sich in einer Transformations- nem Verständnis eine zu geringe Rolle in der Debatte ge-
phase und die Anforderungen an die Angehörigen der spielt haben.
Bundeswehr sind enorm.
Zurück zur Bundeswehr. Bereits die alte Regierung,
Unsere Soldatinnen und Soldaten beweisen in vielfäl- die rot-grüne Mehrheit, hat den Transformationspro-
tigen Auslandseinsätzen, dass wir unter gewissen Vo- zess angestoßen und begleitet. Auch wenn wir in vielen
raussetzungen Sicherheit und Stabilität in Krisenregio- Punkten mit dem ehemaligen Verteidigungsminister im
nen verbessern können. Aber nicht zuletzt seit dem Clinch lagen und seine Ansichten konstruktiv und kri-
letzten Bericht des Wehrbeauftragten wissen wir alle tisch hinterfragt haben, so haben wir diese Linie doch
auch, dass die Bundeswehr in ihrer bisherigen Struktur verantwortungsvoll mitgetragen. Das galt in unserer Re-
bei den aktuellen Einsätzen an der Belastungsgrenze an- gierungszeit und das gilt auch heute in der Opposition.
gekommen ist.
(Walter Kolbow [SPD]: Sie haben auch immer
Ich möchte an dieser Stelle im Namen meiner Frak- die richtigen Antworten bekommen!)
tion den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr aus-
drücklich für ihr Engagement danken. Ebenso möchte Leider muss man aber sagen, dass sich der Transfor-
ich allen zivilen Helferinnen und Helfern der Polizei, aus mationsprozess nicht in dem Maße, wie dies in den Re-
der Entwicklungshilfe, den NGOs und den internationa- den betont wurde, in dem neuen von Schwarz-Rot vor-
len Organisationen danken; denn ein Großteil unserer gelegten Entwurf des Einzelplans 14 wiederfindet. Denn
Missionen findet in enger zivil-militärischer Koopera- an manchen Stellen wird unter Minister Jung bewusst
tion statt. wieder der Weg in die falsche Richtung eingeschlagen.
Es werden zu viele Mittel für die herkömmliche Landes-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
verteidigung und zu wenige für den bei den Auslands-
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
einsätzen und der Krisenprävention bestehenden Bedarf
Dieser Zusammenhang ist auch bei der Frage des bereitgestellt. Es gibt zu viel Logik des Kalten Krieges
Mahnmals, die Sie, Herr Minister, angesprochen haben, mit Bedrohungsszenarien, in denen von Kriegen zwi-
wichtig. Denn aus unserer Perspektive und bei einem schen hoch gerüsteten Staaten ausgegangen wird, und
umfassenden Sicherheitsbegriff darf man nicht nur eines eine zu geringe Anpassung an außenpolitische Heraus-
Teils derjenigen, die bei Auslandseinsätzen zu Schaden forderungen, an reale Einsatzszenarien im Bereich der
2292 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Alexander Bonde
(A) asymmetrischen Bedrohung, der Nation Building und zen. Das Gleiche gilt für den Sudan und jeden anderen (C)
der Stabilisierung. Ort dieser Welt, wo ich mir im Moment einen sinnvollen
Einsatz der Bundeswehr vorstellen kann.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Lieber Herr Kollege Jung, die Bundeswehr braucht
Wenn man die tatsächliche Situation bei den Einsät- Führung in der Transformation. Sie braucht keinen Zick-
zen dem Einzelplan gegenüberstellt, sieht man, dass im- zackkurs und niemanden, der in Abenteuer hineinstol-
mer noch eine zu geringe Ausstattung für die konkreten pert. Bezüglich des Kongoeinsatzes kann man inhaltlich
Einsatzsituationen vor Ort vorgesehen ist. Wir erleben, unterschiedlicher Meinung sein. Ich bin wesentlich
dass weder das richtige Personal noch das richtige Mate- skeptischer als große Teile meiner Fraktion, ob das hier
rial für die tatsächlichen Einsätze eingeplant werden. formulierte humanitäre Pathos von 100 bis 250 Soldaten
Vielmehr fließt ein Großteil der Investitionen in den Be- vor Ort tatsächlich umgesetzt werden kann. Darüber
reich der klassischen Landesverteidigung, in den Be- kann man ernsthaft diskutieren.
reich dessen, wo man wieder sozusagen die großen, alten
Kriege befürchtet. Insofern ist das Problem der Bundes- Nicht diskutieren kann man über das Hin und Her, das
wehr nicht in erster Linie Geldmangel, sondern die rich- Sie auf europäischer Ebene veranstaltet haben. Sie haben
tige Prioritätensetzung. Diese, sehr geehrter Herr Bun- die Ausschüsse des Bundestages, den Bundestag und die
desverteidigungsminister, setzen Sie falsch. Öffentlichkeit über Wochen im Dunkeln darüber gelas-
sen, was Sie eigentlich vorhaben: Es begann mit einem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nein zum Einsatz seitens des Verteidigungsministers.
Sie selbst haben das im Bereich der Beschaffungen Einen französischen Handkuss später hat die Bundes-
sehr deutlich gemacht. Die Beschaffungen erfolgen wei- kanzlerin dies revidiert. Der Verteidigungsminister
ter nach dem Produktkatalog der Industrie und weniger meinte anschließend: Ja, aber ohne Führungsrolle. Dann
nach dem aktuellen Bedarf. Ich will es an drei Beispielen haben Sie fahrlässig „Berlin plus“ ausgeschlagen. Zu gu-
deutlich machen. Den Eurofighter haben Sie genannt. ter Letzt übernimmt Deutschland die Führungsrolle und
Jeder von uns weiß: Wir brauchen keine 180 neuen hat den Einsatz am Bein. – Herr Jung, Führungsfähigkeit
Kampfflugzeuge, weil die Bedrohungssituation dies und Demonstration von Handlungsfähigkeit sehen an-
nicht erforderlich macht. Jeder weiß: Dies ist eine Ver- ders aus. Wenn das europäische Sicherheitspolitik sein
schwendung von Steuermitteln. Gleichwohl ist unser soll, dann kann ich nur sagen: Gute Nacht!
Antrag, nun endlich Verhandlungen mit der Industrie
An einer anderen Stelle haben Sie die Führung über-
aufzunehmen, um aus der dritten Tranche des Eurofigh-
nommen. Sie haben gesagt, dass Sie den Personalhaus-
ters auszusteigen, im Haushaltsausschuss von der großen
halt reduzieren wollen. Ich frage Sie aber, wie es dann
(B) Koalition abgelehnt worden – interessanterweise bei dazu passt, dass Sie nun zusätzlich 25 000 Wehrdienst- (D)
Enthaltung der FDP, wenn ich das an dieser Stelle ein-
leistende einberufen wollen. Aufgrund der militärischen
mal kritisch äußern darf.
Planung Ihres Generalinspekteurs ist dies nicht notwen-
Zweites Stichwort: die IRIS-T-Anpassung für das dig. Sicherheitspolitische und sachliche Gründe gibt es
Flugabwehrsystem MEADS. Wir entwickeln ein Flug- mitnichten. Was sollen diese 25 000 Wehrpflichtigen
abwehrsystem, um uns gegen Flugkörper mit mittlerer also tun? An erster Stelle sollen sie die Wehrpflicht ver-
Reichweite anderer hochgerüsteter Staaten zu verteidi- teidigen. Ansonsten wird Zeit abgesessen und andernorts
gen. So weit, so schlecht. Jetzt will das Verteidigungsmi- notwendiges Material und Personal gebunden. Das ist
nisterium dieses internationale Projekt aber noch mit ei- unwirtschaftlich und sicherheitspolitisch kontraproduk-
nem nationalen Flugkörper aufmotzen, damit die tiv. Sie steigern weder die Leistungsfähigkeit der Streit-
deutsche Flugkörperindustrie mehr Aufträge erhält. Das kräfte noch entlasten Sie den Personalhaushalt und spa-
System wird komplizierter, schwieriger zu warten und ren an Betriebsmitteln, wie Sie es angekündigt haben.
teurer. Das ist sozusagen die Schweinslederlösung mit Wenn Sie Gerechtigkeit bei der Wehrpflicht wollen,
Goldnahtkante; im Sprachgebrauch der MTV-Genera- dann tun Sie, was dringend notwendig ist: Schaffen Sie
tion könnte man auch sagen: Pimp my MEADS. die Wehrpflicht endlich ab! Sie wissen genau, sicher-
heitspolitisch braucht sie niemand.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das hat er nicht verstanden!) sowie bei Abgeordneten der FDP)
Drittes Stichwort: PARS 3 Long Range. Das Panzer- Wenn man alles zusammennimmt, also Ihre Planun-
abwehrraketensystem für den Hubschrauber Tiger, von gen bezüglich der Beschaffung und des Personals, dann
Rot-Grün aus guten Gründen in die Mottenkiste gelegt, wundert es mich schon, dass die Sozialdemokraten den
ist wieder da. Ich weiß nicht, wo Sie herannahende Pan- alten Weg der Transformation überhaupt wiedererken-
zerarmeen vermuten. Bei den täglichen Einsätzen der nen; denn Sie nehmen die Reform des vorherigen Vertei-
Bundeswehr reden wir über Minen, Heckenschützen und digungsministers Struck mit Ihren Maßnahmen Stück für
Autobomben. Stück zurück.
Keines der drei Systeme, die ich benannt habe, wer- Man kann darüber streiten, ob das nicht immer schon
den Sie jemals in Kabul oder auf dem Balkan einsetzen. das Ziel der CDU/CSU in diesem Bereich war. Wir sind
Auch im Kongo – sollte der Einsatz beschlossen wer- ja froh, dass zumindest Sie inzwischen, was den Einsatz
den – werden Sie keines dieser Systeme jemals einset- im Innern angeht, von der Bundeswehr bekehrt worden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2293
Alexander Bonde
(A) sind. An dieser Stelle wünsche ich Ihnen viel Erfolg Bedrohungen, egal welcher Art, sind leider nicht kal- (C)
beim Kampf gegen den Bundesinnenminister. Wir sind kulierbar, weder was den Ort noch was das Profil des
gespannt, ob Sie sich wenigstens an dieser Stelle einmal Gegners angeht. Sie sind im Gegensatz zu früher meist
durchsetzen werden, Herr Jung. asymmetrisch. Ich sage aber auch ganz klar, dass die
symmetrische Bedrohung nicht außer Acht gelassen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – werden darf.
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Unsere Unterstützung hat er!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Von wem geht sie aus?)
Zusammenfassend möchte ich sagen: Sie haben mit
uns, der grünen Fraktion, einen Diskurspartner, der ver- Daran müssen unsere Sicherheitsstrukturen ausgerichtet
antwortungsvolle Außen- und Sicherheitspolitik mitge- werden. Innere und äußere Sicherheit sind nicht mehr
stalten will und der sich solidarisch damit erklärt, dass es voneinander zu trennen.
in bestimmten Fällen geeigneter Streitkräfte bedarf. Wir Sicherheitsvorsorge setzt sich aus verschiedenen
wissen, dass die Bundeswehr ein Partner bei vielen frie- Bausteinen zusammen. Neben den rein militärischen As-
denserhaltenden Einsätzen ist. Wenn Gewalt als letztes pekten gehört eine Reihe von anderen Bereichen un-
Mittel eingesetzt werden muss, wenn die Bundeswehr in trennbar dazu. Ich begrüße es deshalb sehr, dass wir un-
zivile und entwicklungspolitische Maßnahmen einge- sere Vorstellungen zur inneren und äußeren Sicherheit
bunden werden soll, stehen wir mit Ihnen auf einer Seite. unter Berücksichtigung des erweiterten Sicherheitsbe-
Wir erwarten aber von der Bundesregierung, dass sie griffes – Herr Minister, Sie haben es angekündigt – noch
die Herausforderung annimmt und Führung zeigt, dass in diesem Jahr in einem Weißbuch wiederfinden werden.
sie die Aufgabe als sicherheitspolitisches Projekt trägt Ein wesentlicher Baustein der Sicherheitsstrategie ist die
und nicht als industriepolitische Spielwiese versteht. Verteidigung. Dafür bietet der Einzelplan 14, mit dem
Herr Jung, Ihr heutiger Redebeitrag hat uns gezeigt, dass wir uns heute befassen, den entscheidenden Rahmen.
Sie sich ein Stück weit als zweiter Wirtschaftsminister Angesichts des von der Bundesregierung vorgegebe-
dieser Bundesregierung sehen. nen Kurses der Konsolidierung der Finanzen ist natür-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lich auch der Finanzrahmen des Verteidigungshaushaltes
NEN]: Wer ist denn der erste?) nicht unbegrenzt. Das Volumen für 2006 hat sich bei
23,88 Milliarden Euro eingependelt. Durch Verkäufe
Ich kann gut nachvollziehen, dass man diese Lücke in von Bundeswehrliegenschaften sollen noch circa
der Bundesregierung füllen möchte, weil keiner so recht 60 Millionen Euro hinzukommen. Vor dem Hintergrund
(B) weiß, ob der bisherige Wirtschaftsminister diese Rolle des Konsolidierungskurses sind Erhöhungen Grenzen (D)
tatsächlich jemals ausfüllen kann. gesetzt. Daher müssen wir prüfen, wo Einsparungen
möglich und wo Erhöhungen notwendig sind. Der Re-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gierungsentwurf, der uns heute vorliegt, ist ein Lösungs-
NEN]: Beide sind von der Union!) vorschlag, der den Spagat zwischen wirtschaftlicher
Solange Sie, Herr Jung, die Rolle des Verteidigungsmi- Haushaltsführung und nötigen Investitionen schafft.
nisters nicht gänzlich ausfüllen – uns scheint, es ist noch Unsere Aufgabe als Parlamentarier besteht darin, die-
ein langer Weg, bis das der Fall ist –, sollten Sie die Fin- sen Prozess verantwortungsbewusst und kritisch zu be-
ger von den Ressorts anderer lassen. Betreiben Sie Si- gleiten. Dabei sollten wir uns erstens von der Maxime
cherheitspolitik und hören Sie mit dem industriepoliti- leiten lassen, den bestmöglichen Schutz unserer Sol-
schen Unsinn auf! daten und Soldatinnen im Einsatz zu gewährleisten
Vielen Dank. und zu verbessern.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
neten der SPD)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Schäfer, ich möchte zu Ihren Einwürfen eben, zum
Beispiel zum Programm MEADS, sagen: Wir haben uns
Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Herrmann,
in der Gruppe „Bodengebundene Luftverteidigung“
CDU/CSU-Fraktion.
lange mit diesem Thema beschäftigt und sind mit großer
(Beifall bei der CDU/CSU) Mehrheit übereingekommen, dieses Projekt zu verwirk-
lichen.
