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Plenarprotokoll 17/81

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

81. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Inhalt:

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Tagesordnungspunkt 5:


nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8907 A
a) Antrag der Abgeordneten Jutta
Absetzung des Tagesordnungspunktes 24, 5 b Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus
und 27 b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8908 B Ernst, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE: Gute Arbeit in
Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 8908 B
Europa stärken – Den gesetzlichen Min-
destlohn in Deutschland am 1. Mai 2011
einführen
Tagesordnungspunkt 4:
(Drucksache 17/4038) . . . . . . . . . . . . . . . 8929 C
Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister des Auswärtigen: Fort- Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 8929 D
schritte und Herausforderungen in Afgha- Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . 8931 D
nistan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8908 C
Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . 8932 D
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8908 C Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8933 D

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 8911 D Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 8934 D

Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8913 C Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 8936 D


Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 8915 A Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 8937 B
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 8917 C Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . 8938 C
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ Patrick Kurth (Kyffhäuser)
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8919 A (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8939 C
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8920 C Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 8939 D
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Patrick Kurth (Kyffhäuser)
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8921 A (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8940 B
Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8921 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8940 D
Johannes Pflug (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8922 D
Sebastian Blumenthal (FDP) . . . . . . . . . . . 8941 D
Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8924 A
Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 8943 B
Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8925 A Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8943 D
Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 8926 B Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . 8947 A
Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8927 B Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8948 D
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 8928 B Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 8949 C
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8951 C c) Antrag der Abgeordneten Katja Keul,


Kerstin Müller (Köln), Manuel Sarrazin,
Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8953 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den frie-
denspolitischen und krisenpräventiven
Tagesordnungspunkt 6: Auftrag des Europäischen Auswärtigen
Wahl von Mitgliedern des Verwaltungsra- Dienstes jetzt umsetzen
tes der Kreditanstalt für Wiederaufbau ge- (Drucksache 17/4043) . . . . . . . . . . . . . . . 8956 D
mäß § 7 Absatz 1 Nummer 4 des Gesetzes d) Antrag der Abgeordneten Elisabeth
über die Kreditanstalt für Wiederaufbau Scharfenberg, Fritz Kuhn, Dr. Harald
(Drucksachen 17/4176, 17/4177) . . . . . . . . . . 8954 A Terpe, weiterer Abgeordneter und der
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8954 A Versorgungslücke nach Krankenhaus-
aufenthalt und ambulanter medizini-
Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 8955 A scher Behandlung schließen
(Drucksache 17/2924) . . . . . . . . . . . . . . . 8957 A

Zusatztagesordnungspunkt 2:
Tagesordnungspunkt 43:
a) Antrag der Abgeordneten Josip Juratovic,
Anton Schaaf, Petra Ernstberger, weiterer a) Zweite und dritte Beratung des von der
Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Richtlinien zur konzerninternen Ent- eines Gesetzes zur Neuregelung des
sendung und zur Saisonarbeit sozial ge- Post- und Telekommunikationssicher-
recht gestalten stellungsrechts und zur Änderung tele-
(Drucksache 17/4190) . . . . . . . . . . . . . . . . 8956 A kommunikationsrechtlicher Vorschrif-
ten
b) Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Drucksachen 17/3306, 17/4054) . . . . . . . 8957 B
(Köln), Marieluise Beck (Bremen), Viola
von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeord- b) Beschlussempfehlung und Bericht des
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Ausschusses für Wirtschaft und Technolo-
GRÜNEN: Menschenrechtsschutz bei gie zu dem Antrag der Abgeordneten
den OECD-Leitsätzen für multinatio- Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Philipp
nale Unternehmen stärken Murmann, Dr. Joachim Pfeiffer, weiterer
(Drucksache 17/4196) . . . . . . . . . . . . . . . . 8957 A Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Paul K.
c) Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Friedhoff, Patrick Meinhardt, Dr. Martin
Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Stephan Neumann (Lausitz), weiterer Abgeordne-
Kühn, weiterer Abgeordneter und der ter und der Fraktion der FDP: Existenz-
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: gründungen aus Forschung und Wis-
Verbesserung der Versorgung der im senschaft fördern – Für einen starken
Beitrittsgebiet vor dem 1.1.1992 Ge- deutschen Innovationsstandort
schiedenen (Drucksachen 17/3480, 17/4115) . . . . . . . 8957 C
(Drucksache 17/4195) . . . . . . . . . . . . . . . . 8957 B
c) Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Tagesordnungspunkt 42: eines Gesetzes zu dem Europa-Mit-
telmeer-Luftverkehrsabkommen vom
a) Erste Beratung des von der Bundesregie- 12. Dezember 2006 zwischen der Euro-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- päischen Gemeinschaft und ihren
zes zur Umsetzung der Dienstleistungs- Mitgliedstaaten einerseits und dem Kö-
richtlinie im Eichgesetz sowie im nigreich Marokko andererseits (Ver-
Geräte- und Produktsicherheitsgesetz tragsgesetz Europa-Mittelmeer-Luft-
und zur Änderung des Verwaltungskos- verkehrsabkommen – Euromed-
tengesetzes LuftvAbkG-Marok)
(Drucksache 17/3983) . . . . . . . . . . . . . . . . 8956 C (Drucksachen 17/3121, 17/4181) . . . . . . . 8957 D
b) Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, d) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ute Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, weiterer Rechtsausschusses zu dem Antrag der Ab-
Abgeordneter und der Fraktion BÜND- geordneten Dr. Eva Högl, Dr. Peter
NIS 90/DIE GRÜNEN: Für einen nach- Danckert, Sebastian Edathy, weiterer Ab-
haltigen Ausbau des Bildungs- und geordneter und der Fraktion der SPD: zu
Hochschulsystems in Afghanistan dem Vorschlag für eine Richtlinie des
(Drucksache 17/3866) . . . . . . . . . . . . . . . . 8956 D Europäischen Parlaments und des Ra-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 III

tes zur Verhütung und Bekämpfung Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin


von Menschenhandel und zum Opfer- BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8962 D
schutz sowie zur Aufhebung des Rah-
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 8964 B
menbeschlusses 2002/629/JI des Rates
(Ratsdok. 8157/10) Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/
hier: Stellungnahme gegenüber der DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8965 A
Bundesregierung gemäß Arti-
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister
kel 23 Absatz 3 des Grundgeset-
BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8966 A
zes
Menschenhandel bekämpfen – Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . 8968 C
Opferschutz stärken Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8969 D
(Drucksachen 17/2344, 17/4247) . . . . . . . 8958 B
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 8970 D
e) Beschlussempfehlung des Ausschusses für Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . 8972 A
Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung: Änderung der Geschäftsord- Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8973 A
nung des Deutschen Bundestages Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8974 A
hier: Beratungsfrist bei Beschlussemp-
fehlungen des Vermittlungsaus- Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8974 D
schusses (§ 90 GO-BT)
(Drucksache 17/4166) . . . . . . . . . . . . . . . . 8958 C
Tagesordnungspunkt 7:
f) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- Beschlussempfehlung und Bericht des Vertei-
schusses: Übersicht 4 digungsausschusses zu der Unterrichtung
über die dem Deutschen Bundestag zu- durch den Wehrbeauftragten: Jahresbericht
geleiteten Streitsachen vor dem Bundes- 2009 (51. Bericht)
verfassungsgericht (Drucksachen 17/900, 17/3738) . . . . . . . . . . . 8976 A
(Drucksache 17/ 4240) . . . . . . . . . . . . . . . 8958 C Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter
des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . 8976 B
g)–o) Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . 8978 B
Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 8980 A
schusses: Sammelübersichten 181, 182,
183, 184, 185, 186, 187, 188 und 189 zu Christoph Schnurr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 8981 D
Petitionen Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . 8983 B
(Drucksachen 17/4020, 17/4021, 17/4022,
17/4023, 17/4024, 17/4025, 17/4026, Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/
17/4027, 17/4028) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8958 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8984 B
Robert Hochbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8985 C
Zusatztagesordnungspunkt 3:
Tagesordnungspunkt 8:
a)–j)
Große Anfrage der Abgeordneten Ute Kumpf,
Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Abgeordne-
schusses: Sammelübersicht 190, 191, ter und der Fraktion der SPD: Engagement-
192, 193, 194, 195, 196, 197, 198 und 199 politik im Dialog mit der Bürgergesell-
zu Petitionen schaft
(Drucksachen 17/4215, 17/4216, 17/4217, (Drucksache 17/3712) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8986 C
17/4218, 17/4219, 17/4220, 17/4221,
17/4222, 17/4223, 17/4224) . . . . . . . . . . . 8959 C Ute Kumpf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8986 D
Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8988 B
Heidrun Dittrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 8989 C
Zusatztagesordnungspunkt 4:
Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . 8990 C
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/
nen der CDU/CSU und der FDP: Ergebnisse DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8991 D
des Weltklimagipfels in Cancún . . . . . . . . . 8960 C
Markus Grübel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 8993 A
Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) . . . . . . . . . 8960 C
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/
Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8961 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8993 D
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 8994 D buchs – Widerstand gegen


Vollstreckungsbeamte
Heinz Golombeck (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 8996 A (Drucksache 17/4143) . . . . . . . . . . . . . . . 9017 D
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 8996 C b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein-
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes
zur Änderung des Strafgesetzbuches
Tagesordnungspunkt 9: (… Strafrechtsänderungsgesetz – …
Erste Beratung des von den Fraktionen der StRÄndG)
CDU/CSU und der FDP eingebrachten Ent- (Drucksache 17/2165) . . . . . . . . . . . . . . . 9018 A
wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 9018 A
Bekämpfung von Geldwäsche und Steuer-
hinterziehung (Schwarzgeldbekämpfungs- Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 9019 A
gesetz) Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9020 B
(Drucksache 17/4182) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8997 D
Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9022 B
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär
BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8998 A Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9023 A
Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8999 B
Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9001 C
Tagesordnungspunkt 12:
Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9002 D
a) Antrag der Abgeordneten Anette
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9003 D Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Josip
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Juratovic, weiterer Abgeordneter und der
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9005 A Fraktion der SPD: Für Fairness beim Be-
rufseinstieg – Rechte der Praktikanten
Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9006 A und Praktikantinnen stärken
(Drucksache 17/3482) . . . . . . . . . . . . . . . 9024 B
Tagesordnungspunkt 10: b) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Beate Müller-Gemmeke, Ekin Deligöz,
Beschlussempfehlung und Bericht des weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Faire Be-
ordneten Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang dingungen in allen Praktika garantie-
Wieland, Jerzy Montag, weiterer Abgeordne- ren
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Drucksache 17/4044) . . . . . . . . . . . . . . . 9024 C
NEN: Keine Vorratsdatenspeicherungen
über den Umweg Europa c) Antrag der Abgeordneten Agnes Alpers,
(Drucksachen 17/1168, 17/3589) . . . . . . . . . . 9007 D Dr. Petra Sitte, Diana Golze, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9008 A Missbrauch von Praktika gesetzlich
Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9008 D stoppen
(Drucksache 17/4186) . . . . . . . . . . . . . . . 9024 C
Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 9009 C
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . 9024 D
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9011 B
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . 9026 A
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9012 D
Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9026 D
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . 9013 C
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . 9027 C
Siegfried Kauder (Villingen-Schwen-
ningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9028 C
9013 D
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . 9029 B
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9014 C Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9029 C
Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 9015 C Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9030 D
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 9016 B Kai Gehring (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9031 B
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . 9032 D
Tagesordnungspunkt 11:
Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9034 B
a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines ... Ge- Kai Gehring (BÜNDNIS 90/
setzes zur Änderung des Strafgesetz- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9034 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 V

Tagesordnungspunkt 13: Tagesordnungspunkt 16:


Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- Erste Beratung des von den Abgeordneten
ausschusses zu der Unterrichtung durch den Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias
Bundesbeauftragten für den Datenschutz und W. Birkwald, weiteren Abgeordneten und der
die Informationsfreiheit: Tätigkeitsbericht Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-
2007 und 2008 des Bundesbeauftragten für wurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der
den Datenschutz und die Informationsfrei- Assistenzpflege auf Einrichtungen der sta-
heit – 22. Tätigkeitsbericht – tionären Vorsorge und Rehabilitation
(Drucksachen 16/12600, 17/790 Nr. 5, 17/4179) 9036 B (Drucksache 17/3746) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9059 C
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 9036 B Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9059 C
Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 9038 B Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9060 B
Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9039 D Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9061 B
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9041 B Dr. Erwin Lotter (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9062 B
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9042 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9063 C
Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9064 C
Tagesordnungspunkt 14:
Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Tagesordnungspunkt 17:
Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak- Antrag der Abgeordneten Erika Steinbach,
tion der SPD: Zukunftsfähigkeit der Was- Arnold Vaatz, Ute Granold, weiterer Abge-
ser- und Schifffahrtsverwaltung sichern ordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
(Drucksache 17/4030) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9043 B wie der Abgeordneten Marina Schuster,
Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abge-
Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9043 C ordneter und der Fraktion der FDP: Freie und
gleiche Wahlen in Belarus einfordern –
Matthias Lietz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9045 A
Menschenrechtslage verbessern
Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 9046 A (Drucksache 17/4194) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9066 A
Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9046 D
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 18:
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9048 C a) Antrag der Abgeordneten Markus Tressel,
Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . . . . . 9049 D Nicole Maisch, Winfried Hermann, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Durchset-
Tagesordnungspunkt 15: zung und Evaluation des Reiserechts
verbessern
Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, (Drucksache 17/4041) . . . . . . . . . . . . . . . 9066 B
Stephan Mayer (Altötting), Wolfgang
Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter b) Beschlussempfehlung und Bericht des
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag
Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser), der Abgeordneten Markus Tressel, Nicole
Lars Lindemann, Reiner Deutschmann, weite- Maisch, Ingrid Hönlinger, weiterer Abge-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
60 Jahre Charta der deutschen Heimatver- DIE GRÜNEN: Reisende besser schüt-
triebenen – Aussöhnung vollenden zen
(Drucksache 17/4193) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9051 C (Drucksachen 17/2428, 17/4019) . . . . . . . 9066 B
Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . 9051 D
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . 9052 D Tagesordnungspunkt 19:

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . 9053 D Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und der FDP einge-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ brachten Entwurfs eines Gesetzes zur
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9055 B Änderung des Gesetzes über die Einset-
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . zung eines Nationalen Normenkontrollra-
9057 A
tes
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . 9057 D (Drucksachen 17/1954, 17/4241) . . . . . . . . . . 9066 D
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Tagesordnungspunkt 20: schung – Keine finanziellen Einschnitte


beim Europäischen Forschungsrat zu
– Zweite und dritte Beratung des von der
Gunsten des Einzelprojekts ITER
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
(Drucksache 17/3483) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9081 A
eines Gesetzes zur Änderung des Ener-
giesteuer- und des Stromsteuergesetzes Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9081 A
(Drucksachen 17/3055, 17/3307, 17/4234) 9067 A René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9082 C
– Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . 9083 C
§ 96 der Geschäftsordnung
(Drucksache 17/4235) . . . . . . . . . . . . . . . . 9067 B Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9084 C
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9085 B
Tagesordnungspunkt 21:
Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter
Rossmann, Ulla Burchardt, Dr. Hans-Peter
Tagesordnungspunkt 26:
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD: Bildungszusammenarbeit von – Zweite Beratung und Schlussabstimmung
Bund und Ländern verlässlich weiterent- des von der Bundesregierung eingebrach-
wickeln ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zu-
(Drucksache 17/4187) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9067 D satzprotokoll vom 28. Januar 2003 zum
Übereinkommen des Europarats vom
Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9068 A 23. November 2001 über Computerkri-
Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9069 B minalität betreffend die Kriminalisie-
rung mittels Computersystemen began-
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 9070 B gener Handlungen rassistischer und
Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . 9071 D fremdenfeindlicher Art
(Drucksachen 17/3123, 17/4123) . . . . . . . 9086 A
Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 9072 C
– Zweite und dritte Beratung des von der
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . 9073 C Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ eines Gesetzes zur Umsetzung des Rah-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9074 C menbeschlusses 2008/913/JI des Rates
vom 28. November 2008 zur strafrecht-
lichen Bekämpfung bestimmter Formen
Tagesordnungspunkt 22: und Ausdrucksweisen von Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit und zur Um-
Erste Beratung des von der Bundesregierung setzung des Zusatzprotokolls vom
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu 28. Januar 2003 zum Übereinkommen
dem Stabilisierungs- und Assoziierungsab- des Europarats vom 23. November 2001
kommen vom 29. April 2008 zwischen den über Computerkriminalität betreffend
Europäischen Gemeinschaften und ihren die Kriminalisierung mittels Computer-
Mitgliedstaaten einerseits und der Repu- systemen begangener Handlungen ras-
blik Serbien andererseits sistischer und fremdenfeindlicher Art
(Drucksache 17/3963) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9075 C (Drucksachen 17/3124, 17/4123) . . . . . . . 9086 B
Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 9075 C Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9086 C
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9076 B Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 9087 D
Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9077 B Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9089 B
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 9078 B Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 9090 A
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 9079 A Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9091 A
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9080 A

Tagesordnungspunkt 25:
Tagesordnungspunkt 23:
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Antrag der Abgeordneten René Röspel, schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak-
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne-
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak- ten Karin Binder, Ralph Lenkert, Dr. Barbara
tion der SPD: Für eine Stärkung der breit Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
aufgestellten europäischen Grundlagenfor- DIE LINKE: Ungefährliche und klimascho-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 VII

nende Kältemittel in Kfz-Klimaanlagen Tagesordnungspunkt 30:


verwenden
(Drucksachen 17/3432, 17/4070) . . . . . . . . . . 9092 A Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9092 B Gesetzes zu dem Übereinkommen des Eu-
roparats vom 16. Mai 2005 zur Verhütung
Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9093 D des Terrorismus
(Drucksachen 17/3801, 17/4124) . . . . . . . . . . 9107 B
Dr. Lutz Knopek (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9094 D
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9107 C
Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 9095 C
Sebastian Edathy (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9108 C
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9096 A Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9109 B
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 9109 C
Tagesordnungspunkt 28: Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9110 C
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom
Tagesordnungspunkt 29:
23. Juni 2010 zur Änderung des Protokolls
über die Übergangsbestimmungen, das Antrag der Abgeordneten Katja Mast, Anette
dem Vertrag über die Europäische Union, Kramme, Angelika Krüger-Leißner, weiterer
dem Vertrag über die Arbeitsweise der Eu- Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
ropäischen Union und dem Vertrag zur Echte Perspektiven für Altbewerberinnen
Gründung der Europäischen Atomgemein- und Altbewerber schaffen – Ausbildungs-
schaft beigefügt ist bonus bis 2013 verlängern
(Drucksachen 17/3357, 17/4244) . . . . . . . . . . 9096 D (Drucksache 17/4191) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9111 C
Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9097 A Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9111 C
Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9098 A Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9112 B
Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . . 9098 D Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9113 B
Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . 9099 B Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9114 B
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9099 D Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 9115 B

Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 9116 A


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9100 C
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9116 C
Tagesordnungspunkt 27:
a) Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Tagesordnungspunkt 31:
Maria Klein-Schmeink, Kai Gehring, wei- Antrag der Abgeordneten Anette Kramme,
terer Abgeordneter und der Fraktion Gabriele Lösekrug-Möller, Hubertus Heil
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gesundes (Peine), weiterer Abgeordneter und der Frak-
Aufwachsen für alle Kinder möglich tion der SPD: Insolvenzgeld – Umlagekasse
machen nicht im Bundeshaushalt vereinnahmen
(Drucksache 17/3863) . . . . . . . . . . . . . . . . 9101 C (Drucksache 17/4188) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9117 B
Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 9101 C Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9117 B
9102 A
Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9118 C
Marlene Rupprecht (Tuchenbach)
(SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9103 C Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . 9119 A
Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . 9104 C Dr. Claudia Winterstein (FDP) . . . . . . . . . . . 9119 D
Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 9105 C Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . 9120 B
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9106 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9121 A
VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Tagesordnungspunkt 32: von Drittstaatsangehörigen zwecks Aus-


übung einer saisonalen Beschäftigung (KOM
Antrag der Abgeordneten Alexander Ulrich, (2010) 379 endg.; Ratsdok. 12208/10)
Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weiterer Ab-
hier: Stellungnahme des Deutschen Bun-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE: zu
destages gemäß Artikel 23 Absatz 3
dem Vorschlag der Europäischen Kommis-
des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Ab-
sion für eine Richtlinie des Europäischen
satz 4 des Gesetzes über die Zu-
Parlaments und des Rates über die Bedin-
sammenarbeit von Bundesregie-
gungen für die Einreise und den Aufenthalt
rung und Deutschem Bundestag in
von Drittstaatsangehörigen im Rahmen
Angelegenheiten der Europäischen
einer konzerninternen Entsendung (KOM
Union
(2010) 378 endg.; Ratsdok. 12211/10)
Vorschlag der Europäischen Kom-
hier: Stellungnahme des Deutschen Bun- mission zur Saisonarbeiterrichtlinie
destages gemäß Artikel 23 Absatz 3 zurückweisen
des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Ab-
(Drucksache 17/4045) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9131 A
satz 4 des Gesetzes über die Zusam-
menarbeit von Bundesregierung Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 9131 A
und Deutschem Bundestag in Ange-
legenheiten der Europäischen Union Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 9132 D
Vorschlag der Europäischen Kom- Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 9133 D
mission zur Konzernentsenderichtli-
nie zurückweisen Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 9134 B
(Drucksache 17/4039) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9121 C Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9136 A
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 9121 A
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 9123 B
Tagesordnungspunkt 35:
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 9124 B
Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Ekin
Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9125 A Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9126 A NEN: Überprüfung und Neuordnung der
Forschungsfinanzierung – Transparente
und verbindliche Verfahren sicherstellen –
Tagesordnungspunkt 33: Wissenschaftsgerechte Strukturen weiter-
entwickeln
Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, Josef (Drucksache 17/3864) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9137 A
Philip Winkler, Marieluise Beck (Bremen),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9137 A
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Visumfreie René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9138 C
Einreise türkischer Staatsangehöriger für
Kurzaufenthalte ermöglichen Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 9139 C
(Drucksache 17/3686) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9126 D Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9140 A
Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9127 A Krista Sager (BÜNDNIS 90/
Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9128 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9141 C
Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9128 B
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9142 C
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 9129 A
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9130 A Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9143 A
Tagesordnungspunkt 34:
Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Anlage 2
Alexander Ulrich, Jan van Aken, weiterer Ab- Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Antrags: 60 Jahre Charta der deutschen Hei-
zum Vorschlag der Europäischen Kommis- matvertriebenen – Aussöhnung vollenden
sion für eine Richtlinie des Europäischen (Tagesordnungspunkt 15)
Parlaments und des Rates über die Bedin-
gungen für die Einreise und den Aufenthalt Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . . 9143 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 IX

Anlage 3 Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Antrags: Freie und gleiche Wahlen in des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
Belarus einfordern – Menschenrechtslage ver- des Gesetzes über die Einsetzung eines Natio-
bessern (Tagesordnungspunkt 17) nalen Normenkontrollrates (Tagesordnungs-
Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9144 D punkt 19)

Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9145 D Kai Wegner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 9156 D


Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9146 D Andrea Wicklein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9158 C
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 9148 A Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9159 D
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9160 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9148 C
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9161 B
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
Anlage 6
– Antrag: Durchsetzung und Evaluation des
Reiserechts verbessern Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
– Beschlussempfehlung und Bericht: Rei- des Energiesteuer- und des Stromsteuergeset-
sende besser schützen zes (Tagesordnungspunkt 20)
(Tagesordnungspunkt 18 a und b)
Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 9162 B
Peter Wichtel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 9149 C
Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 9163 B
Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9150 B
Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 9164 B
Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 9151 B
Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9152 C Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . 9165 C

Kornelia Möller (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 9154 B Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9166 C
Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ Lisa Paus (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9155 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9167 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8907

(A) (C)

Redetext

81. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Überweisungsvorschlag:


Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Auswärtiger Ausschuss
Sitzung ist eröffnet. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Vorweg einige Mitteilungen: Interfraktionell ist ver- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
einbart worden, die verbundene Tagesordnung um die Entwicklung
in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erwei- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
tern: Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn,
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
SPD: Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Konsequenzen der Bundesregierung aus der Verbesserung der Versorgung der im Beitritts-
aktuellen PISA-Studie für die Bildungspolitik gebiet vor dem 1.1.1992 Geschiedenen
(B) (D)
von Bund und Ländern – Drucksache 17/4195 –
(siehe 80. Sitzung) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
fahren
ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
Ergänzung zu TOP 42 sprache
Ergänzung zu TOP 43
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Anton Schaaf, Petra Ernstberger, wei- a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD ausschusses (2. Ausschuss)
Richtlinien zur konzerninternen Entsendung Sammelübersicht 190 zu Petitionen
und zur Saisonarbeit sozial gerecht gestalten
– Drucksache 17/4215 –
– Drucksache 17/4190 – b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Überweisungsvorschlag: ausschusses (2. Ausschuss)
Innenausschuss (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Sammelübersicht 191 zu Petitionen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und – Drucksache 17/4216 –
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Federführung strittig ausschusses (2. Ausschuss)
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Sammelübersicht 192 zu Petitionen
Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Viola
von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter – Drucksache 17/4217 –
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsät-
zen für multinationale Unternehmen stärken Sammelübersicht 193 zu Petitionen
– Drucksache 17/4196 – – Drucksache 17/4218 –
8908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Überweisungsvorschlag: (C)
ausschusses (2. Ausschuss) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Auswärtiger Ausschuss
Sammelübersicht 194 zu Petitionen Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
– Drucksache 17/4219 –
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
ausschusses (2. Ausschuss) sen.
Sammelübersicht 195 zu Petitionen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
– Drucksache 17/4220 – Abgabe einer Regierungserklärung durch den
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Bundesminister des Auswärtigen
ausschusses (2. Ausschuss) Fortschritte und Herausforderungen in Afgha-
Sammelübersicht 196 zu Petitionen nistan
– Drucksache 17/4221 – Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
Sammelübersicht 197 zu Petitionen rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
– Drucksache 17/4222 – Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
ausschusses (2. Ausschuss) nun der Bundesminister des Auswärtigen, Guido
Westerwelle.
Sammelübersicht 198 zu Petitionen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
– Drucksache 17/4223 –
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
ausschusses (2. Ausschuss) wärtigen:
Sammelübersicht 199 zu Petitionen Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Kolleginnen und Kollegen! Bei ihrem Amtsantritt
(B) – Drucksache 17/4224 – vor etwas mehr als einem Jahr hat die Bundesregierung (D)
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen den Einsatz in Afghanistan einer schonungslosen Ana-
der CDU/CSU und der FDP: lyse unterzogen. Über acht Jahre dauerte der internatio-
nale Einsatz da schon. Die großen Anstrengungen schie-
Ergebnisse des Weltklimagipfels in Cancún nen ins Leere zu laufen, und ein Ende des Einsatzes war
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE nicht in Sicht.
LINKE: Mit einem umfassenden Afghanistan-Konzept hat
Kein Atomendlager bei Lubmin die Bundesregierung unser Engagement auf eine neue
Grundlage gestellt. Wir haben die Lage realistisch be-
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- schrieben. Wir haben uns realistische Ziele gesetzt. Wir
weit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesord- haben diese Ziele, unsere Strategie und die dafür not-
nungspunkt 24 wird abgesetzt. Die nachfolgenden wendigen Mittel mit den Afghanen und mit unseren in-
Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken ternationalen Partnern konsequent aufeinander abge-
entsprechend vor. Darüber hinaus entfallen die Tages- stimmt.
ordnungspunkte 5 b und 27 b.
Wir haben mit der Unterstützung dieses Hauses zu-
Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Aus-
sätzliche Soldaten und Polizisten entsandt, um schneller
schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkteliste
und besser afghanische Sicherheitskräfte auszubilden.
aufmerksam:
Wir haben zusätzliche Mittel für den zivilen Aufbau mo-
Der am 24. November 2010 überwiesene nachfol- bilisiert. Wir haben die politische Lösung vorangetrieben
gende Antrag soll zusätzlich dem Auswärtigen Aus- und das Reintegrations- und Aussöhnungsprogramm auf
schuss (3. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen den Weg gebracht. Wir haben unsere eigenen Erwartun-
werden: gen nüchterner und auch realistischer formuliert. Good
Governance bleibt ein richtiger Maßstab. Aber wenn wir
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia realistisch sind, dann ist „Good Enough Governance“
Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, – eine ausreichend gute Regierungsführung – das, was
weiterer Abgeordneter und der Fraktion wir auf absehbare Zeit in Afghanistan erreichen können.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wir haben uns verabschiedet vom Bild des Entwick-
Kein Atommüllexport nach Russland
lungshelfers in Uniform. Dieses Bild mag manchem im
– Drucksache 17/3854 – Deutschen Bundestag in der Vergangenheit die Zustim-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8909
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) mung zum Einsatz der Bundeswehr leichter gemacht ha- Der Fahrplan steht. Der Weg zu einer selbsttragenden (C)
ben; es hat gleichwohl nie gestimmt. Die Lage ist eine Sicherheit in Afghanistan ist markiert. Wir haben uns
andere. Unsere Soldatinnen und Soldaten kämpfen in vorgenommen, nüchtern einen Schritt nach dem anderen
Afghanistan. Dieser Einsatz kostet Menschenleben. Wir zu tun und das Erreichte immer wieder zu prüfen. Des-
verteidigen in Afghanistan unsere eigene Sicherheit. halb legt die Bundesregierung dem Deutschen Bundes-
Deshalb ist dieser Einsatz richtig. Richtig ist auch, dass tag zum ersten Mal einen umfassenden Fortschrittsbe-
er nicht endlos dauern darf. richt zu Afghanistan vor. Der Bericht, der Ihnen allen
seit Montag zur Verfügung steht, beschreibt das deutsche
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
und internationale Engagement. Er bietet eine ehrliche
Wir trauern um unsere 44 toten deutschen Soldaten und realistische Darstellung der Lage. Sicherheit, Regie-
dieses Einsatzes. Wir fühlen mit ihren Angehörigen. Wir rungsführung und Entwicklung sind darin gleicherma-
trauern um die vielen Opfer, gleich welcher Nationalität. ßen gewichtet. Ich danke den Bundesministern der Ver-
Wir trauern um die Opfer in Uniform und um die vielen teidigung und des Innern sowie dem Bundesminister für
getöteten Zivilisten, die dieser Konflikt und das Ringen wirtschaftliche Zusammenarbeit für die ausgezeichnete
um Frieden bis heute gefordert haben. Kooperation in Afghanistan und auch bei der Erstellung
dieses ungeschminkten Berichts. Er macht deutlich, was
Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zu einem Deutschlands Frauen und Männer der Bundeswehr und
Mann sagen, der die Arbeit in Afghanistan maßgeblich der Polizei, die vielen zivilen Helferinnen und Helfer
mitgestaltet hat. Wir trauern um Richard Holbrooke. und auch unsere Diplomatinnen und Diplomaten in Af-
Mit seinem plötzlichen Tod verlieren wir einen guten ghanistan geleistet haben. Er skizziert auch, was noch al-
und engen Freund Deutschlands. les geleistet werden muss, damit wir die Verantwortung,
In London haben wir im Januar den Weg zu mehr af- die wir jetzt dort schultern, an die afghanische Regie-
ghanischer Führungsverantwortung geebnet. Die afgha- rung übergeben können.
nische Regierung legte erstmals ganz konkret dar, wie
Wir wollen nichts schönreden. Meldungen über
sie ihre Ziele erreichen will: bei der Regierungsführung,
Rückschläge gibt es noch immer viel zu viele. Es gibt
bei Aufbau und Entwicklung, bei der Sicherheit, bei Re-
Korruption, und es hat bei den Wahlen Unregelmäßig-
integration und Versöhnung. Im Gegenzug haben wir
keiten gegeben. Aber es ist ein ermutigendes Zeichen,
uns verpflichtet, unsere Anstrengungen zu verstärken.
dass die Afghanen selbst den Fällen von Wahlbetrug un-
Im Juli in Kabul, der ersten Afghanistan-Konferenz in nachgiebig nachgegangen sind.
Afghanistan, setzte die afghanische Regierung ihre poli-
tischen Zusagen in konkrete Reformprojekte um. Mit Vieles in Afghanistan ist im Vergleich zum Vorjahr
(B) Unterstützung der internationalen Gemeinschaft hat sie besser geworden. Auch durch unsere Aufbauarbeit im (D)
die notwendigen Strukturen und Institutionen geschaf- Gesundheitssektor haben inzwischen 80 Prozent der Be-
fen, um diese ehrgeizigen Ziele zu erreichen. völkerung Zugang zu medizinischer Grundversorgung.
Die Mütter- und Kindersterblichkeit ist signifikant ge-
Vor vier Wochen in Lissabon haben wir den nächsten sunken. Mehr als ein Drittel der Mädchen in Afghanistan
Schritt getan und formell mit der afghanischen Regie- gehen heute regelmäßig zur Schule. Allein im Jahre
rung und allen NATO-Partnern den Beginn des Überga- 2010 haben wir über 20 Schulen gebaut.
beprozesses beschlossen. Wir werden die Übergabe der
Sicherheitsverantwortung in den Provinzen im ersten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Halbjahr 2011 beginnen. Diese Übergabe in den ersten Wir haben in diesem Jahr mehrere Stabilisierungs-
Provinzen ist nicht gleichbedeutend mit einem soforti- fonds zum Ausbau der Infrastruktur im Norden aufge-
gen Truppenabzug, aber sie wird den schrittweisen Ab- legt. Gerade in den strukturschwachen Grenzgebieten zu
bau der internationalen militärischen Präsenz in Afgha- Tadschikistan und Pakistan zeigen sie Wirkungen bei der
nistan einläuten, auch den schrittweisen Abzug der Bevölkerung. Neu gebaute Straßen und Brücken fördern
Bundeswehr. Die Abzugsperspektive nimmt dank der die langsam in Gang kommende wirtschaftliche Ent-
erreichten Fortschritte jetzt konkret Gestalt an. wicklung.
In meiner Regierungserklärung am 10. Februar habe Die Ausbildung von Soldaten und Polizisten macht
ich gesagt: schneller Fortschritte als erwartet. Die in London verein-
Ende des Jahres 2011 wollen wir so weit sein, unser barte Zahl von rund 300 000 Sicherheitskräften bei Ar-
eigenes Bundeswehrkontingent reduzieren zu kön- mee und Polizei wird deutlich früher erreicht als geplant.
nen. Deutschland trägt seinen Teil dazu bei: Rund 200 Poli-
zistinnen und Polizisten tun in Afghanistan ihren Dienst
Heute bin ich zuversichtlich genug, um zu sagen: Ende bei der Ausbildung der afghanischen Polizei. Deutsch-
2011 werden wir unser Bundeswehrkontingent in Afgha- land hat 2010 insgesamt 77 Millionen Euro für die Poli-
nistan erstmals reduzieren können. Wir werden jeden zeiausbildung bereitgestellt.
Spielraum nutzen, um damit so früh zu beginnen, wie es
die Lage erlaubt, und es vor allem unsere verbliebenen Es ist wahr: Die Zahl der Sicherheitszwischenfälle hat
Truppen nicht gefährdet. 2014 wollen wir die Sicher- noch einmal deutlich zugenommen. Eine der Ursachen
heitsverantwortung in vollem Umfang an die Afghanen hierfür ist die Verstärkung der internationalen Schutz-
übergeben. Dann sollen keine deutschen Kampftruppen truppe. Nach einem Jahr mit schweren Kämpfen und
mehr am Hindukusch im Einsatz sein. zahlreichen Opfern geht es aber auch im Sicherheitsbe-
8910 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) reich voran. Das ist nicht nur den ISAF-Truppen, son- Anfang des nächsten Jahres wird die NATO gemein- (C)
dern auch den gewachsenen Fähigkeiten der afghani- sam mit den afghanischen Partnern eine Provinz nach
schen Sicherheitskräfte zu verdanken. Es zeigt sich, dass der anderen nach vereinbarten Sicherheitskriterien auf
die verstärkte Ausbildung durch die internationale Ge- Übergabereife prüfen und die Verantwortung in die
meinschaft, auch durch die Bundeswehr, Früchte trägt: Hände der afghanischen Sicherheitskräfte legen. Wir
Die afghanische Armee und die afghanische Polizei sind können fest davon ausgehen, dass auch Gebiete im deut-
erkennbar professioneller geworden. schen Verantwortungsbereich in Nordafghanistan zu den
ersten Regionen gehören werden, in denen Sicherheits-
2010 haben wir den Fahrplan hin zur vollen Souverä- verantwortung an die Afghanen übergeben wird. Bis
nität Afghanistans entwickelt. Wir haben unseren Mittel- 2014 soll dieser Prozess im ganzen Land abgeschlossen
einsatz verstärkt und so eine Trendwende geschafft. Im sein. So wollen wir es. So will es auch die Regierung
nächsten Jahr wird es darauf ankommen, die Strategie Karzai. So ist es gemeinsam verabredet in der internatio-
der vernetzten Sicherheit mit ihren militärischen, zivilen nalen Gemeinschaft.
und politischen Elementen so konsequent umzusetzen,
dass wir in allen Bereichen substanzielle Fortschritte er- Klar ist aber auch, dass Transition nicht heißt, dass
reichen. Die Selbstverpflichtung der afghanischen Re- wir unseren Einsatz von heute auf morgen beenden und
gierung ist Grundlage und Bedingung für solche Fort- uns einfach aus Afghanistan zurückziehen können.
schritte. Es ist an der afghanischen Regierung, die
(Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/
notwendigen Strukturen zu schaffen und schließlich die
CSU]: So ist es!)
Verantwortung für das Leben der Afghanen selbst in die
Hand zu nehmen. Sie hat durchaus nicht nur mit Worten, Mit fortschreitender Verantwortungsübergabe werden
sondern auch mit Taten unterstrichen, dass sie diese Ver- wir unsere Prioritäten immer wieder anpassen. Der
pflichtung ernst nimmt. Übergabeprozess muss sorgfältig, nachhaltig und vor al-
lem unumkehrbar sein. Wenn einen Tag nach dem Ab-
Der Konflikt in Afghanistan kann nicht militärisch,
zug internationaler Truppen die Taliban wieder einzie-
sondern nur durch eine politische Lösung beendet wer-
hen könnten, wäre niemandem geholfen, den Afghanen
den. Dazu gehört auch, dass mit Vertretern der Aufstän-
nicht und auch nicht unserer eigenen Sicherheit.
dischen gesprochen werden muss. Wir haben gemeinsam
mit den Afghanen drei rote Linien für die Gespräche (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
definiert – vieles ist verhandelbar, diese Bedingungen
nicht –: Eines ist klar: Wir wollen und werden Afghanistan
langfristig weiter in seiner Entwicklung unterstützen.
Erstens: der Rahmen der afghanischen Verfassung Die NATO-Partner haben sich in Lissabon zu einer lang-
(B) und die darin garantierten Menschenrechte. fristigen Zusammenarbeit verpflichtet. Ohne glaubhaftes (D)
Engagement der internationalen Gemeinschaft auch über
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 2014 hinaus wird die Strategie der Übergabe der Verant-
Zweitens: das Abschwören von Gewalt. wortung in Verantwortung nicht funktionieren.

