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Plenarprotokoll 17/56

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

56. Sitzung

Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 33: Beschäftigungssituation Älterer, ihre wirt-


schaftliche und soziale Lage und die Rente
Abgabe einer Regierungserklärung durch den ab 67
Bundesminister des Auswärtigen: Afghanistan (Drucksachen 17/169, 17/2271) . . . . . . . . . . . 5855 D
und die Konferenz von Kabul – Auf dem
Weg zur Übergabe in Verantwortung . . . . . . 5835 A Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 5856 A
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5835 B BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5857 B
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 5838 A Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5859 B
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . 5839 C Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 5861 A
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 5861 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5840 D Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5861 D
Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 5841 D Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . 5863 C
5843 B
Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5865 A
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5844 C Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 5866 B
Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 5846 C Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5868 B
Johannes Pflug (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5848 A Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . 5869 D
Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5848 D Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5870 C
Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 5849 C Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 5871 C

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . 5850 D Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . . 5872 D

Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 5852 A Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . 5874 A
Fritz Rudolf Körper (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5853 B
Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5875 A
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 5854 B Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 5876 C
Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 5877 C

Tagesordnungspunkt 34:
Tagesordnungspunkt 35:
Große Anfrage der Abgeordneten Klaus Ernst,
Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald, weiterer a) Erste Beratung des von den Fraktionen der
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: CDU/CSU und der FDP eingebrachten Ent-
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

wurfs eines Gesetzes zur Neuordnung c) Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius,
des Arzneimittelmarktes in der Gesetz- Stephan Kühn, Daniela Wagner, weiterer
lichen Krankenversicherung (Arzneimit- Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
telmarktneuordnungsgesetz – AMNOG) NIS 90/DIE GRÜNEN: Lebensqualität und
(Drucksache 17/2413) . . . . . . . . . . . . . . . . 5879 C Investitionssicherheit in unseren Städ-
ten durch Rettung der Städtebauförde-
b) Antrag der Abgeordneten Kathrin Vogler, rung sichern
Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weite- (Drucksache 17/2396) . . . . . . . . . . . . . . . 5892 B
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Für ein modernes Preisbil- Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5892 C
dungssystem bei Arzneimitteln Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5893 C
(Drucksache 17/2324) . . . . . . . . . . . . . . . . 5879 C
Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5895 A
BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5879 D
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär
Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5880 D BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5896 A
Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5882 B Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 5897 A
Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . 5883 B Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . . 5898 B
Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . 5884 A
Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 5884 C Tagesordnungspunkt 37:
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Wolfgang Wieland,
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5885 D Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck (Köln),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Wolfgang Zöller (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 5886 D
NIS 90/DIE GRÜNEN: Elektronischen Per-
Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 5887 A sonalausweis nicht einführen
(Drucksache 17/2432) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5899 C
Maria Anna Klein-Schmeink (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . 5887 C
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5899 D
Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5888 C
Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5889 C
Anlage 1
Michael Hennrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5890 C
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 5901 A

Tagesordnungspunkt 36:
Anlage 2
a) Antrag der Abgeordneten Michael Groß,
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer
des Antrags: Elektronischen Personalausweis
Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
nicht einführen (Tagesordnungspunkt 37)
Angekündigte Mittelkürzung beim CO2-
Gebäudesanierungsprogramm zurück- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 5901 B
nehmen
(Drucksache 17/2346) . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Hofmann (Volkach) (SPD) . . . . . . . . . . 5902 C
5892 A
Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5903 B
b) Antrag der Abgeordneten Stephan Kühn,
Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, weite- Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5904 A
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/
NIS 90/DIE GRÜNEN: CO2-Gebäude-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5905 B
sanierungsprogramm fortführen – Mit
energetischer Sanierung Konjunktur an-
kurbeln, Arbeitsplätze sichern und Klima
Anlage 3
schützen
(Drucksache 17/2395) . . . . . . . . . . . . . . . . 5892 A Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5906 B
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5835

(A) (C)

Redetext

56. Sitzung

Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Kabul-Konferenz ist die erste internationale
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolle- Afghanistan-Konferenz, die in Afghanistan selbst statt-
ginnen und Kollegen! findet. Das ist mehr als Symbolik; es zeigt, dass wir in
dem Prozess der Übergabe von Verantwortung in Verant-
Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung verein-
wortung an die Afghanen eine neue Etappe erreicht ha-
bart, während der Haushaltsberatungen ab dem
ben.
13. September 2010 keine Befragung der Bundesregie-
rung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stun- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
den durchzuführen. Sind Sie damit einverstanden? – Das
ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Deutschland engagiert sich gemeinsam mit über 40
anderen Nationen unter dem Mandat der Vereinten Na-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf: tionen in Afghanistan, damit das Land nicht wieder zum
Abgabe einer Regierungserklärung durch den Rückzugsort für den internationalen Terrorismus wird.
(B) Bundesminister des Auswärtigen Der deutsche Afghanistan-Einsatz ist gewiss nicht popu- (D)
lär, aber er ist unverändert notwendig und in unserem ei-
Afghanistan und die Konferenz von Kabul – genen Interesse. Unsere Landsleute tun in Afghanistan
Auf dem Weg zur Übergabe in Verantwortung ihren Dienst, damit wir hier sicher leben können. Dafür
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion wollen wir ihnen auch danken.
Bündnis 90/Die Grünen vor. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
rung anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es Wider-
Auf der Konferenz in London Anfang des Jahres ha-
spruch dagegen? – Das ist offenkundig nicht der Fall.
ben die afghanische Regierung auf der einen und die in-
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat ternationale Staatengemeinschaft auf der anderen Seite
der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido eine gegenseitige Verpflichtung geschlossen. Die afgha-
Westerwelle. nische Regierung hat sich auf die Ziele bessere Regie-
rungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämp-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
fung und Reduzierung des Drogenanbaus verpflichtet.
Im Gegenzug hat die internationale Gemeinschaft zuge-
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- sagt, ihre Anstrengungen zu erhöhen, damit die Afgha-
wärtigen: nen diese Ziele erreichen können.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren Kolleginnen und Kollegen! Am 20. Juli findet die in- Die internationale Gemeinschaft hat ihre Zusagen er-
ternationale Afghanistan-Konferenz in Kabul statt. Es füllt. Die Bundesregierung hat ihr Afghanistan-Konzept
hätte sicherlich einfachere Orte auf der Welt für diese durch eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
Konferenz gegeben. Die Tatsache, dass diese Außenmi- vor diesem Hohen Hause im Januar vorgelegt und des-
nisterkonferenz in Kabul stattfindet, ist ein Signal. sen Umsetzung auf den Weg gebracht. Ich danke dem
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Der Ort Kabul ist Ausdruck unseres festen Willens, Entwicklung, Dirk Niebel, dafür, dass es gelungen ist,
die vollständige Sicherheitsverantwortung in afghani- Deutschlands zivile Hilfe für die Menschen in Afghanis-
sche Hände zu übergeben. Der Ort Kabul ist ebenso tan beinahe zu verdoppeln.
Ausdruck des festen Wunsches der Afghanen, die Ge-
schicke ihres Landes wieder in die eigenen Hände zu Ebenso fast verdoppeln konnten wir seit Jahresbeginn
nehmen. die Zahl unserer Polizeiausbilder vor Ort. Deswegen
5836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) danke ich ausdrücklich dem Bundesinnenminister Es ist nicht alles gut in Afghanistan. Wer glaubt, wir (C)
Thomas de Maizière und den Bundesländern für diesen könnten am Hindukusch europäische Verhältnisse schaf-
wichtigen Beitrag. fen, der irrt aber. Unser Ziel muss ein Zustand in Afgha-
nistan sein, der gut genug ist. Gut genug heißt, dass die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Afghanen selbst in der Lage sind, in ihrem Land für hin-
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
reichende Stabilität zu sorgen. Gut genug heißt, dass die
Ich danke den Polizisten, die da hinfahren!)
Fortschritte im Bereich der Menschenrechte, die wir seit
Dem Bundesverteidigungsminister, Karl-Theodor zu dem Fall der Taliban-Herrschaft erreicht haben, gesi-
Guttenberg, danke ich für die kollegiale Zusammenar- chert bleiben. Ohne Menschenrechte, ohne das Recht
beit von Frauen und Mädchen auf Bildung, auf Bewegungs-
freiheit, auf Teilhabe am Leben kann es eine nachhaltige
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Stabilisierung des Landes nicht geben.
DIE GRÜNEN)
bei der Neufassung des deutschen ISAF-Mandates ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
mäß unseren internationalen Verabredungen. Gemein- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
sam haben wir den deutschen Schwerpunkt, nämlich die GRÜNEN)
Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte, wei- Es gibt Licht und Schatten in Afghanistan. Viele von
ter verstärkt. Ihnen – aus allen Fraktionen – haben vor Ort Gespräche
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) geführt und sich persönlich ein Bild der Lage gemacht.
Sie wissen, wie gefährlich der Einsatz für unsere Solda-
Neben Umschichtungen im Mandat können wir heute tinnen und Soldaten in Afghanistan ist. Allein im Juni
500 zusätzliche Soldaten nach Afghanistan entsenden, sind in Afghanistan über 100 ISAF-Soldaten ums Leben
um die Ausbildung der Sicherheitskräfte vor Ort zu ver- gekommen. Wir trauern um sieben deutsche Soldaten,
bessern und zu beschleunigen. die im vergangenen halben Jahr bei Angriffen der Tali-
Das Kabinett hat in dieser Woche einen ehrgeizigen ban ihr Leben verloren haben.
Sparhaushalt beschlossen. An unserem Engagement in
Wir denken an diejenigen, die im Einsatz Verletzun-
Afghanistan wird aber nicht gespart, weil wir den Erfolg
gen erlitten haben, sichtbare und unsichtbare. Wir sind
wollen und unsere Verantwortung kennen. Deutschland
bei den Familien, die um einen Angehörigen trauern
hält seine Zusagen.
oder die sich um einen geliebten Menschen sorgen, weil
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sie um die täglichen Gefahren dieses Einsatzes wissen.
(B) Allen, die in Afghanistan in Uniform oder Zivil ihren (D)
Manches haben wir seit London erreicht. Wir haben Dienst tun, allen, die in den PRTs, in der Botschaft oder
neue Trainingszentren für die Polizei gebaut und in die- in einem der vielen Entwicklungsprojekte ihre Gesund-
sem Jahr schon fast 2 000 afghanische Polizisten aus- heit oder sogar ihr Leben riskieren, spreche ich unseren
und fortgebildet. Wir haben in Kunduz und Dakar be- größten Respekt und unseren tiefsten Dank aus. Wir
gonnen, die Provinzkrankenhäuser wieder aufzubauen. schätzen ihre Arbeit, wir brauchen ihren Einsatz, und wir
Wir unterstützen mobile Gesundheitsteams im Norden, wollen ihren Erfolg.
die Gesundheitsversorgung zu den Menschen bringen
sollen. Etwa 2,6 Millionen Menschen wollen wir so mit (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
Gesundheitsversorgung erreichen. In der Provinz Balkh und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
haben wir Schulplätze für 3 000 Jungen und Mädchen bei Abgeordneten der LINKEN)
neu geschaffen. In unserem neuen Ausbildungszentrum
für Lehrkräfte in Masar-i-Scharif werden im Norden Deutschland leistet viel in Afghanistan. In Diskussio-
Afghanistans mittlerweile mehr als 6 000 angehende nen reduzieren manche unser Engagement auf die militä-
Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet. rische Komponente, andere auf den zivilen Teil. Wir
werden Afghanistan nicht stabilisieren, indem wir allein
Das alles wurde im vergangenen halben Jahr erreicht. militärisch vorgehen. Wir werden Afghanistan auch
Ich denke, das ist eine gute, wenn auch noch nicht zurei- nicht allein dadurch stabilisieren, dass wir Schulen
chende Zwischenbilanz. bauen, Straßen teeren und Polizisten ausbilden. Beides
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ist notwendig und Teil unseres Ansatzes der vernetzten
Sicherheit. Beides zusammengenommen reicht aber
Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört es näm- noch nicht aus. Es muss ein drittes Element dazukom-
lich auch, Rückschläge nicht zu übersehen und die Gren- men. Eine dauerhafte, selbsttragende Stabilisierung
zen unserer Möglichkeiten zu erkennen. Wir wissen um Afghanistans kann nur durch einen politischen Prozess
den Drogenanbau, der in Afghanistan weiter betrieben gelingen, der die Interessen der verschiedenen Ethnien
wird. Wir wissen um die Korruption im Land und sind und gesellschaftlichen Gruppen in Afghanistan ausba-
beunruhigt über Berichte, nach denen Hilfsgelder außer lanciert.
Landes geschafft werden.
Auch dazu haben wir mit unseren Verbündeten in
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
London Anfang des Jahres bereits den ersten Schritt ge-
GRÜNEN]: Milliarden!)
tan, indem wir ein Reintegrationsprogramm für aus-
Und wir wissen um die angespannte Sicherheitslage. stiegswillige Mitläufer der Taliban beschlossen haben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5837
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) Ein zweiter Schritt war die Friedensjirga, die gerade Wir erwarten aber noch weitere Antworten der Af- (C)
Anfang Juni in Kabul stattfand. Dort trafen sich ghanen auf der Konferenz. Die afghanische Regierung
1 600 Delegierte; über 20 Prozent davon waren übrigens wird konkrete Pläne vorstellen, wie ihre Regierungsfä-
Frauen. Es fanden dort sehr offene, teilweise emotional higkeit verbessert und die Korruption eingedämmt wer-
geführte Diskussionen statt. Teilnehmer berichteten von den sollen. Besonderes Augenmerk werden wir dabei
der Zusammenkunft, dass sich konservative Mullahs und auf die Regierungsführung in den Provinzen, Distrik-
Frauenvertreterinnen gegenübergesessen und sich zu- ten und Dörfern legen. Hier trifft der afghanische Staats-
nächst geweigert hätten, sich gegenseitig ins Gesicht zu bürger auf seinen Staat. Hier bildet er sich eine Meinung
schauen. Tadschikische und paschtunische Vertreter hät- über seine Regierung und auch deren Legitimität. Der-
ten einen ganzen Tag lang gestritten, ob man Paschtu zeit sind hier die Defizite aber noch größer als in der
oder Dari miteinander sprechen soll. Am dritten Tag Hauptstadt Kabul. Da muss mehr geschehen. Das ist die
aber hat diese Friedensjirga ein Abschlussdokument ver- Bedingung dafür, dass mehr Verantwortung auf afghani-
öffentlicht – ohne Gegenstimme. Einstimmig haben sich sche Institutionen übergehen kann.
die 1 600 Delegierten für den Einsatz der internationalen
Staatengemeinschaft in ihrem Land ausgesprochen. Sie Wir werden in Kabul gemeinsam mit der NATO und
haben ihren Präsidenten aufgefordert, Friedensverhand- der afghanischen Regierung einen Plan verabschieden,
lungen aufzunehmen. Sie haben außerdem klargestellt, in dem wir konkrete Bedingungen dafür festlegen, in
dass Versöhnung nur mit denen möglich ist, die der Ge- welchen Provinzen im nächsten Jahr die Sicherheitsver-
walt abschwören, die ihre Verbindung zum internationa- antwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte über-
len Terrorismus kappen und die die afghanische Verfas- geben werden kann. Wir wollen im Jahre 2011, also im
sung und die damit eingegangenen Verpflichtungen zur nächsten Jahr, drei, vielleicht sogar vier Provinzen die
Einhaltung internationaler Menschenrechtsstandards res- Sicherheitsverantwortung übergeben. Es soll mindestens
pektieren. Das alles zeigt, dass Afghanistan eine afgha- eine dabei sein, die in unserem Verantwortungsbereich
nische Lösung braucht. Das sage ich auch mit Blick auf im Norden liegt. Schon im November soll dazu auf dem
die Parlamentswahlen am 18. September. Der politi- NATO-Gipfel in Lissabon eine Grundsatzentscheidung
sche Prozess muss ein afghanisch geführter Prozess sein, getroffen werden.
damit er erfolgreich sein kann. Nur die afghanische Re- Das heißt nicht, dass mit sofortiger Wirkung die Bun-
gierung selbst kann Frieden mit denen schließen, die sie deswehrpräsenz dort ihre Bedeutung verliert und wir
bekämpfen. dort keine Soldatinnen und Soldaten mehr bräuchten.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Auch unsere zivile Wiederaufbauhilfe ist langfristig an-
gelegt. Das ist ein entscheidender Schritt in Richtung
(B) Unsere Aufgabe ist es, zum einen diesen Prozess zu Wiederherstellung afghanischer Souveränität, und es ist (D)
unterstützen, zum anderen ist es Aufgabe der internatio- natürlich eine zentrale Bedingung für den Beginn eines
nalen Staatengemeinschaft, die Nachbarländer Afghanis- Truppenabzuges. Wir wollen noch in dieser Legislatur-
tans in diesen Prozess einzubinden. Ziel ist es, die Nach- periode die Voraussetzung dafür schaffen, dass mit der
barländer Afghanistans dazu zu bringen, den schrittweisen Rückführung unserer militärischen Prä-
innerafghanischen Friedensprozess zu unterstützen. senz in Afghanistan begonnen werden kann.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
GRÜNEN]: Dann tun Sie es doch!)
Dieses Ziel verfolgen wir entschlossen und beharrlich
Die regionale Einbettung innerafghanischer Ergebnisse und in enger Abstimmung mit unseren Verbündeten. Ge-
wird helfen, Erreichtes auch zu sichern. Auch dazu wird meinsam mit seinen Verbündeten hat Deutschland in Af-
die Kabul-Konferenz einen Beitrag leisten. ghanistan Verantwortung übernommen. Deutschland wird
sich dieser Verantwortung einseitig eben nicht entziehen.
Diese Kabul-Konferenz wird keine weitere Geber- Die Entscheidungen über das deutsche Engagement in
konferenz, auf der die internationale Staatengemein- Afghanistan gehören – Sie wissen das alle, liebe Kolle-
schaft neue Zusagen macht. In Kabul wird die afghani- ginnen und Kollegen – zu den schwierigsten Entscheidun-
sche Regierung ihrerseits Rechenschaft darüber ablegen, gen, die dieses Parlament zu treffen hat.
wie es um die Erfüllung ihrer Verpflichtungen steht und
welche konkreten Schritte sie in den nächsten Wochen Die Bundesregierung wird daher dafür sorgen, dass
und Monaten plant. Das ist zuallererst im Sinne der Sie über alle Fraktionsgrenzen hinweg nicht nur über un-
Afghanen selbst, die von sich aus dieser Konferenz das ser Engagement in Afghanistan kontinuierlich und trans-
Leitmotiv der Wiederherstellung der vollen Souveränität parent unterrichtet, sondern auch an dessen Gestaltung
ihres Landes gegeben haben. beteiligt werden. So war es deshalb für mich eine parla-
mentarische Selbstverständlichkeit und auch ein persön-
Ein zentrales Thema werden Reintegration und Ver- liches Anliegen, Sie über die internationale Afghanistan-
söhnung sein. Im Grundsatz haben wir in London ein Konferenz am 20. Juli in Kabul vorab zu informieren.
Programm beschlossen, mit dem Taliban-Kämpfer in die Ich glaube, dass wir dort eine entscheidende Wegmarke
Gesellschaft zurückgeholt werden sollen. Dieses Pro- setzen können, weil diese Afghanistan-Konferenz zum
gramm werden wir jetzt in Kabul genau beraten, und ersten Mal in Afghanistan stattfindet. Wir wollen ge-
dann werden wir eine Entscheidung über die Freigabe meinsam für den Erfolg unserer Mission arbeiten.
der Mittel treffen, die Deutschland dafür in Aussicht ge-
stellt hat. Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
5838 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (Anhaltender Beifall bei der FDP und der Diese neue Strategie wurde bereits in großer Sorge (C)
CDU/CSU) verabschiedet: in Sorge über die wachsende Zahl soge-
nannter sicherheitsrelevanter Vorfälle, über die zeitliche
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Unabsehbarkeit des Afghanistan-Einsatzes, über das an-
haltende Misstrauen der afghanischen Bevölkerung ge-
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile
genüber der eigenen Regierung oder, anders ausge-
ich das Wort dem Kollegen Dr. Gernot Erler von der
drückt, über den mangelnden Erfolg der Bemühungen
SPD-Fraktion.
von 44 Staaten, die in Afghanistan an dieser Mission
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) teilnehmen.
Herr Minister, heute, ein halbes Jahr später, müssen
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): wir feststellen, dass diese neue Strategie noch keine
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nachhaltige Verbesserung der Lage gebracht hat.
Herr Außenminister, Sie haben versucht, hier eine posi- (Beifall bei der SPD)
tive Zwischenbilanz nach sechs Monaten der neuen Stra-
tegie vorzutragen, und uns Ihre hohen Erwartungen an Unsere Sorgen sind eher gewachsen, und unsere Geduld
die bevorstehende Konferenz in Kabul geschildert. Ich wird wirklich auf eine harte Probe gestellt. Lassen Sie
muss ehrlich sagen: Bei diesem Bericht habe ich mich mich dafür nur drei Anlässe aufzeigen.
öfter fragen müssen, über welches Land und welche Si-
tuation Sie eigentlich reden. Erster Anlass: Obwohl jetzt 150 000 Soldaten der in-
ternationalen Gemeinschaft im Einsatz sind, hat sich die
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zahl der Anschläge weiter erhöht. Der Juni 2010 war
DIE GRÜNEN – Zuruf von der LINKEN: So mit 102 gefallenen Soldaten der internationalen Streit-
ist es!) kräfte der bisher blutigste und verlustreichste Monat in
der gesamten Geschichte des Afghanistan-Einsatzes.
Nach meiner Einschätzung werden Sie im Zuge der
Debatte hier erfahren, dass die Sorgen und die konkreten Wichtige Verbündete – darauf sind Sie überhaupt nicht
Fragen, die die Mitglieder des Hauses haben, sich deut- eingegangen, Herr Außenminister – wie Kanada, die
lich von den Darstellungen unterscheiden, die Sie hier Niederlande und Polen werden ihre Truppen komplett ab-
abgegeben haben. ziehen. Großbritannien hat angekündigt, die eigenen Sol-
daten aus einem besonders umkämpften Gebiet zurück-
Was ist denn die Lage vor Ort? Wir haben am 26. Fe- zuziehen.
bruar 2010 im Deutschen Bundestag eine Fortsetzung des
(B) deutschen Engagements in Afghanistan beschlossen, und Zweiter Anlass: Die Aufstandsbekämpfung nach neuem (D)
zwar auf der Grundlage einer neuen Strategie, die im Ja- Muster begann mit der Operation „Muschtarak“ im Fe-
nuar dieses Jahres in London beschlossen worden ist. Ich bruar und führte zur Eroberung eines Ortes namens Mar-
will noch einmal daran erinnern, welche Punkte dabei die dscha. Danach sollte eine groß angelegte Offensive zur
entscheidenden waren. Rückeroberung Kandahars stattfinden. Sie ist auf unbe-
stimmte Zeit verschoben worden.
Es war die Konzentration auf die Ausbildung von
Soldaten und Polizisten, damit sich Afghanistan so Dritter Anlass: Für das so wichtige Ziel, die Arbeit
schnell wie möglich selber gegen die Aufständischen der Kabuler Regierung qualitativ zu verbessern und so
verteidigen kann. das Vertrauen zwischen Bevölkerung und Regierung zu
stärken, sollten auf der Kabuler Konferenz konkrete
Es war die Erstellung eines Stufenplans zum Abzug, Ziele und Zwischenschritte vereinbart werden. Erst
der im nächsten Jahr beginnen soll, das aufgreifend, was sollte diese Konferenz im April 2010 durchgeführt wer-
Präsident Karzai selber gesagt hat, nämlich dass dieses den. Die Regierungsbildung hat sich aber verzögert;
Land möglichst bis 2014 vollkommen in afghanische noch heute sind fünf Ministerien nicht besetzt. Jetzt soll
Verantwortung übergehen soll. sie am 20. Juli dieses Jahres stattfinden.
Es war eine Verdopplung der zivilen Anstrengungen, Genau in diese Vorbereitungsphase fallen Berichte
um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu in den Medien, nach denen kofferweise Geld aus Afgha-
stärken. nistan nach Dubai geschafft wird, offenbar auch Geld
aus Hilfs- und Wiederaufbauprojekten. – Das ist der au-
Es war eine Verbesserung der Regierungsführung in
genblickliche Stand der Vorbereitungen für die Kabuler
Kabul, damit die Zustimmung der Bevölkerung gegen-
Konferenz.
über der eigenen Gesellschaft wächst. Die Kabuler Kon-
ferenz, die jetzt bevorsteht, sollte dazu eigentlich schon Wir sind praktisch in der Mitte des laufenden Manda-
im April dieses Jahres konkrete Festlegungen, auch auf tes. Hier wäre eigentlich die Gelegenheit gewesen, eine
Zwischenschritte, erreichen. kritische Zwischenbilanz zu ziehen.
Es war schließlich die verstärkte Unterstützung des Da taucht eine ganze Reihe von Fragen auf, Herr
Versöhnungs- und Integrationsprozesses, für den auch Minister, zum Beispiel was die Kabuler Konferenz und
erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt wurden. Ur- deren Vorbereitung angeht. Die Vorbereitung ist das Ent-
sprünglich sollte schon im Mai dieses Jahres die Frie- scheidende, wenn man weiß, dass auf dieser Konferenz
densjirga weitere Beiträge leisten. eine ganze Reihe von Keynote Speakers auftreten wird
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5839
Dr. h. c. Gernot Erler
(A) und 76 Delegationen gern zu Wort kommen wollen – Wenn wir und wenn Sie daran interessiert sind, dass (C)
und das alles an einem Tag. Man muss feststellen, dass das, was es an parteiübergreifendem Konsens in Sachen
die internationale Gemeinschaft verbindliche Bench- Afghanistan gibt, auch in Zukunft noch eine Chance hat,
marks, also konkrete Zwischenziele, für diese Konferenz sollten wir in den nächsten Tagen noch einen Versuch
will, dass die Afghanen aber ganz offensichtlich vor al- unternehmen – das schlage ich vor, und ich meine das
lem sogenannte Bankable Programs vorbereitet haben, sehr ernst –, hier zu einer Verständigung zu kommen.
also finanzierungsreife Projekte, die sie den internatio- Für uns wird das nicht gehen ohne die ständige Beteili-
nalen Partnern vorstellen wollen und für die sie gern Fi- gung von Expertise, von unabhängiger wissenschaftli-
nanzierungszusagen haben wollen. Herr Minister, wie cher Kenntnis, an der Evaluierung.
wollen Sie diesen Widerspruch, diesen Gegensatz in den (Beifall bei der SPD)
Erwartungen eigentlich beantworten? Wie haben Sie
sich auf diese Situation vorbereitet? Vielleicht ist es möglich, auf der Ebene der Fraktions-
vorsitzenden einen weiteren Versuch zu unternehmen;
Schließlich: Wie sieht es mit der Übergabe in Verant- wir jedenfalls sind dazu bereit.
wortung aus? Sie haben vorhin gesagt: eine von neun
Provinzen. Die Frage ist: Wie viele von den 124 Dis- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
trikten im Norden sollen übergeben werden? Wenn jetzt (Beifall bei der SPD)
auf dieser Konferenz nicht klar wird, wie die Vorberei-
tungen dafür aussehen, wann sonst soll das dann eigent- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
lich passieren?
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Andreas
Schließlich ist die Frage: Wie stehen Sie zu der For- Schockenhoff von der CDU/CSU-Fraktion.
derung der afghanischen Zivilgesellschaft, dass die Er- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gebnisse der Friedensjirga vom 2. bis 4. Juni Tages-
ordnungspunkt in Kabul werden sollen? Auch dazu
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):
haben Sie überhaupt nichts gesagt. Wie soll das bei dem
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
vorbereiteten Ablauf dieser Konferenz eigentlich passie-
dem Anfang des Jahres in London eingeleiteten Strate-
ren?
giewechsel für das Engagement der internationalen Ge-
All diese Fragen im Kontext der fälligen Zwischenbi- meinschaft in Afghanistan haben wir die Grundlagen für
lanz zeigen, wie wichtig es ist, sich ständig und kritisch eine Abzugsperspektive für unsere Soldatinnen und
mit der tatsächlichen Umsetzung der neuen Strategie zu Soldaten geschaffen. Die bevorstehende Konferenz in
(B) beschäftigen. SPD und Grüne haben hierzu am 9. Juni Kabul ist der nächste wichtige Schritt auf dem Wege der (D)
einen detaillierten Antrag eingebracht. Wir halten es für Übergabe in Verantwortung in Afghanistan.
notwendig, in den Evaluierungsprozess von vornherein Die internationale Gemeinschaft hatte sich in London
die reichlich vorhandene wissenschaftliche Expertise zu verpflichtet, die zivile Hilfe zu verstärken und den Auf-
Afghanistan und auch die Erfahrungen von Nichtregie- bau der afghanischen Sicherheitskräfte zu beschleunigen.
rungsorganisationen, die uns außerordentlich wichtig Deutschland verdoppelt fast seine Entwicklungshilfe in
sind, einzubeziehen. Ziel ist dabei, belastbare Grundla- Afghanistan und intensiviert die Ausbildung afghani-
gen für die Bewertung der neuen Strategie zu erreichen. scher Sicherheitskräfte in unserem Verantwortungsbe-
Das brauchen wir für die nächste Entscheidung, die ge- reich im Norden des Landes, um schon im nächsten Jahr
gen Ende des Jahres vorbereitet werden muss. unsere militärische Präsenz zurückführen zu können. Die
CDU/CSU unterstützt diese Neuausrichtung unseres Ge-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten samtansatzes für Afghanistan, weil damit die Vorausset-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zungen für eine Übergabe der Verantwortung in afghani-
Aber wir brauchen die Evaluierung auch, weil wir die sche Hände geschaffen werden.
Chance haben müssen, nachzusteuern und zu korrigie- Eine nachhaltige Stabilisierung Afghanistans kann
ren. Wir können es uns nicht mehr erlauben, nach einem nur gelingen, wenn es auch eine politische Lösung für
Jahr erneut zu hören, warum vieles von dem, was be- das Land gibt. Deshalb ist die afghanische Eigenverant-
schlossen worden ist, wieder nicht geklappt hat. Es muss wortung so wichtig. Unser verstärktes Engagement kann
möglich sein, dass wir hier vom Parlament aus auf der nur erfolgreich sein, wenn wir in der afghanischen Re-
Basis einer solchen Evaluierung vorher dazwischenge- gierung einen Partner bei der Umsetzung der Londoner
hen. Strategie haben. Die Kabuler Konferenz ist für die
afghanische Regierung eine gute Gelegenheit, dies unter
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Beweis zu stellen.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Worum geht es im Einzelnen? In Kabul soll das in
Bei unseren Gesprächen in den vergangenen Tagen London entworfene Übergabekonzept der internationa-
haben wir gehofft, Herr Kollege Schockenhoff, dass wir len Gemeinschaft gemeinsam mit der afghanischen Re-
zu einer Verständigung kommen. Ich bin sehr traurig da- gierung finalisiert und mit konkreten Zielen und Fristen
rüber, dass das bisher nicht gelungen ist. Es ist nicht ge- versehen werden. Konsequenter und nachhaltiger als
lungen, weil Sie nicht wollen, dass die Expertise bei dem bisher muss eine verantwortungsvolle Regierungsfüh-
Prozess ständig beteiligt wird. rung umgesetzt werden. Nur so kann das Vertrauen der
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Dr. Andreas Schockenhoff


(A) afghanischen Bevölkerung in ihre Regierung gestärkt zu erzielen, wären 100-Tage-Programme ein gutes und (C)
werden. Es ist erfreulich, dass von der afghanischen Re- in Afghanistan sichtbares Instrument.
gierung hier ein ambitioniertes Programm aufgesetzt
wurde. Jetzt kommt es auf die Taten an. Eine gleichzei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
tige Umsetzung aller Maßnahmen nach der Konferenz neten der FDP)
ist dabei gar nicht möglich. Vielmehr ist eine Priorisie- Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Engagement
rung und Sequenzierung wichtig. Entscheidend aber ist: in Afghanistan ist mit dem Ziel einer schrittweisen Über-
Die Fortschritte müssen für die Menschen in Afghanis- gabe in Verantwortung in eine neue entscheidende Phase
tan sichtbar sein. gekommen. Für die CDU/CSU ist eine schrittweise Re-
Mit Bezug auf aktuelle, beunruhigende Presseberichte duzierung der militärischen Präsenz ab 2011 zwingend
über die Veruntreuung internationaler Hilfsgelder gilt: an Fortschritte beim zivilen Aufbau und den Aufwuchs
Insbesondere müssen bei der Korruptionsbekämpfung der afghanischen Sicherheitskräfte gekoppelt und nicht
spürbare Verbesserungen erzielt werden. an willkürliche Abzugsdaten. Es geht um Wegmarken,
bei deren Erreichen ein Reduzierungsschritt erfolgen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie kann. Für uns ist es deshalb wichtig, dass wir für die
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Begleitung und Bewertung der Umsetzung der neuen
GRÜNEN) Strategie der Bundesregierung ressortübergreifende
Benchmarks entlang der von der Kabuler Konferenz de-
In diesem Zusammenhang ist es richtig, dass die Bun- finierten Zielvorgaben vorgelegt bekommen. Zudem
desregierung keine unkonditionierte Budgethilfe an die wollen wir, dass die Bundesregierung im Sommer 2011
afghanische Regierung zahlt, deren Verwendung kaum – 18 Monate nach den Beschlüssen von London – eine
kontrollierbar wäre. Es ist besser, konkrete Projekte mit Evaluation des laufenden Mandats vorlegt. Dafür könnte
Kabul zu vereinbaren und deren Finanzierung dann si- es sinnvoll sein, externe Expertise hinzuzuziehen.
cherzustellen.
Es ist klar: Voraussetzung für Umsetzbarkeit und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Nachhaltigkeit der in Kabul zu konkretisierenden Ent- Herr Schockenhoff, erlauben Sie eine Zwischenfrage
wicklungspläne der afghanischen Regierung für den des Kollegen Ströbele?
Wiederaufbau sind eine bessere Regierungsführung und
Erfolge bei der Korruptionsbekämpfung. Für die CDU/ (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
CSU steht fest: Die Verdoppelung unserer Entwick-
lungshilfe ist zwingend an messbare Erfolge in diesem Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):
(B) Bereich gekoppelt. Gerne. (D)

Die Kabuler Konferenz wird die Kernpunkte des


afghanischen Reintegrationsprogramms und die Ergeb- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nisse der Friedensjirga vom Juni dieses Jahres, also Vor- Herr Ströbele, bitte.
schläge von Vertretern aus ganz Afghanistan, aufgreifen.
Beim deutschen Anteil am Fonds für das Reintegra- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
tionsprogramm der afghanischen Regierung ist auf ei- GRÜNEN):
nen transparenten, wirksamen und nachhaltigen Einsatz
Herr Kollege, ebenso wie der Außenminister spre-
dieser Mittel zu achten. Es muss sichergestellt sein, dass
chen Sie über dieses Thema, als ginge es um möglichst
keine finanziellen Vorableistungen erbracht werden, son-
effektive Hilfe für ein Entwicklungsland. Aber die deut-
dern nur bezahlte Arbeit und bezahlte Ausbildung mit
sche Bevölkerung ist doch nicht wegen der Entwick-
den Geldern ermöglicht werden.
lungsprojekte, die dort durchgeführt und einmal besser,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und einmal schlechter gemanagt werden, gegen die Afgha-
der FDP) nistan-Politik der Bundesregierung und dieses Parla-
ments. Vielmehr ist die deutsche Bevölkerung gegen
Schließlich soll zwischen der afghanischen Regie- diese Politik, weil Krieg geführt wird. Weder Sie noch
rung, der ISAF und der internationalen Gemeinschaft ein der Außenminister reden von Krieg.
verbindliches Konzept zur Vorbereitung der Übergabe
der Verantwortung an die Afghanen abgestimmt werden. Sagen Sie doch einmal: Welche Art von Krieg halten
Dabei ist es wichtig, dass Provinzen nicht nur im Be- Sie für richtig? Welche Einsätze der Bundeswehr halten
reich Sicherheit, sondern auch in Bezug auf Regierungs- Sie für richtig? Welche Einsätze der Bundeswehr halten
führung und zivile Entwicklung übergabereif sind. Sie für problematisch? Halten Sie es zum Beispiel für
problematisch, dass – wie die Bundesregierung jetzt zu-
Es wird deutlich: Die Konferenz von Kabul unter- gegeben hat – auch Deutschland für die Liste von Ziel-
streicht die Bedeutung des politischen Prozesses. Von personen, die bei der Festnahme umgebracht werden,
dem Treffen wird ein Signal für eine konkrete Verant- ist? Halten Sie es für problematisch, dass Deutschland
wortungsübernahme durch die afghanische Regierung eine solche Art von Kriegsführung mitmacht? Halten Sie
ausgehen. Noch wichtiger aber ist, dass die Beschlüsse es für richtig, dass Deutschland mit den USA und ande-
in den kommenden Monaten auch entsprechend umge- ren NATO-Verbündeten Großoffensiven startet, bei
setzt werden. Um hier schnelle und sichtbare Ergebnisse denen Hunderte von Menschen umkommen, nicht nur
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Hans-Christian Ströbele
(A) Alliierte, sondern auch Afghanen, und zwar meist fünf- Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
oder zehnmal so viele Afghanen wie Alliierte? Sie haben das falsch interpretiert!)
Reden Sie endlich zum eigentlichen Thema! Das er- Damit würden wir Abgeordnete – wir haben den Einsatz
wartet die deutsche Bevölkerung von Ihnen. Sie erwartet in Afghanistan mandatiert – der Verpflichtung gegen-
nicht, dass Sie darüber reden, wie man Entwicklungs- über unserer Bevölkerung und den Soldatinnen und Sol-
hilfe besser machen kann. daten nicht entsprechen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Wir müssen feststellen, dass SPD und Grüne diese
SES 90/DIE GRÜNEN sowie bei der LIN- Auffassung nicht teilen und zu einem gemeinsamen Vor-
KEN und der SPD) gehen nicht bereit sind.
(Widerspruch bei der SPD – Ute Koczy
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist
Herr Kollege Ströbele, ich rede zu der Regierungs- Quatsch!)
erklärung unseres Außenministers, die der Ältestenrat Ich wiederhole: Selbstverständlich wollen wir Nicht-
für heute auf die Tagesordnung des Hohen Hauses ge- regierungsorganisationen, Wissenschaftler und alle mög-
setzt hat. Darin geht es um eine Abzugsperspektive und lichen Experten anhören,
um eine Konkretisierung der Beschlüsse von London.
Die Aufbauschritte müssen festgelegt und messbare Da- (Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Und beteiligen!)
ten entwickelt werden. um uns eine Meinung bilden zu können. Entscheidend
Herr Kollege, ich finde es nicht in Ordnung, dass Sie für die CDU/CSU ist aber, dass wir Parlamentarier und
bei jeder Gelegenheit, egal was auf der Tagesordnung niemand sonst die politische Verantwortung für den Ein-
steht, immer wieder die gleichen Sprüche ablassen. satz in Afghanistan haben

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Burkhard Lischka [SPD]: Das stellt doch
keiner infrage!)
Wir wollen Erfolge in Afghanistan haben, für die Sicher-
heit unserer Bevölkerung und für eine konkrete Abzugs- und dieser Verantwortung weiterhin gerecht werden
perspektive. Ihre Sprüche werden dadurch, dass Sie sie müssen. Auch hier müssen wir feststellen, dass SPD und
immer wiederholen, nicht besser, und sie dienen auch Grüne diese Auffassung nicht teilen und zu einem ge-
nicht der Bevölkerung. meinsamen Vorgehen nicht bereit sind.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jan
(B) unglaublich!) (D)
van Aken [DIE LINKE]: Das sind keine Sprü-
che, sondern Argumente, Herr Schockenhoff! – Diese Verantwortung wurde uns von den Wählerin-
Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nen und Wählern übertragen, und wir können sie nicht
GRÜNEN]: Beantworten Sie doch mal meine abgeben. Deswegen werden wir als Parlamentarier die-
Frage!) sen Einsatz begleiten. Wir werden unserer Verantwor-
tung gerecht werden.
– Sie können sich setzen. Ich habe Ihre Frage beantwor-
tet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Sehr arrogant!)
Das Wort hat der Kollege Jan van Aken von der Frak-
CDU/CSU und FDP haben den Oppositionsfraktio- tion Die Linke.
nen ein gemeinsames Vorgehen hinsichtlich der parla-
(Beifall bei der LINKEN)
mentarischen Begleitung des Afghanistan-Einsatzes an-
geboten.
Jan van Aken (DIE LINKE):
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wann Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
denn?) Westerwelle, ich bin richtig erschrocken darüber, was
Herr Erler, dabei ist meines Erachtens deutlich gewor- Sie in nur neun Monaten aus dem Außenministerium ge-
den, dass wir inhaltlich gleiche Vorstellungen haben. Wir macht haben.
wollen gemeinsam die Umsetzung der neuen Strategie (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
auf Grundlage der von uns eingeforderten intensivierten neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
Berichterstattung und Unterrichtung durch die Bundes- GRÜNEN – Heiterkeit bei Abgeordneten des
regierung einer kontinuierlichen parlamentarischen Be- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
wertung unterwerfen. Uns unterscheidet aber, Herr Kol-
lege Erler und Herr Kollege Schmidt, dass wir diese Vorgestern haben Sie auch für Ihr Ministerium Kür-
Aufgabe nicht an externe, etwa wissenschaftliche Exper- zungen beschlossen. Natürlich haben Sie nicht querbeet
ten abgeben wollen. gleichmäßig gestrichen, sondern Sie haben ganz gezielt
die Axt angelegt. Das ist grundsätzlich in Ordnung; aber
(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Das wollen wir wenn ich mir anschaue, wo Sie die Axt angelegt haben,
doch gar nicht! Sie sollen nur beteiligt werden! – dann kommt mir das kalte Grausen. Sie haben genau da
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Jan van Aken


(A) gekürzt, wo es um Frieden und Völkerverständigung Das sind keine Forderungen der Linken, sondern sie (C)
geht, und das ganz kräftig. Ausgerechnet bei der Abrüs- kommen direkt aus Afghanistan. Da wird es brenzlig.
tung wollen Sie 19 Millionen Euro einsparen. Sie haben Sind Sie jetzt als Unterstützer der afghanischen Regie-
hier vor einem halben Jahr gesagt – ich zitiere –: rung in Afghanistan oder nicht? Führen Sie eigentlich ei-
nen Krieg mit den Afghanen oder gegen die Afghanen?
Nach dem Jahrzehnt der Aufrüstung brauchen wir Es ist völlig egal, was man von der Regierung Karzai
jetzt ein Jahrzehnt der Abrüstung … hält. Sie wissen, dass ich von der Korruption gar nichts
(Elke Hoff [FDP]: Wir reden zu Afghanistan, halte und die Beteiligung von Kriegsverbrechern an der
nicht zur Abrüstung!) Karzai-Regierung unerträglich finde. Aber dieser Bun-
destag hat ein Mandat beschlossen, das zentral darauf
Das sind Ihre Worte. Das Jahrzehnt der Abrüstung leiten beruht, die afghanische Regierung zu unterstützen. Des-
Sie damit ein, die Abrüstung kräftig, um 19 Millionen halb frage ich Sie jetzt, Herr Westerwelle – das sind
Euro, zu kürzen. Das müssen Sie mir einmal erklären. keine rhetorischen Fragen; ich will wirklich eine Ant-
wort von Ihnen haben; ich höre auch früher auf, dann
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
können Sie etwas von meiner Zeit für Ihre Antwort neh-
neten der SPD)
men –:
Es kommt aber noch dicker: 67 Millionen Euro spa-
(Beifall bei der LINKEN)
ren Sie bei der humanitären Hilfe und bei der Vorbeu-
gung von Konflikten. Ich habe tatsächlich den Eindruck, Sind Sie bereit, die Forderungen der afghanischen Re-
dass Sie bei der zivilen Konfliktbearbeitung sparen wol- gierung und der Friedensjirga zu erfüllen, ja oder nein?
len, um die Konflikte hinterher militärisch zu lösen. Ge- Setzen Sie sich konkret dafür ein, dass die Namen von
nau das machen Sie in Afghanistan. Dort setzen Sie völ- Aufständischen von der UN-Liste gestrichen werden?
lig einseitig auf Waffen und Soldaten. Was tun Sie dafür, dass es freies Geleit für Friedensver-
(Beifall bei der LINKEN) handlungen gibt?