Jürgen Herrmann (CDU/CSU): (Zuruf von der SPD: Einstimmig!)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und – Ja, in der Gruppe sogar einstimmig. Ich glaube nach
Herren! Herr Minister, Sie haben es eben angedeutet: wie vor, dass es Sinn und Zweck hat, dieses Projekt zu
Die Sicherheitspolitik steht im 21. Jahrhundert vor verwirklichen.
neuen großen Herausforderungen. Für uns Parlamenta-
rier bedeutet dies, dass alle sicherheitspolitischen Instru- Zweitens sollten wir uns von der Maxime leiten las-
mente daran gemessen werden müssen, wie effizient ihre sen, die internationalen Verpflichtungen gegenüber
Wirksamkeit gegenüber heutigen, aber auch künftigen unseren Bündnispartnern einzuhalten. Herr Schäfer, Sie
Bedrohungen ist. haben vorgeschlagen, die Zahl der Bundeswehrsoldaten
2294 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Jürgen Herrmann
(A) auf 100 000 zu reduzieren. Sie müssen mir erklären, wie steigern. Wenn wir den begonnenen Transformations- (C)
wir uns dann überhaupt noch an internationalen Einsät- prozess fortsetzen, sollte es uns gelingen, die Be-
zen beteiligen könnten. Die Politik, die Sie hier betrei- triebsausgaben weiter zu reduzieren und damit Spiel-
ben – Sie haben von Kanonenbootpolitik gesprochen –, räume für Investitionen zu gewinnen.
zeugt davon, dass Sie kein Interesse daran haben, Sicher-
heit für die Bundesrepublik zu gewährleisten. Das ist Ich warne aber davor, alles zu privatisieren und alles
pure Stimmungsmache. Ich kann nur davor warnen, den outzusourcen. Es gibt viele Bereiche, die von der Bun-
bestehenden Konsens im Verteidigungsausschuss aufzu- deswehr sicherlich nicht so kostendeckend betrieben
kündigen. werden können, wie ein Privater dies könnte. Das heißt
aber nicht, dass dieser es auch besser machen würde. Ich
(Beifall bei der CDU/CSU) glaube, dass viele Bereiche in der Bundeswehr besser
aufgehoben sind, als sie es im privaten Sektor wären. Ich
Wir sollten uns drittens von der Maxime leiten lassen, denke, Frau Hoff, über den richtigen Weg werden wir
die wehrtechnische Industrie zu stärken. Es ist sicher- noch viel diskutieren. Ich halte es für notwendig und
lich wichtig, ihre Konkurrenzfähigkeit auf internationa- richtig – das betone ich –, dass diejenigen, die es zu ähn-
lem Parkett zu erhalten. Es liegt in unserem Interesse, lichen Konditionen besser machen können, den Zu-
uns nicht von der ausländischen Rüstungsindustrie ab- schlag erhalten sollten.
hängig zu machen. Sie wartet nämlich nur darauf, dass
wir unsere Kernfähigkeiten vernachlässigen. Letztend- Beachtlich ist, dass der Bereich „Wehrforschung,
lich zahlen wir einen hohen Preis, wenn wir nicht mehr wehrtechnische und sonstige militärische Entwicklung
selbst produzieren. und Erprobung“ jetzt ein Gesamtvolumen von
1,1 Milliarden Euro umfasst. Das ist eine Steigerung um
Die Bundeswehr hat sich im Laufe des Transforma- satte 15 Prozent.
tionsprozesses zu einer Armee im Einsatz entwickelt,
deren Aufgabe darin besteht, Frieden sichernde und Lassen Sie mich zu den zuvor genannten Eckpunkten
Frieden erhaltenden Maßnahmen auszuführen. Ein Ende nur zwei Zahlen herausgreifen:
dieser Entwicklung und der damit verbundenen Frage
nach weiteren Einsätzen im Ausland ist nicht absehbar. Wir fördern die Zukunftstechnik im Bereich der welt-
Herr Minister, Sie haben vorhin die NATO-Response- raumgestützten Aufklärung mit 325 Millionen Euro.
Force und die EU-Battle-Groups angesprochen. Das sind Das sind 50 Prozent mehr, als wir für derartige Zu-
Aufgaben, die wir in Zukunft zu bewältigen haben. kunftstechnologien im letzten Jahr zur Verfügung hatten.
Im Übrigen wird gerade die Aufklärung bei zukünftigen
Es ist sicherlich wichtig, einen ausreichenden Plafond Einsätzen eine entscheidende Rolle spielen, um Erkennt-
(B) bereitzuhalten, damit wir Truppen zur Verfügung stellen nisse über den Gegner und die Infrastruktur zu erhalten. (D)
können, wenn sie angefordert werden. Daher ist eine Nur so können wir, neben den eben genannten Kompo-
Truppenstärke von 250 000 Männern und Frauen sicher- nenten, einen umfassenden und effektiven Schutz unse-
lich angemessen. rer Soldatinnen und Soldaten gewährleisten.
Die Bundeswehr wird auch – der Minister hat das an- Wir stellen 400 Millionen Euro für die Nachfolgelö-
gesprochen – in Katastrophengebieten im In- und Aus- sung der Breguet Atlantic, die Entwicklung des mobilen
land eingesetzt, in jüngster Zeit, um nur einige Beispiele Bodenüberwachungsradars und die weiträumige, abbil-
zu nennen, in Bad Reichenhall, in Hochwassergebieten, dende Aufklärung der Boden- und Luftlage durch AGS
im Erdbebengebiet in Pakistan und bei der Bekämpfung sowie durch Euro Hawk zur Verfügung. Das zeigt die
der Vogelgrippe auf Rügen. Das ist das Aufgabenspek- Maßnahmen auf, die heute dringend erforderlich sind.
trum, dem sich unsere Bundeswehr gegenübersieht.
Unser Blick sollte aber auch langfristige und für die
Unsere Soldaten stellen die Einsatzfähigkeit der Bun- Einsatzfähigkeit der Bundeswehr bedeutsame Aspekte
deswehr tagtäglich – das muss man hier einmal sagen – berücksichtigen. Der Zulauf der Fregatte 125, aber auch
unter Beweis. Sie zeigen, zu welchen Leistungen sie die Diskussion über einen weiteren Einsatzgruppenver-
letztendlich bereit sind und dass sie verantwortlich han- sorger muss geführt werden. Die Entwicklung einer
deln können. Die Organisationsstruktur und das Engage- Nachfolgelösung für die CH 53 ist mit dem HTH, also
ment jedes einzelnen Soldaten ist, das kann ich hier nur dem schweren Transporthubschrauber, bereits angedacht
feststellen, vorbildlich. Mein herzlicher Dank an die Sol- und muss mit unseren Bündnispartnern gemeinsam um-
datinnen und Soldaten, die dies immer wieder möglich gesetzt werden.
machen.
Mit dem Haushaltsentwurf, der uns heute vorliegt,
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP schaffen wir eine Grundlage für die zukünftige Arbeit
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Bundeswehr, der Soldatinnen und Soldaten sowie
der Zivilangestellten. Sicherlich gibt es die Forderung,
Eine ganze Reihe von Haushaltsstellen des noch etwas mehr Geld einzubringen. Nach oben hin sind
Einzelplans 14 ist dem Umbau zu einer modernen, effi- die Ausgaben aber zurzeit begrenzt.
zienten sowie schnell einsatzfähigen und leicht verlegba-
ren Truppe geschuldet. Ich begrüße daher sehr, dass die Ich sage in aller Deutlichkeit: Diejenigen, die tagtäg-
verteidigungsinvestiven Ausgaben, die bei 6 Milliar- lich hervorragende Arbeit abliefern – die Soldatinnen
den Euro liegen, auf 25 Prozent des Etats angewachsen und Soldaten sowie Zivilangestellte –, haben ein Recht
sind. Wir müssen daran arbeiten, diesen Anteil noch zu darauf, von uns entsprechend ausgerüstet zu werden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2295
Jürgen Herrmann
(A) Dem kommen wir gerne nach. Ich wünsche allen Solda- Kolleginnen und Kollegen der Opposition. Aber bisher (C)
tinnen und Soldaten, dass sie immer heil aus dem Ein- blieben diese Fragen von der Bundesregierung komplett
satz zurückkommen. Denn sie tun ihren Dienst für uns in unbeantwortet. Deshalb sagen wir ganz klar: Es besteht
Deutschland. die Gefahr, dass wir mit der Teilnahme an einer derarti-
gen Mission in ein unkalkulierbares Risiko laufen. Wir
Danke schön. finden, dass die Bundesregierung diese Fragen aufzuklä-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie ren hat, und zwar hier im Parlament.
bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat das Wort die Kollegin Birgit Homburger von Im Übrigen, Herr Verteidigungsminister Jung, haben
der FDP-Fraktion. Sie wiederholt erklärt, dass Deutschland sich, wenn
überhaupt, lediglich in Form von logistischer und Luft-
(Beifall bei der FDP) transportunterstützung beteiligen werde, aber auf gar
keinen Fall mit Kampftruppen. Sie haben zu Beginn der
Birgit Homburger (FDP): Diskussion auch gesagt, Deutschland werde auf gar kei-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nen Fall eine Führungsrolle übernehmen. Jetzt ist es so,
Die Bundeswehr muss sich auf die neuen Herausforde- dass Deutschland nicht nur irgendeine Führungsrolle,
rungen und auch auf neue Aufträge einstellen. Mit den sondern sogar die Gesamtführung für diesen Einsatz
ihr zur Verfügung gestellten Mitteln hat sie diese Auf- übernehmen soll.
gabe bisher sehr gut gemeistert. Allerdings sind die poli- Vor diesem Hintergrund muss ich schon sagen: Das
tischen Vorgaben mit den zugebilligten Mitteln häufig Hin und Her in der Diskussion war unnötig und ist ver-
nicht kompatibel. Der in aller Munde geführte und hier antwortungslos, weil die Soldatinnen und Soldaten der
schon einige Male angesprochene Transformationspro- Bundeswehr Sicherheit brauchen. Ich finde, man sollte
zess hat nicht in allen Bereichen die richtige Zielsetzung, über solche Fragen erst diskutieren, wenn man Klarheit
vor allem nicht in der Grundsatzfrage der Struktur unse- hat, und nicht schon über alles Mögliche vorher in der
rer Streitkräfte. Ich finde, da liegt das Grundproblem für Öffentlichkeit diskutieren und es anschließend revidie-
die Zukunft der Bundeswehr. ren.
(Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Allerdings – das hat sich in der heutigen Debatte ge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(B) zeigt – ist eine Strukturkorrektur vonseiten der Regie- (D)
rung nicht ins Auge gefasst. Stattdessen beschäftigt sich Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
die Bundesregierung im Augenblick mit weiteren Aus- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
landseinsätzen, beispielsweise in Afrika. Auch wir sehen Kollegen der SPD-Fraktion?
die dringende Notwendigkeit, uns mit Afrika zu beschäf-
tigen, aber dann bitte mit einem klaren Konzept und in Birgit Homburger (FDP):
internationalem Rahmen. Die Art und Weise, wie das im Ja, gerne.
Augenblick stattfindet – man hat kein klares Konzept
und dann legt die Bundesregierung auch noch das Parla-
ment de facto im Vorhinein fest, indem sie international Rainer Arnold (SPD):
bereits klare Zusagen macht –, ist inakzeptabel. Die Frau Kollegin Homburger, ist Ihnen möglicherweise
Bundeswehr ist und bleibt eine Parlamentsarmee. Daran entgangen, dass das Operation Headquarter in Potsdam
sollten wir weiter festhalten. zwar auch national führen und den Beitrag für Afghanis-
tan leisten soll, aber strukturell in erster Linie darauf
(Beifall bei der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: ausgerichtet ist, unter der politischen Verantwortung der
Bundeswehr ist Sache der Exekutive!) Europäer – multinational eingebettet, was sich auch im
Der komplette Entscheidungsablauf bei der Bundes- Personal zeigt – zu führen? Insofern ist Ihre Aussage,
regierung in diesem Zusammenhang ist ein Desaster. dass die Operation unter deutscher Führung stehe,
Beispielsweise ist nach wie vor völlig unklar, wie die falsch. Es ist eine europäische Führung. Möglicherweise
mittlerweile nur noch 200 für Kinshasa eingeplanten haben Sie das übersehen.
Soldaten denn tatsächlich eine Abschreckung darstellen (Bernd Siebert [CDU/CSU]: Eine vernünftige
sollen. Bemerkung, Herr Arnold! Wirklich sehr ver-
(Beifall des Abg. Alexander Bonde [BÜND- nünftig!)
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Birgit Homburger (FDP):
Und was passiert eigentlich, wenn sich die Sicherheits-
Herr Kollege Arnold, das habe ich nicht übersehen.
lage nach den Wahlen drastisch verschlechtert? Behalten
Es ist in der Tat so, dass die Deutschen die gesamte Füh-
in einem solchen Fall Einsatzraum und Einsatzdauer tat-
rungsverantwortung übernehmen sollen.
sächlich ihre Gültigkeit? Ich weiß, dass die Kolleginnen
und Kollegen der SPD und CDU/CSU im Verteidigungs- (Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister: Nein!
ausschuss diese Fragen genauso gestellt haben wie die Darum ging es doch gar nicht!)
2296 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Birgit Homburger
(A) Selbstverständlich wird dieses Headquarter in Potsdam des Wehrbeauftragten heißt es, das BMVg habe erklärt, (C)
teilweise auch mit Offizieren aus anderen Ländern be- dass im Rahmen der Planung der für die NATO verbind-
setzt; das ist völlig klar. Aber es stellt sich beispielsweise lich zugesicherten NRF-Kräfte zunächst auch auf unge-
die Frage, warum man in diesem Zusammenhang, was schützte Fahrzeuge zurückgegriffen werden müsse.
die Führungsfrage angeht, nicht zunächst einmal mit der Weiter wird ausgeführt, dass die Verantwortbarkeit eines
NATO gesprochen hat. Auch hier herrscht eine Sprach- tatsächlichen Einsatzes in einer konkreten Krisenreak-
losigkeit, die völlig inakzeptabel ist. tion zu gegebener Zeit in jedem Einzelfall auch im Hin-
blick auf die Ausstattung mit geschützten Fahrzeugen
(Zuruf von der CDU/CSU: Auch Deutsche können
bewertet würde.
doch wohl führen, oder etwa nicht?)
Wir sind der Auffassung, dass wir diese Investitionen
Wir sagen Ihnen: Eine solche Art und Weise des Vorge-
jetzt tätigen müssen, da der Wehrbeauftragte zu Recht
hens – dass man erst öffentlich das eine sagt und an-
darauf hingewiesen hat, dass diese NRF-Kräfte kurzfris-
schließend das andere macht – ist zu kritisieren. Diesen
tig einsetzbar sein müssen. Deshalb muss dafür gesorgt
Punkt habe ich angesprochen.
werden, dass für die entsprechende Anschaffung Haus-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten haltsmittel bereitgestellt werden. Die Soldatinnen und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Soldaten, die sich im Einsatz befinden, müssen im Übri-
gen nicht nur über geeignetes Gerät verfügen, sondern es
Herr Minister, Sie haben das Weißbuch erwähnt. Im muss auch sichergestellt sein, dass sie zuvor an den je-
Hinblick auf die Entwicklung der Bundeswehr hin zu ei- weiligen Geräten ausgebildet werden. Das ist im Augen-
ner Armee im Einsatz ist es tatsächlich unumgänglich, blick nicht sichergestellt. Auch hier sehen wir dringen-
endlich die sicherheitspolitischen Interessen Deutsch- den Nachbesserungsbedarf.
lands und in der Folge auch die Grenzen für zukünftige
Auslandseinsätze klar zu definieren. Das ist nach wie (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])
vor noch nicht passiert.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Einen
Wir als FDP-Bundestagsfraktion hoffen, dass diese Punkt möchte ich allerdings noch ansprechen. Die wei-
Fragen im neuen Weißbuch beantwortet werden, weil es tere Ungleichbehandlung von Soldaten in Ost und West
dringend erforderlich ist, sowohl die sicherheitspoliti- ist nicht akzeptabel. Wir sind der Meinung, dass im Rah-
schen Interessen Deutschlands als auch die Grenzen für men dieses Haushaltsentwurfs für eine Gleichstellung
zukünftige Auslandseinsätze klar zu definieren. Das ist gesorgt werden muss. Die innere Einheit Deutschlands
schon lange überfällig und muss in diesem Jahr endlich ist in der Bundeswehr seit langem vollzogen. Es gibt kei-
gemacht werden. nerlei Unterschiede, weder was den Leistungswillen
(B) noch was die Leistungsfähigkeit der Soldaten betrifft. (D)
Nun möchte ich eine Bemerkung zum Einsatz in Deshalb setzen wir uns für die gleiche Bezahlung der
Afghanistan machen. Abdul Rahman, der zum Chris- Soldatinnen und Soldaten in Ost und West ein.
tentum übergetreten ist, wurde heute bereits in anderen
Debatten erwähnt. In der Debatte, die wir heute Morgen Vielen Dank.
geführt haben, war unser Informationsstand aber noch (Beifall bei der FDP)
ein anderer. Wir alle gingen davon aus, dass man ihn aus
dem Land ausreisen lässt. Zwischenzeitlich haben wir
erfahren, dass das afghanische Parlament einen Antrag Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
beschlossen hat, wonach man ihn nicht ausreisen lassen Das Wort hat nun der Kollege Johannes Kahrs für die
will. SPD-Fraktion.