Drittens: das Kappen der Verbindungen zum interna- In den nächsten zwei Jahren werden wir als nichtstän-
tionalen Terrorismus. diges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Natio-
nen besondere Verantwortung für Frieden und Sicherheit
Mit dem Mandat der großen Friedensdschirga vom tragen. Die Mandatierung des internationalen Engage-
Juni dieses Jahres wurde das Friedens- und Reintegra- ments in Afghanistan wird für unsere Arbeit in New
tionsprogramm der afghanischen Regierung ins Leben York eine wichtige Rolle spielen. Unser Ziel ist dabei,
gerufen. Der Hohe Friedensrat soll als Scharnier für die die Rolle der Vereinten Nationen und ihrer Mission in
notwendigen Gespräche mit den Aufständischen dienen. Afghanistan langfristig zu stärken. Dafür werden wir
Wir wissen, dass Gespräche über mögliche Mechanis- nicht nur auf unsere traditionellen Partner, sondern auch
men der Zusammenarbeit stattfinden. Es liegt in der Na- auf andere Akteure und besonders auf die entscheiden-
tur der Sache, dass dieser Prozess der Versöhnung Zeit den regionalen Mächte setzen. Das war Teil meiner Ge-
brauchen wird und allzu große Öffentlichkeit ihm eher spräche in Indien, und ich werde das im Januar in Pakis-
schadet als nutzt. tan fortsetzen.
Gleichzeitig geht es um Reintegration, um ausstiegs- Präsident Karzai hat beim NATO-Gipfel in Lissabon
willigen regierungsfeindlichen Kämpfern einen Weg zu- angeregt, dass Deutschland Ende 2011, zehn Jahre nach
rück in die afghanische Gesellschaft zu ebnen. Für dieje- der Petersberg-Konferenz, erneut in Bonn eine interna-
nigen, die die Waffen niederlegen wollen, muss die tionale Konferenz zu Afghanistan ausrichtet. Wir wer-
Chance geschaffen werden, ein normales Leben zu füh- ten diese Bitte als Beweis dafür, dass Deutschland in Af-
ren. Deutschland hat sich 2010 mit 10 Millionen Euro ghanistan als vertrauenswürdiger und ehrlicher Partner
am Reintegrationsprogramm beteiligt; weitere 40 Millio- gilt. Die Bundesregierung wird dieser Bitte mit Blick auf
nen Euro sind bis 2014 fest eingeplant. Das ist besonders unser elementares Interesse an einer guten Entwicklung
wichtig; denn Reintegration und Versöhnung hängen in Afghanistan und der Region insgesamt nachkommen.
voneinander ab und sind wesentliche Bestandteile des
Übergabeprozesses. Noch ist es zu früh, über Einzelheiten der Tagesord-
nung zu reden, aber diese Konferenz wird uns ein Jahr
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nach Lissabon Gelegenheit geben, den Stand der Über-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8911
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) gabe der Sicherheitsverantwortung zu bewerten und die (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
nächsten Schritte bis Ende 2014 vorzuzeichnen. Wir NEN]: Das ist jetzt alles eine Talkshow!)
werden auch über das langfristige Engagement der inter-
weil ich diesen Fortschrittsbericht hier heute sehr nüch-
nationalen Gemeinschaft nach 2014 diskutieren. Unser
tern einbringen wollte. Ich will Ihnen nur eines sagen: Es
Ziel ist außerdem, dass von einer solchen Bonner Konfe-
renz Impulse ausgehen, die den politischen Prozess in ist Ihr gutes Recht, die Mitglieder der Bundesregierung
jeden Tag zu kritisieren,
Afghanistan fördern.
Nach Jahren, in denen die Anstrengungen der Staa- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
tengemeinschaft in Afghanistan vielfach unkoordiniert NEN]: Das machen wir auch! Das haben Sie
nebeneinander herliefen, ziehen jetzt erkennbar alle an nicht zu beurteilen, Herr Westerwelle!)
einem Strang. Wir wollen alles Notwendige tun, damit aber Ihre Schmähkritik an Frau zu Guttenberg war ein-
dieses von Jahrzehnten des Konflikts gezeichnete und fach unanständig.
zerrüttete Land in einer explosiven Region unserer Welt
nicht wieder Rückzugsraum für Terroristen werden (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
kann. Michael Groschek [SPD]: Lächerlich! –
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Jetzt müssen Sie auch noch den Guttenberg
Wir arbeiten daran, Frieden, Sicherheit und bescheidenen verteidigen! Man bekommt fast Mitleid mit
Wohlstand in ein Land zu bringen, das in seiner jüngsten dem Kollegen Westerwelle!)
Geschichte nur Krieg, Unsicherheit und bittere Armut er- Die große Präsenz und die Besuchsdichte zeigen, dass
lebt hat. Deutschland hat sich als verantwortungsvolles es Interesse und Anteilnahme gibt. Das gibt unseren
Mitglied der Weltgemeinschaft und der transatlantischen Frauen und Männern in Afghanistan auch Rücken-
Allianz dieser Aufgabe von Beginn an gestellt. Wir wer- deckung. Das ist – auch ich stelle bei meinen Reisen im-
den daher dieses Hohe Haus im Januar 2011 erneut um mer wieder fest, dass unsere Frauen und Männer in der
eine Verlängerung des Mandats für den Einsatz der Bun- Bundeswehr und vor Ort dies brauchen und wollen –
deswehr im Rahmen der internationalen ISAF-Truppen sichtbar.
ersuchen.
Wenn wir heute ehrlich Bilanz ziehen, ergibt sich ein
(Zuruf von der LINKEN: Wir werden Nein gemischtes Bild: Licht und noch immer viel zu viel
sagen!) Schatten. Dennoch gibt es jetzt Grund zur Zuversicht,
Ich möchte mich an die mutigen Frauen und Männer dass wir unsere Ziele erreichen können.
(B) der Bundeswehr wenden, von denen uns viele jetzt zuse- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
hen: Wir danken Ihnen für Ihre Arbeit. Wir sind stolz auf NEN]: Alle Jahre wieder hören wir das!)
das, was Sie leisten. Für viele von Ihnen sind die Belas-
tungen des Einsatzes leider auch nach der Rückkehr in Dann werden wir nicht nur uns selbst, Europa und die
die Heimat noch nicht zu Ende, weil so vieles von dem, Welt sicherer gemacht, sondern auch Millionen Afgha-
was gesehen wurde, verarbeitet werden muss. Ich ninnen und Afghanen die Chance auf ein etwas besseres
glaube, dieses Haus darf zum Ausdruck bringen, dass Leben eröffnet haben. Unsere Verantwortung für unser
wir auf die Frauen und Männer, die dort vor Ort ihren Land, aber eben auch für Afghanistan gebietet uns, dass
Dienst tun, stolz sind. wir diesen Auftrag wahrnehmen.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Anhaltender Beifall bei der FDP und der
SES 90/DIE GRÜNEN) CDU/CSU)
In diesem Jahr haben mehr als 60 Abgeordnete und
auch der Präsident dieses Hohen Hauses Afghanistan be- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
sucht. Das Wort hat nun Gernot Erler für die SPD-Fraktion.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD)
NEN]: Und Kerner!)
Bundestag und Bundesregierung stehen hinter diesem Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):
Einsatz. In diesem Jahr haben fünf Bundesminister Af- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
ghanistan besucht, jetzt vorgelegte „Fortschrittsbericht Afghanistan zur Un-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE terrichtung des Deutschen Bundestages“ ist in Wirklich-
GRÜNEN]: Und eine Gattin!) keit nicht in allen Teilen ein Bericht über Fortschritte.
Das ist gut so. Er zeichnet auf 108 Seiten und in 27 Ka-
allein der Bundesverteidigungsminister war siebenmal piteln ein realistisches und detailliertes Lagebild da-
dort. rüber, wie es in Afghanistan in den zentralen Bereichen
Sicherheit, Staatswesen und Regierungsführung sowie
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Wiederaufbau und Entwicklung steht. Er spricht Fehler
Michael Groschek [SPD]: Mit Harem!)
der Vergangenheit an, er benennt Defizite und kritisiert
Ich hatte eigentlich nicht vor, etwas dazu zu sagen, auch die afghanische Seite, wo dies angebracht ist.
8912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. h. c. Gernot Erler


(A) Mit der Vorlage dieses Berichts, in den offensichtlich matischer Heranziehung von wissenschaftlichen Exper- (C)
viel Arbeit investiert wurde – dies erkennen wir an –, hat tisen und der vor Ort gewonnenen Erfahrungen von
die Bundesregierung auch auf Forderungen der SPD rea- Nichtregierungsorganisationen festhalten.
giert. Wir brauchen definitiv bessere Grundlagen für die
schwierigen Entscheidungen in Sachen Afghanistan, die (Beifall bei der SPD)
wir immer wieder treffen müssen. Da die nächste Ent- Was die Gesamtanalyse der Entwicklung in Afgha-
scheidung über eine Mandatsverlängerung bereits im Ja- nistan im zu Ende gehenden Jahr angeht, so decken sich
nuar des kommenden Jahres ansteht, ist dieser Bericht die Feststellungen des Fortschrittsberichts in vielen
auch zur rechten Zeit vorgelegt worden. Punkten mit unseren Eindrücken. In der Tat: Es gibt
Der Bericht nutzt verschiedene Informationsquellen, Licht und Schatten nebeneinander. Am düstersten sieht
stellenweise auch von außen kommende wissenschaftli- es immer noch bei der Sicherheitslage aus. Nicht zufrie-
che Expertisen. Dadurch wird er aber natürlich nicht zu den sein können wir mit der unverzichtbaren Verbesse-
einer unabhängigen Evaluierung des deutschen Afgha- rung der Regierungsführung, mit den Fortschritten beim
nistan-Einsatzes, wie sie SPD und Grüne eingefordert Kampf gegen die Korruption und beim Kampf gegen
haben. den Drogenanbau – alles auch wichtige sicherheitspoliti-
sche Bereiche.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: So ist es!) Nicht ohne Erfolgsaussicht scheinen die innerafgha-
nischen Aussöhnungs- und Reintegrationsprogramme zu
Bis heute verstehe ich nicht, warum die Koalitionsfrak- sein, die allmählich anlaufen. Messbaren Fortschritt gibt
tionen und die Bundesregierung uns hier so brüsk vor es beim zivilen Aufbau, wo wir unsere Anstrengungen
den Kopf gestoßen haben, nachdem eine Verständigung verstärkt haben. Deutlich mehr müsste im Bereich der
über einen solchen Auftrag schon zum Greifen nahe regionalen Stabilisierung passieren. Dabei geht es um
schien. die Frage, welche Rolle eigentlich Länder wie Pakistan,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ China, Russland, Iran, die Türkei und die zentralasiati-
DIE GRÜNEN) schen Staaten für eine bessere Zukunft Afghanistans
spielen können. Hier würden wir uns in der Tat noch
Genau hier liegt die Quelle einiger Leerstellen und mehr Engagement des Außenministers in der Tradition
Defizite des Berichts, die nicht zu übersehen sind. Die seines Vorgängers erhoffen.
Entwicklung wird generell kritisch beleuchtet. Aber eine
selbstkritische Überprüfung der deutschen Aktivitäten in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Afghanistan unter Hinzuziehung der Erfahrungen von des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(B) vor Ort tätigen NGOs und wissenschaftlicher Experten (D)
findet eben nicht statt, und das ist bedauerlich. Wir wie hören, soll der amerikanische Bericht zur
Umsetzung der neuen Afghanistan-Strategie zu einer
(Beifall bei der SPD) ähnlichen gemischten Bilanz kommen; er wird heute
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Vorgestern hat die vorgelegt. Botschafter Richard Holbrooke hat bis zu sei-
SPD ihre zweite große Afghanistan-Konferenz in Ber- nem plötzlichen Tod, den wir als schmerzlichen und
lin durchgeführt, mit mehr als 400 Teilnehmern, unter schwer auszugleichenden Verlust empfinden, unermüd-
Heranziehung ganz verschiedener Experten. Wir haben lich an dieser Strategie und an dem Bericht gearbeitet.
dabei übrigens kein einziges verwertbares Bild produ- Unser Mitgefühl gilt seiner Familie und allen Amerika-
ziert und auf keinen Effekt abgehoben, sondern eine sehr nern, die um diesen großartigen Diplomaten trauern.
ernsthafte und lehrreiche Debatte geführt. Von besonderer Bedeutung ist, dass es bei der Ausbil-
(Beifall bei der SPD) dung der afghanischen Sicherheitskräfte offenbar vo-
rangeht. Die für Ende Oktober dieses Jahres formulier-
Auf dieser Konferenz wurde das Problem angespro- ten Zwischenziele wurden sogar übertroffen, bei der
chen, dass durch die zusätzlichen 5 000 US-Soldaten Ausbildung afghanischer Soldaten um 8 000, bei der
und die ganzen zusätzlichen amerikanischen Programme Ausbildung von Polizisten sogar um 12 000 Mann.
in der Region des Nordkommandos, wo Deutschland
eine besondere Verantwortung trägt, eine Art Überange- Das ist deswegen so wichtig, weil die gesamte inter-
bot entsteht. Es gibt mehr Geld und mehr Programme, nationale Afghanistan-Strategie darauf abzielt, diese
als die afghanische Gesellschaft vor Ort überhaupt auf- Ausbildungsprozesse zu beschleunigen, um Schritt für
nehmen und umsetzen kann. Die Folge ist, so wird uns Schritt die Sicherheitsverantwortung in afghanische
berichtet, dass sich dadurch die Gefahr der Korruption Hände übergeben zu können.
erhöht. Das leuchtet ein, und darauf muss man reagieren.
Die SPD hat Anfang dieses Jahres für den Abschluss
Vorher aber muss man solche kritischen Betrachtun- dieses Prozesses den Zeitkorridor 2013 bis 2015 ge-
gen natürlich erst einmal an sich heranlassen, um dann nannt. Wir sind froh, dass jetzt mit dem Zieldatum 2014
das eigene Verhalten korrigieren zu können. Das ist der ein international anerkannter Konsens erzielt worden ist.
Grund, meine Damen und Herren, warum wir bei aller Wir glauben, dass es auch realistisch ist, das zu errei-
Würdigung des vorgelegten Fortschrittsberichts an unse- chen, wenn wir tatsächlich auf dem Pfad dieser neuen
rer Forderung nach einer unabhängigen Evaluierung des Strategie bleiben und wenn wir rechtzeitig mit den Trup-
gesamten deutschen Afghanistan-Einsatzes unter syste- penreduzierungen beginnen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8913
Dr. h. c. Gernot Erler
(A) Leider mussten wir aber feststellen, Herr Außen- rung: Machen Sie nicht noch einmal den Fehler wie mit (C)
minister, dass Sie selber es waren, der hier Unsicherhei- dem Evaluierungsauftrag. Vermeiden Sie unnötige Pro-
ten und sogar ein Durcheinander geschaffen hat. Sie sind vokationen und Irritationen. Es gibt offene Fragen. Wir
soeben auf Ihre Erklärung vor dem Deutschen Bundes- sind heute durch das, was Sie gesagt haben, weiterge-
tag vom 10. Februar zurückgekommen. Da hatten Sie kommen. Ich habe den Eindruck, dass es bei gutem Wil-
gesagt, dass Ende 2011 mit der Reduzierung begonnen len auf beiden Seiten möglich ist, die Gegensätze zu
werden soll. Aber wir haben natürlich auch gelesen, was überbrücken. Sprechen Sie mit uns. Sprechen Sie mit
Sie am 6. Dezember in einer Presserklärung gesagt ha- uns, bevor Sie den Mandatstext festlegen. Wir sind dazu
ben – ich darf das zitieren –: bereit.
Wir werden mit aller Konsequenz darauf hinarbei- (Beifall bei der SPD)
ten, dass 2011 regional mit der Übergabe der Si-
cherheitsverantwortung begonnen werden kann. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Unser Ziel ist, damit die Voraussetzungen zu schaf- Das Wort hat nun Volker Kauder für die CDU/CSU-
fen, dass 2012 das deutsche Bundeswehrkontingent Fraktion.
in Afghanistan erstmalig reduziert werden kann.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
In dem jetzt vorgelegten Zwischenbericht gibt es ei-
nen Satz auf Seite 9, der auf Seite 34 wiederholt wird.
Da heißt es – das ist die dritte Variante –: Volker Kauder (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Im Zuge der Übergabe der Sicherheitsverantwor- Dass wir heute über einen Fortschrittsbericht unseres
tung beabsichtigt die Bundesregierung, einzelne Engagements in Afghanistan sprechen können, ist ein
nicht mehr benötigte Fähigkeiten, soweit die Lage großer Fortschritt. Es haben sich alle in diesem Hause
dies erlaubt, ab Ende 2011/2012 zu reduzieren. daran beteiligt, dass wir einen solchen Bericht bekom-
Sie müssen verstehen, dass man da Klarheit braucht. men. Es war aber im Wesentlichen doch diese Koalition,
Man kann in dieser Frage nicht wie ein Schilfrohr die gesagt hat: Wir wollen von der Bundesregierung re-
schwanken. gelmäßig eine Information darüber, was in Afghanistan
erreicht wird und wo noch offene Fragen sind. Ich danke
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ihnen, Herr Bundesaußenminister, für diesen sehr diffe-
DIE GRÜNEN) renzierten Bericht, den Sie abgegeben haben. Er zeigt,
Wir brauchen Sicherheit und Vertrauen zu diesem Fahr- wo Fortschritte sind. Er schildert aber ebenfalls die Auf-
plan. gaben; er sagt auch, wo es noch nicht so weit ist, dass
(B) wir beruhigt sein können. In dem Bericht steht auch, wo (D)
Ich hoffe, dass wir uns jetzt auf das, was Sie hier ge- noch etwas getan werden muss. Das weitere Mandat ist
sagt haben und was wir nur begrüßen können, verlassen natürlich mit diesen Aufgaben verbunden. Herzlichen
können und dass das auch Ausdruck in dem Text des Dank für diese offene Darstellung.
Mandates findet. Das ist außerordentlich wichtig für
uns. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
es muss immer wieder an den Ausgangspunkt zurück-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gegangen werden, wenn wir in der Öffentlichkeit über
DIE GRÜNEN) Afghanistan sprechen. Wenn es um Afghanistan geht,
Sie können sich dabei durchaus auf den Fortschrittsbe- kann nicht einfach immer nur von „im Augenblick“ oder
richt berufen. Ich hatte ja schon gesagt, dass der genau „in diesem Status“ gesprochen werden. Ausgangspunkt
festhält, dass in dem zentralen Bereich der Ausbildung war – das haben auch Sie alle von SPD und Grünen klar
tatsächlich Fortschritte erzielt worden sind. so formuliert – der Kampf gegen internationalen Terro-
rismus und gegen Islamismus.
Meine Damen und Herren, das ist kein kleinliches
Gezerre über Monate, Wochen oder Tage, wie man es (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
manchmal in der Öffentlichkeit hört. Bei dieser Frage GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)
geht es um ziemlich viel, nämlich darum, ob wir selber Wir haben in einer großen Allianz durch das UNO-Man-
dem vertrauen, was wir uns mit der neuen Strategie in dat in wenigen Wochen dafür sorgen können, dass das
Afghanistan vorgenommen haben, ob wir bereit sind, System in Afghanistan die Menschen dort nicht mehr
auch den notwendigen Druck auf die afghanische Seite terrorisieren und die ganze Welt nicht mehr in Atem hal-
aufrechtzuerhalten, ihrerseits alles für die Umsetzung ten konnte.
der politischen Fahrpläne zu tun, und ob wir in zeitlicher
Tuchfühlung mit der amerikanischen Planung bleiben. Um an den Ausgangspunkt zu erinnern: Es ist not-
Hier gibt es nach wie vor die Ankündigung von Präsi- wendig, zu wissen, was mit diesem Mandat erreicht wer-
dent Obama, im Juli nächsten Jahres mit der Reduzie- den muss, wie es der Außenminister gesagt hat. Es muss
rung zu beginnen. Dabei wird es mit Sicherheit bleiben. erreicht werden, dass eine solche Gefahr von Afghanis-
tan nicht mehr ausgehen kann. Das ist das Ziel. Wir wol-
Wir sprechen heute nicht bereits über die Mandatsver- len ein Afghanistan, das den Menschen in diesem Land
längerung. Wir sprechen über Fortschritte und ausblei- dient und nicht Aufmarschbasis für Terroristen ist.
bende Fortschritte. Aber wir fordern Sie heute hier schon
auf, Herr Außenminister und die ganze Bundesregie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
8914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Volker Kauder
(A) Deswegen werden in diesem Bericht ja auch ganz klar mal dorthin zu fahren und zu fliegen und mit den Solda- (C)
die Punkte formuliert, auf die es entscheidend ankommt. tinnen und Soldaten darüber zu sprechen.
Wir unterstützen die Regierung Karzai darin, dass wir
das Herstellen von Sicherheit und die Kontrolle dieser Si- Kritik an der Regierung und an Regierungsmitglie-
cherheit in Afghanistan ab 2014 den dortigen heimischen dern gehört zur parlamentarischen Demokratie.
Kräften übertragen können. Dafür wurden das Mandat (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Aber …!)
und die Aufgaben in Afghanistan noch einmal neu defi-
niert. Wir alle haben gewusst, dass diese Neuorientierung Aber sich in einer ordinären Art und Weise zu äußern,
auch mit neuen Risiken verbunden sein wird. wie es der SPD-Parteivorsitzende gemacht hat, ist
wirklich nicht zu akzeptieren.
Wir sind den Soldatinnen und Soldaten der Bundes-
wehr natürlich dankbar dafür, dass sie diesen Auftrag (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
trotz der Gefahren, die damit verbunden sind, erfüllen. ruf von der CDU/CSU: Pfui! – Burkhard
Wir sind aber auch allen anderen, die durch die UNO Lischka [SPD]: Ablenkungsmanöver!)
und die NATO an diesem Auftrag beteiligt sind, dankbar. Wenn man sich so äußert, liebe Kolleginnen und Kolle-
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es in unserer gen, dann muss man damit rechnen, dass das zurück-
Geschichte schon einmal eine solche konzentrierte Zu- kommt, wie es heute geschehen ist. Ich kann mir vorstel-
sammenarbeit zur Lösung eines Problems gab. Man len, dass es den allermeisten in Ihrer Fraktion
muss sagen: Das ist eine großartige Aktion. außerordentlich peinlich ist, wenn jene Dame, die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sigmar Gabriel genannt hat, ihn heute in der BILD-Zei-
tung mit „Lieber Sigi Knuddelbär“ anschreibt. Wie weit
Ich war in diesem Jahr mit einigen Kollegen in Af- muss man in der SPD sinken, um so etwas zu produzie-
ghanistan und habe dort mit Soldaten gesprochen. Wir ren?
haben natürlich auch darüber gesprochen, wie die Per-
spektive sein wird, wenn wir ab 2011, 2012, wie es der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Außenminister formuliert hat, damit beginnen, Verant- Damit haben Sie jeden Anspruch verloren, sich in dieser
wortung auf Afghanistan und die afghanischen Sicher- Frage noch seriös zu äußern, es sei denn, Sie distanzier-
heitseinrichtungen zu übertragen und Fähigkeiten abzu- ten sich davon.
ziehen, die wir dort nicht mehr brauchen. Ich war
beeindruckt nicht nur von Offizieren und Generälen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
sondern auch von ganz normalen Soldatinnen und Solda- Zuruf des Abg. Swen Schulz [Spandau
ten, die uns im Gespräch gesagt haben: Es darf nicht [SPD])
(B) sein, dass unser Einsatz sinnlos war. Sinnlos wäre er ge- (D)
– Jetzt will ich Ihnen einmal etwas sagen – das hat Herr
wesen – so haben sie formuliert –, wenn Afghanistan Gabriel produziert –: Was müssen Soldaten darüber den-
wieder in den Zustand käme, aus dem wir Afghanistan ken, wie sich diese Frau zum Zweck ihrer Reise äußert?
eigentlich befreien wollten. Das war eine beeindru- Ich will es hier nicht sagen. Das, was da aus Ihren Rei-
ckende Aussage unserer Soldatinnen und Soldaten. Da- hen gemacht worden ist, ist unter jedem Niveau.
ran müssen wir unseren Einsatz messen. Wir wollen,
dass die Situation in Afghanistan wesentlich sicherer ist, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
als sie war, bevor wir mit unserem Auftrag begonnen ha- Burkhard Lischka [SPD]: Billige Selbstinsze-
ben. nierung!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine sehr verehrten Damen und Herren, selbstver-
ständlich werden wir Verantwortung übergeben. Wir
Natürlich ist völlig klar, dass die Angehörigen der werden unsere Arbeit in Afghanistan fortsetzen, so wie
Bundeswehr mit besonderem Interesse darauf schauen, es der Außenminister beschrieben hat. Aber wir wissen
wie in Deutschland über den Einsatz diskutiert wird. Es natürlich auch, dass wir in Afghanistan noch über viele,
beschwert den einen oder anderen, wenn er spürt, dass viele Jahre hinweg präsent sein müssen, nicht mit Streit-
nicht der gesamte Deutsche Bundestag hinter den Einsät- kräften, sondern mit Entwicklungshilfe und Entwick-
zen und den Aufgaben der Bundeswehr steht. lungszusammenarbeit.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Herr Bundesaußenminister, wir wissen auch, dass die
GRÜNEN]: Ehrlichkeit! – Wolfgang Gehrcke Erfüllung der eigentlichen politischen Aufgabe dann erst
[DIE LINKE]: Das hättet ihr gerne!) beginnt; denn Afghanistan kann natürlich nur im Umfeld
Deswegen sind wir außerordentlich dankbar, dass so mit Pakistan, mit Indien, mit all den Anrainerstaaten ge-
viele Kolleginnen und Kollegen und dass auch die Bun- sehen werden, wo zwar gute Erklärungen zu den Absich-
desregierung so regelmäßig in Afghanistan präsent sind. ten formuliert werden, wir aber bei weitem noch nicht so
Das zeigt das Interesse und den Rückhalt für den Auftrag weit sind, Afghanistan in ein stabiles Netz der Sicherheit
und für unsere Soldatinnen und Soldaten. in seiner Region einbinden zu können. Es bleiben also
eine Menge Aufgaben, und ich bin dankbar dafür, dass
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Bundesregierung dies so differenziert formuliert hat.
Mancher, der sich auch in diesen Tagen zu Besuchen in Natürlich wissen wir ebenso, dass wir auch der Regie-
Afghanistan geäußert hat, hätte allen Grund, selbst ein- rung Karzai, um es einmal sehr freundlich zu formulie-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8915
Volker Kauder
(A) ren, beistehen müssen, damit sie die von ihr gesetzten ten hingeschickt haben, gibt es mehr Tote in diesem (C)
Ziele auch tatsächlich erreicht. Land. – Das ist doch das beste Argument dafür, die Bun-
deswehrsoldaten jetzt und sofort aus Afghanistan abzu-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ziehen, wenn sie nur die Sicherheitslage verschlechtern.
GRÜNEN]: Korrupt!)
(Beifall bei der LINKEN)
Ich sage also der Bundeswehr und der Bundesregie-
rung einen herzlichen Dank für das, was in Afghanistan Wenn Sie ein derart ehrliches katastrophales Bild der
geschieht. Wir begleiten diese Arbeit, weil wir ein Inte- Lage zeichnen, frage ich mich, warum Sie das Ganze
resse daran haben, dass in Afghanistan eine Situation „Fortschrittsbericht“ nennen. Es gibt keinen Fortschritt.
entsteht, in der die Menschen nach Jahrzehnten von Der ganze Bericht ist ein Dokument des Scheiterns. Auf
Krieg endlich befriedet leben können, Mädchen wie 108 Seiten dokumentieren Sie, wie der Krieg in Afgha-
selbstverständlich in die Schule gehen können, in der nistan in neun Jahren auf der ganzen Linie gescheitert
Kinder eine Perspektive haben – und nicht mehr der Ter- ist.
rorismus und der Islamismus. Das ist unsere Aufgabe, (Beifall bei der LINKEN)
und sie werden wir zum Erfolg führen.
Sie reden hier heute von Abzug, Sie reden hier heute
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von Aufbau, und Sie reden hier heute von Terrorismus,
Herr Kauder. Ich muss Ihnen sagen: Ihr Abzug ist kein
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Abzug, Ihr Aufbau ist kein Aufbau, und Ihre Terrorbe-
Das Wort hat nun Jan van Aken für die Fraktion Die kämpfung hat nichts mit Terrorbekämpfung zu tun.
Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Kommen wir zum ersten Punkt, dem Abzug. Heute
Nachmittag wird der amerikanische Präsident, Barack
Jan van Aken (DIE LINKE): Obama, erklären, dass es beim vorgesehenen Zeitplan
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst bleibt: Im Juli nächsten Jahres beginnt der Abzug der
einmal, Herr Westerwelle, muss ich sagen, dass es tat- amerikanischen Truppen. Was kann Barack Obama, was
sächlich ein Fortschritt ist, dass es diesen Bericht über- Sie nicht können, Herr Westerwelle? Warum können Sie
haupt gibt. Seit neun Jahren führt die Bundesrepublik nicht im nächsten Juli mit dem Abzug beginnen? Von
Krieg in Afghanistan. Neun Jahre lang hat es niemand mir aus schon heute, aber warum können Sie nicht we-
für nötig gehalten, einmal zu schauen, was dieser Krieg nigstens im nächsten Juli damit beginnen? Was kann er
besser?
(B) eigentlich in Afghanistan anrichtet. (D)
Das richtet sich auch an die Grünen und an die SPD. Dann komme ich zu dem Punkt, dass Ihr Abzug über-
Sie haben vor neun Jahren gemeinsam diesen Krieg be- haupt kein Abzug ist. Sie haben gerade gesagt: Es wird
schlossen. Herr Steinmeier, Sie waren acht Jahre lang nach 2014 keine deutschen Kampftruppen mehr geben.
Minister einer Bundesregierung, die in Afghanistan Das ist eine Vernebelungstaktik.
Krieg führt. Sie haben es nie geschafft, so einen Bericht (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!)
vorzulegen. Jetzt plustern Sie sich auf und fordern eine
unabhängige Evaluation. Das ist zwar richtig, aber weil Denn das heißt, dass offensichtlich andere Bundeswehr-
Sie das in der Regierung versemmelt haben, können Sie soldaten noch im Land bleiben werden. Sie wollen gar
sich jetzt nicht so aufplustern. Das glaubt Ihnen kein nicht ganz aus Afghanistan herausgehen.
Mensch mehr. In dem Bericht schreiben Sie – das ist nur noch pein-
(Beifall bei der LINKEN – Burkhard Lischka [SPD]: lich –, dass die afghanische Regierung Sie bitten wird,
im Jahre 2014 noch Bundeswehrsoldaten im Land zu
Legen Sie mal eine andere Platte auf!)
lassen. Wenn Sie das schon heute wissen, dann gibt es
Herr Westerwelle, ich war beim Lesen der ersten Sei- offensichtlich Gespräche, vielleicht sogar schon Abspra-
ten des Berichtes positiv überrascht, weil Sie darin ein chen, dann müssen Sie das auf den Tisch legen. Sie müs-
ehrliches, ein ganz katastrophales Bild der Situation in sen deutlich sagen, welche Einheiten der Bundeswehr
Afghanistan zeichnen. Sie schreiben, dass die Sicher- auch nach 2014 bleiben sollen. Wenn Sie jetzt vom Ab-
heitslage immer schlechter wird. Gerade haben Sie ge- zug 2014 reden, ist das gelogen. Das sollte kein einziger
sagt, dass es eine Trendwende gibt. Aber Ihre Zahlen Mensch da draußen glauben.
und Ihr eigener Bericht bieten ein anderes Bild. Sie sa-
(Beifall bei der LINKEN)
gen: Die Sicherheitslage ist so schlecht wie nie zuvor.
Sie schreiben in dem Bericht: Es gibt in diesem Jahr Kommen wir zur Terrorbekämpfung. Herr Kauder
mehr Tote als je zuvor, bei den NATO-Soldaten, bei den hat es gerade gesagt – es steht auch im Bericht –: Der
Bundeswehrsoldaten und natürlich auch, und zwar viel Anfangsgrund und der fortdauernde Grund für den Ein-
mehr, bei den Afghaninnen und Afghanen. Die Willkür, satz in Afghanistan ist die Terrorbekämpfung. Ein paar
die Korruption, die Armut sind unvorstellbar groß. Seiten weiter ist im Kleingedruckten zu lesen: Al-Qaida
ist gar nicht mehr in Afghanistan.
Sie schreiben sogar – als ich das las, habe ich gedacht,
bei Ihnen gibt es auch einen Maulwurf der Linken; denn Bei Hillary Clinton lese ich – ich bin mir sicher, dass
wir sagen das schon seit Jahren –: Weil wir mehr Solda- Sie dieselben Informationen haben –: Die Hauptquelle
8916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Jan van Aken


(A) für die Finanzierung von al-Qaida und die ganzen sunni- biet baut. Er sagt genau das Gleiche: erstens mit den (C)
tischen Terroristen kommt aus Saudi-Arabien. Aber mit richtigen Leuten reden, zweitens ohne Soldaten. Dann
Saudi-Arabien und seinen Menschenrechtsverletzungen klappt es. Das ist für mich das zweite sehr gute Argu-
kuscheln Sie. Stattdessen schicken Sie die Bundeswehr mente dafür, sofort die Bundeswehr abzuziehen und dort
nach Afghanistan, obwohl dort gar keine Al-Qaida- dann endlich einen richtigen Aufbau, einen zivilen Auf-
Kämpfer sind. Wenn es Ihnen um Terrorbekämpfung bau, anzuschieben.
geht, dann müssen Sie das anders machen. Mit Militär
und Krieg in Afghanistan geht das nicht. (Beifall bei der LINKEN)

(Beifall bei der LINKEN) Ich muss sagen, dass es auf diesen 108 Seiten tatsäch-
lich eine Erfolgsgeschichte gibt. Sie haben mit zwei gro-
Jetzt zum Aufbau. Der Aufbau, wie Sie ihn betreiben, ßen Kästen herausgestellt, wie Sie den Distrikt Chahar
ist gar kein Aufbau. Ich war Anfang des Jahres in Afgha- Darreh bei Kunduz von den Taliban befreit haben, wie
nistan. Wir waren im Bundeswehrlager Kunduz und ha- der Aufbau dort jetzt wieder beginnt. Beim zweiten Le-
ben gesehen, wie dort der Aufbau funktioniert. Das La- sen habe ich gesehen, dass diese Erfolgsgeschichte zwei,
ger heißt sogar noch „Wiederaufbaulager Kunduz“. drei Wochen alt ist; das haben Sie in diesem November
Dazu muss man wissen, dass dort über 1 400 Bundes- gemacht. Vorgestern habe ich dann aber in der Zeitung
wehrsoldaten stationiert sind, von denen ganze 12 Wie- gelesen, dass diese Erfolgsgeschichte schon wieder Ma-
deraufbauhelfer sind. Die Soldaten selbst sagen, dass sie kulatur ist, bevor Ihr Bericht überhaupt in Druck gegan-
seit zwei Jahren keinen einzigen Brunnen mehr gebaut gen ist. Am Freitag gab es in Chahar Darreh einen
und keine einzige Schule mehr eröffnet haben. Unter den schweren Anschlag von Taliban mit vielen Toten und
Bedingungen des Krieges findet dort kein Aufbau statt. Verletzten. Ihre Erfolgsgeschichten halten zwei, drei
Wir waren auch in Kabul und haben dort mit echten Wochen, weil Sie unter Bedingungen des Krieges keinen
Entwicklungshelfern geredet. Ich habe eine Geschichte Frieden in Afghanistan herstellen können. Das funktio-
gehört, die mich bis heute beeindruckt. Ein Deutscher – er niert so nicht.
war ein staatlicher Entwicklungshelfer, also kein wildge-
(Beifall bei der LINKEN)
wordener Nichtregierungsmensch – hat mir von einer
Anfrage der holländischen Armee erzählt, die – anders Wenn Sie eine Lösung, vor allen Dingen eine lang-
als die Bundeswehr – mittlerweile abgezogen ist, in der fristige Lösung, in Afghanistan wollen, dann ist am Ende
Provinz Uruzgan ein Projekt durchzuführen. Uruzgan der einzige Weg, dass Sie dort die wirklich demokrati-
ist Taliban-Land, schwer umkämpft. Dort wird viel ge- schen Kräfte unterstützen. Sie wissen genauso gut wie
schossen. Alle Kollegen haben ihm gesagt: Mach das alle hier im Hause, dass in der Regierung Karzai Kriegs-
(B) bloß nicht, da wirst du sofort vom Acker geschossen. (D)
verbrecher, Folterer und Vergewaltiger aus den 90er-Jah-
Dann hat er etwas Schlaues gemacht. Er hat sich an ren sitzen. Auch viele Abgeordnete im Parlament sind
eine afghanische Institution gewandt, die Wissenschaft- Kriegsverbrecher der 90er-Jahre. Solange sie dort und
ler in allen Provinzen, Distrikten und ethnischen Grup- vor allen Dingen auch in der Regierung Karzai sitzen,
pen hat. Sie hat ihm eine Analyse erstellt, wer eigentlich wird es keinen Frieden geben. Der einzige Weg ist die
das Sagen in Uruzgan hat – die traditionellen Strukturen, Unterstützung der wirklich demokratischen Kräfte, die
die neuen Strukturen –, wer dort auf wen schießt und wa- es ja auch gibt, zum Beispiel den Präsidentschaftskandi-
rum. Mit dieser Analyse in der Hand ist er nach Uruzgan daten Baschardost und viele andere, die wir getroffen
gegangen, hat mit den richtigen Leuten geredet und mit haben. Wir werden sie im Januar zu einer Konferenz
ihnen gemeinsam ein Projekt entwickelt, in dessen Rah- nach Berlin einladen, auf der wir das demokratische Af-
men er nicht nur den Brunnen gebohrt hat, sondern land- ghanistan vorstellen wollen. Diese Kräfte gilt es zu stär-
wirtschaftliche Projekte dazu gemacht hat und sogar eine ken, und zwar nicht in den nächsten 10 Monaten, son-
weiterverarbeitende Industrie aufgebaut hat, damit die dern in den nächsten 10, 20 Jahren, damit irgendwann
jungen Menschen dort nicht nur die Wahl haben, zu den der Fortschritt in Afghanistan wirklich stattfindet.
Taliban zu gehen, sondern auch in die Fabrik gehen kön- (Beifall bei der LINKEN)
nen. Am Ende sagte er lapidar, er sei nicht vom Acker
geschossen worden. Die einzige Bedingung, damit es ge- Ich möchte noch ein letztes Wort zu dem Bericht sa-
klappt hat, war: kein Militär. Die Holländer haben sich gen. Anfang des Jahres haben Sie sich endlich durchge-
daran gehalten und sind nicht in die Nähe des Projektes rungen, den Krieg in Afghanistan einen Krieg zu nen-
gegangen. Diese Geschichten hören Sie überall in Af- nen. In diesem Bericht wird der Begriff „Krieg“ kein
ghanistan. Sie können vernünftig aufbauen – ohne Mili- einziges Mal verwendet; da reden Sie nur von Engage-
tär. ment usw. Ich kann ja noch verstehen, dass Sie nicht
(Beifall bei der LINKEN) gerne von den Realitäten, also vom Krieg, in Afghanis-
tan reden. Aber dann steht hier an drei Stellen für das
Wenn Sie schon nicht auf mich hören – das kann ich heutige Afghanistan, für das Afghanistan des Jahres
ja noch verstehen – und wenn Sie auch nicht auf Ihre ei- 2010, tatsächlich der Begriff „Nachkriegsgesellschaft“.
genen Entwicklungshelfer hören – das könnte ich auch Wie verquast muss man im Kopf eigentlich sein, dass
noch verstehen –, dann hören Sie doch vielleicht auf den man in einer Situation, in der in jedem Jahr Tausende
ehemaligen Bundeswehrarzt, Herrn Erös, der seit Jahren von Toten zu beklagen sind, von Nachkriegsgesellschaft
Schulen, auch Mädchenschulen, mitten im Taliban-Ge- spricht? Das geht so nicht. Herr Westerwelle, Sie haben
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8917
Jan van Aken
(A) da noch ordentlich Aufbauarbeit zu leisten, vor allem in Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
Ihrem Ministerium, in Afghanistan aber natürlich auch. Das Wort hat nun Rainer Stinner für die FDP-Frak-
tion.
(Beifall bei der LINKEN)
Diese ganze Vernebelungstaktik, dass Sie vom Abzug (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
reden, ihn aber gar nicht meinen, dass Sie nicht von
Krieg reden, obwohl er dort tobt, führt natürlich dazu, Dr. Rainer Stinner (FDP):
dass immer mehr Deutsche den Krieg ablehnen. Die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
letzte Zahl von gestern: 71 Prozent der Menschen wollen Wenn man nach Herrn van Aken spricht, ist man ver-
den Krieg in Afghanistan nicht. Diese Zahlen steigen sucht, seine ganze schöne Redezeit darauf zu verwen-
immer weiter. Vor einem Jahr, als Sie die Bomben auf den, diesen Unsinn zu widerlegen.
Kunduz abgeworfen haben, ist die Ablehnung gestiegen,
im April, als es viele in Afghanistan gestorbene Bundes- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
wehrsoldaten zu beklagen gab, ist sie gestiegen, und sie der CDU/CSU – Widerspruch bei der LIN-
steigt immer weiter. Solange Sie den Menschen nicht die KEN)
Wahrheit sagen – dies versuchen Sie mit Ihrer Vernebe- Ich möchte dieser Versuchung widerstehen und sage des-
lungstaktik immer wieder –, so lange wird die Ableh- halb zusammenfassend nur: Herr van Aken, Sie haben
nung steigen. Ich sage Ihnen: Sie halten es nicht mehr ein weiteres Mal bewiesen, dass Ihre Partei außenpoli-
lange durch. tisch nicht handlungsfähig und nicht ernst zu nehmen ist,
(Beifall bei der LINKEN) Punkt, aus, Ende.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Stefan
keine Waffen mehr exportieren sollte. Gestern hat die Liebich [DIE LINKE]: 4 Prozent!)
Bundesregierung den Rüstungsexportbericht 2009 vor- Wenn wir über den vorliegenden Fortschrittsbericht
gelegt. Die Zahlen sind wie immer katastrophal. reden, müssen wir auch analysieren, woher wir kommen,
Deutschland ist noch immer der drittgrößte Waffenex- wie die Lage 2001 war.
porteur der Welt. Nach Ihren Zahlen wurden Waffen im
Wert von über 5 Milliarden Euro exportiert. Und das Ohne jeden Zweifel sind zu Beginn unseres Einsatzes
sind Ihre Zahlen! Die Waffenexporte in Entwicklungs- durchaus Fehler gemacht worden, unter denen wir heute
länder haben sich verdoppelt. Wissen Sie, wer der zweit- noch leiden.
größte Abnehmer deutscher Waffen ist? Das sind die Fehler eins. Die Strategie des Light Footprints, des
Vereinigten Arabischen Emirate, die laut Hillary Clinton zarten Fußabdrucks, zu glauben, dass mit einigen Tau- (D)
(B)
– das alles können Sie bei WikiLeaks nachlesen – einer send Soldaten in Kabul so fabelhafte Dinge zu erreichen
der größten Finanziers von al-Qaida sind. Ich finde, sind, dass diese auf das ganze Land ausstrahlen, hat nicht
wenn Sie wirklich an einer friedlichen Lösung von Kon- funktioniert.
flikten in der Welt interessiert sind, dann müssen Sie
grundsätzlich die Waffenexporte einstellen. Das zweite Problem ist, dass wir in der NATO bedau-
erlicherweise bis zur Londoner Konferenz in diesem
Am schlimmsten finde ich: Sie haben Saudi-Arabien Jahr, bei der die Bundesregierung eine ganz wesentliche
sogar genehmigt, eine eigene Fabrik für Maschinenge- Rolle gespielt hat, keine gemeinsame Strategie und
wehre der Marke Heckler & Koch zu bauen. Wissen Sie, keine gemeinsame Zielvorstellung für das weitere Vor-
was das bedeutet? Diese Fabrik wird 50 Jahre, wenn gehen hatten. Es stellt einen Fortschritt dar, dass wir nun
nicht sogar länger, Maschinengewehre der modernsten eine entsprechende Strategie haben.
Bauart produzieren. Diese Maschinengewehre werden
mindestens 50 Jahre in Kriegen auf dieser Welt einge- Drittens. Das Nation Building, der Aufbau eines
setzt werden. Das heißt, das, was Sie jetzt entschieden Rechtsstaates, der so ähnlich funktioniert, wie wir das in
haben, wird noch in 100 Jahren überall auf der Welt zu den westlichen Ländern gewohnt sind, war ein zu ambi-
Toten führen. Mir fehlen die Worte. Ich finde das einfach tioniertes Ziel. Auch hier mussten wir dazulernen.
nur furchtbar.
Viertens. Natürlich leiden wir noch heute darunter,
(Beifall bei der LINKEN) Herr Außenminister, dass von Anfang an in Afghanistan
eine sehr zentralisierte Organisation aufgebaut und nicht
Eigentlich finde ich das sogar unchristlich. Herr Kauder,
berücksichtigt wurde, wie divers, wie unterschiedlich
Sie müssen sich dabei doch auch an das Christliche in
das Land eigentlich ist. Afghanistan besteht aus 34 Pro-
Ihrem Parteinamen erinnern. Ich kann verstehen, dass
vinzen und 368 Distrikten. Wir müssen tiefer schauen.
Sie nicht alle Rüstungsexporte einstellen. Aber wenigs-
Unter der zentralen Organisation, die 2001 eingeführt
tens den bei den Maschinenpistolen, Maschinengeweh-
wurde, leiden wir noch heute. Das kommt auch in Ihrem
ren und Sturmgewehren, die weltweit zu so vielen Toten
Bericht sehr deutlich zum Ausdruck.
führen, müssen wir einstellen. Wir sollten an diesem
Punkt zusammenkommen und endlich den Export sol- Wir sind seitdem einen langen Weg gegangen. Ich
cher Waffen verbieten. darf sagen, dass in den letzten zwölf Monaten sehr viel
passiert ist. Sehr viele Fortschritte wurden erzielt. Das
Ich bedanke mich bei Ihnen.
fing mit der bereits erwähnten Londoner Konferenz an.
(Beifall bei der LINKEN) Ohne jeden Zweifel hat die Bundesregierung einen we-
8918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Rainer Stinner


(A) sentlichen Anteil daran, dass wir in London wie nie zu- haben mir gesagt: Im Jahre 2001 in Bonn waren wir (C)
vor in der NATO zusammengekommen sind. Daraufhin noch dabei, im Jahre 2010 in London nicht mehr. Wa-
hat es die Kabuler Konferenz gegeben, die ausformuliert rum eigentlich nicht? Wenn ihr genau hinguckt, müsstet
hat, was Afghanistan tun soll. Das ist zwar noch ungenü- ihr eigentlich alle um unsere intensiven Beziehungen zu
gend, wie wir alle wissen, aber der Weg ist definiert. Afghanistan und unsere Kenntnis über Afghanistan wis-
Dann folgte die Konferenz in Lissabon, auf der die sen. – Hier müssen wir einfach besser werden.
NATO deutlich gesagt hat, wohin wir gehen und wie das
Commitment aussieht. In Lissabon ist sehr deutlich ge- Aber natürlich ist klar: Der Kernpunkt und Knack-
worden – das ist ganz wichtig –, dass es sich in Afgha- punkt ist Pakistan. Auch hier müssen wir konstatieren
nistan nicht nur um ein Engagement der NATO handelt. – das gehört zu einer offenen Aussprache –, dass wir
Nicht 28 Staaten sind dort engagiert. Nein, in Afghanis- nicht da sind, wo wir hin müssen. Wir alle von links bis
tan sind 48 Staaten aktiv. Die Kontaktgruppe, die von rechts sagen immer gerne den wohlfeilen Satz: Wir kön-
dem deutschen Diplomaten Steiner geleitet wird, um- nen das Problem Afghanistan nicht lösen, wenn wir die
fasst auch viele muslimische Staaten. Wir müssen hier Region nicht einbeziehen. – Hier haben wir noch eine
im Bundestag und auch in der Öffentlichkeit deutlich da- große Aufgabe vor uns. Wir müssen Pakistan insbeson-
rauf hinweisen, dass das Engagement in Afghanistan dere dazu bewegen, auch gegen die afghanischen Tali-
weit über den Westen im engeren Sinne und die NATO ban in seinem Lande vorzugehen und sich nicht auf ein
hinausgeht. Es handelt sich um ein Engagement der in- Vorgehen gegen pakistanische Aufständische zu be-
ternationalen Gemeinschaft gegen Menschen, die uns al- schränken. Dabei müssen wir Pakistan unterstützen und
len etwas Böses wollen. Überzeugungsarbeit leisten. Natürlich ist klar, dass auch
Pakistan an einem stabilen Afghanistan interessiert sein
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) muss; denn wenn Afghanistan explodiert, explodiert die
ganze Region. Dieses Argument müssen wir sehr deut-
Bei diesem Fortschrittsbericht fällt zunächst einmal lich weitergeben.
die sehr prägnante, gute Sprache auf, Herr Außenminis-
ter. Sie erlauben mir, Sie zu bitten, das Kompliment an Auch beim Thema Regierungsgewalt in den Provin-
die Verfasser dieser Schrift weiterzugeben; denn diese zen, das auf Seite 45 des Berichtes erwähnt ist, haben
Sprache ist beispielgebend. Ich wünschte mir, Regie- wir großen Nachholbedarf. Hier ist das Bild ebenfalls
rungsdokumente hätten häufiger diese klare, deutliche, unterschiedlich. Es gibt eine ganze Reihe von Provinzen
verständliche, sympathische Sprache. Dieser Bericht ist und Distrikten, in denen sehr wohl verantwortungsvolle
ein Fortschritt gegenüber anderen Dokumenten. Er ist Distriktführer und Regionsführer im Amt sind, die sehr
klar gegliedert. wohl in der richtigen Weise arbeiten. Aber natürlich
(B) müssen wir hier flächendeckend noch sehr viel besser (D)
Auf das Thema Sicherheit wird meine Kollegin Elke werden.
Hoff gleich noch näher eingehen. Ich möchte einen
Punkt besonders herausstellen, der mir sehr am Herzen Wir haben heute nicht über das Mandat zu diskutie-
liegt, das ist der Einfluss der Region auf die Stabilität ren. Die heutige Diskussion, die wir alle wollten, ist aber
Afghanistans, der unter Punkt 9 des Berichts behandelt eine Voraussetzung für die Entscheidung über die Ver-
wird. Hier geht es um einen ganz kritischen Punkt. Ich längerung des Mandats im Januar. Ich möchte deshalb
bin in diesem Sommer in den Iran und nach Indien ge- auch gar nicht auf das Mandat eingehen, sondern nur sa-
fahren, um zu verstehen, inwieweit die Region mehr ein- gen: Lassen Sie uns im Sinne des hier vorgelegten Fort-
bezogen werden kann. Hier sind wir einfach noch nicht schrittsberichtes und des in Lissabon verabschiedeten
gut genug. Planes für Afghanistan gemeinsam weitere Schritte defi-
nieren – gemeinsam, lieber Herr Erler. Ich bin dazu be-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
reit, und ich habe Ihre Rede so verstanden, dass auch Sie
der CDU/CSU – Johannes Pflug [SPD]: Das
dazu bereit sind. Lassen Sie uns gemeinsam an eventuel-
liegt am Außenminister!)
len Konfliktstellen arbeiten.
– Das liegt am Außenminister. Liebe Leute, lassen Sie
uns hier doch ehrlich sein. Das ist eine Aufgabe, die Sie Dazu möchte ich aber wirklich sagen, lieber Herr
nun wirklich nicht bewältigt haben und an der wir jetzt Erler: Wir sollten uns nicht zu sehr an Zwischenzeitplä-
gemeinsam weiter arbeiten müssen. nen aufhalten. Die Perspektive 2014 ist das Entschei-
dende. Zwischenschritte müssen definiert werden, aber
(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Herr Steinmeier ob die Zwischenschritte nun im Februar oder im März
hat es doch gemacht!) eines Jahres kommen, ist meines Erachtens weniger
wichtig als die Sicherheit, dass wir auf dem richtigen
In Bezug auf den Iran müssen wir deutlich machen, Wege sind. Die Sicherheit haben wir nicht, aber wir ha-
dass es neben dem Nukleardossier noch andere wichtige ben ein klares Bild, und wir haben gemeinsam mit unse-
Themen gibt, die in unserem Interesse sind. Deshalb ren Partnern klare Ziele. Wir wollen gemeinsam daran
müssen wir den Iran einbeziehen, und ich bin dankbar, arbeiten, ein besseres Ergebnis zu erzielen, als wir es im
dass Herr Steiner auch in den Iran gefahren ist, um das Augenblick haben.
zu versuchen.
Schönen Dank.
Bei meinem Besuch in Indien musste ich feststellen,
dass die Inder sich beiseitegesetzt fühlen. Die Inder (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8919