Aber ich sehe nichts, was Sie für eine Friedenslösung Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
tun. Sie haben hier von einer „Übergabe in Verantwor- keine Waffen mehr exportieren sollte.
tung“ gesprochen. Ich frage mich die ganze Zeit: Was (Beifall bei der LINKEN)
wollen Sie eigentlich übergeben? Einen Krieg oder einen
Frieden? Der einzige Schlüssel zum Frieden sind doch Zumindest bei den Rüstungsexporten ist Deutschland
Verhandlungen und nichts als Verhandlungen. Jeder schon die Nummer drei in der Welt. Selbst bei der Fuß-
(B) Krieg in der Geschichte ist entweder durch eine bedin- ballweltmeisterschaft bin ich darüber gestolpert. Ich (D)
gungslose Kapitulation oder durch Verhandlungen been- habe mir mal angeschaut, wer von den WM-Teilneh-
det worden. Selbst die größten Träumer in Ihren Refera- mern Waffen in Deutschland gekauft hat. An jedem ein-
ten können doch nicht ernsthaft glauben, dass die zelnen Spieltag – bis ins Finale – finden sich Länder, in
Aufständischen in Afghanistan jetzt die Waffen niederle- die Deutschland Waffen exportiert hat. Am jetzigen
gen und kapitulieren. Das Gegenteil ist doch der Fall. Sonntag spielen die Niederlande und Spanien: Sie haben
Die Sicherheitslage ist so desolat wie nie zuvor. Die An- für 3,9 Milliarden Euro Waffen in Deutschland gekauft.
zahl der Toten war im letzten Monat so hoch wie nie seit Ich finde das falsch. Ich finde, wir sollten keine Waffen
Beginn des Einsatzes. Das Einzige, was uns bleibt, sind mehr exportieren.
Friedensverhandlungen.
(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der
(Beifall bei der LINKEN) FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Herr van Aken, was war denn mit
Dafür muss man aber auch etwas tun. Sie haben hier
Argentinien?)
gerade die Friedensjirga erwähnt. Das Hochnotpeinli-
che an Ihrem Beitrag ist, dass Sie das entscheidende Er- Herr Westerwelle, ich habe noch anderthalb Minuten
gebnis der Friedensjirga hier verschwiegen haben. Denn Redezeit. Ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie die
die Friedensjirga hat ganz klare Forderungen an Sie, Fragen ganz konkret beantworten könnten.
Herr Westerwelle, und an alle internationalen Truppen-
steller formuliert, und zwar mit dem Ziel, die Friedens- (Beifall bei der LINKEN)
verhandlungen zu ermöglichen. Ich zähle die For-
derungen einmal auf: Erstens fordert die Friedensjirga Beantworten Sie ganz präzise die Frage: Sind Sie bereit,
von Ihnen, alle Gefangenen freizulassen, die ohne An- auf die Forderungen der Friedensjirga einzugehen, was
klage festgehalten werden. Zweitens fordert sie, endlich die Friedensverhandlungen angeht? Was ist mit der
die Namen von Aufständischen von der internationalen Streichung der Namen von der schwarzen Liste?
schwarzen Liste zu streichen. Drittens fordert sie eine (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wir sind
Sicherheitsgarantie für all diejenigen, die an den Frie- hier nicht in einer Talkshow!)
densverhandlungen teilnehmen wollen. Das macht auch
Sinn. Sie können doch nicht erwarten, dass irgendein
Warlord oder Taliban-Führer an Verhandlungen teil- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nimmt, wenn er befürchten muss, gleich erschossen zu Wenn Sie Ihre Rede beendet haben, nehmen Sie bitte
werden! wieder Platz.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5843

(A) Jan van Aken (DIE LINKE): Herr Minister, Sie haben eine sehr wesentliche Aus- (C)
Herr Solms, mit Verlaub, aber ich finde, das ist falsch. sage in Ihrer Rede getroffen, nämlich dass Deutschland
seine Zusagen einhält. Das ist ein Maßstab für alle
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Diskussionen und Entscheidungen auch in der Vergan-
genheit, weil wir – das bezieht sich nicht nur auf die
Wir machen hier kein Theater. christlich-liberale Koalition, sondern auch auf die Vor-
gängerregierungen – uns dazu verpflichtet haben, in
Jan van Aken (DIE LINKE): Afghanistan gemeinsam einen Prozess zu initiieren und
Der Sinn einer Debatte ist doch, dass man miteinan- auf den Weg zu bringen, der zur Stabilisierung eines
der redet, offen Argumente austauscht und irgendwann durch 30 Jahre Bürgerkrieg zerrütteten und fragmentier-
auch einmal Fragen stellt und Antworten gibt. Wenn hier ten Landes beiträgt.
alle nur vorbereitete Reden vorlesen, kann ich die auch
zu Hause lesen. Lieber Kollege Erler, Sie haben mit Recht auf die Im-
plementierung der neuen Strategie vor sechs Monaten
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der hingewiesen. Gleichzeitig monieren Sie, dass es nach
FDP: Ja, bitte!) diesen sechs Monaten noch keine nachhaltigen Erfolge
gibt.
Deswegen meine ich, dass man auch einmal auf eine
Frage antworten sollte. Aber wenn Sie nicht wollen, (Burkhard Lischka [SPD]: Deshalb sagen Sie
dann müssen wir es lassen. gar nichts, oder was? Warum machen Sie denn
(Beifall bei der LINKEN) dann eine Regierungserklärung?)
Nach meinem zeitlichen Verständnis ist es beim besten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Willen nicht möglich, zwischen dem Zeitraum von sechs
Die Regularien der Debatte sind in der Geschäftsord- Monaten und Nachhaltigkeit eine Verbindung herzustel-
nung festgelegt. Sie werden nicht von Ihnen bestimmt. len.
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Elke Wir haben versucht, durch die Maßstäbe der neuen
Hoff von der FDP-Fraktion das Wort. Strategie die internationale Gemeinschaft und die Af-
ghanen in die Lage zu versetzen, auf einer Grundlage,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
die am Ende der Reise in einen politischen Prozess mün-
det, endlich neue Weichen zu stellen. Ich glaube, nie-
Elke Hoff (FDP): mand von der Bundesregierung und auch von der inter-
(B) (D)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! nationalen Gemeinschaft hat bisher einen Zweifel daran
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her- gelassen, dass eine militärische Lösung dieses Konflikts
ren! Ich finde es in hohem Maße bedauerlich, verehrter allein nicht möglich ist. Darüber besteht, wie ich glaube,
Herr Kollege van Aken, dass Sie in diesem Hohen Hause ein breiter Konsens auch hier im Hause. Deswegen wa-
ein so wesentliches Thema wie den Einsatz in Afghanis- ren die Punkte, die der Minister vorgetragen hat, nämlich
tan bzw. die Stabilisierungsbemühungen in Afghanis- Übergabe in die Verantwortung Afghanistans, eine ver-
tan für Ihren politischen Klamauk benutzen. stärkte Dezentralisierung und Einmündung in einen – ich
möchte hier gerne noch etwas draufsetzen – dauerhaften
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
institutionalisierten politischen Prozess in Afghanistan,
Widerspruch bei der LINKEN)
der richtige Weg.
Ich glaube, dass die Vorträge oder Wünsche der Frie-
densjirga in Kabul von der internationalen Gemeinschaft Aber wir müssen der internationalen Gemeinschaft
sehr ernst genommen werden. Ich war vor 14 Tagen in jetzt erst einmal die Zeit geben, diese Strategie umzuset-
Kabul. Zeitgleich war dort auch eine Delegation der Ver- zen. Natürlich gibt es Erfolge. Ich glaube, dass ein
einten Nationen, die genau über diese Themen gespro- wesentlicher Aspekt zur Übergabe in Sicherheitsver-
chen hat, die Sie heute so in den Raum stellen, als würde antwortung die Ausbildung der afghanischen Sicher-
sich die internationale Gemeinschaft vor diesen wichti- heitskräfte ist. Die Bundesrepublik Deutschland wird
gen Fragen drücken. noch in diesem Jahr damit beginnen, auch hier einen we-
sentlichen Beitrag zu leisten. Sie können davon ausge-
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Der deut- hen, dass das die einzige Möglichkeit ist, die afghani-
sche Außenminister drückt sich!) schen Sicherheitskräfte auf den richtigen Weg zu
bringen.
Das heißt, die internationale Gemeinschaft nimmt
das, was die afghanischen Vertreter der Politik sagen, Ich hatte vor wenigen Tagen die Möglichkeit, mir an-
durchaus ernst. zuschauen, was bereits im Süden und im Osten des Lan-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – des getan wird. Es gibt auch dort Erfolge. Es gibt Regio-
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE nen, in denen die afghanischen Sicherheitskräfte die
GRÜNEN): Haben Sie eine Meinung dazu? Verantwortung für die Stabilisierung übernommen ha-
ben. Sie können und tun das. Deswegen ist die Ankündi-
– Selbstverständlich habe ich eine Meinung dazu. Die gung des Bundesaußenministers, dass wir es in diesem
werde ich Ihnen im Verlauf der Rede auch darlegen. Jahr schaffen werden, Regionen in Afghanistan in die
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Elke Hoff
(A) Verantwortung zu übergeben, keine Illusion; vielmehr Ich habe gesagt, dass diese Ansinnen der Friedensjirga (C)
wird das Realität werden. ernst genommen werden, dass dies ein Prozess innerhalb
der internationalen Gemeinschaft ist, dass wir versuchen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten müssen, herauszufinden, was sich in Konsequenz auf das
der CDU/CSU) Eingehen auf diese Forderungen für uns alle ergibt.
Viele Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort waren, Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass dies ein Weg
wissen, dass die afghanische Bevölkerung darauf hofft, sein könnte, um die politische Lösung auf den Weg zu
dass endlich Frieden einkehrt. Auch wir in der interna- bringen, werden wir uns in der internationalen Gemein-
tionalen Gemeinschaft hoffen, dass in der Region end- schaft abgestimmt auf die Forderungen der Friedensjirga
lich Frieden einkehrt. Deshalb ist es wichtig, die Bun- einlassen oder weiter darüber verhandeln.
desregierung und Außenminister Westerwelle dabei zu (Burkhard Lischka [SPD]: Das war jetzt ein
unterstützen, genau diesen politischen Prozess jetzt mit Bandwurmsatz ohne Substanz!)
Nachdruck auf den Weg zu bringen.
Ganz herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich hoffe nicht, lieber Kollege Erler – Sie haben die
Konfliktlage in der Vergangenheit immer sehr konstruk- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
tiv und auch sehr sachlich analysiert –, dass das, was Sie
heute vorgetragen haben, sozusagen die erste Absetzbe- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
wegung von unserem gemeinsamen Engagement in Das Wort hat der Kollege Frithjof Schmidt von Bünd-
Afghanistan ist. Sie haben selbstverständlich recht, dass nis 90/Die Grünen.
wir immer wieder evaluieren müssen. Deswegen finde
ich es richtig und gut, dass die Bundesregierung heute, Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
vor der Afghanistan-Konferenz, vor dem Parlament und NEN):
der Öffentlichkeit noch einmal eine Einschätzung über Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
die Lage abgibt, Herr Außenminister, wir teilen mit Ihnen das Anliegen
(Zuruf von der SPD: Die war aber sehr der internationalen Gemeinschaft, eine politische Lö-
abstrakt!) sung für Afghanistan zu erreichen. Wir sind jetzt seit
neun Jahren in Afghanistan im internationalen Einsatz.
damit wir wissen, auf welcher Grundlage die zukünfti- Die Dilemmata des Engagements sind größer als je zu-
gen politischen Aktivitäten erfolgen. Ich wünsche mir vor. Deswegen sage ich: Umso wichtiger sind offene
sehr, lieber Herr Erler – das sage ich gerade in Richtung Worte dazu.
(B) der Sozialdemokraten –, dass wir den gemeinsamen Wir reden hier über eine politische Lösung, deren (D)
Konsens, dass wir die Lage in Afghanistan nicht sich
selbst überlassen können – Kern eine Machtteilung mit den wichtigsten bisherigen
Gegnern sein wird. Eine solche Lösung wird von Präsi-
(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Unser Angebot dent Karzai angestrebt; er hat dafür die Rückendeckung
steht!) der von ihm organisierten Friedensjirga erhalten. Dabei
geht es um Verhandlungen mit nichtdemokratischen
wir haben uns gegenüber der afghanischen Bevölkerung Kräften. Wir wissen: Da werden auch Kompromisse vor-
committed und wissen, dass es ein sehr schwieriger Pro- bereitet, die in demokratischer und menschenrechtlicher
zess ist –, nicht aus innenpolitischen Erwägungen heraus Hinsicht hochproblematisch sind.
aufs Spiel setzen, sondern gemeinsam in diese Richtung
gehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal darauf hin- Wir reden dabei über rote Linien. Zugleich wissen
weisen: Wir sind auf einem Weg, der vernünftig ist. Wir wir, dass Herr Karzai unter diesen roten Linien offen-
sind auf einem Weg, der machbar ist. Wir sind auf einem sichtlich etwas anderes versteht und verstehen wird als
Weg, der Geduld braucht, der Zeit braucht, der Engage- vermutlich alle hier im Saal.
ment braucht. Vieles davon – ich sage das etwas gequält – wird bei
(Zuruf von der LINKEN: Der Leben kostet!) einer politischen Lösung wahrscheinlich unvermeidbar
sein. Aber Wahrhaftigkeit und Klarheit beim Anspre-
Ich darf mit dem gleichen Satz noch einmal schließen: chen dieser Dilemmata sind unverzichtbar.
Deutschland hat sich verpflichtet, und Deutschland hält
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
seine Zusagen.
und bei der SPD)
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Ich sage Ihnen: Die Menschen in Deutschland und in
GRÜNEN]: Was ist denn Ihre Meinung zu den Afghanistan werden diese Politik nicht akzeptieren,
Forderungen der Jirga?) wenn wir ihnen nicht reinen Wein einschenken und nicht
– Lieber Kollege Ströbele, ich glaube, ich habe das eben offen über die hässlichen Seiten reden, die diese Kom-
gesagt. promisse notwendigerweise haben werden. Herr Außen-
minister, bei allem Verständnis für die Zwänge Ihres
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Amtes: An dieser Stelle haben Sie mich heute ent-
GRÜNEN]: Nein! Sind Sie dafür?) täuscht; da hätte ich mir klarere Worte gewünscht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5845
Dr. Frithjof Schmidt
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN debatte – dann auch noch in der Öffentlichkeit – so zele- (C)
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der brieren.
LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ein weiteres Dilemma betrifft die internationalen sowie bei Abgeordneten der SPD)
Rahmenbedingungen. Auch dazu muss man klare
Worte sagen. Wir alle wissen: Der internationale Militär- Meine Herren Minister, legen Sie endlich unter Ihnen
einsatz in Afghanistan wird in den nächsten Jahren en- abgestimmte und konkrete Schritte zu einem Abzugs-
den. Einige unserer wichtigsten Partner haben bereits plan vor, die Orientierung geben, oder schweigen Sie lie-
entschieden: Die USA wollen 2011 mit einem Abzug be- ber!
ginnen; der neue britische Premierminister hat angekün- Auch bei unseren zivilen Anstrengungen stehen wir
digt, dass 2015 der letzte britische Soldat abgezogen sein vor großen Problemen. Wir alle sind uns einig, dass wir
soll; unser westlicher Nachbar, die Niederländer, verlas- den zivilen Aufbau beschleunigen müssen und die Auf-
sen bereits dieses Jahr das Land; nächstes Jahr gehen die gaben eigentlich mehr Mittel erfordern. Das wurde auf
Kanadier; für unseren östlichen Nachbar hat der neue der Londoner Konferenz auch beschlossen. Bis zu
polnische Präsident erklärt, er wolle bis 2012 den Abzug 50 Prozent der Mittel sollen danach in Zukunft direkt an
der 2 600 polnischen Soldaten aus dem Norden komplett die afghanische Regierung ausgehändigt werden. Jetzt
vollziehen. All das verändert auch die Lage der Bundes- haben wir aber erfahren müssen, dass viele der bisher
wehr und ihres Einsatzes; das muss einmal klar ange- gezahlten Gelder nicht ausgehändigt, sondern ausgeflo-
sprochen und bilanziert werden. gen werden. Über 4 Milliarden Dollar in bar sollen in
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist in den letzten den letzten drei Jahren kistenweise von korrupten Eliten
Monaten nicht besser geworden. Die jüngsten Veröffent- aus dem Land geschafft worden sein. Deswegen sage
lichungen der Vereinten Nationen attestieren eine mas- ich: Die 50-Prozent-Vereinbarung von London darf so
sive Zunahme militärischer Gewalt. Seit 2009 hat sich nicht umgesetzt werden.
die Zahl der Straßenbomben fast verdoppelt; die Zahl (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der Selbstmordattentate hat sich sogar verdreifacht. Die sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Militäroperationen im Süden, die auch dagegen Abhilfe KEN)
schaffen sollten, liegen zudem im Zeitplan weit zurück.
Auch dies sollten Sie in Kabul klarmachen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, ein ab-
gestimmtes Konzept der Bundesregierung, wie man mit Studien haben deutlich gemacht: In unsicheren Provin-
dieser Situation und diesen Dilemmata – ich räume aus- zen bringt die Entwicklungszusammenarbeit keine nach-
(B) drücklich ein, dass es sie gibt – umgehen will, ist nicht haltigen Erfolge. Sie führt auch nicht zu einer positiveren (D)
wirklich erkennbar. Einstellung der Bevölkerung gegenüber den ausländi-
schen Truppen. Deshalb sollte der zivile Wiederaufbau
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor allem in den friedlichen Provinzen konzentriert vor-
sowie bei Abgeordneten der SPD) angetrieben werden.
Da hören wir auf der einen Seite Sie, Herr Außenminis- Herr Außenminister, ich hätte mir eine Regierungser-
ter. Sie sprechen heute hier, aber auch in der Zeit von ei- klärung gewünscht, die diese Dilemmata offen benennt
ner Abzugsperspektive, die in den nächsten drei Jahren und eine nicht ganz angenehme Wahrheit klar aus-
erarbeitet werden soll. Danach, 2014, soll die Übergabe spricht: Auf der Kabuler Konferenz geht es nicht mehr in
eigentlich schon in vollem Umfang abgeschlossen sein. erster Linie darum, was eigentlich notwendig wäre, son-
Dann ist da Herr zu Guttenberg, der kein konkretes Ab- dern es geht politisch um die Frage, was wir angesichts
zugsdatum nennen will. Stattdessen spekuliert er in der der komplizierten Lage und der kurzen verbleibenden
Frankfurter Allgemeinen Zeitung darüber, dass Zeit noch erreichen können.
… einer der größeren oder der größte Bündnispart- Nur wenn man dieser Wahrheit ins Auge schaut – bei
ner aus welchen Gründen auch immer beschleunigt Ihnen ist nicht klar geworden, ob Sie das so sehen –,
Afghanistan verlässt … kann man einen realistischen Weg zur Übergabe in Ver-
Er schließt also nicht aus, dass die USA viel schneller antwortung und auch zum Abzug in Verantwortung be-
gehen als angekündigt. In dem Fall will er nicht derje- schreiben. Ich wünsche Ihnen hier zukünftig mehr Mut
nige sein, der – so wörtlich – „alleine und verlassen das zum offenen Wort, Herr Westerwelle.
Licht ausmacht“. Dann spekuliert er über den Einsatz
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
von Geheimdiensten und Special Forces in Afghanistan
und bei der SPD)
nach einem plötzlichen Abzug von ISAF. Das ist doch
keine seriöse Planungsdebatte in der Regierung. Meine Damen und Herren, wir erwarten von der Ka-
buler Konferenz, dass man dort auf diese teilweise uner-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
freulichen Realitäten eingeht. Sie muss die Leerstellen
und bei der SPD)
der Londoner Konferenz füllen und einen Aufbauplan mit
Ich kann Sie nur fragen: Ist Ihnen eigentlich klar, wie klaren Zwischenzielen vorlegen. Ja, wir wollen ein klares
viel Unsicherheit Sie mit solch einem Regierungsgerede Bekenntnis der internationalen Gemeinschaft zu einer
bei den zivilen und militärischen Einsatzkräften vor Ort politischen Lösung. Dabei müssen auch die Ergebnisse
stiften? Es ist nicht in Ordnung, dass Sie die Planungs- der Friedensjirga in Afghanistan einbezogen werden.
5846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Dr. Frithjof Schmidt


(A) Aber ich sage auch: Die internationale Gemeinschaft (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
muss auf die Einhaltung roter Linien bei Menschen- und sowie bei Abgeordneten der SPD)
Frauenrechten achten
(Beifall der Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
DIE GRÜNEN] und Heidemarie Wieczorek- Das Wort hat der Kollege Holger Haibach von der
Zeul [SPD]) CDU/CSU-Fraktion.
und bei diesem Thema gegebenenfalls auch den Konflikt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mit der Regierung Karzai suchen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Holger Haibach (CDU/CSU):
und bei der SPD) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gern
Sie muss auch eigene militärische Aktivitäten, die das an das anschließen, was der Kollege Schmidt gesagt hat.
Erreichen einer politischen Lösung schwieriger machen, Erstens. Ich glaube, durch den Beitrag des Kollegen
überdenken. Gezielte Tötungen von Aufständischen, die Schockenhoff ist deutlich geworden, dass wir uns einer
auf einer Art schwarzer Liste stehen, gehören mit Si- Evaluation des Einsatzes – diese erachten wir für not-
cherheit dazu. Sie sind inakzeptabel und kontraproduk- wendig – nicht verschließen. Es muss aber ganz klar
tiv. sein, was Beratung und was Entscheidung ist. Die Ent-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN scheidung wird am Ende – da hilft ein Blick in das Ge-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der setz – hier gefällt.
LINKEN) (Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Das hat keiner
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Abschluss bestritten!)
wollte ich eigentlich sagen, dass ich über die Signale aus In keiner Sekunde darf der Eindruck in der Öffentlich-
den Koalitionsfraktionen, bei der Evaluierung gemein- keit entstehen, als würden wir die Entscheidung an ir-
sam vorzugehen, positiv überrascht war. Wir haben auch gendwelche Außenstehende – und seien sie noch so gut
schon Gespräche darüber geführt. Jetzt war ich allerdings und erfahren – abgeben. Deswegen muss hier eine ganz
etwas negativ überrascht, dass Sie, Herr Schockenhoff, es klare Linie gezogen werden.
so dargestellt haben, als hätten wir überhaupt keine Eini-
gung über Zwischenschritte erzielt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Erfundenes Pro-
(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Wieso blem!)
(B) das denn? Wir haben doch auch keine Einigung!) (D)
Zweitens. Ich möchte auf das Gesamtbild des deut-
Wir waren uns eigentlich einig, was zu tun ist. Es gab schen Einsatzes und das, was Herr Westerwelle und der
zwei Modelle, wie man, gegebenenfalls im Rahmen ei- Bundesverteidigungsminister gesagt haben, zu sprechen
nes Parlamentsgremiums, vorgehen kann. Diese zwei kommen. Ich habe das, was der Bundesverteidigungsmi-
Modelle wollten wir prüfen. Heute haben Sie es aller- nister veröffentlicht hat, so verstanden, dass er darüber
dings so dargestellt, als wollten wir uns nicht mit Ihnen nachgedacht hat, was eventuell andere, was Verbündete
einigen. machen könnten. Das ist legitim und aus meiner Sicht
(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Sie extrem notwendig; denn wenn ein anderer Staat, der zu-
wollen das doch extern prüfen und entscheiden sammen mit uns dort militärisch handelt, seine Truppen
lassen!) früher abziehen sollte, als er das bisher öffentlich ver-
lautbart hat, dann hätte das Konsequenzen für unser
Da kann ich Ihnen nur sagen: Nein. Wir würden mit Ih- Handeln.
nen gerne noch einmal über die Modelle, die auf dem
Tisch lagen und die wir noch vorgestern gemeinsam prü- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
fen wollten, sprechen. Das, was wir in der Debatte vor GRÜNEN]: Bleiben wir doch da und machen
zwei Wochen erlebt haben, wollen wir Ihnen nicht das Licht aus!)
durchgehen lassen. Da haben Sie nämlich gesagt: Die Deswegen finde ich es richtig, sich rechtzeitig darüber
Evaluierung ist gut und wichtig, aber wir fangen damit Gedanken zu machen.
erst in einem Jahr an. – Erst in einem Jahr damit anzu-
fangen, wäre viel zu spät. Das darf nicht sein. Drittens. Herr Kollege Schmidt, Sie haben darauf re-
kurriert, was möglicherweise im Süden passieren wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sie haben es vielleicht nicht gehört, aber die Kollegin
und bei der SPD)
Hoff hat zu Recht dazwischengerufen: Im Süden ist die
Die Lehren aus dem bisherigen Einsatz müssen gezo- Bundeswehr nicht tätig. – Wir können zwar unseren
gen werden. Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, Partnern Vorschläge machen, wie sie vorgehen sollen.
dass ein Abzug in Verantwortung – ich glaube, das ist Aber wir werden die Strategie dort nicht bestimmen kön-
unser gemeinsames Anliegen – überhaupt gelingen kann. nen. Deshalb sollten wir die Debatte über unseren deut-
Deswegen sage ich: Lassen Sie uns noch einmal über die- schen Einsatz führen.
ses Thema sprechen.
Ich möchte klarmachen – auch weil sehr viele Zu-
Danke für Ihre Aufmerksamkeit. schauer auf der Tribüne sitzen –, dass es sehr viel
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5847
Holger Haibach
(A) Schwarz-Weiß-Malerei in der öffentlichen Debatte über Struktur in ländlichen Regionen, der Aufbau von Infra- (C)
dieses Thema gibt. Ich möchte Ihnen – mit Zustimmung struktur, der Aufbau von Verwaltung, der Aufbau von
des Präsidenten – aus der Berliner Zeitung vom 3. Juli wirtschaftlichen Strukturen und – last, but not least – der
2010 zitieren. Dort schreibt Steffen Hebestreit: Polizeiaufbau, unsere Kernaufgabe, wo noch viel zu tun
ist, wie wir alle wissen. Das alles muss gemacht werden,
„In Deutschland gibt es ein völlig verzerrtes Bild und dafür bedarf es auf der afghanischen Seite aber auch
von Afghanistan.“ Bei einer Reise durch Afghanis- Strukturen, innerhalb derer das alles kompensiert und auf-
tan kann man diesen Satz vielfach hören – vom genommen werden kann. Hier scheint es mir sehr wichtig
deutschen Botschafter in Kabul, von Polizeiausbil- zu sein, dass wir eine vernünftige Balance finden zwi-
dern aus Erkrath, Bundeswehr-Obersten aus Hada- schen dem, was auf der gesamtstaatlichen Ebene, und
mar, Entwicklungshelfern aus Österreich, afghani- dem, was auf regionaler und lokaler Ebene gemacht wer-
schen Ministern und von vielen einfachen Soldaten. den kann.
Immer wieder. „Afghanistan“, beschwert sich einer,
„ist in den Medien immer nur Bürgerkrieg, Zerstö- Der Kollege Schmidt hat gerade gesagt, die Überein-
rung, Korruption und Verzweiflung.“ kunft von London, nach der 50 Prozent der Gelder durch
die staatlichen Strukturen in Kabul und 50 Prozent in an-
Auch daran müssen wir denken, wenn wir hier diskutie- derer Weise verausgabt werden sollen, dürfe auf keinen
ren. Afghanistan ist nicht heile Welt, aber auch nicht die Fall eingehalten werden. Ich stimme Ihnen hier durchaus
Katastrophe, zu der es immer gemacht wird. Deswegen zu, aber ich hätte mir gewünscht, Sie hätten das vorher
ist es wichtig – in dem Punkt hat der Kollege Schmidt gesagt. Ich frage mich die ganze Zeit, was passiert wäre,
recht –, dass die Konferenz in Kabul, wie Sie das ge- wenn sich einer von uns hier hingestellt und vor dieser
nannt haben, die Leerstellen füllt, die in London übrig Debatte so etwas verkündet hätte.
geblieben sind. Ich habe, ehrlich gesagt, diese Konferenz
auch nie anders verstanden. Es geht darum, zu operatio- Es gibt hier sicherlich eine durchaus berechtigte Re-
nalisieren und aus den Grundlagen, die in London gelegt servation, aber es gibt natürlich auch ein Problem: Wenn
wurden, ein vernünftiges Gesamtkonzept zu machen und wir das nicht so machen, dann delegitimieren wir zumin-
dieses mit Leben zu füllen. Dabei ist es wichtig, dass wir dest in den Augen der afghanischen Bevölkerung deren
den afghanischen Staat in militärischer, justizieller und eigene Machthaber. Da Sie schon über Dilemmata reden:
rechtsstaatlicher, aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht Das ist ein Dilemma, über das man an dieser Stelle eben
dazu befähigen, das Schicksal selbst in die Hand zu neh- auch reden muss. Das ist nicht ganz so einfach zu lösen.
men. Dazu gehört der Aufbau entsprechender Struktu- Ich glaube, darüber müssen wir alle uns im Klaren sein.
ren. Das wird schwierig genug.
Letztendlich – auch darauf will ich noch hinweisen –
(B) Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, um ein klei- haben wir bei aller Freude über mehr Geld gesehen, dass (D)
nes Warnzeichen zu setzen. Die Bundesregierung und der Mittelabfluss – dabei geht es nicht um die Bereit-
das Parlament haben – aus meiner Sicht: zu Recht – die stellung von Mitteln, sondern um die Strukturen, inner-
Mittel für den Wiederaufbau in Afghanistan nahezu halb derer sie aufgenommen werden – durchaus nicht
verdoppelt. Ich halte das für das richtige Zeichen, weil immer dem entsprochen hat, was wir uns eigentlich ge-
wir in dieser schwierigen Zeit diese Mittel brauchen wünscht haben. Es gibt Untersuchungen darüber – das
werden. Aber es gibt drei Punkte, bei denen wir aufpas- habe ich hier auch schon einmal gesagt –, dass bei afgha-
sen müssen. Der erste Punkt ist das Thema Veruntreu- nischen Ministerien 13 bis 70 Prozent der internationa-
ung; darüber wurde schon gesprochen. Dem muss nach- len Gelder abfließen. Der Durchschnitt liegt bei
gegangen werden. Das muss mit aller Härte verfolgt 40 Prozent. Das bedeutet mit anderen Worten: Allein mit
werden. Der zweite Punkt ist die Korruption. Seit 2007 mehr Geld – damit komme ich wieder auf den Aufbau
hat sich die Korruption in Afghanistan verdoppelt. Der von Strukturen zurück – wird man das Problem am Ende
Umfang der Korruption lag im Jahr 2009 bei etwa nicht lösen können.
1 Milliarde Dollar. Der dritte Punkt ist die Entwick-
Es geht letztendlich eben auch darum, dass Afghanis-
lungszusammenarbeit, auf der sehr viele Teile des Kon-
tan nicht nur politisch, militärisch und justiziell, sondern
zepts fußen. Entwicklungszusammenarbeit ist langfristig
auch wirtschaftlich in die Lage versetzt wird, die Lösung
angelegt und kann kurzfristig keine Erfolge zeitigen und
seiner Aufgaben selbst in die Hand zu nehmen. Wir alle
erst recht nicht Dinge wiedergutmachen, die in der Ver-
wissen zum Beispiel, dass sich China seit langer Zeit
gangenheit nicht so gut gelaufen sind.
dort betätigt und sehr stark im Kupferabbau tätig ist. Es
Insofern warne ich davor, der Entwicklungszusam- geht aber natürlich darum – das ist ja in allen Entwick-
menarbeit all das aufzubürden, was in den vergangenen lungsländern wichtig, aber aufgrund der Verhältnisse in
Jahren schiefgelaufen ist, und die Erwartungshaltung zu diesem Fall noch viel wichtiger –, dass Wertschöpfung
haben, mit mehr Geld werde man innerhalb von einem in dem Land stattfindet, in dem auch die Rohstoffe vor-
Jahr oder zwei Jahren die Dinge so radikal verändern, handen sind.
dass es vorangeht. Die Entwicklungszusammenarbeit
Deswegen ist es eine unserer Aufgaben, sich speziell
wird es in Afghanistan aber auch nach Beendigung der
darum zu kümmern, es ist aber auch wichtig, dass wir der
internationalen Militärpräsenz noch lange geben.
afghanischen Seite klarmachen, dass das nach vernünfti-
Deswegen ist es richtig, dass wir mit dem Afghanistan- gen Standards zu geschehen hat. Deshalb bin ich sehr
Konzept auch die Schwerpunkte unserer künftigen Arbeit froh, dass sich Afghanistan jetzt bemüht, die Standards
vorgelegt haben. Das sind: der Aufbau einer vernünftigen der Extractive Industries Transparency Initiative – EITI –
5848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Holger Haibach
(A) zu implementieren; denn das ist eine wichtige Vorausset- sicherlich glaubt auch niemand von Ihnen, dass wir noch (C)
zung dafür, dass wirtschaftliches Handeln unter rechts- in Afghanistan sein werden, wenn die Amerikaner das
staatlichen Bedingungen stattfindet. Land verlassen haben. Nun kann man darüber spekulie-
ren: Werden sie wirklich gehen? In welcher Größenord-
Es ist wichtig, dass von dieser Konferenz nicht nur nung werden sie gehen? Nur, wenn wir das nicht wissen,
ein Signal dafür ausgeht, dass die internationale Ge- dann ist es Aufgabe der Regierung, die Amerikaner zu
meinschaft bereit ist, die Realitäten in dem Land anzuer- fragen: Was habt ihr in Afghanistan eigentlich vor?
kennen, und dass wir bereit sind, alles zu tun, was not- Wann wollt ihr mit dem Abzug beginnen? Welche Stra-
wendig ist, um in Afghanistan voranzukommen, sondern tegie habt ihr? Welche Rolle habt ihr für uns vorgese-
es ist eben auch wichtig, dass die afghanische Seite hen?
zeigt, dass sie bereit ist, ihren Teil dazu beizutragen, ei-
nen vernünftigen Wiederaufbau in Afghanistan zu errei- Aber man kann nicht so tun, als könnte man unabhän-
chen. gig von den Amerikanern dort weiter dieselbe Politik be-
treiben wie in der Vergangenheit – business as usual. Ich
Danke sehr. will einige Daten nennen. Am 1. Dezember hat Barack
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Obama in seiner Rede in West Point angekündigt, dass
der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜND- er nun die Strategie in Afghanistan ändern wolle und
NIS 90/DIE GRÜNEN]) dass er nach einer vorübergehenden Erhöhung der ame-
rikanischen Truppenstärke im Jahr 2011 mit dem Abzug
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: beginnen wolle.
Als nächster Redner hat der Kollege Johannes Pflug Dann haben wir alle auf die Konferenz in London am
von der SPD-Fraktion das Wort. 28. Januar gewartet. Wir waren uns darin einig, dass von
dieser Konferenz ein wichtiges Signal ausgehen müsse,
(Beifall bei der SPD)
weil in den nächsten beiden Jahren unter Berücksichti-
gung des angekündigten Truppenabzugs der Amerikaner
Johannes Pflug (SPD): in Afghanistan Entscheidendes passieren müsse.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Minister, als ich Sie heute Morgen im Dann hat die Konferenz in London stattgefunden, und
Deutschlandradio und im ARD-Morgenmagazin gehört es sollte eine Follow-up-Konferenz geben, nämlich die
habe, hatte ich gleich die Befürchtung, dass das eintreten Kabuler Konferenz, über die wir gerade reden. Die Ka-
würde, was wir hier auch tatsächlich erlebt haben, näm- buler Konferenz ist von Herrn Präsidenten Karzai zwei-
lich eine Regierungserklärung nach dem Motto: Busi- mal verschoben worden. Sie sollte erst im April und
(B) ness as usual – alles wird gut in Afghanistan. dann im Mai stattfinden. Nun soll sie am 20. Juli stattfin- (D)
den. Karzai überlegt noch, sie vielleicht auf den 27. Juli
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo waren Sie ei- zu verschieben.
gentlich, als der Außenminister gesprochen hat?
Waren Sie draußen?) In der Zwischenzeit hat zwar die sogenannte Frie-
densjirga stattgefunden, die Sie angesprochen haben; In-
Ich muss Ihnen sagen, verehrte Frau Kollegin Hoff sider sagen aber: Das ist eine Showveranstaltung für
und verehrte Kollegen von den Koalitionsfraktionen: Karzai gewesen. Etwas Operationales ist aber bei dieser
Der Tenor Ihrer Reden ging in dieselbe Richtung. Des- Konferenz nicht herausgekommen.
halb möchte ich gerne versuchen, Ihnen zu erklären, dass
die Situation etwas anders ist, als es in dieser Regie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
rungserklärung zum Ausdruck kam. Der Kollege Herr Kollege Pflug, erlauben Sie eine Zwischenfrage
Schmidt hat das aufgegriffen. der Kollegin Hoff?
Ende 2009 haben die Japaner ihre logistische Unter-
stützung für die amerikanischen Schiffe eingestellt. Ende Johannes Pflug (SPD):
dieses Jahres werden die Niederländer ihren Truppenein- Bitte sehr.
satz in Afghanistan beenden; daran ist die niederländi-
sche Regierung zerbrochen. Die Polen haben angekün- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
digt, dass sie 2012 ihre Truppen aus Afghanistan
Bitte schön, Frau Hoff.
zurückziehen wollen. Das einzige konkrete Ergebnis
vom G-20-Gipfel ist die Ankündigung von Herrn
Cameron gewesen, dass die Briten bis 2015 ihre Truppen Elke Hoff (FDP):
zurückziehen werden. Sehr geehrter Herr Kollege, sind Sie bereit, anzuer-
kennen, dass der amerikanische Präsident in seiner Rede
(Florian Hahn [CDU/CSU]: Sagen Sie doch im Dezember gesagt hat, man wolle mit einem Abzug
mal was zur Kabuler Konferenz! – Gegenruf von Truppen in 2011 beginnen, wenn es denn die Situa-
des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist doch tion in der Region und auf dem Boden zulässt?
wurscht, was er sagt!)
Von den Amerikanern wissen wir, dass sie 2011 mit Johannes Pflug (SPD):
dem Truppenabzug beginnen wollen. Wenn ich mich Frau Kollegin Hoff, daran habe ich doch keinen
richtig erinnere, ist das auch unsere Beschlusslage. Denn Zweifel.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5849
Johannes Pflug
(A) (Ulrike Flach [FDP]: Das hast du aber gut ver- Deshalb, verehrter Herr Minister Westerwelle – das (C)
borgen! – Zuruf von der CDU/CSU: Das hat er richtet sich an die ganze Regierung –, kann ich Ihnen nur
weggelassen!) raten: Greifen Sie den Antrag von Bündnis 90/Die Grü-
nen und SPD auf – darin haben wir Vorschläge zur Eva-
Aber glauben Sie, dass der amerikanische Präsident
luierung der Afghanistan-Politik gemacht –, aber bitte
2012 in den Vereinigten Staaten den Präsidentschafts-
in dem Sinne, dass die realpolitische Situation zeitlich,
wahlkampf führen möchte, wenn seine Truppen in
quantitativ und qualitativ evaluiert wird und dass das
Afghanistan in die heftigsten Kämpfe verwickelt sind?
kein Beschäftigungsprogramm für künftige Wissen-
Er hat doch genügend innenpolitische Probleme. Gehen
schaftlergenerationen wird.
Sie davon aus: Der meint das ernst.
Wir haben auf ein Zeichen von Ihnen gewartet. Das
Er wird sicherlich versuchen, bis 2011 die Sicher-
ist ausgeblieben, obwohl Sie es vorher signalisiert ha-
heitslage in Afghanistan zu verbessern, und zwar durch
ben. Aber das ist die einzige Chance, um in den nächsten
entsprechende Offensiven, die auch angekündigt waren,
zwei Jahren vielleicht doch noch zu einem halbwegs ver-
aber verschoben worden sind. Es hat eine Offensive in
nünftigen Ende zu kommen.
Helmand stattgefunden. Die für Kandahar und Helmand
Valley angekündigten Offensiven sind bisher verschoben Schönen Dank.
worden. Der amerikanische Präsident wird 2011 den
Eindruck vermitteln, dass sich die Sicherheitslage mitt- (Beifall bei der SPD)
lerweile entsprechend verbessert hat, und dann wird er
uns und die anderen bitten, sich entsprechend zu beteili- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
gen. Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Bijan Djir-Sarai
Glauben Sie bloß nicht, dass Sie darauf verweisen von der FDP-Fraktion.
können: Der Deutsche Bundestag hat verschiedene Be- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
schlüsse gefasst mit dem Inhalt: Wir sind nicht dabei. –
Man wird von uns einen Beitrag erwarten. Herr Minister,
deshalb müssen Sie fragen: Was haben die Amerikaner Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP):
vor? Wie wird die bisherige Strategie beurteilt? Was hat Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kabu-
Petraeus in Afghanistan vor? Welche Rolle sollen die ler Konferenz ist der nächste wichtige Schritt auf dem
deutschen Truppen spielen? Es geht doch nicht an, dass Weg Afghanistans zur Übergabe in Verantwortung. Es
man einfach so tut, als könnten wir weiter vor uns hin ist die erste internationale Konferenz über Afghanistan,
wursteln. die auch tatsächlich in Afghanistan stattfindet. Und das
(B) ist auch gut so. Es ist ein bedeutendes, positives Signal, (D)
Frau Kollegin Hoff, Sie haben gefragt: Sind das, was dass die Probleme Afghanistans auch nur in Afghanistan
von Herrn Erler kam, vorsichtige Absetzbewegungen gelöst werden können.
gewesen? Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Nein! Wir ste-
hen in der Kontinuität und werden auch weiterhin in die- Auf dieser Konferenz werden – das ist vorhin schon
ser Kontinuität stehen, aber nur dann, wenn wir den Ein- mehrmals gesagt worden – die Themen Sicherheit, gute
druck haben, dass Ihre Augen offen sind und Sie die Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung, die wei-
Lage mit uns auch realistisch beurteilen. Sonst hat das tere wirtschaftliche Entwicklung des Landes und das
keinen Sinn. Sonst müssen wir von uns aus die Konse- Thema Reintegration eine zentrale Rolle spielen.
quenzen ziehen und versuchen, von unserer Seite aus Ich möchte eines bereits an dieser Stelle ganz deutlich
eine entsprechende Strategie zu entwickeln. machen – gerade weil Kollegen in diesem Haus so fleißig
Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist gegen Entschließungsanträge zu diesem Thema schreiben –: Es
den Afghanistan-Einsatz. Und wenn Sie ehrlich in Ihre ist natürlich wichtig, was auf der Konferenz passiert. Es
Fraktion und in die anderen Fraktionen hineinfragen, ist aber noch wichtiger, wie wir – und vor allem die
dann werden Sie feststellen, dass insbesondere bei den Afghanen selbst – mit den Ergebnissen dieser Konferenz
neueren Kolleginnen und Kollegen eine große Skepsis später umgehen werden. Es ist wichtig, dass nach der
besteht und sie große Zweifel haben. Konferenz eine rasche und konkrete Umsetzung der Er-
gebnisse stattfindet.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Zu Recht!) Wir alle wussten und wissen, dass der Weg zur Über-
gabe in Verantwortung hart und steinig sein wird. Ver-
Bisher haben wir die Kontinuität durchhalten können, letzungen der Menschenrechte, die Zerstörung der Infra-
weil unsere Politik erklärbar war. Erklärbar ist sie dann, struktur, Drogenökonomie und Korruption erschweren
wenn sie politisch und moralisch zu rechtfertigen ist. Die immer wieder die angestrebten Veränderungen in Afgha-
moralische Rechtfertigung endet aber spätestens dann, nistan.
wenn mit dem Einsatz deutscher Soldatinnen und Solda-
ten nur noch der Status quo gehalten werden kann oder In diesem Zusammenhang muss mit Unterstützung
die Sicherheitslage sich sogar permanent verschlechtert. der internationalen Gemeinschaft weiter an starken, ver-
Genau das schildern unsere Geheimdienste in den Lage- lässlichen Regierungsinstitutionen und funktionieren-
berichten. Es werden Kisten mit Geld außer Landes ge- den öffentlichen Verwaltungen auf allen Ebenen gearbei-
bracht, aber wir sollen weiter finanzieren. Das kann doch tet werden. Ebenfalls muss nach wie vor über den
alles nicht wahr sein! richtigen Weg der Versöhnung in Afghanistan gespro-
5850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Dr. Bijan Djir-Sarai


(A) chen werden. Das ist die wohl größte Herausforderung, Wir dürfen uns nichts vormachen – auch das gehört (C)
vor der wir alle zusammen stehen. zu einer solchen Debatte –: Eine Strategie, die die Prä-
senz in der Fläche verlangt, bei der die afghanischen
Meiner Meinung nach kann die Lösung dieses Pro- Soldaten in der Praxis direkt von den internationalen
blems in dieser Phase nur Reintegration heißen. Das ist Truppen lernen sollen, ist mit Risiken für die Soldatin-
auch ein Punkt, der in der aktuellen internationalen Stra- nen und Soldaten verbunden. Die Taliban sollen durch
tegie aufgeführt ist. Reintegration kann nur erfolgen, die größere Sichtbarkeit, durch die stärkere Präsenz in
wenn alle Akteure eng zusammenarbeiten – die afghani- der Fläche zurückgedrängt werden. Die Einheiten sind
sche Bevölkerung und die internationale Gemeinschaft. unterwegs nicht so gut geschützt wie in den Feldlagern.
Afghanistan muss auf kultureller, politischer und wirt- Sie sind also verwundbarer. Darauf müssen wir vorberei-
schaftlicher Ebene gestärkt werden. Nur so werden wir tet sein. Darauf müssen wir die Öffentlichkeit im eige-
dort Vertrauen und Zuversicht vermitteln können. nen Land ebenfalls ehrlich vorbereiten.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Was heißt
Reintegration ist eine große Chance für die Stabilisie- das?)
rung von innen heraus. Das ist ein wichtiges Moment der Es wäre allerdings ein Fehler, wenn wir uns jetzt festle-
gesamten Strategie. Darüber müssen wir uns alle im Kla- gen und einen Termin des Abzuges bestimmen würden.
ren sein. Wir haben mit der internationalen Gemeinschaft einen
Wenn man über die Kabuler Konferenz diskutieren Ansatz erarbeitet. Diesen Ansatz müssen wir durch un-
will, so muss man ebenfalls über die Londoner Konfe- ser Afghanistan-Mandat umsetzen. Unser Ziel muss es
renz und die damit verbundenen Ergebnisse diskutieren. sein, schrittweise die Rückgabe in Verantwortung zu ge-
Mit der Londoner Konferenz ist ein Strategiewechsel stalten. Wir werden uns aber auch Gedanken machen
eingeleitet worden. Dabei wurde der zivile Aufbau noch müssen, was nach einem Abzug der internationalen
stärker forciert, der Schutz der afghanischen Bevölke- Truppen kommen wird.
rung in den Mittelpunkt gestellt und die Ausbildung der Nachsorgelemente werden notwendig sein. Sie müs-
Sicherheitskräfte verstärkt. Im Nachgang der Londoner sen von langer Hand und sorgfältig geplant werden, um
Konferenz hat die Bundesregierung entschieden, die zu einem abschließenden Teil unserer Übergabe in Ver-
Haushaltsmittel für Entwicklungszusammenarbeit zu er- antwortung zu werden. Eines muss klar sein: Wir dürfen
höhen. Die Erfolge sind in Afghanistan sichtbar. Ob es dieses Land nie wieder Terroristen und Verbrechern
die Übergabe von Schulen ist, die Einweihung eines überlassen, sonst würden wir einen Flächenbrand in der
Ausbildungszentrums oder einer Polizeiwache, ob es gesamten Region riskieren. Das wäre eine sehr gefährli-
(B) Programme für Infrastrukturverbesserung oder zum Bau che Entwicklung. Wir können auch nicht erst nach (D)
von Krankenhäusern sind – eines wird deutlich: Wir Verantwortung rufen, dann aber die Afghaninnen und
wollen und werden den zivilen Aufbau in Afghanistan Afghanen allein ihrem Schicksal überlassen. Das wäre
weiter intensiv unterstützen. ebenfalls ein sehr schlimmer Fehler.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall der Abg. Marieluise Beck [Bremen]
Dafür brauchen wir weiterhin die Bundeswehr dort. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Sie macht diese positive zivile Entwicklung überhaupt Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
erst möglich. Eine stabile Sicherheitslage ist und bleibt
die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg ziviler Pro- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
jekte.
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Die ist aber Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nicht stabil!) Das Wort hat der Kollege Paul Schäfer von der Frak-
tion Die Linke.
– Fahren Sie einmal nach Afghanistan, schauen Sie sich
das an! Nehmen Sie diese Mühe auf sich, und informie- (Beifall bei der LINKEN)
ren Sie sich vor Ort! Das ist in der Tat so. – Unsere Sol-
datinnen und Soldaten können stolz darauf sein, dass Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):
aufgrund ihres Einsatzes die positive Entwicklung in Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
Afghanistan erst möglich wird. mich gefragt: Warum führen wir eigentlich jetzt, so kurz
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten vor der Sommerpause, diese Debatte hier?
der CDU/CSU) (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Weil die Konferenz
Für ihren schweren und gefährlichen Einsatz in Afgha- ist!)
nistan habe ich die höchste Wertschätzung und Anerken- Denn wirklich Neues ist nicht gesagt worden.
nung. Das muss an dieser Stelle an so einem Tag auch
gesagt werden. (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Die Konferenz ist
neu!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Wenn darauf hingewiesen wurde, dass eigentlich nichts
GRÜNEN) Neues gesagt wurde, hat man entgegnet: Es ist noch viel
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5851
Paul Schäfer (Köln)
(A) zu früh, um etwas Neues zu sagen. – Ich habe jetzt ver- Die jüngste Entwicklung zeigt deutlich: Die NATO ist (C)
standen, worum es geht. gescheitert, und auch mit ihrer sogenannten neuen Stra-
tegie wird sie scheitern. Die Zahlen sind genannt
(Beifall bei der FDP) worden, sie liegen auf dem Tisch: Trotz weit über
Es geht darum, noch einmal vor der langen Sommer- 120 000 Soldaten hat sich die Sicherheitslage ver-
pause der Bevölkerung das Mantra vorzutragen: Okay, schlechtert. In diesem Jahr gab es 11 000 Angriffe, Ge-
fechte und Anschläge. Pro Woche gibt es also mehr als
wir sind in Afghanistan zwar in Schwierigkeiten, aber
800 Vorfälle dieser Art. Das ist ein Rekordniveau.
alles wird gut in Afghanistan. – Das ist das Mantra, die
Beschwörungsformel. Dies scheint bitter nötig zu sein, Vor diesem Hintergrund finden wir es schlimm, dass
weil gleichzeitig die Ankündigung erfolgt: Es wird in nun auch die Bundeswehr im Norden aufrüstet. Weitere
Afghanistan für unsere Soldatinnen und Soldaten einen Schützenpanzer und Artillerie werden in Afghanistan
harten, bitteren Sommer geben. Es geht hier also offen- stationiert. Die Luftkampffähigkeit wird intensiviert. Ich
sichtlich darum, für den Fall, dass uns solche Meldungen frage Sie ernsthaft: Wohin soll das führen?
in den nächsten Wochen ereilen werden, die Lage in der (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja, wohin soll Ihre
Heimat zu stabilisieren. Rede führen? Das frage ich mich auch!)
Aber das Mantra wirkt nicht mehr. Nach neun Jahren Wenn man schon in der Klemme ist, scheut man sich
NATO-Intervention in Afghanistan hat sich bei den auch nicht, sich mit fragwürdigen Alliierten zusam-
meisten Menschen – nicht nur in Deutschland, sondern menzutun, etwa mit den lokalen Milizen, die jetzt in al-
auf allen Kontinenten – die Erkenntnis durchgesetzt, len Regionen als Partner aufgewertet werden, obwohl sie
dass Frieden in Afghanistan mit NATO-Truppen nicht das staatliche Gewaltmonopol untergraben.
erreicht werden kann.
Die schönen Pläne eines sauberen Krieges, der die Zi-
(Beifall bei der LINKEN) vilbevölkerung schützt – Sie haben dieses Bild hier im-
mer wieder transportiert – zerschellen einfach an der
Nach einer kürzlich vorgelegten aktuellen Umfrage in Realität. Allein in den letzten drei Monaten sind erneut
22 Staaten auf allen Kontinenten – darunter USA, mehr als 340 zivile Opfer zu beklagen. Wir trauern um
Deutschland, Frankreich, China und Indien – haben sich diese Opfer. Wir trauern um die toten deutschen Solda-
nur in einem Staat mehr als 50 Prozent der befragten ten, und wir trauern um die Opfer von Kunduz.
Personen für den Verbleib der NATO-Truppen in Afgha-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
nistan ausgesprochen: in Kenia. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Ich bin angesichts dieser Debatte allerdings skeptisch, und der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul
(B) ob sich diese Erkenntnis, die in der Bevölkerung schon [SPD]) (D)
gereift ist, auch im Bundestag durchsetzen wird. Sie sind Was die Praxis der Aufstandsbekämpfung angeht,
immer noch sehr darauf fixiert, dass nicht sein kann, was kann man nur sagen: Das steht einfach in diametralem
nicht sein darf. Ihre Devise lautet daher: Die NATO darf Gegensatz zur Förderung von Reintegration und Aus-
nicht scheitern. Es geht aber nicht um die NATO, die als söhnung. Wir hören von Menschenjagd, von verdeckten
Militärbündnis ihre Zukunft schon längst hinter sich hat. Kommandooperationen und von nächtlichen Hausdurch-
Es geht um eine Friedenslösung für Afghanistan. suchungen. Angesichts dessen ist es kein Wunder, dass
das Bundesministerium der Verteidigung vier Monate
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. nach der Londoner Konferenz gerade einmal von sechs
Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Taliban berichten kann, die im Norden ihre Waffen nie-
GRÜNEN]) dergelegt haben, während gleichzeitig allein bei einer
Was SPD und Grüne anbetrifft, so ist zu sagen, beide US-Offensive im Norden mehr als 150 Aufständische
Parteien kommen offensichtlich einfach nicht davon getötet worden sind. Das fördert die Verhandlungsbereit-
schaft nicht.
weg, dass sie den Afghanistan-Einsatz beschlossen ha-
ben. Deshalb müssen die Grünen die ISAF-Militärinter- (Beifall bei der LINKEN)
vention in ihrem Entschließungsantrag immer noch als
Was die Korruptionsbekämpfung angeht, ist eben-
Teil einer politischen Lösung darstellen. Diese Militär- falls das Nötige gesagt worden. Ich erinnere an die Geld-
intervention ist kein Teil der Lösung, sondern ein gravie- koffer, die nach Dubai wandern.
render Teil des Problems!
Nur wer diese Realitäten ungeschminkt ins Visier
(Beifall bei der LINKEN) nimmt, kann die richtige Antwort finden. Die richtige
Der neue ISAF-Kommandeur Petraeus hat zuletzt Antwort heißt unseres Erachtens, erstens, sofortiger Ab-
zug der Bundeswehr aus Afghanistan,
sehr markig verkündet: „Wir sind hier, um zu siegen.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da kann einem wirk- (Beifall bei der LINKEN)
lich angst und bange werden, weil es zeigt, dass das
Denken in den militärischen Kategorien von Sieg und zweitens, alles daransetzen, ein Friedens- und Waffen-
Niederlage ungebrochen ist. Der Herr meint tatsächlich, stillstandsabkommen zu schließen. Statt Afghanisierung
dass man das Blatt militärisch wenden kann. Man wird des Krieges ist Afghanisierung des Friedens angesagt.
und kann es nicht militärisch wenden! Danke.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
5852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: möglich, wirtschaftlichen Wohlstand zu erlangen und fa- (C)
Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Hahn von der natischen Predigern die Stirn zu bieten.
CDU/CSU-Fraktion.
Der Wahlkampf für die bevorstehenden Wahlen im
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- September ist aktuell in vollem Gange. In Kabul hängen
neten der FDP) überall Plakate, und in vielen Städten haben die Kandi-
daten Wahlbüros eingerichtet. Es freut mich, zu sehen,
Florian Hahn (CDU/CSU): dass das Interesse der Afghanen an den Wahlen hoch ist.
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen Ich habe den Eindruck, dass eine große Anzahl der jun-
und Kollegen! Die Schreckensmeldungen über Kämpfe, gen Menschen ihre Vertreter im Parlament mitbestim-
Anschläge und Korruption in Afghanistan werden nicht men will. Auf meiner Reise nach Afghanistan im März
weniger. Das haben wir heute schon einige Male festge- dieses Jahres habe ich einen jungen Afghanen kennenge-
stellt. lernt, der in Hamburg aufgewachsen ist und wieder in
sein Heimatland zurückgekehrt ist. Bei den bevorstehen-
Diejenigen, die behaupten, das liege am Einsatz der den Wahlen kandidiert er in Masar-i-Scharif. Es gibt also
internationalen Gemeinschaft, sind meines Erachtens auf die Möglichkeit, dass sich die Bevölkerung hinter junge,
der falschen Fährte. Vielmehr scheint es doch so zu sein, unbelastete Kandidaten stellen kann.
dass die neue Strategie wirkt und die Taliban sich ent-
sprechend dagegen wehren. Beispielsweise haben die Von der afghanischen Regierung erwarte ich an dieser
Taliban mit den Verhaftungen von Führern in Karat- Stelle allerdings, dass sie die Kontrollmechanismen
schi, Quetta und Peschawar Ende Januar und Anfang Fe- der internationalen Gemeinschaft bei Wahlen unein-
bruar dieses Jahres einen herben Schlag erlitten. geschränkt zulässt. Ausgeglichene Startbedingungen
sind zwar für uns eine Selbstverständlichkeit; in Afgha-
Die Operation „Hamkari Baraye Kandahar“ trifft nistan scheinen wir die Regierung allerdings noch ein-
die Taliban-Stadtguerilla sehr hart. Vorher hatte sie sich mal daran erinnern zu müssen.
bereits in den meisten Vierteln der Stadt Kandahar als
De-facto-Regierung etabliert. Das konnten wir auflösen. Wir dürfen uns aber auch nichts vormachen. In
Die Taliban reagieren jetzt mit Mordversuchen, um sich Afghanistan können wir nicht die westlichen Maßstäbe
so gegen ihre schwindende Macht zu wehren. Hier dür- von Demokratie und unseren Freiheitsbegriff zugrunde
fen wir in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. legen. Dennoch muss es unser Ziel sein, dem so nahe
wie möglich zu kommen. Im Januar dieses Jahres haben
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wir hierfür in London eine neue Strategie festgelegt –
neten der FDP) eine Strategie, die von unserer Bundesregierung maß-
(B) geblich mitgestaltet wurde. Durch den vernetzten Ansatz (D)
Für unsere Truppen, für unsere Soldaten ist dies nicht
von zivilen, militärischen und politischen Mitteln wollen
ungefährlich.
wir den Weg für ein friedliches und selbstbestimmtes
Gerade auch vor diesem Hintergrund müssen wir uns Afghanistan bereiten.
noch einmal vor Augen führen, warum wir unsere Sol-
Meine Damen und Herren, wir stehen an der Seite des
datinnen und Soldaten in Afghanistan tagtäglich der
afghanischen Volkes. Wir haben unsere Bereitschaft er-
Gefahr für Leib und Leben aussetzen. Afghanistan
klärt, zu helfen. Dazu stehen wir auch.
darf nicht wieder eine Organisationsplattform für den in-
ternationalen Terror werden, der dann auch Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
treffen könnte. Diese Gefährdung wäre um vieles größer,
Von der afghanischen Regierung erwarte ich dafür eine
wenn die internationale Gemeinschaft das Land plötzlich
verantwortungsvollere Regierungsführung, die konse-
und überhastet verlassen würde. Ja, der Einsatz ist ge-
quente Bekämpfung der Korruption und die Einhaltung
fährlich; er ist aber auch notwendig.
der Entwicklungspläne.
Die Rückschläge, die wir immer wieder hinnehmen
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
müssen, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir
GRÜNEN]: Das geht nun schon seit neun Jah-
seit 2001 den Grundstein für einen neuen Staat
ren so!)
Afghanistan und für viele gute Entwicklungen gelegt
haben. Die Kernpunkte auf dem Weg zur Übergabe in Ver-
antwortung haben wir in der Konferenz in London fest-
In einem so jungen Staat, in dem knapp die Hälfte der
gelegt. Nun müssen diese weiter konkretisiert und mit
Bevölkerung jünger als 15 Jahre ist und rund zwei Drit-
Fristen versehen werden. Die vier Kernpunkte des Lon-
tel nicht älter als 24 Jahre sind, haben wir zu Recht viel
doner Schlussdokuments – wirtschaftliche und soziale
Geld in die Bildung investiert. Allein in den letzten fünf
Entwicklung, gute Regierungsführung, Frieden und Si-
Jahren konnten wir die Einschulungsquote von 37 auf
cherheit sowie regionale Kooperation – müssen in Kabul
54 Prozent steigern. Die Alphabetisierungsrate der Ju-
mit klaren und messbaren Meilensteinen versehen wer-
gendlichen hat im selben Zeitraum um 8 Prozentpunkte
den.
zugenommen. Das ist eine beachtliche Leistung – auch
in Bezug auf das Ziel 2 der Millenniumserklärung, das Die Ergebnisse der Friedensjirga vom Juni dieses
da lautet, allen Kindern eine Grundschulausbildung zu Jahres müssen ebenfalls Eingang in die Konferenz fin-
ermöglichen. Hier dürfen wir ebenfalls nicht nachlassen. den. Das dort beschlossene Friedens- und Reintegra-
Bildung ist der Grundstein für Demokratie. Nur so ist es tionsprogramm, mit dem „entfremdete Brüder“ in Staat
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5853
Florian Hahn
(A) und Gesellschaft zurückgeholt werden sollen, wird die Lieber Herr Westerwelle, ich hätte mir noch etwas ge- (C)
Konferenz ebenfalls übernehmen. Es soll Kämpfern und wünscht. Sie haben – lesen Sie nach, wie Sie das gesagt
Aufständischen unter bestimmten Bedingungen Straf- haben! – auch dem Minister für wirtschaftliche Zusam-
freiheit zusichern. Hier finden sich zentrale deutsche menarbeit gedankt.
Anliegen wieder: Angebote vor allem in Form von Ar-
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Sehr zu Recht!)
beit und Ausbildung, keine Benachteiligung von Nicht-
kämpfern, Einbeziehung der gesamten Bevölkerung so- Sie hätten diesen Dank auch an die vielen zivilen Auf-
wie eine landesweite Umsetzung. bauhelfer im Einsatzgebiet weitergeben müssen.
Ein herausfordernder Punkt ist die regionale Koope- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Elke
ration. Wir alle können uns gut vorstellen, welche Inte- Hoff [FDP]: Auch das hat er gemacht! –
ressen die umliegenden Staaten in Afghanistan verfol- Holger Haibach [CDU/CSU]: Das hat er auch
gen. Wir müssen daher unbedingt ein strategisches gemacht! Zuhören hilft!)
Umdenken bei einigen Nachbarstaaten einfordern.
– Lesen Sie es nach! Er hat das nicht getan.
Wir erwarten von der Konferenz die Konkretisierung
(Holger Haibach [CDU/CSU]: Das ist das
der afghanischen Entwicklungsagenda hinsichtlich In-
Dumme, wenn man die Rede vorher vorberei-
frastruktur, Landwirtschaft, Bildung und Ausbildung so-
tet! – Ulrike Flach [FDP]: Vielleicht war er
wie eine Regierungsführung, die die Korruptionsbe-
auch nicht im Raum! Das kann ja sein!)
kämpfung mit einschließt. Auch hier muss es unser Ziel
sein, eine mit Fristen und erreichbaren Meilensteinen Was die Frage der Soldatinnen und Soldaten anbe-
versehene Agenda in allen vier Bereichen zu erarbeiten. langt: Ihnen hat der Kollege Hahn hier schon Dank ge-
Dabei müssen wir das Gleichgewicht zwischen Anreizen sagt.
und afghanischer Selbstverpflichtung unbedingt wahren.
Aus Umfragen in Afghanistan wissen wir, dass der
Meine Damen und Herren, der Einsatz ist gefährlich, Wunsch nach Sicherheit und Frieden bei den Menschen
und leider müssen wir weiterhin mit Verlusten rechnen. in einem sehr hohen Maße ausgeprägt ist, und das ist
Wir wissen aus der Vergangenheit: Im Vorfeld von Wah- auch kein Wunder in einem solch geschundenen Land.
len verschlechtert sich die Sicherheitslage noch einmal. Ich finde, all das, was wir tun, müssen wir daran orien-
Wir müssen mit einer verstärkten Aktivität der Taliban tieren, inwieweit es für die Verbesserung des Lebens-
rechnen; denn sie versuchen, die Demokratisierung des schicksals der Menschen in Afghanistan notwendig ist.
Landes mit allen Mitteln zu unterbinden. Daher danke
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Rainer
ich unseren Soldatinnen und Soldaten, die tagtäglich für
Stinner [FDP]: Sehr richtig!) (D)
(B) unsere Sicherheit in Afghanistan kämpfen und zusam-
men mit zivilen Aufbauhelfern, Polizisten und Diploma- Da ist die Frage: Wie kann man ihrem Wunsch nach
ten für die Entwicklung dieses Landes arbeiten. mehr Sicherheit nachkommen?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Sehr richtig!)
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
In der Bundesregierung wird im Moment gerne von
GRÜNEN)
Priorisierung gesprochen. Ich habe den Eindruck: Das ist
Für ihren Einsatz wünsche ich ihnen auf diesem Wege das neue Wort für Kürzen, Reduzieren und Einsparen.
Gottes Segen. Aber in Afghanistan geht es doch um die Frage, wie wir
selbsttragende Sicherheitsstrukturen fördern können.
Herzlichen Dank. Lieber Herr Westerwelle, da liegen Anspruch und Wirk-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lichkeit sehr weit auseinander. Ich finde nämlich, eine
Regierungserklärung zu Afghanistan sollte nicht nur von
Wünschenswertem und Nebulösem geprägt sein, son-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
dern auch von einem gewissen Realitätssinn getragen
Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Rudolf Körper werden.
von der SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: So
(Beifall bei der SPD) wie Ihre Rede hier!)