Ich finde, vor diesem Hintergrund sollten wir alle
Johannes Kahrs (SPD):
deutlich machen: Es ist unseren Soldatinnen und Solda-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
ten im Einsatz in Afghanistan nur sehr schwer zu vermit-
und Kollegen! Der Regierungsentwurf, so wie er dem
teln, dass man Respekt vor einer anderen Religion zei-
Deutschen Bundestag vorliegt, sieht für den Verteidi-
gen und entwickeln soll, wenn man gleichzeitig erfährt,
gungshaushalt einen Betrag in Höhe von 23,88 Milliar-
dass der Respekt vor der eigenen Religion, die viele un-
den Euro vor. Damit gehört der Verteidigungsetat
serer Soldatinnen und Soldaten haben, in dieser Art und
wieder, wie schon seit Jahren, trotz aller kleinen
Weise mit Füßen getreten wird. Das ist inakzeptabel und
Schwankungen zu den stabilen Haushalten. Dafür danke
das sollten wir als Parlament, aber das sollten auch Sie
ich insbesondere den Ministern Steinbrück und Jung;
als Regierung deutlich festhalten.
denn das ist in dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Auch vor dem Hintergrund der Schilderungen der Kolle-
bei Abgeordneten der SPD) ginnen und Kollegen wird deutlich, dass das Geld drin-
gend benötigt wird, damit die Soldaten, die im Einsatz
Trotz aller Einsparungspläne muss der bestmögliche
sind, vernünftig ausgestattet werden können.
Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten gewährleistet
sein. Ausrüstung und Bewaffnung der Streitkräfte berei- Selbstverständlich leisten aber auch wir durch Kür-
ten uns allerdings Sorgen. Deutsche Soldatinnen und zungen bei den sächlichen Verwaltungsaufgaben einen
Soldaten, die in Afghanistan im Einsatz sind, sitzen in Konsolidierungsbeitrag für den Gesamthaushalt. Das ist
Fahrzeugen, von denen lediglich die Hälfte Schutz ge- auch gut so. Denn nur solide Staatsfinanzen garantieren
gen Sprengstoff- und Minenanschläge bietet. Im Bericht einen starken Staat.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2297
Johannes Kahrs
(A) Ich begrüße auch den Beschluss des 39. Finanzplans Bund generell und bei der Bundeswehr einzuschätzen (C)
durch das Bundeskabinett, da bis zum Jahr 2009 der Ver- sind und mit wie viel sie zu Buche schlagen.
teidigungshaushalt jährlich um 300 Millionen Euro
In den nächsten Jahren wird die Bewerbungslage
anwachsen soll. Das erlaubt eine solide und reelle Finan-
deutlich schwieriger. Die Zahl der jungen Männer und
zierung unserer Bundeswehr entsprechend den Verteidi-
Frauen, die zur Verfügung stehen, sinkt dramatisch. Die
gungspolitischen Richtlinien. Gleichzeitig gewährleistet
Bundeswehr muss als Arbeitgeber daher attraktiver wer-
die Erhöhung des verfügbaren Finanzvolumens ab 2007
den. Die Bundesminister Scharping und Struck haben
auch notwendige größere Beschaffungsvorhaben, die wir
viele Einzelmaßnahmen im Rahmen des Attraktivitäts-
alle kennen, ob es nun die Fregatte 125, das U-Boot 212,
programms gestartet. Das werden wir mit Minister Jung
der Schützenpanzer Puma oder der GTK Boxer sind.
fortsetzen.
Vielleicht sollte man in diesem Rahmen darüber disku-
tieren, ob die Priorisierung des EGV auf das Jahr 2014 In guter und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit
sinnvoll ist oder ob der EGV nicht deutlich eher ge- dem Bundeswehrverband und seinem Vorsitzenden
braucht werden könnte. Oberst Gertz haben wir nicht nur in den letzten Jahren,
sondern auch in diesem Jahr wichtige Planstellenverbes-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
serungen durchgesetzt.
bei Abgeordneten der FDP)
(Beifall bei der SPD – Alexander Bonde
Der positive Ansatz des 39. Finanzplans darf nicht
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da muss er
durch die vorgesehene Mehrwertsteuererhöhung von 16
selber lachen!)
auf 19 Prozent, die auch auf die Bundeswehr zukommt,
zurückgenommen werden. Deshalb wird man mit den Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle allen, die
Haushältern und Finanzpolitikern der großen Koalition bei der unverzichtbaren Nachwuchsgewinnung mitwir-
über die 300 Millionen Euro, mit denen der Verteidi- ken. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind gemeinsam
gungsetat dadurch belastet wird, noch diskutieren und mit unseren zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
nach Lösungen suchen müssen. Ziel muss es sein, der unser wichtigstes Kapital.
Bundeswehr einen ihren Aufträgen angemessenen Etat
zur Verfügung zu stellen. Hier stehen wir alle im Wort. Für Materialerhaltung sind 1,9 Milliarden Euro ver-
anschlagt; das sind 7,9 Prozent des Etats. Für die sonsti-
Lassen Sie mich einige Worte zur Struktur des gen Betriebsausgaben wie Verpflegung, Unterhalt von
Haushaltes 2006 und dessen zukünftiger Entwicklung Liegenschaften oder Kraftstoffe stehen 3,5 Milliarden
sagen. Für Personal sind im Entwurf des Haushaltes Euro im Entwurf; das sind 14,8 Prozent des Etats. Zu-
rund 11,8 Milliarden Euro veranschlagt. Mit 49,3 Pro- sammen kommt man auf 72 Prozent des gesamten Ver-
(B) zent sinkt der Anteil der Personalkosten das erste Mal teidigungsetats für Personal- und Betriebsausgaben. Das (D)
seit der Wende auf unter 50 Prozent. Der Kollege ist ein erschreckend hoher Anteil. Hier wird sich noch
Schäfer von der PDS hat gefordert, dass wir laufend ab- einiges bewegen müssen. Das kann man mit aller Deut-
rüsten. Wir haben, seit der real existierende Sozialismus lichkeit feststellen. Ansonsten werden wir die ange-
endlich untergegangen ist und mit ihm Ihr Verein, bei strebte Investitionsquote nämlich nicht erreichen.
der Zahl der Soldaten eine Einsparung und Abrüstung
erreicht, die ihresgleichen sucht. Dazu haben Sie durch Die Betriebsausgaben sollen unter anderem durch
den planwirtschaftlichen Ruin dieses Staates beigetra- eine stärkere Kostensenkung in der Materialerhaltung,
gen. zum Beispiel über weitere Kooperationen mit der Wirt-
schaft, und durch eine weitere Konsolidierung des Per-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei sonalhaushalts – insbesondere beim Zivilpersonal –
der CDU/CSU und der FDP – Paul Schäfer reduziert werden. Der Anteil der Personal- und Be-
[Köln] [DIE LINKE]: Wie lange wollen Sie triebsausgaben wird bis 2009 auf 68 Prozent sinken, wo-
diese Platte noch auflegen?) bei der Anteil der Personalkosten dann nur noch 46 Pro-
zent dieses Etats ausmachen soll. Das ist auch dringend
– Getroffene Hunde bellen. So ist das nun einmal. Abge-
notwendig.
sehen davon sind Sie Wessi, der in der DKP war.
Durch Betreiberlösungen, die so genannten öffent-
Das Verteidigungsministerium hat in den letzten
lich-privaten Partnerschaften, lassen sich einige Kosten-
15 Jahren deutlich mehr Personal abgebaut, als der Bun-
senkungen bewerkstelligen. Die Kooperationen mit der
desfinanzminister das für die ganze Bundesverwaltung
Wirtschaft gewinnen bei uns an Gewicht. Seit der erst-
vorgegeben hat. Ein Großteil der Einsparung insgesamt
maligen Veranschlagung im Jahre 2003 ist dieser Ausga-
ist also auf die Einsparungen bei der Bundeswehr zu-
benbereich um mehr als das Zehnfache auf über
rückzuführen. Das muss auch den Haushältern der ande-
650 Millionen Euro angewachsen. Eines muss man bei
ren Bereiche gesagt werden, wenn dort über Einsparun-
diesem Bereich allerdings auch sagen: Man muss hier
gen gesprochen wird. Die Bundeswehr hat 85 Prozent
zur Vorsicht mahnen. Nicht jede Lösung, durch die Leis-
der gesamten Einsparungen beim Personal des Bundes
tungen aus Kostengründen aus der Bundeswehr heraus-
erbracht. Das muss man einmal zur Kenntnis nehmen.
verlagert werden, ist unbedingt besser. Die Probephasen
Gleichzeitig muss man noch etwas anderes zur und den späteren Betrieb dieser Kooperationslösungen
Kenntnis nehmen: Obwohl der Personalumfang nahezu – wie zum Beispiel die BwFuhrpark-Service GmbH, die
halbiert wurde, sind die Personalkosten fast gleich ge- HIL, die LH Bundeswehr Bekleidungsgesellschaft
blieben. Das zeigt, wie schwierig Personalkosten beim GmbH und andere – müssen wir kritisch und konstruktiv
2298 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Johannes Kahrs
(A) begleiten. Wir wollen das, wir wollen aber auch, dass es Weiterhin haben wir die Zahl der Wehrübungsplätze (C)
funktioniert, und es muss für die Bundeswehr die bes- von 2 300 auf 2 400 erhöht. Insbesondere den Kollegen
sere Lösung sein. Das ist nicht immer die preiswertere Beck und Höfer sowie dem Verband der Reservisten der
Lösung. Deutschen Bundeswehr muss man hierfür danken.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
der CDU/CSU)
Ich begrüße insbesondere auch das klare Bekenntnis
Wirtschaftlichkeit kann nicht das einzige Kriterium sein. zur Wehrpflicht, das unser Minister Jung hier heute ab-
Die Effizienz muss auch stimmen. Gleichzeitig darf man gegeben hat. Das ist richtig und gut. Die große Koalition
aber auch nie vergessen, den innovativen und flexiblen freut sich und steht dazu.
Mittelstand zu beteiligen. Das gerät hier manchmal unter
die Räder. Gerade als SPD-Fraktion werden wir deutlich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
darauf schauen, dass sich das ändert. Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein kurzes Wort
Die Bundeswehr muss sich auf ihre Kernaufgaben zum Einsatz im Kongo sagen. Es ist hier heute ja schon
konzentrieren können. Das ist wichtig. Die Privatwirt- viel darüber gesprochen worden. Das, was innerhalb der
schaft soll Aufgaben erfüllen, die sie besser und preis- Koalition zu den Bedingungen, an die dieser Einsatz ge-
werter leisten kann. Das geht aber eben auch nicht im- knüpft wird, gesagt wird, muss eingehalten werden. Da-
mer. Schauen Sie sich zum Beispiel das Marinearsenal rüber werden wir in der Koalition kritisch diskutieren
an. Dort haben wir gesehen, dass das so nicht funktio- und dies kritisch begleiten. Wenn gesagt wird, dass der
niert. Einsatz vier Monate dauert, dann gelten vier Monate.
Wenn gesagt wird, dass das Einsatzgebiet begrenzt ist,
Ein Anheben der verteidigungsinvestiven Ausgaben dann gilt auch ein begrenztes Einsatzgebiet. Wenn ge-
auf 30 Prozent kann bei einem gegebenen Plafond nur sagt wird, dass wir nach vier Monaten rausgehen, dann
durch eine Senkung der Betriebsausgaben erfolgen. Dies gilt das. Ich persönlich glaube, dass man uns in der
werden wir entsprechend umsetzen. Gleichzeitig wollen nächsten Woche einen klaren Beschluss vorlegen sollte.
wir die Investitionsausgaben insbesondere für die Berei- Dann wissen wir, worüber wir abstimmen. Einmal
che Forschung, Entwicklung und Erprobung sowie für Kongo, immer Kongo – das darf, soll und wird es mit
die militärische Beschaffung steigern. Alle großen Vor- uns nicht geben.
haben, die unter Rudolf Scharping und Peter Struck an-
gestoßen worden sind, sind hier abgebildet. Dies gilt Glück auf!
auch für den gültigen Finanzplan bis zum Jahre 2009. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(B) Das ist auch gut so. Schwierigkeiten gibt es für die Jahre (D)
danach. Wir alle werden darauf schauen müssen, dass
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
wir nicht Dinge beschließen und versprechen, die wir
dann in den Jahren 2010 ff. nicht halten können. Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Jürgen Koppelin.
Weiterhin darf nie in Vergessenheit geraten, dass der
Transformationsprozess, die Anpassung der Bundeswehr Jürgen Koppelin (FDP):
an sich immer wieder ändernde Aufträge, bedeutet, dass
sich auch Beschaffungsaufträge ändern können. Das Verehrter Herr Kollege Kahrs, auch ich bin Bericht-
heißt, Dinge, die wir noch vor wenigen Jahren beschlos- erstatter für den Einzelplan 14 im Haushaltsausschuss.
sen haben, können in zwei oder drei Jahren schon falsch Deswegen kann ich die Bemerkung, die Sie zum Etat ge-
oder nicht mehr ganz so richtig sein. Es kann sein, dass macht haben, natürlich so nicht stehen lassen.
man geringere Stückzahlen braucht, weil sich die Lage Es mag sein – Minister Jung und Minister Steinbrück
verändert hat. Wenn wir die Bundeswehr immer mit dem sind gelobt worden –, dass der Etat in seiner Höhe un-
aktuellen und besten Gerät ausrüsten wollen, dann müs- verändert geblieben ist. Gleichzeitig muss man sich aber
sen wir auch hier flexibel sein und prüfen, wie man mit anschauen, was aus diesem Etat neuerdings bezahlt wer-
solchen Verträgen umgeht. Man sollte also auch in den muss. Dazu hätte ich schon gerne die Meinung des
Deutschland im Bereich der Rüstungsbeschaffung inno- Abgeordneten Kahrs gehört. Aufgrund der Zeit, die für
vative Wege gehen. Wir können uns ja einmal unsere eine Kurzintervention zur Verfügung steht, nenne ich nur
Nachbarländer anschauen. Vielleicht kann man von den ein Beispiel.
Partnern in der NATO ja das eine oder andere lernen.