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sam mit der afghanischen Armee großflächig eine offen- (C)
Das Wort hat nun Frithjof Schmidt für die Fraktion sive Aufstandsbekämpfung begonnen. Für den Süden
Bündnis 90/Die Grünen. wurde eine entscheidende militärische Schwächung der
Aufständischen angekündigt. Sie ist offenkundig nicht
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gelungen. Die Carnegie-Studie spricht von einem Patt
im Süden. Die International Crisis Group sieht „wenig
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Anzeichen dafür, dass die Militäroperationen den Auf-
Kollegen! Herr Außenminister, Sie haben seit März den
stand geschwächt hätten“. Das Internationale Rote
gemeinsamen Antrag von Grünen und Sozialdemokraten
Kreuz hat diese Woche erklärt, die Lage sei so schlecht
zu einer unabhängigen Evaluierung des Einsatzes in Af-
wie seit 30 Jahren nicht mehr. Deswegen sage ich: Mit
ghanistan mit Ihrer Mehrheit im Haus blockiert und
Durchhalteappellen werden Sie diesen Herausforderun-
schließlich abgelehnt. Damit haben Sie die Tür zu einer
gen nicht gerecht. Auch Talkshowinszenierungen im
gemeinsamen Bewertung zugeschlagen. Das ist nicht im
Kampfgebiet, Herr zu Guttenberg, helfen da nicht wei-
Interesse der Sache. Das ist und bleibt ein großer politi-
ter.
scher Fehler.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Gleichzeitig sind wenig Fortschritte bei den halboffi-
Jetzt haben Sie uns zum ersten Mal einen Fortschritts- ziellen Verhandlungen mit den Aufständischen zu erken-
bericht zum Einsatz vorgelegt. Damit bewerten Sie sich nen. Es ist festzustellen: Die Strategie, die Taliban an
sozusagen selber, und das ist leider auch deutlich zu den Verhandlungstisch zu bomben, geht nicht auf.
merken.
Auch im Norden des Landes, für den wir als Deut-
Erst einmal sei zugestanden: Die Beschreibungen sche zentral verantwortlich sind, hat sich die Sicherheits-
der Lage sind in vielen Punkten realistisch. Der Bericht lage verschlechtert. Nach einem Bericht des Wall Street
skizziert zutreffend die Verschlechterung der Sicher- Journal sind die Taliban in der Region so aktiv wie nie
heitslage, die wirklich gravierend ist, die Probleme beim zuvor. Was noch schlimmer ist: Die Einstellung gegen-
Staatsaufbau, die Korruption und andere Entwicklungs- über Deutschland hat sich in der afghanischen Bevölke-
hemmnisse in Afghanistan. Da ist Ihr Bericht sehr detail- rung im Norden im letzten Jahr dramatisch verschlech-
liert, informativ, und das stellt eine Verbesserung im Ver- tert. Das zeigt die große Umfrage der ARD und anderer
gleich zu vielen früheren Unterrichtungen dar. Das Medien sehr deutlich. Das ist wirklich Anlass zur Sorge;
erkennen wir auch ausdrücklich an. denn ohne das Vertrauen der Bevölkerung – das war ein-
(B) Aber bei Ihren politischen Bewertungen fragt man mal das große politische Kapital der deutschen Präsenz – (D)
sich schon, woher Sie die nach den Beschreibungen ei- werden wir gar nichts erreichen.
gentlich nehmen. Sie müssen einräumen, dass der Ab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wärtstrend 2010 nicht gestoppt wurde. Bei Ihnen heißt
das dann aber beschönigend: Die Voraussetzungen sind Aber es zeigt sich leider: Mit der offensiven Strategie
geschaffen worden, um den Abwärtstrend zu stoppen. der Aufstandsbekämpfung wird die Unterstützung vieler
Afghaninnen und Afghanen offensichtlich weiter ver-
(Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜND- spielt.
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Woher Sie angesichts dieser Fakten Ihre optimisti-
Aus dieser Vermutung leiten Sie dann die Prognose ab, sche Einschätzung nehmen, 2011 stünde die Trend-
dass es aber Mitte 2011 zur Trendwende kommen wird. wende bevor, ist mir schleierhaft. Die Fakten Ihres eige-
Warum? Weil ja der politische Versöhnungsprozess im nen Berichts geben das nicht her. Auch die Einschätzung
nächsten Jahr besser laufen wird. – Das nenne ich: Pfei- unabhängiger Expertinnen und Experten gibt das nicht
fen im dunklen Walde. Mit seriöser Tatsachenbewertung her. Herr Westerwelle, nehmen Sie das bitte endlich zur
hat das wenig zu tun. Kenntnis!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Meine Fraktion hat dem neuen Mandat im Februar
Was völlig fehlt, ist jede politische Selbstkritik bezo- mit großer Mehrheit – auch aus genau solchen Befürch-
gen auf die Schwächen der neuen ISAF-Strategie. Vor tungen heraus – nicht zugestimmt. Sie, Herr Außenminis-
wenigen Tagen haben Experten der amerikanischen ter, haben damals behauptet, mit dem Mandat vollzöge
Denkfabrik Carnegie Endowment und der International sich – ich zitiere aus Ihrer Erklärung – „eine Schwer-
Crisis Group den Afghanistan-Einsatz im letzten Jahr punktverlagerung von dem gegenwärtig eher offensiven
bewertet; das ist der gleiche Zeitraum. Das Ergebnis fällt Vorgehen der QRF zu einer grundsätzlich defensiven
jeweils deutlich schlechter aus als das, was Sie uns hier Ausrichtung auf Ausbildung und Schutz“.
vorgelegt haben. Meine Damen und Herren von der Ko-
alition, das sollte Ihnen wirklich zu denken geben. Es Meine Damen und Herren von der Koalition, das
läuft gegenwärtig nicht gut in Afghanistan. müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen
und mit den Beschreibungen in dem Bericht vergleichen.
Die letzten zwölf Monate waren die blutigsten seit Das haben wir Ihnen damals schon nicht geglaubt. Sie
Beginn des Einsatzes. Die ISAF-Truppen haben gemein- haben das „Partnering“ neu in das Mandat eingeführt,
8920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Frithjof Schmidt


(A) ohne es klar zu definieren. Wir hatten die Befürchtung, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
dass das eine schleichende qualitative Veränderung des Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die CDU/
Mandats bedeutet: die Abkehr von ISAF als Stabilisie- CSU-Fraktion.
rungseinsatz hin zu einer Strategie der offensiven Auf-
standsbekämpfung in der Fläche. Das – mit Verlaub – ist Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
das Gegenteil von einer defensiven Ausrichtung. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein-
mal möchte ich unsere Grüße an all diejenigen nach Af-
Ich muss leider feststellen: Diese Befürchtung hat ghanistan senden, die diese Debatte verfolgen. Ich hatte
sich bewahrheitet. Damit haben Sie den deutschen Ein- Anfang der Woche zusammen mit dem Kollegen Willsch
satz in Afghanistan auf einen falschen Weg gebracht. Es die Gelegenheit, den Minister auf seiner wichtigen Reise
gibt keine ausreichende Klarheit über den militärischen zu begleiten. Wir haben bei der Gelegenheit mit sehr,
Auftrag und die politischen Ziele. Das gilt auch für die sehr vielen Soldaten sprechen können.
weitere Perspektive des Einsatzes: die viel zitierte
„Übergabe in Verantwortung“ und die konkrete Planung (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
des Abzuges der internationalen Truppen. Eine präzise Oh! Auch bei Kerner?)
Planung wäre hier das Gebot der Stunde. Die Ernsthaftigkeit, mit der unsere Debatten verfolgt
Andere Länder gehen diesen Weg. Unser westlicher werden, sollte auch den Stil dieser Debatte hier prägen.
Nachbar, die Niederlande, hat seine Armee bereits weit- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gehend nach Hause geholt. Polen, unser östlicher Nach-
bar, hat erklärt, seine Truppen in den kommenden zwei Ich bin der Meinung, auch nach diesem Besuch und
Jahren abzuziehen. Italien, der viertgrößte Truppenstel- nach vielen Gesprächen mit Soldaten vor Ort, dass sie
ler, will von 2011 bis 2014 den Abzug vollziehen. Und allen Respekt dafür verdient haben, dass sie mit Mut und
Schweden, mit dem wir gemeinsam im Norden Afgha- Tapferkeit in unserem Auftrag bzw. aufgrund unserer
nistans engagiert sind, hat parteiübergreifend beschlos- Mandatierung ihren Dienst für unser Land und für die
sen, zwischen 2012 und 2014 stufenweise abzuziehen. Sicherheit unseres Landes leisten. Deshalb, liebe Solda-
tinnen und Soldaten, herzlichen Dank für Ihren Mut, Ih-
Und was ist jetzt mit der deutschen Bundeswehr? Das ren großen Einsatz und für die großen Opfer, die Sie ge-
allgemeine Beschwören einer Abzugsperspektive ist rade in dieser besonderen Zeit des Jahres, nämlich der
noch kein Plan. Wie andere europäische Regierungen Advents- und Weihnachtszeit, bringen! Herzlichen
muss auch die Bundesregierung einen vollständigen und Dank!
(B) ehrlichen Abzugsplan vorlegen – mit klaren Zielen und (D)
konkreten Zwischenschritten. Jetzt vor der anstehenden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Mandatsverlängerung im Bundestag wäre der Zeitpunkt Ich habe Soldaten getroffen, die sich gerade jetzt vor
dafür. Ich sage – auch vor dem Hintergrund Ihrer eige- Weihnachten große Sorgen darüber machen, was ihre
nen Bewertungen –: Länger als bis 2014 sollten die Ver- Angehörigen fühlen, was die Freundin bzw. der Freund
bände der Bundeswehr nicht in Afghanistan bleiben. denkt, was ihr Lebenspartner oder ihre Lebenspartnerin
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- fühlt und was ihre Eltern beschwert. Ich habe Soldaten
SES 90/DIE GRÜNEN) getroffen, die versuchen, das ein Stück weit zu überbrü-
cken. Ich begrüße deshalb jede Initiative, insbesondere
Drei Jahre sind ein verantwortbarer Zeitraum für einen auch Initiativen von Soldaten selbst, die sich dafür enga-
koordinierten Abzug. gieren, diesen Rückhalt in der Bevölkerung, den wir die
ganze Zeit beschwören, weiter zu verstärken. Exempla-
Wenn von der Bundesregierung erwogen wird, der af- risch nenne ich Radio Andernach und empfehle allen
ghanischen Regierung über diesen Zeitpunkt hinaus eine Kolleginnen und Kollegen, sich einmal intensiv mit der
begrenzte Anzahl von Militärausbildern anzubieten, Website zu beschäftigen. Sie werden dann sehen, welche
dann sollten Sie das offen sagen und klare Konditionen Brücken von Afghanistan bis zu uns hier möglich sind.
nennen, aber das nicht einfach so in den Raum stellen. Über persönliche Begegnungen hinaus kann hier dauer-
Weichen Sie an diesem Punkt nicht weiter aus! Betrei- haft der Kontakt gehalten werden.
ben Sie keinen Etikettenschwindel – das sage ich noch
dazu – mit den Worten von der defensiven Ausrichtung Den Kontakt zur Truppe zu halten, ist auch Aufgabe
bei Ausbildung durch Partnering – am Ende nach dem des Parlaments; das ist auch Aufgabe der Regierung.
Motto: Wir ziehen die Kampftruppen ab, aber die glei- Das haben Minister zu Guttenberg und Minister
chen Soldaten bleiben als Ausbildungseinheiten da. Sa- Westerwelle auf vielfältige Weise immer wieder getan.
gen Sie konkret, was Sie in den nächsten drei Jahren ma- Auch unsere hier getroffenen politischen Entscheidun-
chen wollen! Sagen Sie konkret, was Sache ist! Das gen werden dadurch legitimiert, dass man in ständigem
erwarten wir spätestens dann von Ihnen, wenn Sie uns in Kontakt mit den Soldatinnen und Soldaten ist. Das be-
einem Monat das neue Mandat vorlegen. grüße ich außerordentlich.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
sowie bei Abgeordneten der SPD) Kollege Ströbele?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8921

(A) Philipp Mißfelder (CDU/CSU): land befinden und wie sehr der Rückhalt in der Bevölke- (C)
Das hat schon Ritualcharakter. Ich nehme die Frage rung für dieses Mandat bröckelt.
trotzdem an. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: 70 Prozent!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Selbst wenn ein großer Teil der Bevölkerung in unserem
Dann gibt es auch noch vom Kollegen Arnold den Land gegen diesen Einsatz ist, rufe ich den Soldaten
Wunsch nach einer Zwischenfrage. trotzdem zu, dass das nicht bedeutet, dass die Menschen
in unserem Land gegen unsere Soldaten sind. Das ist
Philipp Mißfelder (CDU/CSU): nicht so.
Können wir gerne machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Man kann gegen die Politik der Regierung in diesem
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Land sein. Es sollte aber nicht der Eindruck erweckt
Bitte schön, Herr Ströbele. werden, dass sich diese Gegnerschaft auch auf die Bun-
deswehr bezieht. Ich fahre auch nicht nach Afghanistan,
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- um die Soldaten zu belehren oder ihnen gar so etwas na-
NEN): hezulegen, wie Sie es in Ihrer Frage gerade gemacht ha-
Danke schön, Herr Präsident und Herr Kollege. – ben. Insofern ist, wie ich denke, Ihre Frage beantwortet,
Herr Kollege, haben Sie den Soldaten bei Ihrem Besuch und Sie haben die Möglichkeit gehabt, hier Stellung zu
in Afghanistan auch gesagt, dass über 70 Prozent der beziehen.
deutschen Bevölkerung den Einsatz in Afghanistan nicht Der Kollege Arnold hatte noch eine Frage, Herr Präsi-
richtig finden und den Abzug der deutschen Soldaten aus dent. Ihm möchte ich auch die Möglichkeit dazu geben.
Afghanistan befürworten? Haben Sie den deutschen Sol-
daten in Afghanistan auch gesagt, dass ihr derzeitiger
Außenminister die deutsche Öffentlichkeit getäuscht hat, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
indem er durch Trickserei den Eindruck zu erwecken Bitte schön, Kollege Arnold.
versucht hat, dass im Jahr 2011 mit dem Abzug der deut-
schen Soldaten aus Afghanistan begonnen werde, wäh- Rainer Arnold (SPD):
rend im Bericht der Bundesregierung, den Sie hier ver- Herr Kollege Mißfelder, wir haben gerade zum ersten
teidigen, steht, dass nicht schon für das Jahr 2011, Mal gehört, dass zwei Kollegen aus der CDU/CSU den
(B) sondern erst für das Jahr 2012 eine Perspektive für den Minister auf dieser Reise begleitet haben. Meine Frage (D)
Beginn des Abzugs der Soldaten aus Afghanistan entwi- ist: Ist Ihnen bekannt, ob der Minister auch Abgeordnete
ckelt werden soll? Haben Sie den deutschen Soldaten in von anderen Fraktionen eingeladen hat, wie es gerade
Afghanistan auch gesagt, dass sie als deutsche Soldaten bei den Weihnachtsreisen der Minister nach meiner
jetzt bereits längere Zeit in Afghanistan im Kriegseinsatz Beobachtung in den vergangenen zwölf Jahren der
sind, als der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammen Brauch war? Oder sind Sie inzwischen der Auffassung,
gedauert haben, und dass sie nach den Plänen dieser dass Parlamentsarmee bedeutet, dass es sich um eine
Bundesregierung perspektivisch gesehen noch mindes- Familienarmee bzw. eine CDU-Armee handelt?
tens vier bis fünf Jahre dort bleiben müssen?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg van
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Essen [FDP]: Das ist unterirdisch!)
Haben Sie schon einmal mit einem Soldaten
gesprochen?) Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Herr Arnold, dazu ist mir nichts bekannt, und ich
Philipp Mißfelder (CDU/CSU): kann deshalb nichts dazu sagen. Ich weiß nur, dass Sie
Herr Ströbele, zunächst einmal eine Bemerkung zu an Reisen teilgenommen haben, zu denen ich nicht ein-
Ihrer erneuten Zwischenfrage an mich. Es hat ja wirklich geladen war. Das hat aus meiner Sicht zum Teil damit zu
schon bald ritualhaften Charakter, dass Sie sich zu Wort tun, dass es durchaus Einladungen an verschiedene
melden, wenn ich am Rednerpult stehe. Ich nehme Ihre Kreise geben kann. Mal ist der Teilnehmerkreis auf den
Zwischenfragen trotzdem jederzeit gerne an, um Ihnen Auswärtigen Ausschuss, mal auf den Verteidigungsaus-
Ihren Wunsch, hier im Parlament reden zu können, zu schuss und mal auf den Entwicklungshilfeausschuss be-
erfüllen. Ich bitte aber Ihre Fraktionsführung inständig: schränkt. Es gibt auch Fälle, in denen Persönlichkeiten
Bitte setzen Sie Herrn Ströbele einfach einmal auf die aus der Verwaltung wie beispielsweise Staatssekretäre
Rednerliste, damit er seine Statements hier nicht immer dabei sind. Nach meinem Wissensstand kann ich Ihre
in Zwischenfragen verpacken muss. Frage nur so beantworten, wie ich es gerade getan habe.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte jetzt noch auf andere Punkte näher einge-
hen. Selbstverständlich handelt es sich bei diesem Man-
Herr Ströbele, ich brauche den Soldaten nicht zu sa- dat nicht allein um ein Mandat der christlich-liberalen
gen, wie lange der Einsatz dauert, denn sie selbst wissen Koalition. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, diesen
es am besten. Ich brauche den Soldaten auch nicht zu sa- Einsatz verantwortungsvoll fortzuführen. Ich möchte
gen, in welch schwieriger Situation wir uns in Deutsch- deshalb auch auf das eingehen, was Herr Erler gesagt
8922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Philipp Mißfelder
(A) hat. Ich bin froh, dass Sie hier Ihre Anliegen vorgetragen zu tun? Deshalb muss man ganz genau hinschauen, wie (C)
haben, und nehme das, was Sie gesagt haben, ernst. Ich sich die Abzugsperspektive gestalten soll.
möchte dazu beitragen, dass in den kommenden Wochen
Deshalb tun wir uns auch so schwer, einfach mir
die Gelegenheit genutzt wird, eine breite Unterstützung
nichts, dir nichts ein Datum zu nennen, meinetwegen an
im Hause für dieses Mandat zu bekommen.
Landtagswahlen oder an anderen politischen Überlegun-
Auch das, was Herr Ströbele vorhin zum Thema Ab- gen ausgerichtet. Wir machen es uns nicht leicht. Wir re-
zugsperspektive gesagt hat, ist nicht ganz falsch. Aber den Klartext mit dem Fortschrittsbericht. Wir überneh-
diese Verantwortung tragen wir gemeinsam. Natürlich men die Verantwortung, selbst wenn ein großer Teil in
war es ein Fehler, diesen Einsatz in uneingeschränkter unserer Bevölkerung zunehmend Probleme bei der Man-
Solidarität zu beginnen, ohne festzulegen, wie und nach datierung sieht. Wir stehen auch zu dieser Verantwor-
welchen Kriterien man sich aus dieser schwierigen Mis- tung, weil wir der Meinung sind, dass man Afghanistan
sion wieder verabschieden will. Gerade das abgelaufene nicht kopflos verlassen darf, sondern nach unseren Kri-
Jahr zeigt, wie schwierig es ist, entsprechende Kriterien terien, die ich gerade klar genannt habe, einen Weg aus
zu entwickeln. Ich mache das nicht nur an Schröders Äu- dieser Mission heraus finden muss.
ßerung von der uneingeschränkten Solidarität fest. Ich (Beifall bei der CDU/CSU)
mache das insgesamt an unserem Verhalten fest. Wir tra-
gen für dieses Mandat gemeinsam die Verantwortung. Selbst Kritiker des Einsatzes, zum Beispiel wie der
Autor Ahmed Rashid, geben uns doch deutliche Hin-
Der Fortschrittsbericht zeigt eindeutig: Wir bewegen weise, wie man mit dem Wiederaufbau in Afghanistan
uns in einem Spannungsbogen. Einerseits müssen wir umgehen soll. Unser zentraler Punkt ist ja nicht das mili-
die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung und auch die tärische Engagement. Unser zentraler Punkt – das war
der Entwicklungshelfer und all derjenigen, die sich für der Strategiewechsel, den Minister Westerwelle dan-
den Zivilaufbau in Afghanistan engagieren, sehen. An- kenswerterweise mit eingeleitet hat – ist der Wiederauf-
dererseits müssen wir – das ist ein schwieriges Unterfan- bau in Afghanistan. Ahmed Rashid sagt, wenn dieser
gen – die Übergabe in Verantwortung nach unseren Wiederaufbau scheitern sollte – Voraussetzung für den
selbstgesetzten Maßstäben, die ich für richtig halte, um- Wiederaufbau ist nun einmal Sicherheit –, dann haben
setzen. Unsere selbstgesetzten Maßstäbe sind an Huma- die Extremisten in Afghanistan gesiegt. Das wollen wir
nität, an Menschenrechten und insbesondere an den nicht zulassen. Deshalb wollen wir eine Übergabe in
Rechten der Frauen in Afghanistan ausgerichtet. Der Verantwortung. Der Fortschrittsbericht gibt uns darüber
Minister hat es vorhin sehr deutlich gesagt: Was wir an Klarheit und gibt die Richtlinien vor, wie wir sie in Zu-
Erfolgen im Hinblick auf die Verbesserung der Situation kunft gestalten können.
(B) der Frauen in Afghanistan erreicht haben, wollen wir (D)
Herzlichen Dank.
nicht leichtfertig aufgeben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir bewegen uns in diesem Spannungsbogen zwi-
schen Sicherheitsinteressen in Bezug auf den zukünfti-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gen zivilen Aufbau und den roten Linien, bei denen wir
Das Wort hat nun Johannes Pflug für die SPD-Frak-
uns im Übrigen mit vielen Kolleginnen und Kollegen
tion.
aus der Fraktion der Grünen sehr einig sind. Herr
Schmidt, ich nehme deshalb das, was Sie gesagt haben, (Beifall bei der SPD)
gerne auf. Wir müssen uns mit der Frage auseinanderset-
zen, wie wir es schaffen können, mehr Verantwortung in Johannes Pflug (SPD):
afghanische Hände zu legen. Das bedeutet, dass wir die Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Armeeausbildung und die Polizeiausbildung voran- Herren! Der von Herrn Minister Westerwelle heute vor-
treiben müssen. gestellte Fortschrittsbericht zu Afghanistan ist durchaus
Der Fortschrittsbericht zeigt in ganz großer Klarheit: kritisch und wenig schönfärberisch. Wir erwarten aller-
Da gibt es sehr viele Fragezeichen. Wenn wir an die dings immer noch, dass die Bundesregierung den Vor-
staatlichen Institutionen in Afghanistan denken – ich schlag von SPD und Grünen einer unabhängigen Eva-
meine nicht den einzelnen Soldaten, sondern die dorti- luation des internationalen Engagements in Afghanistan
gen Verantwortungsträger –, dann müssen wir sehen, ebenfalls aufgreift und bei zukünftigen Berichten ent-
dass wir es mit sehr schwierigen Figuren zu tun haben. sprechend umsetzt.
Wir können es uns aber nicht aussuchen, mit wem wir es Herr Minister, neben Erfolgen und Misserfolgen fin-
dort zu tun haben. Natürlich trifft man den einen oder det man im Bericht der Bundesregierung eine Menge
anderen, von dem man meinen könnte, dass er vielleicht Hoffnung, die weder aufgrund der Ergebnisse des Fort-
ein besserer Präsident Afghanistans sei. Ein Vertreter der schrittsberichts noch aufgrund der Aussagen unabhängi-
Linken hat es vorhin gesagt. Es stellen sich aber fol- ger Experten angebracht ist. Ob zum Beispiel eine Ver-
gende Fragen: Haben diese Personen die Durchschlags- besserung der Sicherheitslage wirklich aufgrund der
kraft, ein Land zu führen? Gibt es in Afghanistan über- neuen Counterinsurgency-Strategie gegeben ist, wird
haupt die Perspektive einer starken Zentralregierung? sich erst im Frühjahr, nämlich dann, wenn viele Auf-
Wie wird Afghanistan in 10 bis 15 Jahren aussehen, und ständische wieder zu den Waffen greifen und aus ihren
mit welchen Leuten hat man es dann in welcher Region pakistanischen Rückzugsräumen nach Afghanistan zu-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8923
Johannes Pflug
(A) rückkehren, zeigen. Die anhaltende massive Verschlech- Koordination des internationalen Engagements, insbe- (C)
terung der Sicherheitslage in diesem Jahr gibt zumindest sondere mit der Führungsmacht USA.
wenig Anlass zu Optimismus.
Herr Minister, konnte die jetzige Bundesregierung
Fakt ist außerdem, dass der Bericht selbst einräumt, beispielsweise in Erfahrung bringen, wann, wo und mit
dass keine der bisherigen Verstärkungen der Militärprä- welchen Gruppenkontingenten die USA ihren angekün-
senz eine Verbesserung der Sicherheitslage bewirkt hat. digten Abzug beginnen wollen und welche Aufgabe sie
Und Fakt ist auch, dass der Bericht selbst einräumt, dass dabei unserer Bundeswehr zugedacht haben? Hat die
letztlich gegenwärtig nur knapp die Hälfte der afghani- Bundesregierung zur Kenntnis genommen, dass sich der
schen Armeeverbände überhaupt in der Lage ist, ISAF- US-Truppenabzug im Zweifelsfall an amerikanischen
Operationen zu unterstützen. Wahlterminen und weniger an der Situation in Afghanis-
tan orientiert? Muss man davon ausgehen, dass sich die
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE amerikanischen Truppen im deutschen Verantwortungs-
GRÜNEN]: Ganz genau!) bereich des Regionalkommandos Nord auf Frühjahrsof-
Bei der afghanischen Polizei, deren Ausbildung ein fensiven vorbereiten? Wenn dem so ist, wie gedenkt sich
Schwerpunkt des deutschen Engagements sein soll, stellt die Bundesregierung bei solchen Offensiven im nächsten
sich die Situation dabei noch weit schlechter dar. Es wird Jahr zu verhalten, insbesondere wenn die USA deutsche
vor diesem Hintergrund nicht ersichtlich, woher die Unterstützung anfordern?
Bundesregierung ihren Optimismus für eine positive Auf all diese Fragen ist die Bundesregierung bisher
Entwicklung im Jahr 2011 nimmt. eine Antwort schuldig geblieben. Es waren in der Ver-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gangenheit keine Initiativen erkennbar, die maßgeblich
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zur Verbesserung der Situation beigetragen hätten. Herr
Minister Westerwelle, da Dauer, Umfang und Art des
Es wird erst recht nicht ersichtlich, auf welche Fehler, amerikanischen Engagements zweifellos von direkter
Versäumnisse und Ursachen in der Vergangenheit die Bedeutung für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanis-
schlechte gegenwärtige Sicherheitslage zurückzuführen tan sind, gilt nach wie vor: Tragen Sie endlich zur Klä-
ist und ob und wie diese in Zukunft vermieden werden rung der genannten offenen Fragen bei!
können.
Nicht nur die mangelnde Koordination mit unseren
Besonders bedauerlich ist daher, dass mit dem Fort- Verbündeten in Afghanistan selbst bereitet uns Sorgen:
schrittsbericht eine Chance auf kritische Prüfung der bis- Aktuelle Geheimdienstberichte der Vereinigten Staaten
herigen Politik und Maßnahmen verschenkt wurde. So dokumentieren zum wiederholten Mal die besondere Be-
(B) ist es auch nicht verwunderlich, dass die Bundesregie- deutung, die Pakistan bei der Stabilisierung – oder sollte (D)
rung, geschlagen mit ihrem Tunnelblick unter dem ich besser Destabilisierung sagen? – Afghanistans zu-
Motto „Alles wird gut in Afghanistan“, wesentliche kommt. Solange die afghanischen Aufständischen das
strukturelle Schwierigkeiten des Engagements in Af- afghanisch-pakistanische Grenzland als Rückzugsraum
ghanistan bis heute nicht zur Kenntnis nimmt. nutzen können, solange Pakistan Afghanistan als Spiel-
ball und strategisches Hinterland in seinem Verhältnis zu
Diese strukturellen Mängel reichen zurück bis in das Indien sieht und die pakistanische Regierung an einem
Jahr 2001, als sich die Vereinigten Staaten unter maß- stabilen Afghanistan lediglich unter einer propakistani-
geblicher Federführung ihres damaligen Verteidigungs- schen Regierung interessiert ist, wird die Stabilisierung
ministers Donald Rumsfeld dazu entschlossen, die Tali- Afghanistans erheblich erschwert.
ban und al-Qaida im Wesentlichen aus der Luft zu
bekämpfen und die Kämpfe am Boden den ehemaligen Auch der Iran, China, Indien und Russland besitzen
Mudschaheddin und Kriegsherren der sogenannten erhebliches Potenzial, das es für den Wiederaufbaupro-
Nordallianz zu überlassen. Erst als bekannt wurde, dass zess in Afghanistan nutzbar zu machen gilt. Wir fordern
diese Kriegsherren gegen Bezahlung Führer der Taliban die Bundesregierung daher auf, die Wahl Deutschlands
und al-Qaida schützten und in Tora Bora zur Flucht ver- in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht als
halfen, während ihre Männer Gräueltaten an der pasch- bloßes Prestigeprojekt zu sehen, sondern als Grundlage,
tunischen Bevölkerung verübten, entschlossen sich die Initiativen für regionale Lösungsansätze für Afghanistan
USA, selbst stärker aktiv zu werden. Allerdings wurde anzustoßen.
schnell deutlich, dass die amerikanische Regierung kei-
(Beifall bei der SPD)
nerlei tragfähiges Konzept für den Staatsaufbau in Af-
ghanistan besaß und diesen dazu auch noch über den Die Bundesregierung verweist in ihrem Fortschritts-
Krieg im Irak in der Folgezeit zu lange erheblich ver- bericht auf die Binsenweisheit, militärisch sei der Kon-
nachlässigte. Dies hatte zur Folge, dass jede der anderen flikt in Afghanistan nicht zu gewinnen. Die SPD-Frak-
beteiligten Nationen ihre eigene Afghanistan-Politik ver- tion war sich dessen stets bewusst; sie hatte dies auch nie
folgte und dass bis zur Afghanistan-Konferenz in Lon- vor. Wir fordern die Bundesregierung nachdrücklich auf,
don Anfang des Jahres wenig unternommen wurde, um die außenpolitische Initiative zu übernehmen, die Ko-
die verschiedenen Engagements zu koordinieren. ordination mit unseren Verbündeten zu verbessern und
auf eine regionale Lösung des Afghanistan-Konfliktes
Nun hat nicht die Bundesregierung allein diese frühe-
hinzuwirken.
ren Verfehlungen zu verantworten. Allerdings krankt der
Einsatz in Afghanistan noch immer an der mangelhaften (Beifall bei der SPD)
8924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Johannes Pflug
(A) Außerdem erwarten wir, dass der vorgestellte Fort- funktionsfähige Armee und Polizei aufzubauen, die auf (C)
schrittsbericht in Zukunft durch kritische Quartalseva- den afghanischen Staat eingeschworen ist, ist aber etwas
luationen ergänzt wird. anderes. Ich glaube, dass die internationale Gemein-
schaft in diesem Zusammenhang eine ganz entschei-
Schönen Dank. dende Rolle spielt, und zwar nicht nur bei der Ausbil-
(Beifall bei der SPD) dung der Streitkräfte, wozu wir uns meines Erachtens
langfristig verpflichten müssen. Wir müssen die afghani-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
schen Sicherheitskräfte vielmehr in die Lage versetzen,
in Afghanistan in Zukunft das Gewaltmonopol auszu-
Das Wort hat nun Elke Hoff für die FDP-Fraktion.
üben. Es kann nicht sein, dass einzelne Warlords, dass
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten einzelne, selbsternannte Chefs in den Regionen das Ge-
der CDU/CSU) waltmonopol, das eigentlich der Staat haben sollte, an
sich reißen. Deswegen sollten wir die afghanische Re-
Elke Hoff (FDP): gierung, aber auch die afghanischen Streitkräfte bei die-
ser wichtigen Aufgabe unterstützen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-
nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
dem von der Bundesregierung vorgelegten „Fortschritts- der CDU/CSU)
bericht Afghanistan“ wurde zum ersten Mal nicht nur
uns Kolleginnen und Kollegen, sondern auch den Bürge- Dazu gehört natürlich auch, lieber Kollege Schmidt,
rinnen und Bürgern eine Grundlage gegeben, um den dass die afghanische Armee in die Lage versetzt wird, zu
Afghanistan-Einsatz nachzuvollziehen. Das ist in den kämpfen. Dazu gehört, dass sie dafür ausgebildet ist.
letzten Jahren häufig viel zu kurz gekommen. Unsere Dazu gehört aber auch, dass sie entsprechend finanziert
Bürgerinnen und Bürger haben jetzt zum ersten Mal die ist. Die internationale Gemeinschaft hat Verantwortung
Möglichkeit, die Maßnahmen, die die Bundesregierung übernommen und Unsummen von Geld zur Verfügung
ergreift, nachzuvollziehen und vor allen Dingen die wei- gestellt. Ich möchte auch die Bundeswehr mit allem
teren Schritte zu begleiten; denn bei all der berechtigten Nachdruck bei dieser Aufgabe unterstützen. Unsere Sol-
Kritik in der Vergangenheit: Jetzt müssen wir den Blick datinnen und Soldaten verdienen für das, was sie im
nach vorne richten. Ich glaube, dass es der Bundesregie- Rahmen des Partnerings, das schon jetzt stattfindet, auch
rung hier sehr gut gelungen ist, diesen Blick nach vorne im Bereich unserer OMLTs, allen Dank und alle Aner-
zu ermöglichen, sodass wir nachvollziehen können, wel- kennung. Sie sind diejenigen, die das Vertrauen der af-
che die wesentlichen Schritte beim weiteren Engage- ghanischen Sicherheitskräfte gewinnen müssen. Unsere
Soldatinnen und Soldaten sind in diesem Zusammen-
(B) ment in Afghanistan sein werden. (D)
hang auch Botschafter unseres Landes. Wenn es keine
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Nähe zwischen der deutschen Bundeswehr und den af-
der CDU/CSU) ghanischen Streitkräften gibt, entsteht auch kein Ver-
trauen. Dabei haben wir mit Recht auch Erwartungen an
Meine Damen und Herren, Herr Minister, ich möchte
die Afghanen. Ich habe uneingeschränktes Vertrauen,
dem Sonderbeauftragten der Bundesregierung für Af-
dass wir auf dem richtigen Weg sind und die richtige
ghanistan vor dem Hintergrund der Kürze der Zeit, die
Strategie umsetzen.
ihm zur Verfügung stand, für seinen Einsatz danken.
Herr Steiner hat sich innerhalb kürzester Zeit hervorra- Wir müssen uns ein Weiteres vor Augen halten: Eine
gend in diese komplexe Materie eingearbeitet. Es ist Counterinsurgency, eine Aufstandsbekämpfung, ist eine
ihm, der Bundesregierung und uns allen gelungen, die der schwierigsten militärisch-zivilen Missionen, die man
bedeutsame Rolle unseres Landes in der internationalen sich überhaupt denken kann. Ohne die Unterstützung
Gemeinschaft darzustellen. Herr Minister, Sie haben und die Geduld der Parlamente – ich weiß, dass es
eine Konferenz in Bonn in Aussicht gestellt. Das zeigt, schwer ist, immer wieder erklären zu müssen, warum es
dass Deutschland, verkörpert durch die deutsche Diplo- keinen riesengroßen Fortschritt gibt – ist sie nicht mög-
matie und insbesondere durch die Bundeswehr, gerade in lich. Wir haben uns verpflichtet, und die NATO hat sich
dieser Frage hohes Ansehen in der Welt genießt. An die- einstimmig auf dieses Ziel festgelegt. Deshalb ist es mei-
ser Stelle ein herzliches Dankeschön. nes Erachtens unsere Aufgabe, unsere Streitkräfte, un-
sere Diplomaten und unsere zivilen Aufbauhelfer mit der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
höchstmöglichen Rückendeckung für diese schwierige
der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜND-
Aufgabe zu versehen.
NIS 90/DIE GRÜNEN])
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Herr Schmidt, Sie haben eben den Begriff des Part-
der CDU/CSU)
nerings kritisch beleuchtet. Ich glaube, dass es keine Al-
ternative dazu gibt, die afghanischen Sicherheitskräfte Herr Minister, ich kann Sie nur unterstützen und er-
ernsthaft in die Lage zu versetzen, dass sie in einem der muntern, auf diesem Weg weiterzugehen. Ich hoffe, dass
schwierigsten Konflikte mit einer Aufstandsbekämpfung die Konferenz in Bonn ein Schritt auf dem Weg zu ei-
strategisch umgehen können. Vor allen Dingen muss die nem langfristigen, kontinuierlichen und politischen Ver-
Identität der afghanischen Nationalarmee hergestellt söhnungsprozess ist. Wir können nicht den dritten
werden. Bei Auseinandersetzungen vor Ort und kleinen Schritt vor dem ersten machen. Ich glaube, dass Sie hier-
Scharmützeln zu bestehen ist das eine; eine wirklich mit das richtige Signal setzen und einen Schritt in die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8925
Elke Hoff
(A) richtige Richtung gehen. Ich hoffe, dass es gelingen Herr Gabriel führt das Wort „Verantwortung“ ver- (C)
wird, alle Akteure an den Tisch zu bringen. Es ist ein be- dächtig oft im Mund. Allein das Wort im Mund zu füh-
sonderes Verdienst Ihres Hauses, dass es gelungen ist, ren, reicht aber nicht. Man muss der Verantwortung auch
auch den Iran in die Afghanistan-Kontaktgruppe ein- gerecht werden, der Verantwortung gegenüber dem af-
zubinden. Es gibt eine Menge gemeinsamer Interessen. ghanischen Volk, das nicht wieder unter die Terrorherr-
Ohne die Nachbarn Afghanistans – das haben viele Kol- schaft der Taliban geraten will, der Verantwortung ge-
legen heute zu Recht deutlich gemacht – können wir als genüber den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes,
Bundesrepublik Deutschland diese Aufgabe in dieser die nicht wollen, dass Terror aus Afghanistan erneut in
Region mit Sicherheit nicht stemmen. Lassen Sie uns in unsere Länder gebracht wird, und insbesondere der Ver-
der internationalen Gemeinschaft nach dem Motto ver- antwortung gegenüber unseren Soldatinnen und Solda-
fahren: Wir sind zusammen hineingegangen, wir sollten ten, die täglich ihr Leben für unsere Sicherheit riskieren.
auch zusammen hinausgehen. An dieser Stelle sage ich unseren Soldatinnen und Solda-
ten Dank für ihren Einsatz. Sie alle machen sich um un-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ser Land und um unser aller Sicherheit verdient.
GRÜNEN]: Aber schnell!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Ganz herzlichen Dank. neten der FDP)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich weiß, dass Politik kein Wunschkonzert ist, aber
der CDU/CSU) ich habe – insbesondere mit Blick auf Herrn Gabriel –
eine Bitte: Versuchen Sie wenigstens einmal, Fähigkeit
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zur Verantwortung über ausgeprägten Hang zum Popu-
Das Wort hat nun Karl Lamers für die CDU/CSU- lismus zu stellen. Das wäre ein Fortschritt.
Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Michael Groschek [SPD]: Sagen Sie das ein-
neten der FDP) mal Ihrem Verteidigungsminister!)
Ich danke Ihnen, Herr Minister Westerwelle, und insbe-
Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): sondere unserem Verteidigungsminister zu Guttenberg
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- für ihr überzeugendes Engagement für unsere Soldaten
ren! Das Jahr 2010 kann durchaus als Wendepunkt im auch und gerade im Einsatzgebiet. Unsere Soldaten
Afghanistan-Einsatz betrachtet werden. brauchen Rückhalt und Unterstützung. Auf peinliche,
unsägliche Kommentare können sie gut verzichten.
(B) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (D)
GRÜNEN]: Es wird immer schlimmer!) (Beifall bei der CDU/CSU)
Durch den vollzogenen Strategiewechsel, durch neue Der Einsatz der Bundeswehr war und ist im dringen-
militärische und zivile Anstrengungen und durch die den Interesse der Sicherheit unseres Landes.
verstärkte Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte ist (Zuruf von der SPD: Ohne Kerner geht es
es uns gelungen, die Sicherheitslage in Afghanistan zu nicht!)
verbessern.
– Durch Geschrei wird das, was Sie machen, nicht bes-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ser. – Vergessen wir nicht den 11. September 2001 und
GRÜNEN]: Aha!) dass die Brutstätten dieses Terrors in Afghanistan waren.
Genau das ist die wichtigste Voraussetzung dafür, unser Vergessen wir nicht die nachfolgenden verheerenden
Ziel zu erreichen: eine Übergabe in Verantwortung. Anschläge überall in der Welt. Ein Abzug zum falschen
Diese Übergabe kann stattfinden, wenn die Afghanen in Zeitpunkt würde alles, was wir bisher erreicht haben, zu-
der Lage sind, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen. Der nichtemachen. Deutschland hat international Verantwor-
Zeitpunkt dafür muss sich an konkreten Fortschritten vor tung übernommen. Wir haben vor, ein verlässlicher Part-
Ort, an klaren Fakten und Kriterien bemessen und nicht ner im Bündnis zu bleiben. Wir stehen zu unserer
an einem Datum, das zum Beispiel Herr Gabriel ein Jahr Verantwortung.
vorher wahllos festlegt. So geht es nicht. Herr Erler, Herr Die NATO hat auf dem Gipfel in Lissabon im No-
Steinmeier, Sie wissen das. Wer ankündigt, zu einem ex- vember dieses Jahres eine neue Strategie für Afghanistan
akt festgelegten Zeitpunkt aus Afghanistan zu gehen, beschlossen. Diese gilt auch für uns, für Deutschland.
gleich in welchem Zustand sich das Land befindet, Unsere Verbündeten zählen auf uns, so wie wir auf sie
(Michael Groschek [SPD]: Fragen Sie einmal zählen. Bis Ende 2014 soll die schrittweise Übergabe der
Obama! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sicherheitsverantwortung an afghanische Sicherheits-
Ist das jetzt Kritik an den USA? Antiamerika- kräfte erfolgen. Unser Ziel ist – der Außenminister hat
nismus ist das! Unglaublich!) dies in seiner Rede genannt –, 2011 auch im deutschen
Verantwortungsbereich im Norden den Übergabeprozess
ermutigt doch die Taliban geradezu zum Durchhalten, einzuleiten, wenn die Sicherheitslage es zulässt, und ab
der gibt ihnen die Möglichkeit, sich zurückzulehnen, uns dem genannten Zeitpunkt nicht mehr benötigte Fähigkei-
in Sicherheit zu wiegen und abzuwarten, bis sie das ten zu reduzieren. Das bedeutet keinen vollständigen
Land wieder unter ihre Kontrolle bringen. Rückzug aus Afghanistan. Wir werden in Afghanistan
8926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)