Fritz Rudolf Körper (SPD): Es gibt einen Fakt, der heute hier allerdings noch
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber keine Rolle gespielt hat. Man muss wissen, dass in den
Herr Westerwelle, ich hätte mir eigentlich gewünscht, Jahren 2008 und 2009 jeweils doppelt so viele Polizisten
dass Sie sich in Ihrer Regierungserklärung nicht in erster ermordet bzw. getötet worden sind wie beispielsweise
Linie bei dem Herrn Innenminister bedanken, sondern Soldaten. Das zeigt, vor welchem Problem wir stehen.
bei den Polizistinnen und Polizisten, die aufopferungs- Wenn wir jetzt die Strukturen verbessern wollen, dann
voll ihren Dienst in Afghanistan leisten. müssen wir – das ist ganz wichtig – Anspruch und Wirk-
lichkeit in Einklang bringen. Die Polizeimaßnahmen und
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Polizeivorhaben im Rahmen von EUPOL leiden seit
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jahren jedoch an einer Unterfinanzierung. Sie müssen
Ulrike Flach [FDP]: Das hat er getan! – Wei- wissen: Wir geben für Afghanistan, was den EUPOL-
tere Zurufe von der FDP: Zuhören!) Bereich anbelangt, insgesamt 55 Millionen Euro aus. Im
5854 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Fritz Rudolf Körper


(A) Vergleich zu dem, was wir in anderen Bereichen tun, ist auch nicht unterfinanziert. Es kommt vielmehr darauf (C)
das nicht ausreichend. an, dass die europäischen Staaten Polizeiausbilder in
ausreichender Anzahl zur Verfügung stellen. Dafür tru-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Elke Hoff
gen Sie einst Verantwortung, Herr Kollege.
[FDP]: Wer war denn Staatssekretär?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Herr Westerwelle, es ist wichtig, dass Sie auf der Ka-
bul-Konferenz das Thema Polizeiausbildung anspre- Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere heu-
chen. Es kann nämlich nicht sein, dass Polizeiausbildung tige Debatte hat gezeigt, dass wir ernsthafter, wirklich-
einzig und allein auf Quantität ausgerichtet ist und die keitsnäher und mit mehr Augenmaß an das Thema he-
Qualitätsgesichtspunkte dabei vernachlässigt werden. rangehen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Unsere Debatte hat auch gezeigt – der Herr Außen-
minister und auch die Frau Kollegin Hoff haben es ange-
Es gibt zwar eine Zielgröße für die Ausbildung, aber es
sprochen –, dass es sehr stark auf den regionalen Kon-
ist beispielsweise auch so, dass die Ausbildungszeit auf
text ankommt. Wenn wir auf die Region schauen, stellen
sechs Wochen verkürzt wird. Ich glaube nicht, dass nach
wir fest, dass es eine ganze Reihe von Spielern gibt, die
dieser Zeit vollwertig ausgebildete Polizisten für Ein-
auf der Wartebank sitzen. Worum geht es? Zwischen Pa-
sätze zur Verfügung stehen. Alle Erfahrungen zeigen,
kistan und Indien gibt es einen latenten Konflikt, und Pa-
dass dies nicht möglich ist. In Anbetracht der hohen
kistan ist relativ instabil. Die zentralasiatischen Staaten
Quote von Morden an Polizisten müssen wir das Thema
stehen der Gefahr eines wachsenden Islamismus gegen-
Qualität bei der Polizeiausbildung berücksichtigen. Ich
über, das haben die Entwicklungen in Kirgistan unlängst
bitte Sie ganz ausdrücklich, sich in diesem Sinne einzu-
gezeigt.
setzen.
Wir müssen weiterhin im Blick behalten, was die
(Beifall bei der SPD)
UNO vor Ort leistet. Der UNHCR Guterres hat Ent-
Ich komme nun zur Frage der wirksamen Bekämp- scheidendes im Rahmen des trilateralen Dialoges zwi-
fung von Korruption. Dass wir diesen Kraken bekämp- schen Afghanistan, Pakistan und – man höre und staune –
fen müssen, ist ganz klar. Ich will in diesem Zusammen- dem Iran zuwege gebracht, bei dem es um Flüchtlings-
hang einen konkreten Vorschlag machen: Es ist wichtig, rückkehr und um Flüchtlingszusammenarbeit geht.
Herr Westerwelle, dass wir uns auch für eine angemes-
sene Bezahlung im Polizeibereich einsetzen. Damit be- Nun muss es darum gehen, zu berücksichtigen, wel-
wahren wir die Polizisten davor, für Korruption anfällig che Interessen unsere Mitspieler in der Region haben
zu werden. Ich glaube, das wäre ein erster wichtiger und und wie wir diese Interessen in unsere Politik einbinden
(B)
pragmatischer Schritt, Korruption zu bekämpfen. können. Es gibt viele Bereiche – von der Regierungs- (D)
bank ist es bereits zur Sprache gebracht worden –: Ge-
Wir sollten uns auf dieser Afghanistan-Konferenz mit sundheitspolitik, Landwirtschaft und die zivile Infra-
solchen praktischen und konkreten Vorschlägen einbrin- struktur, bei denen wir vorankommen müssen.
gen. Ich hoffe, dass Sie das tun.
Es geht somit um die richtige Strategie. Von der Op-
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. position wurde angemahnt, dass die Strategie noch nicht
greift. Dabei ist doch zu berücksichtigen, dass es, wenn
(Beifall bei der SPD)
man eine Neuausrichtung verfolgt, in der Regel mindes-
tens ein halbes Jahr dauert, bis die Ausbildung umge-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: stellt und der Personalkörper verändert ist. Die Bundes-
Als letztem Redner in dieser Aussprache erteile ich wehr geht deshalb jetzt auch ein halbes Jahr später mit
das Wort dem Kollegen Roderich Kiesewetter von der einem neuen Kontingent in die Einsätze; bei den zivilen
CDU/CSU-Fraktion. Organisationen ist es genauso. Wir wollen mit einem re-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gionalen Ansatz den politischen Islamismus eindämmen,
gegen die Drogenökonomie vorgehen und organisierte
Kriminalität und Korruption im Auge behalten. Das geht
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU):
nur in enger Abstimmung vor Ort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Ich freue mich, dass die Regierung an einem Strang
Herr Kollege Körper, zu Ihrer Zeit als Staatssekretär lag zieht. Es ist somit ganz wichtig, dass wir wieder einen Af-
die Verantwortung für den Aufbau der Polizei in Afgha- ghanistan-Beauftragten der Bundesregierung, den Bot-
nistan noch in unseren Händen. Es ist schon interessant, schafter Steiner haben, der hier auch anwesend ist.
dass gerade Sie heute hier den EUPOL-Einsatz kritisie-
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Es ist ein
ren.
Wunder, dass die Bundesregierung mal an ei-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nem Strang zieht!)
Wir wollen uns nicht zulasten einer Gruppe, seien es Eines ist klar: Es gibt keine Regionalmacht vor Ort.
nun Soldaten oder Polizisten, profilieren. Entscheidend Es gibt auch keine Aussicht auf ein regionales Bündnis,
ist doch – gerade im Falle von EUPOL ist das wichtig –, das in den nächsten Jahren die Sicherheit vor Ort ge-
dass wir wirklichkeitsnah handeln: So müssen wir teil- währleisten kann. Das heißt, es kommt weiterhin auf die
weise Analphabeten ausbilden. Diese Vorhaben sind UNO und den internationalen Einsatz an, an dem wir in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5855
Roderich Kiesewetter
(A) großem Umfang beteiligt sind. Es kommt auf uns an. Schließlich geht es darum, die Beschlüsse von Lon- (C)
Wenn wir die Probleme nicht lösen, wer dann? Wir dür- don zu operationalisieren, messbar zu machen. Ich bin
fen nicht hoffen, dass das andere Kräfte vor Ort überneh- sehr froh darüber, dass sich in unserem Hause zum
men, sondern wir müssen die Afghanen dazu befähigen, Herbst ein Konsens zwischen mehreren Parteien ab-
dass sie die Führung von uns übernehmen. Dazwischen zeichnet, wie wir mit Benchmarks umgehen und wie wir
wird es keinen Schritt geben. Das ist ein Mannschafts- den Wirksamkeitsbericht entwickeln. Für die Koalitions-
spiel. fraktionen ist aber entscheidend, dass wir es nicht zulas-
sen, dass unsere Entscheidungsbefugnisse auf externe
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Expertise verlagert werden. Die Bundesregierung kann
entsprechende Experten beteiligen, aber wir sollten die
Lassen Sie mich einen weiteren Gedanken anfügen. Federführung behalten und uns ganz stark dafür einset-
Unser Verteidigungsminister hat das letzte Woche – ich zen, dass wir an diesem Prozess intensiv beteiligt wer-
habe den Artikel anders gelesen – deutlich gemacht: Wir den.
müssen mit unserer Bevölkerung, mit unseren Mitbürge-
rinnen und Mitbürgern, sehr offen und ehrlich umgehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir dürfen nicht idealistisch an das Thema herangehen.
Das war in den letzten Jahren vielleicht manchmal not- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen ein
wendig, aber heute ist es entscheidend, dass wir klug mit abgestimmtes Übergabekonzept. Dieses abgestimmte
der Wahrheit umgehen. Es kommt also darauf an, dass Übergabekonzept muss eindeutige Verpflichtungsgrößen
wir die Kommunikation anders gestalten und zutreffen- enthalten. Es muss klar werden: Wenn wir einmal über-
dere Informationen liefern. Wir müssen der Bevölke- geben haben, können wir den Prozess nicht mehr um-
rung ehrlich sagen – wenn nicht wir, wer sonst? –, dass kehren. Einmal übergeben heißt untrennbar übergeben.
wir voraussichtlich für einen bestimmten Zeitraum mit Deshalb brauchen wir sorgfältig erarbeitete Richtlinien
höheren Gefährdungen und möglicherweise mit mehr für die Übergabe. Auch dazu dient die Konferenz in Ka-
Opfern bei unseren zivilen Aufbauhelferinnen und Auf- bul. Gut ist, dass diese Konferenz im Nachgang von ei-
bauhelfern und den Helfern in Uniform rechnen müssen. nem NATO-Gipfel in Lissabon begleitet wird. Diesen
Das meine ich sehr ernst. Wir müssen sorgsam mit dieser Prozess werden das Parlament, die Regierung, die inter-
Situation umgehen. Zu einer glaubwürdigen Politik ge- nationale Gemeinschaft und die NATO als Hauptverant-
hört es dazu, unangenehme Dinge in passende Worte zu wortungsträger im Aufgabenbereich der Vereinten Na-
fassen. tionen im nächsten halben Jahr sehr sorgsam begleiten
müssen. Wir sind mit dabei. Unser Haus ist aufgerufen,
Lassen Sie mich abschließend zwei weitere Gedanken intensiv mitzuwirken.
(B) ausführen. Zum einen – es ist zum Teil angeklungen – (D)
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
möchte ich auf die afghanischen Befindlichkeiten ein-
gehen. Eine Shura bzw. eine Jirga ist kein Bundestag, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
kein House of Lords oder House of Parliament. Es ist
eine afghanische Besonderheit. Es ist das, was die Af-
ghanen auszeichnet, das ist ihre Tradition. Das müssen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
wir ernst nehmen, und wir müssen sie ermutigen und be- Ich schließe die Aussprache.
fähigen. Natürlich gibt es die afghanische Verfassung,
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ein afghanisches Parlament und Wahlen, aber wir müs-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
sen gleichzeitig alle Elemente stärken, die die afghani-
Drucksache 17/2462. Wer stimmt für diesen Entschlie-
schen Besonderheiten hervorheben und die die Afgha-
ßungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
nen in ihrem Selbstbewusstsein stärken. Das müssen wir
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koali-
eng begleiten und kontrollieren. Dabei müssen wir auf tionsfraktionen, der Fraktion Die Linke bei Gegenstim-
die roten Linien achten. Wir können andere Ansätze men von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
nicht einfach überstülpen. Ich glaube, wir haben in die- SPD-Fraktion abgelehnt.
sem Jahr einen ganz guten Ansatz gewählt. Afghanistan
kann nämlich mit dezentralen Elementen eine viel grö- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:
ßere Wirksamkeit entfalten. Das heißt, wir brauchen eine
starke Zentralregierung, aber auch eine Aufwertung der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Regionen. Klaus Ernst, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Noch ein Punkt: Wir haben heute mehrfach über LINKE
Reintegration gesprochen. Wir sollten diese Reintegra-
tion auch aufgrund unserer eigenen Geschichte sehr auf- Beschäftigungssituation Älterer, ihre wirtschaft-
merksam begleiten. Reintegration ist ohne einen Versöh- liche und soziale Lage und die Rente ab 67
nungsprozess nicht denkbar. Diese Versöhnung müssen – Drucksachen 17/169, 17/2271 –
die Afghanen aber selbst leisten. Dazu müssen wir sie
ermutigen. Wenn nicht wir, wer dann? Ich denke, das ist Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
Sache der Afghanen und liegt in der Verantwortung der die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es
Afghanen; dennoch müssen wir hier auch Forderungen Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
stellen. das so beschlossen.
5856 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die Das bedeutet doch im Ergebnis logischerweise, dass sie, (C)
dieser Aussprache nicht beiwohnen wollen, den Saal wenn sie mit 64 Jahren schon keinen Job mehr haben,
möglichst geräuschlos zu verlassen, damit die anderen auch mit 65 und 66 Jahren keinen mehr haben.
der Aussprache folgen können.
(Zuruf des Abg. Peter Weiß [Emmendingen]
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- [CDU/CSU])
ner das Wort dem Kollegen Klaus Ernst von der Links-
partei. – Auf dieses Argument komme ich gleich, Herr Weiß. –
Das bedeutet für diese Menschen lediglich schlichtweg
(Beifall bei der LINKEN) höhere Abschläge. Im Übrigen betrug diese Quote im
Jahr 2000 3,7 Prozent. Okay, die Quote ist gestiegen.
Klaus Ernst (DIE LINKE): (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Na
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsi- also! Geben Sie doch zu, dass es aufwärts-
dent! Im März 2007 ist mit den Stimmen der damaligen geht!)
Großen Koalition die Rente ab 67 eingeführt worden.
Gleichzeitig ist vereinbart worden, dass zum ersten Mal – Herr Weiß, hören Sie erst einmal zu, Sie sind schon
im Jahr 2010 – und dann alle vier Jahre – zu berichten wieder so vorlaut.
ist, ob dieser Beschluss angesichts der Entwicklung auf
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN – Otto
dem Arbeitsmarkt sowie der wirtschaftlichen und sozia-
Fricke [FDP]: Das sagt der Richtige!)
len Situation älterer Arbeitnehmer tatsächlich aufrecht-
erhalten werden kann. Wenn wir für die Folgejahre dieselbe Dynamik unter-
stellen, die es von 2000 bis 2008 gab,
Wir haben deshalb eine Große Anfrage gestellt, die
seit dem 23. Juni beantwortet ist. An dieser Stelle (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das
möchte ich anmerken, dass ich es verwunderlich fand, ist schon wieder falsch, was Sie machen!)
dass Herr Weiß als Erster, und zwar zu einem Zeitpunkt,
als wir die Antwort der Bundesregierung noch gar nicht wird im Jahr 2029 der Anteil der 64-Jährigen, die ohne
hatten, darauf reagiert hat. Herr Weiß, es ist ja wirklich sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sind, bei
klasse, dass Sie offensichtlich zu einem Zeitpunkt infor- 75 Prozent liegen. Das heißt, für die Betroffenen bedeu-
miert wurden, zu dem die Antragsteller die Antwort tet das auch im Jahr 2029 schlichtweg eine Kürzung ih-
noch gar nicht kannten. rer Leistungen.
(Elke Ferner [SPD]: Peinlich! Peinlich! – Dr. Axel Bei den Vollzeit-Sozialversicherungspflichtigen be-
(B) Troost [DIE LINKE]: Unerhört!) trägt der Anteil der 63- und 64-Jährigen nur 7,4 Prozent. (D)
Sie beginnen mit der Rente ab 67 im Januar 2012. Bis
Ich denke, das war kein gutes Verfahren. Herr Weiß, dahin wird sich das nicht ändern. Das bedeutet für die
vielleicht wäre ein wenig Zurückhaltung an der einen meisten Bürger in unserem Lande höhere Abschläge bei
oder anderen Stelle ganz hilfreich. der Rente ab 67 – und sonst überhaupt nichts.
(Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em- (Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em-
mendingen] [CDU/CSU]: Das müssen Sie ge- mendingen] [CDU/CSU]: Es ist falsch, was
rade sagen!) Sie sagen!)
Angesichts dieses Vorgehens stellt sich für uns aller- Das zweite Argument: Das tatsächliche Rentenein-
dings die Frage, ob die Bundesregierung die Überprü- trittsalter liegt nach wie vor weit unter den gesetzlich
fungsklausel überhaupt ernst nimmt. Schade, dass Frau festgelegten 65 Jahren. Momentan haben wir ein durch-
von der Leyen nicht hier ist. Sie hat nämlich am 17. Mai schnittliches Renteneintrittsalter von 63 Jahren. Wir sind
im Focus auf die Frage „An der Rente mit 67 wird nicht also weit davon entfernt, überhaupt über die Rente mit
gerüttelt?“, geantwortet: „Warum sollten wir?“ – Zum 67 zu diskutieren.
damaligen Zeitpunkt hat sie die Antworten der Bundes-
regierung offensichtlich auch noch nicht gehabt, sonst Ich komme – das ist das dritte Argument – zum Ren-
wäre sie zu einem anderen Ergebnis gekommen. tenversicherungsbeitrag. Die Antworten, die wir von
der Bundesregierung haben, besagen: Es sind um
Wir haben uns gefragt: Welche messbaren Kriterien 0,5 Prozent höhere Beiträge für die Arbeitnehmerinnen
gibt es bzw. müssen vorliegen, damit man diese Frage und Arbeitnehmer erforderlich, wenn wir auf die Rente
überhaupt beantworten kann? Es gibt 234 Fragen und ab 67 verzichten und die Arbeitnehmer mit 65 Jahren in
Tausende von Antworten. Einige Antworten machen uns Rente gehen ließen. Was heißt das für einen Menschen,
deutlich: Die Rente mit 67 kann so nicht funktionieren. der 2 000 Euro verdient? Es bedeutet für ihn, dass er um
Das erste Argument: Der Anteil der sozialversiche- fünf Euro höhere Rentenbeiträge zu zahlen hätte; er
rungspflichtig beschäftigten 64-Jährigen an der Ge- könnte dann aber mit 65 in Rente gehen.
samtzahl der 64-Jährigen – die dann also mit 65 bzw. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist
67 Jahre in Rente gehen sollen – liegt zurzeit bei der Punkt!)
9,4 Prozent. Das heißt, 90 Prozent der Menschen, denen
Sie eine Rente ab 67 antun wollen, haben in diesem Al- Meine Damen und Herren, ich habe noch keinen Ar-
ter gar keine sozialversicherungspflichtige Arbeit mehr. beitnehmer getroffen, der gesagt hätte, dass er wegen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5857
Klaus Ernst
(A) fünf Euro brutto mehr zwei Jahre länger arbeiten würde. ganz andere Gegenrede halten, als ich es jetzt in dieser (C)
Den müssen Sie mir mal zeigen! Funktion tun werde.
(Beifall bei der LINKEN) (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Hoffentlich
mit Fakten! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Fak-
Was ist Ihre Politik? Die Antworten der Bundesregie- ten und Zahlen!)
rung besagen, dass Sie die Menschen, weil diese in dem
Alter keine Jobs mehr haben, in Altersarmut treiben. Die Bundesregierung hat auf Ihre Große Anfrage ge-
Denn sie werden durch die Rente mit 67 um 7,2 Prozent antwortet und deutlich gemacht: Die Bevölkerungszahl
höhere Abschläge haben. Das ist das Ergebnis Ihrer Poli- in Deutschland wird zukünftig sinken, vor allem aber
tik, und sonst nichts. wird die Bevölkerung älter werden. Wenn es stimmt,
dass die Lebenserwartung der Älteren steigt, wenn es
Jetzt könnten wir noch über Demografie streiten; ich stimmt, dass die Anzahl der Menschen im erwerbsfähi-
will eigentlich gar nicht darüber streiten. gen Alter zurückgeht, und wenn es stimmt, dass die An-
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: zahl der Älteren zunimmt, dann kann man den Kopf
Nüchterne Zahlen!) nicht einfach in den Sand stecken, dann muss etwas ge-
schehen.
Dazu haben wir ganz andere Ansichten als Sie, die durch
Herrn Rürup belegt sind, der die Produktivitätsentwick- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
lung höher einschätzt als die demografische Entwick- neten der FDP)
lung. Lassen Sie mich das an einigen signifikanten Fakten
verdeutlichen. Sie wollen ja möglichst nicht über die De-
Von Ihnen möchte ich gern hören, was Sie den Men-
mografie diskutieren; aber das geht nicht. Die Fakten
schen sagen,
sind gesetzt. Auch wenn Prognosen sonst oftmals nicht
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja, stimmen, hier sind sie ziemlich zielgenau. Wenn das zu-
das sagen wir auch!) mindest anerkannt wird, sind wir einen Schritt weiter.
die mit 63, 62 oder 61 nicht mehr arbeiten können und
laut Ihnen bis 67 arbeiten sollen. Sie sollten wenigstens Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
für diese Menschen Antworten haben, ihnen zum Bei- Herr Staatssekretär, möchten Sie eine Zwischenfrage
spiel sagen können, dass sie umschulen sollen. Aber sa- des Kollegen Ernst zulassen?
gen Sie einmal einem Dachdecker, dass er zum Buchhal-
ter umschulen soll. Was soll der tun? Welche Antworten Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der
(B) haben Sie für diese Menschen? Sie haben keine einzige Bundesministerin für Arbeit und Soziales: (D)
Antwort. Ich habe mir vorgenommen, darauf hinzuweisen, dass
wir im Herbst eine große Debatte über diese Punkte füh-
(Beifall bei der LINKEN) ren werden und ich bei meiner Rede heute daher keine
Sie verstecken sich hinter dem Argument der Demogra- Zwischenfragen zulassen möchte. Ich werde Ihnen dann
fie. Letztendlich ist Ihr ganzes Vorgehen bei der Rente zum gegebenen Zeitpunkt sehr ausführlich zur Verfü-
mit 67 ein Manöver zur Kürzung der Renten für die gung stehen.
Mehrheit der Menschen im Interesse der deutschen Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
sicherungswirtschaft, damit sich möglichst viele privat neten der FDP)
versichern.
Bis 2030 wird die Lebenserwartung um weitere
(Beifall bei der LINKEN) 2,5 Jahre steigen. Andererseits wird das Potenzial an
Das ist Ihre Politik. Die ist wirklich unzumutbar. Menschen im erwerbsfähigen Alter bis 2030 um
6 Millionen Personen zurückgehen. Gleichzeitig wird
Ich danke Ihnen fürs Zuhören. die Anzahl der Älteren um gut 5,5 Millionen zunehmen.
Was das bedeutet, ist klar. Hätte man nichts getan, dann
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der würden die Rentnerinnen und Rentner in Zukunft gerin-
FDP: Unzumutbar sind Sie!) gere Renten erhalten und die Beitragszahler für diese ge-
ringeren Renten auch noch höhere Beiträge zahlen. In
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der Folge würde der Wohlstand für alle sinken. Das kann
Der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim und darf es nicht geben. Das kann und darf nicht unsere
Fuchtel hat das Wort. Zukunft sein. Deswegen muss hier gehandelt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
neten der FDP) der FDP – Elke Ferner [SPD]: Er will keinen
Wohlstand für alle! Das ist ja sensationell!)
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der Die Große Koalition hat den Mut gehabt, sich dieser
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: demografischen Herausforderung zu stellen. Wir haben
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr unter der Federführung des damaligen Arbeits- und So-
Kollege Ernst, wenn ich nicht Parlamentarischer Staats- zialministers Franz Müntefering den Handlungsbedarf
sekretär wäre, würde ich auf Ihre agitatorische Rede eine gesehen und die Anhebung der Regelaltersgrenze auf
5858 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel


(A) 67 Jahre gesetzlich festgelegt. Das war keine leichte, Solche Vorschläge konnte ich zumindest in der ersten (C)
aber eine notwendige, mutige und richtige Entscheidung. Rede des Kollegen Ernst nicht erkennen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Höhe der gesetzlich fixierten Beitragssatzober-
grenze und der ebenfalls gesetzlich fixierten Renten-
Warum klatschen eigentlich Sie von der SPD nicht? niveauuntergrenze sind in ihrer Höhe nicht willkürlich
Sie haben das doch mitbeschlossen. gewählt. Sie sind die Grundlage dafür, dass den Rentne-
(Elke Ferner [SPD]: Wir klatschen, wann wir rinnen und Rentnern auch in Zukunft eine anständige
wollen, und nicht, wann Sie das wollen!) Rente garantiert werden kann und die jungen Menschen
– auch das ist wichtig; dazu hören wir von Ihnen auch
Was damals richtig war, kann heute so falsch nicht sein; nichts – nicht überfordert werden. Das Thema Genera-
davon sind wir überzeugt. tionengerechtigkeit muss hier ebenfalls immer wieder
erwähnt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Es gibt hier einige, die die Richtung sogar umkehren neten der FDP)
wollen. Wenn man das Rad zurückdreht und die Anhe-
bung der Regelaltersgrenze auf 67 rückgängig macht, Es war demnach der richtige Weg, die Regelaltersgrenze
dann – das sage ich ganz deutlich – hat das gewaltige auf das 67. Lebensjahr anzuheben. Ich betone nochmals:
Konsequenzen: Der Beitragssatz bei der Rentenversiche- Es muss auch auf die Generationengerechtigkeit geach-
rung wäre dann langfristig 0,5 Prozentpunkte höher. Was tet werden.
bedeuten diese 0,5 Prozentpunkte? Manchmal hat man hier sogar den Eindruck, dass die
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: 5 Euro bei Anhebung der Altersgrenze bereits morgen bevorsteht.
2 000 Euro Gehalt!) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: 2012!)
– Rechnen Sie das mal auf die gesamtstaatlichen Kosten – 2012 beginnt die Anhebung. Warum sagen Sie nicht,
um: Die Kosten einer Beitragserhöhung um 0,1 Prozent- dass die Altersgrenze von 67 Jahren erst 2029 erreicht
punkte betragen 1,1 Milliarden Euro; also entstünden bei wird?
einer Anhebung um 0,5 Prozentpunkte Jahr für Jahr zu-
sätzliche Kosten in Höhe von über 5 Milliarden Euro. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Diese Kosten müssen von irgendjemandem aufgebracht Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das sagen Sie
werden; das müssen Sie um der Wahrheit willen dazusa- doch!)
gen. Sie sollten der Wahrheit die Ehre geben und dies so sa- (D)
(B)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen. – Es geht um kleine Schritte, über 17 Jahre verteilt.
neten der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]: In diesen 17 Jahren werden sehr viele Veränderungen
Vom Beitragszahler!) eintreten, was die Arbeitsbedingungen in Deutschland
betrifft. Wir reden also über einen langen Zeitraum. Wer
Es ist aber nicht nur das; auch ein zweiter Punkt wird hätte vor 20 Jahren gedacht, dass wir heute alle ein klei-
verschwiegen: Die gesetzlich vorgeschriebene Beitrags- nes Telefon in der Tasche haben, mit dem wir sogar Fo-
satzobergrenze von 22 Prozent würde ebenfalls über- tografien machen und diese versenden können!
schritten oder müsste angehoben werden.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Darauf bauen
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Na Sie jetzt bei den Rentnern, oder wie?)
und?)
Sie werden uns doch wohl nicht weismachen wollen,
– Das juckt Sie wahrscheinlich nicht; dass sich in den nächsten 20 Jahren nicht ebenfalls große
Entwicklungen vollziehen werden, die dazu beitragen,
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig! – dass sich die Arbeitsbedingungen anders gestalten.
Elke Ferner [SPD]: Das juckt Sie doch auch
nicht! – Anton Schaaf [SPD]: Das haben Sie (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das sind so-
doch gerade bei der Gesundheit beschlossen!) lide Rechnungen!)
aber das juckt denjenigen, der darüber nachdenkt, wie Ich muss einen weiteren Gesichtspunkt erwähnen:
die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf Wir werden, wie ich vorhin schon gesagt habe, in Zu-
Dauer gewährleistet werden kann. kunft ungefähr 6 Millionen Menschen weniger haben,
die im erwerbsfähigen Alter sind. Deswegen muss auch
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mit Blick auf den Arbeitsmarkt in Deutschland etwas ge-
der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: tan werden. Wir sind dafür, dass das in Deutschland vor-
Dann müssen sie private Versicherungen ab- handene Potenzial an Arbeitskräften möglichst stark aus-
schließen!) genutzt wird,
Es ist klar: Wer hier etwas anderes will, der muss (Klaus Ernst [DIE LINKE]: „Ausgenutzt“
auch Vorschläge machen. wird! Das ist genau richtig! Bis zum Schluss! –
Elke Ferner [SPD]: Dafür tun Sie doch nichts!)
(Elke Ferner [SPD]: Sie machen ja gar keine
Vorschläge!) bevor man über andere Lösungen nachdenkt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5859
Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
(A) Die richtige Überschrift heißt daher aus allen aufge- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: (C)
zeigten Gründen nicht „Rente mit 67“, sondern „Arbeit Sehr gut! Das ist ein Anfang!)
bis 67“.
Wir bestreiten nur, dass das ausreicht. Ich hätte mir von
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist aber Ihnen gewünscht, dass Sie nicht erst im Herbst dieses
das Gegenteil dessen, was in der Antwort auf Jahres, sondern jetzt Vorschläge vorlegen, über die die-
die Große Anfrage steht!) ses Haus dann hätte diskutieren können.
Die Aufgabe, die vor uns steht und der wir uns alle wid- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
men müssen, ist, den damit verbundenen Prozess besser des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
zu gestalten, entsprechende Konzepte zu entwickeln und
diese dann auch umzusetzen. Aber Sie haben im Prinzip nur das vorgetragen, was man
auch in der Antwort auf die Große Anfrage hätte nach-
(Elke Ferner [SPD]: Dann machen Sie mal lesen können. Neuigkeiten waren von Ihnen nicht zu hö-
Ihre Vorschläge! Dazu haben Sie noch gar ren.
nichts gesagt, Herr Fuchtel!)
(Anton Schaaf [SPD]: Genau so ist das!)
Es gibt bereits erste gute Zeichen: Die Beschäftigung
Älterer hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Herr Fuchtel, es kommt auch darauf an, wie die Qua-
So ist die Zahl der Erwerbstätigen im Alter von 55 bis lität der Beschäftigung ist. Allein die Beschäftigungs-
65 Jahren seit 2000 um fast 1 Million auf über 5 Millio- quote zu betrachten, reicht nicht aus.
nen im Jahr 2008 gestiegen. Selbst im Krisenjahr 2009
hat sich der Arbeitsmarkt für Ältere stabil gezeigt. Wir (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist wahr!)
sollten das nicht kleinreden. Die Frage ist doch: Ist die Beschäftigung existenz-
Das Zweite. Die Arbeitslosigkeit Älterer ist gesun- sichernd, oder ist sie das nicht? Ist der Beschäftigte so-
ken, und der Anteil der Langzeitarbeitslosen unter den zial abgesichert, oder ist er das nicht? Entsprechen die
älteren Arbeitslosen ist von 58 Prozent im Jahr 2007 auf Arbeitswelt und die Arbeitsbedingungen auch der indi-
42 Prozent im Jahr 2009 zurückgegangen. viduellen Leistungsfähigkeit des Beschäftigten? Das
sind die zentralen Fragen.
Vor diesem Hintergrund halten wir es nach wie vor
für den richtigen Weg, dass wir das Renteneintrittsalter Der Anspruch muss sein, dafür zu sorgen, dass all
auf 67 Jahre gesetzt haben. Wir werden alles tun, um den diejenigen, die arbeiten wollen, so lange arbeiten kön-
Menschen die Ängste zu nehmen, nen, bis sie die Regelaltersgrenze – egal wie hoch sie
ist – erreichen. Aber dazu bedarf es zusätzlicher Mittel. (D)
(B) (Elke Ferner [SPD]: Ach ja! Was denn? – Denn wir wissen, dass die Beschäftigungssituation der
Anton Schaaf [SPD]: Was genau?) Älteren schlechter ist als die der mittleren und der jünge-
dieses Alter im Erwerbsleben nicht zu erreichen. ren Generation. In Ihrem Sparpaket kürzen Sie aber aus-
gerechnet bei den Maßnahmen für die aktive Arbeits-
Wir könnten noch lange über dieses Thema diskutie- marktpolitik. Wer braucht diese Mittel denn am meisten?
ren. Ich habe Ihnen gesagt, dass wir unseren umfangrei- Es sind die Älteren, die nicht über den normalen Weg
chen Bericht im Herbst dieses Jahres vorlegen werden. der Arbeitsvermittlung eine Beschäftigung im ersten Ar-
Sie haben ihn übrigens mitbeschlossen, meine Damen beitsmarkt finden.
und Herren. Wenn Sie sich daran genauso gut erinnern
wie an Ihren Beschluss, das Renteneintrittsalter auf (Otto Fricke [FDP]: Interessant! Letzte Sit-
67 Jahre zu setzen, dann steuern wir sicher auf eine gute zungswoche waren es noch die Jüngeren! Sie
Diskussion zu. wissen doch nicht, was Sie wollen!)

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Ihnen nehmen Sie die Perspektive, wieder in sozialversi-
cherungspflichtige und existenzsichernde Beschäfti-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Otto gung zu kommen.
Fricke [FDP]: Die erinnern sich nicht! Die ha-
ben nämlich politische Amnesie! – Gegenruf Wir brauchen auch eine Umsetzungsstrategie, was die
des Abg. Anton Schaaf [SPD]: Nein! Sie ha- Qualität der Arbeit anbelangt; auch dazu habe ich von
ben Erinnerungslücken! Die Frage ist, was Ihnen gerade nichts gehört. Wir alle wissen: Wir haben
man dagegen tun kann!) kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit,
weniger in großen Betrieben, sondern eher in kleinen
und mittleren Betrieben. Ich würde mir wünschen, dass
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
die entsprechenden Informationen flächendeckend in die
Elke Ferner hat jetzt für SPD-Fraktion das Wort. Betriebe getragen werden, damit dort begonnen werden
(Beifall bei der SPD) kann, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass älter
werdende Belegschaften mit ihnen zurechtkommen. Das
alles ist Aufgabe Ihres Ressorts. Aber gehört haben wir
Elke Ferner (SPD):
dazu nichts.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Herr Fuchtel, es bestreitet niemand, dass sich die Be- Natürlich brauchen wir auch flexible Übergänge in
schäftigungssituation der Älteren verbessert hat. den Ruhestand; auch dazu habe ich nichts gehört.
5860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Elke Ferner
(A) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Kein Thema! mutsfeste Löhne und möglichst ungebrochene Erwerbs- (C)
Mit uns gerne! Sehr gut!) biografien. Deshalb brauchen wir einen gesetzlichen
Mindestlohn. Das ist das Erste, was notwendig ist.
– Herr Kolb freut sich schon. – Aber das, was Sie vor-
schlagen, ist im Interesse der Besser- und Höchstverdie- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
nenden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch
bei der FDP)
(Otto Fricke [FDP]: Ja, ja! Ich sage nur: Herr-
gott, erhalte mir mein Vorurteil! Nicht wahr, – Das hören Sie nicht gerne. Aber es ist bekannt, dass
Frau Ferner?) Sie Wahrheiten nicht gerne hören.
Das hat nichts damit zu tun, auch für Menschen mit Ihre Weigerung, hier etwas zu tun, ist unverantwort-
niedrigem Einkommen die Möglichkeit des flexiblen lich. Wir brauchen auch nicht mehr Minijobs oder eine
Übergangs in die Rente zu schaffen. Ausweitung der Grenze über 400 Euro hinaus, sondern
mehr sozialversicherungspflichtige und existenzsichernde
(Beifall bei der SPD)
Arbeitsverhältnisse.
Wir schlagen vor, dass nicht nur Menschen, die leis-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
tungsgemindert sind, gegenüber der Bundesagentur für
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Arbeit einen Anspruch auf Beschäftigung bekommen
sollten, damit sie, wenn sie im ersten Arbeitsmarkt nicht Wir brauchen vor allem für Frauen mehr Vollzeitbe-
vermittelt werden können, über öffentlich geförderte Be- schäftigung statt Teilzeitbeschäftigung. Auch das ist ein
schäftigung eine Beschäftigungsperspektive im Alter er- Teil des Problems von Frauenarmut im Alter.
halten.
(Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])
Wir schlagen auch vor, die Übergänge zu flexibilisie-
ren. Man muss sehen, dass insbesondere für Mütter die Teil-
zeitbeschäftigung mittlerweile zum Regelarbeitsverhält-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann haben wir nis geworden ist. Sie befördern das mit Ihren Maßnah-
ja schon mal eine Übereinstimmung! Sehr er- men auch noch bzw. versuchen, die Frauen wieder aus
freulich!) dem Arbeitsmarkt herauszudrängen, obwohl die meisten
Beispielsweise könnte die Teilrente flexibilisiert werden, Frauen gerne mehr arbeiten wollten, wenn sie entspre-
sowohl was den Zugang zur ihr als auch was die Höhe chende Arbeitsplätze und Rahmenbedingungen finden
des Nebenverdienstes und der Zuverdienstgrenzen anbe- würden.
(B) langt. Während Sie SGB-II-Empfängerinnen das Elterngeld (D)
Wir schlagen darüber hinaus vor, dass man in Zukunft streichen, bekommt die Millionärsgattin, die nicht arbei-
Zusatzbeiträge, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- tet, es weiterhin. Gleichzeitig wird am Betreuungsgeld
nehmern bisher nur relativ rentennah zahlen können, festgehalten. Das ist im Hinblick auf den Arbeitsmarkt
während der gesamten Erwerbsphase zahlen kann und absolut kontraproduktiv und verschärft die Altersarmut.
dass das auch die Arbeitgeber tun können. Das eröffnet Wir haben bereits Anträge zu Verlängerung der Rente
Raum für tarifliche Regelungen und die Möglichkeit, nach Mindesteinkommen und Höherbewertung der Zei-
Abschläge zu kompensieren und die Rentenanwartschaf- ten der Arbeitslosigkeit eingebracht. Herr Fuchtel, weil
ten zu erhöhen, wenn man früher in Rente gehen will. Sie eben die Beitragssatzziele so hoch gehängt haben:
Auch davon habe ich bisher nichts gehört. Mit der Streichung der Rentenversicherungsbeiträge für
SGB-II-Empfänger – das sind 1,8 Milliarden Euro – und
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie haben eini- der Anhebung des Beitragssatzes in der gesetzlichen
ges von uns übernommen!) Krankenversicherung – das macht 640 Millionen Euro –
entziehen Sie der Rentenversicherung Jahr für Jahr über
Wir haben den Vorschlag in den Bundestag einge- 2,4 Milliarden Euro, mit der Folge, dass die Schwan-
bracht – das ist bei der Koalition auf wenig Gegenliebe kungsreserve geringer wird und dass die Beitragssatz-
gestoßen –, die Geltungsdauer der Regelung zur ge- ziele für 2014 und 2015 mit Sicherheit nicht erreicht
förderten Altersteilzeit zu verlängern, wenn ein junger werden können.
Mensch einen Ausbildungsplatz bekommt oder ein
frisch ausgebildeter junger Mensch eine Beschäftigungs- Wenn Sie im kommenden Herbst Ihren Bericht vorle-
perspektive erhält. Sie haben zwar die demografischen gen, werden wir ein eigenes Konzept vorlegen. Ich bin
Daten richtig dargelegt. Aber im Moment brauchen wir gespannt, was Sie anzubieten haben. Wenn Sie aber Ihre
Brücken für die Älteren in die Ruhephase und Brücken unsoziale Sparpolitik fortsetzen werden, haben die Be-
für die Jüngeren in die Erwerbsphase. Auch dazu höre schäftigten nichts Gutes zu erwarten.
ich von Ihnen nichts.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Wenn man über die Rente spricht, dann sind armuts- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
feste Renten ein wichtiger Punkt. Auch hier haben wir Herr Kollege Ernst, Sie hatten sich zu einer Kurz-
kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit. intervention zur Rede des Parlamentarischen Staatsse-
Die Grundvoraussetzung für armutsfeste Renten sind ar- kretärs gemeldet. Sie sollen die Möglichkeit dazu haben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5861