Ist es in Ordnung, aus dem Verteidigungsetat, dem
(Beifall des Abg. Ernst-Reinhard Beck [Reut- Einzelplan 14, den deutschen Zuschuss für die Lieferung
lingen] [CDU/CSU] sowie des Abg. von U-Booten nach Israel zu bezahlen? Wäre es nicht
Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- besser – wenn man das politisch so entscheidet, wie Rot-
NEN]) Grün es gemacht hat –, diesen Zuschuss aus dem
Unsere Bundeswehr kann nur funktionieren, wenn un- Einzelplan 60 zu bezahlen? Wieso muss der Bundesver-
sere Soldatinnen und Soldaten optimal ausgerüstet sind. teidigungsminister den Zuschuss für die Lieferung der
Deswegen ist insbesondere die persönliche Ausstattung U-Boote nach Israel aus seinem Etat bezahlen, auch
der Soldaten wichtig. wenn – ich sage es noch einmal – die politische Ent-
scheidung, den Kauf der U-Boote für Israel zu unterstüt-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zen, schon unter Rot-Grün getroffen wurde?
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2299
Jürgen Koppelin
(A) Ich finde das jedenfalls nicht in Ordnung; denn das ist Der zum Christentum übergetretene Afghane (C)
ein Minus im Einzelplan 14. Vielleicht sollte die Koali- Abdur Rahman hat Angaben der Regierung in Ka-
tion überlegen, den Vorstellungen der FDP zu folgen, bul zufolge sein Heimatland verlassen.
dies aus dem Einzelplan 60 zu bezahlen, damit der Etat
In der Tickermeldung etwa eine Stunde später heißt es,
des Verteidigungsministers nicht angetastet wird. Wir je-
dass er auf dem Weg nach Italien ist und dort politisches
denfalls werden einen Antrag stellen, diesen Zuschuss
Asyl erhält. – Dieses Problem scheint also als solches
für die Lieferung der U-Boote nicht aus dem Etat des
kein Problem mehr zu sein.
Einzelplans 14 zu leisten.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
(Beifall bei der FDP) FDP sowie des Abg. Alexander Bonde
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Dazu möchte ich unbedingt nicht nur der Bundeskanzle-
Herr Kollege, wollen Sie darauf antworten? – Bitte rin, sondern auch dem Außenminister und allen demo-
sehr. kratischen Kräften in diesem Hohen Hause danken,
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Johannes Kahrs (SPD):
GRÜNEN]: Und vor allem dem Papst!)
Selbstverständlich will ich antworten. – Herr Kollege
Koppelin, Sie wissen ja, dass ich Sie sehr schätze. Wir die sich sehr dafür eingesetzt haben, dass diese Lösung
arbeiten schließlich eng und vertrauensvoll zusammen. möglich wurde.
(Ute Kumpf [SPD]: Haben Sie gehört?) (Beifall bei der CDU/CSU)
Ich möchte Sie an dieser Stelle aber gerne daran erin- Gestatten Sie mir eine zweite persönliche Bemer-
nern, dass schon früher drei U-Boote nach Israel gelie- kung. Der Minister ist auf die Einsatzfähigkeit der Bun-
fert worden sind. Damals setzte sich die Regierungs- deswehr eingegangen und hat lobend erwähnt, dass die-
koalition anders zusammen. Über die Finanzierung ser Teil des öffentlichen Dienstes Einsatz auch nach dem
schweigen wir uns an dieser Stelle lieber ganz aus. Wenn Ende der offiziellen Dienstzeit zeige. Ich möchte als Ab-
man ehrlich ist, muss man sagen, dass wir dieses Mal geordnete aus Mecklenburg-Vorpommern an dieser
nur ein Drittel der Kosten für die Lieferung der U-Boote Stelle der Bundeswehr ganz besonders für ihren dortigen
übernehmen. Ich glaube, das war früher ganz anders. Einsatz – vor allen Dingen auf Rügen – im Zusammen-
Wenn man sich anschaut, in welchen Tranchen dies im hang mit der Vogelgrippe danken. Das sage ich als
Verteidigungsetat stattfindet, und wenn man sich außer- Haushälterin auch im Hinblick darauf, dass wir es schaf-
(B) dem die Einnahmen und Ausgaben dieses Etats ansieht, fen, die „Generosität“ so weit zu treiben, dass das Bun- (D)
dann ist das – das wissen Sie genauso gut wie ich – ver- desland die Kosten dafür nicht übernehmen muss.
tretbar. Ich möchte drittens auch im Namen des Kollegen
Bartholomäus Kalb der Bundeswehr danken, die bei der
Die Zuschüsse sind zurzeit noch im Einzelplan 60
Schneekatastrophe im Bayerischen Wald so tapfer ge-
enthalten. Trotzdem werden sie zulasten des Einzel-
kämpft hat. Wir alle haben noch die Bilder in Erinnerung
plans 14 gehen. Deswegen ist das, was Sie sagen, rich-
und genießen jetzt die drei Tage, an denen das Wetter
tig. Aber dies ist auch in der Sache gut und richtig. Wir
schön war, ganz besonders. Was die vielen kleinen
alle wollen, dass Israel diese U-Boote erhält. Wir kennen
Flüsse im Bayerischen Wald angeht, die eventuell von
die Probleme Israels. In der Vergangenheit wurden ent-
Hochwasser betroffen sein könnten, bleibt abzuwarten,
sprechende Lieferungen – diese drei U-Boote – ganz an-
ob wir die Bundeswehr nicht noch einmal brauchen kön-
ders gehandhabt. Deswegen glaube ich, dass der Be-
nen.
schluss, den Rot-Grün gefasst hat und der inzwischen
von Schwarz-Rot exekutiert wird, in diesem Hause mit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
großer Mehrheit getragen wird.
Des Weiteren möchte ich auch den Soldatinnen und
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Soldaten, die sich im Einsatz befinden, meinen Dank
aussprechen. Denn sie sorgen sich um Freiheit und Men-
schenwürde. Das ist oft ein schwieriger Dienst. Die der-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
zeit circa 7 500 Soldaten im weltweiten Einsatz tragen
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Susanne Jaffke also nicht nur unser Verständnis von Demokratie und
für die CDU/CSU-Fraktion. Toleranz im Wertegefüge in andere Kulturkreise, son-
(Beifall bei der CDU/CSU) dern sie sind auch im besten Sinne des Wortes Botschaf-
ter für die Bundesrepublik Deutschland.
Susanne Jaffke (CDU/CSU): Mit dem Ansatz von circa 23,9 Milliarden Euro hat
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der Entwurf zum Wehretat eine Verstetigung erfahren.
Gestatten Sie mir zu Beginn meiner Ausführungen drei Darüber ist schon berichtet worden. Ich möchte in die-
persönliche Bemerkungen. sem Zusammenhang darauf hinweisen, dass auch der
Wehretat einen kleinen Einsparbeitrag leistet. Denn trotz
Erstens. Frau Kollegin Homburger, ich kann Sie beru- der Verstetigung ist er mit einem Anteil von 9,1 Prozent
higen. Die Tickermeldung von 16.43 Uhr lautet: am Bundeshaushalt im Vergleich zum vergangenen Jahr,
2300 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Susanne Jaffke
(A) als der Wehretat noch 9,4 Prozent des Gesamtetats be- Susanne Jaffke (CDU/CSU): (C)
trug, etwas abgeschmolzen worden. Ja.
Im Zuge der Strukturanpassungen bleibt auch die
Transformation der Bundeswehr mit einer Zielstruktur Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
von 250 000 Soldatinnen und Soldaten sowie Frau Kollegin Jaffke, darf ich Ihre Einlassungen so
75 000 zivilen Angestellten, Beamten und Arbeitern im verstehen, dass Ihre Fraktion den Antrag auf Streichung
Jahr 2010 eine besondere Herausforderung. Es ist un- der Haushaltsmittel für die GEBB und auf Beendigung
schwer zu erkennen, dass in den nächsten Monaten die dieses Projektes – diesen hat Ihr Vorgänger als Bericht-
Durchplanung der neuen Strukturen im Mittelpunkt ste- erstatter, Herr Austermann, jahrelang eingebracht – ab
hen muss. Die Regierungskoalition wird also zum Ende sofort nicht mehr stellen wird?
dieses Jahres die Personalbedarfsermittlungen zur Ziel-
stellenstruktur vor allem bei den Zivilbeschäftigten beim Susanne Jaffke (CDU/CSU):
Ministerium abfragen. Herr Kollege Bonde, der Antrag wird so mit Sicher-
Kommen wir zu den großen Ausgabenblöcken. Es ist heit nicht wieder gestellt. Sie wissen genau, dass wir uns
bereits angesprochen worden, dass die Personalausgaben bei dem einen oder anderen Verfahren in der Diskonti-
mit 11,8 Milliarden Euro erstmalig unter 50 Prozent des nuität befinden. Deshalb ist es nach einer Überprüfung
Wehretats gesunken sind. Des Weiteren sind 6,02 Mil- und den Bemerkungen des Bundesrechnungshofes ver-
liarden Euro für die verteidigungsinvestiven Ausgaben nünftig, dass wir das Verteidigungsministerium bei der
und 5,43 Milliarden Euro für allgemeine Betriebsausga- Weiterentwicklung und der notwendigen Umstrukturie-
ben und Materialerhaltung veranschlagt. 650 Millionen rung unterstützen werden. Das ist in der Koalition abge-
Euro sind für so genannte Betreiberlösungen veran- stimmt. Sie sind eingeladen, diesem Wege nachhaltig zu
schlagt. folgen.
Zu den Betreiberlösungen möchte ich einiges aus- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
führen. In diesem Parlament ist lange und heftig über die
Bereiche GEBB, HIL oder Herkules gestritten worden. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nach dem Vorliegen erster Prüfberichte des Bundesrech- Frau Kollegin, Sie sind zwar schon am Ende Ihrer
nungshofes und den persönlichen Erfahrungen vieler Rede. Aber gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des
Kollegen in diesem Haus denke ich, dass der beschrit- Kollegen Koppelin?
tene Weg der Weiterentwicklung der Betreiberlösungen
begrüßt werden kann.
(B) Susanne Jaffke (CDU/CSU): (D)
Erfahrungen, die im Bereich Liegenschaftsmanage- Wir könnten noch viel reden.
ment gesammelt wurden, sollen mit den Erfahrungen der
BImA verglichen werden und zu Optimierungen in der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Liegenschaftsverwaltung führen. Auch die BwFuhrpark-
Frau Kollegin, gestatten Sie?
service GmbH und die Bekleidungsgesellschaft werden
strategisch weiterentwickelt und mit zusätzlichen Aufga-
ben betraut. Dass sie durch die Organisationsumstruktu- Susanne Jaffke (CDU/CSU):
rierung im Ministerium mit der neu zu schaffenden Ja.
Abteilung M besser kontrolliert werden sollen, ist eben-
falls zu begrüßen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Die weitere Einführung der Heeresinstandsetzungslo- Bitte, Herr Koppelin.
gistik steht noch unter Parlamentskontrolle.
Jürgen Koppelin (FDP):
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Kollegin Jaffke, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? men, dass die FDP den Antrag auf Streichung der Mittel
für die GEBB – dem haben Sie im letzten Jahr zuge-
stimmt – stellen wird?
Susanne Jaffke (CDU/CSU):
Gleich. – Hier sehe ich unsere besondere Verantwor-
tung, durch Transparenz in der Vergabe vor allen Dingen Susanne Jaffke (CDU/CSU):
dem Mittelstand weiterhin die Möglichkeit zu geben, an Wir werden über diesen Antrag inhaltlich genauso be-
Aufträgen zu partizipieren und die Kosten insgesamt zu raten und hoffen, dass Sie sich den neuen Gegebenheiten
senken, damit Spielräume für notwendige Investitions- anpassen. Dann können wir im Ausschuss in der Sache
maßnahmen geschaffen werden können. trefflich diskutieren.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Wenn ich noch ein letztes Wort sagen darf? – Der
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wehretat ist ein schwieriger Etat. Große Herausforde-
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des rungen werden nicht nur im Jahr 2006, sondern vor allen
Kollegen Bonde von den Grünen? Dingen auch im Jahr 2007 zu bewältigen sein. Wenn wir
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2301
Susanne Jaffke
(A) es aber gemeinsam beherzt anpacken, können wir es Gleiche –: Schafft doch die ganze Bundeswehr ab, dann (C)
schaffen. wird die Rente schlagartig höher! – Mit so etwas kann
man nur bedingt Punkte sammeln: vielleicht für zwei,
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) drei Minuten. Sie sagen, in Ihrer Politik sei Deeskalation
das Ziel. Dann wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: mir einmal die Mittel nennen würden, mit denen Sie es-
Ich erteile das Wort dem Kollegen Gerd Höfer für die kalieren wollen, je nachdem, was gerade so passiert ist.
SPD-Fraktion.
Seltsam finde ich die Diskussion über die Führungs-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rolle bei Einsätzen, sei es bei der NATO, bei Einsätzen
der CDU/CSU) der Europäischen Union oder bei rein deutschen. Wenn
jemand die Führung übernehmen soll, dann ist das doch
Gerd Höfer (SPD): nichts Schlimmes; dann kann er das auch. Die Sache mit
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- den Hüten ist schwer zu vermitteln, aber eigentlich ganz
legen! Die Kürze der Zeit erlaubt es mir nur, sporadisch einfach: Wenn ein deutscher General sich einen europäi-
auf einige Ausführungen zu antworten. Ich möchte aber schen Hut aufsetzt, dann ist er eben kein deutscher Ge-
versuchen, es so darzulegen, dass sich jeder wiederfin- neral mehr, sondern er führt eine europäische Eingreif-
det. truppe. Genauso hat ein deutscher General, der die
Kompetenz hat und in der NATO an führender Stelle
Eine der Hauptschwierigkeiten bei der Aufstellung ei- sitzt, den NATO-Hut auf, wodurch er ein NATO-General
nes Verteidigungsetats – es heißt nicht „Wehretat“; da- ist, auch wenn er nach wie vor von der Bundesrepublik
rauf sollten wir uns einigen – ist, dass man über Szena- Deutschland bezahlt wird. Nach der Führungsrolle und
rien unabhängig voneinander nachdenken muss. Der alte nach der Verantwortung zu fragen, ist also Vernebe-
Kalte Krieg und bestimmte schreckliche Dinge, die lungstaktik. Wer Verantwortung übernehmen will, darf
schon passiert sind, vernebeln unsere Gedanken daran, sich auch vor Führung nicht drücken! Von daher ist diese
was wir eigentlich beschaffen sollten und was nicht. Ich Diskussion unnütz.
weise Sie darauf hin, dass – teilweise aufgrund von Er-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
findungen wie Dual-Use-Produkten – eine bedrohliche
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Entwicklung entstehen kann, der man begegnen muss,
GRÜNEN)
bevor man in die Nähe der Bedrohung kommt. Das
macht die Ausgestaltung der Ausrüstung der Bundes- Lassen Sie mich einen etwas dezidierteren Blick in
wehr sehr schwierig und führt dazu, dass manche Dinge den Haushalt werfen. Art. 87 a des Grundgesetzes
(B) doppelt genutzt werden, sehr verehrte Frau Hoff. Die schreibt vor, dass der Haushaltsplan die zahlenmäßige (D)
Entwicklungshilfeministerin – sie ist leider nicht mehr Stärke der Bundeswehr und die Grundzüge ihrer Organi-
anwesend – wird froh sein, wenn statt 60 beispielsweise sation erkennen lassen muss. Wer sich in Kapitel 1403
80 A400M zur Verfügung stehen; denn ich vermute, dass auskennt, sieht, wie die Bundeswehr gegliedert ist. Dass
die Masse dieser Transportflugzeuge genutzt wird, um die SKB die passende Stelle noch nicht gefunden hat,
humanitäre Hilfe zu leisten, und dass weniger militäri- liegt daran, dass die neue Gliederung der Bundeswehr
sches Personal in diesen Flugzeugen transportiert wird sich erst einspielen muss; diese Abbildung wird noch er-
als ziviles Hilfspersonal. So wird es wahrscheinlich folgen.
kommen.