(A) auch nach dem Abzug der Kampftruppen eine langfris- ein Rechtsberatungsprojekt für afghanische Frauen zu- (C)
tige Aufgabe haben. Wir werden die Menschen in Af- gedreht hat, das die Kölner Organisation Medica Mon-
ghanistan nicht im Stich lassen. Es liegt letztlich an uns, diale in Herat, im Westen Afghanistans, seit vielen Jah-
die Lage so zu verändern, dass ein verantwortlicher ren sehr erfolgreich betreibt.
Rückzug in überschaubarer Zeit möglich wird.
(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Hört!
Mit dem Fortschrittsbericht wird erstmals aufgezeigt, Hört!)
wo wir in Afghanistan stehen. Der Bericht zeigt deutlich
Nur weil Herat nicht im Verantwortungsbereich der Bun-
die gemachten Fortschritte, aber auch die Defizite. Viel
deswehr liegt, haben Sie den Geldhahn für dieses Projekt
ist zwischenzeitlich erreicht worden – diese Fortschritte
zugedreht. So gefährden Sie die gute und erfolgreiche
dürfen wir nicht gefährden –: Aufbau staatlicher Institu-
Arbeit einer deutschen Hilfsorganisation in Afghanistan.
tionen, Ausbau der Infrastruktur, des Schulwesens, Fort-
schritte auf dem Gesundheitssektor. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Aber es bleibt noch viel zu tun: Bekämpfung des Dro-
genanbaus, gute Regierungsführung, Bekämpfung der Herr Außenminister, wenn diese Hilfsorganisation
Korruption nicht einen neuen Geldgeber in Form einer amerikani-
schen Stiftung gefunden hätte, dann wäre dieses Projekt
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
jetzt am Ende. Mit einer solchen Art von Politik, Herr
GRÜNEN]: Das haben Sie letztes Jahr auch
Außenminister, unterstützt man Afghanistan und die dort
schon gesagt!)
lebenden Menschen nicht, sondern man beschädigt die
und insbesondere – das ist für mich wichtig – die Gewin- Menschen und die Helfer, die sich in Afghanistan tagtäg-
nung der heute in Afghanistan lebenden Jugend für ein lich um eine bessere Zukunft bemühen. Das ist die bit-
besseres Afghanistan. tere Kehrseite Ihrer Afghanistan-Politik.
Wir müssen die Afghanistan-Mission zum Erfolg füh- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ren, im Rahmen von ISAF, im Verbund der NATO. Ich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
meine, wir sind auf dem richtigen Weg. In all dem ist
aber auch und gerade Präsident Karzai gefordert, seinen Wenn der Aufbau in Afghanistan gelingen soll, dann
Beitrag dazu zu leisten, dass diese Mission erfolgreich sind wir gerade auf die zum Teil jahrzehntelangen Erfah-
durchgeführt wird. Meine Damen und Herren, von Af- rungen der Hilfsorganisationen mit den lokalen Gege-
ghanistan darf nie wieder Terror ausgehen. Nach dieser benheiten und ihre Kontakte angewiesen. Deren Kennt-
Zielsetzung werden wir auch künftig handeln. nisse und vor allen Dingen das Vertrauen, das den
Helfern entgegengebracht wird, ist ein immenser Schatz,
(B) (D)
Ich danke Ihnen. den wir beim Aufbau Afghanistans benötigen. Diesen
Schatz schieben Sie aber offensichtlich arglos beiseite.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wenn diese Hilfsorganisationen in den letzten Mona-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ten wiederholt in der Öffentlichkeit geäußert haben, sie
Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPD- würden von dieser Bundesregierung erpresst, dann zeigt
Fraktion. das nur, welchen Scherbenhaufen Sie und Herr Niebel
hier inzwischen angerichtet haben, einen Scherbenhau-
(Beifall bei der SPD) fen, für den Sie die politische Verantwortung tragen.
(Beifall bei der SPD)
Burkhard Lischka (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem Meine Damen und Herren, nach der Lektüre dieses
haben Sie recht, Herr Außenminister: Der Aufbau eines Berichts lautet mein Hauptfazit: Wir müssen vor allen
funktionsfähigen und stabilen afghanischen Staates er- Dingen den Prozess der innerafghanischen Versöhnung,
fordert einen umfassenden Ansatz, mit der Förderung insbesondere unter Einbeziehung der afghanischen
der Sicherheit, aber auch der guten Regierungsführung Nachbarstaaten, unterstützen und befördern. In der De-
und Entwicklung. Nur, Herr Außenminister, Sie ziehen batte ist wiederholt gesagt worden: Dabei kommt Pakis-
daraus teilweise den falschen Schluss. Wenn Sie und Ihr tan eine Schlüsselrolle zu.
Parteifreund und Kabinettskollege Dirk Niebel derzeit
Ich weiß nur nicht, Herr Außenminister, ob das bei Ih-
beispielsweise darangehen, in Afghanistan nur noch sol-
nen schon so richtig angekommen ist. Ich hätte mir je-
che deutschen Hilfsorganisationen zu unterstützen, die
denfalls ein stärkeres Engagement von Ihrer Seite und
im Norden des Landes tätig sind und bereit sind, dort mit
deutlich mehr Aktivitäten dieser Bundesregierung zur
dem Militär zu kooperieren, dann sage ich Ihnen: Das ist
Unterstützung dieses Friedensprozesses unter Einbezie-
ein falscher Schluss, den Sie ziehen.
hung der afghanischen Nachbarn gewünscht. Die deut-
(Beifall bei der SPD) sche Außenpolitik hätte eigentlich gerade in dieser Re-
gion Gewicht, Herr Minister. Nur, dieses Gewicht muss
Ein solcher Schluss behindert den Aufbau in Afgha-
man auch nutzen. Den Beweis sind Sie bislang schuldig
nistan und befördert ihn nicht. Wer so vorgeht wie Sie,
geblieben.
der verengt ziviles Engagement, der begrenzt es, und der
beschädigt es. Sie als Außenminister waren es doch, der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
vor einigen Wochen höchstpersönlich den Geldhahn für des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8927
Burkhard Lischka
(A) Der Fortschrittsbericht zeigt auch: Militärisch ist die- und Weise die Lage der Dinge dar. Eines kommt dabei (C)
ser Konflikt in Afghanistan nicht zu lösen. Im Gegenteil, ganz klar zum Ausdruck: Frieden in Afghanistan kann
die Akzeptanz der ausländischen Truppen sinkt. Das An- nicht allein mit militärischen Mitteln erreicht werden.
sehen des Westens – so der Bericht – befindet sich auf Nein, es sind vor allem politische Maßnahmen, bei denen
einem Allzeittief. Daraus kann doch nur folgen, dass wir wir das afghanische Volk unterstützen müssen. Das wis-
in absehbarer Zeit den militärischen Teil unseres Enga- sen wir nicht erst seit heute. Wir haben bereits in diesem
gements beenden müssen. Wir Sozialdemokraten haben Jahr mit der geänderten Strategie des vernetzten Ansat-
deshalb, wie Sie wissen, zu Beginn des Jahres einen sehr zes auch entsprechende Maßnahmen ergriffen.
verantwortungsbewussten Abzugsplan mit einem Be-
Wir haben durchaus Erfolge zu verzeichnen. Der Auf-
ginn des Abzugs in 2011 und einer Beendigung des mili-
bau der afghanischen Sicherheitskräfte kommt nach Jah-
tärischen Engagements zwischen 2013 und 2015 vorge-
ren der Stagnation und fehlender Gesamtkonzeption jetzt
legt. Zu diesem Versprechen stehen wir. Aber an diesem
zügig voran. Die von uns gesetzten Meilensteine wurden
Versprechen werden wir auch alle künftigen Handlungen
vorzeitig erreicht. Auch die von uns angestrebten Fähig-
dieser Bundesregierung messen.
keiten wurden in Teilbereichen aufgebaut.
(Beifall bei der SPD)
Es hat sich gezeigt, dass der deutsche Ansatz bei der
Ich bin schon etwas verwundert. Anfang des Jahres Polizeiausbildung, sich nicht nur auf Teilbereiche zu
hatte die Bundesregierung selbst einen Abzugsbeginn im beschränken, sondern Ausbildungs-, Ausrüstungs- und
Jahre 2011 in Aussicht gestellt sind. Dann haben Sie, Infrastrukturprojekte umzusetzen, zielführend ist. Dies
Herr Westerwelle, vor einigen Wochen in der Presse ver- wurde uns nicht zuletzt auch von afghanischer Seite be-
sucht, sich aus diesen Zusagen irgendwie wieder heraus- stätigt.
zumogeln. Sie haben als Abzugsbeginn das Jahr 2012
Besondere Herausforderungen für den Aufbau einer
ins Gespräch gebracht. Dann haben Sie sich in dieser
professionellen und nach rechtsstaatlichen Prinzipien
Debatte an das Pult gestellt und das Jahr 2011 genannt.
agierenden Polizei sind die Implementierung von Poli-
Die Kollegen Mißfelder und Lamers hingegen haben
zeistrukturen, die Verringerung der Analphabetenrate
versucht, das wieder zu relativieren. Also, was gilt denn
und die Bekämpfung von Korruption. Nur so kann die
nun? Wir brauchen eine klare Aussage.
Bevölkerung mehr Vertrauen in die Polizei fassen.
(Beifall bei der SPD) Neben der weiteren Ausbildung von afghanischen Si-
Ich sage Ihnen: Stehen Sie zu Ihren Aussagen gegen- cherheitskräften müssen wir auch in den Bereichen Re-
über den Afghanen, gegenüber den Angehörigen der gierungsführung und Infrastruktur, Bildung und Gesund-
heit die notwendigen Voraussetzungen für eine Übergabe
(B) Bundeswehr, aber auch gegenüber der deutschen Öffent- (D)
lichkeit. Ein Hinausschieben des Abzugsbeginns kommt in Verantwortung schaffen.
nicht infrage; denn ein solches Verschieben würde doch Ein Baustein, der mir beim Aufbau der demokrati-
nur den unbedingt notwendigen Druck auf die afghani- schen und zivilgesellschaftlichen Strukturen besonders
sche Regierung lockern, schrittweise die Sicherheitsver- am Herzen liegt, ist die Durchführung der Wahlen. Be-
antwortung zu übernehmen. Ein solches Verschieben reits zweimal hat das afghanische Volk ein Parlament
würde mögliche Ressentiments in der afghanischen Be- und den Staatspräsidenten gewählt. Die Wahlen waren
völkerung, deren Vorhandensein dieser Bericht auch leider alles andere als frei und demokratisch, sondern
zeigt, gegenüber einer ausländischen Truppenpräsenz von Wahlbetrug und Manipulation geprägt, wie das auch
möglicherweise verstärken. Das würde einen verantwor- aus dem Bericht hervorgeht. Dennoch ist das meines Er-
tungsbewussten Abzug insgesamt infrage stellen. Des- achtens trotz aller Kritik ein erster Ansatz hin zu einer
halb: Stehen Sie zu Ihren Zusagen. Beginnen Sie mit ei- demokratisch legitimierten Gesellschaft.
nem Abzug im Jahre 2011. Die Unterstützung der
deutschen Sozialdemokratie hierfür werden Sie jeden- Ich bin fest überzeugt, dass sich derjenige, der sich
falls haben. nach einer Wahl nicht in der Volksvertretung repräsen-
tiert fühlt, zurückzieht oder neu orientieren wird. Das ist
Recht herzlichen Dank. ein Nährboden für radikale Kräfte; das wissen wir. Sie
(Beifall bei der SPD) dürfen nicht noch mehr Einfluss gewinnen und die Ent-
wicklung hin zu Frieden und Freiheit nicht zunichte-
machen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSU- Bei den vielen Meilensteinen, die in Afghanistan er-
Fraktion. reicht werden müssen, ist die nächste Präsidentschafts-
wahl aus meiner Sicht einer, dem wir Beachtung schenken
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- müssen, auch wenn die nächste Präsidentschaftswahl erst
neten der FDP) im Jahre 2014 ist. Gerade diese wird aber besonders
spannend sein; denn nach geltender Rechtslage darf der
Florian Hahn (CDU/CSU): derzeitige Präsident Karzai dann nicht wiedergewählt
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol- werden. Die Zeit bis dahin müssen wir nutzen, um das
leginnen und Kollegen! Der Bericht, den uns die mit dem Vertrauen der Bevölkerung in diese demokratische Form
Thema Afghanistan befassten Ressorts vorgelegt haben, der Volksrepräsentation zu gewinnen. Schon im Vorfeld
beschönigt nichts, sondern er legt in einer sachlichen Art müssen wir entschieden auf eine bessere Vorbereitung
8928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Florian Hahn
(A) hinwirken und einen demokratischen Ablauf gewährleis- ben sind. Durch eine ganz wesentliche Aussage auf den (C)
ten. Seiten 41 und 45 des Berichts wird klar: Das afghanische
Regierungshandeln ist in weiten Teilen verbesserungs-
Sehr geehrte Damen und Herren, durch den vorlie-
bedürftig. Deshalb haben wir die wesentlichen zivilen
genden Bericht wird uns einmal mehr aufgezeigt, dass
und militärischen Ziele unseres Einsatzes bei weitem
die Bevölkerung in Afghanistan wenig Vertrauen in die
noch nicht erreicht. Ich danke für diese Klarheit.
eigene Regierung hat. Hierbei sind vor allem die Ent-
schlossenheit und Bereitschaft seitens der afghanischen Auf der anderen Seite möchte ich auch sagen – der
Regierung gefragt. Die Korruption auch in den eigenen Kollege Philipp Mißfelder hat das vorhin angesprochen –:
Reihen muss noch stärker als bisher bekämpft und einge- Die Öffentlichkeit braucht viel mehr Informationen. Wir
dämmt werden. Hier erwarte ich einen größtmöglichen Abgeordnete sind parteiübergreifend gefordert, den Af-
Einsatz und Verbesserungen seitens der afghanischen ghanistan-Einsatz zu erklären und uns der Kritik und den
Regierung. Fragen zu stellen. Durch den Fortschrittsbericht wird uns
Es liegt in unserem ureigenen deutschen Interesse, geholfen, dies richtig zu machen. Ich glaube, es ist ganz
dass von Afghanistan keinerlei Gefahr mehr für uns und entscheidend, dass wir mit dem Fortschrittsbericht zu
die internationale Gemeinschaft ausgeht. der Bevölkerung gehen und ihr klarmachen, wo die
Knackpunkte sind.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) Es klang vorhin so ganz leicht an: Am kommenden
Wochenende werden von unserem Bundesverteidigungs-
Das ist unser Ziel; das wollen wir mit unserem Einsatz minister parteiübergreifend Abgeordnete nach Afghanis-
am Hindukusch erreichen. tan eingeladen, und zwar all diejenigen, aus deren Wahl-
Der Weg zu einem friedlichen Afghanistan ist steinig kreisen Soldaten in Afghanistan sind. Kompliment und
und gefährlich. Eines ist jedoch klar: Der jetzige Weg Dank an den Bundesverteidigungsminister!
des vernetzten Ansatzes ist der einzig gangbare. Durch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
einen zu schnellen und unüberlegten Abzug würden wir
das bisher Erreichte wieder zunichtemachen. Das ist Vielleicht ist auch – erlauben Sie mir diese nette Spitze –
nicht in unserem und erst recht nicht im Interesse der af- Herr Gabriel dabei.
ghanischen Bürger. (Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Was ist denn
Der Einsatz, den unsere Soldaten und die zivilen eine „nette Spitze“?)
Kräfte tagtäglich erbringen, hat unsere vollste Wert- Ich möchte kurz über die außenpolitischen Implika-
schätzung verdient. Ich möchte unseren Einsatzkräften tionen und anschließend über die Übergabe in Verant- (D)
(B)
auf diesem Wege danken und ihnen und ihren Familien wortung sprechen. Über die internationale Kontakt-
von dieser Stelle aus ein frohes Weihnachtsfest und Got- gruppe sind 43 Staaten an der Beantwortung der Frage
tes Segen wünschen. beteiligt, wie wir die Verantwortung in Afghanistan
Herzlichen Dank. übergeben. Unter diesen Staaten sind auch 13 muslimi-
sche Staaten. Es ist ein Zeichen für die Qualität deut-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) scher Außenpolitik, dass wir dabei eine ganz wesentli-
che Rolle spielen. Botschafter Steiner leitet die
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: internationale Kontaktgruppe. Von dieser Stelle aus
Das Wort hat nun Roderich Kiesewetter für die CDU/ Kompliment und Dank an Herrn Botschafter Steiner für
CSU-Fraktion. die wesentliche Leistung, die er hier erzielt hat.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
neten der FDP) der FDP)
Hierbei geht es auch darum, dass islamische Staaten ein-
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): gebunden sind. In dem Bericht kommt die regionale Ein-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- bindung – das liegt in der Natur der Sache – noch etwas
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, durch zu kurz. Das wird sich mit der Fortschreibung des Be-
die Debatte in den letzten eineinhalb Stunden wurde richts ändern.
deutlich, wie sachlich wir uns über dieses Thema aus-
einandersetzen können – trotz einiger Schärfen. Ich Wir brauchen glasklar eine Perspektive für den Um-
glaube, ein Grund dieser Sachlichkeit liegt auch darin, gang mit den Taliban in Pakistan. Wir müssen auch der
dass wir diesen Fortschrittsbericht haben, Herr Außen- pakistanischen Regierung deutlich machen, was wir von
minister. Wir haben nun klare – ich möchte fast „Bench- ihr erwarten. Das Abschmelzen, die Rückführung unse-
marks“ sagen, aber der Begriff ist schon belegt – Richt- res militärischen Engagements kann nicht damit einher-
punkte, an denen wir unser Handeln messen können, und gehen, dass die Taliban ihre Einsätze verstärken. Wir
es stehen dort Aussagen, durch die uns sehr klar gemacht können einen Abzugstermin also nicht einfach festlegen.
wird – das erkennen wir, wenn wir sie genau betrachten –, Das sage ich an Ihre Adresse, Herr Dr. Erler.
wo die Schwierigkeiten liegen.
Entscheidend ist – ich glaube, darin sind wir uns alle
Zuallererst möchte ich sagen, dass wesentliche Fähig- sehr einig –, dass wir in diesem Parlament im Sommer
keiten der afghanischen Regierung noch gar nicht gege- und im Herbst dieses Jahres eine ganze Menge geleistet
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8929
Roderich Kiesewetter
(A) haben. Meines Erachtens ist auch der Brückenschlag mit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C)
Blick auf die Evaluierung gelungen. Wir hatten eine An-
hörung. Wir haben dem Vorschlag nicht zugestimmt, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
dass wir die Evaluierung wissenschaftlichen Experten Ich schließe die Aussprache.
überlassen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
(Burkhard Lischka [SPD]: Warum eigentlich?) ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
Wir wollen als Abgeordnete die Verantwortung überneh- 17/4225. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
men und sie nicht der Wissenschaft übertragen. Für uns Wer ist dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Ent-
ist es entscheidend, dass wir als Abgeordnete in der Ver- schließungsantrag ist damit abgelehnt. Dafür gestimmt
antwortung bleiben, statt uns darauf zu berufen, die Wis- hat die Fraktion Die Linke. Dagegen gestimmt haben die
senschaft habe dieses und jenes gesagt. Dennoch ist die Kolleginnen und Kollegen aller anderen Fraktionen.
Wissenschaft beteiligt. Darin sind wir uns wieder einig. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a auf:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
der FDP) Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus Ernst,
Auch die heutige Aussprache zeigt: Die Tendenz weist weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
in die richtige Richtung. LINKE

Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der die Gute Arbeit in Europa stärken – Den gesetzli-
Übergabe in Verantwortung und unser Engagement dort chen Mindestlohn in Deutschland am 1. Mai
betrifft. Sie fordern die Rückführung von Fähigkeiten; 2011 einführen
wir sprechen es auch im Bericht an. Aber seien wir ehr- – Drucksache 17/4038 –
lich: Wir haben doch schon längst damit begonnen. Das Überweisungsvorschlag:
Kommando Spezialkräfte nimmt schon längst nicht Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
mehr an der Operation Enduring Freedom teil. Außer- Rechtsausschuss
dem haben wir die Anzahl der Tornados zurückgeführt. Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Wir bauen also schon Fähigkeiten ab. Das ist doch schon Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ein erstes Zeichen dafür, dass wir unseren Einsatz um-
stellen. Wir haben die Zahl der Ausbilder von ursprüng- Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eineinhalb
lich 200 auf 1 500 erhöht. So sieht unsere Perspektive Stunden zu debattieren. – Ich sehe, damit sind Sie ein-
aus. Wir gehen in die richtige Richtung. verstanden. Dann können wir so verfahren.
(B) (D)
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
GRÜNEN]: Das ist Betrug!) ner dem Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke
das Wort.
– Lassen Sie sich Redezeit geben; dann können Sie das
deutlicher machen. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Klaus Ernst (DIE LINKE):
neten der FDP – Claudia Roth [Augsburg]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Running Gag!) Herren! Wenn wir die Presseberichte richtig verfolgen,
dann müssen wir uns langsam über die Lohnentwicklung
Das Engagement unserer Soldaten ist ohne ziviles in Deutschland Sorgen machen. In der Süddeutschen Zei-
Engagement nicht denkbar. Die Rückführung militäri- tung war am 9. Dezember zu lesen – ich zitiere –:
schen Engagements ist nur möglich, indem wir verstärkt
in den zivilen Einsatz gehen. Ich teile nicht die Ansicht, In Deutschland steigen die Löhne seit Jahren we-
die eben ein Kollege der SPD vortrug, dass wir die zivile sentlich langsamer als im Rest Europas.
Hilfe usw. immer weiter zurückführen. Allein im Be- Weiter heißt es, dass wir bei der Lohnentwicklung inzwi-
reich der vernetzten Sicherheit hat das Entwicklungshil- schen Schlusslicht in Europa sind.
feministerium die Mittel um 10 Millionen Euro aufge-
stockt. In weiteren Bereichen sind wir mit fast einer Meine Damen und Herren – das richte ich vor allem
halben Milliarde Euro dabei. Seit dem Jahr 2001 hat an diese Regierung –, Sie hängen mit Ihrer Lohnpolitik
Deutschland in den Bereich der zivilen Entwicklungs- und Ihrer Arbeitsmarktpolitik den Arbeitnehmern in
hilfe 2 Milliarden Euro investiert. Das ist ein starkes Si- Deutschland die rote Laterne um. Wenn wir die Lohnent-
gnal in Richtung Afghanistan. wicklung in Deutschland mit der Lohnentwicklung in
anderen Ländern vergleichen, dann müssen wir langsam
Lassen Sie uns von hier aus ein verlässliches Zeichen darüber nachdenken, wie wir weiter mit diesen Fakten
der Hilfe geben. Lassen Sie uns den Afghanen sagen: umgehen.
Wir lassen euch nicht im Stich; wir bleiben dort, solange
ihr uns braucht und solange wir in der internationalen Bei Spiegel Online war gestern zu lesen, wie sich die
Unterstützung zu eurem Erfolg beitragen können. Reallöhne in Europa entwickeln: In Norwegen sind sie
in den Jahren 2000 bis 2009 um 25,1 Prozent gestiegen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Finnland: plus 22 Prozent. Schweiz: plus 9,3 Prozent.
8930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Klaus Ernst
(A) Frankreich: plus 8,6 Prozent. Niederlande: plus 4,8 Pro- rhein-Westfalen 6,63 Euro, bei den Floristen in Sachsen- (C)
zent. Selbst in Österreich waren es plus 2,7 Prozent. In Anhalt ein Stundenlohn von 4,35 Euro. Wir könnten
Deutschland aber sind es minus 4,5 Prozent. Vor kurzem auch noch die Friseure heranziehen: In Berlin sind es
hat die Kanzlerin hier gesagt: Wir haben über unsere beim ungelernten Beschäftigten inzwischen 3,65 Euro,
Verhältnisse gelebt. – Angesichts der Lohnentwicklung beim gelernten Beschäftigten 4,65 Euro in der Stunde.
in der Bundesrepublik Deutschland ist festzustellen: Für Bei den Fleischern in Thüringen sind es 5,49 Euro. Wis-
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gilt das offen- sen Sie was, meine Damen und Herren? Für diese Löhne
sichtlich nicht. Sie müssen permanent unter ihren Ver- würden Sie hier in diesem Hause morgens nicht einmal
hältnissen leben. das Augenlid heben. Das ist die Realität!
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger
[CDU/CSU]: Das sind von den Gewerkschaf-
Während Sie alle jetzt den Aufschwung bejubeln, für
ten vereinbarte Löhne!)
den angeblich die Kanzlerin verantwortlich ist, stellen
wir fest, dass im dritten Quartal 2010 die Arbeitskosten – Ja, da haben Sie recht; das sind teilweise vereinbarte
im Verhältnis zum Vorquartal um 0,5 Prozent abgenom- Löhne. Wenn Sie als Regierung feststellen, dass Ge-
men haben. Die Löhne in der Bundesrepublik Deutsch- werkschaften in vielen Bereichen offensichtlich nicht
land befinden sich weiter auf einer Rutschbahn nach un- mehr in der Lage sind, in freien Verhandlungen Löhne
ten. durchzusetzen, die dazu führen, dass man davon leben
kann, dann sollten Sie nicht auf die Gewerkschaften
(Pascal Kober [FDP]: Auch die Arbeitslosig-
schimpfen, sondern selber die Initiative ergreifen, dass
keit nimmt ab!)
solche Löhne unterbunden werden. Das wäre eine rich-
Diese Politik und diese Fakten haben Sie zu verantwor- tige Antwort, nicht aber dieses Lamentieren.
ten. Sie haben eine Politik der Lohndrückerei betrieben
und gleichzeitig über die wirtschaftliche Situation in der (Beifall bei der LINKEN)
Bundesrepublik gejubelt. Bei solchen Löhnen verliert Arbeit ihren Sinn. Von
Ich habe eben den Zwischenruf gehört. Sie sind zur- Arbeit muss man leben können, und zwar von seiner ei-
zeit an der Regierung. Wenn selbst im Deutschen Bun- genen Arbeit.
destag Dumpinglöhne üblich sind, wie in der Presse zu (Beifall bei der LINKEN)
lesen war, und das Sicherheitspersonal, das in diesem
Hause für unsere Sicherheit zuständig ist, offensichtlich Von seiner Arbeit leben zu können, ist auch eine Frage
mit einem Stundenlohn von 6,25 Euro abgespeist wird, der Würde. Wenn Sie den Menschen durch solch nied-
(B) dann sollten Sie besser die Verhältnisse ändern, statt da- rige Löhne zumuten, ihre Existenz trotz Vollzeitarbeit (D)
zwischenzurufen. dadurch sichern zu müssen, dass sie zu einem Amt ge-
hen, dann ist das entwürdigend. Sie nehmen ihnen die
Wie hat das funktioniert? Wie ist es Ihnen gelungen, Würde.
die Löhne zu drücken? Zum einen haben die Hartz-Ge-
setze dazu geführt, dass die Angst vor Arbeitslosigkeit in (Beifall bei der LINKEN)
unserem Land so groß ist, dass die Menschen bereit sind, Um die Existenz der Menschen zu sichern, stocken
niedrige Löhne zu akzeptieren, ohne sich zu wehren. Sie Sie die Löhne auf. Fakt ist, dass allein im Jahr 2009 für
haben es zum anderen durch die Deregulierung der Leih- Aufstocker 11 Milliarden Euro aus dem Staatshaushalt
arbeit erreicht, die dazu führt, dass bei gleicher Arbeit ausgegeben wurden.
deutlich unterschiedliche Löhne gezahlt werden. Sie ha-
ben es auch durch Deregulierung bei den befristeten Be- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist soziale
schäftigungsverhältnissen erreicht. Inzwischen haben Verantwortung!)
40 Prozent der unter 25-Jährigen nur noch befristete Seit 2005 wurden 50 Milliarden Euro ausgegeben, um
Jobs, für die in der Regel andere Löhne gezahlt werden diese Niedrigstlöhne zu subventionieren und die Men-
als für unbefristete Jobs. Auch diese Beschäftigten sind schen, die trotz Arbeit so wenig verdienen, am Verhun-
vorsichtig, was höhere Löhne angeht, um ihren Job nicht gern zu hindern. Das könnten wir uns sparen, wenn wir
zu gefährden.
durch einen Mindestlohn dazu beitrügen, dass Arbeit so
Wenn Sie in einer Situation der sinkenden Löhne zu bezahlt wird, dass man von ihr leben kann und nicht zum
einer Politik übergehen, die einen gesetzlichen Mindest- Sozialamt rennen muss.
lohn und damit eine Begrenzung der Lohnentwicklung
(Beifall bei der LINKEN – Heinz-Peter
nach unten verhindert, dann ist das das Unverantwort-
Haustein [FDP]: Aber zur Bundesagentur! Das
lichste, was eine Regierung in solch einer Situation tun
ist ja das Problem!)
kann.
Sie akzeptieren, dass in diesem Lande Löhne zulasten
(Beifall bei der LINKEN)
Dritter abgeschlossen worden. Es geht zulasten Dritter,
Ich möchte Ihnen einige Beispiele für Löhne in die- wenn wir zulassen, dass zwischen Arbeitnehmern und
sem Land geben, weil ich den Eindruck habe, dass Sie Arbeitgebern – wobei der Arbeitnehmer immer in der
nicht mehr bereit sind, die Realität zur Kenntnis zu neh- schlechteren Situation ist – ein Lohn vereinbart wird,
men: im Hotel- und Gaststättenbereich in Mecklenburg- von dem man nicht leben kann, was aber gleichzeitig be-
Vorpommern ein Stundenlohn von 5,39 Euro, in Nord- deutet, dass der Lohn automatisch vom Steuerzahler auf-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8931
Klaus Ernst
(A) gestockt werden muss. Dies ist sittenwidrig; Löhne zu- Europas stellen. So liegt der Mindestlohn beispielsweise (C)
lasten Dritter sind aus unserer Sicht sittenwidrig. Ändern in Luxemburg bei 9,73 Euro, in Frankreich bei
Sie dies! Das wäre besser, als solche Zwischenrufe zu 8,86 Euro – er soll auf 9 Euro erhöht werden – und in
machen. den Niederlanden bei 8,64 Euro. In allen europäischen
Ländern haben selbst die Liberalen – im Gegensatz zur
(Beifall bei der LINKEN)
FDP in Deutschland – begriffen, dass es in einem Land
Ein Mindestlohn muss gewährleisten, dass eine al- nicht nur den Großkopferten, sondern auch den norma-
leinstehende Person durch eine Vollzeitbeschäftigung len Bürgern einigermaßen gut gehen soll. Weil Sie das
ein Einkommen erzielt, das über dem Existenzminimum nicht begriffen haben, liegen Ihre Umfragewerte zurzeit
liegt. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Ein bei 5 Prozent, und das zu Recht.
Mindestlohn muss auch die Voraussetzung dafür bieten,
(Beifall bei der LINKEN)
dass jemand, der diesen Lohn sein ganzes Leben lang er-
halten hat, zumindest eine Rente bekommt, von der er Da in Kürze die Freizügigkeit in der Europäischen
selber leben kann, ohne dass er auch die Rente aufsto- Union vollständig hergestellt ist und dann nach Angaben
cken muss. Das muss ein Mindestlohn erreichen. der Regierung eine Vielzahl von Bürgern berechtigter-
weise versuchen wird, ihren Lohn in der Bundesrepublik
(Beifall bei der LINKEN)
Deutschland zu verdienen, fordern wir Sie auf, einen flä-
Wenn insbesondere die FDP in diesem Land mit dem chendeckenden Mindestlohn einzuführen; sonst wirken
Spruch „Leistung muss sich lohnen“ durch die Gegend diese Bürger als Lohndrücker, und wir öffnen der Aus-
saust, dann mag dies ja richtig sein. beutung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer in der Bundesrepublik Tür und Tor. Damit muss
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Dann soll
Schluss sein. Führen Sie deshalb einen flächendecken-
sie mal bei sich selber anfangen!)
den gesetzlichen Mindestlohn ein! Folgen Sie unserem
Aber wenn es richtig ist, dass sich Leistung lohnen Antrag!
muss, warum eigentlich nur für Ihre Klientel? Sie von
Danke fürs Zuhören.
der FDP haben nichts dagegen, dass es eine Architekten-
verordnung gibt, in der letztendlich die Gebühren der (Beifall bei der LINKEN)
Architekten vereinbart wurden. Sie haben nichts dage-
gen gehabt, dass es bis vor kurzem die BRAGO, die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung, gab, in der fest-
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johann Wadephul
gelegt wurde, was ein Rechtsanwalt bekommt, wenn er
für die Fraktion der CDU/CSU.
eine bestimmte Leistung erbringt. Was für Ihre Klientel
(B) (D)
gilt, meine Damen und Herren von der FDP, müsste auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
für die gelten, die weniger verdienen. Dann wären Sie in neten der FDP)
diesem Hause ein wenig glaubwürdiger.
(Beifall bei der LINKEN – Christian Lange Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
[Backnang] [SPD]: Was sagt die bayerische Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Linke dazu?) Herren! Wir sind es in den Sitzungswochen gewohnt,
dass die linke Seite des Hauses mit uns entweder über
Dann wollen wir einmal über den Lohnabstand re- die Rente mit 67 oder über den Mindestlohn diskutieren
den. Auch ich bin dafür, dass jemand, der sein Geld mit möchte. Andere Themen fallen Ihnen offensichtlich nicht
seiner Arbeit verdient, mehr hat als derjenige, der mögli- ein. Ich rege an, sich in Zukunft etwas mehr zu bemü-
cherweise alimentiert werden muss. Einverstanden! Das, hen. Eine Opposition muss auch Qualitätsarbeit leisten.
was Sie machen, ist allerdings etwas ganz anderes. Sie Lassen Sie sich neue Themen einfallen. Diskutieren Sie
drücken – verfassungswidrig – das Existenzminimum so mit uns über andere sozialpolitische Themen als jede
weit nach unten, dass auch die Löhne nach unten ge- Woche über denselben Aufguss alter Themen.
drückt werden können. Das ist Ihre Methode, den Lohn-
abstand herzustellen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir sagen: Das muss anders gehen. Wir brauchen ei- Herr Ernst, wenn Ihre Fraktion einen Antrag mit dem
nen vernünftig abgesicherten Sockel für die Menschen, Titel „Gute Arbeit in Europa stärken – Den gesetzlichen
die aus irgendwelchen Gründen nicht arbeiten können. Mindestlohn in Deutschland am 1. Mai 2011 einführen“
Wir brauchen ein vernünftig festgelegtes Existenz- in den Deutschen Bundestag einbringt, dann sollten Sie
minimum, das gemäß der Auslegung des Bundesver- nicht eine Rede halten, in der Sie auf die europäische
fassungsgerichts den betroffenen Menschen die sozio- Diskussion überhaupt nicht eingehen. Sie haben Ihre
kulturelle Teilhabe ermöglicht. Aber Sie versuchen letzte Rede sozusagen auf Wiedervorlage gelegt. Sie hät-
permanent, den Sockel nach unten zu drücken, um so die ten schon auf die europäischen Gesichtspunkte eingehen
Löhne weiter sinken zu lassen. Das ist Ihre Methode. sollen. Das haben Sie verabsäumt.
Dagegen wehren wir uns.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der LINKEN)
Stattdessen haben Sie von Dumpinglöhnen im Deut-
Ich möchte darauf hinweisen, dass Sie sich bei der schen Bundestag gesprochen. Dazu fällt mir Ihre Ge-
Mindestlohnpolitik inzwischen vollkommen außerhalb haltsstruktur ein, Herr Ernst. Sie können als Vorsitzender
8932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Johann Wadephul