(A) Klaus Ernst (DIE LINKE): Deswegen gebe ich dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb für (C)
Frau Präsidentin, recht herzlichen Dank. – Herr die FDP das Wort.
Fuchtel, ich will auf den Vorwurf eingehen, wir berück-
sichtigten die demografische Entwicklung nicht. Selbst- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
verständlich berücksichtigen wir sie. Sie selber haben
gesagt: Die Bevölkerungszahl in der Bundesrepublik Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
nimmt ab. – Ich bin mit Ihnen einer Meinung. Gleichzei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
tig weist aber das Bruttoinlandsprodukt eine jährliche Frau Kollegin Ferner, ich habe bei Ihrer Rede vermisst,
Steigerungsrate in Höhe von 1,6 bzw. 1,7 Prozent auf. zu hören, wie Sie es jetzt mit der Rente mit 67 halten;
Das heißt, dass im Jahr 2030 der Kuchen größer ist und
(Elke Ferner [SPD]: Das habe ich Ihnen doch
sich weniger Menschen diesen Kuchen teilen müssen.
gesagt!)
Wenn Sie diesen Fakt jetzt anhand normaler mathemati-
scher Erkenntnisse bewerten, dann erkennen Sie, dass denn der Wahrheit zuliebe muss man hier einmal festhal-
sich trotz bzw. aufgrund dieser demografischen Verände- ten: Die Rente mit 67 ist die Erfindung eines SPD-
rung weniger Menschen einen größeren Kuchen teilen Ministers gewesen.
können, womit die Kuchenstücke für die Einzelnen grö-
ßer sind. (Anton Schaaf [SPD]: Das stimmt doch gar
nicht! – Elke Ferner [SPD]: Das ist eine Lüge!
(Zuruf von der LINKEN: So ist es!) Sie lügen, ohne rot zu werden!)
Das ist die Realität aufgrund der Demografie, und diesen – Ich war zwar nicht dabei, aber es ist damals umfang-
Fakt nehmen Sie nicht zur Kenntnis. reich dokumentiert worden, dass Franz Müntefering vor
einer Kabinettssitzung nachdrücklich auf die Kanzlerin
Herr Fuchtel, die Produktivitätsentwicklung ist stär-
eingewirkt hat, mit dem Ziel, eine Erhöhung des Regel-
ker und dynamischer als die Entwicklung der Bevöl-
renteneintrittsalters herbeizuführen.
kerungszahl. Das Problem ist allerdings, dass sich die
Produktivitätsentwicklung nicht mehr in den Löhnen wi- (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Starker Ar-
derspiegelt; darauf hat Frau Ferner hingewiesen. Da sich beitsminister! Er konnte das! – Elke Ferner
die Produktivitätsentwicklung nicht mehr in den Löhnen [SPD]: Unsinn!)
widerspiegelt, haben wir kein Problem mit der Demo-
grafie, sondern ein Problem mit der Gerechtigkeit und – Frau Kollegin Ferner, wenn das anders war, dann kön-
nen Sie das hier ja erklären. Meine Erinnerung ist so,
der Verteilung.
und deswegen hätte es Ihnen als SPD-Fraktion im Deut-
(Beifall bei der LINKEN) schen Bundestag gut angestanden, entweder zu sagen:
(B) „Wir halten weiter an unserer damaligen Erkenntnis (D)
Das ist das eigentliche Thema, wenn es um die Rente fest“,
geht.
(Otto Fricke [FDP]: Weil es gut war!)
Das Zweite, was ich Ihnen sagen muss: Sie haben die
Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie als Grund oder zu sagen: „Wir sind davon abgerückt“. – Es wäre
dafür angeführt, dass die Rentner verzichten müssen, nicht überraschend, wenn Sie davon abrücken würden,
und von ein paar Milliarden Euro gesprochen. Es tut mir weil Sie ja versuchen, wenn ich das richtig sehe, die ge-
leid, aber wenn ich sehe, was wir hier für die Banken, für samte Agenda 2010 Zug um Zug zurückzunehmen. Ihrer
die Rettung des Euros und sonst noch beschließen, Urheberschaft werden Sie hier aber nicht ledig.
(Elke Ferner [SPD]: Mövenpick!) (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Halina
Wawzyniak [DIE LINKE])
dann muss ich sagen: Die höheren Ausgaben, die wir in
diesem Zusammenhang für die Rente hätten, sind Pea-
nuts. – Deshalb möchte ich sagen: Es geht hier in dieser Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Debatte um die soziale Gerechtigkeit und nicht um die Herr Kolb, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kol-
Steigerung der Konkurrenzfähigkeit der deutschen In- legin Ferner zulassen?
dustrie. Das müssen Sie berücksichtigen.
Ich habe kein einziges Argument und auch keine ein- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
zige Zahl von Ihnen gehört – auch aus Ihrer Antwort auf Selbstverständlich, ja.
unsere Anfrage geht das nicht hervor –, womit Sie be-
gründen könnten, dass die Rente mit 67 richtig ist. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei der LINKEN – Karl Schiewerling Bitte schön.
[CDU/CSU]: Das war eine Kurzintervention
zu zwei Reden!) Elke Ferner (SPD):
Ich bin so nett und verlängere Ihnen Ihre Redezeit. –
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich stelle Ihnen eine kurze Frage, die Sie auch ganz kurz
Herr Fuchtel möchte nicht reagieren. beantworten können.
(Elke Ferner [SPD]: Sensationell! Wenn er (Otto Fricke [FDP]: Nein, das kann er selber
nicht ablesen kann, dann sagt er nichts!) entscheiden!)
5862 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

(A) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): gesagt, ältere Arbeitnehmer irgendwie in den vorgezoge- (C)
Ja, mal schauen. nen Ruhestand zu schicken. Wir halten das für falsch.
Wir haben das schon immer für falsch gehalten, weil äl-
Elke Ferner (SPD): tere Arbeitnehmer Erfahrungsträger sind. Sie haben eine
Stimmen Sie mir zu, dass im Wahlprogramm der hohe soziale Kompetenz und technisches Wissen. Sie
CDU und der CSU im Jahre 2005 das Thema „Anhe- sind für die Unternehmen unverzichtbar.
bung des Renteneintrittsalters“ stand und im Wahlpro- Deswegen habe ich schon vor Jahren – das können
gramm der SPD nicht? Sie nachlesen – einen Paradigmenwechsel bei den Ma-
(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Das ist kein nagern gerade der DAX-Unternehmen gefordert und da-
Gegenargument! – Otto Fricke [FDP]: Das ist rauf hingewiesen, dass wir umsteuern müssen. Ältere
ja noch schlimmer! Das ist ja wie bei der Arbeitnehmer müssen die Chance haben, länger dabei-
Mehrwertsteuererhöhung!) zubleiben. Denn die niedrige Erwerbsquote ist auch das
konkrete Ergebnis aktiver Entscheidungen in deutschen
Unternehmensleitungen gewesen. Das wollen wir än-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
dern. Auf diesem Weg befinden wir uns.
Frau Kollegin Ferner, ich habe nicht die Wahlpro-
gramme aller Parteien der vorletzten Bundestagswahl im (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Kopf. Das hat keiner hier in diesem Hause; das muss der CDU/CSU)
man ehrlicherweise sagen.
Die Erwerbsquote nimmt zu. 57,1 Prozent der 55- bis
Ich weiß aber noch, wer wie abgestimmt hat, bevor 64-Jährigen sind zurzeit in Arbeit. Damit liegen wir
die Rente mit 67 ins Bundesgesetzblatt aufgenommen deutlich oberhalb der Lissabon-Ziele. Wir werden den
wurde: Anteil weiter erhöhen. Denn eines ist klar – das sage ich
ohne Wenn und Aber, auch wenn wir damals in diesem
(Elke Ferner [SPD]: Danach habe ich nicht ge- Hause gegen die Rente mit 67 gestimmt haben –: Wenn
fragt!) wir länger leben, dann werden wir auch länger arbeiten
Die SPD und die Union haben dafür gestimmt, die FDP müssen.
und andere Fraktionen in diesem Haus haben dagegen
(Zurufe von der FDP: Ja!)
gestimmt. – Das war so, und daran kann ich mich noch
sehr gut erinnern. Sie bleiben hier also verhaftet, ob Sie Fraglich ist nur – darauf haben wir damals schon hin-
das wollen oder nicht. gewiesen –, ob man es mit einem festen Renteneintritts-
alter angeht, oder ob es besser ist, die Menschen auf der
(Elke Ferner [SPD]: Das habe ich auch nicht
(B) Basis einer eigenen freien Entscheidung möglichst lange (D)
bestritten!)
im Erwerbsleben zu halten. Es war doch in den Unter-
Ich will jetzt gerne auf den Antrag der Linken zu nehmen so, dass etwa einem 60-Jährigen eingeredet
sprechen kommen. Herr Kollege Ernst, Sie haben hier wurde, in den Vorruhestand zu gehen, um einem Jünge-
eine Situationsbeschreibung hinsichtlich der Erwerbs- ren Platz zu machen, der vielleicht nachrücken würde,
teilhabe älterer Menschen vorgenommen. Als Mo- was in vielen Fällen aber gar nicht geklappt hat.
mentaufnahme ist sie natürlich richtig. Man muss aber
(Elke Ferner [SPD]: Wer hat denn dies damals
auch sagen: Sie ist natürlich auch das Ergebnis politi-
beschlossen, Herr Kolb? Da waren Sie Staats-
scher Entscheidungen der Vergangenheit, und wir sind
sekretär!)
im Moment dabei, umzusteuern.
Ich glaube, es ist besser, wenn sich der Beschäftigte
Wir haben die Möglichkeit, in geförderte Altersteil-
selbst fragt, ob er mit Anfang 60 noch ein Jahr länger ar-
zeit zu gehen, abgeschafft. Das wird perspektivisch na-
beiten möchte, und ihn dann selbst entscheiden zu las-
türlich zu einem deutlichen Anstieg der Erwerbsbeteili-
sen. Das wird im Ergebnis – das bestätigen Erfahrungen
gung in dieser Altersklasse führen. Diejenigen, die schon
in den skandinavischen Ländern, auch wenn einige Kol-
vor wenigen Jahren in Altersteilzeit gegangen sind,
legen von den Linken das nicht glauben wollen – zu ei-
kommen in der aktuellen Statistik aber natürlich nicht
ner deutlich höheren Erwerbsbeteiligung führen.
vor.
Unser Angebot an diese Menschen ist: Wir wollen ei-
(Elke Ferner [SPD]: Sie sind doch im Arbeits-
nen flexiblen Übergang gewährleisten. Dabei freue ich
verhältnis!)
mich, Frau Ferner – in diesem Zusammenhang trifft das
– Ja, sie sind nicht mehr dabei. Sprichwort „Steter Tropfen höhlt den Stein“ zu –, dass
die SPD offensichtlich einige Teile unseres Konzeptes
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das erhöht den
übernommen hat.
Anteil der Quote!)
Wir wollen, dass man mit 60, wenn man grundsiche-
– Ja, den Anteil der Quote, aber trotzdem sind sie aus
rungsfrei ist – das ist beileibe keine hohe Anforderung,
dem Erwerbsleben bzw. aus der aktiven Phase ausge-
weil auch die private bzw. betriebliche Altersvorsorge
schieden; das muss man doch sehen.
berücksichtigt werden soll; auch für Bedarfsgemein-
Deswegen ist es wichtig und richtig gewesen, dass schaften soll das geprüft werden –, mit einer Voll- oder
wir hier jetzt einen Paradigmenwechsel vorgenommen Teilrente in den Ruhestand gehen kann. Gleichzeitig sol-
haben. In den letzten Jahren war es in den Betrieben an- len alle Zuverdienstgrenzen entfallen. Denn es ist nicht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5863
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) nachzuvollziehen, warum jemand, der eine Vollrente be- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): (C)
zieht, nach heutiger Rechtslage nur 400 Euro hinzuver- Ich sehe, Frau Präsidentin, dass meine Redezeit zu
dienen kann. Es gibt viele Menschen, die in den Vorru- Ende ist. Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksam-
hestand gegangen sind, aber dann feststellen, dass sie keit.
gerne noch ein oder zwei Jahre arbeiten würden, und
zwar zu einem höheren Verdienst als 400 Euro, weil sie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
sich noch nicht zum alten Eisen zählen. Das ist derzeit
nicht möglich, und das wollen wir ändern. Das ist unser Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
innovativer Ansatz. Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn hat jetzt
Wenn es die Mehrheitsfindung in diesem Hause er- das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
leichtert, können wir gerne mit einer Verbesserung der
Teilverrentungsmöglichkeiten anfangen. Man muss aber Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
ehrlicherweise berücksichtigen, dass der Bürokratieauf- DIE GRÜNEN):
wand bei der Berechnung der Zuverdienste bei Teilren- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ten sehr hoch ist, was die Akzeptanz in der Praxis deut- Lieber Herr Ernst, Ihre Rede hat einmal mehr deutlich
lich reduziert. Warum soll aber nicht jemand, der eine gemacht, wo der Unterschied zwischen Ihnen und uns
Teilrente bezieht, unbegrenzt hinzuverdienen können? Grünen liegt: Während Sie rückwärtsgewandt und so-
Die Menschen in unserem Land sind längst so weit. Das zialstaatskonservativ zu einem Sozialstaat der Vergan-
habe ich auf vielen Veranstaltungen erlebt, auf denen ich genheit zurückwollen, sind wir der Zukunft zugewandt
unser Konzept erläutert habe. Sie wollen den flexiblen
Rentenzugang, und sie wollen als Rentner selbst ent- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hey! Den Text
scheiden können, wie viel sie noch arbeiten. Das sollten kenne ich doch irgendwoher!)
wir den Menschen ermöglichen.
und wollen den Sozialstaat reformieren.
Ich komme zum Schluss. Die Altersarmut ist Gott
sei Dank derzeit kein Massenphänomen. Es ist kein gro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ßes Problem.
Wir alle leben im Durchschnitt immer länger und le-
(Anton Schaaf [SPD]: Es ist ein absehbares ben auch immer länger gesünder. Das ist auch gut so.
Problem!) Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis!
Aber es verschärft sich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(B) (D)
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Die längere Lebenserwartung führt – neben der ge-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: 14 Prozent!) sunkenen Geburtenquote – dazu, dass der Anteil der Al-
ten in der Gesellschaft steigt. Wir stellen uns dieser
Der Normalfall wird aber auch weiterhin ein ausreichen- Herausforderung, während die Linke zurück zum Sozial-
des Alterseinkommen sein, jedenfalls dann, wenn man staat der 1980er-Jahre will. Die Linke ist die Partei der
nicht allein von der gesetzlichen Rente ausgeht, sondern Vergangenheit – die Grünen sind die Partei der Zukunft!
vom Zusammenwirken von gesetzlicher Rente und pri-
vater und betrieblicher Altersvorsorge. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Heiterkeit bei der LINKEN)
Ich bitte Sie, die Zahlen im Alterssicherungsbericht
2005 der Bundesregierung zur Kenntnis zu nehmen. Der- Gleichzeitig sind die Grünen auch die Partei der öko-
zeit beziehen 2,5 Prozent der über 65-Jährigen Leistungen nomischen Vernunft. Wir wissen nämlich, dass eine Ver-
der Grundsicherung. Künftig werden es 8 bis 9 Prozent längerung der Lebensarbeitszeit gleich zwei gute Wir-
sein. Sie, Herr Strengmann-Kuhn, haben „14 Prozent“ kungen für die Rentenversicherung hat: Auf der einen
dazwischengerufen, das ist ein sehr pessimistisches Seite werden länger Beiträge gezahlt und die Einnahmen
Szenario. der Rentenversicherung gesteigert. Auf der anderen
Seite ist eine längere Lebensarbeitszeit gut für die Aus-
Die richtige Antwort darauf heißt Prävention statt gabenseite, weil weniger lang Renten gezahlt werden.
nachsorgender Kompensation. Prävention ist besser. Wir Aufgrund dieser doppelten Wirkung ist eine Verlänge-
müssen junge Menschen ermutigen, beizeiten eine ei- rung der Lebensarbeitszeit besonders effektiv und eine
gene Zusatzvorsorge über die gesetzliche Rente hinaus ganz wichtige Stellgröße für die Finanzierung der Ren-
anzustreben, und ihnen garantieren, dass sie im Alter da- tenversicherung in der Zukunft. Auch das sollten Sie,
von profitieren, indem ihnen Anrechnungsfreibeträge für Herr Ernst, endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
private und betriebliche Altersvorsorge gewährt werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Elke Ferner [SPD]: Sie müssen erst mal Ar-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
beit haben, Herr Kolb!)
der FDP – Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE
Das ist der richtige Weg. LINKE])
Und was volkswirtschaftlich gilt, gilt auch für jeden
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Einzelnen und jede Einzelne. Je länger gearbeitet wird,
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. desto höher sind die Renten.
5864 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Haben Sie die Diese Entscheidung sollten wir den Menschen schon frü- (C)
Antwort der Bundesregierung gelesen, oder er- her als mit 67 Jahren ermöglichen.
zählen Sie jetzt Allgemeinplätze?)
Wir sollten es den Menschen aber gleichzeitig auch
– Ich habe ja noch ein paar Minuten. ermöglichen – und daran fehlt es im Moment noch –,
länger zu arbeiten, und zwar jedem nach seinen Bedürf-
Ich habe gerade über den Durchschnitt geredet, wir nissen und jedem nach seinen Fähigkeiten.
wissen aber auch, dass nicht jede Person bis zu einem
Alter von 67 oder auch nur 65 Jahren arbeiten kann – das (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Jedem nach
beträfe also auch die Rente mit 65, die Sie ja wollen. seinem Geldbeutel!)
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: 90 Prozent!) Wir wollen es den Menschen ermöglichen, früher – zu-
mindest teilweise – in Rente zu gehen. Gleichzeitig muss
Häufig haben gerade diejenigen, die früher in Rente ge- es sich auch lohnen, länger zu arbeiten.
hen, eine geringere Lebenserwartung. Das sollte auf der
rechten Seite des Plenums einmal zur Kenntnis genom- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie ist das mit
men werden. Von diesen Personen mit einer kürzeren den Zusatzverdiensten?)
Lebenserwartung, die früher in Rente gehen müssen, zu Die skandinavischen Länder haben mit dieser Kombi-
verlangen, dass sie bis 67 arbeiten, wäre in der Tat zy- nation gute Erfahrungen gemacht – Herr Kolb hat eben
nisch. schon darauf hingewiesen,
Die Alterung verläuft individuell sehr unterschied- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
lich. Manche können mit 60 nicht mehr arbeiten, manche der CDU/CSU)
können und wollen aber auch noch mit 75 oder älter ar-
beiten. Johannes Heesters arbeitet sogar noch mit über auch wenn die skandinavischen Länder sonst nicht ge-
100. rade Ihr Vorbild sind; das muss man auch sagen. Dort
gibt es jedenfalls die Möglichkeit, früher in Rente zu ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hen.
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kommt darauf
sehr erfolgreich!) an, welche Zeitphase Sie betrachten!)

Diesen individuellen Unterschieden muss ein Alterssi- – Stellen Sie eine Zwischenfrage, und reden Sie nicht
cherungssystem gerecht werden. Das ist für uns eine andauernd dazwischen!
ganz wichtige Voraussetzung für eine generelle Verlän- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
(B) gerung der Lebensarbeitszeit. (D)
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir unterstützen
Wir wollen deswegen flexible Übergänge in den Ru- Sie doch! – Zuruf von der FDP: Wir sind be-
hestand schaffen, über die die Menschen möglichst geistert!)
selbstbestimmt entscheiden können, Herr Kolb. In Schweden gibt es die Möglichkeit, früher in Rente
zu gehen. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, länger zu
(Zurufe von der FDP: Jawohl!)
arbeiten. Im Durchschnitt arbeiten die Schweden länger.
Denn wir Grünen sind nicht nur die Partei der Zukunft Länger, aber weniger arbeiten wäre also das Motto.
und der ökonomischen Vernunft, sondern wir sind auch
Für uns ist eine stärkere Flexibilisierung des Renten-
die Partei der Freiheit und Selbstbestimmung.
eintritts eine wichtige Voraussetzung für eine generelle
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Von der Bundesre-
Zurufe von der FDP) gierung haben wir dazu bisher noch nichts gehört. Auch
von Ihnen von der FDP habe ich in letzter Zeit keinen
Aber im Gegensatz zur FDP wollen wir nicht nur Frei- Antrag dazu gesehen. Bringen Sie doch einen entspre-
heit und Selbstbestimmung für die Besserverdienenden chenden Antrag ein, dann können wir konstruktiv da-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein!) rüber diskutieren.

– Sie haben eben in Ihrer Rede schon wieder eine Für uns ist aber auch wichtig – das unterscheidet uns
Gruppe ausgeschlossen. Wir dagegen wollen das tat- von der FDP –, dass diejenigen, die früher aus dem Er-
sächlich allen ermöglichen. werbsleben ausscheiden, nicht dafür mit einem höheren
Armutsrisiko bestraft werden. Wir wollen deshalb eine
(Zuruf von der FDP: Das ist das Niveau von garantierte Mindestrente – wir nennen das Garantie-
Herrn Ernst!) rente – für das Alter, die den Grundbedarf deckt. Wer
mehr als 30 Jahre versichert war, muss sich darauf ver-
Ich bin deswegen der Meinung, dass wir von einem
lassen können, dass er eine Rente erhält, die über dem
starren Renteneintrittsalter wegkommen sollten. Warum
Grundsicherungsniveau liegt.
sollten die Menschen nicht in der Tat selbst entscheiden,
wann sie in Rente gehen, ob sie ihre Rente nur teilweise (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
in Anspruch nehmen, ob sie ihre Arbeitszeit sofort ganz Otto Fricke [FDP]: Mehr als 30 Jahre?)
reduzieren oder in Stufen?
Auch diesbezüglich gibt es von der Regierung nichts au-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gelb wirkt!) ßer einem sehr kryptischen Satz in der Koalitionsverein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5865
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(A) barung. Im Gegenteil: Mit ihrem dreisten Griff in die Alles klar? Warum ist das Ganze so merkwürdig formu- (C)
Rentenkasse durch das sogenannte Sparpaket wird die liert? Weil sich auch hier Union und FDP wieder nicht
Altersarmut ansteigen. Es handelt sich um über einig sind, weil sie unterschiedliche Konzepte haben.
2 Milliarden Euro. Frau Ferner hat das eben schon ange- Herr Kolb hat das eben angedeutet. Von der CDU/CSU
deutet. Das hat mit Sparen überhaupt nichts zu tun, weil kommt vielleicht nachher noch eine Aussage zur Alters-
die Ausgaben der Rentenversicherung sogar noch stei- armut. Was ist die Lösung? Sie bilden wieder einmal
gen werden und die Ausgaben der Kommunen für die eine Kommission, die angeblich 2012 Ergebnisse vorle-
Grundsicherung ebenfalls. Das heißt, bezahlen müssen gen soll. Mehr ist über dieses Geheimgremium bisher
es die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und die nicht zu erfahren. Wir haben eine Kleine Anfrage ge-
Kommunen. Das Ganze nennen Sie Sparen. Für uns stellt. Es wurde nicht geantwortet, wann mit Ergebnissen
sieht Sparen anders aus. zu rechnen ist, wie die Kommission zusammengesetzt
ist, und es ist nicht zu erfahren, wie der merkwürdige
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Satz, den ich eben vorgelesen habe, zu interpretieren ist
und welche Vorschläge im Einzelnen von dieser Kom-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mission behandelt werden sollen. Also gibt es wieder
Herr Strengmann-Kuhn, möchten Sie eine Zwischen- einmal, wie wir es von dieser Regierung kennen, nichts
frage des Kollegen Fricke zulassen? als heiße Luft und leere Ankündigungen. Kosten soll das
Ganze auch nichts – das habe ich einem Bericht der Pas-
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ sauer Neuen Presse entnommen; die weiß offensichtlich
DIE GRÜNEN): mehr als wir –, weder zusätzliche Beitragsmittel noch
Ja. Steuermittel. Sie müssen mir einmal erklären, wie Sie
damit eine armutsfeste Rente finanzieren wollen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir Grünen wollen, dass die Rente mit 67 keine Ren-
Bitte schön. tenkürzung durch die Hintertür wird. Das wollen wir
verhindern.
Otto Fricke (FDP): (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ist sie doch
Herr Kollege, Sie haben darum gebeten, nachzufra- schon längst!)
gen, wenn man etwas, was Sie gesagt haben, nicht nach-
vollziehen kann oder nicht verstanden hat. Ich möchte, Deswegen wollen wir sicherstellen – das ist der entschei-
dass Sie mir etwas erklären. Jemand, der 30 Jahre gear- dende Punkt –, dass diejenigen, die länger arbeiten wol-
beitet hat, soll nach Ihrem Modell einen Anspruch auf len, dies auch können. Wenn das nicht der Fall ist, dann
(B)
eine Grundrente haben? Habe ich das richtig verstanden? wäre es in der Tat eine Rentenkürzung durch die Hinter- (D)
Das heißt, jemand, der mit 16 Jahren angefangen hat, in tür. Wir haben aber noch etwas Zeit. Die stufenweise
die Rentenkasse einzuzahlen, hat mit 46 Jahren einen Einführung fängt erst im Jahr 2012 an. Die Rente mit 67
Anspruch auf die Grundrente. Ist es das, was Sie erklä- gilt für meinen Jahrgang erst im Jahr 2029.
ren wollen, oder was macht der Betreffende zwischen 46 (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wann waren
und dem Renteneintrittsalter? Sie das letzte Mal in einem Schichtbetrieb?)
– Hören Sie mir doch einmal zu! –
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN): (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Machen
Wir sind nicht für die Rente mit 46, um das klar zu sa- wir!)
gen.
– Gut, wunderbar. – Wir müssen sicherstellen, dass die-
(Otto Fricke [FDP]: Sie sprachen doch von jenigen, die länger arbeiten wollen, dies auch können.
30 Jahren!) Das ist eine Frage der Gesundheit und der Arbeitsbedin-
gungen. Deswegen brauchen wir insbesondere eine Ge-
Unsere Vorstellung ist, dass jemand ab 60 eine Teilrente sundheitspolitik, die mehr auf Prävention setzt, damit
beziehen kann. In Schweden gibt es eine Garantierente wir nicht nur länger leben, sondern auch länger gesund
ab 65, also ab dem üblichen Renteneintrittsalter. Wir bleiben. Wir brauchen Arbeitsplätze, die die Menschen
wollen einen Einstieg für die langjährig Versicherten nicht kaputtmachen. Wir brauchen gute Arbeit und nicht
schaffen. Wir wollen denjenigen, die 30 Jahre in die Arbeit um jeden Preis.
Rentenkasse eingezahlt haben, ein Minimum garantie-
ren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist
Ich möchte einen Satz im Koalitionsvertrag anführen, richtig!)
weil er so schön ist:
– Das ist richtig, aber dazu hätte ich gerne einige Vor-
Deshalb wollen wir, dass sich die private und be- schläge von Ihnen. –
triebliche Altersvorsorge auch für Geringverdiener
lohnt und auch diejenigen, die ein Leben lang Voll- Außerdem gehören dazu sowohl alters- als auch al-
zeit gearbeitet und vorgesorgt haben, ein Altersein- ternsgerechte Arbeitsplätze, also Arbeitsplätze, die da-
kommen oberhalb der Grundsicherung erhalten, das durch gekennzeichnet sind, dass sich die Arbeitsbedin-
bedarfsabhängig und steuerfinanziert ist. gungen und die Arbeitszeit dem zunehmenden Alter der
5866 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) Beschäftigten anpassen. Hier sind vor allem die Arbeit- tion zu Generation drei Lebensjahre hinzu. Das heißt, (C)
geber in der Pflicht. Der Jugendwahn, der in vielen Un- Sie werden wahrscheinlich drei Jahre älter als Ihr Vater,
ternehmen immer noch vorherrscht, muss endlich been- Ihre Kinder werden wahrscheinlich älter als Sie selbst.
det werden. Man kann also von gewonnenen Lebensjahren sprechen.
Um der demografischen Entwicklung gerecht zu wer-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist den, muss ein Teil der drei gewonnenen Lebensjahre in
auch richtig!) der Berufstätigkeit verbracht werden.
Diejenigen, die arbeiten können und wollen, müssen Wir alle kennen rüstige, fitte Rentner. Es gibt auch
auch einen Arbeitsplatz finden. Wichtig ist also die Ent- welche, die mit 60 nicht mehr arbeiten können; auch das
wicklung auf dem Arbeitsmarkt. Wie die Antwort auf will ich nicht verhehlen. Darauf komme ich nachher
die Große Anfrage zeigt, gibt es hier durchaus Fort- noch zu sprechen. Kollege Strengmann-Kuhn hat zu
schritte: Der Anteil der sozialversicherungspflichtig Be- Recht auf die Beschäftigungsbedingungen, auf arbeits-
schäftigten an der Gruppe der 60- bis 65-Jährigen hat medizinische Aspekte etc. hingewiesen. Es gibt überall
sich von 2000 bis 2008 immerhin verdoppelt, nämlich positive Beispiele dafür, dass man mit weit über 50
von 10,7 Prozent auf 21,5 Prozent. Das ist nicht allzu – auch mit 60 oder 70 – noch leistungsfähig ist. Dafür
viel: Nur ein Fünftel der 60- bis 65-Jährigen hat eine gibt es auch hier im Bundestag Beispiele. In der Partei
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Bei den Die Linke gibt es jemanden, der sich schon zurückgezo-
64-Jährigen sind es gerade einmal – Herr Ernst hat schon gen hatte. Einst hat er sich mit seinem Söhnchen auf dem
darauf hingewiesen – 10 Prozent, die sozialversiche- Balkon präsentiert. Als er merkte, dass ihm das eigent-
rungspflichtig beschäftigt sind. Auch das ist kein großer lich zu wenig ist, dass er wieder ins Berufsleben einstei-
Fortschritt. gen will, hat er sich wieder zur Verfügung gestellt.
Wenn Erwerbstätige und Arbeitslose zusammenge- Schaue ich mich in dieser Runde um, dann sehe ich
zählt werden, sieht man, dass es zwar Fortschritte gibt dynamische, braungebrannte junge Männer. Ich nehme
– die Erwerbsquote der 60- bis 64-Jährigen ist von irgendeinen heraus: Zufällig fällt mein Blick auf Sie,
21,5 Prozent auf 37,8 Prozent gestiegen; auch das ist im- Herr Ernst. Wenn der Kürschner nicht lügt, werden Sie
merhin fast eine Verdoppelung –, aber selbst bei den in diesem Jahr 56. Vor wenigen Wochen sind Sie zum
Männern lag die Erwerbsquote immer noch unter Parteivorsitzenden der Linkspartei gewählt worden. Das
50 Prozent. Das Glas ist also vielleicht gerade einmal heißt, auch Sie erwarten natürlich, dass bei Ihnen – Sie
halb voll. befinden sich in der Blüte Ihres Lebens – noch einiges
Es ist noch einiges zu tun, und die Zeit bis 2012 wird passiert. Das ist in der Bevölkerung insgesamt so. Das
in der Tat langsam knapp. Wir Grünen wollen längeres sollte man den Menschen, bitte schön, ebenfalls sagen.
(B) (D)
Arbeiten und einen flexibleren Übergang in den Renten- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nehmen Sie mal
eintritt ermöglichen – im Interesse der Menschen und im den Bundeswirtschaftsminister! Seit er 65 ist,
Interesse der Rentenversicherung. Wir wollen deswegen läuft der zur Hochform auf!)
keine Rückkehr zur Rente mit 65. Eine bedingungslose
Zustimmung zur Anhebung der Altersgrenze ab 2012 – Auch bei der FDP gibt es positive Beispiele. Was ich
wird es mit uns aber auch nicht geben. In diesem Sinne beschreibe, gilt parteiübergreifend. Lieber Herr Kolb,
sind wir gespannt auf den Bericht der Bundesregierung ich danke für Ihren Zwischenruf. Ich erinnere auch an
im November. Wir werden ihn genau prüfen. unseren Kollegen Riesenhuber. Es gibt also wirklich
fitte, dynamische Personen, die an diesem Podium oft
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. noch mehr Leben entfalten als manche jüngere.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Eines verstehe ich nicht, Herr Ernst; ich muss noch
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
einmal auf Ihre Rede eingehen. Sie haben vorhin etwas
Für die Unionsfraktion spricht jetzt der Kollege Paul von einem Zuwachs des BIP in Höhe von 1,6 Prozent er-
Lehrieder. zählt. Der Kuchen, der in 20 Jahren verteilt werden
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- könne, sei automatisch größer; deshalb brauchten wir
neten der FDP) keine Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Sie müssen
doch wissen: Der Kuchen wird erst in 20 Jahren von den
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Beitragszahlern gebacken, die dann auf dem Arbeits-
markt tätig sind. Um der demografischen Fehlentwick-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
lung gegenzusteuern, zahlen wir jetzt schon 81 Milliar-
Liebe Kollegen! Lieber Kollege Ernst, es ist jammer-
den Euro aus Steuermitteln in die Rentenkasse ein. Sonst
schade, dass Sie der demografischen Entwicklung aus
würde es schon jetzt nicht mehr funktionieren.
Zeitgründen nicht mehr Aufmerksamkeit widmen konn-
ten, als Sie es in Ihrer Rede letztendlich getan haben. Es Im selben Atemzug haben Sie gesagt, die Bankenhilfe
wäre vielleicht besser gewesen, manche Ihrer Vorbemer- sei nicht das Richtige gewesen. Ich entgegne: Wenn die
kungen hier einfach hintanzustellen und erst einmal auf Große Koalition vor eineinhalb Jahren nicht so deutlich
die Demografie zu schauen. Es ist richtig – Kollege und kräftig gegengesteuert hätte, wäre ein Wachstum
Strengmann-Kuhn hat es bestätigt, auch die Kollegen von 1,6 Prozent natürlich völlig illusorisch gewesen.
Vorredner haben es getan –: Wir gewinnen von Genera- Das muss man fairerweise dazusagen. Sie sprachen da-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5867
Paul Lehrieder
(A) von, dass es immer weiter wächst, vergaßen aber zu er- hen oder, was er befürworte, mehr und länger zu ar- (C)
wähnen, dass man die Voraussetzungen für das Wachs- beiten.
tum auch sichern muss.
(Zuruf von der LINKEN: Bis 70!)
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Politik und Wirt-
Das ist eine Tendenz, die europaweit erkannt wird –
schaft – hierauf haben die Vorredner zum Teil ebenfalls
nur bei den Linken nicht.
schon hingewiesen – stehen auch in Zukunft vor großen
Herausforderungen, wenn es darum geht, ältere Men- (Lachen bei der LINKEN)
schen in den Arbeitsmarkt zu integrieren und das System
der gesetzlichen Rentenversicherung zu stabilisieren. Sogar die Franzosen wagen sich vorsichtig heran und ge-
Die Große Koalition hat hier gerade mit der Rente mit 67 hen von 60 Jahren auf 62 Jahre.
– Müntefering sei Dank; jetzt könntet ihr einmal klat- Wozu das führt, haben wir vor wenigen Wochen in
schen, lieber Anton Schaaf – und der Initiative „50 plus“ diesem Haus diskutiert. Wenn man wie jetzt großzügig
entscheidende Weichen gestellt. Die positiven Effekte Wohltaten verteilt – Griechenland hat das mit seinen
dieser Maßnahmen sind eindeutig zu erkennen und mit Frühpensionierungen ein Stück weit getan –, hat man na-
Zahlen zu belegen. türlich in Kürze hier das finanzielle Debakel auszuglei-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) chen. Dann besteht für die nächste Generation eben kei-
nerlei Planungssicherheit. In diesem Fall brauchen wir in
– Danke. 20 Jahren über Altersarmut nicht zu reden. Dann haben
wir einen Systemwechsel – den Sie möglicherweise wol-
Nicht nur die Anfrage der Linken ist groß, auch die
len, was ich nicht unterstellen will, den aber mit Sicher-
Antwort der Bundesregierung auf die immerhin
heit die Mehrheit in diesem Hause – toi, toi, toi! – nicht
234 Einzelfragen ist mit 139 Seiten besonders umfang-
will.
reich. Sehen Sie mir deshalb bitte nach, dass ich mich
heute auf die Beschäftigungssituation der Älteren als (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Toi, toi, toi!)
Schwerpunkt konzentriere.
Meine Damen und Herren, aus einem Dokument der
Die in den Antworten der Bundesregierung vorge- EU geht hervor, dass derzeit auf jeden Bürger im Alter
brachten Fakten widerlegen das von den Linken in ihrer von über 65 Jahren vier Bürger im erwerbsfähigen Alter
Einleitung beschworene Schreckgespenst von Arbeits- kommen. Bis zum Jahr 2060 droht sich dieses Verhältnis
losigkeit und Armut als Folge der Rente ab 67. Die Bun- auf eins zu zwei zu verschlechtern. Ferner heißt es, dass
desregierung legt ihrer Antwort auf diese Anfrage ja zwischen 2001 und 2008 das tatsächliche Renteneintritts-
auch eine große Zahl sehr aussagekräftiger Statistiken alter im Durchschnitt der 27 EU-Staaten von 59,9 auf
(B) bei – auf immerhin noch einmal 146 Seiten. Ich verweise immerhin 61,4 Jahre erhöht wurde. Am niedrigsten liegt (D)
insbesondere auf die Tabellen auf den Seiten 111, 115, es in Rumänien mit 55 Jahren, am höchsten in Irland mit
119 und 125. Kollege Strengmann-Kuhn hat in seiner 64,1 Jahren.
Vorrede hier bereits einige Zahlen zitiert. Ich lese das
nicht noch einmal vor. In dieser Richtung ist schon viel Liebe Kollegen, die Erwerbsquote Älterer hat in den
positive Entwicklung festzustellen. letzten Jahren bereits um über 10 Prozentpunkte zuge-
nommen. Die Vorredner haben schon darauf hingewie-
Liebe Kollegen von der Linken, schon bei der Abfas- sen; ich kann es mir ersparen, das zu wiederholen.
sung Ihrer Anfrage wussten Sie vermutlich sehr genau,
dass das Ergebnis nicht Ihrem Weltbild entsprechen Das derzeit gültige Lissabon-Ziel, das eine Erwerbs-
würde. tätigenquote für die Altersgruppe der 55- bis 65-Jährigen
von 50 Prozent vorsieht, sollte bis 2010 erreicht werden.
(Lachen bei der LINKEN)
Deutschland übertrifft diese Zielvorgabe bereits seit
Warum sonst schreiben Sie auf Seite 2: „Es ist aller- dem zweiten Quartal 2007. Auch bedingt durch das
dings zu erwarten, dass die Bundesregierung diese Er- Ende der Frühverrentungspraxis ist die Erwerbstätigen-
kenntnisse“ – Altersarmut folgt auf Rente mit 67 – quote bei den über 55- bis 65-Jährigen von 45,4 Prozent
„ignorieren und sich bei der Überprüfung auf ihr ge- im Jahr 2005 auf mittlerweile 57,1 Prozent im vierten
nehme Indikatoren konzentrieren wird“? Quartal 2009 gestiegen. In absoluten Zahlen: Im Jahres-
durchschnitt waren 2008 circa 5,2 Millionen Personen
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Linken sind
zwischen 55 und 65 Jahren erwerbstätig – gegenüber
wieder einmal auf einer Insel isoliert. Das dürfte jedem
4,3 Millionen im Jahr 2000. Zum Vergleich: Die Er-
klar sein, der gestern die Berichterstattung in den Me-
werbsquote, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, nahm
dien verfolgt hat. Liebe Frau Präsidentin, mit Ihrem ge-
von 74,6 Prozent im Jahr 2000 auf 79,8 Prozent der Be-
schätzten Einverständnis darf ich zitieren:
völkerung im Jahr 2008 zu.
EU-Kommission für späteres Renteneintrittsalter
Aus Zeitgründen will ich jetzt einen Teil meines vor-
Bei der Vorstellung eines Diskussionspapiers bereiteten Manuskripts weglassen. Ich darf aber darauf
(„Grünbuch“) zur Sicherung der Renten- und Pen- hinweisen: Das Ganze funktioniert natürlich nur, wenn
sionssysteme“ sagte Sozialkommissar László Andor wir dafür sorgen, dass unsere Mitbürger im Alter in ord-
am Mittwoch, es bestehe jetzt die Wahl, entweder nungsgemäßen Arbeitsverhältnissen und einigermaßen
im Ruhestand über ein geringeres Einkommen zu gesund diese Leistungen erbringen können. Dazu müs-
verfügen, die Beiträge zur Altersvorsorge zu erhö- sen die Arbeitsbedingungen zunehmend alters- und al-
5868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Paul Lehrieder
(A) ternsgerecht gestaltet werden. Frau Kollegin Ferner, in diesem Hause kritisieren. Wir nehmen Gesetze in Gänze (C)
dem Punkt haben Sie recht. Vieles von dem, was Sie ge- ernst und nicht nur partikular.
sagt haben, war nicht richtig, aber damit haben Sie recht
gehabt. Auch der Kollege Strengmann-Kuhn hat das hier (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
zutreffend ausgeführt. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
(Zuruf der Abg. Elke Ferner [SPD])
Herr Staatssekretär, zum Thema Beitragssätze sollte
– Wir werden im Ausschuss darüber diskutieren. man sich als Regierungsmitglied sehr zurücknehmen. Im
Mit aktivem Arbeitsschutz, gezielter Prävention und Bereich Gesundheit halten Sie die Beitragssätze und die
entsprechender Arbeitszeit- und Arbeitsplatzgestaltung Belastung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so-
lässt sich die betriebliche Praxis anpassen. Herr Kollege wie Arbeitgeber für so wichtig und sagen, da dürfe nicht
Ernst, Sie haben danach gefragt, wie ein Dachdecker auf so viel passieren; gleichzeitig aber will die Bundesregie-
einen anderen Arbeitsplatz kommen soll. In größeren rung die Beitragssätze erst einmal erhöhen.
Unternehmen ist es durchaus möglich, andere Arbeits- Was Sie bei den Beiträgen für Langzeitarbeitslose zur
plätze für Ältere zu finden, im Bereich Lager, Logistik Rentenversicherung vorhaben, ist nichts anderes als eine
etc. Ich kenne keinen Unternehmer, der, wenn er 10, 15, Beitragssatzerhöhung für Arbeitnehmerinnen und Ar-
20 Leute hat, den Ältesten auf die höchste Dachspitze beitnehmer sowie Arbeitgeber. Eigentlich war geplant,
schickt. Halten Sie unsere Unternehmer nicht für so dass die Schwankungsreserve genutzt wird, um den Bei-
blöd! Die sind intelligent und passen da schon auf. tragssatz zu senken; dazu sollte sie abgeschmolzen wer-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frau Präsidentin den. Sie werden aber die Beitragssätze für die Renten-
macht sich in meinem Rücken dezent bemerkbar. Ich be- versicherung nicht senken können, wenn Sie für die
danke mich für die Aufmerksamkeit, darf aber noch auf Arbeitslosen kein Geld mehr in die Rentenversicherung
eines hinweisen: Herr Strengmann-Kuhn, Sie haben aus einzahlen. Das heißt, Sie nehmen Arbeitnehmerinnen
unserem Koalitionsvertrag zitiert. Darin steht auch, dass und Arbeitnehmern das Geld, um Ihre Sparpolitik zu fi-
der Bericht der Bundesregierung zur demografischen nanzieren. Das ist die Tatsache, die dahintersteht.
Lage und künftigen Entwicklung des Landes im
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Jahr 2011 vorgelegt wird. Dann wird er hier ausgiebig
DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
diskutiert. Das ist ein Thema, das uns die nächsten Jahre
Das hat die SPD doch auch schon mal ge-
dauernd beschäftigen wird; da teile ich Ihre Auffassung.
macht, oder?)
Da werden wir in Kontakt bleiben. Da werden wir im
(B) Gespräch bleiben. Bis dahin wünsche ich uns allen, die Reden Sie mir nicht über Beitragssätze und Beitragssatz- (D)
wir hier sitzen, ein gesundes Älterwerden. stabilität! Das ist nicht in Ordnung!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Herr Kolb, wenn ich mich recht entsinne, dann sind,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) was die Frühverrentung angeht, alle Dämme gebrochen,
als Sie in Regierungsverantwortung waren.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Elke Ferner [SPD]: Als er Staatssekretär
Anton Schaaf hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. war!)
(Beifall bei der SPD) Die Vorruhestandsmodelle hat die Kohl-Regierung und
keine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung auf
Anton Schaaf (SPD): den Weg gebracht.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Er- (Beifall bei der SPD)
innerung für alle, die gefragt haben, wie die SPD mit der
Rente mit 67 umgehen will: Wir haben das RV-Alters- Sie waren damals als Staatssekretär Mitglied der Bun-
grenzenanpassungsgesetz in Gänze beschlossen und desregierung. Sie haben die Dämme geöffnet und haben
nicht nur diesen einen Punkt. Darin ist die Überprü- sich anschließend über die Wirkung beklagt.
fungsklausel ein eigener Paragraf. Wir debattieren
heute, wie wir mit dieser Überprüfungsklausel umgehen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir waren aber
wollen; das ist die entscheidende Frage. auch die Ersten, die den Kurswechsel einleiten
wollten! – Otto Fricke [FDP]: Die einen ler-
(Beifall bei der SPD) nen, die anderen verlernen!)
Ich habe nun vernommen, wie die Bundesregierung Wie ist denn die Situation auf dem Arbeitsmarkt für
mit dieser Überprüfungsklausel umgehen will, und bin die Älteren jetzt tatsächlich? Kann es nicht sein, meine
an der Stelle ziemlich erschrocken. Wie gesagt, sie ist Damen und Herren der Regierungskoalition, dass das
Bestandteil eines Gesetzes. Der Staatssekretär hat das Auslaufen der Vorruhestandsregelungen unmittelbar da-
Ergebnis dieser Überprüfung aber vorweggenommen, mit zu tun hat, dass die Beschäftigungsquote Älterer et-
indem er die Rente mit 67 und deren Einführung ab 2012 was besser geworden ist,
nicht infrage gestellt, sondern eigentlich gesagt hat: Die
wird ab 2012 kommen – unabhängig von dieser Über- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist die Frage
prüfungsklausel. Das ist das, was wir als Opposition in nach der Henne und dem Ei!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5869
Anton Schaaf
(A) dass also die Beschäftigungssituation Älterer insgesamt men. Diese Altersteilzeit wird fortgeführt. Der entschei- (C)
etwas besser geworden ist, weil sie eben nicht mehr so dende Punkt ist aber, dass die nicht geförderte Altersteil-
schnell aus den Betrieben hinausgedrängt werden kön- zeit vor allem von finanzstarken großen Unternehmen
nen? Mit der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Situa- umgesetzt wird. Die kleinen und mittelständischen Un-
tion, die hier zu betrachten ist, hat das aber definitiv ternehmen brauchen hingegen die geförderte Altersteil-
nichts zu tun. Der entscheidende Indikator ist doch: Wie zeit, damit Arbeitnehmer flexibel in Rente gehen kön-
viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehen un- nen. An dieser Stelle haben Sie sich absolut unbeweglich
mittelbar aus der Beschäftigung in eine abschlagsfreie gezeigt.
Rente? Diese Quote muss man sich genau anschauen.
Ich sage Ihnen: Sie tun an dieser Stelle überhaupt nichts. Sie haben gesagt, dass man durch Prävention vor
Altersarmut schützen kann. Am besten schützt man die
(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb Menschen vor Altersarmut, indem man dazu beiträgt,
[FDP]: Was hat denn die SPD auf den Weg ge- dass sie während ihres Erwerbslebens vernünftige und
bracht?) anständige Löhne bekommen, von denen man ausrei-
chende Rentenansprüche erwerben kann.
– Herr Kolb, wir haben zum Beispiel die Initiative
„50 plus“ auf den Weg gebracht, mit der wir die Situa- (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb
tion der Älteren deutlich verbessert haben. Sie ist ja auch [FDP]: Haben Sie noch Zeit für eine Zwi-
zum Teil fortgeführt worden. schenfrage, Herr Schaaf?)
Die Frage ist doch, ob sich die Situation der Älteren Sie sagen hier aber, wir müssten ermöglichen, dass die
tatsächlich verbessert hat. Da hat der Kollege Ernst Leute privat vorsorgen können. Grundvoraussetzung da-
recht: Die Menschen gehen derzeit mit durchschnittlich für, dass Menschen im Alter nicht arm sind, ist aber
63 Jahren in Rente. Im Moment ist nicht absehbar, was nicht die private Vorsorge, sondern ein auskömmliches
diese Regierung plant, damit man länger im Arbeitsle- Einkommen in der Zeit des Erwerbslebens.
ben verweilen kann.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
(Elke Ferner [SPD]: Die wissen das selber bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
noch nicht!) GRÜNEN)
Da hilft die Aussage der Ministerin von der Leyen An dieser Stelle verweigern Sie sich, wie gehabt, kom-
„Wenn jemand 40 Jahre Maurer, Zimmermann oder plett.
Müllmann war, dann kann er am Ende noch einmal et-
Ich sage noch einmal – da stimmen wir im Wesentli-
(B) was anderes machen“ überhaupt nicht; denn es fehlt eine chen überein –: Das Mindeste, was man machen muss, (D)
Aussage darüber, was diese Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer am Ende ihres Arbeitslebens anderes ma- um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Alters-
chen sollen. armut zu schützen, ist, jetzt einen gesetzlichen Mindest-
lohn einzuführen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Etwa die von Ihnen geplante Bürgerarbeit? Vielleicht
wollen Sie sie aus diesem Grund einführen. Nein, diese Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frage ist noch nicht beantwortet.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Sie haben zur Humanisierung der Arbeitswelt kei- Kollegen Kolb?
nen einzigen Beitrag geliefert. Auch in Ihrem Koali-
tionsvertrag finden wir nichts dazu. Dass Menschen bis Anton Schaaf (SPD):
zum 67. Lebensjahr arbeiten können, ist Grundvoraus- Gern, Herr Kolb.
setzung für die Einführung eines höheren Rentenein-
trittssalters. Da bleiben Sie jede Antwort schuldig. Sie
lassen die Menschen an dieser Stelle gnadenlos im Stich. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Das ist die Realität, die man konstatieren muss. Danke. – Herr Kollege Schaaf, weil ich weiß, dass Sie
weg wollen, stelle ich nur eine kurze Zwischenfrage.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Würden Sie mir zustimmen, dass man mit einem Min-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE destlohn von 8,50 Euro auch nach einem 40-jährigen
GRÜNEN) Erwerbsleben nur einen Rentenanspruch unter Grund-
Die Frage nach der Altersteilzeit will ich ebenfalls sicherungsniveau erwirbt?
aufgreifen, weil Sie, Herr Kolb, gesagt haben, die Förde- (Elke Ferner [SPD]: Wenn man sein Leben
rung sei jetzt weggefallen und damit sei das Thema lang im Mindestlohnbereich arbeitet!)
Frühverrentung erledigt. Das ist nicht ganz richtig; denn
zwei Drittel der genutzten Altersteilzeit entfällt auf die Wenn Sie das bezweifeln, kann ich es Ihnen gerne vor-
nicht geförderte Altersteilzeit. Das heißt, zwei Drittel der rechnen. Vielleicht haben Sie es selber schon einmal
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bzw. der Betriebe ausgerechnet, sodass Sie die Frage jetzt beantworten
haben keine staatliche Förderung in Anspruch genom- können.
5870 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

(A) Anton Schaaf (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C)
Selbstverständlich gebe ich Ihnen recht: Wenn Sie DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
40 Jahre lang ausschließlich einen Mindestlohn von Sie sind in Eile! Man merkt es!)
8,50 Euro bekommen, dann kommen Sie nicht über das
Grundsicherungsniveau. In England gibt es zum Beispiel Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
die Low Pay Commission, die in wenigen Jahren den Pascal Kober hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
Mindestlohn bedarfsgerecht deutlich angehoben hat, so-
dass sich Arbeit für die Menschen lohnt. Wenn aller- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
dings der Mindestlohn 40 Jahre lang nur bei 8,50 Euro Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Mit der roten
liegt, dann wird man sicherlich nicht über das Grundsi- Krawatte fängt es schon einmal gut an!)
cherungsniveau hinauskommen. Allerdings ist es so,
dass man mit einem Lohn von 8,50 Euro zumindest Pascal Kober (FDP):
mehr Rentenansprüche erwirbt Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte auf den Beginn der Debatte zurückkommen.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Als mit 5 Euro
Lieber Kollege Ernst, Sie haben den Kolleginnen und
oder 3 Euro!)
Kollegen im Hohen Haus zwei Fragen gestellt. Die eine
als mit einem Durchschnittslohn von 6 Euro, den viele Frage war, ob wir jemanden kennen, der für 5 Euro zu-
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jetzt bekommen. sätzlich zwei Jahre länger arbeiten würde.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Für 5 Euro
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weniger Einkommen!)