Was mich nachdenklich stimmt – da möchte ich den
Der Kalte Krieg hätte zwar auf deutschem Boden Kollegen Kahrs nachdrücklich unterstützen –, ist, wer die
stattgefunden, wenn er sich erhitzt hätte. Aber man hätte Last der Einsätze trägt. Das ist natürlich überwiegend
keine strategische Verlegefähigkeit zur See und in der das Heer; wobei die Verdienste von Luftwaffe, Marine,
Luft gebraucht, genauso wenig wie manch andere Dinge. SKB und Sanitätsdienst in keiner Weise geschmälert wer-
Es ist gut, dass die Geschichte darüber hinweggegangen den sollen. Es geht mir um etwas anderes: In Kapitel 1403
ist; denn wenn wir uns anschauen würden, welches sind allein 30 012 A-7-plus-Zulage-Stellen – das sind die
Schutzpotenzial das alte Material bis 1989/90 hatte, kä- Oberfeldwebel – ausgewiesen, 29 930 A-6-Stellen – das
men wir heute zu ganz anderen Erkenntnissen. Herr sind die Stabsunteroffiziere –, 20 742 A-8-plus-Zulage-
Bonde, insofern handelt es sich nicht um eine Industrie- Stellen – die Hauptfeldwebel – und 19 188 A-4-plus-Zu-
politik, die nur dann etwas tut und brav springt, wenn die lage-Stellen – das sind die Hauptgefreiten. Die Last der
Industrie ein Stöckchen hochhält; so ist es tatsächlich Einsätze tragen also die Soldatinnen und Soldaten des
nicht. Wenn der Minister ein Doppelminister sein sollte, mittleren Dienstes, den wir in einigen Bereichen der
dann hat er zumindest seine Verdienste um den Erhalt Bundesrepublik Deutschland überhaupt nicht mehr ha-
bestimmter Kernfähigkeiten in der Bundesrepublik ben.
Deutschland. Das ist auch gut so.
Der Hinweis des Kollegen Kahrs auf die Nachwuchs-
Herr Schäfer, man sollte immer das Ganze vor seinen lage hat etwas mit der Attraktivität der Bezahlung zu
Teilen sehen. Ich kann jedenfalls nicht erkennen, dass tun. Daran, dass andere sicherheitsrelevante Berufe Ein-
der Haushalt des Verteidigungsministers unverhältnis- gangsbesoldungen haben, die bei A 5 oder A 7 beginnen,
mäßig hoch ist und den Gesamthaushalt übermäßig be- sehen wir, welche Schwierigkeiten auf uns zukommen.
lastet. Das Spiel, das ich immer wieder von kleineren Um die Attraktivität zu steigern, werden wir im mittle-
Gruppen höre, ist natürlich beliebt – es ist immer das ren Dienst, möglicherweise abgestuft, sicherlich etwas
2302 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Gerd Höfer
(A) tun müssen, damit wir die Leistungsträger, die die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (C)
Hauptlast der Einsätze tragen, also vom Hauptgefreiten
bis zum Hauptfeldwebel, in ausreichender Zahl und ho- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
her Qualität bekommen können. Dies ist eine Zukunfts- Weitere Wortmeldungen zu dem Geschäftsbereich
aufgabe, die sich sicherlich auch der Bundeswehrver- Verteidigung liegen nicht vor.
band auf die Fahnen geschrieben hat. Wir sollten
möglichst zügig daran arbeiten. Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie und Entwicklung, Einzelplan 23.
bei Abgeordneten der FDP)
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die der De-
Da der Name des Kollege Beck erwähnt worden ist,
batte nicht folgen wollen, ihre Gespräche außerhalb des
lassen Sie mich abschließend etwas zu den Reservisten
Saales zu führen.
sagen. Zunächst danke ich allen Kolleginnen und Kolle-
gen, die am 14. März 2006 am Parlamentarischen Abend Ich erteile für die Bundesregierung der Bundesminis-
im Haus der Deutschen Wirtschaft teilgenommen haben. terin Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort.
Dem Haus der Deutschen Wirtschaft vielen Dank für die
Gastfreundschaft und für die hervorragende Organisa- Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
tion dieses Abends! wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Die Reservisten stellen bis zu 12 Prozent der an den Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auslandseinsätzen der Bundeswehr Beteiligten. Der Deutschland wird in der Entwicklungszusammenarbeit
Kollege Beck und ich haben uns bei einer Reise in das seine internationale Rolle und Verantwortung auf der
Kosovo ausschließlich mit der Frage der Reservisten be- Grundlage folgender Prinzipien wahrnehmen: Globali-
fasst und sie dort besucht. Ohne Reservisten geht bei der sierung gerecht gestalten, Armut bekämpfen – das nach
Bundeswehr gar nichts mehr, allerdings geht bei den Re- wie vor überwölbende Ziel unserer Entwicklungszusam-
servisten ohne die Bundeswehr auch nichts mehr. menarbeit ist die Orientierung auf die Armutsbekämp-
fung –, Frieden sichern oder stiften und Umwelt und na-
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der türliche Lebensgrundlagen bewahren. Ich möchte mich
SPD und der CDU/CSU) an dieser Stelle ausdrücklich bei der Bundeskanzlerin
Das ist so. Wir müssen der Transformation der Bun- bedanken, die heute Morgen in ihrer Rede sehr deutlich
deswehr folgen. Wir haben schließlich den Ehrgeiz, die noch einmal den Stufenplan zur Steigerung der Mittel
Reservisten so auszubilden, dass sie in der Bundeswehr für die Entwicklungszusammenarbeit betont hat.
(B) jederzeit einsatzbereit sind und dass sie die Erfahrungen, Deutschland steht zu seinem Wort, jetzt und in Zukunft. (D)
die sie bei der Bundeswehr gesammelt haben, nicht nur Vor fünf Jahren haben wir eine Zielmarke gesetzt.
bei uns einbringen, sondern auch bei der Industrie, die 2006 sollte eine Quote an Entwicklungszusammenarbeit
daraus möglicherweise Vorteile zieht. – ODA – von 0,33 Prozent erreicht werden. Dieses Ver-
Ich bitte Sie herzlich, aufmerksam zu beobachten, sprechen lösen wir ein, übrigens bereits mit dem Jahr
wenn der Reservistenverband im Verteidigungsaus- 2005. Die OECD wird in wenigen Tagen bekannt geben,
schuss seinen Rechenschaftsbericht wird abgeben müs- dass wir im Jahr 2005 eine ODA-Quote von 0,35 Pro-
sen. Im Kap. 1403 auf Seite 30 steht klar, dass wir nicht zent erreicht haben. Das ist, so finde ich, ein großer Er-
überflüssig sind: folg und das sollten wir sehr deutlich machen.
Dem „Verband der Reservisten der Deutschen Bun- Unsere Linie für die nächsten Schritte ist klar. Sie um-
deswehr e. V.“ ist die Aufgabe übertragen worden, fasst drei Elemente. Dazu zählen – erstens – mehr Haus-
aus der Bundeswehr ausgeschiedene Offiziere, Un- haltsmittel. Ich will an dieser Stelle sagen: Unser Ressort
teroffiziere und Mannschaften nach Richtlinien des ist das Ressort, das für den Haushalt 2006 zusätzliche
Bundesministeriums der Verteidigung im Rahmen Mittel in Höhe von 300 Millionen Euro erhalten hat. Ich
des Wehrrechts zu betreuen und fortzubilden. freue mich darüber; denn das ist eine Steigerung, die in
den letzten Jahren nicht zustande gekommen ist. Ich
Das wollen wir gerne tun. Dazu brauchen wir Ihre parla- freue mich, dass wir das erreicht haben. Wir brauchen
mentarische Unterstützung; denn von der Qualität der aber noch weitere Mittel. Das will ich auch ausdrücklich
dort organisierten Reservistinnen und Reservisten hängt sagen.
auch ab, wie sich die Bundeswehr demnächst in der Flä-
che präsentiert. Wir haben mit über 2 000 Reservisten- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
kameradschaften eine ziemlich große Verbreitung in der der CDU/CSU)
Bundesrepublik Deutschland. Den Bürgerinnen und Bür-
Wenn wir erreichen wollen, dass die ODA-Quote bis
gern ist es egal, ob jemand, der in Bundeswehruniform
2010 bei 0,51 Prozent und bis 2015 bei 0,7 Prozent liegt,
erscheint, ein Reservist oder ein Aktiver ist. Dieses
dann müssen wir nicht nur die entsprechenden Haus-
Potenzial weiterhin aufrecht zu erhalten und qualifiziert
haltsmittel zur Verfügung stellen, sondern auch dafür
zu begleiten, darum darf ich Sie auch im Namen des
sorgen, dass – zweitens – weitere Schritte zur Entschul-
Kollegen Beck, des Präsidenten des Verbandes, hier und
dung der Entwicklungsländer ergriffen und – drittens –
heute herzlich bitten.
innovative Finanzierungsinstrumente gefunden wer-
Damit beende ich meine Rede. den.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2303
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
(A) Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich dem franzö- Ich war im Jahr 2004 in diesem Land. Unsere Ent- (C)
sischen Staatspräsidenten Chirac für seine antreibende wicklungsmitarbeiter sind dort seit 2003 tätig. Sie leisten
Rolle bei der Entwicklung von innovativen Finanzie- wirklich hervorragende Arbeit. Die Menschen dort, mit
rungsinstrumenten danken. Eine Reihe von Ländern denen ich gesprochen habe – damit meine ich jetzt nicht
schreitet voran: Frankreich, aber auch Brasilien und die Politiker –, haben gesagt: Wir wollen mit unserer
Chile haben erklärt, dass sie in nächster Zeit eine Ent- Stimme dazu beitragen, dass der Gewalt ein Ende ge-
wicklungsabgabe auf Flugtickets einführen werden. Wir setzt wird.
als Bundesregierung haben über die Frage eines be-
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Ist auch
stimmten Instruments zur innovativen Finanzierung
in Ordnung!)
noch nicht entschieden. Sie können aber ganz sicher
sein, dass wir darüber so rechtzeitig entscheiden, dass Deshalb betone ich an dieser Stelle: Wenn wir die
wir die Zielmarke erreichen werden. Chance haben, einen Beitrag zur Stabilisierung dieses
Wahlprozesses und dieses Übergangsprozesses zu leis-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
ten, dann müssen wir sie nutzen, und zwar gerade dann,
CDU/CSU)
wenn man sich als links versteht.
Das können wir anhand der jetzt erreichten 0,35 Prozent (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
belegen. der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal sagen: Viele GRÜNEN)
Menschen in Deutschland, die helfen möchten, wollen 4 Millionen Menschen in dieser Region sind in den
– wir haben das immer wieder gesehen –, dass der Skan- 90er-Jahren Opfer interner Auseinandersetzungen ge-
dal, dass an jedem Tag 30 000 Kinder an vermeidba- worden. Dennoch fragen manche: Liegt es denn im deut-
ren Krankheiten sterben, ein Ende hat. Lassen Sie uns schen Interesse, einzugreifen? Die Welt hat schwere
alles dafür tun! Lassen Sie uns dazu unsere Beiträge Fehler gemacht, als sie sich dem Völkermord in Ruanda
bündeln! damals nicht entgegengestellt hat. Ruanda wird nur dann
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auf Dauer sicher sein, wenn es einen stabilen Kongo
der CDU/CSU) gibt. Wir sind gemeinsam überzeugt, dass wir alles tun
müssen, um dem Blutvergießen ein Ende zu setzen. Das
Ich möchte auf etwas zu sprechen kommen, was mit ist eine gemeinsame Verpflichtung und sie ist – das will
der globalen Armutsbekämpfung und mit gerechter Glo- ich ausdrücklich sagen – nicht von der Hautfarbe abhän-
balisierung zusammenhängt: Es geht um die Energie- gig.
politik. Am 3. April 2006 findet der Energiegipfel statt.
(B) Gerade für Entwicklungsländer ist die effiziente Nut- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem (D)
zung von Energie, auch von erneuerbarer Energie, be- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sonders wichtig. Dieser Bereich ist zu einem Markenzei- Manche reden darüber wie der Blinde von der Farbe.
chen deutscher Entwicklungszusammenarbeit geworden. Man könnte besser darüber reden, wenn man einmal dort
Wir kooperieren auf dem Gebiet der erneuerbaren Ener- gewesen wäre. Mittlerweile – das hat uns der UN-Unter-
gien mit 35 Ländern in Afrika, Lateinamerika, Asien, generalsekretär Egeland gestern gesagt – sind 1,6 Millio-
Südosteuropa und im Nahen Osten. Wir kooperieren auf nen Flüchtlinge ins Land zurückgekehrt. Wollen wir
dem Gebiet der Energieeffizienz mit 28 Ländern. nicht dazu beitragen, dass sie eine eigene Zukunfts-
Die Gründe liegen auf der Hand: Einheimische Quel- chance haben?
len sind erreichbar und verlässlich; die Energie, die dort Heute ist gesagt worden – ich glaube, es war Herr
produziert wird, hat erschwingliche Preise. Zugleich Schäfer –, das Militär sei dabei doch nicht alles. Was
sind diese Quellen ökologisch nachhaltig, weil durch machen wir in der Entwicklungszusammenarbeit? Was
ihre Nutzung Klimarisiken abgewendet werden. Ihre machen wir schon bisher, was wir verstärkt voranbrin-
Nutzung bedeutet Sicherheit, weil sie die Abhängigkeit gen wollen? Wir tragen zur Wiedereingliederung von
vom Öl reduziert. Im Sinne einer friedlichen Lösung ist Kämpfern in das zivile Leben bei. Wir helfen bei der Be-
dieser Weg sinnvoll. kämpfung von Aids. Wir helfen Kindersoldaten zurück
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ in ein Leben ohne Gewalt. Wir unterstützen die Versor-
CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- gung mit sauberem Trinkwasser. Wir helfen beim Schutz
NEN) und Management der natürlichen Ressourcen. Herr
Fischer, wer das einmal vor Ort erlebt hat, der dankt den
Deshalb werden wir diesen Bereich besonders stärken. Entwicklungsmitarbeitern, die ihre Arbeit dort unter Be-
(Unruhe) dingungen leisten, die – das will ich an dieser Stelle aus-
drücklich sagen – wirklich schwierig sind.