(A) der Linksfraktion nicht gerade über Dumpinglöhne kla- (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der (C)
gen. LINKEN)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ist das Das erkennen mittlerweile auch andere an. Lesen Sie
billig, Herr Kollege!) doch einmal die internationale Presse: Germany’s next
superstar – economy; Deutschland, ein neues Power-
Verlangen Sie bitte nicht von uns, lieber Herr Ernst, Ihre house. Die deutschen Medien reden vom „Europameis-
persönliche Gehaltspolitik in der Linkspartei zum Allge- ter in Jobfragen“. Deutschland ist bei Wachstum und
meingut im Deutschen Bundestag zu machen. Beschäftigung Lokomotive in ganz Europa. Wenn Sie
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- einmal den Blick über die nationalen Grenzen hinaus in
neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE Nachbarländer werfen würden – das kann ich Ihnen nur
GRÜNEN) anraten; von Linken, die einst eine Internationale ge-
gründet haben und eine internationale Geschichte haben,
Bei Ihnen hat die Formel „Leistung muss sich lohnen“ sollte man eigentlich ein bisschen mehr Internationalis-
eine ganz besondere Note. mus erwarten können –, dann würden Sie feststellen: Die
erfolgreichste Beschäftigungspolitik mit einem sozialen
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Fragen Sie doch Ausgleich wird in Deutschland gemacht. Darauf sind wir
mal Ihren Fraktionsvorsitzenden, was er be- stolz. Man muss noch ein wenig nachbessern. Aber man
kommt!) darf auf keinen Fall das Kind mit dem Bade ausschütten.
Das müssen Sie Ihren Wählerinnen und Wählern schon Dazu gibt es überhaupt keinen Anlass.
selber erklären. Wir jedenfalls machen so etwas nicht Schauen Sie sich den Anstieg der Arbeitslosigkeit in
mit. den europäischen Nachbarländern in der Krise einmal
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) an.
(Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜND-
Wenn Sie die Lohnentwicklung in der Bundesrepu-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
blik Deutschland nun komplett der Regierung oder den
Regierungsfraktionen anlasten, dann muss ich Ihnen, In Spanien ist sie um 60 Prozent gestiegen, in Frankreich
obwohl Sie Gewerkschafter sind, offensichtlich noch ein um 23 Prozent, in England um 35 Prozent, in Deutsch-
bisschen Nachhilfe geben und Ihnen erklären, wie land um nur 3 Prozent. Wir sind die Ersten, bei denen die
Lohnfindung in Deutschland stattfindet. Die Lohnfin- Beschäftigung wieder anzieht, die Ersten also, die mehr
dung unterliegt dem Wechselspiel zwischen Gewerk- Beschäftigung und weniger Arbeitslosigkeit haben.
schaften und Arbeitgeberverbänden; ihr zugrunde liegt (D)
(B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
die grundgesetzlich garantierte Tarifautonomie. Bei der
Lohnfindung wird über die Lohnhöhe und die Lohnent- Es ist immer auch die Frage, vor welchen Zahlen man
wicklung entschieden. Die Tarifautonomie in der Bun- die Augen verschließt. Ich verstehe durchaus, dass Sie
desrepublik Deutschland war und ist ein Erfolgsmodell, gerade in diesen Tagen Luxemburg hier erwähnen. Man
und wir werden auf keinen Fall dazu beitragen, dass greift sich ja immer die Zahlen heraus, Herr Ernst, die ei-
dieses Erfolgsmodell, das eine hohe Beschäftigung ga- nem gerade passen. Aber warum reden Sie, wenn Sie uns
rantiert hat, aufs Spiel gesetzt wird, sondern wir unter- schon auf Mindestlöhne in vielen europäischen Staaten
stützen die Tarifautonomie. Wir unterstützen die Ge- hinweisen wollen, nicht von den 89 Cent Mindestlohn in
werkschaften und die Arbeitgeberverbände. Sie sind für Bulgarien? Soll das allen Ernstes der Maßstab für uns
die Lohnentwicklung in Deutschland verantwortlich und sein? Warum reden Sie nicht von den Zahlen in Polen
haben eine gute Arbeit geleistet. oder im Vereinigten Königreich? Gäbe es bei uns einen
gesetzlichen Mindestlohn wie in anderen europäischen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Staaten, würden die Verdienste in Deutschland in der Tat
Bevor Sie hier schwarzmalen, schauen Sie sich ein- noch sinken. Das kann doch niemand im Ernst wollen.
mal an, was selbst das Neue Deutschland mittlerweile Wir lehnen Ihr Vorhaben also ab.
berichtet, Herr Ernst. Sie können hier doch nicht im
Ernst so tun, als nähme Deutschland bei der Arbeits- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
losigkeit einen Spitzenplatz ein. Ganz im Gegenteil, die Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Arbeitslosigkeit ist unter die 3-Millionen-Marke gesun- Kollegen Heil?
ken.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Auch mit Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
Tricksereien! Sie ist bei über 4 Millionen!) Ja, selbstverständlich.
Wir haben in Deutschland einen neuen Höchststand an
Beschäftigung. An dieser Stelle hätten Sie einmal die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ursache dafür herausstreichen können. Seitdem Angela Bitte sehr.
Merkel Bundeskanzlerin ist, haben wir eine derart posi-
tive Entwicklung am Arbeitsmarkt. Dass wir das erreicht Hubertus Heil (Peine) (SPD):
haben, ist in der Tat das Verdienst der Merkel-Regierun- Sehr geehrter Herr Kollege, Sie haben von Mindest-
gen seit 2005. löhnen in Europa gesprochen und Niveaus verglichen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8933
Hubertus Heil (Peine)
(A) Ist Ihnen bekannt – falls ja, stützt das Ihre Argumenta- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (C)
tion? –, wie hoch der Mindestlohn in Luxemburg ist? Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist ein
Trugschluss!)
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Dafür werden Sie in Europa aber keine Mehrheiten fin-
Ja. den, weil in vielen Staaten gesehen wird, dass man die
Produktivität, die Deutschland hat, nicht erreicht. Das ist
Hubertus Heil (Peine) (SPD): die Kehrseite der Forderung, die Sie hier aufstellen. Das
Wie hoch denn? ist im Grunde eine ganz uneuropäische Kehrseite Ihres
Antrags.
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Viele Staaten, auch europäische Nachbarstaaten, ha-
Das hat der Kollege Ernst vorhin selber erwähnt. ben nur deshalb eine Chance, ihre Produkte auf dem
9,49 Euro, nach meinen Informationen. deutschen Markt abzusetzen, weil die Arbeitskosten
und damit die Gestehungskosten bei ihnen geringer sind
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Herzlichen
als bei uns. Sie haben die Chance also nicht etwa des-
Dank!)
halb, weil die Qualität oder Produktivität höher wäre. In
Dabei muss man freundlicherweise beachten, Herr dem Moment, wo Sie überall einen entsprechenden Min-
Kollege Heil: Die Bedeutung der Volkswirtschaft und destlohn einführen, verunmöglichen Sie es Ländern wie
der Beschäftigtenzahl in Luxemburg ist in Relation zu Polen, Bulgarien oder Rumänien, ihre Produkte in
den von mir erwähnten Ländern, die einen geringeren Deutschland abzusetzen. Ihr Ansatz ist folglich gar kein
Tariflohn und einen geringeren gesetzlichen Mindest- europäischer Ansatz, sondern bedeutet im Grunde eine
lohn haben, kleiner. Renationalisierung. Das ist ein zutiefst nationaler An-
satz, ein Ansatz der Abschottung des deutschen Marktes
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Und in Frank- gegenüber unseren europäischen Nachbarstaaten.
reich? Was ist mit Frankreich? – Brigitte
Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist
Schauen Sie doch mal nach Frankreich, Herr so peinlich!)
Wadephul!)
Wir lehnen Ihren Antrag auch aus ganz grundsätzlichen
Dazu will ich Ihnen noch eines sagen: Lohn und Ge- Gründen ab. Was Sie vorhaben, ist nicht europäisch ge-
halt müssen im Zusammenhang mit der Produktivität dacht. Deswegen unterstützen wir das auch nicht.
stehen. Das haben Gewerkschaften in Deutschland aner-
(B) kannt. Deswegen haben sie sich in der Krise mit Lohn- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D)
forderungen zurückgehalten. Das ist auch der Grund da- neten der FDP)
für, dass der Mindestlohn in anderen Ländern niedriger
ist. Es hat also überhaupt keinen Sinn, einen Mindest- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
lohn einzuführen, der der Produktivität in den einzelnen Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Ländern nicht entspricht. Kollegen Ernst?
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Deswe-
gen wollen wir 10 Euro und nicht 20 Euro, Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
Herr Kollege!) Ja, selbstverständlich.
Das muss ausbalanciert sein. Man muss branchenspezi-
fisch vorgehen. In der Branche, in der eine höhere Pro- Klaus Ernst (DIE LINKE):
duktivität gegeben ist, in der von allen, die dort tätig Herr Kollege Wadephul, recht herzlichen Dank, dass
sind, ein höheres Ergebnis erwirtschaftet wird, kann man Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade un-
höhere Gehälter zahlen. Dafür sind auch wir. Das sollen terstellt, unsere Politik sei uneuropäisch.
die Tarifvertragsparteien miteinander entscheiden.
Erstens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dass seit der Einführung des Euro sich die Konkurrenz-
neten der FDP) verhältnisse in Europa vor allem deshalb unterschiedlich
In allem Ernst, Herr Ernst, schreiben Sie in Ihrem An- entwickelt haben, weil wir uns – im Gegensatz zu allen
trag unter der Nr. 11 – darauf sind Sie bedauerlicher- anderen – durch Lohndumpingpolitik Vorteile im Wett-
weise nicht eingegangen; es wäre aber lobenswert gewe- bewerb verschafft haben,
sen, wenn Sie es getan hätten; ich darf den ersten Satz
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Da ist schon
zitieren –:
die Frage falsch, Herr Ernst!)
Zur Weiterentwicklung der europäischen Integra-
tion bedarf es auch einer europäischen Mindest- die dazu geführt haben, dass wir zwar Exportweltmeis-
lohnpolitik. ter, aber nicht Importweltmeister geworden sind, dass es
also geradezu die Lohnpolitik der Bundesrepublik
Wenn Sie das im Ernst wollen, dann müssen Sie – das Deutschland ist, die insofern uneuropäisch ist, als sie alle
wäre die Folgerung – in allen europäischen Staaten einen anderen Länder so weit unter Druck setzt, dass sie sich
Mindestlohn einführen. entweder verschulden müssen oder dieselbe Lohn-
8934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Klaus Ernst
(A) dumpingpolitik betreiben müssen, wie wir in der Bun- halb gibt es auch überhaupt keinen Anlass, auf dem (C)
desrepublik Deutschland sie betrieben haben? deutschen Arbeitsmarkt oder in der innerdeutschen Dis-
kussion Panik zu erzeugen. Natürlich besteht die Gefahr,
Zweitens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass insbesondere in der Zeitarbeitsbranche Mittel und
dass man sich in anderen europäischen Ländern ein- Wege genutzt werden, um die Arbeitskosten in Deutsch-
schließlich Frankreichs, aber auch in Ländern außerhalb land weiter zu senken. Deswegen sage ich für meine
Europas und selbst in Amerika unter Obama über diese Fraktion ganz klar, dass wir uns für diesen Bereich bald-
Politik inzwischen in einer Weise äußert, die uns eigent- möglichst eine Mindestlohnregelung wünschen. Wir be-
lich dazu veranlassen müsste, sie zu beenden? finden uns in guten Diskussionen mit unserem Koali-
(Beifall bei der LINKEN) tionspartner, um dies zu erreichen.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): NEN]: Sagen Sie das der FDP!)
Herr Ernst, ich teile Ihre Auffassung in beiden Punk-
Dabei müssen wir in Rechnung stellen, dass die Zeit-
ten ausdrücklich nicht.
arbeit an der Stelle nicht verunmöglicht werden darf. Sie
Richtig ist, dass Deutschland nach wie vor Export- hat eine wichtige Brückenfunktion. Sie ermöglicht es, in
weltmeister ist, was viele Arbeitsplätze in Deutschland Übergangssituationen zu überbrücken. Aktuell erleben
sichert. Darauf sind wir stolz. Es gibt gar keinen Anlass, wir, dass in diesem Bereich viele Menschen Anstellun-
das in irgendeiner Weise infrage zu stellen. Ursache da- gen finden. Diese Möglichkeit darf man nicht zerstören.
für ist unsere hohe Arbeitsproduktivität. Sie ist darin Aber auf der anderen Seite sage ich auch: Natürlich darf
begründet, dass wir in Deutschland nach wie vor den die Zeitarbeit nicht dazu missbraucht werden, dauerhaft
technischen Fortschritt vorantreiben und ihn auch in den Löhne und Gehälter in den Branchen zu senken. Deswe-
Arbeitsprozess integrieren. gen halten wir eine gesetzliche Regelung in dieser Bran-
che für angemessen und notwendig. Wir setzen uns ge-
Unser Vorteil auf anderen Märkten ist nicht, dass un- meinsam mit Bundesarbeitsministerin Ursula von der
sere Arbeitskosten am niedrigsten sind. Unser Vorteil ist, Leyen für eine derartige Lösung ein.
dass wir nach wie vor gute Forscher und gute Techniker
und eine Industrie haben, die ihre Ergebnisse schnell in (Beifall des Abg. Max Straubinger [CDU/
ihre Arbeitsprozesse implementiert. Diesen Weg sollte CSU] – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Leih-
Deutschland fortsetzen. Eine Dumpingpolitik im Lohn- arbeit! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann
bereich gibt es hier nicht, tun Sie doch mal was! Sagen Sie das der FDP!
Herr Straubinger, mehr Applaus! Sie sind der
(B) (Widerspruch bei der LINKEN) Einzige, der klatscht!) (D)
und wir sollten ihr auch keinen Vorschub leisten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt
Wir sind deshalb gut, weil in unseren Betrieben tüch- bleibt es dabei: Lohnfindung muss die Aufgabe von Ta-
tige Leute arbeiten, die gute bzw. bessere Arbeitsergeb- rifvertragsparteien sein. Hier sind die Gewerkschaften
nisse erzielen, als es in anderen Ländern der Fall ist. In- gefordert. Ich finde es eigentlich schade, dass ein ehema-
sofern sollten wir Benchmark für andere sein, meine liger Gewerkschafter wie Sie, Herr Ernst, hier im
sehr verehrten Damen und Herren. Grunde den Eindruck erweckt, als seien die deutschen
Gewerkschaften nicht in der Lage, auf die Situation zu
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – reagieren. Gerade in der Zeit des Aufschwungs, in der
Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Um Gottes Zeit der verstärkten Nachfrage nach Arbeitskräften, in
willen!) der Zeit einer demografischen Entwicklung, in der Jün-
Um konkret etwas zu der Situation der Branchen zu gere auf dem Arbeitsmarkt fehlen, merken viele Ge-
sagen, auf die der Antrag eigentlich abzielt – der Kollege werkschaften, dass ihre Bedeutung und ihre Durchset-
Ernst ist darauf nur wenig eingegangen –: Es geht dabei zungsmacht auf dem Arbeitsmarkt wieder größer
um die Frage der Zeitarbeit und die Frage, was am werden. In der Unionsfraktion finden die Gewerkschaf-
1. Mai 2011 passiert. Die Unionsfraktion hat dazu ein ten einen verlässlichen Partner. Bedauerlicherweise ha-
Hearing veranstaltet und mit Experten darüber disku- ben Sie sich an dieser Stelle verabschiedet.
tiert. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
NEN]: Das zielte auf Freizügigkeit ab!)
Im Interesse der europäischen Verständigung, insbe- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
sondere auch der nachbarschaftlichen Beziehungen zur Das Wort hat nun der Kollege Hubertus Heil für die
Republik Polen, die für Deutschland von großer Bedeu- SPD-Fraktion.
tung sind, würde ich empfehlen, dass wir mit einer ge-
wissen Vorsicht argumentieren und uns die Situation (Beifall bei der SPD)
ganz genau anschauen. Niemand aus dem Sachverstän-
digenbereich der Wirtschaft und der Gewerkschaften Hubertus Heil (Peine) (SPD):
– weder in Deutschland noch in Polen – erwartet eine Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
riesige Zuwanderungswelle. Das erwartet niemand. Des- Herren! Es ist eigentlich schade, dass man darauf Rede-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8935
Hubertus Heil (Peine)
(A) zeit verwenden muss, aber diese oberflächliche Form deutschen Gesetze halten, egal ob deutscher oder auslän- (C)
von ökonomischer Debatte meiner beiden Vorredner discher Herkunft. Wir haben also auf europäischer
miteinander verdient schon eine gewisse Kommentie- Ebene durchaus wirksame Maßnahmen gegen Dumping
rung. von Sozialstandards und gegen Dumping von Umwelt-
und Verbraucherstandards geschaffen. Aber – das wurde
Herr Wadephuhl, Sie tun gerade so, als hätten wir im uns bei der europäischen Debatte damals auch ins
Binnenmarkt mit Dienstleistungen und Löhnen kein Stammbuch geschrieben – zur Verhinderung von Lohn-
Problem. Auf der anderen Seite wird so getan, als sei die dumping braucht es nationale Lohnuntergrenzen, sprich
Lohnentwicklung bei den Chemiefacharbeitern, bei de- Mindestlöhne, auch in Deutschland. Das ist das, was Sie
nen es, Kollege Ernst, wirklich nicht um Mindestlöhne nicht begriffen haben.
geht, problematisch.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Natürlich nicht!)
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Das ist nicht wahr. Ich sage Ihnen deshalb aus ökonomi- GRÜNEN)
scher Sicht: Es geht nicht darum – jedenfalls nicht für
uns Sozialdemokraten –, Export und Wettbewerbsfähig- Was das Herkunftslandprinzip bedeutet hätte, möchte
keit der Binnennachfrage gegenüberzustellen. Denn je- ich an einem Beispiel deutlich machen: Jemand fährt mit
der weiß: Wir brauchen beides, und wir sind in der Tat dem Auto von Deutschland nach England – das geht
aufgrund der besten Produkte, Verfahren und Dienstleis- heutzutage; denn da gibt es einen Tunnel – und sagt sich,
tungen wettbewerbsfähig, nicht aufgrund der niedrigsten sobald er in England aus dem Tunnel herauskommt: Gu-
Löhne. Auf der anderen Seite haben wir – das betrifft ten Tag, ich halte mich jetzt nicht an die Straßenver-
vor allem Dienstleistungen im Binnenmarkt; da brau- kehrsordnung von Großbritannien, sondern an meine ei-
chen wir Mindestlöhne – in diesem Problemfeld zu nied- gene, die ich aus Berlin mitgebracht habe. – Das ist
rige Löhne. keine gute Idee, wenn man an die Sonderregelungen in
der Straßenverkehrsordnung Großbritanniens denkt. Das
(Beifall bei der SPD) heißt für unsere Frage: Wer für fairen Wettbewerb zwi-
schen den Unternehmen und für freien Markt in einem
Diese Differenzierung muss sein. An dieser Stelle bringt
geeinten Europa ist, der muss dafür sorgen, dass überall
die Holzhammerpolitik von Rechts und ganz Links den
die gleichen Wettbewerbsbedingungen gelten und kein
Arbeitnehmern, die es betrifft, nichts. Dumping zulasten von Verbrauchern, in diesem Fall von
Deshalb will ich zur Sache reden, Kollege Ernst: Es Arbeitnehmern, stattfinden kann.
geht um die Arbeitnehmerfreizügigkeit zum 1. Mai.
(Beifall bei der SPD)
(B) (Zuruf von der LINKEN) (D)
Nun möchte ich Ihnen etwas zum Thema Produktivi-
Wir haben den Antrag ja, wie Sie wissen, Frau Kollegin, tät sagen: Sind Sie ernsthaft der Meinung, dass ein
die Sie dazwischengerufen haben, etwas früher als Sie Lohnniveau von 3 oder 4 oder 5 Euro die Produktivität
gestellt, nämlich im Mai dieses Jahres. Ich finde es in in den Bereichen, über die wir reden, abbildet? Das frage
Ordnung, dass wir einer Meinung sind, ich Sie, weil Sie ja behauptet haben, ein Mindestlohn
würde dem Gebot, dass Arbeitslöhne der Produktivität
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Für 10 Euro
entsprechen müssen, widersprechen. Andersherum wird
Mindestlohn!)
ein Schuh daraus: Die Tarifautonomie in Deutschland
dass wir mit Blick auf den 1. Mai 2011 noch mehr Druck hat sich bewährt.
ausüben müssen, damit Lohnuntergrenzen in diesem
Land eingeführt werden. (Zuruf von der LINKEN)

Wir haben vor zwei, drei Jahren auf europäischer Die alte Lohnformel „Produktivitätsfortschritt plus Infla-
Ebene eine heftige und intensive Debatte über die tionsausgleich“ hat lange gegolten. Tatsache ist aber
Dienstleistungsrichtlinie geführt. Damals gab es einige auch, in vielen Branchen funktioniert die Tarifautonomie
in Europa – das waren eher die politischen Freunde der nicht mehr so richtig, weder auf Arbeitgeber- noch auf
FDP –, die das sogenannte Herkunftslandprinzip Arbeitnehmerseite. Das ist der Grund, warum wir heute
durchsetzen wollten. Sie wollten die Freizügigkeit in Lohnuntergrenzen brauchen, die wir früher in Deutsch-
Europa, also die Niederlassungsfreiheit und die Dienst- land nicht brauchten. Das ist auch der Grund – die CDU
leistungsfreiheit, so ausgestalten, dass Menschen aus an- bewegt sich da ja mittlerweile mehr als die FDP –, wa-
deren Staaten, wenn sie hier in Deutschland Dienstleis- rum wir Mindestlöhne Stück für Stück in Branchen um-
tungen anbieten bzw. ihre Arbeit ausüben, quasi im setzen. Ich sage hier noch einmal: Wir Sozialdemokraten
Rucksack das Verbraucherrecht und das Sozialrecht der sind für den Vorrang tarifvertraglicher Lösungen, wo im-
Slowakei, von Polen oder anderen Ländern mitnehmen mer es geht. Sie brauchen aber auch eine Antwort für die
können. Dieses sogenannte Herkunftslandprinzip haben Branchen, in denen das nicht geht.
wir dank massiven Widerstands auch von sozialdemo- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das widerspricht
kratischer Seite weitestgehend im Europäischen Parla- aber dem gesetzlichen Mindestlohn!)
ment verhindern können.
– Nein, das widerspricht sich überhaupt nicht.
Tatsache ist, es gibt Dienstleistungsfreiheit in Europa.
Wer aber hier Dienstleistungen erbringt, muss sich an die (Max Straubinger [CDU/CSU]: Doch!)
8936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Hubertus Heil (Peine)


(A) Da, wo sich Gewerkschaften und Arbeitgeber auf Lohn- geringen Verdienst, die ihr Geld nicht in internationale (C)
untergrenzen verständigen, können wir diese über das Finanzblasen stecken, sondern in den Konsum. Das ist
Arbeitnehmer-Entsendegesetz allgemeinverbindlich er- der Grund, warum ich sage, dass ein Mindestlohn auch
klären. Aber, Herr Straubinger, was machen Sie denn in wirtschaftspolitisch Sinn macht.
Branchen, in denen die Tarifautonomie nicht mehr funk-
tioniert? – Weil es das immer häufiger gibt, sagen wir, Last, but not least: Auch im Hinblick auf die Einnah-
dass wir einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland mebasis unserer sozialen Sicherungssysteme in Deutsch-
als verbindliche Lohnuntergrenze benötigen. land macht es Sinn, dass wir zu stabileren Lohnunter-
grenzen kommen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Meine Damen und Herren von der Koalition, wenn
GRÜNEN) Sie uns schon nicht glauben – das kann Ihnen keiner vor-
werfen; es ist im politischen Geschäft so üblich, dass die
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich will Regierung alles schlecht findet, was die Opposition gut
Ihnen ins Stammbuch schreiben: Es macht ordnungs- findet –, dann sollten Sie wenigstens das zur Kenntnis
politisch Sinn, Mindestlöhne einzuführen, weil es nicht nehmen, was der Deutsche Juristentag, der unverdächtig
die Aufgabe der sozialen Marktwirtschaft ist, mit immer ist, eine Vorfeldorganisation der Sozialdemokratie oder
mehr Steuergeld Stück für Stück ein System staatlicher der Gewerkschaften zu sein, Ihnen ins Stammbuch ge-
Lohnbewirtschaftung aufzubauen. Es ist nicht der Sinn schrieben hat. Wenn Sie das nicht glauben, dann schauen
sozialer Marktwirtschaft, dass die Steuerzahler immer Sie sich einmal in Europa um. Über 20 Länder in Europa
stärker – in diesem Jahr sind es 11 Milliarden Euro – Ar- kennen gesetzliche Lohnuntergrenzen.
mutslöhne subventionieren müssen. Das ist nicht der
Sinn sozialer Marktwirtschaft. (Zuruf von der LINKEN: Genau!)

Es macht auch finanzpolitisch Sinn – Stichwort: Auf- Ihre ideologische Borniertheit ist das Einzige, was im
stockerei –, dass wir dafür sorgen, dass nicht immer Moment Mindestlöhnen in Deutschland entgegensteht.
mehr Menschen, die hart arbeiten, sich ergänzendes Ar- Deshalb sage ich Ihnen: Wenn wir in diesem Bereich bis
beitslosengeld II abholen müssen, um überhaupt über die zum 1. Mai finanzpolitisch, wirtschaftspolitisch und so-
Runden zu kommen. zialpolitisch nicht vorankommen, dann werden wir nicht
nur diejenigen Menschen demotivieren, deren Leistung
Jetzt wird Herr Kolb gleich sagen: Aber Herr Heil, die sich tatsächlich lohnen soll, sondern dann werden wir
11 Milliarden Euro werden ja nicht ausschließlich für die Gesellschaft weiter spalten. Sie, meine Damen und
Vollzeitbeschäftigte ausgegeben. – Ich kenne diese Herren von der schwarz-gelben Koalition, sind die Spal-
(B) Phrase. Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Erstens. Auch ter in diesem Land. Sie vertiefen die Spaltung zwischen (D)
Vollzeitbeschäftigte werden auf diese Weise subventio- Geringverdienern und Arbeitslosen.
niert. Das werden Sie nicht leugnen.
(Pascal Kober [FDP]: 4 000!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Zweitens. Selbst wenn nicht alle, die auf diese Weise
subventioniert werden, Vollzeitbeschäftigte sind, stellt
sich doch nach wie vor die Frage, warum Sie Teilzeitbe- Hubertus Heil (Peine) (SPD):
schäftigten zumuten wollen, Löhne in Höhe von 3 oder Nur noch dieser Gedanke. – Wenn Herr Westerwelle,
4 Euro zu akzeptieren der derzeitige Parteivorsitzende der FDP, wiederum das
Spiel betreibt, Geringverdiener gegen Arbeitslose auszu-
(Pascal Kober [FDP]: Das ist nicht wahr, Herr spielen, dann kann ich nur sagen: Das ist weder christ-
Heil!) lich noch liberal, sondern es ist zynisch. Das merken die
und ergänzendes Arbeitslosengeld II vom Amt abholen Leute. Deshalb werden Sie die Quittung bekommen.
zu müssen. Das macht keinen Sinn. Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
GRÜNEN)
Ein Mindestlohn macht sowohl ordnungspolitisch Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
und finanzpolitisch als auch wirtschaftspolitisch durch- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb
aus Sinn. Sosehr ich dagegen bin, unsere Exporterfolge für die FDP-Fraktion.
kleinzureden und zu glauben, wir müssten schlechtere
Produkte herstellen, damit andere Länder in Europa bes- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
sere Chancen haben, so sehr bin ich der Meinung, dass
wir eine stärkere Binnennachfrage in Deutschland brau- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
chen. Da spielt – nicht nur, aber auch – die Frage von Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
verbindlichen Lohnuntergrenzen eine Rolle; denn eine Mit den Anträgen der Linken, Herr Kollege Ernst, ist es
solche Untergrenze würde das gesamte Tarifgefüge sta- ein bisschen wie mit einem schlecht gemachten Ad-
bilisieren und dazu führen, dass Menschen mehr Geld in ventskalender: Egal welches Türchen Sie aufmachen, es
der Tasche haben. Das sind gerade Menschen mit einem ist immer das Gleiche dahinter.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8937
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) länder, genauer gesagt aus dem Bundesland Branden- (C)
burg. Auch nach einem Jahr Rot-Rot können Sie es uns
So ist es auch heute bei Ihrem Antrag. Sie haben ge-
nicht anlasten, dass dort eine Arbeitslosigkeit von 20 bis
kreißt, und am Ende kommt die Forderung nach einem
25 Prozent herrscht, je nach Region. Ich komme aus ei-
gesetzlichen Mindestlohn heraus. Ich glaube – in diesem
ner Region mit sogar deutlich mehr als 25 Prozent Ar-
Punkt unterscheiden wir uns sehr deutlich von Ihnen –,
beitslosigkeit.
dass Sie da das falsche Pferd satteln.
Nun möchte ich von Ihnen wissen: Was hat es denn
Wir reden heute über einen gesetzlichen Mindest-
dem Osten genutzt, dass dort seit 20 Jahren mit so gerin-
lohn und am Freitag über einen Branchenmindestlohn
gen Löhnen für diese Region sogar noch Werbung
für die Zeitarbeit. Ich will mich deswegen heute auf die
gemacht wurde, wenn dort gleichzeitig eine so große
Frage des gesetzlichen Mindestlohns konzentrieren. Die-
Langzeiterwerbslosigkeit herrscht? Was ist denn der
ses Gesetz würde bundesweit gelten. Wenn Sie ernsthaft
Standortvorteil von Niedrigst- und Billiglöhnen für den
glauben, mit einem bundesweit geltenden gesetzlichen
Osten?
Mindestlohn in Höhe von 10 Euro positive Beschäfti-
gungseffekte erzielen zu können, dann sind Sie falsch (Beifall bei der LINKEN)
gewickelt. Es gibt glaubwürdige Untersuchungen, die
belegen, dass das gerade zulasten der neuen Länder ge- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
hen würde. Wir mögen die gleiche Medaille anschauen, aber se-
(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!) hen zwei verschiedene Seiten. Ich glaube, dass wir in
den 20 Jahren seit der deutschen Einheit eine wirklich
Es wäre vergleichbar mit einem Morgenthau-Plan für die erfolgreiche Aufbauarbeit geleistet haben. Ich glaube
neuen Länder, wenn man ihnen nicht mehr gestatten auch, dass es in vielen Bereichen gelungen ist, moderne
würde, ihre komparativen Vorteile auszunutzen, wenn Arbeitsplätze zu entwickeln, die sich übrigens auch, was
Sie also alle über einen Kamm scheren würden. die Löhne, die gezahlt werden, anbelangt, mit Regionen
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Nied- im Westen vergleichen lassen, vielleicht nicht mit den
riglöhne in Ostdeutschland sind eine Wachs- Spitzenregionen, aber mit anderen durchaus.
tumsbremse, Herr Kollege!)
Natürlich gibt es nach wie vor Bereiche, in denen wir
Herr Kollege Ernst, wir haben doch keine Probleme dort, Probleme haben. Aber denen werden Sie nicht dadurch
wo es eine gute Infrastruktur gibt, wo es Flughäfen und helfen, dass Sie die Löhne, die sich heute etwa bei der
Anschluss an das Schienennetz und an Autobahnen gibt. Hälfte Ihrer Mindestlohnforderung bewegen, sozusagen
über Nacht verdoppeln
(B) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warum wan- (D)
dern die Leute aus Ostdeutschland ab?) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das geht doch nicht über Nacht, Herr
Ich nenne das Rhein-Main-Gebiet, das Rhein-Neckar-
Kolb!)
Gebiet und das Gebiet um Hamburg herum. Die Pro-
bleme traten in den ländlichen Regionen auf, wo bisher und dann auf ein Wunder hoffen, dass die Unternehmen,
niedrigere Löhne gezahlt werden, weil höhere Löhne die bisher Schwierigkeiten hatten – schauen Sie sich
einfach nicht zu erwirtschaften sind. Denn am Ende doch einmal die Bilanzen der Unternehmen in den neuen
müssen die Kosten für einen Arbeitsplatz wieder herein- Ländern an –, in der Lage wären, diese Löhne dann auch
geholt werden. Ich glaube, es wäre für die neuen Länder tatsächlich zu zahlen. Sie werden erleben, Frau Kollegin
fatal, wenn Sie sich mit Ihrem Programm durchsetzen Golze, dass massenhaft Arbeitsplätze verloren gehen.
könnten. Es liegen Gutachten vor, die besagen, dass 1,5 bis 2 Mil-
lionen Arbeitsplätze in den neuen Ländern bedroht sind
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: oder mit Sicherheit verloren gehen, wenn sich Ihre
Herr Kollege Kolb, ich darf Sie einmal unterbrechen. Lohnforderung durchsetzen würde.
Die Kollegin Golze möchte gerne eine Zwischenfrage Deswegen heißt es: Wir müssen mit dem Aufbau der
stellen. Beschäftigung voranschreiten und industrielle Struktu-
ren entwickeln. Aber wir dürfen nicht den Fehler ma-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): chen, den Leuten dort, wo es noch Probleme gibt, den
Ja, bitte. Boden unter den Füßen wegzuziehen und den Arbeits-
verhältnissen die Grundlage zu nehmen, indem man über
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nacht die Lohnkosten verdoppelt.
Bitte. (Zuruf der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warum hauen Ich will zu einem zweiten Punkt kommen; der Kol-
die alle ab aus Ostdeutschland? Unter anderem lege Heil hat ihn schon angesprochen. Ich finde es be-
wegen der niedrigen Löhne!) merkenswert, Herr Kollege Heil, dass Sie gesagt haben,
es habe nichts mit sozialer Marktwirtschaft zu tun, wenn
Diana Golze (DIE LINKE): Löhne aufgestockt würden. Es sind 50 Milliarden Euro
Vielen Dank, Herr Kolb, dass Sie die Zwischenfrage Steuergelder genannt worden, die angeblich umsonst
erlauben. – Ich komme aus einem der östlichen Bundes- verausgabt würden.
8938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) Ich will nur darauf hinweisen, dass dieses Konzept Ihr Ich finde, wir wenden hier eine sehr konsequente Sicht- (C)
Konzept gewesen ist. Sie waren Generalsekretär der weise an. Ich warne davor, das rückgängig zu machen.
SPD, als man sich entschieden hat, genau dieses zu tun. Ich beobachte, wie Sie sich in der SPD mit der
Agenda 2010 und der Hartz-Gesetzgebung quälen, die
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, noch Sie damals auf den Weg gebracht haben, wie Sie sie
nicht!) Stück für Stück rückabwickeln wollen. Sie sollten das
– Nein, es ist damals die Forderung der SPD gewesen. aber nicht mit Hinweisen auf die soziale Marktwirtschaft
Ich habe Bundeskanzler Schröder noch im Ohr, der ge- verbrämen, die nicht kompatibel sind. Sie haben Ihre
sagt hat – Herr Heil, hören Sie gut zu –: Wir haben Maßnahmen damals sozialpolitisch und marktwirtschaft-
5 Millionen Arbeitslose in Deutschland, und deswegen lich begründet.
braucht Deutschland einen Niedriglohnsektor. – Das war
Politik der SPD, als Sie Generalsekretär dieser Partei Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
waren. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
(Beifall bei der FDP – Max Straubinger [CDU/
CSU]: Ja, ja, ja! – Zuruf von der FDP: Hört!
Hört!) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Ich freue mich auf eine Zwischenfrage des Kollegen
Heute muss man natürlich feststellen, dass Sie in machen Heil.
Dingen erfolgreich waren, in dieser Hinsicht vielleicht
sogar zu erfolgreich. Aber am Ende bleibt stehen – das
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
war ja auch Ihre Grundüberlegung, und das hat etwas
mit sozialer Marktwirtschaft zu tun –, dass diejenigen, Herr Kollege Kolb, Sie haben mich persönlich ange-
die aufstocken, zu einem guten Teil etwas erwirtschaften sprochen. Ich will die ganze Geschichte so nicht stehen
und dass der Staat dann ergänzend das hinzugibt, was er- lassen. Ich will Ihnen eines sagen: Ich stehe unabhängig
forderlich ist, um den Gesamtbedarf abdecken zu kön- davon, wann ich Generalsekretär war – Sie sollten das
nen. einmal nachrechnen, aber das ist nicht der Gegenstand
der Diskussion –, zu dem, was wir damals gemacht ha-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie viel wollen ben – ich sage das nach wie vor –, nämlich dafür zu sor-
Sie denn davon noch haben? Wo soll das en- gen, dass Arbeit in Deutschland zumutbar sein muss.
den? 10 Milliarden? 20 Milliarden?) Das war der Kern der Reformen; so ist es. Wenn es so
ist, dass jede Arbeit zumutbar ist, muss dafür gesorgt
(B) So läuft es. werden – früher haben wir das mit der Tarifautonomie (D)
Jetzt können wir uns die Gruppe der Aufstocker noch geschafft, heute nicht mehr –, dass Menschen, die hart
einmal differenzierter anschauen. Sie wissen so gut wie arbeiten, von der Arbeit leben können.
ich, dass 75 Prozent der Aufstocker weniger als 800 Euro (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das hat sich in
verdienen. Das ist in der Regel nicht Ergebnis der Tatsa- den letzten sechs Jahren nicht geändert!)
che, dass sie zu niedrige Stundenlöhne haben, sondern
dass sie von der Stundenzahl her zu wenig arbeiten, um Das ist der Punkt. Das ist kein Gegensatz; es geht hier
ein bedarfsdeckendes Gesamteinkommen zu erzielen. – anders als Sie behaupten – nicht darum, dass wir etwas
„rückabwickeln wollen“.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo liegen denn
die Stundenlöhne bei Verkäuferinnen heutzu- Die Arbeitsmarktreformen auf der einen Seite und
tage? Wissen Sie das?) Mindestlöhne auf der anderen Seite gehören zusammen;
das sind zwei Seiten derselben Medaille.
Bei denjenigen, die über 800 Euro liegen, handelt es sich
zu einem ganz erheblichen Teil um Verheiratete mit Kin- (Zuruf von der CDU/CSU: Warum habt ihr das
dern, denen Sie auch mit einem Stundenlohn von dann nicht gemacht?)
10 Euro – Sie liegen ja noch ein bisschen niedriger, Ich will Ihnen dazu ganz deutlich sagen: Es gab eine
wenn ich es richtig verfolge –, wie ihn sich die Kollegen Zeit, in der Gewerkschaften und Sozialdemokraten mit-
von der Linken vorstellen, nicht helfen würden, weil ein einander der festen Überzeugung waren, dass man faire
Familienvater – verheiratet, die Ehefrau arbeitet nicht Löhne mit der Tarifautonomie in Deutschland hinbe-
mit, zwei Kinder – einen Stundenlohn von 12 bis kommt. Sie müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass es
13 Euro bräuchte, um am Ende transferbezugsfrei zu Bereiche gibt, in denen weder Arbeitgeberverbände
werden. In diese Größenordnung kann man nicht gehen. noch Gewerkschaften so mobilisierungsfähig sind, dass
anständige Tariflöhne möglich sind.
Deswegen empfinde ich Ihre Rechnung als Milch-
mädchenrechnung. Wenn das Ergebnis wäre, dass vor al- (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Bereiche,
len Dingen in den neuen Ländern Arbeitsplätze verloren Branchen! Das ist es! Nicht alle!)
gingen, würden wir wahrscheinlich am Ende, gesamtfis-
kalisch gesehen – auch was die Auswirkung auf die So- Herr Kolb, ich frage Sie: Glauben Sie, dass es fair und
zialversicherung anbelangt –, schlechter dastehen. anständig ist, dass wir Menschen im Friseurgewerbe in
Thüringen mit 3,18 Euro pro Stunde abspeisen? Glauben
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Inkonsequent!) Sie, dass diese Menschen arbeitslos würden, wenn ihr
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8939
Hubertus Heil (Peine)
(A) Stundenlohn ein bisschen erhöht würde? Ich kann das (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE (C)
nicht glauben. GRÜNEN]: Ich rate zur Sonderfraktionssit-
zung der FDP! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
(Beifall bei der SPD) Die Frage ist: Wie lange ist Westerwelle noch
im Amt?)
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Kollege Heil, ich glaube nicht ernsthaft, dass Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP):
das, was Sie vorgetragen haben, Ihrer Erinnerung ent- Wir reden hier über das wichtige Thema Mindestlohn.
spricht. Ich glaube nicht, dass die SPD, die auf festen Darüber wird oft sehr ideologiebehaftet gesprochen.
Füßen stand und Erfahrungen mit den Betrieben hatte, Stimmen Sie mir zu – es wurde über solche Zahlen ge-
damals einfach übersehen hat, dass es bei der Zumutbar- sprochen –, dass es weder in Brandenburg noch in
keit von Arbeit dazugehört, entsprechende Regelungen Mecklenburg-Vorpommern einen einzigen Landkreis
zu Lohnuntergrenzen zu treffen. Nein, es war umgekehrt mit einer Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent gibt?
– ich habe die Debatten hier im Haus verfolgt –: Sie ha- Stimmen Sie mir auch zu, dass man solche Kennzahlen,
ben es bewusst so gemacht. Die Argumentation war: Je- gerade wenn man über einen gesetzlichen Mindestlohn
der Beitrag – auch ein kleiner Beitrag –, den ein Arbeits- in Deutschland spricht, kennen müsste, erst recht, wenn
loser selbst leistet, ist hilfreich; er reduziert die von der man aus diesen Regionen kommt?
Gesellschaft insgesamt zu erbringenden Transferkosten.
Sie wollten das genau so.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Sie haben die Löhne von 3,18 Euro pro Stunde ange- Herr Kurth, ich kann Ihnen zustimmen, was die statis-
sprochen. Ich muss darauf hinweisen, dass sich die Si- tische Bewertung anbelangt. Natürlich würde man sich
tuation damals schon genau so darstellte, wie sie heute wünschen – auch beim zweiten Punkt stimme ich zu –,
ist; es gab schon damals diese Löhne. Sie stellen sich dass die Kollegin der Linken ihre Argumentation besser
heute hierhin und sagen: Das haben wir ganz anders ge- vorbereitet hätte.
meint.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Vollbeschäfti-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, nein, das gung in Mecklenburg-Vorpommern!)
habe ich nicht gesagt!)
Ich komme zum Schluss, Herr Kollege Heil. Es gibt
Dazu muss ich sagen: Die Rahmenbedingungen wa- – das haben Sie ja gesagt – in 20 anderen europäischen
ren schon damals – 2004/2005, als Sie die Gesetze auf Ländern Mindestlöhne. Man muss aber auch ihre Höhe
sehen. In Bulgarien liegt er bei 71 Cent. In Luxemburg
(B) den Weg gebracht haben – genau so, wie sie sich heute (D)
präsentieren. Nur haben Sie Ihre Argumentation geän- liegt er bei den hier schon zitierten 9,61 Euro. Der
dert – Sie haben sich um 180 Grad gedreht –: Vorwärts, Durchschnittslohn, nach Arbeitnehmern gewichtet,
Genossen, es geht zurück! Sie wollen nichts mehr mit liegt in Europa – darüber hat uns das Bundesministerium
der Agenda 2010 zu tun haben; Sie wickeln sie ab. Das für Arbeit und Soziales informiert – bei 5,20 Euro. Mit
ist die Wahrheit; das muss man hier so deutlich sagen. einem Mindestlohn in Höhe von 10 Euro – das ist das,
was Sie, Herr Kollege Ernst, vorschlagen – wären wir al-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Herr Kolb, wir len anderen Mitgliedstaaten weit voraus. Wie es mit der
haben 2010! Dezember 2010! Es geht um europäischen Solidarität vereinbar sein soll, dass
2020!) Deutschland einen Mindestlohn einführt, der über dem
eines Landes liegt, in dem die Lebenshaltungskosten
Wir lassen Ihnen das nicht durchgehen.
deutlich höher sind als in Deutschland, also in
Wir diskutieren jetzt schon wieder so intensiv. Die Luxemburg, erschließt sich mir nicht.
Kollegen von der Linken freuen sich, weil sie nämlich Ich komme auf das Anfangsbild zurück. Wir machen
hoffen, dass sie mit ihren Maximalforderungen am Ende das Türchen des Adventskalenders wieder zu. Es hat
ein bisschen ein Geschäft machen können, wenn die sich heute nicht gelohnt, einen Blick hineinzuwerfen.
SPD im Fokus steht. Aber ich fürchte, Sie werden uns auch künftig mit Ihren
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Reden Sie doch Vorschlägen nicht verschonen.
mal über die Menschen und nicht über die Par- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
teitaktik!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Man kann Ihnen die Diskussion trotzdem nicht ersparen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin
Herr Kollege Kolb, ich muss Sie noch einmal unter- Golze.
brechen. Der Kollege Kurth auf der rechten Seite von Ih-
nen möchte eine Zwischenfrage stellen.
Diana Golze (DIE LINKE):
Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Herr Kolb und wer-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): ter Herr Kollege – ich weiß den Namen des Kollegen,
Ich finde, das gehört zur Debattenkultur dazu. Bitte. der nach der Statistik gefragt hat, nicht mehr –,
8940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Diana Golze
(A) (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Kurth!) Ähnliches trinken sollten. Ich kenne Ihren Namen näm- (C)
lich auch nicht. Das können wir an dieser Stelle viel-
ich weiß nicht, ob es besser ist, wenn es nur 24 oder
leicht beiseite schieben.
23 Prozent Arbeitslose sind.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Unter 20!) Sie haben Herrn Kolb direkt nach einer Zahl gefragt.
Sie sagten, in Ihrem Landkreis liege die Arbeitslosig-
Das finde ich immer noch furchtbar. Die Situation ist keit bei 25 Prozent.
trotzdem dramatisch.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Region!
Zweitens. Ich habe während meines Studiums pflicht- Wer zuhören kann, ist klar im Vorteil!)
gemäß drei Semester lang einen Kurs absolviert, in dem
es um die Erstellung von Statistiken, um Berechnungs- In keinem Landkreis in Meck-Pomm liegt die Arbeitslo-
methoden ging. sigkeit über 18 Prozent. Also kann sie auch in der ge-
samten Region nicht über 18 Prozent liegen. Das kann
(Max Straubinger [CDU/CSU]: In der Statistik man sich nicht schönrechnen.
kennen Sie sich gut aus!)
Sie haben nach einer Zahl gefragt, diese Zahl hinter-
Der erste Satz, den ich von meinem Professor gehört her aber selbst aus dem Gefecht genommen, indem Sie
habe, war: Traue nie einer Statistik, die du nicht selbst gesagt haben, dass diese Zahl gefälscht sei. Ich frage Sie:
gefälscht hast. Warum nutzen Sie eine Zahl, die aus Ihrer Sicht ge-
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Ja! Genau!) fälscht ist?
Sie wissen selbst, nach welchen Methoden Sie die Ar- Ich sage Ihnen noch eines: Aus meiner Sicht ist es
beitslosenstatistiken zusammenstellen. sehr schade, dass wir in Meck-Pomm und Brandenburg
eine hohe Arbeitslosigkeit haben. Ich glaube aber auch,
(Holger Krestel [FDP]: Da haben Sie recht! dass das etwas mit politischen Entscheidungen zu tun
Von Fälschungen verstehen Sie was! Sie haben hat; denn Thüringen – da komme ich her – zieht in Sa-
sogar die Wahlen gefälscht!) chen Arbeitslosigkeit zurzeit im positiven Sinne an
Sie wissen selbst, dass Sie jeden, der in irgendeiner Nordrhein-Westfalen, wo Rot-Grün mit Unterstützung
Maßnahme steckt oder eine Mehraufwandsentschädi- der Linken regiert, vorbei.
gung erhält, herausrechnen. Sie wissen, dass Sie die (Beifall bei der FDP)
Menschen herausrechnen, deren Ehepartner einen Lohn
beziehen, der knapp über dem Bedarfssatz liegt. Sie wis- Wir werden in den nächsten Monaten Nordrhein-Westfa-
sen, dass diese Menschen in keiner Statistik auftauchen. len eingeholt haben. Das liegt an politischen Entschei-
(B) dungen. (D)
Ich kann es nicht nachvollziehen, dass Sie sich mit
statistischen Angaben herausreden und sagen, dass es Danke.
keine Landkreise gibt, in denen die Arbeitslosigkeit bei
über 25 Prozent liegt. Ich finde, jeder Erwerbslose, der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
qualifiziert ist und arbeiten möchte, ist einer zu viel, und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
davon gibt es viele im Osten. Sie verhindern mit einer In Thüringen gibt es keine FDP in der Landes-
absolut verbohrten Ideologie – das sage ich Ihnen jetzt regierung, sondern einen sozialdemokratischen
einmal so –, dass diese Leute in Lohn und Brot kommen. Arbeitsminister! Herzlichen Dank! Eigentor!)

(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:


sagt gerade die Richtige!)
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer
Ich kann diese Diskussion nicht mehr nachvollzie- für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
hen. Ich wünsche mir von einer christlich-liberalen
Bundesregierung, dass sie auch an die Menschen denkt, Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
die in diesem Jahr keinen Weihnachtsbaum haben – Ent- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
sprechendes haben Sie in der letzten Sitzungswoche be- Kolb, bei Ihren Reden frage ich mich immer, ob Sie Ihre
schlossen –, weil sie ihn sich nicht leisten können. Da- Propaganda eigentlich selbst noch glauben.
runter sind auch Menschen aus dem Osten, die
40 Stunden in der Woche arbeiten gehen, dabei aber so (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
schlecht verdienen, dass sie ergänzende Hartz-IV-Leis- bei der SPD und der LINKEN)
tungen beziehen müssen. Daran sind Sie schuld.
In der Bevölkerung glaubt jedenfalls niemand mehr
(Beifall bei der LINKEN) diese Propaganda.
Ich habe in der letzten Woche in der Berliner Zeitung
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gelesen, dass allein im letzten Jahr 3 000 Arbeitsplätze
Herr Kollege Kurth, bitte. in der fleischverarbeitenden Industrie aus Dänemark
in das Billiglohnland Deutschland verlagert worden
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): sind. In Frankreich passiert gerade das Gleiche. Die fran-
Frau Kollegin, zunächst einmal stelle ich fest, dass zösische fleischverarbeitende Industrie hat eine Vereini-
wir zusammen einmal einen Kaffee, einen Matetee oder gung gegen Sozialdumping gegründet und die Euro-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8941
Brigitte Pothmer
(A) päische Union aufgefordert, Deutschland zu einem Diese Bundesregierung hat sich in dieser Frage ideo- (C)
Mindestlohn zu drängen. logisch eingemauert. Die schlimmsten Ideologen sitzen
in der FDP.
Kommen wir zu der Situation in Deutschland. Neh-
men wir als Beispiel das Land Niedersachsen; da kenne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ich mich gut aus. Dort arbeiten sehr viele Beschäftigte in sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
der fleischverarbeitenden Industrie für weniger als KEN – Zurufe von der FDP: Oh!)
5 Euro die Stunde.
Können Sie sich noch an den Satz von Guido
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sauerei!) Westerwelle erinnern: „Mindestlohn ist DDR pur ohne
Mauer“? Was die DDR betrifft, kennen Sie sich ja offen-
Das geschieht – jetzt richte ich mich an Sie, Herr sichtlich aus, wenn man Herrn Kubicki Glauben schen-
Wadephul – mit dem Segen der niedersächsischen Lan- ken darf.
desregierung. Die niedersächsische Landwirtschaftsmi-
nisterin, Frau Grotelüschen, hat in einer Plenardebatte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gesagt, Löhne für 5 Euro die Stunde seien durchaus ak- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
zeptabel. KEN)

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist Die DDR ist implodiert, und die FDP steht vor genau
unchristlich!) diesem Prozess.