Mit Ihrer Lohndumpingpolitik machen Sie doch Fol- – Für 5 Euro weniger Einkommen. – Damit offenbaren
gendes: Sie machen die Menschen, die jetzt zu Dum- Sie, wes Geistes Kind Sie sind. Sie sind ein Linker,
pinglöhnen arbeiten müssen, nachher zu Bittstellern. Sie (Heiterkeit bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb
verlagern die Kosten auf die Kommunen, weil im Alter [FDP]: Das ist überraschend! – Klaus Ernst
die Grundsicherung gezahlt werden muss, und entlasten [DIE LINKE]: Richtig erkannt!)
damit die Sozialkassen. Das genau ist der Hintergrund.
für den es über den reinen Materialismus hinaus in der
Sie tun das übrigens auch an einer anderen Stelle. Welt keinen Sinn gibt.
Wenn Sie die Zuverdienstgrenzen für SGB-II-Empfän-
ger anheben – das haben Sie ja vor; Sie haben es be- (Lachen bei der LINKEN)
(B) schlossen, Herr Kolb –, Das sehen wir als christlich-liberale Koalition naturge- (D)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist nicht mäß anders.
mehr meine Frage!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
– nein, das ist nicht mehr Ihre Frage; das stimmt in der Vielleicht möchten die Menschen arbeiten, weil die Ar-
Tat –, dann tragen Sie dazu bei, dass die Altersarmut beit ihnen Freude macht. Vielleicht möchten die Men-
noch einmal deutlich ansteigt, weil ein Teil des Einkom- schen nicht nur arbeiten, um Geld zu verdienen, sondern
mens, das über die Grundsicherung bezogen wird, nicht weil Arbeit Sinn vermittelt.
versicherungspflichtig ist. Das trägt nicht dazu bei, dass
man Ansprüche auf die Rentenversicherung erwirbt. Das (Beifall bei der FDP – Beate Müller-Gemmeke
ist der entscheidende Punkt. Mit einer solchen Maß- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht
nahme verringern Sie die zu erwartenden Renten für Ar- müssen Menschen wegen des Geldes arbei-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Nehmen Sie davon ten!)
Abstand. Vielleicht möchten die Menschen arbeiten, weil sie in
der Gesellschaft Verantwortung für sich und ihre Fami-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
lien übernehmen wollen.
Sorgen Sie lieber dafür, dass diejenigen, die in unserem (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Es geht doch gar
Land arbeiten, vernünftige Löhne bekommen. Dann sind nicht ums Wollen! Es geht ums Können!)
wir bei der Bekämpfung von Altersarmut einen Schritt
weiter. Sie haben eine zweite Frage gestellt, lieber Herr
Ernst. Sie haben danach gefragt, was mit jenen Berufen
Ich komme zum Schluss. Vor uns liegt eine parlamen- ist, bei denen es schwierig ist, sie aufgrund der hohen
tarische Auszeit. Ich freue mich sehr darauf, und im We- körperlichen Belastung über einen längeren Zeitraum
sentlichen gönne ich es Ihnen allen. auszuüben.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Kehren Sie in
sich und bessern Sie sich!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Es ist nur schade, Herr Kolb, dass die parlamentarische
Kollegen Ernst zulassen?
Auszeit für die Regierungsfraktion nur für die Sommer-
pause gilt. Viele Menschen in unserem Lande wünschen (Sebastian Blumenthal [FDP]: Er hatte heute
sich, dass Ihre Auszeit wesentlich länger dauert. genug! Das reicht! – Klaus Ernst [DIE
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5871
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) LINKE]: Sie haben doch nur drei Minuten! keine Schnellschüsse machen, sondern kluge Konzepte (C)
Dann bekommen Sie mehr!) erarbeiten.
(Elke Ferner [SPD]: Das wäre das erste Mal,
Pascal Kober (FDP): dass von dieser Bundesregierung ein kluges
Herr Kollege Ernst, das reicht aus, um sich mit Ihrem Konzept erarbeitet wird!)
Antrag auseinanderzusetzen; heute also nicht.
Wir werden uns dieses Problems annehmen und eine
(Zurufe von der LINKEN: Oh!) Politik für die Menschen machen, die ihnen wirklich
hilft.
Sie haben gefragt, was ein Dachdecker im Alter ma-
chen soll, ob er zum Beispiel Buchhalter werden soll. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie immer also! –
Ihre Antwort war: Er kann kein Buchhalter werden. Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann müsst ihr
euch beeilen bei den 4 Prozent! Viel Zeit habt
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Es gibt schon ihr nicht mehr!)
genug!)
Vielen Dank.
Das ist vielleicht richtig, wobei ich meine, dass Sie dem
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
einen oder anderen Dachdecker unrecht tun. Vielleicht
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: An den Ergebnis-
möchte er aber Baumaschinenführer werden.
sen ihrer Taten sollt ihr sie messen!)
(Elke Ferner [SPD]: Wegen der von Ihnen ge-
kürzten Mittel für die BA wird er dann nicht Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
umgeschult! Das ist ja wunderbar!) Matthias W. Birkwald hat jetzt das Wort für die Frak-
Wenn wir das Problem der Altersarmut wirklich an- tion Die Linke.
packen wollen, dann müssen wir bedenken, dass Alters- (Beifall bei der LINKEN)
armut unterschiedlichste Ursachen hat und unterschied-
lichster Lösungsansätze bedarf. Ein Lösungsansatz wird Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
mit Sicherheit sein, dass wir eine innovativere Berufsbil- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
dungspolitik betreiben, als es bisher der Fall war. Unsere Herren! Die Antwort der Bundesregierung auf die Große
Gesellschaft wird lernen, dass man nicht einmal im Le- Anfrage der Fraktion Die Linke zur Beschäftigungs-
ben einen Beruf lernt, sondern vielleicht zwei- oder drei- situation Älterer bestätigt, was Gewerkschaften, Sozial-
mal im Leben. So weit sind wir noch nicht; aber im Inte- verbände und wir Linken stets kritisiert haben: Die
(B) resse der künftigen Generationen müssen wir solch Rente erst ab 67 ist das eine; tatsächlich bis 67 in Lohn (D)
innovative Konzepte entwickeln und sollten uns nicht und Brot stehen, ist das andere. Das sind zwei vollkom-
mit der Frage aufhalten, ob man das Renteneintrittsalter men unterschiedliche Paar Schuhe.
erhöhen kann oder nicht.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Herr Kober, wo sind denn die Arbeitsplätze für Men-
schen über 60? Die können Sie doch mit der Lupe su-
Wir müssen bei den Ursachen für Altersarmut ansetzen, chen. Ich sage es noch einmal: Nicht einmal jeder zehnte
besser heute als morgen. 64-Jährige ist sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
Das Sparpaket für Rentnerinnen und Rentner heißt:
Zu den Ursachen. Altersarmut kann entstehen, wenn Rente erst ab 67. Diese Rentenkürzung müssen wir ver-
während der Erwerbsphase längere Zeiten der Arbeitslo- hindern.
sigkeit auftreten.
(Beifall bei der LINKEN)
(Elke Ferner [SPD]: Oder wenn das Einkom-
men prekär ist!) Auch die schwarz-gelbe Bundesregierung hält sich
eine heilige Kuh, die nicht angetastet werden darf. Sie
Was müssen wir tun? Wir brauchen eine aktive, wachs- nennt sie Beitragssatzstabilität. Nach diesem Glauben
tumsorientierte Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. dürfen die Beiträge zur Rentenversicherung nicht erhöht
Dafür steht unsere christlich-liberale Koalition. Dafür werden. Im Gegenteil: Sie sollen gesenkt werden. Wie
haben wir Impulse gesetzt. Die Arbeitsmarktdaten zei- huldigen die Bundesregierungen von Rot-Grün bis
gen, dass wir recht haben, dass wir richtig handeln und Schwarz-Gelb der heiligen Kuh Beitragssatzstabilität?
dass diese Regierung erfolgreich ist, Herr Ernst. Sie kürzen die Rente, und das gleich dreifach: Erstens.
Es gibt weniger Rente für alle; in 20 Jahren wird das
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Rentenniveau ein Viertel niedriger sein als 1998. Zwei-
Die Bundesregierung hat angekündigt, dass sie eine tens. Es wird noch mehr Abschläge geben; noch mehr
Kommission einsetzen wird, um sich des Themas Al- Menschen werden das völlig unrealistische gesetzliche
tersarmut anzunehmen. Renteneintrittsalter von 67 Jahren nicht erreichen. Drit-
tens wird es weniger Rente geben, da die Zeit des Ruhe-
(Elke Ferner [SPD]: Aha! Angekündigt!) standes gekürzt wird. – Diese Politik des Rentenklaus
lehnen wir Linken ab.
Wir werden die Ergebnisse dieser Kommission in die
Beratungen des Parlaments einbeziehen. Wir werden (Beifall bei der LINKEN)
5872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Matthias W. Birkwald
(A) Jetzt wird es ein bisschen kompliziert. Das Ganze ist also ein Kuhhandel, und den lehnen wir (C)
ab. Im Übrigen bin ich sicher: Jede Enkelin und jeder
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Verheben Sie Enkel wäre bereit, 7 Euro im Monat zu zahlen, damit es
sich nicht!) für die Großeltern, die Eltern und später auch für sie
Wer heute in Rente geht, ist durchschnittlich 63 Jahre alt. selbst beim Rentenalter 65 bleiben kann. Da bin ich ganz
Das hat Konsequenzen. Wer vor 65 in den Ruhestand sicher, Herr Weiß.
geht, erhält weniger Rente. 115 Euro Monat für Monat (Beifall bei der LINKEN)
bis zum Lebensende – so hoch sind die Abschläge schon
heute im Durchschnitt. Das heißt bereits jetzt: Ohne die Die Würde des Ruhestands steht und fällt mit der
Rente erst ab 67 müssen Rentnerinnen und Rentner in Freiheit von wirtschaftlichen Zwängen. Die Rente erst
den durchschnittlich 18 Jahren, in denen sie Rente erhal- ab 67 – das gilt auch für die gesamte Ausrichtung der
ten, wegen der Abschläge auf insgesamt 25 000 Euro Rentenpolitik der vergangenen 20 Jahre – bringt diese
verzichten. 25 000 Euro weniger, nur weil das Renten- Freiheit zu Fall. Wir alle wissen ganz genau: Wer im Al-
eintrittsalter von 65 Jahren von der Hälfte derer, die in ter zu wenig oder gar kein Geld hat, wird um seinen
Rente gehen, nicht erreicht werden konnte. Und Sie wol- wohlverdienten Ruhestand gebracht. Wer den Menschen
len das Renteneintrittsalter ernsthaft anheben? Erklären erst ab 67 die volle Rente zugestehen will, befördert Ar-
Sie das einmal den Betroffenen, zum Beispiel der Che- mut und sozialen Abstieg. Die Linke will das Gegenteil.
miearbeiterin, dem Elektriker oder dem Bauarbeiter. Die Schauen Sie nach Frankreich. Da ist „Rente erst ab 67“
werden Ihnen etwas husten, und das völlig zu Recht. kein Thema. Die Alternativen dort heißen 60 oder 62.
Wir wünschen den französischen Kolleginnen und Kol-
(Beifall bei der LINKEN) legen viel Erfolg bei ihrem Kampf um die Rente ab 60.
Ihre Politik der Arbeitszeitverlängerung nützt nur der (Beifall bei der LINKEN)
heiligen Kuh Beitragssatzstabilität. Dazu will ich noch
etwas sagen: Beitragssatzstabilität wird allein deshalb Auch für Deutschland gilt der kluge Spruch von Bertolt
von Schwarz-Gelb und Rot-Grün nahezu absolut gesetzt, Brecht: Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft,
weil damit die Arbeitskosten niedrig gehalten werden hat schon verloren.
sollen; der Staatssekretär hat das vorhin gesagt. Ein
Blick auf die durchschnittlichen Lohnkosten zeigt, wa- Ich komme zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kol-
rum wir recht entspannt sein können: Deutschland liegt legen von Union und FDP: Nehmen Sie die Furcht der
mit 32 Prozent sogenannter Lohnnebenkosten deutlich Menschen vor Altersarmut und sozialem Abstieg ernst.
unterhalb des europäischen Durchschnitts von 36 Pro- Folgen Sie dem einfachen Grundsatz: Jeder Mensch hat
das Recht, im Alter ein Leben in Würde zu führen. –
(B) zent. (D)
Verzichten Sie auf die Rente ab 67. Holen Sie diese Kuh
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Rechnung vom Eis.
würde mich einmal interessieren!)
(Beifall bei der LINKEN – Pascal Kober
Deswegen sage ich Ihnen: Die Beitragssatzstabilität darf [FDP]: Und jetzt ein Kölsch!)
keine heilige Kuh bleiben.
– Heute Abend.
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Kober und Herr Fuchtel, das Stichwort, das im- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
mer genannt wird, ist Generationengerechtigkeit. Ich Peter Weiß hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
sage: Das ist kein Problem der Generationengerechtig-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
keit; denn es würde die Beschäftigten nur wenig kosten,
wenn es weiterhin bei der Rente ab 65 bliebe. Den Ren-
tenkürzungen wegen der Rente erst ab 67 stehen nicht Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
einmal zwei Weißbier oder drei Pils oder – ich bin Köl- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
ner – fünf Kölsch im Monat gegenüber, die sich eine Ar- gen! Es ist verständlich, dass man in einer politischen
beitnehmerin oder ein Arbeitnehmer mit Durchschnitts- Debatte über die Vergangenheit redet. Aber es ist Auf-
verdienst in diesen heißen Sommertagen leisten könnte. gabe der Politik, zu fragen: Wie packen wir die Zukunft
Die Rente ab 67 wird den Beitrag, den durchschnittlich an?
verdienende Beschäftigte an die Rentenkasse zahlen
müssen, um nicht einmal 7 Euro senken. Bevor diese (Elke Ferner [SPD]: Dazu hat Herr Fuchtel ja
7 Euro weniger Beitrag für die Rentenkasse für Bier aus- weitgehende Ausführungen gemacht!)
gegeben werden können, werden sie im Übrigen durch Die Vergangenheit war in der Tat dadurch gekennzeich-
die 8 Euro Beitragserhöhung für die Krankenkasse, die net, dass in den Personalbüros unserer großen Betriebe
Herr Rösler will, mehr als aufgebraucht. Heute heißt es Frühverrentungspolitik und Jugendwahn die bestim-
im Handelsblatt: menden Themen waren. Aber wenn man die Zukunft
Röslers Reform belastet vor allem die Rentner. meistern will, muss Schluss sein mit Frühverrentungspo-
litik und Jugendwahn; denn die Aufgaben für die Zu-
Kümmern Sie sich bitte einmal darum. kunft sehen anders aus.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5873
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) Viele Zahlen können unterschiedlich interpretiert wer- Geburtsjahrgang ist, den es je in Deutschland gegeben (C)
den. Ich will mich aber auf folgende Fakten beziehen, die hat. 1964 sind 1,35 Millionen Menschen in Deutschland
jedem klarmachen, dass wir in den kommenden Jahr- geboren worden. Das heißt, wir sind auf dem Höhepunkt
zehnten eine Veränderung zu erwarten haben: Heute der demografischen Entwicklung, wenn wir die Rente
kommen auf 100 20- bis 64-Jährige, also Menschen im mit 67 einführen. Zum Vergleich: Wissen Sie, wie viele
Erwerbsleben, 33,8 Personen über 65, also Rentnerinnen Kinder letztes Jahr in Deutschland geboren worden sind?
und Rentner. Das wird sich in den nächsten Jahrzehnten Es gab 651 000 Geburten.
dramatisch verändern. In 50 Jahren werden auf 100 Perso-
nen im Erwerbsleben 63 über 65-Jährige kommen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Kinder
Gleichzeitig wird die Lebenserwartung erfreulicherweise zahlen aber keine Rente!)
weiter steigen. Sie wird, so schätzt man, für neugeborene Wenn man diese beiden Jahrgänge miteinander ver-
Mädchen gegenüber heute um 6,5 Jahre ansteigen, für gleicht, den Jahrgang 1964, der erste, für den die Rente
neugeborene Jungen um sechs Jahre. – Ich glaube, jeder mit 67 gilt, und den Jahrgang 2009 – die 2009 Gebore-
kann jetzt nachvollziehen, dass man die Gewinne an Le- nen stehen dann als 21-Jährige im Berufsleben und fi-
benszeit und Lebensqualität nicht einfach privat genießen nanzieren die Rente mit –, dann wird einem klar, dass
und die daraus folgenden Kosten auf die Allgemeinheit wir zwingend – nicht weil wir mutwillig sind – Genera-
abwälzen kann. tionengerechtigkeit in Deutschland herstellen müssen.
Normalerweise sagen die Linken hier im Parlament (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Verteilungsge-
und auch anderswo, Gewinne würden privatisiert und rechtigkeit!)
Verluste sozialisiert, und kritisieren das. In diesem Fall
verraten die Linken ihre Ideologie voll und ganz. Herr Gerecht ist, dass die Älteren für eine lebenslange Leis-
Ernst und Herr Birkwald sagen, dass sie Gewinne an Le- tung eine angemessene Rente bekommen. Aber gerecht
benszeit privatisieren und die daraus folgenden Kosten ist auch, dass wir die Jungen nicht über Maßen mit Steu-
sozialisieren wollen. Das ist das Gegenteil von dem, was ern und Abgaben belasten. Generationengerechtigkeit ist
sie als ihre Politik ausgeben. die Zukunftsaufgabe, der wir uns stellen müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke
Klaus Ernst [DIE LINKE]: Lächerlich!) Ferner [SPD]: Wer hebt denn gerade die Kran-
kenkassenbeiträge an? – Klaus Ernst [DIE
Die Auswirkungen dieser Veränderung in unserer Ge-
LINKE]: Für die Jungen kürzen Sie die Ren-
sellschaft in den kommenden zehn Jahren – sie werden
ten!)
zu einem ganz anderen Bild führen als zu dem, das wir in
(B) den vergangenen Jahrzehnten hatten – werden sich auch – Die Zurufe der Linken zeigen nur eines: Sie reden von (D)
am Arbeitsmarkt und in der Arbeitswelt niederschlagen. Gerechtigkeit; aber das Ergebnis von dem, was Sie wol-
Das geschieht in der Tat schon jetzt. Wir Deutschen hat- len, ist Ungerechtigkeit, also das Gegenteil von dem,
ten in der Vergangenheit eine grottenschlechte Beteili- was Sie sagen.
gung älterer Menschen am Erwerbsleben, weil man sie
aus den Betrieben herausgedrängt hat. Im ersten Quartal (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
2005 lag die Erwerbsbeteiligung der 55- bis 64-Jährigen neten der FDP – Elke Ferner [SPD]: Wer
bei 44,5 Prozent. Sie ist bis zum dritten Quartal 2009 auf schreit, hat unrecht, Herr Kollege Weiß!)
55,9 Prozent angestiegen; das ist immerhin schon eine Das ist einfach so. Man kann die Zahlen nicht weglügen,
Veränderung. Unser Ziel als christlich-liberale Koalition auch nicht mit noch so vielen Debatten.
ist es, die Erwerbsbeteiligung Älterer bis zum Ende die-
ser Legislaturperiode auf mindestens 60 Prozent anzuhe- (Elke Ferner [SPD]: Man kann sie auch nicht
ben und damit zu den in diesem Bereich erfolgreichen wegschreien! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das
Staaten in Europa zu gehören. sagt der Richtige!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Nun stellen sich unsere Mitbürgerinnen und Mitbür-
Ferner [SPD]: Was ist denn mit den 60- bis ger, die erkennen, dass die Entwicklung, die ich darge-
64-Jährigen?) stellt habe, einer Antwort bedarf, zu Recht eine entschei-
dende Frage.
Frau Ferner, Sie haben einfach falsch zitiert; man sollte
das Wahlprogramm der CDU, auch wenn man in der SPD (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ist, richtig lesen. In unserem Wahlprogramm 2005 stand: NEN]: Ob wir schwerhörig sind! – Heiterkeit
Wir wollen die Regelaltersgrenze so anheben, wie es die und Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD])
Situation am Arbeitsmarkt zulässt, also wie die Beschäf-
tigungsmöglichkeiten für Ältere steigen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: 67 steht drin!) Herr Strengmann-Kuhn würde gerne eine Zwischen-
frage stellen. Herr Weiß, ist das in Ordnung?
Deswegen hat sich die Große Koalition dazu entschlos-
sen, die Regelaltersgrenze im Jahr 2029 auf 67 Jahre an-
zuheben. Damit wird der Geburtsjahrgang 1964 der erste Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Jahrgang sein, für den die neue Regelaltersgrenze gilt. Lassen wir Herrn Strengmann-Kuhn zu Wort kom-
Warum der Geburtsjahrgang 1964? Weil er der stärkste men. Bitte.
5874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Elke Ferner [SPD]: Aha! Das ist ja mal eine (C)
Bitte schön. Aussage!)
Das heißt, Arbeitslosengeld-II-Beziehern wird auch in
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ Zukunft der Zugang zur Erwerbsminderungsrente, zu so-
DIE GRÜNEN): zialer Rehabilitation und – für langjährig Versicherte –
Herr Weiß, Sie sagen: Zahlen lügen nicht. zur Rente nach Erreichen einer Versicherungszeit von
35 Jahren ermöglicht. Wir sorgen dafür, dass für diejeni-
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): gen, die es am Arbeitsmarkt am schwersten haben, weil
Ja. sie krank oder behindert sind – die zum Beispiel Erwerbs-
minderungsrente beantragen müssen –, auch in Zukunft
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ der Schutz der Rentenversicherung in vollem Umfange
DIE GRÜNEN): erhalten bleibt.
Nun hat die Regierung im Rahmen ihres Sparpakets (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke
beschlossen, Beiträge in Höhe von 1,8 Milliarden Euro Ferner [SPD]: Sie schicken sie im Alter in die
nicht mehr an die Rentenversicherung zu zahlen. Das hat Grundsicherung! – Klaus Ernst [DIE LINKE]:
aber nicht zur Folge, dass die Renten sinken. In den Das war aber nicht die Frage! Die Frage war
nächsten Jahren werden der Rentenversicherung jedes eine ganz andere!)
Jahr Einnahmen in Höhe von 1,8 Milliarden bzw., wenn
man das dazuzählt, was Frau Ferner gesagt hat, über Nun wird, wie ich finde, zu Recht die Frage gestellt:
2 Milliarden Euro fehlen. Welche Konsequenz hat das Ist denn längeres Arbeiten überhaupt möglich, selbst
für die Beitragssätze, und wer zahlt das? Welche Bei- wenn man will?
tragssatzentwicklung sieht die Bundesregierung für die (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Gute
nächsten Jahre? Frage, ja! Schlechte Antwort!)
(Elke Ferner [SPD]: So ist es! Es ist wieder et- Die erste Voraussetzung dafür ist, dass sich in den Perso-
was beschlossen worden, ohne dass man da- nalbüros unserer Betriebe Grundlegendes ändert und es
rüber nachgedacht hat!) älteren Beschäftigten ermöglicht wird, länger zu arbei-
Das heißt doch, dass die Beiträge steigen. Sehe ich das ten. Ich will einige Punkte nennen, wo sich in der Perso-
richtig oder falsch? nalpolitik unserer Betriebe noch Entscheidendes ändern
muss:
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Erstens. Weiterbildung muss über das ganze Berufs-
(B) (D)
Sehr geehrter Herr Strengmann-Kuhn, Beiträgen ste- leben hinweg möglich sein, nicht nur in jüngeren Jahren.
hen eines Tages Ausgaben gegenüber. Das wissen Sie Was die berufliche Weiterbildung anbelangt, gehört
ganz genau. Ich glaube, das Entscheidende ist Folgen- Deutschland im Vergleich zu anderen Industrienationen
des: eher zu den schlechteren Ländern.
Wir sollten erstens feststellen, dass die Deutsche Ren- Zweitens: Gestaltung moderner, gesundheitsgerechter
tenversicherung eine gute Rücklage hat. Arbeitsplätze, weitere Fortschritte bei der Humanisie-
rung der Arbeitswelt,
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Noch! – Klaus Ernst [DIE (Elke Ferner [SPD]: Da sind Sie immerhin
LINKE]: Wollen Sie die aufbrauchen?) schon weiter als Ihre Regierung!)
– Wir wollen sie nicht aufbrauchen, sondern wir wollen, besserer Arbeitsschutz, bessere betriebliche Gesundheits-
dass sie in Zukunft wieder steigt. Sie wird aufgrund der vorsorge und auch die Entwicklung neuer Arbeitsformen,
Krise etwas abnehmen. Wir wollen, dass sie wieder die auf die Erfordernisse eines älteren Arbeitnehmers
steigt. besser eingehen, als das heute der Fall ist. Es muss auch
ein Stück weit zu mehr Flexibilität kommen. Das heißt,
(Elke Ferner [SPD]: 10 Milliarden Euro in
es geht um die Schaffung von Möglichkeiten, gegen Ende
vier Jahren!)
des Berufslebens die Arbeit schrittweise zu reduzieren
Das Zweite ist: Der um 1,8 Milliarden Euro redu- und dafür vorher rechtzeitig Arbeitszeit anzusparen, zum
zierte Bundeszuschuss für die Rente, also Zuschuss aus Beispiel durch Lebensarbeitszeitkonten. Auch ich bin der
Steuermitteln, führt dazu, dass keine entsprechenden Auffassung: Die Perspektive muss nicht unbedingt sein,
Rentenansprüche entstehen. dass man bis zum Renteneintritt 150-prozentig durch-
powert.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau! Weil Sie
den Leuten die Rente klauen!) Damit diese neue Personalpolitik in unseren Betrie-
ben in Gang kommt, hat die Bundesregierung – übrigens
Ich glaube aber, dass für die Arbeitslosengeld-II-Be-
schon zu Zeiten eines sozialdemokratischen Arbeitsmi-
zieher Folgendes entscheidend ist – ich sage jetzt ein-
nisters – eine Reihe von Initiativen gestartet, die ich auf-
mal, was wir machen werden –: Wir werden die Zeiten
zählen möchte:
des Bezugs von Arbeitslosengeld II weiter als Anrech-
nungszeiten in der Rentenversicherung vorsehen und (Elke Ferner [SPD]: Was hat denn diese Bun-
verankern. desregierung gemacht?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5875
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) die Initiative Neue Qualität der Arbeit – INQA –, die Ge- es eine enorme Leistungsverdichtung in den Betrieben. (C)
meinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie, das Pro- Dies hat in den letzten Jahren durch den vermeintlichen
gramm „Perspektive 50 plus“, das wir übrigens im nächs- Wettbewerbsdruck permanent zugenommen.
ten Jahr auf ganz Deutschland ausdehnen wollen, und das
Projekt „Lebenslang gut arbeiten“ des Bundesforschungs- Die Auslastung liegt in vielen Unternehmen inzwi-
ministeriums. schen bei über 95 Prozent. Das bedeutet, dass ein Arbeit-
nehmer bei einer ein- bis zweiminütigen Taktzeit bis
Unternehmen, die an diesen Modellprogrammen teilneh- zum nächsten Takt gerade einmal drei bis sechs Sekun-
men, verzeichnen erstaunlich positive Ergebnisse; etliche den ohne Tätigkeit ist. Diese Auslastungsoptimierung
von ihnen sind in den letzten Jahren als Deutschlands beste bringt die Arbeitnehmer häufig an den Rand ihrer Leis-
Arbeitgeber ausgezeichnet worden. Der Altenbericht der tungsfähigkeit. Zudem gibt es ständige Versuche seitens
Bundesregierung zeigt, dass man mittlerweile in diesen der Unternehmen, die Erholzeiten zu verkürzen.
Personalbüros umgelernt hat. Da wird die Bedeutung des
Erfahrungswissens älterer Arbeitnehmerinnen und Ar- Viele Arbeitnehmer leiden daher unter psychischem
beitnehmer für den wirtschaftlichen Erfolg höher einge- Druck. Erstens kommt dies durch die Leistungsverdich-
schätzt als die Bedeutung der Innovationsfreude der Jün- tung, zweitens durch die oft nicht ausreichende Qualifi-
geren. Deswegen gilt: Eine älter werdende Gesellschaft zierung und drittens auch durch Belastungen des Ar-
verursacht nicht nur Probleme; sie ist auch eine Chance. beitsklimas. Wenn ein älterer Arbeitnehmer nicht mehr
Wir wollen politische Voraussetzungen dafür schaffen, so schnell arbeiten kann, haben die jüngeren Kollegen
dass diese Chance genutzt wird. keine Kapazität mehr, um das auszugleichen. Die Älte-
ren leiden somit auch unter dem Druck ihrer jüngeren
Vielen Dank. Kollegen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind die
Schattenseiten unserer schönen, modernen, hellen und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) durchorganisierten Produktionsstätten.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Josip Juratovic hat jetzt für die SPD-Fraktion das Leider müssen wir feststellen, dass die Arbeitswelt in
Wort. den letzten drei Jahren nicht mehr, sondern weniger al-
(Beifall bei der SPD) tersgerecht geworden ist.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Leider richtig!)
Josip Juratovic (SPD):
Das bedeutet, wir sind noch weit davon entfernt, dass die
(B) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Menschen tatsächlich länger arbeiten können. Deshalb (D)
Damen und Herren! Debatten um die Erhöhung des Ren- klingt „Rente mit 67“ für meine Kollegen wie eine Ren-
teneintrittsalters werden gewöhnlich sehr hitzig, oft lei- tenkürzung.
der auch sehr einseitig geführt. Das Thema ist aber viel
tiefgründiger als allein die Frage, wann wir in die Rente (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Haben
kommen. Vielmehr ist die wichtigste Frage: Wie errei- Sie damals eigentlich zugestimmt? Sie leiden
chen wir das Rentenalter, und können wir von dieser wohl unter temporärer Amnesie!)
Rente anständig leben?
Denn sie wissen, dass sie unter den derzeitigen Arbeits-
Bevor ich in den Deutschen Bundestag kam, habe ich bedingungen nicht bis 67 arbeiten können, auch nicht bis
unter anderem sieben Jahre lang am Fließband gearbei- 65 und oft nicht einmal bis 60. Die Erhöhung des Ren-
tet. Ich war in der Lackiererei eines Automobilunterneh- teneintrittsalters bedeutet für sie somit, dass sie höhere
mens beschäftigt. Auch wenn sich die Arbeit dort inzwi- Abschläge in Kauf nehmen müssen.
schen verändert hat – vieles wurde automatisiert –, weiß
ich, dass ich diese Arbeit aus unterschiedlichen Gründen (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Genau! –
nicht bis zum Alter von 67 hätte verrichten können. So Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist
geht es vielen Arbeitnehmern. es!)

Leider entscheiden die wenigsten Menschen in unse- Meine Damen und Herren, leider werden mittelfristig
rem Land tatsächlich nach freiem Willen darüber, wann noch viele Kolleginnen und Kollegen nicht bis zum ge-
sie in Rente gehen. Wenn sie vorzeitig in Rente gehen, setzlichen Renteneintrittsalter arbeiten können. Deshalb
dann tun sie das nicht, weil sie keine Lust mehr haben, müssen wir politische Maßnahmen ergreifen, zum Bei-
zu arbeiten, sondern sie hören früher auf, weil sie mit spiel die Weiterentwicklung der Altersteilzeit, eine Teil-
dem Leistungsdruck nicht mehr zurechtkommen. rente, gleitende Übergänge in die Rente und einen ver-
besserten Erwerbsminderungsschutz. Erst wenn diese
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Probleme gelöst sind, ist die Rente mit 67 keine Renten-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kürzung, sondern das, was sie sein soll: die Sicherung
der Finanzierung unserer Renten im Hinblick auf den de-
Viele einfache Tätigkeiten sind von den Unternehmen mografischen Wandel und veränderte Erwerbsbiogra-
ausgelagert oder wegrationalisiert worden. Ältere Ar- fien.
beitnehmer haben daher keine Schonarbeitsplätze mehr.
Durch Maßnahmen wie den Kontinuierlichen Verbesse- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
rungsprozess im Quadrat, den sogenannten KVP2, gibt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
5876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Josip Juratovic
(A) Meine Zustimmung zum Gesetzentwurf zur Einfüh- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C)
rung der Rente mit 67 hatte ich 2007 mit einer persönli- DIE GRÜNEN)
chen Erklärung gemäß § 31 GO verbunden. Die Punkte,
die ich in meiner damaligen persönlichen Erklärung auf- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
geführt habe, sind leider aktueller denn je. Jetzt spricht Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
Wir brauchen altersgerechte Arbeitsplätze; darunter (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
fallen die bereits angesprochenen Schonarbeitsplätze, der CDU/CSU)
die möglicherweise auch subventioniert werden müssen.
Wir müssen ab dem 55. Lebensjahr gleitende Übergänge Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
in den Ruhestand ermöglichen; dazu gehören die Alters-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
teilzeit und flexible altersgerechte Arbeitszeiten. Wir
Ich will auf den Ausgangspunkt der Debatte eingehen,
müssen neue Wege im präventiven Gesundheitsschutz
nämlich die Große Anfrage der Linken. Lieber Herr
gehen. Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Krankenkassen
Birkwald, ich glaube, an zwei Stellen gehen Sie ein
müssen Konzepte entwickeln, wie Arbeit am gesündes-
Stück weit von falschen Annahmen und falschen Vo-
ten zu organisieren ist. Bereits bei der Planung müssen
raussetzungen aus. Wir sollten zuerst über die Grundla-
Arbeitsplätze für die leistungsgewandelten und älteren
gen reden, über die wir hier diskutieren.
Arbeitnehmer berücksichtigt und eventuell staatlich ge-
fördert werden. Wenn Sie in Ihrer Großen Anfrage „vor dem Hinter-
grund fortdauernder Arbeitslosigkeit und der schlechten
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Arbeitsmarktsituation Älterer“ schreiben – das haben Sie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE eben noch einmal wortreich ausgeführt –, dann bin ich
GRÜNEN) bei Ihnen, wenn es darum geht, die Situation zu verbes-
Wir müssen Qualifizierungsmöglichkeiten nicht nur, sern. Aber wir müssen feststellen, dass dieser Weg schon
aber auch für ältere Arbeitnehmer schaffen. Und wir beschritten wird; denn es gibt einen kontinuierlichen An-
müssen den Zugang zur Erwerbsminderungsrente si- stieg der Beschäftigung Älterer. Heute gibt es doppelt so
chern. viele 60- bis 65-jährige Beschäftigte wie vor zehn Jah-
ren. Das ist erst einmal eine gute Nachricht; das sollten
Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mir nicht an- wir festhalten.
maßen, für alle Arbeitnehmer in allen Lebenslagen zu
reden. Aber leider haben weder die Betriebe, jedenfalls (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
in den meisten Branchen, noch die Politik die letzten Leider gehen Sie daneben auch beim demografi-
(B) drei Jahre genutzt, um unsere Arbeitswelt altersgerechter schen Wandel ein Stück weit von falschen Vorausset- (D)
zu gestalten. zungen aus, oder Sie verstehen vielleicht die Herausfor-
derungen einfach falsch. Herr Ernst, Sie haben eben
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Davon hatten Sie
gesagt, dass Sie den demografischen Wandel sehr wohl
übrigens zwei Jahre die politische Verantwor-
berücksichtigen. Aber Sie sprechen in dem Papier „Posi-
tung! Was sagen Sie denn dazu?)
tionen zum demografischen Wandel und die Konsequen-
Wir haben das Gesetz, wie gesagt, 2007 beschlossen. In zen für die Linke“ auf Ihrer Homepage von einer „De-
der betrieblichen Realität ist seitdem aber fast nichts mografiekampagne“ des gesamten restlichen Deutschen
geschehen. Wir müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Bundestages, von Schwarz bis Grün, und das sei nur des-
auffordern, zu handeln. Wettbewerb und gute Arbeit halb passiert, um die Menschen vom Sozialabbau zu
müssen in Einklang gebracht werden. Dazu müssen aber überzeugen. Mir scheint, dass Sie die Herausforderung,
auch wir in der Politik handeln. Wir brauchen gesetzli- die Realität, dass sich unsere Gesellschaft wandelt, dass
che und finanzielle Vorgaben, um die Arbeitswelt zu ver- die Menschen älter werden und dabei im Schnitt fitter
ändern. bleiben und dass es mehr Ältere und weniger Jüngere
gibt, einfach nicht verstanden haben. Dass Sie dann nicht
(Beifall bei der SPD) zu guten Schlüssen kommen, verwundert mich nicht.
Kolleginnen und Kollegen, das zeigt, dass es nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
reicht, nur für ein Umdenken zu sorgen, sondern wir bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
müssen nach Modellen suchen, damit die Rente mit 67 NISSES 90/DIE GRÜNEN – Klaus Ernst
keine Rentenkürzung ist. Zurzeit ist das leider die be- [DIE LINKE]: Sagen Sie doch mal was zu
triebliche Realität. Wir müssen unser Handeln daran meinem Argument von vorhin! Sagen Sie
messen lassen, dass die Menschen gesund in Rente ge- doch mal was Neues!)
hen können und dass sie von der Rente anständig und in
Würde leben können. Übrigens, Herr Kolb, das war das Die Herausforderung besteht darin, dass wir die
Ziel von Arbeitsminister Franz Müntefering. Darauf Sozialsysteme – es ist gut, dass das eingeleitet wurde –
werden wir im anstehenden Bericht der Bundesregie- umbauen müssen. So haben wir zum Beispiel bei der
rung, der durch die Revisionsklausel nötig ist, sehr ge- Rente eine kapitalgedeckte Säule eingeführt. Natürlich
nau achten. musste auch das Renteneintrittsalter erhöht werden.
Wenn die Menschen älter werden und dabei fitter blei-
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und eine erhol- ben – es geht nicht um diejenigen, die heute alt sind,
same Urlaubszeit. sondern zum Beispiel um meine Generation –, dann ist
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5877
Johannes Vogel (Lüdenscheid)
(A) es ganz logisch, dass sie länger arbeiten müssen. Wir wenn etwas richtig gelaufen ist. Das wird die Menschen (C)
müssen dann natürlich dafür sorgen, dass die Menschen nicht überzeugen.
auch Jobs in den Unternehmen bekommen. Die Heraus-
forderung für uns in der Politik besteht deshalb darin, Vielen Dank.
mehr für lebenslanges Lernen sowie für Weiterbildung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf
und Qualifikation zu tun. Daher ist der erste Schritt, die von der LINKEN: Kehrt um und tut Buße!)
jahrzehntelange Kultur der Frühverrentung zu beenden.
Wir haben die Regelung betreffend die geförderte Al-
tersteilzeit auslaufen lassen, weil sie zu Frühverrentun- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
gen geführt hat. Das ist der richtige Schluss. Für die Unionsfraktion hat der Kollege Frank
Heinrich das Wort.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es tut sich aber auch schon etwas in der Wirtschaft.
Nach einer Umfrage des IW wandelt sich die Einstellung
Frank Heinrich (CDU/CSU):
der Führungskräfte in den Unternehmen gegenüber älte-
ren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Herausforde- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
rung ist, diesen Weg fortzusetzen. Man darf nicht, wie und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mein
Sie, Herr Ernst, es wollen, zu einer Politik der Frühver- Kollege Weiß hat es vorhin gesagt: Es ist keine Stich-
rentung zurückkehren. Das ist rückwärtsgewandt. Ich tagsregelung, aber es gibt einen Jahrgang, für den die
habe mich sehr gefreut, dass aus der Opposition auch Regelung am Schluss erstmalig gilt. Ich habe nicht nur
Herr Strengmann-Kuhn für die Grünen ausgeführt hat, in meiner Stadt, sondern, ich vermute, auch deutschland-
dass wir den Weg, den wir eingeschlagen haben, weiter- weit genau das Durchschnittsalter der Deutschen. Ich bin
gehen müssen. Ich sage für meine Fraktion: Wir müssen einer aus diesem Jahrgang 1964,
es flexibler machen. – Herr Ernst, wollen Sie eine Zwi- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Aha!)
schenfrage stellen?
und ich werde damit zu den Ersten gehören, die in den
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja, gerne!) Genuss der 67-Jahre-Regelung kommen.
– Bitte, gern. Ich bin ein Stück weit froh darüber; denn ich halte das
auch für ein Signal. Ich halte das für ein Signal nicht nur
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dafür, dass ich erst mit 67 Jahren in Rente gehe, sondern
Herr Kollege, das geht nicht, wenn Ihre Redezeit be- auch dafür, dass ich eine Chance bekomme, zu arbeiten,
(B) reits vorbei ist. Es war aber einen Versuch wert. bis ich 67 Jahre alt bin. Herr Juratovic hat es gesagt: Ja, (D)
wir müssen Bemühungen hinsichtlich der zukünftigen
(Heiterkeit) Arbeitsgestaltung unternehmen. – Vorhin wurde aber
auch gesagt, dass es erst in 20 oder 25 Jahren so weit ist,
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): je nachdem, wen es wann trifft. Ich sage: Ich bin ein
Herr Ernst, es tut mir sehr leid, aber ich freue mich Stück weit stolz darauf, dass wir jetzt damit anfangen,
auf eine Kurzintervention. das zu planen. Es ist ja nicht so, dass wir das in den
nächsten Jahren einfach vernachlässigen werden.
(Heiterkeit)
Ich gehöre diesem Jahrgang an, und ich bin einver-
Darf ich noch einen Satz zur SPD zu Ende ausführen? standen mit dieser Regelung; ich bin sogar froh darüber.
Der Kollege Schaaf hat uns eben vorgeworfen, die FDP Durch viele Studien wird belegt, dass sich unsere Gesell-
selber habe die Politik der Frühverrentung in den 90er- schaft schon im Wandel befindet. Herr Kolb, Sie haben
Jahren vorangetrieben. Herr Kolb hat darauf hingewie- das gesagt: Die Leute haben verstanden, dass sie sich da-
sen – rauf einstellen müssen. – Das gilt auch für die Betriebe.
Ich höre es eigentlich nicht so gerne, dass sich die Be-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: triebe nicht umstellen. Das ist nicht wahr.
Herr Kollege!
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: 80 Prozent sehen
das anders! Sie sehen das nicht so wie Sie!)
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
– das ist der letzte Satz –, In meinem Umfeld sind die Betriebe aufmerksam ge-
worden, und sie haben ja auch noch ein bisschen Zeit,
sich umzustellen, nämlich so lange, bis diese Regelung
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: greift.
Schon wieder.
Man sollte nicht polemisch über dieses Thema reden,
also nicht mit plakativen Formeln, wie ich sie auch in
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
vielen Fragen dieser Großen Anfrage gesehen habe.
– dass wir diese Politik auch beendet haben. Wenn
man sich anschaut, wie Sie mit dem Thema Rente mit 67 (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die Antworten
umgehen, dann erkennt man den Unterschied: Wir keh- sind von der Bundesregierung und nicht von
ren um, wenn etwas falsch gelaufen ist. Sie kehren um, uns! – Paul Lehrieder [CDU/CSU], an den
5878 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Frank Heinrich
(A) Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] gewandt: cherung nachhaltig sicherzustellen; Herr Weiß hat das (C)
Aber die Fragen waren von euch! Zuhören!) sehr deutlich gemacht.
Ich habe gemerkt: Wenn ich in der Auseinandersetzung Ich möchte, weil ich aus diesen neuen Bundeslän-
mit Bürgern mehrere Sätze dazu sagen und ihnen erklä- dern komme, noch einmal ein paar Daten in den Fokus
ren kann, warum das sein muss, dann ist in unserem Volk stellen, die hier noch gar nicht genannt worden sind. Die
sehr schnell eine breite Zustimmung und ein Verständnis Antworten der Bundesregierung auf die Große Anfrage
für diese Regelung vorhanden. sind sehr deutlich. Ich war überrascht und vermute, dass
sie auch den einen oder anderen im Hause überrascht ha-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
ben: Es gibt eine sehr positive Entwicklung bei den älte-
der SPD – Klaus Ernst [DIE LINKE]:
ren sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, insbe-
80 Prozent lehnen sie ab! Nehmen Sie das
sondere in Ostdeutschland.
doch einmal zur Kenntnis!)
– 80 Prozent lehnen sie ab, wenn sie nur plakativ gefragt Von Juni 2005 bis Juni 2009 war eine Steigerung in
werden, wie Sie das sehr oft auch tun. dieser Altersgruppe der sozialversicherungspflichtig Be-
schäftigten um 28,6 Prozent zu verzeichnen; in den
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neuen Bundesländern waren es 38,3 Prozent. Der An-
neten der FDP) stieg ist zu knapp zwei Dritteln auf Vollzeitbeschäfti-
Wir haben es – das haben wir jetzt schon zuhauf ge- gung zurückzuführen.
hört – mit sehr groben und starken gesellschaftlichen Zudem ist ein überproportionaler Anstieg der sozial-
Veränderungen zu tun; das ist hier im Haus in vielen versicherungspflichtigen Beschäftigung in den letzten
Debatten klargeworden. Das ist aber auch schon dem vier Jahren zu verzeichnen. Der Grund dafür ist der An-
Volk klargeworden, und viele bemühen sich und sind da- stieg der Beschäftigung älterer Bürger. Der Bevöl-
bei, Umstellungen zu treffen. kerungsanteil der Beschäftigten in der Altersgruppe der
Ich habe ein Problem damit, dass hier immer von Ver- 55- bis 65-Jährigen ist in Deutschland um 7 Prozent ge-
greisung und Überalterung gesprochen wird. Ein Kol- stiegen. In den neuen Bundesländern sind es 10 Prozent.
lege von mir aus dem Wahlkreis hat einmal gesagt: Wir Wow, kann ich dazu nur sagen.
sollten das umformulieren und von Entjüngung spre- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
chen, damit das Problem einfach ein Stück weit anders der FDP)
wahrgenommen wird. – Das Diskussionsklima gefällt
mir an dieser Stelle manchmal überhaupt nicht. Wir erleben gerade eine grundlegende Veränderung.
Viele der gegebenen Antworten – ich bitte, die in der
(B) Es gibt eine Zahl, mit der der Hintergrund ein biss- Großen Anfrage gestellten Fragen noch einmal nachzu- (D)
chen beschrieben werden kann: Die Bevölkerungszahl in lesen – zeigen, dass die Entwicklung genau in diese
diesem Altersbereich – 55 bis 65 Jahre – wird deutsch- Richtung weist.
landweit um 1 Million steigen. In den neuen Bundeslän-
dern, aus denen ich komme, wird sie aber sinken. Eine Zahl noch: Die jährliche Erhöhung der Zahl der
Leistungsberechtigten auch in Bezug auf die Grund-
Genau aufgrund dieser regionalen Unterschiede, die sicherung geht absolut und prozentual kontinuierlich zu-
ja nicht nur in diesem Bereich deutlich werden, brauchen rück, auch wenn offensichtlich ein gegensätzlicher Ein-
wir die heute genannte Flexibilität umso mehr. Wir kön- druck erzeugt wird. Die Regierung arbeitet darauf hin,
nen nicht einfach nur einen Strich über alle ziehen, so- im November eine Kommission einzusetzen, die sich
dass alle gleich sind, sondern wir müssen die Chancen mit dem Thema Altersarmut beschäftigt.
für mehr Flexibilität schaffen.
Der Arbeitsmarkt im Osten ist von einem Ungleich-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gewicht zwischen einem hohen Arbeitsangebot und un-
In diesem Sinne habe ich auch das gehört, was Sie, Herr zureichender Nachfrage nach Arbeit geprägt. Laut IAB
Juratovic, gesagt haben. Wir müssen gemeinsam daran geht die Differenz zwischen dem Arbeitskräfteangebot
arbeiten, um das zu erreichen; hier haben wir noch ein und der Nachfrage nach Arbeit in den neuen Bundeslän-
Stück Wegstrecke vor uns. dern in den nächsten 15 Jahren sehr stark zurück.
Durch die Antworten wird gezeigt, ohne jetzt auf Für die Schaffung alters- und alternsgerechter
viele einzelne Fragen und Antworten sowie Zahlen ein- Arbeitsplätze sind allerdings – damit komme ich noch
zugehen, die hier genannt wurden: einmal auf einen meiner Vorredner zurück – weitere An-
strengungen nötig. Wir müssen Grips investieren, um
Der Hauptgrund eins für die Regelung ist – Herr dabei zu einer größeren Flexibilität zu kommen. Darin
Fuchtel hat ganz am Anfang der Debatte darauf hinge- stimme ich Ihnen völlig zu.
wiesen –, dass dies eine wichtige rentenpolitische Maß-
nahme ist, um die gesetzlichen Beitrags- und Niveausi- (Elke Ferner [SPD]: In Grips investieren bei
cherungsziele einhalten zu können. dieser Bundesregierung ist ein Widerspruch in
sich!)
Der Hauptgrund zwei dafür ist, dass mit dieser Rente
mit 67 dazu beitragen wird, in einem ausgewogenen Ver- Die Einstellung älterer Arbeitnehmer, der 50- bis
hältnis zwischen den Generationen die finanzielle 65-Jährigen, ist seit dem ersten Halbjahr 2005 deutsch-
Grundlage und die Leistungsfähigkeit der Rentenversi- landweit um 9 Prozent und um 13 Prozent in den neuen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5879
Frank Heinrich
(A) Bundesländern gestiegen. Die kleinen und mittleren Be- Frank Heinrich (CDU/CSU): (C)
triebe sind besonders stark daran beteiligt, dass diese Die entscheidenden Begriffe sind: Generationenge-
Menschen eingestellt werden. Ein Problem dabei ist, rechtigkeit und die Notwendigkeiten von Arbeitsmarkt
dass sich immer noch Bewerbungen von Älteren vor al- und Sicherungssystemen.
lem bei kleinen und mittleren Betrieben aufstauen, ob-
wohl bereits ein Großteil der Neueinstellungen auf diese Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Bewerber entfallen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Viele Unternehmen nutzen aber schon heute das Wis-
sen und schätzen die Fähigkeiten der über 50-Jährigen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das wurde mir von begeisterten Wirtschaftsleuten als Damit schließe ich die Aussprache.
auch von Menschen berichtet, die dieser Altersgruppe Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 35 a und 35 b
angehören, zu der ich in wenigen Jahren selber zähle. auf:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
der FDP) CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittel-
In den kleinen und mittelständischen Unterneh- marktes in der Gesetzlichen Krankenversiche-
men gibt es einen deutlichen Bewusstseinswandel. Ich rung (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz –
komme aus einer Region, die ganz stark davon geprägt AMNOG)
ist. Frau von der Leyen wird immer wieder mit ihrer Be-
wertung dieses Teils unserer Gesellschaft zitiert, die – Drucksache 17/2413 –
Potenziale darstellen, die wir abrufen können. Ich bin Überweisungsvorschlag:
sehr zuversichtlich, dass wir durch Fortbildung und Um- Ausschuss für Gesundheit (f)
stellung der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik Innenausschuss
Rechtsausschuss
noch weit mehr erreichen können. Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Sie haben in vielen der Fragen die zehn wichtigsten Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Bereiche angesprochen, in denen Beschäftigung auch für Verbraucherschutz
diese Altersgruppe gesucht wird. Vorgestern las ich in ei- Ausschuss für Arbeit und Soziales
ner Hamburger Zeitung von einer Liste genau solcher b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
zehn Bereiche. Sechs dieser Top 10 sind Berufsgruppen, Vogler, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weite-
(B) in denen Menschen bis 67 und viele sogar noch länger rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (D)
arbeiten möchten. Da wird krampfhaft gesucht.
Für ein modernes Preisbildungssystem bei
Ich komme zum Schluss. Sie sagen, ich sei einer der Arzneimitteln
wenigen, die zuversichtlich sind. Ich glaube tatsächlich,
dass wir auf einem guten Weg sind und entsprechende – Drucksache 17/2324 –
Weichen gestellt wurden und dieses Jahr noch gestellt Überweisungsvorschlag:
werden. Wir müssen erstens aufmerksam bleiben und, Ausschuss für Gesundheit (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
um dieser Altersgruppe tatsächlich gerecht zu werden,
entsprechende alters- und alternsgerechte Arbeitsplätze Verabredet ist es, hierzu eine Dreiviertelstunde zu de-
schaffen bzw. in sie investieren. Zweitens müssen wir battieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch,
mit Blick auf Weiterbildungsmaßnahmen für Ältere auf- dann ist das so beschlossen.
merksam werden. In diesem Zusammenhang nenne ich
wieder das Wort „Flexibilität“ – aber nicht nur Flexibili- Ich gebe das Wort dem Bundesminister Dr. Philipp
tät des Staates, sondern auch des Bürgers und der Wirt- Rösler.
schaft. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:


Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Ende. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordnete! Das Gesetz zur Neuordnung des
Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversi-
Frank Heinrich (CDU/CSU): cherung hat drei wesentliche Ziele und enthält eine
Ja, ich komme jeden Moment zum Ende. große politische Botschaft.
Ich wünsche mir, dass wir es dann schaffen – so wie Das erste Ziel ist: Wir wollen den Zugang der Patien-
bei der Staffelung bei der Rente mit 67 –, nach und nach tinnen und Patienten zu den bestmöglichen Medikamen-
die Einzelbedingungen zu regeln. ten auch in Zukunft garantieren und sicherstellen. Das
zweite Ziel ist: Wir wollen die damit einhergehenden
Kosten besser kontrollieren als bisher. Das dritte Ziel ist:
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir wollen den Mittelstand stärken. Forschung soll auch
Herr Kollege! hier weiterhin möglich sein. Wir leisten damit unseren
5880 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) Beitrag zu Wachstum und Beschäftigung auch und ge- Der Gesetzentwurf zeigt die unterschiedliche Art und (C)
rade in der Gesundheitswirtschaft. Weise, mit der wir an mögliche Einsparungen in der ge-
setzlichen Krankenversicherung herangehen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir müssen unseren Versicherten finanzielle Mög-
Darüber hinaus wird mit diesem Gesetz die Unabhän- lichkeiten eröffnen. Das tun wir durch den Herstellerra-
gige Patientenberatung dauerhaft gesetzlich abgesichert – batt und das Preismoratorium. Das wurde teilweise
auch, aber nicht nur im Arzneimittelbereich. Trotzdem schon mit dem GKV-Änderungsgesetz beschlossen. Wir
gehört gerade die Unabhängige Patientenberatung in die- beschränken uns aber nicht alleine darauf, Kostendämp-
sen Gesetzentwurf mit hinein. Denn dies führt uns zu der fungsmaßnahmen auf den Weg zu bringen, sondern wir
entscheidenden Botschaft dieses Gesetzes, das zwar kommen zu echten, strukturellen Verbesserungen; denn
technisch klingt, aber am Ende den Patientinnen und Pa- erstmalig gibt es Vertragsverhandlungen, also ein markt-
tienten nützt und die Versicherten entlastet. Deswegen, wirtschaftliches Instrument, um zu vernünftigen und
meine Damen und Herren, können wir hier festhalten: fairen Preisen zu kommen. Es zeigt, dass wir es ernst
Dieses Gesetz ist gut für die Menschen in der gesetzli- meinen, wenn wir sagen, dass wir den Leistungsanbie-
chen Krankenversicherung in Deutschland. tern – übrigens in allen Bereichen – nicht immer mehr
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Geld bieten können. Manchmal müssen wir ihnen sogar
Geld nehmen, wie jetzt aktuell im Bereich der Pharma-
Wir werden all die angepeilten Ziele erreichen. Künf- industrie. Dafür bekommen sie aber am Ende ein faires
tig wird im ersten Jahr die Vollerstattungsfähigkeit er- System, auf das sie sich dauerhaft werden verlassen kön-
halten bleiben – aber eben nicht mehr über die gesamte nen.
Patentlaufzeit von 20 Jahren. Erstmalig und neu ist in
diesem Gesetz geregelt, dass die Industrie neben dem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
neuen Medikament immer auch Studien mit vorlegen
Damit erreichen wir das Ziel. Die Menschen werden
muss, die den Nutzen oder gegebenenfalls Zusatznutzen
auch künftig die bestmöglichen Medikamente gegen die
wissenschaftlich belegen. Diese Studien werden dann
großen Volkskrankheiten – Herz-Kreislauf-Erkrankun-
von unabhängiger Stelle, nämlich vom Gemeinsamen
gen, Diabetes, Demenz und Krebs – bekommen, und
Bundesausschuss, überprüft werden. Meine Damen und
gleichzeitig wird es besser als bisher gelingen, die Kos-
Herren, wenn die Industrie will, dass ihre Medikamente
ten im Interesse der Versicherten im Griff zu behalten.
auch weiterhin bezahlt werden, dann ist sie es den Men-
Ich freue mich auf eine angeregte Debatte und bitte um
schen auch schuldig, solche Studien mit vorzulegen.
Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Wir gehen sogar noch einen Schritt weiter: Wir ver-
(B) langen auch die Vorlage von Studien, die abgebrochen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (D)
wurden, also nicht nur von positiven, sondern auch von (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
negativen Studien. Das, meine Damen und Herren, ist im
Interesse der Menschen in der gesetzlichen Krankenver-
sicherung. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat der Kollege Karl Lauterbach für die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) SPD-Fraktion.
Diese Studien werden dann die Grundlage für Ver- (Beifall bei der SPD)
tragsverhandlungen zwischen der Industrie und der ge-
setzlichen Krankenversicherung sein. Erstmalig in der
Geschichte ist es damit gelungen, das Preismonopol der Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Industrie zu brechen. Wir werden damit zu Einsparungen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
im gesamten Arzneimittelbereich von annähernd Zunächst einmal will ich mit einem Lob für den besten
2 Milliarden Euro kommen. Das zeigt, dass wir durch Teil dieses Gesetzes einsteigen, mit dem ich, ehrlich ge-
dieses Gesetz die Versicherten finanziell werden entlas- sagt, nicht gerechnet hatte. Das verbinde ich mit einem
ten können. persönlichen Dank an Sie, Herr Zöller. Die Unabhängige
Patientenberatung ist in einer Art und Weise im Gesetz
Das zeigt auch, dass die gesamte Diskussion, die wir verankert, wie ich es bei meiner letzten Plenumsrede zu
in der letzten Woche geführt haben, mit dem vorliegen- diesem Thema nicht für möglich gehalten hätte. Sie ha-
den Gesetzentwurf zusammenhängt. Im Übrigen haben ben sich durchgesetzt. Dafür muss man ein anerkennen-
wir von Ihnen bisher im Bereich der gesamten gesetzli- des Wort haben. Mein Dank gilt auch im Namen meiner
chen Krankenversicherung herzlich wenige Sparvor- gesamten Fraktion.
schläge gehört.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(Elke Ferner [SPD]: Sie sind doch in der
Regierung!) Das ist eine ordentliche Leistung, und die muss aner-
kannt werden.
– Trotzdem dürfen Sie das Wort ergreifen und Vor-
schläge machen. – Leider kann ich dieses Lob nicht auf die restlichen
90 Prozent des Gesetzentwurfs ausdehnen.
(Elke Ferner [SPD]: Das ist aber nett von
Ihnen!) (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5881
Dr. Karl Lauterbach
(A) Das ist keine Kleinkariertheit, und das ist auch keine durchzusetzen, wozu wir nie den Mut hatten, nämlich (C)
Missgunst. Ich will die Ablehnung begründen. Zunächst die Kosten-Nutzen-Analyse.
einmal ist es sehr gut und angemessen, dass dem Minis-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
ter selbst sein eigener Gesetzentwurf gefällt; aber dieser
erntet das Lob nicht in Fachkreisen und auch nicht in – Sie müssten eine Sekunde nachdenken. – Die Kos-
den Medien. Weshalb ist das so? Die zentralen Schwä- ten-Nutzen-Analyse ist doch schon jetzt, während wir
chen dieses Gesetzentwurfs liegen auf der Hand. sprechen, Gesetz.
Im ersten Jahr nach der Zulassung werden Preisver- (Jens Spahn [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)
handlungen mit dem Spitzenverband der Krankenkassen
Sie schwächen ein bestehendes Gesetz und verkaufen
geführt. Sie haben überhaupt keine Möglichkeit, auszu-
das dann als einen Neubeginn. Die Kosten-Nutzen-Ana-
schließen, dass die zu erwartenden Preisabschläge, wenn
lyse ist nicht so oft angewandt worden, wie man es hätte
sie jemals kommen, vorher aufgeschlagen werden.
tun müssen; das ist ganz klar. Das war auch deshalb so,
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) weil der dafür zuständige Institutsleiter, Herr Sawicki,
ständig Druck von den Lobbygruppen bekommen hat.
Daher sprechen mittlerweile die Fachpresse und auch
Anstatt ihn darin zu unterstützen, diesem Druck standzu-
zum Beispiel die Leiterin des Referats Arzneimittel im
halten, haben Sie ihn gefeuert. Damit haben Sie ein ganz
AOK-Bundesverband, Frau Beckmann, vom Teppich-
klares Signal gegen die Kosten-Nutzen-Analyse gesetzt.
händlereffekt. Es wird so gehandelt werden wie bei den
Das ist doch die Wahrheit.
Teppichhändlern. Sie mögen das nicht gerne hören, aber
es ist tatsächlich so. Sie werden nachher bemüht sein, (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Heinz
den Aufschlag, der jetzt erhoben wird, wieder herunter- Lanfermann [FDP]: Eine Märchenstunde
zuhandeln. Ich sage Ihnen: Wir werden ein Jahr lang hö- hier!)
here Preise als sonst haben, und danach werden wir die
Sie, Minister Rösler, sind doch immer gegen die
normalen Preise haben. Das endet letztendlich mit Mehr-
vierte Hürde gewesen. Ich könnte jetzt zitieren, wie Sie
kosten, und Sie werden keinerlei Einsparungen erzielen.
als zuständiger niedersächsischer Wirtschaftsminister
(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Heinz gegen die vierte Hürde polemisiert haben.
Lanfermann [FDP]: Er hat das System über-
(Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist doch kein
haupt nicht verstanden! – Gegenruf der Abg.
Galopprennen hier!)
Elke Ferner [SPD]: Sie haben das überhaupt
nicht verstanden!) Sie können doch nicht behaupten, dass Sie hier etwas
durchgesetzt haben, was durchzusetzen wir uns nicht ge-
(B) – Es wäre das erste Mal, dass ich von Ihnen, Herr (D)
traut haben. Die Wahrheit ist: Es war schon Gesetz; Sie
Lanfermann, in dieser Hinsicht Nachhilfe beziehen
sind damals dagegen gewesen. Sie haben jetzt eine abge-
könnte.
schwächte Version durchgesetzt, wodurch zum Schluss
(Heiterkeit bei der SPD – Zurufe von der FDP: kein einziger Euro gespart wird.
Oh! – Heinz Lanfermann [FDP]: So lange Sie
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
nicht verstehen, kann ich Ihnen nicht helfen!)
LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Er ver-
Was ist denn zusätzlich zu erwarten? Sie haben da- steht es nicht! Hoffnungsloser Fall! – Lars
rüber hinaus noch mit erheblichen Mengensteigerungen Lindemann [FDP]: Märchenstunde!)
und mit einer Ausweitung der Indikationen zu rechnen.
– Das ist keine Märchenstunde. Die Kosten-Nutzen-
Sie haben im gleichen Gesetzentwurf die Richtgrößen-
Analyse ist Gesetz. Sie wird jetzt abgeschwächt.
prüfung geschwächt, und durch eine Schwächung der
Richtgrößenprüfung müssen Sie mit einer Ausweitung (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wir er-
der Menge und einer Ausweitung der Indikationen rech- weitern durch den Zusatznutzen!)
nen. Somit kommt es zunächst einmal zu einer Auswei-
Wir werden uns hier in einem Jahr noch einmal spre-
tung der Indikationen und der Menge bei steigenden
chen. Ich sage voraus: Es wird keine Einsparungen ge-
Preisen. Im ersten Jahr haben Sie ja gar nichts in der
ben.
Hand. Sie müssen überlegen, was das bedeutet. Ich wie-
derhole: Im nächsten Jahr müssen Sie mit steigenden Darüber hinaus führen Sie hier eine IGeL-Leistung
Preisen, mit einer Ausweitung der Menge und einer Aus- bei den Arzneimitteln ein. Die von Ihnen hier einge-
weitung der Indikationen rechnen. Der eingeschlagene führte Mehrkostenregel wird darauf hinauslaufen, dass
Weg wird zu Mehrkosten führen. Um das zu erkennen, der Versicherte demnächst nur noch die Basiskom-
sind wir doch lange genug im Geschäft. Das ist doch ponente, das Rabattmedikament – unabhängig davon, ob
kein Spargesetz. es erhältlich ist oder nicht – erstattet bekommt und die
komplette Preisdifferenz zuzahlen muss. Das wird Ihnen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Elke
auf die Füße fallen. Der Apotheker wird nämlich immer
Ferner [SPD]: Macht nichts, das geht alles in
sagen: Herr Rösler ist schuld, dass Sie die Kosten für das
die Kopfpauschale!)
Medikament, das Sie jetzt eigentlich brauchen, nicht
Ich will einer Legende vorbeugen, die Herr Spahn mehr erstattet bekommen. Genauso wird es sein. Jeder
gleich wieder verbreiten wird. Herr Spahn wird gleich Apotheker wird sagen: Dieses Medikament kann ich Ih-
wieder argumentieren, dass diese Koalition wagt, etwas nen leider nicht mehr kostenlos geben; da müssen Sie
5882 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Dr. Karl Lauterbach


(A) sich bei Herrn Rösler bedanken; wenn Sie dieses Medi- Ich freue mich jedenfalls schon auf den Tag, an dem Sie (C)
kament haben möchten, müssen Sie die Mehrkosten tra- hoffentlich so ehrlich sind, wie Sie es heute im Hinblick
gen. Die Zuzahlung kann 10 oder sogar 15 Euro betra- auf die Unabhängige Patientenberatung dankenswerter-
gen. – Erinnern Sie sich an meine Worte! Bei jeder weise gewesen sind.
Gelegenheit wird man sagen: Bedanken Sie sich bei
Herrn Rösler oder tragen Sie die Mehrkosten; wir kön- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nen Ihnen nur noch das billigste Rabattmedikament ver- Am Ende – das wissen Sie – treffen wir heute nämlich
kaufen. – Sie versuchen das als eine Stärkung der Kun- eine fast schon historische Entscheidung; denn damit er-
den darzustellen. folgt ein Paradigmenwechsel in der Frage der Arzneimit-
telpreisfindung in Deutschland. Bisher konnten die Arz-
Ich will Sie hier noch ein letztes Mal daran erinnern:
neimittelunternehmen nach der Zulassung für die Zeit
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Versprochen?) des Patentschutzes den Preis des Medikamentes im
Grunde frei – Himmel nach oben offen, pflege ich im-
Der kranke ältere Mensch, der Medikamente nicht beur- mer zu sagen – bestimmen.
teilen kann, bedarf der Fürsorge. Er ist kein Kunde. Er
kann nicht bewerten, ob er abgezockt wird oder ob es Sie haben lange davon geredet – auch während Ihrer
sich wirklich um unterschiedliche Medikamente handelt. Regierungszeit;
Fangen Sie an, den mündigen Kunden im Gesundheits- (Mechthild Rawert [SPD]: Sie waren nicht da-
system einzuführen! Mündig ist der Kunde dann, wenn bei?)
er sich zwischen der privaten und der gesetzlichen Kran-
kenkasse entscheiden kann. Schützen Sie nicht die Sie haben ja über ein Jahrzehnt die Gesundheitsministe-
Klientel und machen Sie nicht ausgerechnet den kran- rinnen in diesem Land gestellt –, dass dieser Zustand
ken, armen älteren Menschen zum Spielball der Interes- nicht so bleiben kann. Jetzt sind Sie doch ein Stück weit
sen der Apotheker und der Pharmaindustrie. erschrocken darüber,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Ulrike Flach [FDP]: Ja, das merkt man der
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Heinz Rede an! – Elke Ferner [SPD]: Wo waren Sie
Lanfermann [FDP]: Das war nicht so toll, Herr die letzten vier Jahre, Herr Spahn?)
Lauterbach! Wirklich nicht!) dass es gerade eine christlich-liberale Koalition ist, von
der Sie das vielleicht am wenigsten erwartet hätten, die
Vizepräsidentin Petra Pau: diese strukturelle Frage nun endlich angeht und einer
Das Wort hat der Kollege Jens Spahn für die Unions- Lösung zuführt, die dem Ziel dient, den direkten Zugang
(B) fraktion. zu Innovation und neuen Medikamenten für die Patien- (D)
ten aufrechtzuerhalten, und gleichzeitig dafür sorgt, dass
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und das Ganze bezahlbar ist und in einem angemessenen
der FDP) Verhältnis steht.
Sie haben jahrelang davon geredet. Nichts ist passiert.
Jens Spahn (CDU/CSU):
Wir regieren erst wenige Monate und legen heute schon
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! etwas Konkretes vor. Das ist effektive Arbeit, liebe Kol-
Wir beschäftigen uns zum dritten Mal in dieser Woche leginnen und Kollegen.
mit Gesundheitspolitik. Erstmals wird konstruktiv ge-
handelt – zuvor gab es viel Gemeckere, etwa in der Ak- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La-
tuellen Stunde –: Heute legen wir einen Gesetzentwurf chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE
vor, in dem die Neuordnung des Arzneimittelmarktes ge- GRÜNEN)
regelt wird. Auch in anderen Bereichen findet übrigens ein Para-
Lieber Herr Kollege Lauterbach, auch wenn wir uns digmenwechsel statt. Jenseits des kurzfristigen Sparens
freuen, dass Sie das, was bei der Unabhängigen Patien- geht es um strukturelle Veränderungen.
tenberatung gelungen ist, anerkennen – Sie selbst sagen, Herr Kollege Lauterbach, Sie haben die Kosten-Nut-
dass Sie das falsch eingeschätzt haben –, sage ich Ihnen zen-Bewertung erwähnt. Sie wissen genauso gut wie ich,
voraus, dass Sie spätestens in einem Jahr hier stehen dass die Kosten-Nutzen-Bewertung in keinem einzigen
werden und sagen müssen, dass Sie sich geirrt haben, europäischen Land Grundlage für die Preisfindung ist.
dass all das, was Sie prognostiziert haben, nicht eingetre- Auch in Deutschland wäre sie das am Ende nie wirklich
ten ist, gewesen; denn sie hat nicht funktioniert.
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das ist ausge- Es ist richtig, hier zur Nutzenbewertung zu kommen,
schlossen, Herr Spahn!) also zu schauen, wie viel besser ein neu auf den Markt
sondern dass wir – im Gegenteil – eine langfristig wir- kommendes Arzneimittel im Vergleich zu den bereits auf
kende Strukturvereinbarung im Arzneimittelbereich zu- dem Markt vorhandenen Therapiealternativen ist. Dann
stande gebracht haben. soll zwischen dem Spitzenverband Bund der Kranken-
kassen und dem entsprechenden pharmazeutischen Unter-
(Mechthild Rawert [SPD]: Bis dahin wird es nehmen verhandelt werden. Es gibt also keine staatlich
teuer für die Patienten!) festgesetzten Preise, sondern Verhandlungslösungen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5883
Jens Spahn
(A) Unterschätzen Sie bitte auch nicht den Intellekt der Glauben Sie denn nicht, dass es der zentrale (C)
Krankenkassen in Bezug darauf, wie sie in diese Ver- Schwachpunkt dieses Vorschlags ist, dass Sie sich allein
handlungen gehen. Natürlich wird auf Basis des Dos- auf das verlassen müssen, was das Unternehmen Ihnen
siers, also der Frage, wie viel mehr Nutzen das neue Me- hier vorschlägt?
dikament im Verhältnis zur Therapiealternative hat, über
den Preis verhandelt werden – und nicht, wie Sie es im- Jens Spahn (CDU/CSU):
mer darstellen wollen, im Sinne von Teppichhändlerrun-
den. Hier werden mit Schiedsverfahren – wir haben auch Lieber Herr Kollege Lauterbach, zum Ersten muss
Konfliktlösungsmechanismen eingebaut – vernünftige sich niemand allein auf das verlassen, was das Unterneh-
Preise gefunden. men vorschlägt. Ich finde es aber nur fair, das Unterneh-
men nachweisen zu lassen – das ist auch die Verantwor-
Wir wollen Vertragslösungen. Wir wollen keinen tung des Unternehmens; im Übrigen erfolgt dieser
staatlichen Dirigismus. Das mag Ihnen nicht gefallen. Nachweis natürlich auf eigene Kosten –, welchen zu-
Zumindest wir halten das aber für die bessere Lösung. sätzlichen Nutzen das eigene Medikament denn tatsäch-
lich hat.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Auch da haben Sie übrigens jahrelang geredet; der
Im Übrigen beinhaltet das Ganze auch eine wichtige Minister hat schon darauf hingewiesen. Wir schaffen
gesellschaftliche Debatte. Einen Aspekt blenden Sie jetzt endlich eine Pflicht zur Veröffentlichung aller Stu-
nämlich immer völlig aus. Es geht natürlich darum, dass dien, der positiven wie der negativen. Während Sie jah-
die Pharmaunternehmen auch die Chance haben, für et- relang nur geredet haben, tun wir es jetzt.
was, was tatsächlich eine Innovation ist – denken Sie nur
an Demenz; wie froh wären wir, wenn es endlich ein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke
Medikament gegen diese Geißel gäbe – – Ferner [SPD]: Wir hätten das Gesetz vier Jahre
lang machen können, wenn Sie mitgemacht
hätten!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Damit würde diesem Punkt, der ja lange gefordert wird,
Kollege Spahn, gestatten Sie eine Frage des Kollegen
auch Rechnung getragen.
Lauterbach?
Die entscheidende Herausforderung, auch in der ge-
Jens Spahn (CDU/CSU): sellschaftlichen Debatte, ist aber folgende – das würde
ich jetzt gerne einmal in einem Zug ausführen –: Einer-
Jederzeit. seits wollen wir, dass die Pharmaunternehmen forschen (D)
(B)
und dass es neue Medikamente gibt. Ich sagte gerade
Dr. Karl Lauterbach (SPD): schon, wie wichtig es ist, dass etwa gegen die Geißel
Demenz endlich etwas auf den Markt kommt.
Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel nennen. Das
neueste und teuerste Medikament bei den Cholesterin- Solche Innovationen müssen natürlich auch finanziell
senkern, Crestor, wurde bewertet. Nach zwei Jahren anerkannt werden; sonst gäbe es keinen Anreiz, zu for-
wurde die Studie abgebrochen. Der Pharmahersteller schen. Gleichzeitig müssen wir einen Spagat schaffen.
kam zu dem Ergebnis, es sei wunderbar und bringe deut- Das alles muss auch finanziell darstellbar sein. Es muss
lich mehr. Das ist Gegenstand des Dossiers gewesen. gelingen, die Solidargemeinschaft nicht übermäßig zu
Später kam dann heraus – das hatten die Unternehmen belasten. Genau dieser Spagat ist so schwierig.
nicht vorgelegt –, dass es in der gleichen Studie, der
JUPITER-Studie, auch Daten gab, die gezeigt haben, Das stört mich manchmal an den Debatten, wie Sie
dass die eigentliche Senkung der Zahl von Herzinfarkten sie führen, wenn es um die Entwicklung der Pharma-
oder Schlaganfällen nie aufgetreten war. preise geht: Sie blenden den Aspekt völlig aus, dass für
viele Tausende und Zehntausende schwerkranker Men-
Wenn man jetzt nur das Dossier des Unternehmens schen mit neuen Medikamenten auch viele Hoffnungen
bewerten müsste, dann wäre – – auf Minderung von Leid verbunden sind. Wir versuchen,
durch das Bewertungsverfahren beim Institut, aber auch
(Zuruf der Abg. Ulrike Flach [FDP]) durch die Vorlage von wissenschaftlichen Studien genau
diesen Spagat zu schaffen. Deswegen bringt die Keule
– Im Dossier des Unternehmens ist das an keiner Stelle
nichts, die immer gegen die Pharmaindustrie geschwun-
erwähnt worden. Hätte man allerdings unabhängige Be-
gen wird nach dem Motto: Die kann man richtig abzo-
wertungen zugelassen, wäre das sofort herausgekom-
cken.
men.
(Elke Ferner [SPD]: Warum sind die Medika-
Was jetzt vorgetragen wird, ist so ähnlich, als würden mente in anderen Ländern viel billiger?)
Sie nur die Testberichte der Werksfahrer anfordern, und
die Autos würden von den unabhängigen Testern selbst Eine sachlich orientierte Debatte, die diesen Spagat wi-
nie gefahren. Das ist doch das, was hier passiert. derspiegelt, ist entscheidend. Genau das wollen wir mit
der Debatte zu diesem Gesetz erreichen.
(Heinz Lanfermann [FDP]: Ihre Redezeit ist
schon abgelaufen, Herr Kollege!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
5884 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: konstruktiv führen. Anders als in den Debatten in diesem (C)
Kollege Spahn, gestatten Sie eine weitere Zwischen- Hause gestern und vorgestern sollte es nicht bei pauscha-
frage, und zwar der Kollegin Volkmer? lem Gemeckere bleiben. Sie sind herzlich eingeladen –

Jens Spahn (CDU/CSU): Vizepräsidentin Petra Pau:


Jederzeit. Kollege Spahn, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss
kommen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich dachte mir das schon. Jens Spahn (CDU/CSU):
– ich bin offensichtlich im letzten Satz, Frau Präsi-
Dr. Marlies Volkmer (SPD): dentin –, an der Sache konstruktiv mitzuarbeiten. Das
Herr Spahn, ich möchte Sie etwas zu den Studien fra- wäre für dieses Haus in dieser Frage ein entscheidender
gen, die die Pharmaindustrie vorlegen muss. Sie haben Schritt nach vorne.
gesagt: Es müssen jetzt alle veröffentlicht werden. Im Danke schön.
Gesetzentwurf steht: Es ist den Pharmaunternehmen
überlassen, in welcher Form sie diese Studien veröffent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
lichen. Es reicht auch, wenn sie das auf ihrer Internet-
seite veröffentlichen. – Stimmen Sie mir darin zu, dass Vizepräsidentin Petra Pau:
das in dem Gesetzentwurf so steht? Das mit dem letzten Satz ist immer so eine Sache, je
nachdem, wie viele Kommas man setzt.
Jens Spahn (CDU/CSU): Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler für die
Klar, ich stimme Ihnen zu. Fraktion Die Linke.
(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Danke schön! – (Beifall bei der LINKEN)
Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Im Vorwärts
muss es nicht abgedruckt werden!)
Kathrin Vogler (DIE LINKE):
Ich habe jetzt nur nicht ganz die Problematik erkannt. Es Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
geht darum, dass es am Ende zu einer Veröffentlichung Wir haben schon in den letzten zwei Tagen erlebt, wie
kommt. Es gibt im Übrigen – das blenden Sie bei den die schwarz-gelbe Koalition Planlosigkeit und soziale
Debatten auch immer aus – auf europäischer Ebene Kälte zum gesundheitspolitischen Programm macht. Die
(B) schon Datenbanken, die entsprechende Studien sam- steigenden Beiträge, die ungerechte Kopfpauschale, die (D)
meln. vor allem wieder Menschen mit niedrigem und mittle-
rem Einkommen schultern sollen,
Eines sage ich Ihnen noch, weil das eine Frage be-
trifft, über die man konstruktiv miteinander reden kann: (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das war aber
Wir gehen in diese Debatte hinein mit der deutlichen gestern und vorgestern! – Heinz Lanfermann
Ansage, dass wir bereit sind, im Gesetzgebungsverfah- [FDP]: Der Text stammt noch von gestern!)
ren über alle diese Fragen mit allen Beteiligten – dazu
begründen Sie immer wieder gern mit der steigenden Le-
gehören die Patientenverbände, die pharmazeutische In-
benserwartung. Das war auch in der Rentendebatte ge-
dustrie, die Kostenträger, gern auch die Opposition,
rade wieder das Thema. In unserem Bereich verweisen
wenn es denn konstruktiv ist – konstruktiv zu reden.
Sie da auf den medizinischen Fortschritt.
Transparenz ist die Voraussetzung von Akzeptanz.
Wenn dem so ist, dann sollten Sie diejenigen, die von
(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Wo ist da Trans-
beidem stärker profitieren, auch mehr oder angemessen
parenz?)
zur Kasse bitten. In Deutschland leben nämlich die
Ich habe schon deutlich gemacht, wie schwer es ist, reichsten 10 Prozent der Bevölkerung durchschnittlich
diesen gesellschaftlichen Spagat zu schaffen. Da gibt es zehn Jahre länger als die ärmsten. Das zeigt, dass unser
die Hoffnungen und Erwartungen vieler kranker Men- vielgelobtes Gesundheitswesen – ich schätze es; ich
schen, und da ist zu unterscheiden: Was ist Abzockerei kenne seine Qualitäten – wirklich gut ist, aber nicht un-
durch die Pharmaindustrie? Was ist berechtigtes Inte- bedingt sozial und nicht gut für alle.
resse, auch Forschungsleistungen abgegolten zu bekom-
(Beifall bei der LINKEN)
men?
Mit Ihrem Gesetzentwurf wollen Sie, Herr Rösler, die
(Mechthild Rawert [SPD]: Was ist wissen-
Kostensteigerungen für Arzneimittel in der gesetzlichen
schaftliche Unabhängigkeit?)
Krankenkasse bremsen.
Dafür braucht man Verfahren, die transparent sind, die
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!)
nachvollziehbar sind, die für Akzeptanz sorgen. Wir sind
bereit, bis zur zweiten und dritten Lesung über alle diese Andererseits – das sagen Sie ganz offen – wollen Sie
Schritte zu sprechen: beim Gemeinsamen Bundesaus- auch Wirtschaftsförderung betreiben. Wir machen hier
schuss, beim IQWiG und bei all dem, was anliegt. Wir aber keine Wirtschaftspolitik, sondern Gesundheitspoli-
jedenfalls wollen diese Diskussion in den nächsten Wo- tik. Weil Ihre Vorschläge dementsprechend unzurei-
chen und Monaten bis zur zweiten und dritten Lesung chend und inkonsequent sind, um die Megaprofite der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5885
Kathrin Vogler
(A) Pharmaindustrie zu begrenzen, hat die Fraktion Die (Jens Spahn [CDU/CSU]: Als Geschäftskunde (C)
Linke einen eigenen Antrag für vernünftige und nach- kann man mit der Post verhandeln!)
vollziehbare Arzneimittelpreise vorgelegt. Ich fordere
Sie auf: Setzen Sie sich vernünftig damit auseinander! Sie hätten in diesem Fall wenigstens die Möglichkeit,
den Brief selbst zu überbringen. Ein Kranker hat aber
(Beifall bei der LINKEN) keine Alternative, und die Krankenkassen müssen das
zahlen, was die Industrie verlangt.
Schauen wir einmal genauer auf das, was Sie da vor-
haben. Sie wollen also, dass die Pharmaindustrie auch Last, not least wollen wir mit unserem Antrag eine
weiterhin für jedes neue Medikament selbst den Preis weitere Lücke Ihres Entwurfes schließen. Es gibt keinen
festlegen darf. vernünftigen Grund, warum die Arzneimittel in den
Krankenhäusern von der Preisgestaltung ausgenommen
(Lars Lindemann [FDP]: Das ist in der Markt- sein sollen. Schließlich werden die meisten Erstverord-
wirtschaft so!) nungen von teuren Medikamenten in Kliniken vorge-
Diesen Preis, egal ob 20 oder 2 000 Euro, müssen die ge- nommen.
setzlichen Krankenkassen dann mindestens ein Jahr lang Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
erstatten. lieber Kollege Spahn, es nützt überhaupt nichts, wenn
(Heinz Lanfermann [FDP]: Jetzt machen sie es Sie dauernd beklagen, dass die Opposition nur meckere.
20 Jahre lang! Das ist der Unterschied!) Das stimmt nämlich nicht. Wir haben ganz konkrete Vor-
schläge gemacht. Ich fordere Sie auf: Prüfen Sie diese
Sie, Herr Rösler, nennen das einen patientenfreundlichen Vorschläge vorurteilslos, soweit Ihnen das möglich ist!
Zugang zu Innovationen. Aber ich nenne das die Lizenz
zum Gelddrucken. (Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/
CSU]: Wenn Sie das Gleiche beim Gesetz ma-
Die Linke fordert eine viel schnellere und transparen- chen!)
tere Preisfestlegung gerade für die neuen Arzneimittel;
denn das sind die Arzneimittel, die die hohen Kosten Wir erheben kein Copyright; denn es geht hier schließ-
verursachen. Dabei wollen wir vor allem darauf achten lich um ein zukunftsfähiges und soziales Gesundheits-
– das haben wir in unserem Antrag dargestellt –, ob das wesen. Und nicht vergessen: Gesundheit ist keine Ware.
Präparat wirklich einen Nutzen für die Patientinnen und (Beifall bei der LINKEN)
Patienten hat. Ist es nicht wirklich neu oder nicht besser
als bereits auf dem Markt befindliche Medikamente,
dann darf es auch nicht teurer sein. Vizepräsidentin Petra Pau:
(B) Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol- (D)
Bei den sogenannten therapeutischen Solisten, also legin Birgitt Bender das Wort.
bei den Präparaten, für die es keine Behandlungsalterna-
tive gibt und für die eine Kosten-Nutzen-Bewertung in
angemessener Zeit nicht möglich ist, brauchen wir wei- Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
tere Kriterien – Herr Kollege Spahn, Sie haben gerade Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
gesagt, Forschung sei wichtig für Innovationen –, zum Minister, ich bin froh, dass Sie eben bei der Vorstellung
Beispiel die Forschungskosten. Dazu müsste die Indus- Ihres Gesetzentwurfs das revolutionäre Pathos wegge-
trie erst einmal ihre tatsächlichen Kosten offenlegen, lassen haben, mit dem wir den Entwurf oft in den Me-
und zwar ohne die üblichen Mogeleien. dien beschrieben gefunden haben, nach dem Motto „Ich,
der Ritter, gegen die Pharmaindustrie“.
(Beifall bei der LINKEN)
Es ist richtig, die Ziele des AMNOG verdienen Res-
Die Pharmalobbyisten erklären uns ja immer gerne, pekt. Da geht es um Nutzenbewertung zu Beginn des Le-
dass die Mondpreise für neue Mittel sein müssten, um benszyklus eines Medikaments, um Preise, die der Her-
die Forschung zu finanzieren. Angeblich kostet die Ent- steller nicht völlig frei festlegen kann, oder um mehr
wicklung eines neuen Medikaments über 600 Millionen Transparenz bei Arzneimittelstudien. Es ist allerdings
Euro. US-Wissenschaftler haben aber schon vor einigen überraschend, dass Schwarz-Gelb so etwas macht, lieber
Jahren nachgewiesen, dass es real oft nicht einmal Kollege Spahn. Ich will Ihnen sagen, warum. Im Jahre
50 Millionen Euro sind. Hier brauchen wir dringend die 2003 sind wir mit einem rot-grünen Reformentwurf an
Transparenz, die Sie, Herr Minister, und Sie, Herr Kol- den Verhandlungstisch zu Union und FDP gekommen.
lege Spahn, immer so gerne fordern. Die Gelben sind sofort davongesprungen, weil sie auf
(Beifall bei der LINKEN) keinen Fall der Pharmaindustrie etwas tun wollten. Die
Union hat damals die Kosten-Nutzen-Bewertung abge-
Nach dem ersten Jahr sollen dann die Krankenkassen lehnt. Ich kann nur sagen: Schön, dass Sie etwas dazuge-
mit den Herstellern über den Preis verhandeln. Daran lernt haben.
glauben Sie doch selbst nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Lars Lindemann [FDP]: Aber natürlich!) und bei der SPD – Jens Spahn [CDU/CSU]:
Wir machen eine Nutzenbewertung!)
Herr Rösler, gehen Sie doch einmal zur Deutschen Post
und verhandeln über den Preis einer Briefmarke. Wa- Wenn es tatsächlich so sein soll, dass überhöhte Ren-
rum, bitte schön, sollte sich die Post darauf einlassen? diten der Pharmaindustrie zugunsten der Versicherten
5886 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Birgitt Bender
(A) abgeschöpft werden, dann darf das Vorgehen aber nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
halbherzig sein. Anders gesagt: Wenn man Fische fan- sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD] –
gen will, aber das Netz besonders große Maschen hat, Elke Ferner [SPD]: Klientelpolitik!)
dann wird der Angler hungrig bleiben. Genau das droht,
Auch die Frage, ob es Preis- oder Rabattverhandlun-
wenn sich am AMNOG nicht noch etwas verändert.
gen geben soll, haben Sie nicht zu Ende gedacht. Sie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen doch immer der PKV etwas Gutes tun. Unser In-
und bei der SPD) teresse gilt dem Verbraucherschutz, wir wollen, dass die
PKV-Versicherten – solange es sie in der jetzigen Form
Kann mir die Koalition einen guten Grund nennen, gibt – nicht ständig überhöhte Preise auch im Arzneimit-
warum die Nutzenbewertung in der Regel erst nach der telbereich bezahlen. Wenn das der Fall ist, dann muss
Zulassung und nicht parallel zum Zulassungsverfahren man Preisverhandlungen führen, weil nur dann die
durchgeführt wird, wie das in anderen Ländern der Fall Preise auch für die PKV-Versicherten gelten. Das scheint
ist? Sie nicht zu interessieren, aber vielleicht denken Sie da-
rüber nach.
(Ulrike Flach [FDP]: Das können wir!)
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Warten Sie doch
– Nein, das können Sie nicht. einmal ab!)
(Jens Spahn [CDU/CSU]: So viel zur Innova- Kann mir die Koalition einen guten Grund nennen,
tion!) warum sie bei der Transparenz von Arzneimittelstudien
so hasenfüßig ist? Sie schreiben nicht vor, wo diese Stu-
Bereits beim Design und der Durchführung der Zulas-
dien zu veröffentlichen sind.
sungsstudien muss berücksichtigt werden, dass für die
Bewertung eines Zusatznutzens die Prüfung gegenüber (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: In Deutschland
der Standardtherapie notwendig ist. Wenn nur gegenüber können die meisten lesen!)
Placebos geprüft wird, dann nutzt das vielleicht dem
Wenn ich Beratungsdienste für Böswillige zu leisten
Hersteller, aber nicht dem Gesundheitssystem.
hätte, dann würde ich sagen: Gründet doch eine Publika-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tion – das ist zwar teuer und die Informationen erreichen
und bei der SPD) nur wenige – und veröffentlicht dort die Arzneimittelstu-
die, sodass sie auch ja keiner findet.
Klare Anforderungen an vorzulegende Studien und der
Start der Nutzenbewertung bereits zum Zeitpunkt des (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie wollen sie
noch im Vorwärts der SPD haben!)
(B) Zulassungsantrages, das wäre der richtige Ansatz. (D)
Mit Ihrem Gesetz wird so etwas nicht verhindert. Warum
Ein weiterer Punkt. Kann mir die Koalition einen gu-
nicht? Können Sie dafür einen guten Grund nennen?
ten Grund nennen, warum Impfstoffe von der Nutzen-
Nein, das können Sie nicht.
oder Kosten-Nutzen-Bewertung ausgenommen sind? Ich
habe bisher keinen einzigen gehört. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der Ko-
alition, Sie haben über den Sommer noch einige Haus-
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Kommt noch!) aufgaben zu machen. Vor diesen Aufgaben sollten Sie
Das Verfahren der Ständigen Impfkommission ist eine nicht wegtauchen. Das empfehle ich Ihnen.
Blackbox. Wir brauchen ein transparentes, methodisches (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vorgehen wie beim IQWiG und Transparenz im Verfah- und bei der SPD)
ren, wie es für das IQWiG und den G-BA selbstverständ-
lich ist.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kann mir die Koalition einen guten Grund nennen, Der Kollege Wolfgang Zöller spricht nun für die
warum sie den Pharmaherstellern im ersten Jahr völlig Unionsfraktion.
freien Spielraum bei der Preisgestaltung lässt? Zum ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nen können Verhandlungen zwischen Herstellern und
Kassen früher beginnen, wenn die Nutzenbewertung frü-
her vorliegt. Zum anderen wird unser Vorschlag der Wolfgang Zöller (CDU/CSU):
Rückerstattung bei überhöhten Preisen abgelehnt, weil Grüß Gott, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
das ein nachträglicher, nicht zulässiger Eingriff in die Kollegen! Bei der Diskussion, die geführt wird, sollte
unternehmerische Freiheit sei. man das Positive festhalten: Heute ist ein guter Tag für
die Patienten.
Unser Vorschlag ist weit marktwirtschaftlicher als der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vorschlag, den die Koalition anderenorts preist. In den
aktuellen Sparvorschlägen der Koalition heißt es: „Die Als Patientenbeauftragter möchte ich zwei Punkte an-
Preise für Impfstoffe werden auf das europäische Durch- sprechen. Die strukturellen Änderungen auf dem Arznei-
schnittsniveau gesenkt.“ Das heißt, zum einen ist das mittelmarkt werden die Patientenrechte stärken. Es wird
Senken von Preisen möglich, aber Sanktionen für über- mehr Transparenz erreicht. Es wird dem Patienten mehr
höhte Preise nicht? Das verstehe, wer will. Ich glaube, darüber mitgeteilt werden können, welcher Nutzen ihm
Sie müssen Ihre Argumente noch einmal überprüfen. bei neuen Arzneimitteln nachgewiesen werden muss.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5887
Wolfgang Zöller
(A) Auch die klinischen Prüfungen sind zu veröffentlichen. Wolfgang Zöller (CDU/CSU): (C)
Das ist ebenfalls ein wichtiger Vorteil für die Patienten. Er ist heute besonders freundlich zu mir.
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Patientenrechte sind für mich Bürgerrechte. Deshalb
NEN]: Wo?) bin ich sehr froh, dass die Koalition mit diesem Gesetz-
entwurf ihr Bekenntnis zu starken Patientenrechten ma-
– Da gefragt wird, wo, sage ich: Im SPD-Mitteilungs- nifestiert. Jetzt wird die unabhängige Verbraucher- und
blatt Vorwärts muss es nicht unbedingt stehen, damit die Patientenberatung als Regelleistung festgeschrieben. Ab
Leute es zur Kenntnis nehmen können. 1. Januar 2011 haben alle Versicherten einen Anspruch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – auf eine unabhängige Beratung. Sie werden bestimmt
Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit mir einer Meinung sein: Oft wissen die Patienten
NEN]: Man braucht eine zentrale Stelle, damit nicht, welche Rechte sie haben, geschweige denn, wie
man das findet!) sie sie umsetzen können.

Die Patienten erhalten wieder mehr Wahlfreiheit, was Vizepräsidentin Petra Pau:
ihr gewohntes Arzneimittel angeht. Sie können nicht nur Kollege Zöller, Sie haben nochmals die Chance zur
rabattierte Arzneimittel auswählen. Ich glaube, das för- Verlängerung Ihrer Redezeit. Die Kollegin Klein-
dert die Zufriedenheit und die Akzeptanz. Schmeink möchte Sie etwas fragen.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen, (Ulrike Flach [FDP]: Habt ihr alle kein Zu-
den ich für sehr wichtig halte. Mein Leitbild ist der mün- hause? – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/
dige und informierte Patient. CSU]: Das ist eigentlich keine Fragestunde!)