Ich bin der Debatte den ganzen Tag gefolgt.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem
(Zuruf von der Linken: Wir auch!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der LINKEN)
Ich hoffe, dass andere der Debatte über das Thema Ent-
wicklungshilfe genauso zuhören. Lassen Sie mich daher Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Die UN hat
etwas zum Kongo sagen. Ich wende mich hier gerade ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in dieser Region
auch an die Linke. eines der Probleme die Rohstoffextraktion und die
2304 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Hellmut Königshaus
(A) (Beifall bei der FDP) Arnold Vaatz (CDU/CSU): (C)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Der Mitteleinsatz muss in Zukunft an der Bedürftig- Herren! Ich glaube, es ist ein wichtiges Signal, dass un-
keit und an der Kooperationswilligkeit der Empfänger- sere Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre erste Rede zur
länder orientiert werden. Good Governance, über die im- Verteidigung ihres Haushaltes damit begonnen hat, über
mer gesprochen wird, darf nicht zu einer Modephrase unsere entwicklungspolitischen Ziele zu reden.
verkommen, sondern sie muss die Grundlage für die
staatliche Entwicklungszusammenarbeit sein. Das gilt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
für Afghanistan – Sie haben den Fall Rahman schon an- neten der SPD)
gesprochen – genauso wie für jeden anderen Landstrich Frau Bundesministerin, auch wenn Sie schon darauf
dieser Erde. eingegangen sind, möchte ich dennoch einen Gesichts-
Frau Ministerin, Sie müssen auch loslassen lernen. punkt zum Thema Afghanistan hervorheben. Der afgha-
Die Länder, die auf eigenen Beinen stehen können, soll- nische Bürger Abdul Rahman, der lange Zeit in
ten dies auch tun. Wir brauchen jeden Cent für die wirk- Deutschland gelebt hat, zum Christentum übergetreten
lich Bedürftigen dieser Welt. Sie haben das gerade bei ist und in einem politischen Prozess mit dem Tode be-
der Vorstellung Ihrer Globalziele beschrieben. Entwick- droht war, wurde erwähnt. Es ist unbefriedigend, dass es
lungszusammenarbeit, nur um vor Ort präsent zu sein, ist überhaupt zu diesem Prozess gekommen ist. Es ist unbe-
pure Geldverschwendung. friedigend, dass Rahman mit der Begründung der Unzu-
rechnungsfähigkeit freigesprochen worden ist.
(Beifall bei der FDP)
(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Jawohl! – Hans-
Wir müssen deshalb unsere Zusammenarbeit mit den Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Schwellenländern überdenken. Ihr Ankerländerkon- NEN]: Das ist aber sehr milde ausgedrückt!)
zept geht in die falsche Richtung. Länder wie China, In- Es ist unbefriedigend, dass wir darüber nachdenken
dien, Südafrika und Brasilien sind in der Lage, aus eige- müssen, ob er bei uns Asyl bekommen könnte.
ner Kraft zu wachsen. Wir müssen den Mut aufbringen,
Ländern, die es aus eigener Kraft geschafft haben, zu sa- (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Jawohl!)
gen: Ihr könnt es jetzt alleine; ihr braucht unser Geld Aber es ist ein riesiger Erfolg, dass dieser Prozess über-
nicht mehr; wir konzentrieren die Mittel auf die, die sie haupt vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattgefun-
wirklich brauchen. den hat. An diesem riesigen Erfolg haben unsere ge-
(Beifall bei der FDP) meinsame Außenpolitik und unsere Entwicklungspolitik
einen ganz wesentlichen Anteil.
(B) (D)
Wir konnten bei Vertretern dieser Länder eine posi-
tive Resonanz für diese Position finden. Von einem Land (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
wie beispielsweise China, das über die größten Wäh- neten der SPD)
rungsreserven der Erde verfügt, kann man aufgrund sei- Die Ministerin hat über den Kongo gesprochen. Es ist
ner Wirtschaftskraft verlangen, die Armutsursachenbe- unbefriedigend, dass es im Kongo noch immer einige
kämpfung und die Armutsfolgenbekämpfung selber in nicht demobilisierte Milizen gibt. Es ist unbefriedigend,
die Hand zu nehmen. Dazu sind diese Länder auch be- dass es dort noch Kindersoldaten gibt. Es ist unbefriedi-
reit. Das gilt natürlich nicht, wenn sie dazu nicht aufge- gend, dass sich dort noch Geschäftemacher die Boden-
fordert werden. schätze dieses Landes auf dunklen Kanälen illegal aneig-
nen. All das ist unbefriedigend. Aber es ist ein riesiger
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Erfolg unserer gemeinsamen Politik und im Übrigen
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Es ist gut, auch der Koordination unserer Politik mit den Politiken
dass sich die CDU/CSU ganz offenkundig dieser Posi- der afrikanischen Staaten, dass es zu Wahlen kommt und
tion der FDP nun anzuschließen gedenkt. Der Kollege der Präsident des Kongo bereit ist, internationale Trup-
Kampeter hat sich sehr glaubhaft und eindeutig in dieser pen als Garant eines ordnungsgemäßen Verlaufs dieser
Richtung geäußert. Wahlen in sein Land hineinzulassen.
(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Kluger Mann!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
– Genau, ein kluger Mann. – Wir würden uns freuen, Auch das ist ein Erfolg der Abstimmung der Außenpoli-
wenn die Koalition insgesamt sich dem anschließen tik und der Entwicklungspolitik sowie ein Erfolg der po-
würde. Nur Mut, Frau Ministerin! Schließen auch Sie litischen Koordination der Staaten in Afrika, die letzten
sich an! Endes von den demokratischen Staaten Europas ihren
Danke schön. Ausgang genommen hat.
(Beifall bei der FDP) Aus diesem Grunde halte ich es für in höchstem Maße
unverantwortlich, wenn wir wie beispielsweise die FDP
im letzten Augenblick sagen: Okay, die Dinge sind gut
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: eingerichtet. Alles läuft auf Demokratie und eine posi-
Das Wort hat nun der Kollege Arnold Vaatz für die tive Entwicklung zu. Aber für den letzten Schritt, um zur
CDU/CSU-Fraktion. Demokratie überzuleiten, nämlich für demokratische
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2307
Arnold Vaatz
(A) Wahlen und die Respektierung des Ergebnisses, setzen Schulden zurückzahlen, und wir geben ihnen (C)
wir uns nicht mehr ein. Das lassen wir sie jetzt selber noch Geld!)
machen. – Wenn wir so denken, dann machen wir die
– Herr Löning, das ist richtig. Sie wissen aber ganz ge-
jahrelangen Anstrengungen in der Entwicklungspolitik
nau, dass es in Nigeria nicht nur die von Ihnen angespro-
mit einem Schlag zunichte.
chenen ölreichen Küstengebiete gibt. Ich halte es für au-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ßerordentlich wichtig, dass wir uns in diesem Land
neten der SPD) entsprechend unserem Ziel, Haushaltsmittel als Kataly-
sator für die Mobilisierung anderer Finanzquellen einzu-
Wir müssen uns in diesem Fall berechtigterweise fragen setzen, engagieren.
lassen, welchen Sinn unsere Entwicklungspolitik hat,
wenn wir davor zurückscheuen, das letzte Ziel in Angriff Insbesondere in Nigeria hat sich die Gewährung von
zu nehmen. Mikrokrediten als erfolgreiches und sehr effizientes Mit-
tel zur Finanzierung von Existenzgründungen erwiesen.
Meine Damen und Herren, wir reden über die Finan-
zierung unserer entwicklungspolitischen Ziele. Das ist (Markus Löning (FDP): Die brauchen kein
der Sinn einer Haushaltsdebatte. Die ODA-Quote, über Geld!)
die wir heute auch reden, nämlich bis zum Jahr 2015 im Wenn es uns möglich ist, Haushaltsmittel nicht bloß aus-
Haushalt die Marke von 0,7 Prozent des Bruttonational- zugeben, sondern sie als Katalysator zur Entwicklung
produktes für Entwicklungshilfe vorzusehen, ist ein sehr von Eigeninitiative und zur Entwicklung von Existenzen
ehrgeiziges Ziel. Wir haben dafür keine Zaubermittel. in diesem Lande zu nutzen, dann sollten wir das tun.
Wir haben die Möglichkeit, die Haushaltsmittel zu erhö- Man sollte die Länder, die aufgrund der hohen Verschul-
hen. dung ihre Hände ausstrecken, nicht verhungern lassen.
(Markus Löning [FDP]: Wie finanzieren Sie (Beifall bei der CDU/CSU – Hellmut
das denn?) Königshaus [FDP]: Das Geld, das nach Nige-
Wir haben die Möglichkeit, das Instrument des Schul- ria geht, wird dafür verwendet, oder was?)
denerlasses zu nutzen. Wir haben die Möglichkeit, inno- – Sie wissen selber, dass die Mikrokredite nicht an Staa-
vative Finanzierungsinstrumente zu mobilisieren, die die ten, sondern an Privatpersonen gehen.
Frau Ministerin eben genannt hat.
(Markus Löning [FDP]: Heißt das dann mehr Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Steuern oder mehr Schulden?) Meine Herren Kollegen, Sie können versuchen, eine
(B) Zwischenfrage zu stellen. Vielleicht interessiert sich (D)
Zur Erhöhung der Haushaltsmittel: Wir haben es tat- dann der Redner.
sächlich geschafft, 300 Millionen Euro zusätzlich – das
sind 8 Prozent mehr – in diesen Haushalt einzustellen.
Frau Ministerin, mein Kompliment, dass das gelungen Arnold Vaatz (CDU/CSU):
ist! Das ist das Ergebnis einer guten Gemeinschaftsleis- Richtig. – Es ist außerdem wichtig, dass wir überle-
tung der Koalition. Darauf können wir stolz sein. gen, was wir tun können, um die Privatwirtschaft in
Deutschland zu aktivieren und zu ermutigen, in Nigeria
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) zu investieren. Ich glaube, dass hier in der letzten Zeit zu
Wir sind uns natürlich darüber im Klaren, dass das In- wenig über die Frage der Aktivitäten der Privatwirt-
strument des Schuldenerlasses zweischneidig ist. Schul- schaft gesprochen worden ist. Wir müssen alles tun, um
denerlass darf nicht dazu führen, dass sofort wieder neue Privaten die Möglichkeit zu geben, entwicklungspoliti-
Schulden gemacht werden. sche Impulse zu setzen.
(Markus Löning [FDP]: Aber so läuft es Unsere Entwicklungspolitik besteht aus mehreren
doch!) Komponenten. Eine davon ist die Armutsbekämpfung.
Auch hier muss das Stichwort „Hilfe zur Selbsthilfe“ als
Darauf haben wir zu achten. Herr Kollege Löning, das Erstes genannt werden.
bedeutet aber nicht, dass wir das Instrument mit dem
(Beifall des Abg. Hellmut Königshaus [FDP])
pauschalen Argument, es würden nach dem Erlass neue
Schulden gemacht, von vornherein entwerten sollten. Wo das nicht reicht, ist es notwendig, auch über andere
Das darf nicht sein. Das Instrument des Schuldenerlasses Maßnahmen nachzudenken. Es ist außerordentlich wich-
ist im Kontext der jeweiligen Situation zu betrachten. tig, dass wir eine regionale Subsidiarität fordern. Was
Genau das werden wir tun. Entsprechend werden wir bedeutet das? Wenn in einem Land eine Hungersnot aus-
2006 auf diesem Wege dem Irak und Nigeria – das Fi- bricht, ist es natürlich nicht allein die Aufgabe des weit
nanzministerium hat es errechnet – 1,6 Milliarden Euro entfernten Deutschland, dort zu helfen. Es ist auch un-
zukommen lassen. sere Aufgabe; aber es ist ebenso notwendig, dass sich
ebenfalls die Anrainerländer in solchen Fällen verant-
(Markus Löning [FDP]: Ausgerechnet den Ni-
wortlich fühlen und ihre Hilfe zur Verfügung stellen.
gerianern, denen das Öl aus den Ohren heraus-
Darauf müssen wir in der Entwicklungshilfe drängen.
kommt! Wissen Sie, wie hoch die Mehrein-
nahmen Nigerias aufgrund der gestiegenen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Ölpreise sind? Nigeria kann damit seine der FDP)
2308 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Arnold Vaatz
(A) Wir müssen dabei auch stärker beachten, dass der Genauso falsch sind die Antworten, die beispiels- (C)
Multilateralismus in diesem Bereich effizienter gestaltet weise Frau Merkel heute in der Debatte gegeben hat. Sie
werden muss als bisher. Das heißt, wir müssen etwas hat nämlich gesagt, dass wir unter anderem wegen des
tun, um die internationalen Institutionen, zum Beispiel Problems afrikanischer Flüchtlinge an europäischen
WTO, Weltbank und IWF, in ihrem Ansehen zu stärken. Grenzen Soldaten in den Kongo schickten. Da muss ich
Der Bürger der Bundesrepublik Deutschland wird be- Ihnen einmal sagen, Frau Wieczorek-Zeul: Wenn es um
rechtigterweise fragen, wie es um die Effizienz beim die Stützung eines Wahlprozesses geht, wieso brauchen
Umgang mit dem Geld, das wir geben, gestellt sei. Des- wir dann Militär?
halb stellt sich die Frage: Wie stark ist unser Einfluss in
diesen Institutionen? Es ist notwendig, unseren Einfluss (Beifall bei der LINKEN)
in Zukunft zu stärken. Ich habe sehr viel Wahlbeobachtung gemacht. Ich habe
Vertreter der MONUC gefragt: Wieso brauchen wir be-
Meine Damen und Herren, man könnte die Diskus-
sion noch wesentlich weiter führen. Ich möchte – mit Ih- waffnete Wahlbeobachter? Sie konnten mir darauf keine
rer Genehmigung, Frau Präsidentin – nur noch ein Wort Antwort geben.
sagen: Unsere innere und äußere Sicherheit ist so gut, Solch ein Einsatz ist völlig unsinnig. Die entscheiden-
wie es uns gelingt, die innere und äußere Sicherheit an- den Weichenstellungen für die Wahlen werden nicht am
derswo auf der Welt – Stichworte „Demokratie“ und Wahltag vorgenommen, sondern im Vorfeld des Wahl-
„gute Regierungsführung“ – zu entwickeln und stärken prozesses.
zu helfen und daran auch die Intensität unseres entwick-
lungspolitischen Beitrags festzumachen. Das sollte eines (Zuruf von der CDU/CSU: Welche Wahlbe-
unserer Kernziele sein. Nicht Projektitis und Gießkanne, obachter wollen Sie denn bewaffnen?)
sondern direkte Hilfe beim Aufbau von nachhaltigen Wo sind denn jetzt Ihre Leute, die einen demokratischen
Strukturen! Wahlprozess und den Zugang zu Medien absichern?
Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 50 bis 100 Dollar muss eine Person zahlen, um sich auf-
neten der SPD – Zuruf von der SPD: Machen stellen zu lassen. 50 000 Dollar müssen von einem Präsi-
wir seit 1998!) dentschaftskandidaten gezahlt werden. Der Zugang zu
solchen Wahlen ist doch nicht demokratisch.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Beifall bei der LINKEN)
(B) Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort die Kol- (D)
legin Heike Hänsel. Sichern wir nachher den Sieger einer undemokratischen
Wahl militärisch ab? Das ist doch völlig unrealistisch.
(Beifall bei der LINKEN) Wir müssen jetzt aktiv werden und dort breite Prozesse
organisieren. Wir dürfen nicht meinen, mit dem Militär
Heike Hänsel (DIE LINKE): dort etwas zu lösen.
Danke. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der LINKEN)
Kollegen! Ich möchte kurz einen Satz aus der Koali-
tionsvereinbarung zitieren. Darin steht zum Thema Ent- Wir brauchen, was die Lösung der Flüchtlingsfrage
wicklungspolitik unter anderem: angeht, keine Soldaten in Afrika. Wir brauchen auch
keine höheren Zäune und dickeren Mauern an den euro-
Die Folgen der sich verschärfenden Entwicklungs- päischen Außengrenzen. Wir brauchen erst recht keine
probleme vor allem in Afrika, aber auch in Teilen Auffanglager, wie sie zum Beispiel in Tansania oder
Asiens und Lateinamerikas, gefährden unmittelbar Osteuropa geplant sind.