Für Frau Grotelüschen gilt, glaube ich, der Satz von Karl (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kubicki!)
Marx, nach dem das gesellschaftliche Sein das Bewusst- Bei Ihnen ist es genau so wie in den letzten Tagen der
sein bestimmt. DDR.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Genau! Diese
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Realitätsverweigerung!)
LINKEN – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Auch das Sein ihres Mannes!) Da war es auch die Führung, da waren es Herr Honecker
und Herr Mielke, die am meisten überrascht waren, als
Frau Grotelüschen hängt selber sehr tief drin in diesen der Zusammenbruch kam. So ist es auch bei Ihnen.
Geschäften mit den Billiglöhnen. Ihr Mann ist mit
14 Prozent an einem Unternehmen beteiligt, das von die- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sen Schmutzlöhnen profitiert. Sie selber hat in den letz- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
(B) ten Jahren als Prokuristin in der fleischverarbeitenden KEN – Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: (D)
Industrie Verträge abgeschlossen, die Löhne von Vorsicht mit den Vergleichen!)
3,50 Euro pro Stunde vorsahen. Herr Wadephul, solange Diese Bundesregierung arbeitet gerade mit Hoch-
in Ihrer Partei Menschen, die diese Machenschaften be- druck daran, Deutschlands Ruf in Europa zu ruinieren.
treiben, ein Ministerinnenamt bekleiden können, Aber das scheint Ihnen nicht zu reichen. Sie arbeiten mit
(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Vorsicht!) Hochdruck auch daran, Europas Ruf in Deutschland zu
ruinieren. Denn das wird passieren, wenn Sie nicht end-
so lange wird Ihnen niemand glauben, dass Sie gegen lich Ihren Widerstand gegen die Mindestlöhne aufgeben.
Lohndumping sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und bei der SPD)
bei der SPD und der LINKEN)
Sie leisten selber einen Beitrag dazu, dass Deutsch- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
land zum Niedriglohnsektor für ganz Europa wird. Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Der Kol-
Schon jetzt werden Millionen Schweine zwischen Däne- lege Blumenthal würde gerne eine Zwischenfrage stel-
mark und Deutschland hin- und hertransportiert. Was len.
glauben Sie, was nach dem 1. Mai 2011 passiert, wenn
die Arbeitnehmerfreizügigkeit umgesetzt wird? Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Zwischen Ja, bitte.
Dänemark und Deutschland gar nichts!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Oh! Wie schön!
Das Problem wird um ein Vielfaches vergrößert, wenn Fast 3 Prozent!)
wir nicht das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit
am gleichen Ort“ in ganz Europa, das heißt auch in Sebastian Blumenthal (FDP):
Deutschland, durchsetzen. Kollegin Pothmer, Sie haben gerade erneut das Zitat
wiederholt, die FDP befinde sich zurzeit im gleichen Zu-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stand, in dem sich auch die DDR befunden habe.
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN – Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! Wolfgang
Also auch 10 Euro in Moldawien, oder wie?) Kubicki!)
8942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es geht um die Frage: Führt die Arbeitnehmerfreizü- (C)
Ich habe Herrn Kubicki zitiert. gigkeit zu Problemen? Die Bundesagentur für Arbeit
geht jedenfalls davon aus, dass besonders sehr viele an-
gelernte bzw. ungelernte Beschäftigte nach Deutschland
Sebastian Blumenthal (FDP):
kommen werden. Das IAB weist darauf hin, dass es
Ja. – Ich möchte nachfragen: Möchten Sie hier vor Schmuddelfirmen, die Hungerlöhne zahlen, geben wird.
uns und in der Öffentlichkeit wiederholen, dass sich der Alle Experten raten dazu, einen gesetzlichen Mindest-
Zustand der FDP mit dem Zustand der sogenannten lohn einzuführen, um dieses Problem zu bekämpfen.
Deutschen Demokratischen Republik vergleichen lässt? Auch die Arbeitgeber sind doch längst dafür, Mindest-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das sagt löhne einzuführen.
Wolfgang Kubicki!) (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist nicht
Möchten Sie diese Behauptung öffentlich bestätigen? wahr! Die sind gegen gesetzliche Mindest-
löhne, Frau Kollegin Pothmer! – Dr. Heinrich
L. Kolb [FDP]: Nein! Die Arbeitgeber sind
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): doch nicht für gesetzliche Mindestlöhne! Was
Ich habe Herrn Kubicki zitiert. reden Sie denn da?)
(Sebastian Blumenthal [FDP]: Ist das Ihre Auch sie sind gegen diesen ruinösen Wettbewerb, gegen
eigene Meinung?) Lohndumping.
Ich glaube, Zitate sind im Bundestag erlaubt. Fairer Wettbewerb und faire Löhne sind nicht nur für
die Beschäftigten, sondern auch für die Arbeitgeber und
(Sebastian Blumenthal [FDP]: Das heißt, es ist vor allen Dingen für die Steuerzahler ein Thema. Schon
nicht Ihre Meinung? Ist das richtig? – Gegen- jetzt könnten wir jedes Jahr 1,5 Milliarden Euro mehr in
ruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Bildung investieren, wenn wir nur einen Mindestlohn
Können Sie das ausschließen, Herr Kollege?) von 7,50 Euro pro Stunde hätten.
– Ich habe nur ein Zitat von Herrn Kubicki vorgetragen.
Es wäre gut, wenn Sie auf die Leute aus Ihren Landes- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
verbänden, die sich zum Zustand Ihrer Partei äußern, hö- Frau Kollegin, ich muss Sie noch einmal unterbre-
ren würden. chen. Der Herr Kollege Kolb würde gerne noch eine
Zwischenfrage stellen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(B) bei der SPD und der LINKEN – Sebastian (D)
Blumenthal [FDP]: Das überlassen Sie uns! Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das machen wir auch! – Hubertus Heil [Peine] Nein, Herr Kollege Kolb, Sie hatten nun wirklich hin-
[SPD]: Das war ein klassisches Eigentor, Herr reichend Redezeit.
Kollege!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber Sie noch
Meine Damen und Herren, Deutschland hat inzwi- nicht, Frau Kollegin!)
schen den größten Niedriglohnsektor in ganz Europa. Üben Sie sich ein bisschen in Bescheidenheit.
6,6 Millionen Beschäftigte arbeiten in Deutschland un-
terhalb der Niedriglohnschwelle. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Wegen der
früheren rot-grünen Politik!) Ich will deutlich sagen: Wir brauchen einen gesetzli-
chen Mindestlohn. Mit der Salamitaktik kommen wir
Fast 2 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten für einfach nicht weiter. Herr Wadephul hat gesagt: Beim
Löhne unterhalb von 5 Euro die Stunde. Dies ist ein Mindestlohn in der Zeitarbeit wird sich etwas tun. – Das
deutsches Alleinstellungsmerkmal, das der Tatsache zu löst aber nicht das Problem. Wird dadurch etwa das Pro-
verdanken ist, dass wir zu den wenigen Ländern in Eu- blem im Wach- und Sicherheitsgewerbe gelöst? Das Pro-
ropa gehören, in denen es keinen Mindestlohn gibt. blem, das in der fleischverarbeitenden Industrie besteht,
habe ich schon angesprochen. Wo, bitte schön, löst der
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Mindestlohn in der Zeitarbeit die Probleme in diesen Be-
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD –
reichen?
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Die ande-
ren hatten keinen Gerhard Schröder! Das ist Jetzt wende ich mich an die CDU/CSU, an diejeni-
der Unterschied!) gen, die das C in ihrem Namen führen.
Dieses Problem wird sich durch die Arbeitnehmer- (Pascal Kober [FDP]: Ach! Nicht schon
freizügigkeit verschärfen. Sie gefährden mit Ihrer Politik wieder diese alte Leier!)
den sozialen Frieden in diesem Land, weil Sie die Ge-
Aus meiner Sicht steht das C für Helfen, Teilen und Ge-
ringverdiener in Deutschland und die Bezieher von
rechtigkeit.
Dumpinglöhnen in unseren Nachbarländern gegeneinan-
der ausspielen. Das ist eine ganz miese Nummer, die wir (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nicht bei
von Ihnen allerdings schon kennen. christlichen Gewerkschaften!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8943
Brigitte Pothmer
(A) Aber Sie machen mit Ihrer Politik genau das Gegenteil. liche Werte kämpfen, verehrte Kolleginnen und Kolle- (C)
Sie machen keine Politik für diejenigen, die Hilfe brau- gen.
chen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Doch! Wir Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schaffen mehr Arbeitsplätze in unserem NEN]: Wollen Sie sagen, dass Toleranz gegen-
Land!) über dem Islam unchristlich wäre?)
Sie machen eine Politik für diejenigen, die ein großes – Das hat nichts mit Toleranz zu tun, sondern das hat mit
Portemonnaie haben. Das ist nicht nur unsozial. Das ist Respekt vor Religionen zu tun, lieber Herr Kollege
auch unchristlich. Beck.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Auch vor dem
sowie bei Abgeordneten der SPD – Pascal Islam!)
Kober [FDP]: So ein Quatsch! Diese Regie-
Wir behandeln zum wiederholten Male einen Antrag
rung sorgt für mehr Arbeitsplätze in diesem
der Linken-Fraktion für gesetzliche Mindestlöhne hier
Land! Sie brauchen doch die Arbeitslosen! Die
im Parlament. Diesmal wird es mit europäischen Ge-
sind schließlich für Ihre Selbstrechtfertigung
sichtspunkten begründet. Aber wie der Kollege Kolb
notwendig! Wir kämpfen für die Menschen!)
und der Kollege Wadephul bereits ausgeführt haben, ist
Jetzt will ich Ihnen sagen, worin der Unterschied zwi- der Kollege Ernst letztendlich nicht sehr auf diese euro-
schen der CDU/CSU und den Grünen besteht: päischen Gesichtspunkte eingegangen. Wahrscheinlich
wäre ihm bei einem europäischen Mindestlohn auch
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Oh! Jetzt bin
schwindlig und flau in der Magengrube geworden, wenn
ich aber gespannt! – Dr. Johann Wadephul
er das deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
[CDU/CSU]: Worin denn?)
hätte verklickern müssen; denn wir können uns ausma-
Sie kämpfen im Wesentlichen für christliche Symbole, len, dass wir angesichts der 20 Lohnuntergrenzen, die es
zum Beispiel in Schulen oder Amtsstuben. Wir kämpfen in Europa gibt, bei einem Mindestlohn von ungefähr bei
für christliche Werte. 3 Euro wären, werter Kollege Ernst.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deshalb ist es richtig und sinnvoll, auf die verschiede-
sowie bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei nen Tariflandschaften und auch auf die entsprechenden
der CDU/CSU und der FDP – Pascal Kober Rahmenbedingungen in den einzelnen Regionen Bezug
[FDP]: Interessant! Was wohl die Menschen zu nehmen. Das gilt für die Länder in Europa ebenso wie
(B) mit Behinderung in Deutschland von dieser für die Bundesländer und die einzelnen Regionen in (D)
Aussage halten!) Deutschland. Deshalb ist ein gesetzlicher Mindestlohn,
wie Sie ihn fordern, nur Gift und keine Bereicherung für
Von Ihrer Art der Frömmigkeit können sich die Leute
Arbeitsplätze in unserem Land.
nichts, aber auch gar nichts kaufen. Eines kann ich Ih-
nen, gerade kurz vor Weihnachten, sagen: Maria und
Josef, selbst das Christkind und die zwölf Apostel wären Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
für einen gesetzlichen Mindestlohn. Herr Kollege Straubinger, der Kollege Ernst würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Na, na,
na! Jetzt ist aber langsam Schluss! Das ist
Max Straubinger (CDU/CSU):
doch peinlich!)
Dem kann ich es nicht abschlagen.
Fröhliche Weihnachten!
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Der hat doch
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, eben schon geredet! Der hat schon alles ge-
bei der SPD und der LINKEN – Hubertus Heil sagt! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Könnt ihr
[Peine] [SPD]: Amen! Halleluja!) das nicht in Bayern miteinander bereden?)
– In Bayern muss der Kollege Ernst seinen Parteitag be-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sänftigen; da hat er keine Zeit.
Nun hat das Wort der Kollege Max Straubinger für
die CDU/CSU-Fraktion.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ja, aber ihr müsst schauen, dass ihr irgendwann wie-
der über 40 Prozent kommt. – Herr Straubinger, wollen
Max Straubinger (CDU/CSU): wir doch wieder über das Thema reden! Ich möchte Ih-
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! nen einfach die Frage stellen, ob Sie denn in unserem
Frau Kollegin Pothmer, dass die Grünen für christliche Antrag irgendwo gelesen haben, dass wir einen durch-
Werte kämpfen, merken wir in Bayern anhand diverser schnittlichen Mindestlohn in Europa fordern, wie Sie es
Anträge, etwa denen, dass die Kreuze aus den Klassen- gerade darzustellen versucht haben.
zimmern verschwinden sollen, dass islamische Feiertage
in Bayern eingeführt werden sollen. Das ist offensicht- Max Straubinger (CDU/CSU):
lich das Verständnis der Grünen, die angeblich für christ- Ja, natürlich.
8944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) Klaus Ernst (DIE LINKE): Dementsprechend gibt es richtigerweise sehr viele (C)
Ich bin noch nicht ganz fertig. – Sind Sie denn nicht verschiedene Tarifverträge, weil durch diese Tarifver-
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Mindestlohn in träge die regionalen Besonderheiten und vor allen Din-
Europa, den wir schon in fast allen europäischen Län- gen auch die Wettbewerbsfähigkeit in den jeweiligen
dern haben, natürlich die jeweilige wirtschaftliche Leis- Räumen berücksichtigt werden können. Das ist auch
tungskraft des Landes berücksichtigt – er wird zum Bei- richtig so.
spiel in Frankreich gerade auf 9 Euro erhöht –, weil die
(Zuruf von der LINKEN: Ein Mindestlohn ist
wirtschaftliche Leistungskraft in den einzelnen Regio-
kein Tariflohn!)
nen Europas unterschiedlich ist? Sind Sie ferner bereit
zu akzeptieren, dass wir uns, wenn wir einen gesetzli- Wenn das in der Vergangenheit nicht so gewesen wäre,
chen Mindestlohn einführen, wie es viele andere Länder dann wäre Niederbayern nie zum Aufsteigerland Num-
bereits getan haben, natürlich nicht mit den Leistungs- mer eins geworden. Nur durch die Ansiedlung neuer Be-
schwächsten vergleichen dürfen, sondern dass wir uns triebe und neuer Industrien ist es gelungen, dass das Pen-
mit denen vergleichen müssen, die eine ähnliche wirt- deln aus Niederbayern heraus ein Ende hat und in
schaftliche Leistungsfähigkeit haben? Ist es dann in der Dingolfing,
Folge nicht sinnvoll, dass wir uns, da wir das wirtschaft-
lich leistungsfähigste Land, das konkurrenzfähigste (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warum boomt
Land Europas sind, wie man an unseren Handelsbilanzü- dann der Osten nicht?)
berschüssen sehen kann, eher an dem durchschnittlichen wo ich herkomme, schöne und gute Arbeitsplätze ent-
Lohn, den die leistungsstärksten Länder haben, orientie- standen sind, zum Beispiel bei dem Automobilbauer
ren? BMW.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es ist aber (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber nicht mit
logisch, was er sagt!) niedrigen Löhnen!)

Max Straubinger (CDU/CSU): Herr Kollege Heil und Herr Kollege Ernst, alle Men-
schen dort profitieren davon, weil die Löhne durch das
Es ist logisch. Aber es spricht gegen seinen eigenen
erhöhte Arbeitsplatzangebot insgesamt gestiegen sind.
Antrag.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie sind also für
Klaus Ernst (DIE LINKE): einen bayerischen Mindestlohn?)
Die letzte Frage, die ich anschließen möchte, ist fol- Ein solch starkes Unternehmen ist letztendlich ein
(B) gende: Ist es, Herr Straubinger, im Sinne des Gesetzes Trendsetter, der hinsichtlich der Entlohnung in den ver- (D)
über Wachstum und Stabilität in der Wirtschaft von 1967 schiedensten anderen Bereichen in unserem Land einen
– ausgeglichene Handelsbilanzen, ausgeglichene Leis- Trend setzt.
tungsbilanzen, außenhandelswirtschaftliches Gleichge-
wicht – Es ist deshalb sehr deutlich: Ihre eigene Argumenta-
tion ist gegen einen gesetzlichen Mindestlohn gerichtet,
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Karl Schiller weil ein zu niedriger gesetzlicher Mindestlohn – Sie er-
und Franz Josef Strauß!) kennen das ja indirekt an – keine Wirkung hat und ein zu
nicht richtig, wenn man feststellt, dass es zu Ungleichge- hoher Mindestlohn Arbeitsplätze vernichtet.
wichten in Europa kommen kann, weil sich ein Land Herr Kollege Ernst, Sie legen immer dar, wir hätten
durch Lohndumping Vorteile gegenüber anderen ver- Wettbewerbsvorteile, weil die Löhne so niedrig sind. Die
schafft, und ist es dann nicht sinnvoll, dass das Land mit Arbeitskosten sind gesunken; das ist richtig. Zu den Ar-
der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit par excellence beitskosten gehören aber nicht nur die Löhne. Die Ar-
zumindest das Lohndumping nach unten durch einen ge- beitskosten können bei der Automobilindustrie durch
setzlichen Mindestlohn verhindert? Zulieferungen von Teilen aus anderen Ländern der Welt
(Beifall bei der LINKEN) gesenkt werden. Natürlich bedeutet das dann Wettbe-
werbsvorteile. Es geht also nicht nur um die Arbeitskos-
ten, sondern auch darum, wie wir Wettbewerb insgesamt
Max Straubinger (CDU/CSU):
gestalten.
Herr Kollege Ernst, Sie haben hier vortrefflich gegen
Ihren eigenen Antrag argumentiert. Die deutschen Unternehmen sind sehr erfolgreich,
Herr Kollege Ernst. Das sollten wir durch Ihr Wirt-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was?)
schaftsprogramm nicht unterbinden. Ich habe mich ge-
– Ja, natürlich. – Sie fordern in Ihrem Antrag einen ge- traut, mir die Homepage des Kollegen Ernst anzu-
setzlichen Mindestlohn in ganz Deutschland, unabhän- schauen.
gig von den Voraussetzungen der verschiedenen Regio-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hey! – Klaus Ernst
nen. Diese sind unterschiedlich: Sie sind im Osten
[DIE LINKE]: Hast du das überlebt?)
anders als im Westen, im Norden und im Süden.
Dort steht die schöne Forderung, die EU solle Deutsch-
(Zurufe von der LINKEN)
lands Exporte begrenzen. Herr Kollege Ernst, was heißt
– Ja, natürlich. das denn?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8945
Max Straubinger
(A) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die Überschüsse!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warum denn?) (C)
Wenn wir die Exporte begrenzen, dann werden Arbeits- – Der Mindestlohn stellt eine Einstiegsbarriere dar, weil
plätze bei uns zunichtegemacht. Das ist doch völlig klar. die Jugendlichen noch nicht so gut ausgebildet sind,
Wir produzieren dann weniger und haben damit weniger nicht die entsprechende fachliche Erfahrung nachweisen
Arbeitsplätze. können und es deshalb für die Betriebe nicht möglich ist,
den so hohen gesetzlichen Mindestlohn für sie zu schul-
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Höhere Löhne tern.
und höhere Importe!)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie wollen dau-
– Herr Kollege Ernst, diese Traumgebilde seien Ihnen erhaft Billigheimer!)
unbenommen, aber das wird es so eben nicht geben. Wir
müssen mit unseren Produkten in einer Wettbewerbsge- Das sind dann die praktischen Auswirkungen. Wäre Ih-
sellschaft bestehen – in Europa und in der ganzen Welt. nen denn eine höhere Jugendarbeitslosigkeit lieber?
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Herr (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ernst ist ein Traumtänzer!) NEN]: Die Jugendlichen kann man doch aus-
nehmen! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/
Dabei sind wir sehr erfolgreich. Diesen Erfolg der Un- DIE GRÜNEN]: Die sind doch in Frankreich
ternehmen sollte man im Sinne der betroffenen Arbeit- ausgenommen! Die sind doch gar nicht betrof-
nehmerinnen und Arbeitnehmer nicht schmälern. fen! Sie haben doch gar keine Ahnung!)
Deshalb ist die Politik der Bundesregierung unter – Das ist ja nicht wahr.
Angela Merkel und der sie tragenden Parteien CDU,
CSU und FDP richtig. Herr Kollege Ernst, wir kämpfen Die Auswirkungen gesetzlicher Mindestlöhne beste-
gemeinsam für mehr Arbeitsplätze in unserem Land und hen nicht nur in erhöhter Arbeitslosigkeit. Sie verursa-
für mehr Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes, weil da- chen darüber hinaus in vielen anderen Bereichen große
mit natürlich auch die soziale Sicherheit der Menschen Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Aber ich bin über-
und Einkommensmöglichkeiten verbunden sind. zeugt, dass es vor allen Dingen aufgrund der Konkurrenz
über die Landesgrenzen hinweg Arbeitsplatzverluste
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- geben wird, so in den Grenzgebieten zu Tschechien und
neten der FDP) Polen.
Ich habe es ja bereits ausgeführt: Ein zu niedriger (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind dage-
Mindestlohn hat keine Wirkungen, und ein zu hoher gen und suchen noch irgendwelche Argu-
(B) Mindestlohn gefährdet Arbeitsplätze. mente!) (D)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Diesen Quatsch – Das ist nicht wahr.
glauben Sie doch selber nicht!)
Schön ist auch noch, dass der Kollege Ernst es als un-
– Das ist kein Quatsch, Herr Kollege Heil. würdig betrachtet, soziale Leistungen in Anspruch zu
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In Großbritan- nehmen und dafür einen Antrag zu stellen. Es ist aber
nien gab es dieselbe Debatte vor zehn Jahren! gerade der Ausdruck eines Sozialstaats, dass jemand,
Alles Unsinn!) wenn er mit seinem erwirtschafteten Einkommen nicht
am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, Unter-
– Herr Kollege Heil, Frankreich hat den höchsten Min- stützung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler erfährt.
destlohn – der Kollege Ernst und auch Sie haben das ge-
rühmt –, und er wird noch angehoben. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber nicht die-
jenigen, die voll arbeiten! Das ist leistungs-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Luxemburg!) feindlich!)
Die Realität sollte man dabei aber auch betrachten. Was – Ja, Herr Kollege Heil, auch der Kollege Kolb hat be-
hat das bewirkt? reits dargestellt, dass die meisten Aufstocker nur teilzeit-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Armes beschäftigt sind.
Luxemburg!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber die brau-
Armut wurde bewirkt – insbesondere bei den Jugendli- chen mehr als 3 Euro pro Stunde!)
chen, die auf den Arbeitsmarkt drängen. Im Juli 2010 gab es 1,3 Millionen abhängig beschäf-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – tigte Erwerbstätige, die zusätzlich ALG II benötigten,
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Armut in zudem mehr als 100 000 Selbstständige. Aber fast 1 Mil-
Luxemburg?) lion aus diesem Personenkreis arbeitet nur Teilzeit.

In Frankreich haben wir über 25 Prozent Jugendarbeits- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, und? Die wollen
losigkeit zu verzeichnen. trotzdem mehr als 3 Euro pro Stunde!)
Mit Teilzeitarbeit kann ich eben kein Vollzeiteinkommen
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das hat doch
erreichen. Somit ist das keine Frage der Höhe eines
nichts mit dem Mindestlohn zu tun!)
Stundenlohns, sondern es geht darum, wie viel Zeit je-
– Natürlich wegen des Mindestlohnes. mand aufgrund seiner familiären Situation der Arbeit
8946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Max Straubinger
(A) widmen kann, weil er Kinder zu betreuen hat, weil er (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist (C)
möglicherweise auch einen behinderten Angehörigen zu keine Alimentation!)
pflegen hat und, und, und.
Es mag vielleicht den Linken angemessen sein und in ihr
Für solche persönlichen Situationen haben wir – da- Programm passen. Denn Sie sind letztlich dafür, dass der
rauf sollten wir doch stolz sein – ein dichtes soziales Staat alles vorgeben soll. Sie sind eigentlich Gewerk-
Netz, an dem wir alle gearbeitet haben. Das möchte ich schaftsführer, geben aber lapidar die Tarifautonomie da-
nicht als unwürdig betrachten, wie es der Kollege Ernst mit auf.
getan hat, als er sagte, es sei unwürdig, soziale Leistun-
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Quatsch!)
gen beantragen zu müssen.
– Natürlich. In Ihrem Antrag fordern Sie nicht nur einen
Aber entlarvend im Hinblick auf den Antrag der Lin-
gesetzlichen Mindestlohn, sondern auch weitere Bran-
ken ist durchaus, dass auf der einen Seite behauptet wird,
chenmindestlöhne.
es sei unwürdig und für den Einzelnen mühsam, Aufsto-
ckungen zu beantragen, aber dort gleichzeitig steht: (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das sehen doch
Wenn ein Unternehmer den gesetzlichen Mindestlohn die Gewerkschaften selber genauso! –
nicht bezahlen kann, dann soll er unterstützende Leistun- Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sind Sie
gen des Steuerzahlers erhalten. für die Abschaffung des Bundesurlaubsgeset-
zes?)
(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist wider-
sprüchlich!) Das bedeutet die Einschränkung bzw. die Aufgabe der
Tarifautonomie. Dabei sollten Sie als Gewerkschafts-
Dann subventionieren wir die Arbeitgeber direkt. Lieber
führer für die Stärkung der Tarifautonomie eintreten,
Kollege Ernst, im Gegensatz zu Ihnen bin ich dafür, dass
statt zu ihrem Abbau beizutragen.
wir dieses Geld den betroffenen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern und den betroffenen Personen auszahlen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
bevor wir es Unternehmen geben, um damit einen ge-
Ihr Vorschlag ist auch keine Lösung, um zu einer siche-
setzlichen Mindestlohn für manche Unternehmen in un-
ren und guten Rente zu kommen. Entscheidend ist viel-
serem Land überhaupt bezahlbar zu machen. Ich frage
mehr, dass es in unserem Land vernünftige Arbeitsplätze
mich: Wo ist da der Unterschied?
gibt, die auch gut bezahlt werden.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dass man das ab-
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Eben! Eben!)
trennen muss, Herr Straubinger! Dass man das
ketteln muss, das ist der Unterschied!) Lieber Kollege Ernst, die derzeitige wirtschaftliche
(B) Entwicklung trägt mit dazu bei, dass die gute Bezahlung (D)
Sie verurteilen auf der einen Seite die Aufstockung.
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer möglich
Gleichzeitig fordern Sie in Ihrem Antrag, dass dann die
wird. Ich kann mich noch gut daran erinnern, was Sie in
Unternehmen eine staatliche Unterstützung erhalten sol-
einem früheren Antrag und auch in der Diskussion vor-
len, um diesen gesetzlichen Mindestlohn bezahlen zu
gebracht haben, nämlich dass Arbeitgeber bereit sind,
können. Lieber Kollege Ernst, wenn dies ein Fortschritt
zu zocken, dass sie sich übernommen haben und da-
sein soll, dann frage ich mich wirklich, wie es in unserer
durch Arbeitsplätze gefährdet werden. Das haben Sie
Gesellschaft zukünftig weitergehen soll.
damals insbesondere im Zusammenhang mit der Fusion
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von Schaeffler und Continental verbreitet. Bei diesen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern steht jetzt eine
Im Antrag wird auch dargestellt: Der gesetzliche Min-
Sonderzahlung an.
destlohn hilft in allen Bereichen. Er sichert ein ausrei-
chendes Einkommen und in der Regel damit auch die Es zeigt den Charakter der sozialen Marktwirtschaft,
Kaufkraft der Bürgerinnen und Bürger. Man könnte ge- dass sich auch die Unternehmen dieser Frage stellen. In
nauso gut argumentieren, dass dadurch eine Lohn-Preis- vielen Bereichen, auch in der Automobilbranche, wird
Spirale in Gang gesetzt wird und die Kaufkraft somit von Neueinstellungen der Unternehmen berichtet,
nicht steigt, Herr Kollege Ernst. Dies sollte man unter
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Befristet!)
wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten vielleicht auch
einmal betrachten. Vor allen Dingen aber steht in den di- und zwar bei guter Bezahlung.
versen Anträgen immer wieder, dass der Mindestlohn
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Befristet oder
unseren Sozialstaat rettet und die Rente sichert.
Leiharbeit!)
Herr Kollege Ernst, ich meine, dass die Menschen in
– Mir ist eine befristete Beschäftigung lieber als gar
ihrem Leben wesentlich mehr verdienen können als ei-
keine Beschäftigung, Herr Kollege Ernst.
nen imaginären gesetzlichen Mindestlohn.
(Zuruf von der LINKEN: Das fragen Sie mal
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja! Wir auch!)
die Befristeten!)
Der gesetzliche Mindestlohn, den Sie fordern, zeigt sehr
Ihnen mag das möglicherweise egal sein. Wir kämpfen
deutlich, wie realitätsfern Sie in dieser Frage diskutieren.
für dauerhafte Arbeitsplätze.
Dass jemand 45 Jahre lang durch den gesetzlichen Min-
destlohn alimentiert wird, ist für mich eine Horrorvor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
stellung. neten der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8947
Max Straubinger
(A) Darauf, dass dies umgesetzt wird, können wir stolz sein. Arbeitsministerin bei der Frage eines gerechten Lohns (C)
Wir bedanken uns auch bei den betreffenden Unterneh- für geleistete Arbeit.
men.
Arbeiten und dann noch Geld vom Staat zu brauchen,
Wenn aber alle für einen gesetzlichen Mindestlohn diese Situation gibt es in Deutschland immer häufiger.
kämpfen, dann richte ich auch eine Empfehlung an die Die Zahl derer, die trotz Jobs auf staatliche Unterstüt-
SPD, die wie alle Parteien im Wahlkampf ist, derzeit vor zung angewiesen sind, ist gestiegen. Wir alle kennen die
allem in Hamburg: Dass die Wahlkampfhelfer, die Zahl: 1 325 000 Bürger müssen ALG II bekommen, ob-
37,5 Stunden in der Woche im Einsatz sind, mit wohl sie ganz oder teilweise berufstätig sind. Diese Tat-
300 Euro im Monat entlohnt werden, ist meiner Mei- sachen können auch Sie nicht vom Tisch wischen, und
nung nach durchaus verbesserungsbedürftig. diese Tatsachen verlangen politisches Handeln.
(Pascal Kober [FDP]: An ihren Taten sollt ihr (Beifall bei der SPD)
sie messen!)
Wenn Sie – jetzt spreche ich die Regierungskoalition mit
Wenn man schon so heftig für einen gesetzlichen Min- ihrer Ministerin an – ernsthaft für das nächste Jahr die
destlohn kämpft, dann sollte man vielleicht auch über Lösung arbeitsmarktpolitischer Probleme angehen wol-
diesen Punkt nachdenken. len, dann sollte die Einführung eines gesetzlichen Min-
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. destlohns ganz oben auf Ihrer Tagesordnung stehen;
denn darum kommen Sie nicht herum. Die Menschen im
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lande erwarten für ihre geleistete Arbeit eine gerechte
Mindestvergütung.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner für die Die heutige Debatte zu diesem Thema ist nicht neu
SPD-Fraktion das Wort. und nicht der erste Aufschlag. Ich erinnere daran, dass
wir im März 2010 einen Antrag eingebracht haben. Si-
(Beifall bei der SPD) cherlich sind wir uns in einigen Fragen sehr nahe, aber
wir haben unterschiedliche Meinungen zu der Festle-
Angelika Krüger-Leißner (SPD): gung der Höhe der gesetzlichen Lohnuntergrenze.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Wir, Herr Straubinger, wollen Fairness auf dem Arbeits-
Präsidentin! Herr Straubinger, ich glaube, auch meine markt. In Abwägung aller Chancen und Risiken – Sie
Ausführungen regen dazu an, über einige Punkte nach- haben nur von den Risiken gesprochen – sind wir für
zudenken. realistische 8,50 Euro pro Stunde. Da sind wir uns mit
(B) den Gewerkschaften einig, und aus allen Kreisen der Be- (D)
(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Was sa- völkerung kommt diese Forderung.
gen Sie denn zu Hamburg? Sagen Sie mal et-
was zu Hamburg!) (Pascal Kober [FDP]: Hört! Hört! Keine
10 Euro! 8,50 sind es jetzt! – Max Straubinger
Wir erleben zurzeit eine ziemlich trübe Jahreszeit. [CDU/CSU]: Das ist ja Dumping, Herr Kol-
Trotz Vorfreude auf Weihnachten sind graue Tage lege Ernst!)
nichts Besonderes. Sie können von uns glücklicher-
weise auch nicht beeinflusst werden. Was mir aber in Ganz zuletzt hat Ihnen das Bundesverfassungsge-
dieser Zeit große Sorge bereitet und was wir beeinflus- richtsurteil bescheinigt, dass das Lohnabstandsgebot
sen können – das gilt besonders für die zuständige hinfällig ist. Mit diesem Urteil ist bestätigt, dass das
Ministerin –, Existenzminimum nicht unter den untersten Löhnen lie-
gen muss, sondern die untersten Löhne über dem Exis-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die ist nicht
tenzminimum liegen müssen.
mal da!)
ist die Tatsache, dass sich die Stimmung besonders bei (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Das ist nachzulesen, und das heißt im Klartext: Arbeit-
Land immer mehr verfinstert. nehmerinnen und Arbeitnehmer, die vollzeitnah er-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das werbstätig sind, müssen ein Nettoarbeitsentgelt erzielen,
nehmen die doch nicht wahr!) mit dem sie verlässlich oberhalb der Schwelle von
Hartz IV liegen. Ein allgemeiner gesetzlicher Mindest-
Sie sind frustriert und haben konkrete Erwartungen an lohn ist also die Konsequenz auch aus diesem Urteil zur
die Arbeitsministerin, dass sich etwas zu ihren Gunsten Neubemessung der Regelsätze. Das ist der Auftrag an
verändert und dass ihnen mehr Gerechtigkeit beim Lohn Sie und an Ihre Ministerin.
für gute Arbeit widerfährt.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das haben wir
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) gemacht!)
Enttäuscht hat vor kurzem die Sozialministerin von – Das sehen viele Menschen in diesem Land ganz an-
der Leyen schon viele Menschen in diesem Land mit ih- ders.
rer Neuregelung zu den Regelsätzen in der Grundsiche-
rung und mit ihrem spärlichen Bildungspaket für bedürf- (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Es glau-
tige Kinder. Hinzu kommt nun ihre Untätigkeit als ben auch viele Menschen an Ufos!)
8948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Angelika Krüger-Leißner
(A) Ich glaube, dass Sie da in einer Sackgasse sind und sich zugute. Das wäre eine echte Unterstützung für bedürf- (C)
vor dem Bundesverfassungsgericht darüber noch einmal tige Kinder.
streiten müssen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim gesetzlichen der LINKEN)
Mindestlohn geht es um zwei Dinge. Es geht erstens um
die gesellschaftliche Anerkennung von Arbeit und die Ich muss leider zum Schluss meiner Rede kommen.
Würde des Menschen, der sich in diese Gesellschaft ein- (Zurufe von der FDP)
bringt; er muss für das, was er an Arbeit leistet, auch ge-
recht entlohnt werden. Zweitens geht es aber auch um – Das ist in der Tat bedauerlich. – Ich möchte einen Satz
die Notwendigkeit, dafür zu sorgen, dass Unternehmen aufgreifen, den Ihre Ministerin am 18. Juni in diesem
ihre Niedriglohnbeschäftigung nicht durch die öffentli- Hause gesagt hat. Es handelt sich um einen sehr schönen
che Hand finanzieren lassen. Beides hat viel mit Gerech- Ausspruch von Victor Hugo. Er hat gesagt: „Nichts ist
tigkeit zu tun, die wir in dieser Gesellschaft so dringend mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“. Ich
brauchen. greife diesen Satz ganz bewusst auf und sage Ihnen: Die
Idee des gesetzlichen Mindestlohns ist nicht neu. Spätes-
Zahlreiche unserer Nachbarländer sind uns da schon
tens jetzt ist aber die Zeit gekommen, zu handeln. Wir
einen deutlichen Schritt voraus. Viele Menschen fragen
laden Sie ein, auch in dieser trüben Jahreszeit das rich-
immer wieder, warum es nicht möglich ist, dass wir in
tige Signal zu geben, das viele Menschen in diesem
Deutschland einen Mindestlohn haben, den es bereits in
Land erwarten und das die Wünsche der Arbeitnehme-
20 der 27 Länder der Europäischen Union gibt. In den
rinnen und Arbeitnehmer erfüllt. Mit einem gesetzlichen
Ländern, die mit uns am ehesten vergleichbar sind – wie
Mindestlohn würden auch die Differenzen in der Bezah-
Belgien, Frankreich, Dänemark oder den Niederlanden –,
lung von Männern und Frauen sowie die Lohnunter-
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die haben alle schiede zwischen Ost und West verringert oder beseitigt
eine höhere Arbeitslosigkeit!) werden. Das wäre doch eine wirklich gute Aussicht für
das neue Jahr.
gibt es weltweit die höchsten Mindestlöhne in einer
Spanne von 8,15 Euro bis 13,80 Euro. Keine dieser Danke.
Volkswirtschaften ist daran zugrunde gegangen, und die
Arbeitslosigkeit ist dort nicht höher als bei uns. Ganz im (Beifall bei der SPD)
Gegenteil, sie ist niedriger, und die Beschäftigungsquote
ist höher. Das ist nachzulesen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(B) (Max Straubinger [CDU/CSU]: Die Griechen Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Pascal (D)
sind daran nicht zugrunde gegangen?) Kober.