Vizepräsidentin Petra Pau: Wolfgang Zöller (CDU/CSU):


Kollege Zöller, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Bitte schön.
Kollegin Vogler?
Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE
Wolfgang Zöller (CDU/CSU): GRÜNEN):
Selbstverständlich. Sie werden gleich auf die Patientenberatung und die
Förderung eingehen. Ich möchte Sie bitten, in diesem
Zusammenhang etwas dazu zu sagen, wie Sie sicherstel-
Kathrin Vogler (DIE LINKE): len wollen, dass dieses verzögerte Gesetzgebungsverfah- (D)
(B)
Lieber Kollege Zöller, würden Sie mit mir darin über- ren und die sehr späte Beschlussfassung nicht zu einem
einstimmen, dass nur diejenigen Patientinnen und Pa- Bruch bei den bisherigen Beratungsstellen führen. Bitte
tienten bei den Medikamenten eine Wahlfreiheit haben, sagen Sie etwas dazu, dass die Mitarbeiter der Bera-
die über das nötige Kleingeld verfügen, um sich die Zu- tungsstelle nicht wissen, ob es für sie weitergeht oder
zahlung zu den Medikamenten leisten zu können? nicht. Bitte sagen Sie insbesondere, wie Sie sicherstellen
wollen, dass sich die Vergabeverfahren nicht so lange
Wolfgang Zöller (CDU/CSU): hinziehen, dass die befürchtete Entwicklung eintritt.
Nein, dem kann ich so nicht zustimmen. Bei der Fest-
betragsregelung hatten wir ähnliche Befürchtungen. Da- Wolfgang Zöller (CDU/CSU):
mals ist aber das eingetreten, was wir gesagt haben: Die Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass die am Sys-
Arzneimittelhersteller, die höhere Preise hatten, haben tem Beteiligten – angefangen beim Spitzenverband der
festgestellt, dass die Versicherten die Zuzahlung nicht Krankenkassen –, mit denen wir schon Gespräche ge-
haben leisten wollen, sodass von der Zuzahlungsmög- führt haben, dafür sorgen werden, dass das Gesetz recht-
lichkeit kaum Gebrauch gemacht wurde. Sie sind mit zeitig umgesetzt wird. Ich bin da recht zuversichtlich.
dem Preis dann bis zum Festbetrag heruntergegangen. Ich würde allen Beteiligten raten, in der Öffentlichkeit
Dadurch war das sogar eine kostendämpfende Maß- nicht allzu viel über die eine oder andere Schwierigkeit
nahme. zu diskutieren, sondern sich an einen Tisch zu setzen und
dafür zu sorgen, dass es umgesetzt wird. Wer will, dass
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – das Gesetz umgesetzt wird, findet Wege. Wer das nicht
Heinz Lanfermann [FDP]: Jetzt sehen Sie ein- will, der sucht Gründe.
mal!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Zöller, bevor Sie weitermachen, weise ich
Sie darauf hin, dass es eine zweite Zwischenfrage gibt. – Vizepräsidentin Petra Pau:
Nein, der Kollege Lauterbach zieht zurück. Dann kann Kollege Zöller, ich bitte um einen kleinen Moment
es weitergehen. Geduld. – Ein Hinweis an alle Kolleginnen, die sich
ebenfalls zu Zwischenfragen zu diesem Beitrag gemel-
(Heinz Lanfermann [FDP]: Er hat gemerkt, det haben: Bei diesen kurzen Redebeiträgen lasse ich je-
dass das keinen Zweck hat!) weils zwei Zwischenfragen zu, da wir nicht zu einer Ver-
5888 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) dreifachung der Redezeit kommen wollen. Wir haben nehmen kann. – Ich habe jetzt noch zehn Sekunden, die (C)
eine entsprechende Verabredung zwischen den Fraktio- schenke ich dem Nächsten.
nen getroffen.
Vielen Dank.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Jetzt
können wir ungestört dem Herrn Zöller zuhö- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ren!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das Wort hat die Kollegin Elke Ferner für die SPD-
Ich habe kein Problem damit und akzeptiere das mit Fraktion.
Rücksicht auf die nachfolgenden Redner selbstverständ- (Beifall bei der SPD)
lich.
Nach zehn Jahren Modellphase wurden die richtigen Elke Ferner (SPD):
Schlüsse gezogen. Wir haben – davon bin ich fest über- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
zeugt – alle Kriterien berücksichtigt. Dazu darf ich stich- Herr Rösler hat eben gesagt, wir hätten gar keine Vor-
punktartig sagen: Das Verfahren wird neutral und unab- schläge vorgelegt. Ich rate Ihnen, Herr Rösler, sich ein-
hängig sein; es wird im Einvernehmen mit dem fach einmal – vielleicht wenn das Chaos sich etwas ge-
Patientenbeauftragten erfolgen – auch das ist sehr erfreu- lichtet hat – die Bundestagsdrucksachen anzusehen. Es
lich –; die Beratung wird evidenzbasiert und von Kom- gibt einen Antrag von uns, der im Deutschen Bundestag
petenz geprägt sein; die Ausschreibung erfolgt alle fünf bereits in erster Lesung beraten worden ist. Er liegt jetzt
Jahre; die Beratung ist kostenfrei, was gut für die im Ausschuss und wird zusammen mit Ihrem Paket bera-
Niedrigschwelligkeit ist. Vielleicht darf ich die Telefon- ten. Es mag sein, dass das in dem Regierungschaos et-
nummer hier einmal nennen: 0800 0 117722. Das ist was untergegangen ist; aber wir haben schon etwas vor-
eine 0800er-Nummer. gelegt, und zwar bevor Sie zu dem ersten Paket etwas
(Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP] – Heinz vorgelegt haben.
Lanfermann [FDP]: Ruf mich an!) (Beifall bei der SPD)
– Das ist eine wesentlich seriösere Nummer. Da erhalten Die bisherigen Rabattverträge werden aus mehreren
Sie unbürokratisch die notwendigen Informationen. Gründen geschwächt werden. Damit wird es für die Kas-
Wir haben keine Doppelstrukturen. Es gibt Koopera- sen teurer werden. Herr Zöller hat das eben als große
(B) tion und Vernetzung mit den Selbsthilfeorganisationen. Leistung hervorgehoben. Er hat gesagt, es sei toll für die (D)
Finanziellen Mehraufwand gibt es nicht. Erfreulich ist Patienten und Patientinnen, dass sie jetzt mehr zuzahlen
auch, dass sich die privaten Krankenversicherungen an können, wenn nur genügend Pharmareferenten durch die
den Kosten beteiligen. Die Mittel werden dynamisiert. Arztpraxen und vielleicht auch durch die Apotheken rei-
Es gibt eine Berichtspflicht an den Patientenbeauftrag- sen. Dann wird eben nicht das Mittel verschrieben oder
ten. Auch das halte ich für eine wesentliche Verbesse- ausgegeben, das die Kasse am günstigsten einkauft, son-
rung, weil wir auf diese Weise sehr schnell Schwachstel- dern das, welches der Pharmaindustrie und anderen Be-
len im System feststellen und aufgrund von Meldungen teiligten am meisten bringt. Und das geht allein zulasten
Handlungsoptionen ableiten können. des Patienten. Das heißt also, zusätzlich zu den steigen-
den Beiträgen und zu der Kopfpauschale wird jetzt der
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit diesem Ge- Einstieg in eine Kostenbeteiligung vorgenommen. Was
setzentwurf einen Punkt des Koalitionsvertrags als erle- daran im Sinne der Patienten und Patientinnen sein soll,
digt abhaken können. Dafür möchte ich mich an dieser Herr Zöller, ist mir persönlich ein Rätsel.
Stelle ganz besonders bei Gesundheitsminister Rösler
und seiner Mannschaft bedanken. Ein zweiter Punkt. Bei den innovativen Arzneimitteln
können die Preise im ersten Jahr in den Mond schießen.
(Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Das werden sie auch. Wenn Sie es wirklich ernst meinen,
– Das sage ich nicht nur aus Überzeugung, sondern auch dann fordere ich Sie auf, zu sagen: Es wird nicht nur ab
deshalb, weil es bei der letzten Diskussion in diesem dem 13. Monat der verhandelte Rabatt angewandt, son-
Hause geheißen hat, ich hätte keine Rückendeckung dern er gilt rückwirkend ab dem ersten Monat, direkt ab
vom Ministerium. Die Rückendeckung vom Ministe- dem ersten Tag der Zulassung. Das würde in der Tat ver-
rium hätte ich mir nicht besser vorstellen können. hindern, dass Mondpreise aufgeschlagen werden, damit
man im ersten Jahr gut bei den Kassen abkassieren kann,
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der um trotz der Rabattverträge, die erst später gelten, insge-
SPD: Passen Sie auf, dass Sie nicht auf die samt den Preis zu erzielen, den man eigentlich sowieso
Nase fallen!) gehabt hätte.
Ich werde aber die Hände nicht in den Schoß legen. Im Übrigen macht das auch Sinn. Ich weiß nicht, wie
Jetzt beginnt nämlich die Umsetzung. Wir werden zu- es Ihnen geht. Mir geht es auf jeden Fall immer so, dass
sammen mit dem BMG und dem GKV-Spitzenverband ich bei allen Veranstaltungen gefragt werde: Warum ist
die Ausschreibung der Beratungsstellen vorantreiben, denn das Mittel A oder das Mittel B – nicht ein ver-
damit die Patientenberatung pünktlich ihre Arbeit auf- gleichbares, sondern das gleiche Mittel – in Frankreich,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5889
Elke Ferner
(A) Spanien oder sonst wo so viel billiger? Insofern, glaube weniger Netto vom Brutto gibt und dass die Kopfpau- (C)
ich, ist da noch ordentlich nachzubessern. schalen schneller in die Höhe schießen.
(Beifall bei der SPD – Ulrike Flach [FDP]: (Beifall bei der SPD)
Diese schönen Vorschläge haben wir aber
nicht auf dem Tisch, Frau Ferner!) Vizepräsidentin Petra Pau:
– Bitte? In unserem Vorschlag, geehrte Frau Flach, steht, Die Kollegin Ulrike Flach spricht nun für die FDP-
dass wir den europäischen Durchschnittspreis haben Fraktion.
wollen. Auch das macht Sinn. Was ist das denn für ein (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Markt in Deutschland, auf dem der größte Nachfrager
die höchsten Preise für die Arzneimittel zahlen muss?
Ulrike Flach (FDP):
Was hat das mit Wettbewerb und Marktmechanismen zu
tun? Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Ferner, das grundlegende Missverständnis besteht
(Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/ in Ihrer Einschätzung, wie man in einer marktwirtschaft-
CSU]: Wir sind doch hier nicht im Sozialis- lichen Gesellschaft agiert.
mus!)
(Elke Ferner [SPD]: Krankenkassen sind keine
Damit bin ich beim dritten Punkt; er ist heute noch profitorientierten Unternehmen!)
nicht angesprochen worden. Sie machen mit diesem Ge-
setz einen Schritt in die Kommerzialisierung des Ge- Wir sind hier nicht in Kuba oder stellen irgendwelche
planwirtschaftlichen Überlegungen an. Wir schaffen mit
sundheitswesens
diesem Gesetz die Möglichkeit, zum ersten Mal Markt-
(Mechthild Rawert [SPD]: Genau!) wirtschaft im Arzneimittelbereich einzusetzen, und zwar
zugunsten der Patienten.
– Frau Flach sagt Ja –,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Ulrike Flach [FDP]: Nein! Der Zuruf kam
der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Sozial-
von links!)
versicherung!)
weil Sie das Wettbewerbsrecht statt das Sozialrecht an-
Ich möchte Sie einmal daran erinnern: Wir haben in
wenden. Sie müssen sich einmal vor Augen führen, was
den Krankenkassen ein Defizit in Höhe von 11 Milliar-
das bedeutet. Es gibt ja noch anhängige Verfahren in
den Euro,
Düsseldorf und in Hessen,
(Elke Ferner [SPD]: Sie! Genau Sie!) (D)
(B) (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das Landessozialgericht
ist in Essen und nicht in Düsseldorf!) aber nicht aufgrund des marktwirtschaftlichen Systems,
sondern aufgrund Ihres planwirtschaftlichen Systems.
bei denen es um mögliche Absprachen bei Zusatzbeiträ-
gen geht. Offenbar verstehen Sie nicht, dass eine Kran- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
kenversicherung kein Wirtschaftsunternehmen ist. Die der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Das glau-
Krankenversicherungen sind Körperschaften des öffent- ben Sie doch selber nicht!)
lichen Rechts. Sie unterliegen einer staatlichen Aufsicht.
Ihre ehemalige Ministerin hat noch vor zwei Tagen ge-
Keine Krankenkasse kann ohne den Beschluss ihres Ver-
sagt: Wenn Steuermittel begrenzt sind, dann müssen die
waltungsrates oder ohne die Zustimmung der zuständi-
Beiträge steigen. Das ist doch Ihre Überlegung in diesem
gen Aufsichtsbehörde einen Zusatzbeitrag, eine Kopf-
Zusammenhang. Sie setzen immer darauf, dass der Staat
prämie oder sonst etwas festsetzen.
alles weiß, und Sie misstrauen dem Markt zutiefst. Ge-
(Ulrike Flach [FDP]: Wo sind Sie jetzt ge- nau an dieser Stelle gibt es an diesem Tag die Wende.
rade?) Denn wir werden dafür sorgen, dass Arzneimittel endlich
nach marktwirtschaftlichen Gegebenheiten einen Preis
Da, wo die Krankenkassen gemeinsam und einheitlich
bekommen,
handeln, lassen Sie es außen vor. Das heißt, da, wo Sie
qua Gesetz sozusagen Monopolist sind, wird das Sozial- (Mechthild Rawert [SPD]: Und teurer wer-
recht angewandt, und da, wo Sie auch unter Wettbewerbs- den!)
gesichtspunkten gemeinsam und einheitlich handeln kön-
der gut für die Menschen ist, nämlich niedrig.
nen – das wollen ja alle –, wollen Sie jetzt das Kartellrecht
anwenden. Das wird dazu führen, dass die Großen stärker (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
und die Kleinen schwächer werden. Denn die regionalen
Ich kann auch nicht verstehen, warum Sie jetzt mei-
Kassen, die Betriebskrankenkassen, die Innungskranken-
nen, dass ein erhöhter Herstellerabschlag oder ein Preis-
kassen werden sich nicht mehr zusammenschließen kön-
moratorium etwas Schreckliches ist; das habe ich eben in
nen, um bessere Rabattverträge bezüglich der Arzneimittel
der Rede von Herrn Lauterbach so vernommen.
zu erzielen und um mit Leistungserbringern gemeinsam
über integrierte Versorgung zu verhandeln. (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das ist Marktwirtschaft pur, gell?)
Ich weiß nicht, ob Sie überhaupt über das, was Sie da
machen, nachgedacht haben. Auf alle Fälle wird es dazu Sie haben so etwas 2006 zum ersten Mal eingeführt. Das
führen, dass es insgesamt teurer wird, dass es schneller ist doch immer SPD-Gedankengut gewesen; Sie wollten
5890 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Ulrike Flach
(A) das. Das machen wir jetzt, um schnell zu Geld zu kom- Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
men, und zwar in diesem Jahr. Das Wort hat der Kollege Michael Hennrich für die
(Elke Ferner [SPD]: Ah, um schnell zu Geld Unionsfraktion.
kommen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Zum 1. August 2010 wird der Preisabschlag erhöht, und
es wird einen Preisstopp geben. Die Menschen in diesem Michael Hennrich (CDU/CSU):
Land werden merken, dass die Krankenkassen um Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
500 Millionen Euro entlastet werden. Kollegen! In dieser Woche hatten wir zwei Aktuelle
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Stunden, in denen die Opposition versucht hat, der Re-
der CDU/CSU – Birgitt Bender [BÜND- gierung vorzuwerfen, dass sie ausschließlich auf Kosten
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Habt ihr das vor der der Patienten unsere gesetzliche Krankenkasse reformie-
Wahl auch gesagt? – Elke Ferner [SPD]: Das ren würde.
ist ein anderes Gesetz, Frau Flach! – Dr. Karl (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das ist
Lauterbach [SPD]: Sie sind beim falschen Ge- auch so!)
setz!)
Heute treten wir den Gegenbeweis an.
Ich wundere mich, Herr Lauberbach, über Ihre Kritik,
wir täten nichts gegen den Preisanstieg. Ehrlich gesagt: (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ach, deshalb
Neun Jahre lang haben wir bei Ihnen nur begrenzte Mög- machen Sie das! – Elke Ferner [SPD]: Wenn
lichkeiten gesehen, da etwas zu tun. Das Defizit ist zu das der Gegenbeweis ist!)
Ihrer Regierungszeit entstanden. Wir sind jetzt ein hal-
bes Jahr an der Macht, Ich will kurz in Erinnerung rufen, dass wir erst vor
drei Wochen Rabatte für die Arzneimittelhersteller be-
(Elke Ferner [SPD]: Das ist eine schöne Macht schlossen haben. Die Herstellerrabatte und das Preismo-
mit Gurkentruppen und Wildschweinen!) ratorium bringen uns insgesamt Einsparungen von rund
und es ist bereits das zweite Gesetz, das dieser Minister 1,5 Milliarden Euro. Nun legen wir einen Gesetzentwurf
auf den Weg bringt und das den Menschen in diesem vor, mit dem wir langfristige strukturelle Veränderungen
Land 2 Milliarden Euro ersparen wird. Was ist denn das auf den Weg bringen. Das Einsparvolumen beträgt hier
für ein Gerede? Einerseits meinen Sie, man würde alles rund 2 Milliarden Euro.
schlecht machen; andererseits erkennt man, dass es läuft. Vor einigen Tagen wurden uns die Zahlen zur Ausga-
(B) Lieber Herr Lauterbach, ich kann das ein wenig ver- benentwicklung im ersten Quartal 2010 im Verhältnis (D)
stehen, wenn ich an Ihre Worte vom Januar dieses Jahres zum ersten Quartal 2009 vorgelegt. Es gab Steigerungen
denke. Da haben Sie in der Deutschen Apotheker Zei- der Ausgaben um durchschnittlich 4,5 Prozent, überpropor-
tung – in diesem Zusammenhang eine interessante Zei- tional im Bereich der Krankenhausbehandlungen – 5,3 Pro-
tung – geschrieben: zent – und im Bereich der ambulanten ärztlichen Behand-
lungen, 4,8 Prozent. Relativ gute Zahlen gab es bei den
Wenn wir wirklich innovative Arzneimittel gut bezah- Arzneimittelausgaben, die im Schnitt um 3,9 Prozent ge-
len würden, dann … müssten wir uns keine Sorgen stiegen sind.
machen um den einen oder anderen kleinen Anbieter
von Generika, der wegen eines Rabattvertrages auf- Das sind auf den ersten Blick recht gute Zahlen, die
geben muss. zeigen, dass wir in der letzten Legislaturperiode im Be-
reich des Arzneimittelmarktes einige sinnvolle Reformen
(Zuruf von der FDP: Hört! Hört!) auf den Weg gebracht haben. Es lohnt sich aber, genau
Was ist das für ein Verständnis von Marktwirtschaft? hinzusehen: Im Festbetragsmarkt sind die Arzneimittel-
Was ist das für ein Selbstverständnis gegenüber kleinen ausgaben um 1,8 Prozent zurückgegangen; im Bereich
und mittelständischen Unternehmen? der Ausgaben für Arzneimittel ohne Festbetrag gab es
hingegen Steigerungen um rund 8 Prozent. Deshalb ist es
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Wir sind doch für wichtig, dass wir mit diesem Gesetzentwurf die Initiative
die Patienten da, nicht für die Unternehmen! ergreifen, um die Ausgaben bei den patentgeschützten
Sie sind im falschen Ausschuss! Sie müssten Arzneimitteln in den Griff zu bekommen.
in den Wirtschaftsausschuss!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Was erzählen Sie uns am heutigen Tage? Dass angeblich
alles zu teuer ist und Sie deshalb so tolle Überlegungen Ich glaube, dass diese Maßnahmen der Arzneimittelin-
anstellen! dustrie zuzumuten sind. Wer in krisengeschüttelten Zei-
Ihre Vorschläge in diesem Haus beschränken sich im ten wie den letzten zwei oder drei Jahren immer noch
Wesentlichen auf einen Antrag, Importeure zu schützen. Renditen von mehr als 20 Prozent erwirtschaften kann, ist
Das war ein Lobbyantrag. Ansonsten haben Sie in den aufgefordert, einen Beitrag zur Zukunftssicherung unse-
letzten Tagen nur dafür gesorgt, dass den Menschen in res Gesundheitswesens zu leisten. Deswegen legen wir
diesem Land etwas erzählt wird, was nicht stimmt. heute einen Gesetzentwurf vor, mit dem wir Einsparun-
gen erzielen, Überregulierung abbauen und langfristige
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) strukturelle Veränderungen auf den Weg bringen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5891
Michael Hennrich
(A) Unser Ziel bleibt es, die Patienten weiterhin mit den vor allem auch mittelständische Arzneimittelhersteller (C)
besten und wirksamsten Arzneimitteln zu versorgen. Wir schützen.
müssen aber auch darauf achten, dass die Versorgung
kosteneffizient und wirtschaftlich ist. Wir schaffen mit (Elke Ferner [SPD]: Ah!)
diesem Gesetzentwurf einen verlässlichen Rahmen für – Ja. Es ist ein durchaus legitimes Ziel, den Mittelstand
Innovationen, für die Versorgung der Versicherten und in unserem Land zu schützen.
für die Arbeitsplätze.
(Ulrike Flach [FDP]: Genau! Was ist daran
In diesem Zusammenhang richte ich einen Appell an schlimm, Frau Ferner?)
die Arzneimittelindustrie, die jetzt schon wieder teilweise
den Arbeitnehmern droht: Die Politik sei schuld, wenn Wenn Sie, Frau Ferner, anderer Auffassung sind, bitte!
jetzt verschärft Arbeitsplätze abgebaut würden. Ich will
in Erinnerung rufen, dass es in den letzten zehn Jahren in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
der Pharmaindustrie einen Arbeitsplatzaufbau um 10 Pro- Heinz Lanfermann [FDP]: Frau Ferner will
zent gab, trotz vieler Reformen. Ich richte den ausdrück- lieber bevormunden! – Elke Ferner [SPD]:
lichen Appell an die Unternehmen, die Diskussion mit Bisher haben die Patienten diese Arzneimittel,
der Politik nicht auf dem Rücken der Arbeitnehmer aus- wenn es notwendig war, vom Arzt verschrie-
zutragen. Wir sind gerne bereit, mit ihnen über den einen ben bekommen! Jetzt müssen sie sie selber
oder anderen Punkt in einen Dialog zu treten. Aber es zahlen!)
wirft einen Schatten auf diese Gespräche, wenn sie mit Wir regeln den Großhandelszuschlag; dadurch erzie-
den Ängsten der Arbeitnehmer spielen. len wir Rabatte in Höhe von rund 400 Millionen Euro.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Außerdem formulieren wir Therapiehinweise und Ver-
ordnungsbeschlüsse klarer; auch hier besteht, was die
Die wesentlichen Elemente sind schon dargestellt Preisbildung angeht, die Möglichkeit, innerhalb des ers-
worden. Vonseiten der Linken wurde angemahnt, dass ten Jahres regulierend einzugreifen. Weitere wichtige
wir noch schneller als innerhalb von drei Monaten zu ei- Aspekte sind die Veröffentlichungspflicht für klinische
ner vernünftigen Nutzenbewertung kommen sollten. Als Studien und die Unabhängige Patientenberatung.
einzige Möglichkeit bleibt wohl nur noch Paul, das Ora-
kel, übrig. Mit seiner Hilfe könnten wir eine Nutzenbe- Aber, Herr Minister Rösler, es gibt noch offene Bau-
wertung in der Tat innerhalb von zwei Tagen durchfüh- stellen, erstens bei den Rabatten für Privatversicherte
ren. und zweitens beim Pick-up-Verbot. Wir haben im Koali-
tionsvertrag versprochen, hier eine klare Regelung zu
(B) (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP – treffen. Wir sollten dieses Versprechen einhalten. (D)
Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ach was! Schauen Sie doch nach (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Schottland! Da wird das gemacht!) der FDP)

– Ja. Das schottische Modell ist im Grunde genommen Herr Lauterbach, Sie haben dargelegt, Sie hätten fast
auch hier implementiert. nur Kritik an den geplanten Regelungen gehört. Mein
Eindruck ist: Sie haben mit den falschen Leuten gespro-
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen, zu viel mit der Pharmaindustrie
NEN]: Eben nicht!)
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Keine Sorge!
– Doch. Darauf komme ich gleich noch zu sprechen, Nein!)
Frau Bender. – Was die Nutzenbewertung betrifft, so
glaube ich, dass drei Monate ein vernünftiger Zeitraum und zu viel mit Schmidtchen statt mit Herrn Schmidt.
sind. Wir stellen eine angemessene Beteiligung von Arz- Frau Fischer, die ehemalige Bundesgesundheitsministe-
neimittelherstellern und Patienten sicher. Ich denke, es rin, hält die geplanten Maßnahmen – Frau Bender, Sie
ist durchaus vertretbar, innerhalb eines Zeitraums von ei- haben diesen Begriff vorhin kritisiert – für revolutionär.
nem Jahr Preisverhandlungen zu führen.
(Elke Ferner [SPD]: Sie hat wahrscheinlich
Ich möchte einen zweiten Aspekt ansprechen, die Ra- das Kleingedruckte noch nicht gelesen!)
battverträge. Es wurde kritisiert, die Patienten würden
mehr oder weniger abgezockt. Welches Bild, meine sehr Sie sagte, dass ihr dieser Schritt imponiert, will sie nicht
verehrten Damen und Herren von der Opposition, haben verbergen.
Sie eigentlich von Apothekern? Haben Sie von Apothe- Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Wir haben
kern das Bild, dass sie, wenn Patienten in ihre Apotheke ein vernünftiges Gesetz auf den Weg gebracht. Ich rate
kommen, nur unter dem Gesichtspunkt „Wie kann ich Ihnen, sich konstruktiv zu beteiligen.
den maximalen Erlös erzielen?“ beraten und entspre-
chende Produkte verkaufen? Das ist nicht das Bild, das Herzlichen Dank.
ich von Apothekern habe. Ich glaube – das hat auch der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Kollege Zöller gesagt; es ist nämlich wie beim Thema
Festbeträge –, dass es nicht zu Preisexplosionen kom-
men wird. Warum haben wir denn die Mehrkostenrege- Vizepräsidentin Petra Pau:
lung? Wir wollen die Patientenautonomie stärken und Ich schließe die Aussprache.
5892 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Michael Groß (SPD): (C)
den Drucksachen 17/2413 und 17/2324 an die in der Ta- Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich zitiere
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann eine Schlagzeile aus dem Handelsblatt von Februar
sind die Überweisungen so beschlossen. 2010:
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 c auf: Die Bundesregierung will den Etat für die Gebäu-
desanierung erhöhen. Für entsprechende Pro-
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael gramme sollen künftig 400 Mio. Euro mehr ausge-
Groß, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer geben werden. Denn die Hilfen werden in der
Abgeordneter und der Fraktion der SPD Bevölkerung
Angekündigte Mittelkürzung beim CO2-Ge- – man höre und staune –
bäudesanierungsprogramm zurücknehmen
gut angenommen – und die konjunkturellen Effekte
– Drucksache 17/2346 – sind deutlich sichtbar.
Überweisungsvorschlag: Nur fünf Monate später kritisieren die Bundesvereini-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
gung Spitzenverbände der Immobilienwirtschaft und die
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Aktion „Impulse für den Wohnungsbau“ in einer ge-
Haushaltsausschuss meinsamen Pressemitteilung, dass
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan die Kürzungspläne der Bundesregierung bei … dem
Kühn, Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, weite- CO2-Gebäudesanierungsprogramm und der Städte-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- bauförderung den Staat mehr kosten, als sie sparen.
NIS 90/DIE GRÜNEN Diese Förderprogramme führen nachweislich zur
Sicherung sowie zum Ausbau der Beschäftigungs-
CO2-Gebäudesanierungsprogramm fortfüh- verhältnisse, die weitere Einnahmen über Lohn-
ren – Mit energetischer Sanierung Konjunk- steuer und Sozialabgaben für die öffentlichen Kas-
tur ankurbeln, Arbeitsplätze sichern und sen bringen.
Klima schützen
Deutliche Kritik an den Sparplänen der Bundesregie-
– Drucksache 17/2395 – rung kommt auch von der Immobilienwirtschaft, dem
Überweisungsvorschlag: Mieterbund, der IG BAU sowie der Wohnungsbaubran-
(B) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) che. An deren Positionierung zeigt sich das ganze Aus- (D)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit maß der Einsparmaßnahmen und deren Wirkung mehr
Haushaltsausschuss als deutlich.
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina Was nach den Ankündigungen der Bundesregierung im
Herlitzius, Stephan Kühn, Daniela Wagner, wei- Februar wirklich folgte, ist eine Halbierung der Mittel im
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Haushaltsentwurf 2011 gegenüber dem Vorjahr, ein
NIS 90/DIE GRÜNEN Schritt in eine Richtung, die nicht in die Zukunft weist.
Lebensqualität und Investitionssicherheit in Untersuchungen zu den Beschäftigungseffekten des CO2-
unseren Städten durch Rettung der Städte- Gebäudesanierungsprogramms zeigen, dass 1 Milliarde
bauförderung sichern Euro Investition zur Sicherung von 20 000 Vollzeit-
arbeitsplätzen pro Jahr führt. Hinzu kommt, dass jeder
– Drucksache 17/2396 – geförderte Euro bei den Programmen bis zu 9 Euro an
Überweisungsvorschlag:
privaten Investitionen nach sich zieht. Zusätzliches Ka-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) pital wird aktiviert. Im jüngsten Antrag der Koalitions-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie fraktionen zum Bericht der Bundesregierung zur Lage
Ausschuss für Arbeit und Soziales der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft klingt es
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit schon zynisch, dass die Schlüsselrolle der Baubranche
Haushaltsausschuss
bei der Bewältigung des Klimawandels hervorgehoben
Die Aussprache werde ich erst dann eröffnen, wenn wird, wenn gleichzeitig mit den Haushaltsentwürfen
wir mit der nötigen Aufmerksamkeit dieser Aussprache massive Sparmaßnahmen vorgenommen werden. Zu-
folgen können. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kol- sätzlich zu den wirtschaftlichen Folgen und den Arbeits-
legen, die nicht vermeidbaren Wechsel möglichst ge- platzverlusten im Handwerk und im Mittelstand ist der
räuschlos vorzunehmen. erneute Vertrauensverlust bezüglich des Handelns dieser
Bundesregierung schwerwiegend. Kleinere Betriebe,
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die aber auch Eigentümer und Investoren kritisieren die Ein-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre sparungen zu Recht.
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
(Gustav Herzog [SPD]: So ist es!)
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Michael Groß für die SPD-Fraktion. Das größte Potenzial zur Vermeidung von CO2 bis
zum Jahr 2020 steckt in Wohngebäuden sowie gewerbli-
(Beifall bei der SPD) chen und öffentlichen Immobilien. Für die Bundesregie-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5893
Michael Groß
(A) rung gibt es noch viel zu tun, um die europäischen Kli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C)
maschutzziele zu erreichen. Durch die Einsparungen der DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU:
Bundesregierung kommt das notwendige Sanierungs- Polemik pur!)
tempo eindeutig zum Erliegen. Fachleute schätzen den
Finanzierungsbedarf für die nötige Sanierungsrate auf Vizepräsidentin Petra Pau:
5 Milliarden Euro pro Jahr, um die Klimaschutzziele zu
erreichen. Drei von vier Wohnungen in Deutschland sind Das Wort hat der Kollege Peter Götz für die Unions-
energetisch sanierungsbedürftig. Hinzu kommen fraktion.
150 000 Schulen und Kindergärten. Rund 85 Prozent des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gesamten Energiebedarfs in privaten Haushalten fallen
für Heizung und Warmwasser an. Ein erheblicher Teil
der Heizkosten lässt sich durch die Modernisierung von Peter Götz (CDU/CSU):
Fenstern, gute Dämmung von Fassaden und Dächern so- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
wie neue Heizungsanlagen einsparen. Energieeffizientes gen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Städ-
Wohnen wirkt sich so direkt auf den Geldbeutel der Ei- tebauförderung braucht nicht gerettet zu werden. Die
gentümer und Mieter aus. Mittel dafür stehen im Einzelplan 12 des Entwurfs des
Bundeshaushalts. Lieber Kollege Groß, im Hinblick da-
Der Ausfall bei den Investitionen wird sich erneut di- rauf, dass der Umfang der Förderung einmal wächst und
rekt auf die Handlungsfähigkeit der Kommunen auswir- einmal sinkt, ist politische Untergangsrhetorik durchaus
ken. Kommunen tragen zwei Drittel aller öffentlichen unangebracht.
Investitionen und somit erheblich zur wirtschaftlichen
und klimapolitischen Zukunftsvorsorge bei. (Sören Bartol [SPD]: Wir können den
Haushalt lesen!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Die Erfolgsgeschichte der Städtebauförderung ist un-
bestritten. International werden wir darum beneidet. Seit
Hinzu kommt, dass die Programme der Städtebauförde- nunmehr knapp 40 Jahren leisten wir mit der Städte-
rung, zum Beispiel „Soziale Stadt“ und Stadtumbau Ost bauförderung erfolgreich einen Beitrag zur Verbesserung
und West, abgewickelt werden. Allein übrig bleibt ein der Innenentwicklung unserer Städte und Gemeinden.
unspezifisches Schrumpfprogramm. Das bedeutet das Sie hat sich bewährt und wurde stetig und zielgerichtet
Aus für einen Großteil der bundesweit 3 400 Gebiete, in weiterentwickelt und den jeweiligen Anforderungen an-
denen Städtebauförderung betrieben wurde. gepasst.
(B) Für eine nachhaltige und zukunftsweisende Entwick- Es gibt viele gute Beispiele in unserem Land, die dies (D)
lung der Städte und Gemeinden sind die Bundesländer eindeutig dokumentieren. Ein Beispiel ist Pirmasens, wo
und Kommunen auf eine engagierte Klimaschutzpolitik der Strukturwandel dieser von der Schuhindustrie ge-
des Bundes und eine Fortentwicklung der Instrumente prägten Industriestadt unterstützt wurde. Weitere Bei-
zwingend angewiesen. Die SPD hat in ihrer Regierungs- spiele sind die Spandauer Vorstadt in Berlin, das Hollän-
zeit die entscheidenden Impulse gegeben. Aufgabe der dische Viertel in Potsdam und die Aufwertung des
Politik muss es sein, einen nachhaltigen und sozialver- Nordostbahnhofs in Nürnberg. Schauen Sie sich auch
träglichen Ansatz zu verfolgen, der Barrierefreiheit, de- die städtebaulichen Maßnahmen in Greifswald, Essen,
mografischen Wandel und Klimaschutz verbindet. Kassel, Bamberg, Leinefelde usw. an. Das könnte belie-
big fortgesetzt werden. All das sind gelungene Beispiele,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und ein Besuch lohnt sich.
DIE GRÜNEN)
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Das haben Sie doch
Ich fasse zusammen. Durch die ambitionierten Pro- nicht gemacht! Sie machen jetzt genau das Ge-
gramme müssen vier Ziele erreicht werden: Die Klima- genteil!)
schutzziele müssen in den geplanten Zeiträumen erreicht
werden; Arbeitsplätze müssen generiert und gesichert Ich lade Sie auch in meinen Wahlkreis nach Rastatt
werden; die Energiekosten müssen für alle bezahlbar oder nach Baden-Baden ein, wo nach dem Abzug meh-
bleiben; lebenswerte Städte und Gemeinden müssen ge- rerer Tausend Angehöriger der französischen Streitkräfte
staltet werden. Deshalb fordern wir Sie auf, die angekün- ganze Stadtteile mit Städtebaufördermitteln neu geord-
digte Mittelkürzung zu unterlassen und die Programme net wurden,
weiterzuentwickeln.
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Das haben Sie auch
Ich komme zum Schluss: Auf der Homepage des nicht gemacht!)
Bundesbauministeriums finden Sie interessanterweise und das war nicht in Ihrer Regierungszeit.
folgenden Satz zur CO2-Gebäudesanierung: „Die Bun-
desregierung handelt konsequent …“ Ich fasse zusam- (Uwe Beckmeyer [SPD]: Und was passiert
men: Die Bundesregierung untergräbt Klimaschutzziele, jetzt?)
gefährdet Arbeitsplätze und vernachlässigt die Kommu-
nen. Vor dem Hintergrund dringend notwendiger Konsoli-
dierungsmaßnahmen hat die Bundesregierung in dieser
Herzlichen Dank. Woche den Bundeshaushalt 2011 beschlossen.
5894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

Peter Götz
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Uwe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C)
Beckmeyer [SPD]: CO2-Gebäudesanierung ist
das Thema!) Wir sollten prüfen, wie durch eine Bündelung der ver-
schiedenen Programme Überschneidungen, die immer
Eine der vielen darin enthaltenen Sparmaßnahmen ist die wieder kritisiert werden, vermieden werden können.
Reduzierung der Mittel für die Städtebauförderung; das
bleibt nüchtern festzustellen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
(Uwe Beckmeyer [SPD]: CO2-Gebäudesanie-
Wir sollten auch über eine Priorisierung der uns be-
rung ist das Thema! – Gegenruf des Abg.
sonders wichtigen Handlungsschwerpunkte im Bereich
Patrick Döring [FDP]: Die Städtebauförderung
der Städtebauförderung nachdenken. Unsere alternde
ist auch Thema!)
Gesellschaft und Klimaschutzfragen sind dabei beson-
Das schmerzt die Fachpolitiker genauso wie die Vielzahl ders zu berücksichtigen. Des Weiteren sollten wir krea-
jener, denen die Erfolgsgeschichte der Städtebauförde- tive Wege suchen, wie wir für bestimmte Programmteile
rung bewusst ist. Wir wissen: Nicht nur die Städte- alternative Finanzierungsquellen erschließen. Dies gilt
bauförderung, sondern auch andere Politikfelder sind für den öffentlichen wie für den privaten Bereich.
von den Kürzungen betroffen, und die Begeisterung da-
Die Städtebauförderung ist unbestritten auch ein Kon-
für ist auch dort begrenzt und überschaubar.
junkturprogramm, das viele private Investitionen aus-
Die vorgesehenen Konsolidierungsmaßnahmen sind löst. Sie ist eine wichtige Stütze für das heimische Hand-
ein Teil des Weges, den wir gehen müssen, um die im werk und den Mittelstand. Auch deshalb ist es richtig,
Grundgesetz festgeschriebene Schuldenbremse einzu- sie zu erhalten und weiterzuentwickeln. Das gilt übri-
halten. Die Schuldenbremse haben wir alle gemeinsam gens auch für das -Gebäudesanierungsprogramm,
beschlossen, und ich sage auch: Sie ist richtig. In den auf das mein Kollege Volkmar Vogel noch näher einge-
letzten Jahren haben wir im Rahmen der Konjunkturpa- hen wird.
kete I und II zig Milliarden Euro an Bundesmitteln für Übrigens hat der Haushaltsausschuss mit der Vorlage
die Städte, Gemeinden und Kreise ausgegeben, um die des Entwurfs des Bundeshaushalts 2011 in dieser Woche
Konjunktur zu stützen. Dafür haben wir zu Recht von die Haushaltssperre beim Marktanreizprogramm aufge-
vielen Seiten Beifall erhalten. Davon flossen übrigens hoben. Das heißt konkret, dass die Antragsteller jetzt
auch zusätzliche Gelder in die Städtebauförderung und ihre Bundeszuschüsse im Bereich der erneuerbaren
die Stadtentwicklung. Energien und bei der energetischen Sanierung im Ge-
Nachdem die Wirtschaft aufgrund der politischen bäudebestand erhalten können.
(B) (D)
Entscheidungen, die wir hier in diesem Hause getroffen (Zuruf von der SPD: Viel zu spät! – Uwe
haben, jetzt nachweislich wieder wächst, muss nun als Beckmeyer [SPD]: Das haben wir doch schon
nächster Schritt die Phase der Haushaltskonsolidierung im letzten Jahr beschlossen!)
folgen, damit wir auch in Zukunft wieder mehr für den
Städtebau tun können. Für die Folgejahre sind dafür weit über 1 Milliarde Euro
vorgesehen. Das ist übrigens mehr als doppelt so viel, als
Für uns ist es wichtig, dass die Städtebauförderung in die rot-grüne Regierung seinerzeit einzusetzen bereit
dieser Diskussion nicht ganz dem Rotstift zum Opfer ge- war.
fallen ist und dass sich Bundesminister Peter Ramsauer
klar und eindeutig zur Städtebauförderung bekannt hat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Städtebauförderung ist das wichtigste kommunal-
In dieser Woche hat der Minister zusammen mit den politische Instrument für die Lebensqualität der Men-
Ländern den Dialog zur Perspektive der Städtebauförde- schen und die Stärkung der Innenentwicklung unserer
rung in Gang gesetzt. Herr Staatssekretär Mücke, ich Städte und Gemeinden. Sie ist ökonomisch und ökolo-
bitte darum, in diesen notwendigen Dialog frühzeitig gisch sinnvoll, und sie hat sich bewährt.
auch die kommunalen Spitzenverbände einzubinden, da-
mit ihr Sachverstand genutzt werden kann. Denn die Be- Deshalb arbeiten wir dafür, dass diese Städtebauför-
troffenen sind letztlich die Städte und Gemeinden. derung auch nach nahezu 40 Jahren eine gute Zukunft
hat.
Wir wollen übrigens auch die Gemeindefinanzen
nachhaltig stärken. Deshalb hat die Bundesregierung (Uwe Beckmeyer [SPD]: Ein Schrumpfhaus-
eine Gemeindefinanzreformkommission eingesetzt. Der halt bleibt ein Schrumpfhaushalt!)
Zwischenbericht lag uns diese Woche vor. Die Ergeb- Ich werde mich im Rahmen der anstehenden Haushalts-
nisse werden wir im Herbst dieses Jahres beraten. planberatungen dafür einsetzen, dass der Kürzungsum-
Doch zurück zur Städtebauförderung. Wir sollten die fang in der heute diskutierten Größenordnung nicht be-
Debatte um eine Mittelreduktion auch als Chance sehen. stehen bleibt.
Wir müssen die Effizienz der Städtebauförderpro- Herzlichen Dank.
gramme verbessern, damit mit weniger Geld mehr Nut-
zen entsteht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5895

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: nierungsprogramm. Neben der Energieeinspar- (C)


Das Wort hat der Kollege Stephan Kühn für die Frak- verordnung … ist es die wichtigste Maßnahme der
tion Bündnis 90/Die Grünen. Bundesregierung für Energieeinsparung und Kli-
maschutz im Gebäudebereich.
Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nichts ist von Ihren Ankündigungen übrig geblieben.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Bisher sind durch das Programm 7 Millionen Tonnen
Kollegen! Wer die Städtebauförderung dermaßen zusam- CO2 eingespart worden. Und wir alle wissen, dass
menstreicht und die Programme abwickelt, dass er die 20 Prozent unserer CO2-Emissionen im Gebäudebereich
Restmittel für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm im verursacht werden. Es kann nicht sein, dass zwar einer-
nächsten Jahr nochmals halbiert und 2012 gar keine Mit- seits das Ordnungsrecht mit der Energieeinsparverord-
tel mehr zur Verfügung stellt, macht genau das Gegenteil nung 2009 weiterentwickelt wird, andererseits aber nicht
von intelligentem Sparen. die entsprechenden Anreize gegeben werden. Denn dann
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist es für viele Private, aber auch für Wohnungsunterneh-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der men überhaupt nicht mehr wirtschaftlich darstellbar,
LINKEN) diese energetischen Sanierungsmaßnahmen vorzuneh-
men.
Damit werden Sie nichts einsparen; vielmehr wird es den
Staat im Nachhinein sehr viel kosten. Denn die ökologi- Heute liegt die Sanierungsquote im Gebäudebereich
sche Verschuldung wird zunehmen. bei 1 Prozent. Das bedeutet, dass wir – wenn wir so wei-
termachen und diese Anreize gestrichen werden – wahr-
Vor allen Dingen ist es ein weiterer Beitrag Ihrer Poli- scheinlich noch 100 Jahre brauchen werden, bis unsere
tik zulasten der Kommunen. Denn Sie verhindern not- Gebäude durchgehend saniert sind. Die Deutsche Ener-
wendige Investitionen in die Zukunftsfähigkeit unserer gie-Agentur sagt: Wir brauchen eine Sanierungsquote
Städte und Gemeinden. von 3 Prozent und 5 Milliarden Euro für das CO2-Sanie-
Sie sparen, wie gesagt, auch nichts ein. Denn Sie ge- rungsprogramm. – Offensichtlich sind diese Aussagen
fährden Arbeitsplätze im Handwerk und im Mittelstand. nicht gut angekommen; denn auch bei der dena wird ge-
Gerade jetzt, wo ein konjunktureller Impuls gebraucht kürzt. Im Haushalt werden der dena im nächsten Jahr die
wird, streichen Sie diese Programme zusammen. Mittel für Projekte zur Steigerung von Energieeffizienz
und zur Verbesserung von Klimaschutz im Gebäudebe-
Man hat von Ihnen immer geglaubt, dass Sie gut rech- reich halbiert. Die Kürzungsorgie setzt sich also fort.
nen können. Das Schlimme ist, dass Sie völlig die öko-
Ich kann nur fordern – und das tut meine Fraktion (D)
(B) nomische Hebelwirkung vergessen, die von diesen Pro-
grammen ausgeht. Es ist zum Teil schon angesprochen auch –, die Mittel im CO2-Gebäudesanierungsprogramm
worden: 2009 sind 2,2 Milliarden Euro öffentlicher Gel- auf dem Niveau des Jahres 2009 zu verstetigen, die
der in das CO2-Gebäudesanierungsprogramm geflossen. EFRE-Mittel, die wir auch für energetische Gebäude-
Dadurch sind private Investitionen in Höhe von sanierung einsetzen können, endlich zu nutzen und die
18 Milliarden Euro zustande gekommen. In der Städte- Städtebauförderungskürzungen zurückzunehmen.
bauförderung – dazu hatten wir eine Anfrage gestellt –
(Patrick Döring [FDP]: Und im Himmel ist
hat 1 Euro aus öffentlichen Mitteln 8,5 Euro private In-
Jahrmarkt!)
vestitionen ausgelöst. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt
eine Studie des DIW. Das sind also rentable Fördermaß- Denn ansonsten – das muss man ganz klar sagen –
nahmen, die zu Mehreinnahmen führen – allein schon findet Städtebaupolitik und Baupolitik im Ministerium
durch die Umsatzsteuer oder die Lohnsteuer. von Herrn Ramsauer überhaupt nicht mehr statt. Ich
Vor allen Dingen frage ich mich, wie Sie, wenn Sie frage mich, wie wir unsere Städte auf das Problem de-
diese Programme so massiv zusammenstreichen, Ihre mografischer Wandel und im Osten auf das Problem
Klimaschutzziele erfüllen wollen. Stadtumbau Ost – Stichwort: zweite Leerstandswelle –
überhaupt einstellen und sie dabei unterstützen wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Darauf geben Sie keine Antwort.
und bei der SPD – Zuruf von der SPD: Gute
Frage!) Anders sieht es im Verkehrsbereich aus. Da gibt es
überhaupt keine Abstriche. Wir leisten uns weiter über-
Im Januar sind wir im Bauausschuss darüber unter- dimensionierte Verkehrsprojekte, die keine privaten In-
richtet worden, dass das Bundesministerium vorhat, sek- vestitionen zur Folge haben, sondern nur Folgekosten
torspezifische Energie- und Klimaschutzziele für den verursachen. Dann soll Herr Ramsauer ehrlich sein und
Bereich Verkehr und Gebäude aufzustellen. In dem Be- die Begriffe „Bau“ und „Stadtentwicklung“ aus seinem
richt an den Ausschuss heißt es – ich zitiere –: Ministeriumstitel streichen. Dann können wir im Übri-
Im Rahmen ihrer Klimaschutzpolitik im Gebäude- gen auch den Staatssekretär, der für dieses Thema zu-
bereich setzt die Bundesregierung auf den bewähr- ständig ist, einsparen.
ten Instrumenten-Mix, der Vorgaben und Anreize Herzlichen Dank.
miteinander verbindet, fordert und fördert. Ein eta-
bliertes Werkzeug, dessen Wirksamkeit und Effizienz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
stets verbessert wird, ist das CO2-Gebäudesa- bei der SPD und der LINKEN)
5896 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich bin stolz darauf, dass es dieser Bundesregierung (C)
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Jan gelungen ist, dieses Programm überhaupt fortzusetzen.
Mücke. Ich bin stolz auf jede einzelne Million der 436 Millionen
Euro, die wir im Jahr 2011 für das CO2-Gebäudesanie-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rungsprogramm vorsehen. Dieses Programm hat in den
letzten Jahren eine große Arbeitsplatzwirkung gehabt.
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- Es konnten damit über 300 000 Arbeitsplätze gesichert
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: werden. Wir wollen dafür sorgen, dass dieses Programm
trotz aller Sparbemühungen im Haushalt in den nächsten
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Jahren fortgeführt wird.
Kollegen! Deutschland ist gut durch die Wirtschafts-
und Finanzmarktkrise gekommen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Zuruf von der SPD: Dank Peer Steinbrück!) Wichtig ist, dass wir immer die Marktentwicklung be-
trachten. Ich habe mir heute Morgen die Mühe gemacht
Wir haben ein erfreuliches Wirtschaftswachstum, das in und mir das aktuelle Zinsniveau angesehen. Ein Blick
diesem Jahr bei 2 Prozent liegen wird. Einige gehen so- darauf lohnt sich durchaus; denn ein Großteil des CO2-
gar von einem Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent Gebäudesanierungsprogramms wird für die Verbilligung
aus. Wir können feststellen, dass wir in Deutschland nur von Krediten verwendet, also für eine Zinssubvention.
noch knapp über 3 Millionen Arbeitslose insgesamt ha- Als das Programm 2006 eingeführt wurde, lag der Zins
ben. In den neuen Bundesländern – das freut mich ganz für die Finanzierung einer Bestandssanierung bei unge-
besonders – liegt die Zahl der Arbeitslosen seit Anfang fähr 4,5 Prozent. Heute Morgen war der aktuelle Stand
der 1990er-Jahre das erste Mal sogar wieder unter ei- 2,86 Prozent. Sie bekommen eine Finanzierung von
ner Million. 50 000 Euro mit einer Zinsbindung von fünf Jahren zu
diesem Zinssatz. So niedrig sind die Zinsen noch nie ge-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wesen. Wir sollten auf diesem historisch niedrigen Zins-
Dass diese Erfolge erzielt werden konnten, liegt an niveau die Marktkräfte wirken lassen,
staatlichen Ausgabeprogrammen, die zum großen Teil (Uwe Beckmeyer [SPD]: Die Marktkräfte!)
schuldenfinanziert gewesen sind. Dazu gehören die
Konjunkturpakete I und II; dazu gehört auch das CO2- und wir sollten darauf setzen, dass sich die Menschen
Gebäudesanierungsprogramm. Die damaligen Regie- jetzt sehr viel preiswerter mit Krediten versorgen können
rungsparteien haben sich für dieses Programm eingesetzt und sie deshalb ihre Häuser billiger auch energetisch sa-
und durchgesetzt, dass für insgesamt vier Jahre pro Jahr nieren können. Trotz dieser Zinsentwicklung werden wir
(B) 1,5 Milliarden Euro für das CO -Gebäudesanierungspro-
2
weiter das CO2-Gebäudesanierungsprogramm fortset- (D)
gramm zur Verfügung stehen. Das ist ein Gesamtbetrag zen.
von 6 Milliarden Euro. Wenn ich mir heute die Bilanz (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
anschaue, dann kann ich für das Jahr 2010 feststellen,
dass die Gesamtausgaben am Ende dieses Jahres bei Uns ist bewusst, dass die Kürzung der Mittel für die
7,2 Milliarden Euro liegen werden. Sie können an diesen Städtebauförderung schmerzlich ist. Wir wissen durch-
Zahlen sehen, dass die Bundesregierung dieses erfolgrei- aus, dass wir gemeinsam mit den Kommunen eine große
che CO2-Gebäudesanierungsprogramm fortgesetzt hat, Verantwortung tragen. Aber bei diesen Städtebauförder-
obwohl Sie selbst – damit spreche ich ausdrücklich die mitteln handelt es sich um Bundesfinanzhilfen. Das soll
Sozialdemokraten an – ursprünglich vorhatten, dieses man nie aus den Augen verlieren. Der Begriff deutet da-
Programm nur 4 Jahre lang mit einem Volumen von rauf hin, dass es eine gemeinsame Verantwortung gibt,
6 Milliarden Euro durchzuführen. also nicht nur die des Bundes, sondern auch die der Län-
der und der Kommunen. Wir müssen dafür sorgen, dass
Bei einer volkswirtschaftlichen Betrachtung im Sinne wir in den nächsten Jahren mit weniger Geld eine intelli-
von Keynes ist es wichtig, nicht nur die von ihm vorge- gentere Stadtentwicklung betreiben.
schlagenen schuldenfinanzierten Ausgabenprogramme
durchzuführen, sondern auch seine Forderung zu beher- (Uwe Beckmeyer [SPD]: Dann gehen Sie mal in-
zigen, das öffentliche Defizit in Zeiten guter Konjunktur telligenter voran! Davon merkt man nichts!)
zurückzuführen. Das tun wir mit den Einsparungen, die Das wird keine ganz einfache Aufgabe werden. Wir
wir jetzt vornehmen, da die Wirtschaft etwas besser läuft wollen gemeinsam mit den Kommunen dafür sorgen,
und sich der Haushalt positiver entwickelt. dass wir auch andere Fördertöpfe, zum Beispiel solche,
die es auf europäischer Ebene gibt, anzapfen, um Städte-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Uwe
bauförderung in den nächsten Jahren voranzubringen.
Beckmeyer [SPD]: Es geht hier nicht um Key- Dass auch die Städtebauförderung einen Anteil zur Sa-
nes, sondern um das CO2-Gebäudesanierungs- nierung des Bundeshaushalts leisten muss, schulden wir
programm!) unseren Kindern und unseren Enkeln; denn auch die Ge-
Das ist in den vergangenen Jahren oftmals vergessen nerationengerechtigkeit hat etwas mit der Zukunftsfes-
worden. Man hat weiter versucht, die Konjunktur durch tigkeit einer Gesellschaft zu tun.
schuldenfinanzierte Programme anzuregen. Wir müssen Herzlichen Dank.
jetzt die Aufgabe erfüllen, diese Programme zu reduzie-
ren; so schmerzlich das ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5897