Frieden und Wohlstand in Deutschland und Europa.
(Beifall bei der LINKEN)
(Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl! – So ist
das!) Das ist eine menschenfeindliche Politik. Das sind die
falschen Antworten auf eine falsche Analyse. Sie sind
Wenn ich das lese, dann muss ich feststellen, dass das schon gar kein Beitrag zur Entwicklungszusammenar-
eine völlig falsche Darstellung von Wirkung und Ursa- beit.
che mit weit reichenden Folgen ist.
(Abg. Karin Kortmann [SPD] meldet sich zu
(Beifall bei der LINKEN) einer Zwischenfrage)
Nicht wir sind bedroht; es ist genau umgekehrt: Die jahr-
hundertelange Ausbeutung der Länder des Südens sowie Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
die jetzige neoliberale Weltwirtschaftsordnung und die Frau Kollegin – –
Kriegspolitik bedeuten eine ständige Bedrohung für die
Existenz von Millionen von Menschen.
Heike Hänsel (DIE LINKE):
(Beifall bei der LINKEN – Hellmut Ich lasse jetzt keine Zwischenfragen zu. Ich möchte
Königshaus [FDP]: Wir sind gegen den Kon- erst einmal meine Gedanken entwickeln. Sie können da-
goeinsatz!) nach gerne eine Kurzintervention machen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2309
Heike Hänsel
(A) Das Problem ist, dass solche Auffanglager dann wo- Wir setzen uns ganz klar nicht für eine Privatisierung (C)
möglich aus dem Haushalt finanziert werden. Wir müs- der Dienstleistungen und der Sicherungssysteme, son-
sen Fluchtursachen bekämpfen und nicht die Menschen, dern für den Aufbau und die Stärkung der Sicherungs-
die zu uns kommen. Wir müssen ganz klar aufzeigen, systeme in den Ländern des Südens ein.
was die herrschende Weltwirtschaftsordnung und unsere
(Beifall bei der LINKEN)
Politik, die dazu beiträgt, bedeuten.
Leider wird diese Politik aber zum großen Teil nicht im
Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf
Entwicklungshilfeministerium, sondern im Wirtschafts-
Nahrung, Jean Ziegler, sagt: Die Weltwirtschaftsordnung
und im Finanzministerium sowie auf europäischer Ebene
tötet tagtäglich Menschen und verhindert eine selbstbe-
gemacht.
stimmte Entwicklung der Menschen in den Ländern des
Südens. So lange wir an dem Primat der Wettbewerbsfähig-
keit, wie sie unter anderem in der Lissabonstrategie for-
Eine Säule dieser Weltwirtschaftsordnung ist die muliert wurde, festhalten – die EU muss der dyna-
Welthandelsorganisation WTO. Sie hat sich den freien mischste Wirtschaftsraum der Welt werden; wir in
Markt und den Freihandel auf die Fahnen geschrieben; Deutschland müssen vorankommen; wir müssen wieder
das ist ihr oberstes Prinzip. Nummer eins werden –, so lange wir das Prinzip von
(Markus Löning [FDP]: Das ist ein sehr gutes Siegern und Verlierern in unserer Politik nach außen ver-
Prinzip!) treten, haben die Länder des Südens keine Entwick-
lungschancen.
Wir lehnen diese Politik der WTO ab, die auf umfas-
sende Handelsliberalisierung, auf Deregulierung und auf (Beifall bei der LINKEN)
Liberalisierung der öffentlichen Dienstleistungen setzt. Diese Politik steht dem Prinzip der ökologischen Nach-
(Beifall bei der LINKEN) haltigkeit und dem Vorhaben der weltweiten Armutsbe-
kämpfung diametral entgegen.
Wir haben in vielen Ländern, zum Beispiel Lateinameri-
kas, ganz klar gesehen, dass genau diese neoliberale In diesem Zusammenhang spielt die ODA-Quote eine
Ausrichtung den Menschen ihre Existenzgrundlagen ent- untergeordnete Rolle. Es ist gut, dass sie jetzt, nachdem
zieht, dass sie zu Armut, zu Ausgrenzung und zu fehlen- sie bei Rot-Grün ständig gesunken ist, erhöht werden
dem Zugang zur Grundversorgung führt. soll. Sie ist aber nur ein Bestandteil.
(Beifall bei der LINKEN – Markus Löning (Karin Kortmann [SPD]: Sie ist kontinuierlich
[FDP]: Das Gegenteil ist richtig!) gestiegen!)
(B) (D)
Das sind fundamentale Menschenrechte, die ständig ver- Wir brauchen eine grundsätzlich andere, eine solidari-
letzt werden. Dazu habe ich heute in der Debatte zu den sche Politik in den weltwirtschaftlichen Beziehungen.
Menschenrechten keinen einzigen Ton gehört. (Beifall bei der LINKEN)
Auch der Begriff „Armutsbekämpfung“ wurde viel zu Ich möchte einen weiteren für uns entscheidenden
selten erwähnt. Die Millenniumsziele, auf die wir uns Punkt anführen. Die Entwicklungspolitik ist laut Koali-
alle stützen, wurden in der heutigen Debatte überhaupt tionsvertrag integraler Bestandteil der deutschen Außen-
nicht genannt. und Sicherheitspolitik. Wer die heutige Debatte ver-
Entscheidend ist, dass wir konkrete Vorschläge ma- folgt hat, hat aber erkannt, dass es in der Außenpolitik
chen, wie wir das Ziel der Halbierung der Armut bis hauptsächlich nur noch um wirtschaftliche und hegemo-
2015 erreichen wollen. Wir setzen ganz eindeutig auf niale Interessen geht. Im Grunde ist das Ziel, die EU als
eine eigenständige Entwicklung der Länder des Südens. neue Großmacht in der Welt zu etablieren.
Sie müssen vor einer aggressiven Marktöffnungspolitik In diesem Zusammenhang wurde oft genug der
der Industrieländer und der multinationalen Konzerne Kampf gegen den Terrorismus genannt. Unter diesem
geschützt werden. Wir brauchen umfassende Entschul- Stichwort wird die Militarisierung der Politik vorange-
dungsinitiativen ohne daran geknüpfte neoliberale Be- trieben und der Kampf um den Zugang zu Energieres-
dingungen. sourcen geführt, der die zivile und soziale Entwicklung
(Beifall bei der LINKEN) weltweit hemmt.
Die Entwicklung des ländlichen Raumes, kleinbäuerli- Es geht nicht nur generell um Militäreinsätze, sondern
cher Strukturen – sie wollen wir übrigens ohne die Ver- auch darum, dass sie zunehmend, wie nun zum Beispiel
wendung gentechnisch veränderten Saatgutes schaffen – im Sudan, aus Mitteln des Entwicklungshilfefonds der
und regionaler Märkte spielen dabei eine entscheidende EU finanziert werden sollen.
Rolle. (Beifall der Abg. Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN])
(Beifall bei der LINKEN)
Wir lehnen den gesamten Komplex der zivilmilitäri-
Frau Wieczorek-Zeul, Ihre Initiative zu den regenera-
schen Zusammenarbeit ab. Das ist die falsche Entwick-
tiven Energien finde ich sehr gut. Dabei unterstützen wir
lung.
Sie. Die regenerativen Energien sind eine zentrale Säule
für die Entwicklung des ländlichen Raumes. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
2310 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Heike Hänsel
(A) Wenn wir zivile und militärische Aufgaben, wie zum sehr, dass sich auch Ihre Fraktion einmal der Probleme (C)
Beispiel in Afghanistan, vermischen, sind Entwicklungs- im Kongo intensiver annimmt und zu Lernprozessen
hilfeorganisationen vor Ort gefährdet. Die Entwick- kommt.
lungshilfe wird instrumentalisiert. Infolgedessen braucht
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Längst passiert!)
das Militär noch mehr finanzielle Mittel.
Manchmal sind es sehr schmerzhafte Lernprozesse. Wir
Wir sind der Meinung: Soldaten sind keine Entwick-
haben nach Ruanda gesagt: Nie wieder zusehen. – Man
lungshelfer. Wir brauchen eine Stärkung der zivilen Auf-
kann auch durch unterlassene Hilfeleistung schwere
gaben und keine weitere Militarisierung der Politik.
Schuld auf sich laden.
(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
[Göttingen] [CDU/CSU]: Sie lassen die Men-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
schen krepieren!)
SPD und der FDP)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Absicherung eines Wahlprozesses ist kein Kriegs-
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. einsatz. Ich hoffe sehr, dass Sie da zu einer differenzier-
teren Sichtweise kommen werden.
Heike Hänsel (DIE LINKE):
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Wieczorek-Zeul, insofern unterstützen wir den
zivilen Friedensdienst, den Sie angeregt haben. Wir Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
glauben aber, dass der zivile Friedensdienst nicht paral- Kollegen Aydin?
lel zu Militärinterventionen stattfinden soll und nicht zur
Nachsorge von militärischen Interventionen geeignet ist, Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sondern die Alternative zu der Politik, die hier formuliert Ja.
wurde, ist. Darum wünschen wir uns eine umfassende
Erhöhung der Mittel. Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE):
(Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank, Herr Kollege Hoppe. – Bezüglich des
möglichen Kongoeinsatzes wird hier immer wieder be-
hauptet, dass wir im Kongo Soldaten einsetzen müssen,
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: damit die Wahlen ordnungsgemäß organisiert und zu
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende. Ende geführt werden können.
(B) Heike Hänsel (DIE LINKE):
(Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
NEN]: Nein, das stimmt nicht!)
Ja. – Weltweit gibt es immer mehr Menschen, die ge-
gen diese Politik aufstehen. Das erleben wir in vielen – Das ist ein Teil der Argumentation; ich habe heute gut
Ländern und den Sozialforen. Die Linke versteht sich als genug zugehört.
Teil dieser weltweiten Bewegung.
Für diese Wahl sollten sich bis morgen 500 Personen
Danke. als Kandidaten anmelden. Laut BBC haben sich bis
heute Morgen erst 100 Kandidaten angemeldet.
(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer
[Göttingen] [CDU/CSU]: Das müssen Sie den (Norbert Königshofen [CDU/CSU]: Was ist
Menschen im Ostkongo einmal erzählen!) die Frage?)
– Dazu komme ich jetzt. – Es hat nur ein einziger Präsi-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dentschaftskandidat ohne Milizen die Kandidatur ange-
Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede in diesem meldet; allerdings wird er wahrscheinlich die erforder-
Haus. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich dazu, verbunden lichen 50 000 Dollar nicht haben.
mit den besten Wünschen.
Jetzt frage ich Sie, all die Befürworter: Glauben Sie
(Beifall) erstens, dass die Wahlen unter diesen Bedingungen über-
Nun hat das Wort der Kollege Thilo Hoppe von der haupt im Juni stattfinden werden? Glauben Sie zweitens,
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. dass wir unter diesen Bedingungen mit militärischem
Einsatz eine demokratisch organisierte Wahl durchfüh-
(Markus Löning [FDP]: Attacke!) ren können?
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Keine Attacke, ich bin friedlich.
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege, haben Sie zur Kenntnis genommen,
Bevor ich zum Haushalt spreche, muss ich kurz auf das dass die Wahl bereits um einige Wochen verschoben
Vorangegangene eingehen. Liebe Kollegin Hänsel, worden ist, um genau diesen Unregelmäßigkeiten und
Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede! Ich teile durchaus ei- Problemen noch nachzugehen? Der Einsatz der Soldaten
nige, sogar viele Ihrer Positionen und die Kritik an unge- dient nicht dazu, die Wahlurnen an den richtigen Ort zu
rechten Strukturen der Weltwirtschaft. Aber ich hoffe bringen, sondern es ist eine Absicherung, damit die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2311
Thilo Hoppe
(A) Wahlverlierer nicht in die Versuchung geraten, das (Zuruf von der SPD: Jawohl!) (C)
Wahlergebnis zu korrigieren. Das Ganze ist nicht die
Idee der Europäischen Union, sondern beruht auf einer Aber das darf kein Lippenbekenntnis bleiben. Das muss
Anfrage der Vereinten Nationen, der MONUC, einer An- durch Fakten, Zahlen und Verpflichtungsermächtigun-
frage von Kofi Annan. Es ist auch wichtig für Ihre Frak- gen untermauert werden.
tion, zur Kenntnis zu nehmen, dass viele NGOs, die Ih- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
nen sehr nahe stehen, diesen Einsatz befürworten.
Eine Kürzung der Verpflichtungsermächtigungen wäre
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das völlig falsche Signal.
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/ Jetzt fordere ich insbesondere die CDU/CSU-Frak-
CSU]: Auch die Afrikanische Union! – Weite- tion auf, die Haushaltsreden von Peter Weiß, der heute
rer Zuruf von der CDU/CSU: Und Kabila!) nicht mehr in diesem Arbeitsbereich tätig ist, genau zu
lesen. Der Kollege Weiß hat die Regierung immer davor
– Und auch die Afrikanische Union. Danke für diesen gewarnt, sich bei der Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels
Hinweis. zu sehr auf den Schuldenerlass zu verlassen. Mit dem
Erlass der enormen Schulden, insbesondere des Iraks,
Ich wollte eigentlich zum Haushalt sprechen, aber ich kann man die ODA-Quote kurzfristig in die Höhe trei-
muss noch eines vorwegschikken: All das, was von mei- ben. Aber das wäre zu einem Großteil geschönte Statis-
nen Vorrednern, von Herrn Vaatz und von der Ministe- tik ohne jeden Mehrwert für die Entwicklungszusam-
rin, zum Fall Abdul Rahman gesagt wurde, möchte ich menarbeit.
hier ausdrücklich unterstreichen und mit einem großen
Ausrufezeichen versehen. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Wer hat das
denn letztes Jahr gesagt?)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Wenn die Erreichung der Millenniumsziele ein ernst
SPD, der FDP und der LINKEN) gemeintes Ziel ist, dann müssten die Barmittel sowohl
im Einzelplan 23 als auch in den ODA-Quoten-wirksa-
Jetzt zum Haushalt. Wäre ich noch entwicklungspoli- men Titeln anderer Ministerien Jahr für Jahr erhöht wer-
tischer Sprecher einer Koalitionsfraktion, dann würde den. Als Beispiel nenne ich ausdrücklich das Auswärtige
ich sicherlich den erfreulichen Aufwuchs der Barmittel Amt, den Bereich der humanitären Hilfe, die Minenräum-
im Einzelplan 23 loben. Jetzt gehöre ich zur Opposition, programme und den Aktionsplan „Zivile Krisenpräven-
aber mache das Gleiche. tion, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“. Im
(B) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Kabinettsentwurf waren leider sogar Kürzungen vorge- (D)
SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und sehen.
der SPD) Um in den Regierungsverhandlungen mit unseren
Unter den gegebenen Rahmenbedingungen ist das ein Partnerländern gerade für die Zukunft den nötigen Spiel-
Schritt in die richtige Richtung. Es ist zwar weniger, als raum zu haben, müssen sich diese Erhöhungen der kom-
eigentlich nötig wäre, wenn man sich der Erreichung der menden Jahre in den Verpflichtungsermächtigungen wi-
Millenniumsziele konsequent verschriebe, aber ich weiß derspiegeln. Ich kenne das Barmittelproblem, von dem
um die Schwierigkeiten und sage: Immerhin. viele Projekte, gerade im letzten Quartal eines Rech-
nungsjahres, betroffen sind. Aber dieses Problem löst
Genauso hätte ich Folgendes getan und tue es jetzt man nicht durch eine Kürzung der VEs, sondern durch
auch, egal ob aus einer Koalition oder aus der Opposi- eine noch kräftigere Erhöhung der Barmittelansätze.
tion heraus: Ich kritisiere die deutliche Absenkung der
Einige von Ihnen werden nun vielleicht sagen: Wenn
Verpflichtungsermächtigungen scharf. Das hat in der
man in der Opposition ist, ist es leicht, mehr Geld zu for-
Haushaltsdebatte bisher noch gar keine Rolle gespielt.
dern. Aber auch hier gilt: Wie wir es bereits letztes Mal,
Einige werden sich noch an die Haushaltsdebatten in der
als wir noch in der Regierungsverantwortung waren, ge-
letzten Legislaturperiode erinnern. Auch da habe ich
tan haben, legen wir auch nun aus der Opposition heraus
kein Blatt vor den Mund genommen, egal ob die Kritik
eine Gegenfinanzierung, die durchgerechnet ist, auf den
sich an die eigene Regierung, an den Finanzminister
Tisch. Wir sagen also, woher das Geld kommen kann.
oder an die Opposition richtete.