– Ich habe vergleichbare Länder erwähnt; Herr (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Straubinger, hören Sie zu.
Die Legenden, die Sie immer wieder pflegen – das Pascal Kober (FDP):
haben Sie auch heute getan –, wonach Mindestlöhne Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Arbeitsplätze vernichten, Lieber Herr Ernst, bekanntlich ist Reden Silber und
Schweigen Gold. Entsprechend war es bemerkenswert,
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Gesetzliche wie Sie elf Minuten lang über einen Mindestlohn in
Mindestlöhne!) Höhe von 10 Euro gesprochen, aber über den konkreten
haben sich bisher in unseren Nachbarländern und ange- Inhalt des von Ihrer Fraktion eingebrachten Antrags be-
sichts der Mindestlohnvereinbarungen einzelner Bran- harrlich geschwiegen haben.
chen bei uns nicht bestätigt. Trotz all dieser Entwicklun- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
gen weigern Sie sich beharrlich, diese Realitäten zur
Kenntnis zu nehmen und daraus die richtigen Schlüsse Das verwundert überhaupt nicht; denn das Konzept, das
für unser Land zu ziehen, die nur heißen können: Ge- Sie vorlegen, ist schlicht nicht konsistent. Sie fordern ei-
setzlicher Mindestlohn nun auch in Deutschland! nen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro brutto pro Stunde,
und dann sollen die jeweiligen Anpassungen durch einen
(Beifall bei der SPD)
paritätisch besetzten sogenannten nationalen Mindest-
Frau von der Leyen hat uns in den letzten Wochen lohnrat verbindlich vorgeschlagen werden. Da stellt sich
und Monaten sehr oft gesagt, wie wichtig ihr die Kinder mir und vielleicht auch jedem anderen unvoreingenom-
in diesem Land sind. Wenn sie es ernst meint, dann muss menen Betrachter und aufmerksamen Leser die Frage,
sie auch an die Kinder denken, deren Eltern ein so gerin- warum dieser nationale Mindestlohnrat nicht schon die
ges Einkommen haben, dass es für das Existenzmini- Eingangshöhe festlegt oder warum er nicht darüber
mum nicht ausreicht. Diese Kinder müssen erleben, dass nachdenkt, ob es überhaupt einen Mindestlohn geben
die Eltern auf ergänzende Hilfe angewiesen sind. Beson- soll. Ich kann Ihnen sagen, warum Sie einem solchen Rat
ders Alleinerziehende und Paare mit geringem Einkom- nicht vertrauen: Sie vermuten, dass ein solcher sicherlich
men müssen oft das Jobcenter aufsuchen. Ein gesetzli- mit Experten besetzter nationaler Mindestlohnrat in sei-
cher Mindestlohn würde die Aufstockung vermeiden. ner Expertise nicht zu dem Ergebnis kommen würde,
Das käme schließlich 1,2 Millionen bedürftigen Kindern dass der Mindestlohn bei 10 Euro liegen soll.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8949
Pascal Kober
(A) (Katja Mast [SPD]: Fangen Sie doch einfach digungsschutz, ohne Mindestlohn, ohne Arbeitszeitrege- (C)
mal an!) lung.
Diese Vermutung wird durch die Tatsache gestützt, dass (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der
die Gewerkschaften keinen Mindestlohn in Höhe von CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/
10 Euro fordern. Diese wissen, dass ein hoher Mindest- DIE GRÜNEN]: Die hätten eine Sperrzeit ge-
lohn Arbeitsplätze gefährden würde, und stimmen daher kriegt!)
Ihrer Forderung nach 10 Euro nicht zu. Wenn Sie das als Maßstab für eine christliche Arbeits-
Sie haben viel über das europäische Ausland gere- marktpolitik nehmen wollen, dann sage ich in der Tat:
det. Sie verschweigen aber die jeweiligen Hintergründe Das ist nicht die Vorstellung dieser christlich-liberalen
in den einzelnen europäischen Ländern. In vielen Län- Koalition.
dern Europas ist der Mindestlohn vom Durchschnitts- Vielen Dank.
lohn bzw. vom normalen Lohn so weit entfernt, dass nur
ein sehr geringer Anteil der Arbeitnehmerinnen und Ar- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
beitnehmer überhaupt vom Mindestlohn erfasst wird. In Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wo haben Sie denn
Großbritannien galt der Mindestlohn 2008 für nur die 4 000 her? Das sind falsche Zahlen!)
1,9 Prozent der Vollzeitbeschäftigten, in Irland für
3,3 Prozent und in Spanien für weniger als 1 Prozent. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Die Mindestlöhne, die dort gelten, sind ganz weit von Nächster Redner ist der Kollege Dr. Matthias Zimmer
den 10 Euro entfernt, die Sie fordern. für die CDU/CSU-Fraktion.
Beim Blick aufs Ausland verschweigen Sie natürlich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
auch, dass es dort, wo es Mindestlöhne gibt, zugleich neten der FDP)
immer auch eine Fülle an Ausnahmetatbeständen gibt,
um negative Arbeitsmarkteffekte – sprich: Arbeitslosig- Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU):
keit – zu mildern oder zu verhindern. Wenn Sie bei-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
spielsweise in Frankreich einen Arbeitslosen einstellen,
Für und Wider eines gesetzlichen Mindestlohns haben
bekommen Sie Abschläge bei den Sozialversicherungs-
wir – wieder einmal – sehr engagiert, sehr emotional und
beiträgen. Ähnliche Ausnahmetatbestände gibt es na-
sehr ernst, teilweise auch mit großer Theatralik, abge-
hezu überall, wo es in Europa Mindestlöhne gibt. Das
wägt. Ich gehe deshalb davon aus, dass ich zu den Diffe-
sollten Sie dann auch sagen. Wir sagen: Ein Mindestlohn
renzen in diesem Hause nichts weiter sagen muss. Ich
muss in sich konsistent sein. Einen Mindestlohn einzu-
(B) führen und gleichzeitig eine Vielzahl von Ausnahmetat- möchte das Thema von einer anderen Seite her angehen, (D)
nämlich von den vermuteten Gemeinsamkeiten her, und
beständen zu schaffen, macht keinen Sinn; dann lieber
die Frage stellen, ob wir jenseits des gesetzlichen Min-
kein Mindestlohn.
destlohns auch andere ordnungspolitische Möglichkeiten
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten finden können.
der CDU/CSU) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Viele Kolleginnen und Kollegen haben schon darauf NEN]: Vorschläge!)
hingewiesen, dass Sie von Deutschland ein völlig fal- Vielleicht ist das dann – Herr Kolb hat es angesprochen –
sches Bild zeichnen. Ich möchte es allen in Erinnerung das Überraschungsei im Adventskalender, das Sie bei
rufen: In Deutschland gibt es nur 4 000 Personen, die dem Kollegen Ernst so schmerzlich vermisst haben.
Vollzeit arbeiten und zusätzlich sogenannte aufsto-
ckende Leistungen erhalten. Die Regel ist das nicht. Meine Damen und Herren, in den vergangenen Tagen
haben wir die Unterrichtung der Bundesregierung über
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Die Zahlen das 18. Hauptgutachten der Monopolkommission zur
sind doch Quatsch!) Kenntnis genommen. Mich haben bei der Lektüre zwei
Sachverhalte verwundert: erstens, dass die Monopol-
In Deutschland werden ordentliche Löhne gezahlt, und
kommission eine starke Einschränkung der Allgemein-
die Menschen können von ihnen leben, wenn sie einen
verbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen befür-
Vollzeitjob haben.
wortet, und zum Zweiten, dass sie die Möglichkeit
Noch ein Wort an die Kollegin Pothmer. Frau abschaffen will, Mindestarbeitsentgelte nach dem Min-
Pothmer, Sie sollten vielleicht die Weihnachtszeit nut- destarbeitsbedingungengesetz festzulegen, so als ob an
zen, um nicht nur das Weihnachtsevangelium zu hören, dieser Stelle tatsächlich Monopole entstünden.
sondern auch einmal über die Geschichte hinaus zu lesen Ich habe dann etwas genauer nach den Begründungen
und zu erfahren, wie es weitergeht. Die von Ihnen ange- gesucht und zwei gefunden, die mich geärgert haben:
sprochenen Apostel Zum einen befürchtet die Monopolkommission negative
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Auswirkungen auf den nachgelagerten Produktmarkt,
NEN]: Zwölf!) zum anderen scheint sie Wettbewerb als Ziel der Ord-
nungspolitik zu sehen. Ich hingegen bin der festen Über-
– zwölf – haben allesamt ihr angestammtes Arbeitsver- zeugung: Wettbewerb ist nicht das Ziel des Marktes,
hältnis verlassen und sind Jesus nachgefolgt, ohne Kün- sondern ein Mittel. Als Christlich-Sozialer stehe ich auf
8950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Matthias Zimmer


(A) dem Standpunkt: Der Mensch steht im Mittelpunkt des Hier steht die katholische Soziallehre bei aller Betonung (C)
Marktes. Er ist Urheber, Mittelpunkt und Ziel der Wirt- der Freiheit und der Eigenverantwortung des Menschen
schaftsordnung. Deshalb ist das Ziel des Marktes nicht in der Tradition der Moralphilosophie und der Natur-
der Wettbewerb, sondern Ziele sind das Gemeinwohl rechtslehre.
und der darin eingebundene Mensch.
Wir in der Union stehen in der Tradition dieser So-
Ein zweiter Irrtum der Monopolkommission scheint ziallehre, meinen aber zur Frage der Mindestlöhne: Die
mir in der Annahme der Funktionsweise von Markt Lohnfindung ist wegen des Prinzips der Subsidiarität
und Staat zu liegen. Der Arbeitsmarkt ist kein perfekter zunächst Aufgabe der Tarifpartner.
Markt. In einem perfekten Arbeitsmarkt gibt es keine
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Einkommensunterschiede. Wenn alle Menschen in etwa
gleich qualifiziert wären, würde es ein Überangebot an Über viele Jahre, Herr Kollege Ernst, waren es gerade
Arbeitskräften für die prestigehaltigen Arbeiten geben. die Gewerkschaften, die mit Hinweis auf die Tarifauto-
Ihre Entlohnung würde sinken. Gleichzeitig würde für nomie staatliche Interventionen in die Lohnfindung zu
die weniger angesehenen Arbeiten der Lohn steigen Recht abgelehnt haben.
müssen, weil sich sonst keiner findet, der diese Arbeiten
verrichtet. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: So ist es!)
Wenn sich aber Tarifpartner nicht mehr finden, ihre
Nun ist klar: Einen solchen Markt gibt es nicht. Die
Bindungswirkung verlieren oder nicht die Tarifmächtig-
Menschen kommen mit den unterschiedlichsten Voraus-
keit aufweisen können, dann läuft die Subsidiarität ins
setzungen und auch mit unterschiedlicher Verhandlungs-
Leere und der Staat muss eingreifen. Wir haben dies ge-
stärke auf den Arbeitsmarkt. Auf dem Arbeitsmarkt be-
tan mit der Grundidee, dass so viel wie möglich die
steht Ungleichheit, schon wegen der unterschiedlichen
Tarifpartner besorgen und dass wir dann je nach Not-
Machtpositionen von Anbietern und Nachfragern. Un-
wendigkeit auf Antrag einzelne Tarifverträge für allge-
gleichheit besteht aber auch, wenn wir nur diejenigen
meinverbindlich erklären. In der Großen Koalition ist
betrachten, die ihre Arbeitskraft anbieten. Hier muss der
vereinbart worden, dort, wo sich keine Tarifpartner fin-
Staat dann eingreifen, wenn diese Ungleichheiten zu Ar-
den, die Lohnfindung über das Mindestarbeitsbedingun-
beitsverhältnissen führen, die jeglicher Idee des Gemein-
gengesetz zu regeln – ein etwas kompliziertes, aber
wohls zuwiderlaufen.
durchaus gangbares Verfahren.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Einen allgemeinen und flächendeckenden gesetzli-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
chen Mindestlohn haben wir im Wesentlichen aus drei
(B) Der Staat ist Garant dieses Gemeinwohls. Er ist mit dem Gründen abgelehnt: (D)
schönen Wort von Sismondi Repräsentant des dauern- (Anton Schaaf [SPD]: „Wir“ ist in dem Fall
den, aber stillen Interesses aller gegen das nur zeitwei- die CDU!)
lige, aber leidenschaftliche Interesse der Einzelnen.
Erstens besteht die Befürchtung, damit könnten Ar-
Ich denke, so weit stimmen wir im Hohen Hause beitsplätze verloren gehen.
überein: Die Lohnfindung allein dem Markt zu überlas-
sen, wäre falsch und weder mit unseren Vorstellungen (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Und wie viele
von Grundwerten noch mit unseren Vorstellungen von werden geschaffen?)
Gemeinwohl vereinbar.
Hierzu gibt es Untersuchungen, die ich vor einiger Zeit
Das war im Übrigen auch die Auffassung von Adam im Deutschen Bundestag zitiert habe. Die spannende
Smith. In seinem Buch über den Reichtum der Nationen Frage aber lautet – das ist auch durchaus selbstkritisch –:
schreibt er – hier zitiere ich –: Der Mensch muss stets Wie viele Arbeitsplätze gehen verloren, wenn wir keinen
von seiner Arbeit leben, und sein Lohn muss wenigstens Mindestlohn haben?
hinreichend sein, um ihm Unterhalt zu verschaffen. (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine]
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN [SPD])
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich finde es richtig, über diese Bilanz zumindest einmal
der SPD) zu diskutieren.
In den meisten Fällen muss er sogar noch etwas höher (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
sein, sonst wäre der Arbeiter nicht imstande, eine Fami- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
lie zu gründen. – Wir sehen: Smith war weniger reiner GRÜNEN)
Marktwirtschaftler als Moralphilosoph.
Das zweite Argument ist, dass die Lohnfindung die
Die katholische Soziallehre hat diesen Hinweis auf- Tarifpartner doch unter sich ausmachen sollten. Hier
gegriffen und spricht vom gerechten Lohn, einem Lohn, gilt es kritisch anzumerken: Wir haben nicht mehr die
der es einem Arbeitnehmer gestattet, sich und seine Fa- große Bindungskraft der Gewerkschaften und Arbeitge-
milie zu ernähren. berverbände,
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine]
3,18 Euro sind es jedenfalls nicht!) [SPD])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8951
Dr. Matthias Zimmer
(A) die in anderen Ländern ohne Mindestlohn selbstver- Das wäre nach meinem Empfinden ein ambitioniertes (C)
ständlich ist. Projekt der christlich-liberalen Koalition, die gelingende
Synthese der liberalen Tradition eines Adam Smith und
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sehr gut, der der Tradition der Soziallehre in einem Themenfeld, in
Mann!) dem wir bald überzeugende Lösungen brauchen.
Wo die Tarifautonomie aufgerissen ist, müssen andere Danke schön.
Wege gegangen werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
NEN]: Ja! – Gegenruf des Abg. Dr. Johann GRÜNEN)
Wadephul [CDU/CSU]: Aber nicht flächende-
ckend! Das ist der Unterschied!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das dritte Argument ist, der Mindestlohn sei nicht fle- Das Wort hat der Kollege Josip Juratovic für die SPD-
xibel genug, weder für Branchen noch für Regionen. Der Fraktion.
Kollege Straubinger hat darauf hingewiesen. Das halte (Beifall bei der SPD)
ich für ein schwerwiegendes Argument. Die Lebenshal-
tungskosten unterscheiden sich in den Regionen deut-
lich. Mit welcher Begründung können wir dann durch ei- Josip Juratovic (SPD):
nen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn mit Blick Sehr geehrter Herr Zimmer, vielen Dank für Ihren
auf die Lebenshaltungskosten einige besser-, andere wissenschaftlichen Beitrag. Aber nun möchten wir uns
schlechterstellen? den Menschen in diesem Land widmen.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
NEN]: Sind Sie für eine Low Pay Commis- Wenn wir über Europa und Arbeitnehmerfreizügig-
sion?) keit reden, die ab dem 1. Mai 2011 für acht weitere EU-
Staaten gilt, dann spüre ich bei den meisten Menschen
Wie kann ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn die
vor allem Verunsicherung, ja auch oft Angst.
Bedürfnisse unterschiedlicher Branchen befriedigen?
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es geht
nicht um die Branchen! Es geht um die Men- Sie fürchten, dass Arbeitnehmer aus osteuropäischen
schen! Es geht um die Beschäftigten!) Staaten nach Deutschland kommen, um hier zu Nied-
riglöhnen und unter schlechten Bedingungen zu arbei-
Ich persönlich könnte mir vorstellen, dass man viele ten. Besonders transnationale Leiharbeitsfirmen wollen (D)
(B)
dieser Einwände durch die Idee eines subsidiären Min- die Arbeitnehmerfreizügigkeit ausnutzen.
destlohns oder – anders formuliert – eines gesetzlichen
Mindestlohns mit einer tariflichen Öffnungsklausel ent- Herr Dr. Wadephul, es ist kein Geheimnis, dass deut-
kräften kann. sche Leiharbeitsfirmen bereits Verträge vorbereiten, um
vermeintlich teure deutsche Leiharbeiter durch billigere
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Nach oben!) polnische oder tschechische Leiharbeiter zu ersetzen.
Die Tarifpartner könnten den Mindestlohn für Regionen, Der polnische Arbeitgeberpräsident spricht von Löhnen
Branchen oder für eine gewisse Zeit außer Kraft setzen. zwischen 2 und 5 Euro für polnische Leiharbeiter. Das
sind Ersparnisse für die Unternehmen von bis zu 5 Euro
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Immerhin ein pro Stunde und Mitarbeiter. Damit halten menschenun-
Stück Fortschritt ist bei Ihnen feststellbar!) würdige Entlohnung und unfaire Arbeitsbedingungen
Einzug auch in unseren Arbeitsmarkt. Wir wollen keine
Sie müssten sich aber gegenüber dem gesetzlichen Min- Angst vor der Arbeitnehmerfreizügigkeit schüren; aber
destlohn rechtfertigen, der den Charakter einer auch nor- dieser Gefahr, die ab dem 1. Mai droht, muss die Bun-
mativ zu verstehenden Setzung trägt. Begründungs- desregierung schleunigst begegnen.
pflichtig wäre dann die Unterschreitung des subsidiären
Mindestlohns, nicht der Mindestlohn selbst. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus
Ernst [DIE LINKE])
Ein solcher subsidiärer Mindestlohn bietet nach mei-
nem Dafürhalten Anreiz, die Lohnfindung durch die Ta- Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, was
rifpartner dort vorzunehmen, wo es gute Gründe gibt, Sie zu dieser Thematik in den letzten Wochen gesagt ha-
den Mindestlohn nicht anzuwenden. ben, war sehr konfus. Die Union ist auf einmal für einen
Mindestlohn in der Leiharbeit.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Genau!) (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Waren
wir schon immer!)
Das Instrument wäre hinreichend flexibel, um regiona-
len oder branchenspezifischen Bedürfnissen Rechnung Auch das Schauspiel von Ursula von der Leyen be-
zu tragen. Es wäre eleganter als das Mindestarbeitsbe- kommt einen neuen Akt: Sie macht sich plötzlich Sorgen
dingungengesetz und wesentlich unbürokratischer als um deutsche Leiharbeitnehmer. – Nun gut, aber leider
die Verfahren zur Erklärung einer Allgemeinverbindlich- sind Sie zu spät: In der Großen Koalition hätten wir mit
Leichtigkeit einen solchen Mindestlohn umgesetzt.
keit. Das würde uns viele Diskussionen im Zusammen-
hang mit dem 1. Mai 2011 ersparen. (Beifall bei der SPD)
8952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Josip Juratovic
(A) Jetzt kriegen Sie das mit der Dagegen-Partei FDP nicht die auftreten, wenn wir nicht politisch handeln, und zwar (C)
mehr hin. vor dem 1. Mai 2011.
(Pascal Kober [FDP]: Das verwechseln Sie! (Beifall bei der SPD)
Das sind die Grünen!)
Unser Grundprinzip muss lauten: Gleiche Lohn- und Ar-
– Das gilt für Sie. beitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort.
Das ist keine Gleichmacherei, sondern Grundlage für
(Beifall bei der SPD) Anstand, Fairness und Gerechtigkeit auf dem Arbeits-
Selbst die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeit- markt.
geberverbände fordert einen Mindestlohn in der Leihar- (Beifall bei der SPD)
beit. Trotzdem verweigern sich die Liberalen. Kollegin-
nen und Kollegen von der FDP, welche Klientel Kolleginnen und Kollegen von der Linken, die Forde-
vertreten Sie eigentlich noch, wenn Sie nicht einmal rung nach Einführung eines Mindestlohns und der Auf-
mehr die Arbeitgeberforderungen unterstützen? nahme aller Branchen ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz
teile ich. Aber ich teile nicht Ihre Analyse, dass allein
(Beifall bei der SPD – Hubertus Heil [Peine] mit Einführung eines Mindestlohns alles getan wäre, um
[SPD]: Fast 3 Prozent!) uns auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit vorzubereiten.
Herr Kolb, ich schätze Sie als einen vernünftigen Kol- Ihre Forderungen greifen etwas zu kurz. Wir brauchen
legen. zum Beispiel auch eine grundlegende Regelung zur Be-
ratung von entsandten Arbeitnehmern.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Danke!)
Herr Staatssekretär Fuchtel, hören Sie zu. Sie können
Sie haben die Problematik bereits erkannt, wie wir alle der Arbeitsministerin überbringen, welche Erfahrungen
wissen. Reden Sie doch noch einmal mit Ihrem Vorsit- ein Facharbeiter bei diesem Thema gemacht hat. Wir
zenden, Herrn Westerwelle, und bringen Sie endlich müssen nämlich auch regeln, wie entsandte Arbeitneh-
Ordnung in Ihre Arbeitsmarktpolitik, am besten durch mer in unser System der Mitbestimmung integriert wer-
Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in den. Wir müssen dafür sorgen, dass auftraggebende Un-
Deutschland. ternehmer haften, wenn Subunternehmer aus dem
Ausland Lohn- und Sozialdumping betreiben. Wir brau-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
chen eine wirksame Kontrolle; denn die Finanzkontrolle
der LINKEN)
Schwarzarbeit ist derzeit personell nicht dazu in der
Kolleginnen und Kollegen, die Arbeitnehmerfreizü- Lage. – Dies sind einige der Forderungen, neben der
(B) (D)
gigkeit ist eine positive Errungenschaft, die wir in Eu- Einführung eines Mindestlohns, die die SPD-Fraktion
ropa geschaffen haben. Wir haben vier Dimensionen in nach der Weihnachtspause in einem eigenen Antrag ein-
Europa: den gemeinsamen Markt, die offenen Grenzen, bringen wird.
die gemeinsame Währung und die soziale Dimension.
(Beifall bei der SPD)
Die ersten drei Dimensionen haben wir erfolgreich um-
gesetzt. Nun gilt es, den sozialen Frieden in Europa zu Die Einführung eines Mindestlohns allein reicht nicht
sichern. Europa heißt nicht nur, dass wir uns um den aus, um den Menschen in Deutschland Schutz zu gewäh-
Euro oder die Finanzkrise kümmern. Europa bedeutet ren.
auch, dass wir Wohlstand und soziale Sicherheit für
alle Menschen garantieren. Erlauben Sie mir zum Schluss eine tiefer gehende Be-
merkung in eigener Sache: Als jemand, der als Gastar-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias beiter nach Deutschland kam, vom Ausländer zum
W. Birkwald [DIE LINKE]) Migranten und heute zu einem Deutschen mit Migra-
tionshintergrund wurde – eigentlich wollte ich immer
Dazu gehören auch faire Arbeitsbedingungen. Deshalb
nur ein Mensch sein –, ist mir wichtig, dass wir einen
müssen wir Lohn- und Sozialdumping mit allen uns zur
Fehler aus der Zeit der Gastarbeiter nicht wiederholen:
Verfügung stehenden Mitteln verhindern und den gesetz-
Bei der Debatte um Zuwanderung und Arbeitnehmer-
lichen Mindestlohn einführen.
freizügigkeit müssen wir uns immer vor Augen halten,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass Menschen zu uns kommen und nicht nur Arbeits-
der LINKEN) kräfte. Das ist eben auch ein wichtiger Aspekt für eine
gelungene Integrationspolitik.
Mit Lohn- und Sozialdumping schwächen wir zum
einen unsere anständigen Unternehmer, die bei dem Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
ständigen Unterbieten nicht mithalten können und wol-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
len. Zum anderen schwächen wir mit Niedriglöhnen un-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
sere Arbeitnehmer. Die Arbeitnehmer hier in Deutsch-
GRÜNEN)
land verlieren entweder ihren Job, weil es billigere
Arbeitskräfte aus anderen Ländern gibt, oder sie müssen
zu Hungerlöhnen arbeiten – diese Gefahr besteht –, um Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
mit der ausländischen Konkurrenz mithalten zu können. Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Das sind Verwerfungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit, Gabriele Molitor für die FDP-Fraktion.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8953
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deswegen hat (C)
der CDU/CSU) Guido Westerwelle die Gewerkschaften wohl
als eine Plage bezeichnet!)
Gabriele Molitor (FDP): Weil das genauso bleiben soll, sage ich: Nicht der Staat
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und auch nicht das Parlament haben die Aufgabe, Lohn-
und Herren! Sie, meine Damen und Herren von den Lin- höhen festzusetzen, sondern die Tarifpartner.
ken und von den Grünen, höhlen mit Ihren Forderungen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nach Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Min- der CDU/CSU)
destlohns die Tarifautonomie aus.
Wir haben Standpunkte ausgetauscht. Ich sage Ihnen:
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ein staatlicher Mindestlohn dient nicht der sozialen Ab-
der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE sicherung. Über 98 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten
LINKE]: Die Gewerkschaften fordern ihn verfügen laut BDA über ein existenzsicherndes Einkom-
doch!) men.
Im Vorgriff auf die ab Mai 2011 für die neuen EU-Mit- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Laut BDA!)
gliedstaaten geltende Arbeitnehmerfreizügigkeit schüren Arbeitnehmern, die ein solches zum Beispiel wegen feh-
Sie bei den Bürgerinnen und Bürgern Ängste gegenüber lender Qualifikation nicht erzielen können, gewährleistet
einem freien Europa. das Arbeitslosengeld II ein Mindesteinkommen. Das ist
Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes garantiert die Tarif- der richtige Weg. Der Effekt der Agenda 2010 war doch
autonomie. Dort ist das Recht festgeschrieben, dass Ar- gewünscht, Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizier-
beitnehmer und Arbeitgeber Koalitionen bilden können, ten den Einstieg in den Arbeitsmarkt über einfache Tä-
um Vereinbarungen über Arbeits- und Wirtschaftsbezie- tigkeiten zu erleichtern.
hungen zu treffen. Gewerkschaften schließen mit Arbeit- Zu Beginn habe ich bereits gesagt, dass Ihre Anträge
geberverbänden Tarifverträge über das Arbeitsentgelt ab. Ängste bei den Menschen gegenüber einem offenen Eu-
Warum überlassen Sie von den Linken und Grünen es ropa schüren.
also nicht den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbän-
den, einen Mindestlohn zu vereinbaren? Die Tarifauto- (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Ganz im Ge-
nomie gibt es schon jetzt her, Mindestlöhne einzuführen. genteil!)
Was passiert denn im Mai 2011? Grenzen auf dem Ar-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(B) beitsmarkt fallen. Das ist für mich als Liberale etwas (D)
der CDU/CSU)
sehr Positives. Genau das heißt Freiheit.
Ihre Argumentation an dieser Stelle ist bekannt. Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sagen, dass in ganz vielen Branchen keine Tarifbindung der CDU/CSU)
herrscht. Das ist unzutreffend; denn der Anteil der Be-
schäftigten, auf die Tarifverträge Anwendung finden, lag Sie hingegen verstehen Arbeitnehmerfreizügigkeit als
laut des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Bedrohung, vor der wir uns schützen müssen. Offene
im Jahr 2009 bei 81 Prozent. Grenzen sehen Sie als Bedrohung. Damit leisten Sie ei-
nen gefährlichen Beitrag zur Europaskepsis. Das halte
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: 60 Prozent!) ich gerade an einem solchen Tag wie heute, wo in Brüs-
sel über die Stabilität unserer Währung beraten wird, für
Außerdem stelle ich mir die Frage: Wenn der Mindest- besonders fahrlässig.
lohn so notwendig ist, warum schaffen es die Gewerk-
schaften dann nicht, mehr Arbeitnehmer für sich zu ge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
winnen und ihre Forderung bei Tarifverhandlungen auch der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
durchzusetzen? Sie verunsichern die Menschen!)

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Hubertus Wenn es Ihnen, Herr Heil, wirklich um die Menschen
Heil [Peine] [SPD]: Oh!) und um ihre soziale Absicherung geht, müssen die An-
träge zurückgezogen werden, und stattdessen müsste
Es ist doch offensichtlich so, dass Sie es den Gewerk- morgen im Bundesrat dafür gesorgt werden, dass die
schaften nicht zutrauen; denn sonst würden Sie nicht den Neuregelung bei Hartz IV mitgetragen wird.
Gesetzgeber auffordern, hier aktiv zu werden. Vielen Dank.
Damit eines klar ist: Die Tarifautonomie ist für mich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La-
ein hohes Gut. chen des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] –
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und dann die Wieso? Die FDP im Saarland ist ja auch nicht
Gewerkschaften beschimpfen! Das passt ja su- dabei!)
per zusammen!)
Sie gehört unverzichtbar zum Ordnungsrahmen der so- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
zialen Marktwirtschaft. Ich schließe die Aussprache.
8954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Führt dieses Verteilverfahren nicht zu einer Wieder- (C)
Drucksache 17/4038 an die in der Tagesordnung aufge- gabe der parlamentarischen Mehrheit, … errechnet
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- sich die Verteilung nach d’Hondt.
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
Danach stünde uns kein Platz zu. Dies ist aber angesichts
so beschlossen.
der Regelungen zum Verwaltungsrat im Gesetz über die
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Kreditanstalt für Wiederaufbau an der Sache vorbei. Die
gesetzliche Konzeption sieht vor, dass die Vertreter des
Wahl von Mitgliedern des Verwaltungsrates Deutschen Bundestages und ihre Zusammensetzungen
der Kreditanstalt für Wiederaufbau gemäß § 7 wegen sieben Vertretern der Bundesregierung in diesem
Absatz 1 Nummer 4 des Gesetzes über die Gremium auf die Mehrheitsbildung keinerlei Einfluss
Kreditanstalt für Wiederaufbau haben. Die Regierungsmehrheit ist ohnehin gesichert.

– Drucksachen 17/4176, 17/4177 – Das gesetzliche System dieses Verwaltungsrats, das sich
nicht an den Legislaturperioden des Deutschen Bundes-
Hierzu liegen ein Wahlvorschlag der Fraktionen tages, sondern an der Amtszeit der Verwaltungsratsmit-
CDU/CSU, SPD, FDP und Die Linke sowie ein Wahl- glieder orientiert, zeigt schon, dass es auf eine Abbildung
vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. der Mehrheitsverhältnisse des Deutschen Bundestages
nicht ankommt, sondern auf eine Repräsentanz aller
Bevor wir zur Abstimmung über die Wahlvorschläge Fraktion bei der Kontrolle dieses Gremiums.
kommen, erteile ich zunächst dem Abgeordneten Volker
Beck das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das Bundesverfassungsgericht hat in einem ähnlichen
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fall, nämlich bei der Zusammensetzung der Bundestags-
bank im Vermittlungsausschuss – damals gegen unsere
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stim- Koalition – entschieden:
men jetzt in einer offenen Wahl über die Besetzung des
Verwaltungsrates der Kreditanstalt für Wiederaufbau ab. Funktion und Aufgaben des Vermittlungsausschus-
Es ist unerlässlich, dass alle Fraktionen des Deutschen ses fordern keine zwingende Ausrichtung der Be-
Bundestages im Verwaltungsrat der KfW vertreten sind, setzung des Ausschusses am Mehrheitsprinzip in
um über die Geschäftsstrategie der staatseigenen Bank einem Umfang, dass der Grundsatz der Spiegelbild-
zu entscheiden und sie zu kontrollieren. lichkeit

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo steht denn – nämlich der Beteiligung aller Fraktionen –
(B) (D)
das?) im Zweifel zu weichen hätte.
Es ist undemokratisch und widerrechtlich, dass die Das Bundesverfassungsgericht hat zum Grundsatz der
schwarz-gelbe Koalition die Bundestagsfraktion Bünd- Spiegelbildlichkeit ausgeführt:
nis 90/Die Grünen aus dem Kontrollorgan der Kreditan-
Er muss im Konfliktfall der mit dem Prinzip stabi-
stalt für Wiederaufbau heraushalten will. Die KfW ist in
ler parlamentarischer Mehrheitsbildungen in Ein-
erster Linie eine Bank für die Förderung des Mittelstan-
klang gebracht werden. Kollidieren der Grundsatz
des. Unsere Kandidatin Christine Scheel ist die Mittel-
der Spiegelbildlichkeit und der Grundsatz, dass bei
standsbeauftragte der Fraktion. Sie hat schon viele Jahre
Sachentscheidungen die die Regierung tragende
diesem Gremium angehört und hat hier eine wichtige
parlamentarische Mehrheit sich auch in verkleiner-
Arbeit geleistet, die von allen geschätzt wird.
ten Abbildungen des Bundestages muss durchset-
Die KfW finanziert Kommunalkredite und ermöglicht zen können, so sind beide Grundsätze zu einem
Export- und Projektfinanzierungen in großem Umfang. schonenden Ausgleich zu bringen.
Sie hat im letzten Jahr mit der Kreditgewährung an Grie- Ein schonender Ausgleich liegt aber dort nicht vor,
chenland im Auftrag des Bundes eine wichtige Funktion wo eine Bundestagsfraktion von den Kontrollmöglich-
zur Weiterentwicklung des europäischen Binnenmarktes keiten – hier der Staatsbank – ausgeschlossen wird.
mit einem stabilen Euro übernommen. Es ist unerläss-
lich, dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
der Kontrolle einer solch zentralen Stelle beteiligt sind Herr Kauder, sogar für den Vermittlungsausschuss
und keiner ausgeschlossen wird. – damals haben Sie ja geklagt – sagt das Bundesverfas-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sungsgericht:
Dabei schließt die normative Ausgestaltung des
Herr Grund wird vermutlich gleich zu erklären versu- Vermittlungsausschusses nicht aus, dass die politi-
chen, dass sich aus dem Beschluss des Deutschen Bun- sche Opposition auf Bundesebene in dem Aus-
destages vom 28. Oktober 2009 zu dem Antrag mit dem schuss in bestimmten Fällen über eine Mehrheit
Titel „Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung verfügt;
der Stellenanteile der Fraktionen“ ergebe, dass uns kein
Platz zustünde. Nach dem gängigen Stellenverteilungs- – was hier gar nicht der Fall wäre. Das zeigt aber, dass
verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers steht den Grünen Sie hier willkürlich und widerrechtlich in die Kontroll-
ein Platz zu. Sie berufen sich dabei auf folgenden Satz: rechte meiner Fraktion eingreifen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8955
Volker Beck (Köln)
(A) Herr Grund, es gibt keinen guten rechtlichen und ver- Führt dieses Verteilverfahren nicht zu einer Wieder- (C)
fassungsrechtlichen Grund für die Beschneidung unserer gabe der parlamentarischen Mehrheit …, errechnet
parlamentarischen Kontrollrechte. Beteiligung ist auch sich die Verteilung nach d’Hondt.
keine Belohnung für parlamentarisches Wohlverhalten
gegenüber der Koalition. Deshalb stimmen Sie unserem Genau diese Verteilung ist hier anzuwenden. Es gibt
Wahlvorschlag zu. Diese Bitte richte ich auch an die bei- einen gemeinsamen Vorschlag aller anderen Fraktionen
den anderen demokratischen Fraktionen. Bitte unterstüt- in diesem Haus, auch von einer Fraktion, die heute nicht
zen Sie uns in dem Anliegen, dass alle Fraktionen des auf dem Wahlvorschlag steht. Ausgerechnet die Fraktion
Deutschen Bundestages gemeinsam die Staatsbank kon- der Grünen bricht hier aus einer parlamentarischen Tra-
trollieren können müssen. Das dient der parlamentari- dition aus, die bisher für alle bindend gewesen ist.
schen Demokratie und ist gut für unser Land. Ich will auf zwei oder drei Argumente eingehen, die
der Kollege Beck hier vorgetragen hat. Das eine Argu-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ment stützt sich auf ein Urteil des Bundesverfassungsge-
richtes. Demnach seien die Grünen aus verfassungs-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: rechtlichen Gründen – Grundsatz der Spiegelbildlichkeit –
Jetzt hat der Kollege Manfred Grund das Wort zu ei- zu beteiligen. Herr Kollege Beck, dieses Urteil bezieht
ner Erklärung. sich ausdrücklich auf den Vermittlungsausschuss, also
auf ein Gremium, das sich aus Vertretern von Bundesrat
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und Bundestag zusammensetzt. Die Bestimmung der
neten der FDP) Zahl der Sitze, die im Verwaltungsrat der KfW zu beset-
zen sind, liegt überhaupt nicht in unserer Hand. Wir sind
Manfred Grund (CDU/CSU): hier nur ein entsendendes Organ unter vielen anderen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut Es gibt viele andere Gremien, die unter anderem von
für unser Land, wenn wir uns an die Grundsätze halten, Mitgliedern des Bundestages besetzt werden, wo aber
die wir uns selber gegeben haben. Herr Kollege Beck, nur ein oder zwei Mitglieder des Bundestages vertreten
Ihre Argumentation führt in die Irre und geht an dem sein können. Hier gibt es überhaupt keinen Streit da-
Grundsatz vorbei, den Sie in Ihrer Eigenschaft als Parla- rüber, ob man alle Fraktionen beteiligen sollte, weil das
mentarischer Geschäftsführer der Grünen bis vor weni- überhaupt nicht möglich ist.
gen Jahren selber vertreten haben: Mehrheit ist Mehr-
heit. Sie haben ein zweites Argument vorgetragen: Die Re-
gierung, die auch im Verwaltungsrat vertreten ist, könne
Worum geht es in der Sache? die Mehrheit der Regierungskoalitionen darstellen. Herr
(B) Kollege Beck, wir haben aus guten Gründen seit der (D)
Erstens. Wir haben heute drei der insgesamt sieben Französischen Revolution eine Gewaltenteilung:
Mitglieder des Verwaltungsrats der Kreditanstalt für
Wiederaufbau, die der Deutsche Bundestag nach dem (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Gesetz über die Kreditanstalt für Wiederaufbau zu be- NEN]: Aber nicht im Verwaltungsrat!)
stellen hat, neu zu bestellen. hier das Parlament, der Gesetzgeber, da die Regierung,
Zweitens. Der Deutsche Bundestag hat am Anfang dort im Gericht die Justiz. Glauben Sie, dass wir das uns
dieser Legislaturperiode in Übereinstimmung und Ab- zustehende Mandat an die Regierung abgeben? Das wer-
sprache mit allen Fraktionen eine Regelung getroffen, den wir nicht tun. Wenn Sie auf die Gewaltenteilung ver-
wie in Zukunft – in dieser Legislaturperiode – Positionen zichten wollen, schlage ich vor: Sprechen Sie doch zum
in Ausschüssen und anderen Gremien zu besetzen sind, Beispiel Frank Bsirske von der Gewerkschaft Verdi an.
damit sich die durch Wählerentscheidung – Herr Kollege Er ist Mitglied der Grünen und sitzt im Verwaltungsrat;
Beck, wir bestrafen und belohnen nicht; der Wähler be- er kann nach Ihrer Vorstellung von Gewaltenteilung in
straft und belohnt – herbeigeführte parlamentarische Zukunft Ihre Interessen dort wahrnehmen. Wir werden
Mehrheit in allen Gremien widerspiegelt und abbildet. unser Mandat nicht abgeben.

Die Drucksache 17/4 trägt die Unterschrift aller Frak- Herr Kollege Beck, Ihr drittes Argument: Beim KfW-
tionen, natürlich auch Ihrer Fraktion. Darin heißt es: Verwaltungsrat handele es sich nicht um ein Gremium,
auf das die Vereinbarung, die wir zu Beginn der Legisla-
Die Zahl der auf die Fraktionen entfallenden Sitze turperiode gemeinsam getroffen haben, zutreffe. Es gibt
im Ältestenrat und in den Ausschüssen des Deut- insgesamt 42 Gremien – die Liste wurde von der Bun-
schen Bundestages sowie die Verteilung der Vor- destagsverwaltung zusammengestellt und war bisher
sitze in den Ausschüssen werden nach dem Verfah- zwischen allen Fraktionen unstrittig –, wonach dieses
ren der mathematischen Proportion (Sainte-Laguë/ Berechnungsverfahren – mit diesem Ergebnis – beim
Schepers) berechnet, soweit nichts Abweichendes KfW-Verwaltungsrat anzuwenden ist.
vereinbart wird. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
Das Gleiche GRÜNEN]: Das ist kein Gremium im Sinne
dieses Beschlusses!)
– das ist entscheidend –
Jetzt, wo es einmal nicht Ihrer Interessenlage entspricht,
gilt für die Besetzung von anderen Gremien, soweit stellen Sie dieses Verfahren infrage. Herr Kollege Beck,
gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Sie führen Ihre Fraktion mit Ihrer Argumentation auf ei-
8956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Manfred Grund
(A) nen sehr abschüssigen Pfad. Sie führen Ihre Fraktion er- Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der (C)
kennbar ins parlamentarische Abseits und die Gewalten- CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim In-
teilung und die parlamentarische Demokratie ins Elend. nenausschuss. Die Fraktion der SPD wünscht Federfüh-
rung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Oh!) Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD – Federführung beim Ausschuss für
Ich fordere die Fraktion der Grünen, die hier so stark
Arbeit und Soziales – abstimmen. Wer stimmt für diesen
vertreten ist, auf: Schließen Sie sich dem Antrag der an-
Vorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
deren Fraktionen an. Bleiben Sie beim bewährten Ver-
Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koali-
fahren. Lassen Sie sich von Volker Beck nicht in die Irre
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-
führen.
tionen abgelehnt.
Herzlichen Dank.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Fraktionen der CDU/CSU und der FDP – Federführung
der Abg. Petra Ernstberger [SPD]) beim Innenausschuss – abstimmen. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Ent-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Nach diesen beiden Erklärungen kommen wir nun zur Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
Abstimmung, und zwar zunächst über den Wahlvor- der Oppositionsfraktionen angenommen.
schlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen.
sache 17/4176. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Wahlvor- Tagesordnungspunkte 42 a bis 42 d sowie Zusatz-
schlag ist mit der Mehrheit des Hauses abgelehnt. punkte 2 b und 2 c:

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 42 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
Das ist ja wie früher! – Gegenruf des Abg. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist Gott sei Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie im
Dank wie früher!) Eichgesetz sowie im Geräte- und Produktsi-
cherheitsgesetz und zur Änderung des Verwal-
Wir stimmen nun über den Wahlvorschlag der Fraktio- tungskostengesetzes
nen CDU/CSU, SPD, FDP und Die Linke auf Druck-
sache 17/4177 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – – Drucksache 17/3983 –
(B) Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag Überweisungsvorschlag: (D)
ist bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss
nen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenom- Rechtsausschuss
men. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 42 a bis 42 d sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf. Es handelt sich um b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne De- Koenigs, Ute Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, weite-
batte. rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei der
die Federführung strittig ist, zum Zusatzpunkt 2 a: Für einen nachhaltigen Ausbau des Bildungs-
und Hochschulsystems in Afghanistan
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Anton Schaaf, Petra Ernstberger, wei- – Drucksache 17/3866 –
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Richtlinien zur konzerninternen Entsendung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
und zur Saisonarbeit sozial gerecht gestalten Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
– Drucksache 17/4190 – Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Überweisungsvorschlag: Entwicklung
Innenausschuss (f) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Keul, Kerstin Müller (Köln), Manuel Sarrazin,
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Verbraucherschutz NIS 90/DIE GRÜNEN
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig Den friedenspolitischen und krisenpräventi-
ven Auftrag des Europäischen Auswärtigen
Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der
Dienstes jetzt umsetzen
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4190 mit dem Titel
„Richtlinien zur konzerninternen Entsendung und zur – Drucksache 17/4043 –
Saisonarbeit sozial gerecht gestalten“ an die in der Ta- Überweisungsvorschlag:
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8957
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Auswärtiger Ausschuss Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (C)
Innenausschuss ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe schuss)
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
– Drucksache 17/4054 –

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elisabeth Berichterstattung:


Scharfenberg, Fritz Kuhn, Dr. Harald Terpe, wei- Abgeordneter Martin Dörmann
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
NIS 90/DIE GRÜNEN fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
Versorgungslücke nach Krankenhausaufenthalt sache 17/4054, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
und ambulanter medizinischer Behandlung auf Drucksache 17/3306 in der Ausschussfassung anzu-
schließen nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Hand-
– Drucksache 17/2924 – zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-
Überweisungsvorschlag: setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Ausschuss für Gesundheit (f) Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Frak-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
tion und Enthaltung der Fraktionen Die Linke und
Ausschuss für Arbeit und Soziales Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
ZP 2 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Dritte Beratung
Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Viola
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsät- ist mit gleichem Stimmverhältnis angenommen.
zen für multinationale Unternehmen stärken
Tagesordnungspunkt 43 b:
– Drucksache 17/4196 –
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
Auswärtiger Ausschuss logie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie neten Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Philipp Murmann,
Ausschuss für Arbeit und Soziales Dr. Joachim Pfeiffer, weiterer Abgeordneter und (D)
(B) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordne-
Entwicklung
ten Paul K. Friedhoff, Patrick Meinhardt,
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), weiterer Abgeord-
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, neter und der Fraktion der FDP
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Existenzgründungen aus Forschung und Wis-
senschaft fördern – Für einen starken deut-
Verbesserung der Versorgung der im Beitritts- schen Innovationsstandort
gebiet vor dem 1.1.1992 Geschiedenen
– Drucksachen 17/3480, 17/4115 –
– Drucksache 17/4195 –
Berichterstattung:
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Abgeordneter Dr. Heinz Riesenhuber
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an lung auf Drucksache 17/4115, den Antrag der Fraktio-
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu nen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3480
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 43 a bis 43 o sowie der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 j auf. Es handelt sich um und den Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die
Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aus- Grünen.
sprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 43 c:
Tagesordnungspunkt 43 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Europa-Mittelmeer-Luftverkehrsab-
zur Neuregelung des Post- und Telekommunika-
kommen vom 12. Dezember 2006 zwischen der
tionssicherstellungsrechts und zur Änderung te-
Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit-
lekommunikationsrechtlicher Vorschriften
gliedstaaten einerseits und dem Königreich
– Drucksache 17/3306 – Marokko andererseits (Vertragsgesetz Europa-
8958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Mittelmeer-Luftverkehrsabkommen – Euromed- Tagesordnungspunkt 43 e: (C)
LuftvAbkG-Marok)
Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
– Drucksache 17/3121 – schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung (1. Ausschuss)
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Änderung der Geschäftsordnung des Deut-
(15. Ausschuss) schen Bundestages

– Drucksache 17/4181 – hier: Beratungsfrist bei Beschlussempfehlun-


gen des Vermittlungsausschusses (§ 90
Berichterstattung: GO-BT)
Abgeordnete Ulrike Gottschalck
– Drucksache 17/4166 –
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
Drucksache 17/4181, den Gesetzentwurf der Bundesre- lung ist einstimmig angenommen.
gierung auf Drucksache 17/3121 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, Tagesordnungspunkt 43 f:
um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun- Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-
gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ausschusses (6. Ausschuss)
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen mit
den Stimmen aller übrigen Fraktionen. Übersicht 4
über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
Dritte Beratung ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem gericht
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – – Drucksache 17/4240 –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Auch diese Beschluss-
Tagesordnungspunkt 43 d: empfehlung ist einstimmig angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Tagesordnungspunkte 43 g bis 43 o sowie Zusatz-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu punkte 3 a bis 3 j. Wir kommen zu den Beschlussemp-
(B) dem Antrag der Abgeordneten Dr. Eva Högl, fehlungen des Petitionsausschusses. (D)
Dr. Peter Danckert, Sebastian Edathy, weiterer
Tagesordnungspunkt 43 g:
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro- ausschusses (2. Ausschuss)
päischen Parlaments und des Rates zur Verhü-
tung und Bekämpfung von Menschenhandel Sammelübersicht 181 zu Petitionen
und zum Opferschutz sowie zur Aufhebung – Drucksache 17/4020 –
des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates
(Ratsdok. 8157/10) Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 181 ist einstimmig angenommen.
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 Tagesordnungspunkt 43 h:
des Grundgesetzes Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Menschenhandel bekämpfen – Opferschutz ausschusses (2. Ausschuss)
stärken Sammelübersicht 182 zu Petitionen
– Drucksachen 17/2344, 17/4247 – – Drucksache 17/4021 –
Berichterstattung: Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Abgeordnete Ute Granold Auch Sammelübersicht 182 ist einstimmig angenom-
Dr. Eva Högl men.
Marco Buschmann
Tagesordnungspunkt 43 i:
Raju Sharma
Jerzy Montag Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/4247, den Antrag der Fraktion Sammelübersicht 183 zu Petitionen
der SPD auf Drucksache 17/2344 für erledigt zu erklä-
– Drucksache 17/4022 –
ren. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
lung ist einstimmig angenommen. gen? – Sammelübersicht 183 ist angenommen mit den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8959
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion Tagesordnungspunkt 43 o: (C)
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthal-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
tung von Bündnis 90/Die Grünen.
ausschusses (2. Ausschuss)
Tagesordnungspunkt 43 j: Sammelübersicht 189 zu Petitionen
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 17/4028 –
ausschusses (2. Ausschuss)
Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 184 zu Petitionen Sammelübersicht 189 ist mit den Stimmen der Koali-
– Drucksache 17/4023 – tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-
tionen angenommen.
Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Zusatzpunkt 3 a:
Sammelübersicht 184 ist einstimmig angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Tagesordnungspunkt 43 k: ausschusses (2. Ausschuss)
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 190 zu Petitionen
ausschusses (2. Ausschuss)
– Drucksache 17/4215 –
Sammelübersicht 185 zu Petitionen
Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
– Drucksache 17/4024 – Sammelübersicht 190 ist einstimmig angenommen.
Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Die Zusatzpunkt 3 b:
Sammelübersicht 185 ist bei Gegenstimmen der Fraktion
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen an-
ausschusses (2. Ausschuss)
genommen.
Sammelübersicht 191 zu Petitionen
Tagesordnungspunkt 43 l:
– Drucksache 17/4216 –
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 191 ist mit den Stimmen der Koali-
Sammelübersicht 186 zu Petitionen tionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen
– Drucksache 17/4025 – der Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bündnis 90/
(B) Die Grünen angenommen. (D)
Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Zusatzpunkt 3 c:
Sammelübersicht 186 ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstim- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
men der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grü- ausschusses (2. Ausschuss)
nen angenommen.
Sammelübersicht 192 zu Petitionen
Tagesordnungspunkt 43 m: – Drucksache 17/4217 –
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
ausschusses (2. Ausschuss) gen? – Sammelübersicht 192 ist einstimmig angenom-
Sammelübersicht 187 zu Petitionen men.