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: ben wird. Sie zielen jetzt mit der Abrissbirne genau auf (C)
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin die tragende Säule, von der der Minister spricht.
Heidrun Bluhm das Wort. Meine Damen und Herren der Regierung, Ihnen ist in
(Beifall bei der LINKEN) den letzten Tagen wie auch heute sicher schon hundert-
fach vorgerechnet worden, um wie viel mehr die von
Ihnen so hochgeschätzten Wirtschaftszweige der Immo-
Heidrun Bluhm (DIE LINKE): bilienwirtschaft und der Bauwirtschaft durch die ver-
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- meintlichen Einsparungen in Ihrem Etat gebeutelt werden.
legen! Herr Götz, Sie tun so, als wären unsere Städte alle Herr Groß hat hier aufgeführt, von wem wir im Moment
fertig. mit Stellungnahmen überschwemmt werden und was das
(Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Die für Konsequenzen hat:
sind nie fertig! Es geht immer weiter!) (Patrick Döring [FDP]: Das ist immer so!)
Nach der von Ihnen hier vorgelegten Bilanz könnte das Nahezu alle Verbände, nahezu alle Betroffenen sind zu
Stadtumbauprogramm zu Ende gehen, weil wir so wun- 100 Prozent der Auffassung, dass das, was wir hier ma-
derschöne Städte haben. Und das sagen Sie als ehemali- chen, wirklich der Konkurs ist. Ich glaube nicht, dass
ger Bürgermeister! das, was wir so erfolgreich in Gang gesetzt haben – wir
alle haben voller Stolz immer wieder berichtet, was das
(Peter Götz [CDU/CSU]: Ich habe gute Bei-
für die Wirtschaft in Deutschland bedeutet hat –, jemals
spiele genannt! – Volkmar Vogel [Kleinsaara]
wieder so wird, wie es einmal war, ganz zu schweigen
[CDU/CSU]: Die Städte im Osten waren nicht
von den Mehraufwendungen und vor allem von den Ver-
nur fertig, sondern fix und fertig!)
lusten der anderen Ressorts, zum Beispiel des Ministe-
Wie wollen Sie das Ihren Bürgermeisterkollegen in den riums für Arbeit und Soziales. Wir werden merken, dass
anderen Städten erklären? es zusätzliche Arbeitslose, mehr Bedarfsgemeinschaften
bei Hartz IV und mehr Wohngeldempfänger gibt. Wahr-
Was mich beeindruckt hat: Sie haben es in Ihrer Rede scheinlich wird es dann Maßnahmen geben, auch Trans-
tatsächlich geschafft, keinen einzigen Satz dazu zu ver- ferleistungen wie das Wohngeld zu kürzen.
lieren, dass es sich hier um eine Halbierung der Förde-
rung, die wir bereits in Aussicht gestellt hatten, handelt. (Patrick Döring [FDP]: Das ist ein Zerrbild,
Gerade im Bereich Bauen besteht die Verlässlichkeit da- was da gezeichnet wird!)
rin, dass man, auch als Kommune, über Jahre planen Dabei ist das, was Sie tun, nicht einmal Sparen; denn
(B) können muss. Ich weiß nicht, wie Sie Ihren Bürgermeis- Sparen hieße ja, für die Zukunft vorzusorgen. Unsere (D)
terkollegen erklären wollen, dass wir die Hälfte, also Kinder und Enkel, die vorgeblich vor weiter wachsenden
50 Prozent, der zugesagten Mittel – wir hatten die Fort- Schulden bewahrt werden sollen, werden ein Vielfaches
schreibung unseres Haushalts vereinbart – für alle in- von dem, was jetzt weggestrichen wird, aufbringen müs-
frage kommenden Förderprogramme streichen. sen, um die ihnen hinterlassenen ökologischen Lasten
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- und vor allem die demografischen Probleme noch ir-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE gendwie in den Griff zu bekommen.
GRÜNEN) (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist das!)
Kurz bevor das Sparprogramm verabschiedet wurde, Die Erderwärmung werden wir ihnen ebenso wenig er-
hat unser Fachminister Ramsauer insbesondere zur Im- sparen können wie den Mangel an altersgerechtem und
mobilienwirtschaft gesagt – ich zitiere –: barrierefreiem Wohn- und Lebensraum. Drastische Un-
Die Immobilienwirtschaft ist eine tragende Säule terversorgung mit bezahlbaren Wohnungen in prosperie-
unserer Volkswirtschaft. Sie stärkt den Standort renden Regionen kriegen Sie mit diesem Streichpaket
Deutschland und trägt maßgeblich dazu bei, Ar- ebenso wenig kleingespart wie den dramatischen Woh-
beitsplätze in Deutschland zu sichern. Die Branche nungsleerstand und den Zerfall ganzer Quartiere, vor al-
ist eine der größten Wirtschaftszweige mit mehr als lem in den schrumpfenden Regionen.
460 000 Erwerbstätigen und einer Bruttowertschöp- Erfahrungsgemäß heißt das: Was einmal weg ist, das
fung von mehr als 260 Milliarden Euro. taucht auch nie wieder auf, Herr Mücke. Deswegen
(Peter Götz [CDU/CSU]: Hat er recht!) wage ich zu prognostizieren: Wenn dieses Sparpaket so
durchgezogen wird, wie beabsichtigt, ist das der Einstieg
Zusammen mit der Bauwirtschaft findet dort eine jährli- in den Ausstieg aus den Klimaschutzzielen, ist das der
che Wertschöpfung von über 400 Milliarden Euro statt. Anfang vom Abschied des Bundes aus dem Stadtumbau
Wenn wir uns bewusst machen, welche Wirkungen das Ost und West, aus dem Programm „Soziale Stadt“, aus
auf die Bauwirtschaft und auf die Immobilienwirtschaft der Förderung aktiver Stadt- und Ortsteilzentren, und
hat – ich rede jetzt noch nicht einmal von den Städten, selbstverständlich ist das auch der K.o. für die soziale
die die Städtebaumittel brauchen –, dann wird uns klar, Wohnraumförderung der Länder. Denn die Länder wer-
dass die Zahlen zur Arbeitslosigkeit, die Herr Mücke den – das kann man ihnen in dieser Situation nicht ein-
hier eben vorgetragen hat, überhaupt keinen Bestand ha- mal verübeln – die freigesetzten Kofinanzierungsmittel
ben werden und dass es eine Rückwärtsentwicklung ge- nicht sparen, –
5898 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Meine Damen und Herren, gemessen am Sanierungs- (C)
Kollegin Bluhm, achten Sie bitte auf das Signal. bedarf – das muss man an dieser Stelle noch einmal deut-
lich sagen – werden wir dieses Programm nie ausfinan-
zieren können. Wie wir alle wissen, ist der Bedarf
Heidrun Bluhm (DIE LINKE):
nämlich so groß, dass wir wahrscheinlich den gesamten
– sondern sie werden sie gezwungenermaßen zur Lö- Investitionshaushalt des Bundes in das CO2-Gebäudesa-
sung anderer Probleme ausgeben, sodass sie auch dieses nierungsprogramm stecken könnten und es trotzdem
Geld später nicht mehr haben. nicht ausreichte.
Wir als Linke wollen – –
(Peter Götz [CDU/CSU]: So viele Handwerker
gibt es gar nicht!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das war jetzt ernst gemeint. Sie haben Ihre Redezeit Wir müssen die privaten Initiativen unterstützen, und
bereits überschritten. zwar mit Geld, aber – das kam heute in der Diskussion
aus meiner Sicht zu kurz, bzw. wurde außer von meinem
Kollegen Peter Götz noch gar nicht genannt – vor allen
Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Dingen auch durch einfache, nachvollziehbare Regelun-
Entschuldigung. – Wir wollen dem sozialen Grundbe- gen.
dürfnis nach Wohnen gerecht werden, und deshalb unter-
stützen wir die beiden Antragsteller SPD und Grüne. Trotzdem helfen die gezielten Anreize des Pro-
gramms, Investitionen freizusetzen – besonders im
Danke schön. Handwerk und bei mittelständischen Baufirmen.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Das Programm war bis Ende 2011 ausgelegt. Danach
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wäre Schluss. Derzeit laufen Untersuchungen, welche
Wirkung es zeigt. Im internationalen Maßstab liegt es
Vizepräsidentin Petra Pau: ganz vorn; ich denke, sogar auf Platz eins. Deshalb wird
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Volkmar die christlich-liberale Koalition prüfen – das werden wir
Vogel das Wort. auch positiv tun –, wie dieses Programm noch effizienter
fortgeführt werden kann.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich möchte an dieser Stelle an Folgendes erinnern:
Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): 2009 standen 2,2 Milliarden Euro zur Verfügung. 750 Mil-
(B) lionen Euro davon haben wir aus 2010 und 2011 vorgezo- (D)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
gen. Trotz der erkennbaren Finanzlücke haben wir den
Unsere Städte werden nie fertig sein. Sie stehen nämlich
Haushaltsansatz für 2010 durch Vorziehung aus 2011
immer wieder vor neuen Herausforderungen. Die Heraus-
noch einmal um 400 Millionen Euro auf 1,4 Milliarden
forderungen der nächsten Jahre sind der demografische
Euro aufgestockt.
Wandel und die Energieeinsparung, damit Nebenkosten
bezahlbar bleiben sowie Umwelt und Klima geschützt Die Sparzwänge durch die Schuldenbremse gehen lei-
werden. der auch an diesem Programm nicht vorbei.
Die Strukturanpassungen unterstützt der Bund mit Lassen Sie mich an dieser Stelle bekräftigen: Die
seinen Städtebauförderprogrammen. Kollegen meiner Fraktion und ich sind nach wie vor der
Nun können wir mit der Opposition über die vorlie- Meinung, dass das CO2-Gebäudesanierungsprogramm
genden Anträge streiten, darüber, dass diese Programme eines der erfolgreichsten klimapolitischen Förderinstru-
nicht mit den notwendigen finanziellen Mitteln ausge- mente der Bundesrepublik ist.
stattet sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Uwe
Ich möchte hier aber gemeinsam mit meinem Kolle- Beckmeyer [SPD]: Wohl wahr!)
gen Peter Götz noch einmal ganz deutlich erklären: Wir Dennoch muss jetzt bedachtes, nachhaltiges und vor al-
werden keines der Programme streichen. Sie bedienen lem generationengerechtes Handeln, besonders in Haus-
alle Belange des Städtebaus in ihrer Vielschichtigkeit haltsfragen, im Vordergrund stehen. Wir müssen uns in
und in ihrer Differenziertheit, diesen Zeiten damit abfinden, dass wir nicht unbegrenzt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zusätzliches Geld ausgeben können.
also regional, nach Eigentümerstruktur, nach Bewirt- (Zuruf von der SPD: Nicht zusätzliches!)
schaftungsform, nach sozialen Belangen und nach öko-
logischen Erfordernissen. 2012 wäre mit dem Programm Schluss. Wie gesagt,
wir prüfen die Fortschreibung. Was ist in Anbetracht nö-
Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm hat sich auf tiger Sparzwänge besser – 2011 ohne Kürzung circa
diesem Feld ganz besonders bewährt: klimapolitisch für 800 Millionen Euro auszugeben und dann garantiert
die Umwelt, konjunkturpolitisch für das Handwerk so- Schluss machen zu müssen oder eine Fortsetzung auf
wie das Baugewerbe und wohnungspolitisch in Bezug niedrigem Niveau, um das Programm am Laufen zu hal-
auf den Modernisierungsgrad der Gebäude. ten?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5899
Volkmar Vogel (Kleinsaara)
(A) (Gustav Herzog [SPD]: Erhöhen Sie doch die die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- (C)
Mehrwertsteuer für Hotelübernachtungen! schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Dann haben Sie das Geld!) Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Mei- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 auf:
nung, dass Letzteres der geeignetere Weg ist.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wieland, Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck
Wie Staatssekretär Mücke bereits ausgeführt hat, kann (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
das derzeit niedrige Zinsniveau nämlich eine günstigere BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kreditaufnahme ermöglichen. Elektronischen Personalausweis nicht einfüh-
Die effektive Förderung von Einzelmaßnahmen in der ren
Breite bewirkt ein besseres Ergebnis für Wirtschaft und – Drucksache 17/2432 –
Klimabilanz als eine teure Förderung zur Erreichung des
Überweisungsvorschlag:
absoluten Spitzenwertes an Effizienz. Es ist doch alle- Innenausschuss (f)
mal besser, mit einer bestimmten Geldsumme in der Rechtsausschuss
Breite viel zu erreichen, als mit einem Betrag, der nur für Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
die Spitze eingesetzt wird, eine viel geringere CO2-Min-
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
derung zu erzielen.
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. – Ich
Deswegen kommt es aus unserer Sicht darauf an, dass sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die
wir das CO2-Gebäudesanierungsprogramm in der Zu- Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Stephan
kunft flexibler handhaben. Mayer, CDU/CSU, Frank Hofmann, SPD, Manuel Höferlin
für die FDP, Jan Korte für die Fraktion Die Linke und
Dies gilt übrigens auch in Verbindung mit anderen
Wolfgang Wieland für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
Programmen. Der Ansatz der Verknüpfung der Pro-
nen.1)
gramme im Städtebau muss gerade bei knappen Kassen
konsequent fortentwickelt werden. Altersgerechtes Woh- Auch hier wird interfraktionell die Überweisung der
nen, Barrierefreiheit, Energieeffizienz, soziale und tech- Drucksache an die in der Tagesordnung aufgeführten
nische Infrastruktur sowie Gebäudemanagement müssen Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
im Komplex betrachtet werden. den? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Dafür haben wir unsere bewährten Programme. Des- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
(B) halb führen wir sie weiter, und deshalb werden wir sie ordnung. (D)
finanziell so ausstatten, wie wir es uns leisten können:
mal schlechter, aber garantiert auch wieder besser. Daran Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
– davon bin ich überzeugt – werden die Baupolitiker der destages auf Dienstag, den 14. September 2010, 10 Uhr,
Koalition arbeiten. ein.
Vielen Dank. Die Sitzung ist geschlossen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich wünsche Ihnen erholsame Tage, manche neue Er-
kenntnisse und Ideen. Wir sehen uns dann am 14. Sep-
Vizepräsidentin Petra Pau: tember hier wieder.
Ich schließe die Aussprache. (Schluss: 14.27 Uhr)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/2346, 17/2395 und 17/2396 an 1) Anlage 2
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5901

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 nis 90/Die Grünen, obwohl er inhaltlich in keiner Weise


haltbar ist, dankbar sein. So besteht die Möglichkeit in
Liste der entschuldigten Abgeordneten diesem Hohen Hause erneut über das vielversprechende
Projekt, das nun zum 1. November dieses Jahres endlich
entschuldigt bis auch den Bürgerinnen und Bürgern zugänglich sein
Abgeordnete(r) einschließlich wird, zu sprechen.
Zunächst möchte ich kurz auf die in Ihrem Antrag
Burkert, Martin SPD 09.07.2010 formulierte Kritik eingehen. Sie führen zwei Kritik-
punkte an: Zum einen haben Sie Bedenken gegen die
Dr. Enkelmann, Dagmar DIE LINKE 09.07.2010 Ausgestaltung des neuen Personalausweises als Bio-
Friedhoff, Paul K. FDP 09.07.2010 metriedokument, und zum anderen stellen Sie die nach-
haltige Sicherung der auf dem Ausweis gespeicherten
Gehring, Kai BÜNDNIS 90/ 09.07.2010 Daten in Frage.
DIE GRÜNEN
Sie sprechen in Ihrem Antrag richtigerweise das bis-
Herrmann, Jürgen CDU/CSU 09.07.2010 herige Ausweisdokument an, auf dem, wie auch Ihnen
von den Grünen sicher bekannt ist, bereits vier biometri-
Kaster, Bernhard CDU/CSU 09.07.2010 sche Daten enthalten sind, nämlich Körpergröße, Augen-
farbe, Lichtbild und Unterschrift. Durch die Erweiterung
Laurischk, Sibylle FDP 09.07.2010 um das digitale Bild und die explizit freiwillige Speiche-
Lenkert, Ralph DIE LINKE 09.07.2010 rung von Fingerabdrücken wird eine stärkere und nach-
vollziehbare Bindung zwischen Ausweisinhaber und
Liebich, Stefan DIE LINKE 09.07.2010* Dokument erreicht. Dass dadurch die missbräuchliche
Verwendung gestohlener Ausweise erschwert wird, liegt
Menzner, Dorothee DIE LINKE 09.07.2010 auf der Hand.
Ortel, Holger SPD 09.07.2010 In Ihrer Argumentation hinsichtlich möglicher Sicher-
heitsbedenken, dem zweiten Aspekt Ihres Antrages, räu-
Dr. Riesenhuber, Heinz CDU/CSU 09.07.2010
men Sie erfreulicherweise die Sinnhaftigkeit und
(B) Dr. Scheuer, Andreas CDU/CSU 09.07.2010 Notwendigkeit der Verbesserung der sicheren Kommu- (D)
nikation im Internet ein. Umso erstaunlicher erscheint
Schipanski, Tankred CDU/CSU 09.07.2010* mir die Tatsache, dass Sie eine weitere Karte für den
Versandhandel fordern. Wollen Sie dann auch eine wei-
Schmidt (Aachen), Ulla SPD 09.07.2010
tere Karte für die Kommunikation mit Behörden? Und
Schnieder, Patrick CDU/CSU 09.07.2010 noch eine Karte für sicheren privaten Austausch? Neben
der fehlenden praktischen Tauglichkeit dieses Vorschla-
Schreiner, Ottmar SPD 09.07.2010 ges widerspricht dies auch dem Gebot der Datenspar-
samkeit.
Thönnes, Franz SPD 09.07.2010
Der neue Ausweis vereint all diese Möglichkeiten.
Wellmann, Karl-Georg CDU/CSU 09.07.2010* Zukünftig können die Ausweisinhaber sich im Internet
Wolff (Wolmirstedt), SPD 09.07.2010 elektronisch sowohl gegenüber Behörden im E-Govern-
Waltraud ment als auch gegenüber privatwirtschaftlichen Dienst-
leistungsanbietern, beispielsweise beim Onlineshopping,
Wunderlich, Jörn DIE LINKE 09.07.2010 Onlinebanking oder beim Onlinekauf von Tickets jed-
weder Art, ausweisen. Gleichzeitig erhält der Ausweis-
Zapf, Uta SPD 09.07.2010 inhaber über ein Zertifikat die Bestätigung, dass die von
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- ihm aufgerufene Website auch dazu berechtigt ist, seine
sammlung der OSZE Daten abzufragen. Wäre diese Innovation bereits einge-
führt und etabliert, wären unter Umständen die prakti-
schen und wirtschaftlichen Hürden bei der Umstellung
Anlage 2 auf den Elektronischen Entgeltnachweis, ELENA, deut-
lich geringer gewesen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zurück zu Ihrem Antrag. Das wesentliche Argument
zur Beratung des Antrags: Elektronischen Per- in dem Antrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die
sonalausweis nicht einführen (Tagesordnungs- Grünen bezieht sich offensichtlich auf mögliche Sicher-
punkt 37) heitsbedenken. Ich nehme dabei durchaus erfreut zur
Kenntnis, dass Ihre Aufmerksamkeit für Sicherheitsbe-
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Im Grunde lange wächst, nur ist Sie hier unbegründet. Der neue Per-
muss man für den Antrag der Bundestagsfraktion Bünd- sonalausweis bietet eine sehr hohe Datensicherheit. Als
5902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

(A) Berichterstatter meiner Fraktion für den Bereich des Da- neuen Ausweise schnell verbreiten. Wenn die Verfahren (C)
tenschutzes im Innenausschuss des Deutschen Bundesta- institutionalisiert sind und eine gewisse Schwelle der
ges habe ich dem Aspekt der Datensicherheit selbstver- Verbreitung überschritten ist, werden die Vorteile nicht
ständlich besondere Aufmerksamkeit gewidmet. mehr zu verleugnen sein.
Es ist sichergestellt, dass alle Informationen und Mit Blick auf den hier dargestellten Sachstand sind
Übertragungen mit modernen, dauerhaft wirksamen und Ihre Befürchtungen hinsichtlich einer etwaigen Be-
international anerkannten Verschlüsselungsverfahren si- schneidung von Freiheitsrechten oder hinsichtlich der
cher geschützt werden. Der neue elektronische Personal- sicherheitstechnischen Vorkehrungen gänzlich unbe-
ausweis ist mit physikalischen und elektronischen gründet. Daher ist diesem Antrag die Zustimmung zu
Sicherheitsmerkmalen auf höchstem technologischem verweigern.
Niveau ausgestattet.
Auch unter Berücksichtigung der technischen Innova- Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Wir bekommen
tionen ist über die gesamte Gültigkeitsdauer von 10 Jah- ab dem 1. November 2010 den neuen elektronischen
ren sichergestellt, dass die technische Aufwandsschwelle Personalausweis und somit ein modernes Identitätsdoku-
für Fälschungs- oder Verfälschungsversuche sowie auch ment. Das ist nichts Neues, sondern das Produkt eines
sogenannte Hacking-Angriffe auf den Chip im Personal- sehr aufwendigen Gesetzgebungsvorhabens, das die
ausweis ausreichend hoch ist. Große Koalition in der vergangenen Legislaturperiode
erfolgreich durchgeführt hat. Insofern ist keines der
Ich teile ausdrücklich die Einschätzung der Bundes-
sachlichen Argumente im Antrag der Grünen neu. Wir
regierung, dass so die Wahrscheinlichkeit, dass die Al-
haben diese Kritikpunkte bereits während des Gesetzge-
gorithmen des neuen Personalausweises vor Ablauf der
bungsverfahrens umfassend berücksichtigt und sorgfäl-
Gültigkeitsdauer von zehn Jahren nicht mehr sicher sind,
tig abgewogen. Der Antrag dokumentiert also nur die in-
vernachlässigbar gering ist.
nere Zerrissenheit der aktuellen Bundesregierung. Hier
Ich räume ein, dass erste Überlegungen zur Realisie- zeigt sich exemplarisch, wie sich die Zeiten, die Mehr-
rung von Quantencomputern existieren, die wohl so gut heitsverhältnisse und die tragenden Argumente ändern.
wie alle bestehenden digitalen Sicherheitstechniken vor
Probleme stellen würden. Allerdings wird bis zu einer Nun zum dünnen, nicht neuen Inhalt des grünen An-
möglichen Realisierung noch viel Zeit vergehen, vor al- trags: Die Aufnahme biometrischer Merkmale ist nicht
lem wird damit aber auch die Weiterentwicklung der überflüssig, sondern in der Form, wie wir das Gesetz ge-
Sicherheitstechnologien einhergehen. Wir werden zu staltet haben, notwendig und ein Beitrag für ein moder-
diesem bisher nicht vorhersehbaren Zeitpunkt entspre- nes, technisch zeitgemäßes Ausweisdokument. Dies ist
(B)
chende Anpassungen vornehmen müssen und dies auch ein Angebot an die Bürgerinnen und Bürger, im digitalen (D)
tun. Zeitalter einen elektronischen Identitätsnachweis zu nut-
zen. Auch wenn sich die Grünen mit modernen Techno-
Neben den bereits angesprochenen Möglichkeiten, logien und Innovationen immer ein wenig schwer tun,
die der neue Personalausweis bietet, sind beispielsweise wollten wir uns dieser Entwicklung nicht verschließen.
auch erhebliche Verbesserungen für den Jugendschutz zu Einen „Standard-Identitätsnachweis im Internet“ gab es
erwarten. Mir persönlich ist, wie bereits erwähnt, der bislang nicht, obwohl immer mehr Dienstleistungen
Schutz der personenbezogenen Daten ein besonderes hierüber abgewickelt werden.
Anliegen. Der Ausweisinhaber selbst behält die volle
Kontrolle darüber, welche seiner persönlichen Daten an Unser neuer Personalausweis wird dann auch in die
den Anbieter übermittelt werden. Aufgrund seines Si- Geldbörse passen. Ob da allerdings auch noch Platz ist
cherheitskonzeptes hilft der neue Personalausweis, Inter- für eine zusätzliche Wolfgang-Wieland-Gedächtniskarte,
netkriminalität zu bekämpfen und das Vertrauen der Be- die als Identifikationskarte für den Onlinehandel dienen
völkerung in elektronische Transaktionen zu steigern. soll, halte ich für zweifelhaft.
Damit können Prozesse wie Log-in, Adressverifikation Richtig ist, dass es beim bisherigen Personalausweis
und Altersnachweis wirtschaftlicher und schneller reali- kein gravierendes Fälschungsproblem gegeben hat. Die
siert werden. Fälschungsquoten waren und sind gering. Der Sicher-
Die umfangreichen Tests im Vorfeld der Einführung heitsgewinn durch die Einführung biometrischer Merk-
bestätigen zudem positive Prognosen hinsichtlich des ho- male ist daher zunächst eher von theoretischer als von
hen Schutzniveaus. Seit Oktober 2009 erproben E-Busi- praktischer Bedeutung. Deshalb haben wir bei der Ab-
ness- und E-Government-Anbieter in einem Anwen- gabe der Fingerabdrücke auf die freiwillige Entschei-
dungstest die elektronische Identitätsnachweisfunktion dung der Bürger gesetzt. Dabei soll kein, auch kein indi-
des neuen Ausweises in ihren Onlineservices. Die Bean- rekter Zwang auf die Bürger ausgeübt werden. Daher
tragung, Ausstellung und Sperrung von Ausweisen wur- halte ich die aktuelle Informationsbroschüre aus dem In-
den durch ausgewählte kommunale Behörden seit An- nenministerium für grenzwertig, die den Sicherheitsge-
fang 2010 in einem Feldtest evaluiert, dessen Ergebnisse winn durch die Kombination von biometrischem Foto
ebenfalls noch vor dem Roll-out in die laufende Projek- und Fingerabdruck offensiv bewirbt.
tabwicklung einfließen.
Richtig ist aber auch, dass wir durch die Biometrie-
Ich hoffe sehr, dass die Akzeptanz in der Bevölkerung funktion den Ausweis stärker an den Inhaber binden und
schnell wächst und sich die massiven Vorteile dieser so wie auch immer gearteten Identitätsmissbrauch in der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5903

(A) Zukunft erschweren. Falls er einmal verloren geht oder und das Postgeheimnis eingeschränkt, ja geradezu ge- (C)
gestohlen wird, wird die missbräuchliche Verwendung schliffen; Sie haben unter dem Deckmantel der Terrorab-
durch Personen, die dem Passinhaber ähnlich sehen, er- wehr die Grenzen zwischen Nachrichtendiensten und
schwert. Wie beim europäischem Reisepass hat sich die Polizei verwischt; Sie haben dem bedingungslosen To-
SPD auch hier durchgesetzt: Eine Speicherung der Fin- talausverkauf unserer Daten im Rahmen des Passagier-
gerabdrücke außerhalb des Personalausweises findet datenabkommens mit den USA zugestimmt. Diese Liste
nicht statt. Von einem gläsernen Bürger kann daher keine ließe sich noch lange fortsetzen, aber schon diese Punkte
Rede sein. Außerdem ist der Personalausweis ein Pass- zeigen: Sie sind Schönwetter-Bürgerrechtler. In Regie-
ersatzdokument, sodass ein gewisser Gleichlauf mit den rungsverantwortung reißen Sie die Bürgerrechte mit der
Ausstattungs- und Sicherheitsmerkmalen des E-Passes Abrissbirne ein, in der Opposition klopfen Sie dann
durchaus sinnvoll ist. Sprüche. Landläufig nennt man das Populismus.
Die Debatte über angebliche Sicherheitsdefizite der Ich mache kein Geheimnis daraus, dass der elektroni-
gespeicherten Daten auf dem RFID-Chip ist an den Haa- sche Personalausweis kein Lieblingsprojekt der Libera-
ren herbeigezogen und wird durch ständige Wiederho- len ist. Wir hätten auch mit anderen Lösungen leben
lung nicht besser. Wir haben uns den ganzen Unsinn von können. Aber: Zu Beginn der gelb-schwarzen Koalition
FDP und Grünen schon beim E-Pass anhören müssen. Es war die Entwicklung des elektronischen Personalauswei-
bleibt auch beim Personalausweis dabei: Das biometri- ses bereits weit fortgeschritten, hatten Staat und Unter-
sche Lichtbild und gegebenenfalls die Fingerabdrücke nehmen erhebliche Summen in die Entwicklung des
auf dem Chip sind vor unberechtigtem Zugriff sicher. neuen Personalausweises gesteckt. Ein Ende des elektro-
Durch moderne Kryptierungstechnik ist der Chip vor nischen Personalausweises wäre ein gigantisches Millio-
Hackerangriffen, also dem unberechtigten Zugriff, ge- nengrab gewesen. Wir haben deshalb die Schlussphase
schützt. Das haben uns auch die Experten vom Bundes- der Entwicklung vor allem aus datenschutzrechtlicher
amt für Sicherheit in der Informationstechnik bestätigt. Perspektive kritisch und konstruktiv begleitet. Mit dem
Ergebnis können wir deshalb gut leben. Und wir werden
Im Übrigen: Der Vergleich mit England hinkt natür- unsere Verantwortung für den Datenschutz auch weiter-
lich. Dort hat fast jeder Bürger einen Reisepass, also hin wahrnehmen: in der Einführungsphase des elektroni-
ganz anders als in Deutschland. Großbritannien ist für schen Personalausweises genauso wie in den folgenden
mich auch kein Maßstab im Hinblick auf Bürgerrechte. Jahren. Sollte sich Korrekturbedarf ergeben, werden wir
Ich möchte hier nur das Stichwort „Videoüberwachung“ umgehend alle nötigen Maßnahmen ergreifen. Wir wer-
erwähnen. Von daher kann ich meine verehrten Kolle- den den elektronischen Personalausweis mit der gebote-
ginnen und Kollegen von den Grünen nur auffordern, nen Wachsamkeit begleiten und weiterentwickeln.
(B) sich mit dem neuen Personalausweis anzufreunden und (D)
ihre ganze Energie in sinnvolle Oppositionsarbeit zu in- Da sich die Grünen inhaltlich mit dem elektronischen
vestieren. Bei der gegenwärtigen Vorstellung der Chaos- Personalausweis nicht befassen wollen, möchte ich an
truppe um Merkel/Westerwelle ist das bitter nötig. dieser Stelle auf den Nutzen und die Chancen des elek-
tronischen Personalausweises hinweisen: Vor allem im
Bereich des E-Government wird der elektronische Per-
Manuel Höferlin (FDP): Eigentlich hatte ich mich sonalausweis mittel- und langfristig zu erheblichen Effi-
auf eine spannende letzte Debatte vor der Sommerpause zienzgewinnen führen. Verwaltungsabläufe können
gefreut. Als ich dann den Antrag der Grünen gelesen beschleunigt und entbürokratisiert werden, dadurch kön-
habe, musste ich diese Hoffnung begraben. Was die Grü- nen sowohl die Kommunen als auch die Bürger Zeit, In-
nen hier bieten, ist nichts als plump und billig. Sie bean- frastruktur und Kosten sparen.
tragen den Stopp der Einführung des elektronischen Per-
sonalausweises, fordern stattdessen eine vom Staat Bei der Bekämpfung des Identitätsmissbrauchs kann
entwickelte und somit vom Steuerzahler finanzierte zu- der elektronische Personalausweis eine wichtige Rolle
sätzliche Identifikationskarte zum Personalausweis und spielen.
begründen dies einzig und allein mit ein paar Zeitungs- Das Datenschutzniveau beim elektronischen Perso-
schnipseln aus der Neuen Osnabrücker Zeitung. nalausweis ist hoch; vor allem, weil der Bürger zu aller-
erst bei der Beantragung selbst entscheidet, welche
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Funktionen aktiviert werden. Der elektronische Identi-
Wenn Sie glauben, Sie könnten so einen Keil zwischen tätsnachweis wird nur aktiviert, wenn dies ausdrücklich
die Koalitionsfraktionen oder gar zwischen die Abgeord- gewünscht ist, und auch die Möglichkeit zur digitalen
neten der FDP treiben, haben Sie sich getäuscht. Mit Signatur ist eine Option, aber kein Zwang. Schließlich
Ihrem Antrag, in dem Sie sich tatsächlich in keinem ein- kann sich jeder Bürger auch dafür entscheiden, seine
zigen Satz inhaltlich mit dem elektronischen Personal- Fingerabdrücke nicht erfassen zu lassen. Abgesehen
ausweis auseinandersetzen, müssten Sie sich eigentlich vom biometrischen Passfoto unterscheidet sich der elek-
völlig unglaubwürdig machen. Ich sage bewusst tronische Personalausweis also kaum vom bisherigen
„müsste“, weil Sie de facto schon lange über keine Personalausweis, wenn der Antragsteller dies wünscht.
Glaubwürdigkeit mehr im Bereich Bürgerrechte verfü-
gen. Ihre Selbstdarstellung als Gralshüter des Daten- In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen bei
schutzes nimmt Ihnen doch längst keiner mehr ab. Und den Grünen, sprechen Sie sich zu meiner großen Überra-
ich sage Ihnen, warum: Sie haben als Regierungsfraktion schung für eine Identifikationskarte für den elektroni-
zu Zeiten Rot-Grüns etliche Male das Bankgeheimnis schen Handel aus. Sind Sie allen Ernstes der Auffassung,
5904 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

(A) dass der Steuerzahler die Entwicklung einer „Bundes- aufzunehmen“. Ihr parlamentarischer Geschäftsführer, (C)
Shopping-Card“ finanzieren sollte? Dieser Vorschlag Herr Ahrendt, forderte damals sogar, der Staat müsse
und der gesamte Antrag beweisen vor allem eines: Ihre sich bei seiner Datensammelwut zurücknehmen und des-
Bürgerrechtspolitik ist kopflos und substanzlos! halb die Entscheidung für den Ausweis korrigieren. Da-
von ist jetzt nirgendwo mehr die Rede. Vermutlich dür-
Wir Liberale werden die Chancen und das Innova- fen sie nur alle paar Monate mal ein bisschen auf die
tionspotenzial des elektronischen Personalausweises Bürgerrechtspauke hauen und für medialen Streit in der
nutzen und mit Argusaugen die Praxis dieses neuen In- Koalition sorgen, und dann muss wieder Ruhe herr-
strumentes begleiten. Denn technischer Fortschritt lässt schen, ganz nach dem Motto „Was stört mich mein Ge-
sich sehr wohl mit einem hohen Datenschutzniveau ver- rede von gestern“.
binden.
Dass der neue Personalausweis eines der Lieblings-
Jan Korte (DIE LINKE): Die Linke entscheidet an- projekte des Bundesinnenministeriums war, wissen wir
hand von inhaltlichen Fragen. Daher werden wir dem schon lange. Am 3. Juni verkündete es die Gebührenver-
vorliegenden Antrag voll und ganz zustimmen. Und ordnung für den neuen Personalausweis, die „nach Ab-
wenn noch irgendein Funke von Erkenntnislust in dieser stimmung mit den zu beteiligenden Ressorts“ den Län-
Koalition glimmt, dann folgt sie der Intention des Antra- dern zugeleitet und noch vor der Sommerpause im
ges und stellt von sich aus dieses unsinnige Projekt ein. Bundesrat verabschiedet werden soll. Vorgesehen ist ein
Dies entspräche im Übrigen dem, wenn auch eher mini- Preis von 28,80 Euro, was dreimal so teuer ist wie die
malistischen Ansatz des Kollegen Brüderle, der ja voll- 8 Euro für den alten Ausweis. Wer jünger als 24 Jahre
mundig angekündigt hat, ein anderes Datenschutz- ist, zahlt 19,80 Euro. Dafür gilt er dann aber auch nur für
Monstrum, nämlich ELENA, zum vorläufigen Erliegen 6 und nicht für 10 Jahre. Ausnahmen für Menschen ohne
zu bringen. Ich bin gespannt, was daraus wird. In diesem oder mit nur geringem Einkommen sind erst gar nicht
einzelnen Falle hat Herr Brüderle übrigens unsere Unter- vorgesehen. Am 17. Juni dann präsentierte Innenminis-
stützung. ter Thomas de Maizière persönlich das Dokument in der
Bundesdruckerei und erklärte, dass – Zitat – „dieser
Aber zurück zum elektronischen Personalausweis, neue Personalausweis … die sicherste elektronische
ePA, oder dem „neuen Personalausweis“, nPA, wie er Identitätskarte, die es auf dem Markt gibt“, sei. Das mag
neuerdings heißt. Da ich Realist bin, nehme ich nicht an, sogar derzeit der Fall sein. Es stellt sich allerdings die
dass der Antrag heute hier eine Mehrheit finden wird. Frage: Wie lange wird er denn sicher bleiben? Die ge-
Das bedeutet jedoch Folgendes: Jede und jeder, der für samten 10 Jahre, die er gültig ist? Darauf kann der Bun-
weitere zehn Jahre verhindern will, einen Personalaus- desinnenminister derzeit keine seriöse Antwort geben.
(B) weis mit biometrischen Daten mit sich herumtragen zu Denn klar ist doch eines: Auch noch so sichere techni- (D)
müssen, hat nur noch bis zum 31. Oktober Zeit, seinen sche Systeme werden inzwischen in ziemlich kurzen
alten Ausweis zu verlieren und einen der bisherigen zu Zeiträumen überwunden. Und was dann? Dann hilft ei-
beantragen. Ab dem 1. November wird es dann nur noch nem nur noch eine Hotline des Ministeriums. Bei der
den nPA geben. muss man nämlich anrufen und ein Sperrkennwort nen-
nen, um den Ausweis ungültig zu machen und das
Das ist bitter. Im März sah es ja noch so aus, als sei
Schlimmste zu verhüten.
der nPA unter Umständen aufzuhalten. Zumindest ließen
sich einige Kollegen der FDP-Fraktion mit entsprechen- Das kann doch nicht wirklich Ihr Ernst sein – schon
den Plänen zitieren. Damals konnte man den Eindruck gar nicht, wenn man sich ansieht, wie es sicherheitstech-
gewinnen, dass sie sich an ihre sehr vernünftigen Posi- nisch mit dem alten Personalausweis aussieht. Hier wie-
tionen aus der letzten Legislaturperiode erinnert hätten. derhole ich gerne, was ich Ihnen an dieser Stelle vor
Ich zitiere hier mal aus ihrem entsprechenden Antrag rund zwei Jahren schon gesagt habe: Zurzeit sind
„Keine Einführung des elektronischen Personalauswei- 62 Millionen Personalausweise im Umlauf. Nach Anga-
ses“. Dort hieß es noch ganz richtig: ben der Bundesregierung wurden im Zeitraum vom
Der Deutsche Bundestag lehnt die Einführung des 1. Januar 2001 bis einschließlich 30. September 2007
elektronischen Personalausweises ab. Die umfang- insgesamt 495 Urkundendelikte registriert. Dabei han-
reiche Erfassung und Speicherung der biometri- delte es sich in 88 Fällen um Totalfälschungen sowie in
schen Daten ist zur elektronischen Identifizierung 128 Fällen um Verfälschungen von deutschen Personal-
nicht notwendig und birgt mehr Nachteile als Vor- ausweisen – also 495 Urkundendelikte bei 62 Millionen
teile. Die zwangsweise Verwendung von biometri- in Umlauf befindlichen Personalausweisen. In Ihrer
schen Daten aller Bundesbürger ist unverhältnismä- Sprache würde man sagen: Ein wirklich deutsches Spit-
ßig. zenprodukt. Zumindest was den Sicherheitsaspekt an-
geht, besteht also keine Handlungsnotwendigkeit. –
Ganz auf dieser Linie bewegte sich vor vier Monaten die Aber Sie verfolgen mit Ihrem Projekt ja noch etwas ganz
FDP-Kollegin Piltz. Sie forderte, dass die Einführung anderes. Die angeblich fehlende Sicherheit des jetzigen
des Ausweises „bis 2020 ausgesetzt werden“ solle, da er Personalausweises diente Ihnen nur als populärer Vor-
nicht sicher sei und die Menschen Gefahr liefen, dass wand für ein Projekt, das die Bürgerinnen und Bürger
ihre Daten unbefugt ausgelesen und ihre Identität miss- nie gebraucht und auch nicht gewollt haben. Es geht Ih-
braucht würde. Sie sagte weiter: „Zudem besteht keine nen um die Schaffung eines Marktes für biometrische
Notwendigkeit, biometrische Merkmale in den Ausweis Techniken, um ihre möglichst umfassende Einführung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010 5905

(A) und darum, einen großen Teil der Entwicklungskosten dieses Jahres beschlossen. Dem ging ein monatelanges (C)
via Steuergelder und Gebühren den Bürgerinnen und Ringen voraus, vor allem darüber, ob die Fingerabdrü-
Bürgern in Rechnung zu stellen. cke in das Dokument aufgenommen werden sollten. Im
Ergebnis gab es einen typischen Kompromiss der Gro-
Schön wäre es auch, wenn die Regierung endlich auf- ßen Koalition: Aufnahme ja, aber freiwillig.
hören würde, mit „Freiwilligkeit“ und „optionalen Funk-
tionen“ die Bürgerinnen und Bürger auch noch zu veral- Zuvor war ein neuer Reisepass eingeführt worden; da
bern. Seit der Einführung des optionalen Girokontos hatte Otto Schily für europarechtlichen Zwang in Form
wissen wir, dass es sich dabei lediglich um Akzeptanz- einer Richtlinie gesorgt. Beim Personalausweis gab es
strategien handelt: Wer heute noch nicht will, wird über diesen Zwang nicht und auch sonst keinen erkennbaren
geschaffene Tatsachen eben morgen zum Glück gezwun- Grund. Im Gegenteil: In jeder Anhörung, bei jeder Ta-
gen. – Blöd nur, wenn sich dieses Glück als Pech ent- gung und in jeder Ausschussanhörung, bei der er dazu
puppt. befragt wurde, sagte selbst der BKA-Präsident: Unser
jetziger Personalausweis ist sicher. Fälschungen gibt es
Was passiert denn, wenn die schöne neue „sichere so gut wie gar nicht, und auch sonst haben wir kein Pro-
Identität“ in Form einer sechsstelligen PIN samt Aus- blem damit. – Was also soll dieses Projekt?
weis verloren geht? Dann passiert genau das, was Sie
angeblich damit verhindern wollen. Der Finder kann un- Was soll der Fingerabdruck? Er ist freiwillig abzuge-
gehindert in falschem Namen einkaufen, Verträge ab- ben und zu speichern. Einen überzeugend begründeten
schließen und Anträge stellen, und niemand schöpft Ver- Bedarf danach hat der Staat also offenbar nicht, sonst
dacht. Denn eine weitere Prüfung der Identität findet ja wäre das Pflicht. Da der Grundsatz gilt: „Wenn ich Da-
nicht mehr statt. Bei der FDP war man sich dessen schon ten nicht brauche, erhebe ich sie gar nicht erst“, ist auch
einmal bewusst. In ihrem damaligen Antrag hieß es die freiwillige Erfassung abzulehnen. Warum sollte man
noch: denn irgendein Risiko eingehen, dass diese Daten doch
unbefugt verwendet werden, wenn man sie gar nicht
Die Gefahr des Identitätsdiebstahls wird durch eine braucht?
Speicherung der biometrischen Daten außerhalb der
auf den Ausweisen befindlichen Template erheblich Was soll die Biometrie und der RFID-Chip? Ich habe
erhöht. es schon gesagt: Der jetzige Personalausweis ist sicher;
für ein irgendwie verbessertes Dokument bestand also
Und weiter: kein Bedarf. Es ist auch nicht bekannt geworden, dass
Die Privatwirtschaft ist nicht auf ein biometriege- der nach dem gleichen Muster gestrickte biometrisch
stütztes technisches Identifikationsverfahren für aufgerüstete Reisepass irgendeinen ungeahnten Zusatz-
(B) Onlinegeschäfte angewiesen. nutzen ergeben hätte. Den Chip braucht es natürlich für (D)
die Daten, aber diverse Versuche haben gezeigt, dass
Erklären Sie uns deshalb bitte doch einmal, warum Sie man hier beim Pass eine Sicherheitslücke aufgemacht
Ihre damalige Position aufgegeben haben? hat. Sogar der schon zitierte BKA-Chef Ziercke hat be-
Der Grünen-Antrag liegt hier völlig richtig: Identi- kannt, dass eine Schutzfolie gegen unbefugtes Auslesen
tätsschlüssel für Internet, E-Government und sonst was wohl eine gute Idee sein könnte. Und jeder IT-Sicher-
dürfen auf keinen Fall mit Pflichtdokumenten kombi- heitsexperte wird Ihnen bestätigen, dass in diesem Be-
niert werden. Unvergessen ist für mich auch noch der reich eine Sicherheitsprognose über zehn Jahre hinweg
Auftritt von BKA-Präsident Jörg Ziercke im Innenaus- nicht seriös ist. Sprich: kein Sicherheitsgewinn, dafür Si-
schuss. Damals ging es um die Einführung des ePasses. cherheitslücken.
Als er seinen aus Sicherheitsgründen in Alu verpackten Wer für diese Argumente noch weitere Erläuterungen
Pass aus der Tasche gezogen und damit alle Sicherheits- sucht, kann sich übrigens vertrauensvoll an Frau Piltz
versprechen der Befürworter ad absurdum geführt hat, und Herrn Arendt von der FDP wenden. Die haben das
hätten eigentlich auch dem dogmatischsten Befürworter gegenüber der Neuen Osnabrücker Zeitung im März ge-
die Augen aufgehen müssen. Wir wissen alle, was ge- nauso geäußert. Das ist anscheinend die neue Bürger-
schah: Sie schlafen unbeirrt weiter. rechtspolitik der FDP: Risiken und Probleme im Blick
Immerhin bietet der FoeBuD, der Verein zur Förde- haben, aber nichts dagegen tun.
rung des öffentlich bewegten und unbewegten Datenver- Bleibt die Funktion der elektronischen Identifizie-
kehrs e. V., in Bielefeld in seinem Onlineshop allen Bür- rung. Es ist unbestritten, dass Betrug und Identitätsdieb-
gerinnen und Bürgern seitdem eine mit 2,50 Euro recht stahl im Internet ein großes Problem sind; die Statistik
preiswerte Möglichkeit, das unbemerkte Auslesen des macht es deutlich. Das betrifft sowohl die Händler, die
RFID-Chips zu verhindern. Die RFID-Schutzhülle be- auf offenen Rechnungen sitzen bleiben. Das betrifft aber
kommt man leider bislang nur bei den Kritikern des nPA. vor allem auch die Kunden, die auf ihrer Kreditkarten-
Bei den Meldeämtern sucht man dergleichen sinnvolle rechnung Ausgaben finden, die andere getätigt haben.
Angebote oder auch nur die Hinweise darauf vergeblich. Hier anzusetzen und ein sicheres, staatlich zertifiziertes
Aber was nicht ist, das kann ja noch werden. System anzubieten, mit dem sich Anbieter und Kunden
sicher identifizieren können, ist richtig. Aber warum
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): muss das auf dem Personalausweis untergebracht sein?
Im Dezember 2008 hat der Bundestag die Einführung ei- Gerade hier gilt doch, was ich schon gesagt habe: Com-
nes elektronischen Personalausweises zum 1. November putersicherheit für 10 Jahre kann man nicht garantieren.
5906 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Juli 2010

(A) Warum sich unnötig an den – sinnvollerweise – lange – Unterrichtung durch die Bundesregierung (C)
gültigen Personalausweis ketten? Warum ein RFID-Chip Haushalts- und Wirtschaftsführung 2008
dafür, wenn die Karte ohnehin nur stationär eingesetzt Über- und außerplanmäßige Ausgaben und Verpflich-
wird und ein nur kontaktbehaftet auslesbarer Chip keine tungsermächtigungen im zweiten Vierteljahr des Haus-
haltsjahres 2008
Nachteile bedeutet?
– Drucksachen 16/10281, 17/790 Nr. 17 –
Wir wollen einen sicheren Personalausweis – den
haben wir, den sollten wir behalten –, und wir wollen – Unterrichtung durch die Bundesregierung
Geldgeschäfte im Internet durch Identifikation für die Haushalts- und Wirtschaftsführung 2008
Beteiligten sicherer machen. Deshalb: Trennen Sie die Über- und außerplanmäßige Ausgaben und Verpflich-
Funktionen, und machen Sie den elektronischen Perso- tungsermächtigungen im dritten Vierteljahr des Haus-
nalausweis zur reinen Onlineidentifikationskarte. Dann haltsjahres 2008
geht auch keine Forschung und keine Investition verlo- – Drucksachen 16/10749, 17/790 Nr. 18 –
ren.
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Abschließend: Ich kann mich an zahlreiche Debatten
zu Sicherheitsgesetzen erinnern, bei denen uns immer Haushaltsführung 2008
Über- und außerplanmäßige Ausgaben und Verpflich-
gesagt wurde: In der EU können wir das nicht durchset- tungsermächtigungen im vierten Vierteljahr des Haus-
zen; Sie wissen schon, die Briten sind da ganz harte haltsjahres 2008
Hunde. – Oder es wurden unsere Argumente, dass be-
– Drucksachen 16/12738, 17/790 Nr. 19 –
stimmte Pläne rechtsstaatswidrig seien, mit dem Argu-
ment gekontert: Großbritannien macht das auch so. Sie – Unterrichtung durch die Bundesregierung
wollen doch wohl nicht sagen, das sei kein Rechtsstaat? –
Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der
Nachdem Sie nun also jahrelang die Insel als Beispiel Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigun-
genommen haben, tun Sie es auch jetzt. Denn dort hat gen für die Jahre 2007 bis 2010 (22. Subventionsbe-
die neue Regierung – eine konservativ-liberale Koali- richt)
tion, wenn ich mich nicht irre – gerade beschlossen, den – Drucksachen 17/465, 17/849 Nr. 2 –
elektronischen Biometrieausweis komplett abzuschaf-
fen.
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Anlage 3 – Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Tech-


nikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) gemäß § 56a der
(B) Amtliche Mitteilungen Geschäftsordnung (D)
Technikfolgenabschätzung (TA)
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben TA-Projekt: Reduzierung der Flächeninanspruch-
mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 nahme – Ziele, Maßnahmen, Wirkungen
Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung
– Drucksachen 16/4500, 17/591 Nr. 1.1 –
zu der nachstehenden Vorlage absieht:

Haushaltsausschuss
Der Vorsitzende des Finanzausschusses hat mitge-
teilt, dass der Ausschuss das nachstehende Unionsdoku-
– Unterrichtung durch die Bundesregierung ment zur Kenntnis genommen hat.
Haushalts- und Wirtschaftsführung 2008
Über- und außerplanmäßige Ausgaben und Verpflich-
tungsermächtigungen im ersten Vierteljahr des Haus- Finanzausschuss
haltsjahres 2008 Drucksache 17/2071 Nr. A.8
– Drucksachen 16/9245, 17/790 Nr. 16 – Ratsdokument 9107/10
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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