Wir hätten uns zum Beispiel sehr gefreut, wenn Deutsch-
Verpflichtungsermächtigungen stecken den Rahmen land auf der Konferenz in Paris Seite an Seite mit Frank-
dafür ab, was in den nächsten Jahren passieren soll. reich und elf anderen Ländern hinsichtlich der Einfüh-
Noch unter Rot-Grün – besonders auf Betreiben unserer rung einer Flugticketabgabe schon Fakten geschaffen
Fraktion, aber auch der Entwicklungsministerin – hat hätte.
sich die Bundesregierung darauf festgelegt und dazu ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
pflichtet, bis 2015 – das wissen wir alle – mindestens sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwick-
lungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe zur Verfü- Wir wissen, dass auch die zuständige Ministerin dies
gung zu stellen. Erfreulicherweise – das erkennen wir an – gern getan hätte. Aber dafür hatte sie im Kabinett – ich
hat die neue Koalition dies nicht widerrufen, sondern sage hoffnungsvoll: noch – keine Rückendeckung und
ausdrücklich bestätigt. keine Mehrheit.
2312 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Thilo Hoppe
(A) (Karin Kortmann [SPD]: Was steht denn dazu – Ja. – Ähnliches gilt für den Bereich der erneuerbaren (C)
im Koalitionsvertrag?) Energien. Armutsbekämpfung und Umweltschutz müs-
sen viel stärker als bisher miteinander verbunden wer-
Die Ticketabgabe, die Kerosinsteuer und die Devisen- den, statt als Gegensatz betrachtet zu werden.
umsatzsteuer, die Tobin Tax, all diese innovativen Finan-
zierungsinstrumente müssen jetzt endlich in Angriff Ich schaffe es leider nicht mehr, alle weiteren Schwer-
genommen werden. Dabei sollte Deutschland eine füh- punkte aufzuzählen, da bereits das Licht am Rednerpult
rende Rolle spielen, statt ständig nur zu zaudern, zu zö- blinkt.
gern und sich wegzuducken.
Wir werden ein ressortübergreifendes Konzept vor-
(Markus Löning [FDP]: Was ist denn innovativ an legen. Dieses Konzept ist schon ausgearbeitet. Es sieht
mehr Steuern und mehr Schulden?) Aufwüchse bei den Barmitteln und vor allem bei den
Verpflichtungsermächtigungen vor. Das ist der
Ich bin mir natürlich bewusst, dass es im Bereich der
Schwachpunkt des vorgelegten Haushaltsentwurfs. Wir
Entwicklungszusammenarbeit auch, aber nicht nur auf
wollen in diesem Bereich keine Stagnation, sondern Be-
Geld ankommt. Wir müssen enorme Reformanstrengun-
wegung. Als betont konstruktiv-kritische Opposition
gen unternehmen, bei uns und in den Entwicklungslän-
wollen wir unseren Teil dazu beitragen.
dern selbst. Wir müssen für gerechtere Strukturen im
Welthandel und in der internationalen Finanzarchitektur Ich danke Ihnen.
sorgen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
In unserer Entwicklungszusammenarbeit stehen
große Reformen an; das wurde schon gesagt. In diesem Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Zusammenhang ist bereits ein Gutachten in Auftrag ge-
Nun hat die Kollegin Dr. Bärbel Kofler für die SPD-
geben worden.
Fraktion das Wort.
Jetzt möchte ich im Namen des gesamten AWZ an-
mahnen: Wir Parlamentarier möchten in all diese Über- Dr. Bärbel Kofler (SPD):
legungen eng einbezogen werden. Wir möchten nicht Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
vor vollendete Tatsachen gestellt werden, sowohl was gen! Auch ich möchte zu Beginn meiner Rede von mei-
die Reform der Institutionen betrifft als auch was die nem Manuskript abweichen und auf zwei Vorredner ein-
notwendige Reduzierung der Zahl der Partnerländer und gehen.
die Schwerpunktsetzung angeht.
Zunächst zum Beitrag der Kollegin Hänsel von der
(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Fraktion der Linken. Ich würde mich sehr freuen, wenn
(B) genau! Das muss man öffentlich machen!) Ihre Fraktion beim Thema Entwicklungspolitik endlich (D)
Da es im Kampf gegen den Hunger keine Fortschritte die Realitäten zur Kenntnis nehmen würde.
gibt – bei der Erreichung dieses Millenniumsziels haben (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –
wir sogar die größten Rückschritte zu verzeichnen –, Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Das tun
brauchen wir eine enorme Aufwertung des ländlichen wir!)
Raumes.
Ich greife nur einen Punkt heraus. Sie haben in Ihrem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beitrag den Sudan angesprochen. Man muss sich doch
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) die Frage stellen, wie die Entwicklungspolitik gestaltet
In der Anhörung, die hierzu in der letzten Legislatur- werden muss, damit sie den Menschen dient. Man muss
periode durchgeführt wurde, war das fraktionsübergrei- sich überlegen, wie man den Menschen den Zugang zu
fend Konsens. Aber auch das spiegelt sich bisher noch Medikamenten, zu Ressourcen, zur Unterstützung und
nicht in der Politik des BMZ wider. Hier wünsche ich zur Entwicklungshilfe gewähren kann, wenn in ihrem
mir vor allem von der SPD-Fraktion grundsätzlich mehr Land Krieg herrscht und ihnen, wenn sie ein Flüchtlings-
Engagement für den ländlichen Raum. Von der CDU/ lager verlassen, Gefahr für Leib und Leben droht. Es
CSU-Fraktion wünsche ich mir, dass sie darauf verzich- reicht nicht, zu sagen, Militär sei prinzipiell etwas
tet, dieses Thema immer sofort mit einem Werbefeldzug Schlechtes.
für manipuliertes Saatgut, also für die grüne Gentechnik,
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –
zu verbinden. Sie löst das Hungerproblem nicht, sondern
Heike Hänsel [DIE LINKE]: Und hat es den
sie ist in einigen Teilen der Welt sogar ein Teil dieses
Menschen dort geholfen? Haben Sie darüber
Problems und verschärft es sogar noch.
mal nachgedacht?)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zum anderen möchte ich auf den Beitrag von Herrn
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Königshaus eingehen. Herr Königshaus, wir werden ge-
Da ich auf meine Vorredner eingegangen bin, läuft meinsam nach China reisen und uns dort das eine oder
mir meine Redezeit davon. Eigentlich wollte ich noch all andere ansehen können. Vielleicht kommen Sie dann zu
die Bereiche aufzählen, in denen mehr Engagement not- einer anderen Einsicht, was die Entwicklungspolitik mit
wendig ist. So müsste zum Beispiel beim Thema Bio- Ländern wie China angeht.
diversität ein Ruck durch die Entwicklungspolitik gehen.
Selbstverständlich ist nicht alles Gold und Sonnen-
(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Genau! Da schein; das hat von uns und von der Regierung auch nie-
hat er Recht!) mand behauptet. Natürlich ist China als Geberland ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2313
Dr. Bärbel Kofler
(A) fordert, wenn es darum geht, Standards einzuhalten, zum Haushaltsausschuss? Wie werden Sie diesen Konflikt in (C)
Beispiel bei der Kreditvergabe oder bei seiner Afrikapo- der Koalition lösen?
litik. Sich aber aus der Entwicklungszusammenarbeit
mit Ländern wie China ausklinken zu wollen, halte ich Dr. Bärbel Kofler (SPD):
für extrem kontraproduktiv. Sie können die Zusammen- Irren kann jeder.
arbeit mit China zum Beispiel im Bereich der erneuerba-
ren Energien nicht einfach beenden. China ist der welt- (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU – La-
größte Emittent von Schwefeldioxid und der zweitgrößte chen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Emittent von Kohlendioxid. China importiert aus Indo-
nesien, aus Afrika und anderen Entwicklungsländern Ich bin aber guten Mutes, dass wir in der Koalition eine
Holz in enormen Mengen, was entsprechende Schädi- gute Zusammenarbeit pflegen und dass die Kollegen der
gungen der Natur und der Lebensgrundlagen der Men- CDU/CSU mit ihrem Kollegen noch einmal ein Ge-
schen in diesen Ländern zur Folge hat. spräch über diesen Punkt führen werden.
(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Das haben wir
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: schon getan!)
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
– Na also.
Kollegen Königshaus?
Ich komme noch einmal kurz auf den Energiebedarf
Dr. Bärbel Kofler (SPD): in China zurück. Ich bin der Meinung, dass wir damit ein
Bitte. Sie verlängern meine Redezeit. enorm wichtiges Projekt voranbringen können und wer-
den. Das liegt übrigens gerade auch im Interesse der
deutschen Unternehmen, der deutschen Energiepolitik
Hellmut Königshaus (FDP):
und der deutschen Wirtschaft. Dieses Anliegen liegt Ih-
Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh- nen ja vielleicht auch am Herzen.
men, dass ich nicht gesagt habe, dass wir die Entwick-
lungszusammenarbeit einstellen sollen? Das habe ich (Hellmut Königshaus [FDP]: Richtig!)
nicht gefordert. Wir erwarten aber, dass die Länder, die
dazu in der Lage sind, ihre Ressourcen und reichlichen – Dann sind wir uns ja einmal einig, Herr Königshaus.
Finanzmittel dazu einsetzen – China ist eines der Länder Auf einen Punkt wollte ich natürlich schon noch ein-
mit den größten Devisenreserven –, um etwas im eige- gehen. Von der Kollegin Hänsel ist die Aussage gekom-
nen Land für die Armutsbekämpfung und den Aufbau men, die ODA-Quote sei eigentlich gar nicht wichtig
entsprechender Systeme zu tun. Wir sind für Entwick- und interessant. Ihrer Ansicht nach ist das, worüber wir
(B) lungszusammenarbeit mit diesen Ländern, aber diese hier reden, eher Makulatur. Deswegen möchte ich noch (D)
Länder sollen selber dafür bezahlen. Sie sind dazu auch einmal feststellen, dass es nur mit finanziellen Mitteln
bereit. Warum sollten wir dort also Geld mit der Gieß- möglich ist, Entwicklungszusammenarbeit zu betreiben.
kanne verteilen, das dann woanders fehlt? Wir haben jetzt 300 Millionen Euro mehr zur Verfügung.
Das ist ein enormer Aufwuchs in einem Haushalt wie
Dr. Bärbel Kofler (SPD): dem, den wir in diesem Jahr verabschieden werden. Es
Herr Königshaus, das hört sich jetzt schon etwas mo- ist bereits gesagt worden, dass die Mittel im Vergleich
derater an als das, was Sie vorhin gesagt haben. Ich bin zum Haushalt 2005 um knapp 8 Prozent steigen. Gerade
der Meinung, dass wir nicht mit der Gießkanne Mittel in damit kann man nämlich auch im Sinne der Millennium
anderen Ländern verteilen. Selbstverständlich sollen Development Goals, zu denen wir uns alle verpflichtet
diese Länder ihre eigenen Ressourcen in Anspruch neh- haben, den Ressourcenschutz, die Armuts- und Krank-
men. Aber ich habe gerade versucht, Ihnen an einem heitsbekämpfung und den Zugang zur Bildung in den
Beispiel deutlich zu machen, wo Entwicklungszusam- Entwicklungsländern unterstützen und fördern. Wenn
menarbeit besonders dringend ist. Ich bitte darum, nicht ein Haushalt 300 Millionen Euro mehr umfasst und man
mit einem Wisch alle diese Projekte vom Tisch zu fegen. das als Makulatur und nicht wichtig bezeichnet, dann
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) halte ich das eigentlich für der Diskussion nicht ganz
würdig.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischen- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
frage des Kollegen Bonde von der Fraktion des GRÜNEN – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Für
Bündnisses 90/Die Grünen? die Länder sind das Peanuts!)
Die Industrienationen haben sich in Gleneagles auf
Dr. Bärbel Kofler (SPD): einen Schuldenerlass für die ärmsten Länder dieser
Gerne. Welt verständigt. Ich halte das für eine wichtige und
richtige Maßnahme. Die Frau Ministerin hat dankens-
Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): werterweise auch über den Dreiklang gesprochen, der in
Frau Kollegin, können Sie bestätigen, dass der Vor- unseren Haushalt einziehen muss und durch den unsere
schlag, die Entwicklungshilfe an China zu streichen, Finanzierungsmöglichkeiten im Haushalt des Ministeri-
nicht von der FDP kommt, sondern von Ihrem Koali- ums für wirtschaftliche Zusammenarbeit in den nächsten
tionspartner, nämlich von Herrn Kampeter aus dem Jahren gestaltet werden müssen.
2314 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006
Berichtigungen
27. Sitzung, Seite II, nach „Einzelplan 15“ ist „Bun-
desministerium für Gesundheit“ zu lesen.
Seite 2152 (C) 2. Absatz, der 1. Satz ist wie folgt zu
lesen: „Sie wollen nicht nur in der Föderalismusreform,
sondern auch bei Projekten, die dazu führen sollen, glei-
che Standards zu erhalten und Mobilität in Deutschland
zu gewährleisten, zugunsten des Bereichs der Bildungs-
forschung rasieren.“
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. März 2006 2317
Dr. Bartsch, Dietmar DIE LINKE 29.03.2006 Hintze, Peter CDU/CSU 29.03.2006
Bernhardt, Otto CDU/CSU 29.03.2006 Dr. Höll, Barbara DIE LINKE 29.03.2006
Dr. Bisky, Lothar DIE LINKE 29.03.2006 Krichbaum, Gunther CDU/CSU 29.03.2006
Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 29.03.2006 Scheel, Christine BÜNDNIS 90/ 29.03.2006
DIE GRÜNEN
Gabriel, Sigmar SPD 29.03.2006
(B) Schmidt (Nürnberg), SPD 29.03.2006 (D)
Goldmann, Hans- FDP 29.03.2006 Renate
Michael
Dr. Schui, Herbert DIE LINKE 29.03.2006
Gradistanac, Renate SPD 29.03.2006
Dr. Spielmann, Margrit SPD 29.03.2006
Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 29.03.2006
Tauss, Jörg SPD 29.03.2006
Heinen, Ursula CDU/CSU 29.03.2006
Wissmann, Matthias CDU/CSU 29.03.2006
Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/ 29.03.2006
DIE GRÜNEN * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
Hilsberg, Stephan SPD 29.03.2006
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ISSN 0722-7980