– Drucksache 17/4026 – Zusatzpunkt 3 d:


Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
ausschusses (2. Ausschuss)
tungen? – Sammelübersicht 187 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Ge- Sammelübersicht 193 zu Petitionen
genstimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
– Drucksache 17/4218 –
angenommen.
Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Tagesordnungspunkt 43 n: Sammelübersicht 193 ist mit den Stimmen der Koali-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- tionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstim-
ausschusses (2. Ausschuss) men der Fraktion Die Linke und Enthaltung des Bünd-
nisses 90/Die Grünen angenommen.
Sammelübersicht 188 zu Petitionen
Zusatzpunkt 3 e:
– Drucksache 17/4027 –
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 188 ist mit den Stimmen der Koali-
Sammelübersicht 194 zu Petitionen
tionsfraktionen bei Gegenstimmen von SPD und Grünen
und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. – Drucksache 17/4219 –
8960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom- (C)
gen? – Sammelübersicht 194 ist einstimmig angenom- men.
men.
Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf:
Zusatzpunkt 3 f:
Aktuelle Stunde
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
ausschusses (2. Ausschuss) der FDP:
Sammelübersicht 195 zu Petitionen Ergebnisse des Weltklimagipfels in Cancún
– Drucksache 17/4220 – Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- ner dem Kollegen Dr. Thomas Gebhart von der CDU/
gen? – Sammelübersicht 195 ist mit den Stimmen der CSU-Fraktion das Wort. – Ist er nicht da? Ich darf ein-
Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion mal die Geschäftsführung der CDU/CSU-Fraktion fra-
Die Linke angenommen. Die Fraktion Bündnis 90/Die gen, wo der Redner ist.
Grünen hat dagegen gestimmt. (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Nächster Red-
Zusatzpunkt 3 g: ner! – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Sprachlos
und kopflos! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- DIE GRÜNEN]: Kopflos beim Klimaschutz!)
ausschusses (2. Ausschuss)
Herr Kollege Gebhart, Sie sind als erster Redner auf-
Sammelübersicht 196 zu Petitionen gerufen. Deswegen wäre es gut, wenn Sie sich die Zeit
– Drucksache 17/4221 – nehmen könnten, zum Rednerpult zu kommen.

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – (Heiterkeit)


Sammelübersicht 196 ist bei Gegenstimmen der SPD- Bitte schön, Sie haben das Wort.
Fraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen an-
genommen.
Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU):
Zusatzpunkt 3 h: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ren! Herzlichen Dank für die Einladung und die Auffor-
ausschusses (2. Ausschuss) derung, hier zu sprechen.
(B) (Heiterkeit) (D)
Sammelübersicht 197 zu Petitionen
– Drucksache 17/4222 – Meine Damen und Herren, wir begrüßen die Ergeb-
nisse von Cancún. Die Ergebnisse übertreffen die Erwar-
Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – tungen. Am Ende wurde ein ganzes Paket von wichtigen
Sammelübersicht 197 ist mit den Stimmen der Koali- Punkten beschlossen. Entscheidend ist: Alle sind an
tionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstim- Bord. Entscheidend ist auch: Der Prozess hin zu welt-
men der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grü- weiten verbindlichen Vereinbarungen über die Mengen-
nen angenommen. begrenzung bei den Treibhausgasemissionen kann wei-
Zusatzpunkt 3 i: tergehen.

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer sich gefragt hat – ich gestehe, auch ich habe mich
ausschusses (2. Ausschuss) das zwischenzeitlich kritisch gefragt –, was solche Kon-
ferenzen eigentlich bringen, und dann am Ende diese
Sammelübersicht 198 zu Petitionen Schlussnacht von Cancún erlebt hat, in der sich so etwas
– Drucksache 17/4223 – wie ein Gemeinschaftsgefühl und eine unglaublich posi-
tive Stimmung herausgebildet haben, die zu diesem Er-
Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – gebnis beigetragen haben, der hat die Frage so beantwor-
Sammelübersicht 198 ist mit den Stimmen der Koali- ten können: Diese Konferenzen haben ihren Wert.
tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegen-
stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen Ein maßgeblicher Erfolgsfaktor – ich denke, da sind
angenommen. wir uns alle einig – war die mexikanische Konferenzlei-
tung. Sie war ausgezeichnet. Aber auch die deutsche
Zusatzpunkt 3 j: Bundesregierung hat einen unglaublich positiven Beitrag
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- geleistet. Die Rolle der Bundesregierung vom Anfang
ausschusses (2. Ausschuss) bis zum Ende der Verhandlungen war hilfreich und au-
ßerordentlich gut. Das Ansehen Deutschlands in der in-
Sammelübersicht 199 zu Petitionen ternationalen Klimaschutzpolitik – dies ist in allen Ge-
– Drucksache 17/4224 – sprächen mit Delegationen anderer Länder deutlich
geworden – ist außerordentlich hoch. Deswegen ist es an
Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Sammelüber- dieser Stelle auch einmal angebracht, der Bundesregie-
sicht 199 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen rung, insbesondere dem Bundesumweltminister, und den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8961
Dr. Thomas Gebhart
(A) Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich zu dan- eindrucksvolle Weise geschildert, was dies für das all- (C)
ken. tägliche Leben der Menschen dort bedeutet. Für den, der
dies verinnerlicht und ernst nimmt, ist klar: Das Thema
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) „Anpassung an die Folgen des Klimawandels“ ist min-
Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich auch destens genauso wichtig wie der Klimaschutz an sich.
sehen, dass das, was in Cancún beschlossen worden ist, Deswegen werden wir beide Wege – sowohl Maßnah-
noch nicht ausreicht, um am Ende die Probleme lösen zu men zum Schutz des Klimas als auch Maßnahmen und
können. Also stellt sich die Frage: Was ist zu tun? Ich Hilfen im Hinblick auf die Anpassung an die Folgen des
will nur drei Punkte nennen. Klimawandels – angehen, und zwar in aller Konsequenz.
Erster Punkt. Der Prozess über die Vereinten Natio- Herzlichen Dank.
nen muss selbstverständlich fortgeführt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Zweiter Punkt. Es ist völlig klar: Auch wenn Europa,
wenn Deutschland alleine die Probleme nicht wird lösen
können, so ist es dennoch ein Teil unserer Verantwor- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
tung, dass wir unseren Beitrag zur Lösung dieser Pro- Das Wort hat der Kollege Frank Schwabe von der
bleme leisten. Deshalb ist es richtig, dass sich die Bun- SPD-Fraktion.
desregierung und dieses Parlament beim Energiekonzept (Beifall bei der SPD)
entschlossen haben, bis 2020 zu einer Reduktion der
Treibhausgasemissionen um 40 Prozent zu kommen.
Nun ist es an der Europäischen Union, mit einer Reduk- Frank Schwabe (SPD):
tion um 30 Prozent nachzuziehen. Das ist möglich. Das Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
ist geboten. Es ist auch – das füge ich ausdrücklich Ich will ausdrücklich sagen, dass wir eine große Über-
hinzu – in unserem ureigenen ökonomischen Interesse, einstimmung in diesem Hause darin haben, die Ergeb-
dass unsere europäischen Wettbewerber möglichst ähnli- nisse von Cancún zu begrüßen. Ich will auch ausdrück-
che Verpflichtungen eingehen, wie wir es in Deutschland lich sagen, dass wir uns fraktionsübergreifend – ich
tun. glaube, so kann man das sagen – und sehr solidarisch da-
für eingesetzt haben, dass diese Ergebnisse zustande ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kommen sind.
Der dritte Punkt. Es muss uns gelingen, die Klima- Ich habe zwei beeindruckende Erfahrungen aus Can-
schutz- und die Umweltschutzziele in echten Einklang cún mitgebracht.
(B) mit Wohlstand und Wachstum zu bringen. Der Schlüssel (D)
dazu liegt in technologischen Innovationen. Die erste beeindruckende Erfahrung ist die, die auch
Herr Dr. Gebhart schon geschildert hat. Es ist nämlich
Deutschland ist heute in vielen Bereichen der Techno- deutlich geworden, dass jenseits der Zahlen, die wir uns
logie führend. Wir müssen diesen Weg konsequent wei- anschauen – dort steht dann, wie groß die Temperaturer-
tergehen. Das ist eine große Herausforderung für die höhung schon gewesen ist und wie der Anstieg des CO2-
nächsten Jahre. Zugleich ist es aber auch eine große Gehalts aussieht –, der Klimawandel konkret stattfindet
wirtschaftliche Chance. Wir werden auf diese Art und und für ganz viele Menschen auf der Welt Realität ist.
Weise auch die Arbeitsplätze von morgen schaffen und Wir haben dort mit vielen Delegationen geredet, und
sichern können. man könnte dem Beispiel aus dem Tschad ganz viele
Beispiele aus Zentralamerika, von vielen Inselstaaten
Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die Technolo-
und aus Bangladesch hinzufügen.
giekooperation in den Ergebnissen von Cancún einen so
großen Stellenwert einnimmt. Das ist etwas Bemerkens- Die zweite Erfahrung ist, dass sich viele Staaten auf
wertes und durchaus Neues. der Welt völlig unabhängig davon, was in diesem UN-
Prozess passiert, auf den Weg gemacht haben, sich die-
Meine Damen und Herren, zum Schluss will ich einen
ser Herausforderung zu stellen. Viele Staaten entwickeln
Punkt herausgreifen. Es ist gut, dass durch die Be-
völlig unabhängig vom UN-Prozess eine unheimlich dy-
schlüsse von Cancún dem Thema „Anpassung an die
namische Technologiepolitik.
Folgen des Klimawandels“ ein genauso hoher Stellen-
wert beigemessen wird wie dem Klimaschutz an sich. Meine Sorge ist, dass die Europäische Union und
Wir haben viele Gespräche mit Delegationen geführt, letztlich auch Deutschland in diesem Prozess zurückblei-
insbesondere auch von Entwicklungsländern. Es ist da- ben. Wir sind sicherlich noch vorne – gar keine Frage –,
bei sehr deutlich geworden, wie diese Länder teilweise aber die Dynamik ist so groß, dass wir in dem Moment,
schon heute enorm unter bestimmten Folgen des Klima- in dem Länder wie Brasilien, Südkorea, China und an-
wandels leiden. dere neben uns sind, sie möglicherweise nur kurz sehen,
während sie ganz schnell an uns vorbeiziehen, weil wir
Ich will nur dieses eine Beispiel nennen: Tief beein-
unsere Politiken nicht entsprechend weiterentwickeln.
druckend waren für mich die Schilderungen einer jungen
Das ist jedenfalls meine Sorge.
Frau aus dem Tschad. Sie hat uns sehr eindringlich deut-
lich gemacht, dass im Tschad in diesem Sommer Re- Ich glaube, das wichtigste Ergebnis von Cancún war,
kordtemperaturen von sage und schreibe 50 Grad Cel- dass diejenigen, die hier national und in Europa als
sius erreicht wurden. Sie hat auf eine besonders Bremser und gar als Klimaskeptiker auftreten, jetzt in
8962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Frank Schwabe
(A) ihre Schranken verwiesen werden. Auch deswegen war von 25 bis 40 Prozent verpflichten. Ich glaube, dass wir (C)
Cancún unglaublich wichtig. deswegen unsere Ziele anheben müssen. Wir sind mitt-
lerweile bei minus 17,3 Prozent in der Europäischen
Ich würde nicht so weit gehen, wie das der Umwelt- Union angelangt. Vielleicht sind wir in zwei, drei Jahren
minister getan hat, und von einem sehr großen Erfolg re- bei den minus 20 Prozent, die wir uns bisher als Ziel ge-
den. Das hat der Umweltminister ja gesagt. Ich würde setzt haben. Dann würde jeglicher ökonomischer Anreiz
sagen, es war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu ei- entfallen, in eine Klimaschutzpolitik zu investieren. In
nem sehr großen Erfolg. Dieser Fortschritt muss dann der Tat: Wie wollen Sie eigentlich die Klimaschutzziele
dementsprechend in Durban kommen. in Deutschland von minus 40 Prozent, die wir unterstüt-
Es wird nicht verwundern, dass wir völlig unter- zen, erreichen, wenn der Teil der CO2-Reduzierung, die
schiedliche Einschätzungen hinsichtlich der Rolle der auf dem Emissionshandel basiert, nicht möglich ist, weil
Europäischen Union und auch der Rolle Deutschlands der Emissionshandel auf dem 20-Prozent-Ziel basiert?
haben. Es ist ganz zweifellos so, dass wir hohe Anerken- Ihren Rucksack erleichtern müssen Sie zweitens auch
nung im internationalen Klimaprozess genießen, gar im Hinblick auf die Frage nach den neuen und zusätzli-
keine Frage. Allerdings glaube ich, dass dies eine Aner- chen Mitteln. Vielleicht kann Frau Staatssekretärin dazu
kennung ist, die auf der Politik der vergangenen 20 Jahre gleich noch Erhellendes sagen. Zum Glück ist es so ge-
basiert. wesen, dass dies die Verhandlungen in Cancún am Ende
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht zu sehr belastet hat. In Durban wird das ganz an-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ders sein; dort wird nach drei Jahren abgerechnet, 2010
LINKEN) bis 2012, inwieweit die Mittel neu und zusätzlich sind,
die Sie damals in Kopenhagen versprochen haben.
Ich sage ausdrücklich 20 Jahre, weil daran auch Um-
weltminister der CDU beteiligt waren. Mein Eindruck ist Ich will mit Frau Espinosa, der Außenministerin von
allerdings, dass wir mittlerweile ins Mittelfeld zurück- Mexiko, schließen, die als Präsidentin der COP allum-
fallen. Die deutsche Delegation und die Verhandler wa- fassend gelobt wurde:
ren natürlich hervorragend; man kann ihnen nur danken. Es ist Zeit, gemeinsame Anstrengungen zu unter-
Die Rolle allerdings, die Deutschland insgesamt und nehmen, bevor es zu spät ist.
auch der Umweltminister gespielt haben, ist aus meiner
Sicht schlichtweg nur noch mittelmäßig. Vielen Dank.
Das hat aber auch Gründe. Ich will das gar nicht dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Herrn Minister persönlich zuschreiben. Einer der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
(B) Gründe ist, dass man auf einer solchen Konferenz natür- LINKEN) (D)
lich nur das verhandeln kann, was man zu Hause hier im
Hohen Hause beschlossen bekommt und dorthin mitneh- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
men kann. Da gibt es einen großen Rucksack; der Herr Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä-
Minister hat mit Blick auf Durban und auch das, was rin Gudrun Kopp.
dorthin mitgenommen werden muss, das Bild des Ruck-
sacks gewählt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Meiner Meinung nach gibt es zwei Dinge, die schwer
im Rucksack von Herrn Röttgen liegen. Das eine sind
Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
die Ziele, ist die Frage des Anhebens des europäischen
minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
Ziels auf 30 Prozent, worüber es in der Koalition Unei-
wicklung:
nigkeit gibt. Das andere ist die Frage, ob die Mittel, die
wir für den Finanztransfer zur Verfügung stellen, neu Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen!
und zusätzlich vorgesehen worden sind. Ich kann Ihnen Cancún war zum Glück nicht Kopenhagen. Ich möchte
dazu nur sagen: Auf der linken Seite des Hauses haben Ihnen vorweg einmal ein paar andere Eindrücke schil-
Sie die Zustimmung für diese Politik. Ob Sie die Zustim- dern, nämlich vom Hergang der Gesamtkonferenz, weil
mung auch auf der anderen Seite des Hauses haben, wird ich das für nicht unwichtig halte, wenn ich nach Durban
sich in den nächsten Wochen erweisen müssen. im kommenden Jahr sehe und dabei feststelle, was nötig
ist.
In der Europäischen Union müssen wir jetzt in Rich-
tung 30-Prozent-Ziel gehen, jenseits dessen, was BDI Meiner Einschätzung nach war Cancún ein Meister-
und VCI schon wieder in Pressemitteilungen verkünden. stück an Verhandlungsdiplomatie; denn man muss ein-
Ich glaube, dass sie schon vor der Konferenz vorbereitet fach sehen: Es galt zunächst einmal, verloren gegangenes
worden sind, dass man auf ein Scheitern gehofft und Vertrauen wieder aufzubauen, und es galt, viele Skeptiker
dann gleich verkündet hat, in der Europäischen Union einzufangen. Ich empfand es als positiv, dass im Vorfeld
dürfe es die 30 Prozent auf gar keinen Fall geben. dieser Konferenz die Messlatte der Einigung nicht zu
hoch gelegt wurde, also kein großer Medienhype, keine
Meines Erachtens gibt es drei Gründe, jetzt diese Riesenerwartungen, sondern einfach nur – das habe ich
30-Prozent-Reduzierung anzustreben. Erstens haben wir schon bei meiner Ankunft und bei den verschiedenen Ge-
in Cancún mit dem Beschluss festgestellt, dass die Ki- sprächen mit den unterschiedlichen Ländergruppen oder
oto-Staaten sich zu einer Reduktion in einem Spielraum auch mit den NGOs gespürt – eine Atmosphäre der kon-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8963
Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp
(A) struktiven Zusammenarbeit herrschte. Viele Länder woll- sagt habe, ist es gelungen, eine Vereinbarung auf den (C)
ten zu einem soliden Ergebnis kommen, zu einem Ergeb- Weg zu bringen, die die Beiträge der Schwellenländer
nis, das geeignet ist, die Brücke zur nächsten Konferenz zur Minderung der Treibhausgase ebenso wie die Eini-
in Durban 2011 zu bauen, die sehr wichtig ist. gung auf eine maximale Klimaerwärmung um 2 Grad
einbezieht. Auch dies ist ein wichtiger Punkt.
Ich fand es beispielsweise sehr wichtig, dass nicht
schon am Anfang fertige Papiere zur Choreografie der (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Verhandlungen vorgelegt wurden, die die verhandelnden CDU/CSU)
Delegationen dann nur noch abnicken sollten, wie es bei
den zahlreichen internationalen Konferenzen in der Ver- Im Pflichtenheft für die nächste Verhandlung stehen der
gangenheit häufig der Fall war. Das fand ich sehr klug, Schutz tropischer Wälder, die Aufforstung und die Bio-
bis hin zu der Tatsache, dass die Reihenfolge der Redner diversität. All das ist wichtig.
bei der Eröffnung und auch anschließend mit sehr gro- Ich will aber auch etwas zur Finanzierung sagen. Sehr
ßem Einfühlungsvermögen und internationalem Ge- geehrte Herren und Damen, die Bundesregierung wird
schick gewählt wurde. ihre Zusage einhalten, zusätzliche Finanzmittel für die
Diese Art der Verhandlungsführung war sehr gut und Klimaschutzfinanzierung bereitzustellen. Mit dem
ist, hoffe ich, beispielhaft für die nächste große Runde, jüngst beschlossenen Bundeshaushalt 2011 ist ein weite-
die vor uns liegt. Das lag auch an der mexikanischen rer Baustein gesichert. Deutschland wird in den Jahren
Außenministerin Espinosa, die ihre Arbeit hervorragend 2010 bis 2012 rund 4 Milliarden Euro für Klimaschutz-
gemacht hat. Aber auch die UN haben dabei ebenso wie vorhaben in Entwicklungsländern bereitstellen, davon
die Europäische Union und wir als Bundesregierung eine 1,26 Milliarden Euro im Rahmen der in Kopenhagen an-
sehr gute Rolle gespielt. Ich danke Minister Röttgen gekündigten zusätzlichen Fast-Start-Finanzierung. Über
noch einmal herzlich für die sehr gute und vertrauens- 80 Prozent dieser Summe werden vom BMZ bereitge-
volle Zusammenarbeit. Ich habe nichts anderes erwartet. stellt. Damit ist das Entwicklungsministerium der wich-
tigste deutsche Finanzier klimapolitischer Maßnahmen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Auch das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt.
CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Europa hat bei diesen Verhandlungen mit einer CDU/CSU)
Stimme gesprochen. Auch das ist ein wichtiger Punkt.
Das war bei den bisherigen internationalen Konferenzen Ich habe mich gefreut, beispielsweise bei Gesprächen
längst nicht immer so. mit den NGOs, auch zu hören, dass sie unsere Definition
(B) von „neu und zusätzlich“ – es gibt keine internationale (D)
Ich habe mich gefreut, dass heute zu Beginn der Dis- Definition dafür – sehr gut gefunden und gelobt haben.
kussion Klimaschutz und Entwicklungszusammenarbeit
endlich zusammen diskutiert werden. Denn ich finde, die (Frank Schwabe [SPD]: Das ist doch grober
Entwicklungszusammenarbeit wurde in diesem Zusam- Unfug!)
menhang in der Tat in der Vergangenheit unterbelichtet.
Minderung von Treibhausgasen, Anpassung an den Kli- – Sie waren bei den Gesprächen nicht dabei; bleiben Sie
mawandel und Waldschutz waren die drei Hauptthemen. ganz ruhig.
Ich finde es gut, dass wir damit ein gehöriges Stück wei- (Frank Schwabe [SPD]: Sie waren ja auch
tergekommen sind. nicht lange da!)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Die Transparenz ist wirklich sehr gut. Wir haben auf
CDU/CSU)
dieser Konferenz unsere Daten veröffentlicht und genau
Wir sind als Bundesministerium für wirtschaftliche dargestellt, wie sich die Finanzierung zusammensetzt.
Zusammenarbeit und Entwicklung mit vier zentralen Dies wurde ausdrücklich begrüßt. Im Übrigen sind wir
Anliegen in die Verhandlungen gegangen. Dazu gehören als Deutsche die Einzigen, die eine solche Transparenz
erstens die Sicherstellung der Kohärenz von Klima- bei der Mittelbereitstellung aufweisen.
schutzfinanzierung und Entwicklungsfinanzierung und
zweitens die Verabschiedung eines Rahmenwerkes für (Frank Schwabe [SPD]: Schon wieder Unfug!
die Anpassung an den Klimawandel, das auch die Ent- Denken Sie an die niederländische Seite!)
wicklungsländer und deren Eigenverantwortung stärken Auch das, finde ich, muss erwähnt werden und ist sehr
sollte. Die Vereinbarung eines Mechanismus für den positiv.
Waldschutz in Entwicklungsländern ist ein weiterer sehr
wichtiger Punkt. Damit kann man hocheffizienten Kli- (Beifall bei der FDP)
maschutz erreichen. Außerdem streben wir die Stärkung
des Kohlenstoffmarktes in Entwicklungsländern durch Des Weiteren wurde der Green Climate Fund, also der
Ausweitung auf Industriesektoren und die kosteneffi- Grüne Fonds, der bereits in Kopenhagen beschlossen
ziente Standardisierung von Verfahren an. Ich denke, all wurde, in ein neues Instrument überführt. Er wurde for-
dies war sehr zufriedenstellend. mell eingerichtet, und es wurde ein vorläufiger Verwal-
tungsrat eingesetzt, der den Fonds aufbauen und gestal-
Wir als BMZ sind sehr zufrieden mit den substanziel- ten soll. Auch dies ist ein wichtiger Punkt auf dem Weg
len Fortschritten, die erzielt wurden. Wie ich schon ge- zu einer wirklich kohärenten Arbeit.
8964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp


(A) Zum Schluss, sehr geehrte Herren und Damen, liebe nicht einsehen, warum gerade sie auf Wachstum verzich- (C)
Kollegen und Kolleginnen, freut es mich, darauf auf- ten sollen. Der Pro-Kopf-Ausstoß zum Beispiel von
merksam machen zu können, dass just in diesem Mo- China und Indien ist wesentlich niedriger. Das müssen
ment die Unterzeichnung des Fusionsvertrags der GIZ, wir immer wieder betonen. Die EU will erst dann in Vor-
der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, leistung gehen, wenn andere Industriestaaten mitziehen.
läuft. Das bedeutet, dass wir mit einer so effizient gestal- Die Bundesregierung unterstützt noch immer diese pas-
teten Durchführungsorganisation, wie es die neue GIZ sive Haltung. Frau Kanzlerin Merkel blockiert hier. Die
sein wird, und zusammen mit der KfW, was die Finan- Opposition muss Herrn Röttgen mächtig unterstützen,
zierung der Projekte angeht, unsere Projekte effizient am damit das noch etwas wird.
Markt platzieren werden. Auch dies findet – jedenfalls
habe ich es so erfahren – große internationale Anerken- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
nung. Damit sind wir auch bei der Durchführung von neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
Projekten mit Blick auf die Entwicklungsländer und die GRÜNEN)
Schwellenländer, die von uns eine solche effiziente Zu- Für uns ist der wichtigste Schluss aus Cancún: Die
arbeit erwarten, auf einem guten Weg. EU muss sich sofort und bedingungslos verpflichten, bis
Ich kann nur hoffen, dass dieser Fortschritt, diese 2020 den CO2-Ausstoß um 30 Prozent, ausgehend vom
große Leistung, die wir erbracht haben, wirklich genü- Jahr 1990, zu reduzieren. 20 Prozent sind ein Witz.
gend gewürdigt wird. Ich danke allen hier im Hause, die Wenn wir die Beschlüsse von Cancún ernst nehmen,
daran sehr gut mitgearbeitet haben, dass diese Fusion zu- dann müssen wir einsehen, dass eine höhere Reduktion
stande kommen konnte. Das war keine Selbstverständ- dringend notwendig ist. Was heißt das? Die Industrie-
lichkeit – das wissen Sie –, sondern ein großer Kraftakt. staaten sollen – darüber ist in Cancún diskutiert worden –
Ich bin stolz darauf, freue mich darüber, dass dies gelun- bis 2020 ihren Ausstoß um 25 bis 40 Prozent mindern.
gen ist, und hoffe, dass wir mit gutem Gepäck zur nächs- Das steht so nicht drin, wie fälschlich immer behauptet
ten Klimakonferenz nach Durban gehen und dort die Er- wird, sondern es ist nur als Kenntnisnahme der entspre-
gebnisse erzielen können, die wir uns noch wünschen; chenden Stelle im UN-Klimabericht formuliert. Aber ich
denn es bleibt noch viel zu tun. Wir wollen diese Arbeit denke, das sollte uns reichen.
gemeinsam angehen. In Wirklichkeit liegt der Jubel über Cancún nur an
Herzlichen Dank. den heruntergeschraubten Erwartungen. Das Ergebnis ist
leider sehr mager. Das 2-Grad-Ziel wird nach Kopenha-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gen und G 8 nun schon zum dritten Mal gefeiert. Welch
ein Fortschritt nach 15 Jahren Forschung über Klima-
(B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wandel und seine Folgen! Ich halte es auch für eine tolle (D)
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter von Leistung, dass konkrete Minderungsziele wieder vertagt
der Fraktion Die Linke. wurden. Es gibt keine konkreten Minderungsziele. Im
Dokument lässt sich kein einziges verbindliches Ziel fin-
(Beifall bei der LINKEN) den, nicht einmal für Gruppen von Ländern, auch kein
Langfristziel bis 2050. Schauen Sie sich die freiwilligen
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Zusagen an! Wenn ich diese addiere, dann komme ich
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die auf eine Klimaerwärmung um 3,5 Grad; es kann auch
Einschätzung zu Cancún scheint selbst bei den meisten mehr sein. Herzlichen Glückwunsch!
Umweltverbänden durchaus positiv zu sein, sieht man Im Übrigen hat Bolivien recht: Bei einer Erwärmung
einmal vom BUND ab. Aber ich halte diesen Jubel nicht um 2 Grad wird der Meeresspiegel langfristig um 2 bis
für angebracht; denn an den Verhandlungsergebnissen 3 Meter steigen. Die Abgeordneten von Bangladesch ha-
kann es ja wohl nicht liegen. Ich habe mich gefragt, wa- ben uns klargemacht, dass 18 Prozent der Landesfläche
rum sie das so einschätzen, und ich vermute, dass es eher versinken werden, wenn der Meeresspiegel um nur
eine Art Stockholm-Syndrom ist. Sie erinnern sich: Gei- 1 Meter steigt. Das betrifft 30 Millionen Menschen. Das
seln solidarisieren sich in scheinbar aussichtsloser Lage sind keine Peanuts. Was passiert dann mit den Umwelt-
gelegentlich mit den Geiselnehmern. Als Geiselnehmer flüchtlingen?
bezeichne ich diejenigen, die mittlerweile seit Jahrzehn-
ten blockieren. In Cancún blieb wieder vollkommen offen, welche
Industriestaaten die Klimaschutzmaßnahmen und An-
Hier geht es nicht um die Regierung von Bolivien,
passungsmaßnahmen im globalen Süden in welcher
sondern um die USA, Japan und verschiedene Ölstaaten,
Höhe bezahlen sollen. Frau Kopp, was Sie gesagt haben,
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ ist nicht richtig. Fragen Sie einmal Oxfam und andere
DIE GRÜNEN) Initiativen! Wir reden wieder über ungedeckte Schecks.
also um Staaten mit enormer Wirtschaftskraft und ho- Es gab auch keine Einigung zur Finanzierung des glo-
hem CO2-Ausstoß. Es geht um Länder und Interessen- balen Waldschutzes. Dafür wurde die unsägliche CO2-
gruppen, die der Weltgemeinschaft zynisch ihre Regeln Verpressung als vermeintliches Klimaschutzinstrument
aufzwingen. Sie heißen: Umweltschutz nur so weit, wie etabliert. Im Dokument steht, es werde sichergestellt,
es Konzerne und Establishment zulassen. An diesen dass zwischen dem Auslaufen des Kioto-Protokolls 2012
Staaten orientieren sich dann gerne Schwellenländer, die und einem neuen Abkommen keine Lücke entsteht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8965
Eva Bulling-Schröter
(A) Auch das ist nur Prosa. Auf die Ratifizierung hat die UN Sie blinken „grün“ mit ökologischer Modernisierung (C)
überhaupt keinen Einfluss. Beim Kioto-Abkommen hat und biegen dann ab ins schwarz-gelbe Nirwana. Wo war
sie sieben Jahre gedauert. denn das Bekenntnis zum 30-Prozent-Ziel für die Euro-
päische Union? Nach der Konferenz haben Sie sich wie-
Zum Schluss. Es mag sicherlich kleine Fortschritte in der dazu bekannt. Warum nicht dort, wo es wirklich Sinn
Cancún gegeben haben. Der größere Erfolg ist für uns, macht, um die Verhandlungen zu beeinflussen? Wer hat
dass der UN-Prozess nicht gänzlich gescheitert ist. An- Ihnen das herausgestrichen?
gesichts dessen, was klimapolitisch notwendig wäre,
muss ich aber sagen, dass wir nach 18 Jahren Klimadi- Ich glaube Ihnen und Ihrem Hause ja, dass Sie etwas
plomatie leider wieder am Anfang stehen. bewegen wollen, aber Sie müssen sich auch darum be-
mühen, sich innerhalb Ihres Kabinetts ab und zu durch-
(Beifall bei der LINKEN) zusetzen. Im letzten Jahr ist erschreckend wenig gesche-
hen in der Klimapolitik. Sie haben sich vermutlich vor
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: allem auf die Wahl für den Vorsitz Ihres Landesverban-
Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Ott von Bünd- des konzentriert. Das haben Sie erreicht. Jetzt ist es wie-
nis 90/Die Grünen. der an der Zeit, sich auf Ihren eigentlichen Job als Um-
weltminister zu konzentrieren;
Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat Ihnen denn
in Cancún gerade noch einmal davongekommen. Dass es das aufgeschrieben?)
überhaupt ein Ergebnis gegeben hat, grenzt an ein Wun-
der. Ich möchte mich zunächst dem Lob einiger Kolle- denn ein erfolgreicher Minister muss sich wenigstens ab
ginnen und Kollegen für die gute Betreuung, die wir und zu mit seiner Position auch in der Bundesregierung
durch das BMU erfahren haben, anschließen. Die Be- wiederfinden. Darum ist es jetzt Zeit, sich um Ihren Kol-
treuung war hervorragend. Ebenso loben möchte ich die legen Brüderle zu kümmern, der Ihnen permanent in die
Verhandlerinnen und Verhandler aus dem BMU und an- Suppe spuckt, hier in Berlin und auch in Brüssel. Sie
deren Ministerien, die trotz großem Schlafdefizit enorm müssen sich von diesem Klotz am Bein befreien, sonst
viel geleistet haben. wird Ihre Klimapolitik nicht fliegen können.

Die in Cancún erzielten Ergebnisse sind allerdings (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nur das absolute Minimum. Sie besagen nichts weiter, und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
als dass der multilaterale Prozess im Rahmen der UN LINKEN)
(B) fortgesetzt wird. Das ist auch gut so. Erträglich ist dieses Wolfgang Kubicki, der Fraktionsvorsitzende der FDP (D)
Ergebnis allerdings nur vor dem Hintergrund des totalen in Schleswig-Holstein, hat den Zustand der FDP mit der
Scheiterns. Spätphase der DDR verglichen. Abgesehen davon, dass
Das Ergebnis von Cancún als Durchbruch zu bezeich- geschichtliche Vergleiche in der FDP eine etwas un-
nen, so wie es der zuständige Minister Röttgen getan hat, glückliche Tradition haben, sind die Parallelen in der
ist allerdings etwas sehr kühn; denn außer einem Auftrag Klimapolitik offensichtlich. Da ist zum Beispiel der ab-
zum Weitermachen ist ja nichts entschieden. Es fehlt al- solute Realitätsverlust, der große Teile der FDP bei der
les, was ein gutes Verhandlungsmandat ausmacht. Es Klimapolitik auszeichnet, wo der drohende Klimawan-
fehlt zum Beispiel an einem Endtermin für die Verhand- del überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird. Und
lungen. Soll denn nächstes Jahr in Durban ein Durch- da ist zweitens das verkrampfte Festhalten an alten
bruch gelingen und ein Abkommen abgeschlossen wer- Strukturen. Der Wirtschaftsminister verteidigt verbissen
den oder erst im Jahr 2012 in Katar oder, hoffentlich, in die alten fossil-atomaren Energiesysteme und bekämpft
Südkorea? Es fehlt auch jeglicher Hinweis auf die recht- die Wende hin zu einer solaren Gesellschaft auf Basis
liche Form. Was soll denn eigentlich verhandelt werden? der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz. Das
Ein rechtlich verbindlicher Vertrag, so wie es sinnvoll erinnert doch sehr an die Spätphase der DDR, meine Da-
erscheint, oder doch nur ein einfacher Beschluss ohne men und Herren.
Durchschlagskraft? Den Rest der Defizite spare ich mir. Herr Kollege Kauch, es reicht nicht, ab und zu die
Herr Minister, es tut mir leid, aber das Ergebnis von Opposition im Bundestag das Fürchten zu lehren. Das
Cancún ist nicht nur kein Durchbruch. Es besteht auch können Sie sehr gut, das werden Sie gleich wieder unter
keine Veranlassung dafür, dass Sie sich diesen winzig Beweis stellen. Aber Herr Minister Brüderle ist Ihr
kleinen Erfolg an die stolzgeschwellte Brust heften. Im Minister, und es ist an der Zeit, dass Sie ihn einmal zur
Gegenteil, dass die Ergebnisse von Cancún so schwach Ordnung rufen, wenn Ihnen etwas am Erfolg des Klima-
sind, dafür sind auch Deutschland und die EU verant- schutzes liegt und – so darf ich hinzufügen – wenn Ihnen
wortlich. etwas daran liegt, nicht in der Spätphase der FDP mit in
den Strudel gerissen zu werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Die Ergebnisse von Cancún sind kein Freibrief für
bei der SPD und der LINKEN)
Nichtstun, sondern ein Auftrag zum entschlossenen
Symptomatisch dafür war Ihre Rede vor dem Plenum Handeln. Es muss Vorreiter geben, die den Worten auch
in Cancún. Das war eine typische klimapolitische Sonn- Taten folgen lassen. Wir brauchen deshalb eine Klima-
tagsrede: schön, aber ohne Substanz. Es war wie immer. politik der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Jetzt
8966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Hermann Ott


(A) müssen die Partner für eine Klimaallianz geworben wer- Es gibt überhaupt nichts schönzureden. Es ist ein (C)
den – ohne die USA. Die können es aufgrund ihrer in- Gradmesser für die Glaubwürdigkeit, dass wir hier, die
nerpolitischen Lage und ihrer verfassungsrechtlichen Politik, Kriterien des Erfolgs vorher benennen und sie
Vorschriften nicht leisten. Ich muss es noch einmal sehr nachher anwenden. Das habe ich zum Beispiel zu
deutlich sagen: Wer ein Kioto-Folgeabkommen mit den Kopenhagen im letzten Jahr auch gemacht. Ich habe vor-
USA anstrebt, der will in Wirklichkeit überhaupt kein her die Erfolgsbedingungen benannt, habe darum in Ko-
Abkommen, oder er will es erst am Sankt-Nimmerleins- penhagen und auch hier im Bundestag erklärt: Das ist
Tag. Aber vorher ist Wahltag. weitgehend gescheitert. – Es gibt keinen Grund, das zu
beschönigen. Es war am Ende sogar noch etwas mehr,
Ich danke Ihnen. als ich gesagt habe; denn der sogenannte Copenhagen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Accord hat sich als lebensfähig erwiesen. Wir haben
bei der SPD und der LINKEN) jetzt darauf aufgebaut.
Ich habe vor Cancún gesagt: Es wird keinen Durch-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bruch geben. Den zu erwarten, ist nicht realistisch. Was
Das Wort hat jetzt der Bundesumweltminister wir erreichen können, ist ein ausgewogenes Paket von
Dr. Norbert Röttgen. einzelnen Entscheidungen, für die sich alle bewegen
müssen. Das ist dann ein fairer Kompromiss. Das ist
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) machbar. Das ist aber überhaupt nicht gesichert.
Wer tagelang und auch nächtelang dort gesessen hat
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, und dann miterlebt hat, dass förmlich in letzter Minute
Naturschutz und Reaktorsicherheit: die mexikanische Präsidentschaft einen Vorschlag von
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- einer Qualität und Reichweite vorgelegt hat, mit dem die
nen und Kollegen! Wer in der Nacht die Erleichterung, Versammlung nicht mehr gerechnet hat, der weiß zu
die Freude und – ich glaube nicht, dass es übertrieben schätzen, was erreicht worden ist. Dafür, dass es erreicht
ist, es so zu sagen – das Glück in den Gesichtern von worden ist, bin ich dankbar, weil es gemeinsam erreicht
Teilnehmern aus China, Indonesien, Indien, den USA, worden ist.
Frankreich, Großbritannien, Deutschland gesehen hat
– manche Teilnehmer haben es schon geschildert –, der Herr Ott, man braucht sich nicht mit Feststellungen zu
hat ein Gefühl dafür bekommen, was erreicht worden ist. beschäftigen, die keiner getroffen hat. Ich habe immer
Wenn es gelingt, eine Katastrophe zu vermeiden, ist viel gesagt: Es ist kein Durchbruch zu erwarten. Ich habe nie
erreicht. Darum würde ich Sie bitten, darüber einfach behauptet, dass es ein Durchbruch war. Wenn Sie mir
(B) noch einmal nachzudenken. jetzt unterstellen, ich hätte es doch gesagt, drückt das ein (D)
bisschen Ihre intellektuelle Not aus, sich mit dem Ergeb-
Wer das erlebt hat, wer das mitempfunden hat und nis zu beschäftigen. Warum haben Sie die? Weil Sie aus
wer die Dimension der Menschheitsherausforderung parteipolitischen Gründen nicht bereit sind, sich mit der
Klimawandel verinnerlicht hat, muss, glaube ich, zu dem Qualität dieses Ergebnisses, aber auch mit der Problema-
Schluss kommen: Ihre kleinkarierte, provinzielle Mäke- tik, die ihm innewohnt, seriös zu beschäftigen. Legen
lei ist einfach deplatziert. Sie doch diese Haltung ab!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Na, na, na! – NEN]: Jetzt seien Sie mal so nachdenklich wie
Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in Cancún! Das ist eine rein defensive Strate-
NEN]: Jetzt kommt noch eine typische Sonn- gie!)
tagsrede!) Das wird Ihnen nicht gerecht und dem Thema schon gar
– Hören Sie doch einmal zu! Es gibt vielleicht ein paar nicht.
Themen und Herausforderungen, die wirkliche Mensch- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
heitsfragen sind,
Was haben wir erreicht? Wir haben erreicht, dass die
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Eben! Die Staatengemeinschaft ihre Handlungsfähigkeit bewiesen
müssen aber geklärt werden!) hat. Das ist deshalb eine gewichtige Feststellung, weil
die zu bedeutend sind, als dass man sie immer nur unter das Scheitern an dieser Stelle möglich war. Wenn nicht
der sozialdemokratisch-provinziellen Brille betrachten nur Bolivien dagegen gewesen wäre, sondern auch ein
dürfte. Vielleicht gibt es einmal eine größere Dimension, anderer Staat, dann wäre schon sehr fraglich gewesen,
der man gerecht werden will. ob es zu diesem Ergebnis hätte kommen können. Das
zeigt, wie dünn das Eis ist. Mit deutschen Belehrungen,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dass am deutschen Wesen die Welt zu genesen habe,
neten der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ kommen wir leider international nicht weiter.
DIE GRÜNEN]: Vielleicht sollten Sie da auch
mal aktiver werden! – Dr. Hermann Ott (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Setzen Sie Aber früher war die Rolle Deutschlands viel
mal die grüne Brille auf!) besser! Sie haben die Rolle Deutschlands run-
tergeregelt! Früher war Deutschland ein akti-
– Zu Ihnen komme ich gleich noch etwas genauer. ver Part, heute nicht mehr!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8967
Bundesminister Dr. Norbert Röttgen
(A) Davon können wir uns wechselseitig überzeugen. Die Wir sind die Vorreiter, und wir wollen die Vorreiter in (C)
Welt ist etwas komplizierter, als dass Sie immer gleich diesem Prozess sein. Das ist doch überhaupt keine Frage.
wissen könnten, wie es für alle auf der Welt zu machen
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ist.
Sie verlieren doch die Vorreiterrolle! Sie geben
(Beifall bei der CDU/CSU) die Vorreiterrolle auf!)

Dass die Staatengemeinschaft die Handlungsfähigkeit Wir haben eine Vorreiterrolle, weil wir ein Energiekon-
– fast würde ich es so sagen – wiederhergestellt hat, er- zept zu einer Treibhausgasreduzierung von 80 bis
halten hat, ist von enormer Bedeutung, weil ein Zeichen 95 Prozent vorgelegt haben.
unserer Zeit ist, dass sich globale Herausforderungen er- (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
geben, dass es aber noch keine globale Handlungsmacht, NEN]: Wo ist das 30-Prozent-Ziel?)
keine globale Handlungsstruktur gibt. Die muss sich erst
entwickeln – mit aller Mühsal, bei allen Interessenge- Der Primärenergieverbrauch soll um 50 Prozent – das
gensätzen, die vorhanden sind. Dass es gelungen ist, die haben wir hier im Deutschen Bundestag beschlossen –
Interessen wirtschaftlicher Art, politischer Art, machtpo- reduziert werden. Das konnten wir darlegen. Deutsch-
litischer Art, zusammenzubringen, ist ein wesentlicher land ist in Europa als Treiber akzeptiert, und Europa ist
Teil des Erfolgs. weltweit als Treiber akzeptiert. Das ist ohne jede Frage
unsere Politik, die wir betreiben.
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
NEN]: Man macht das seit 15 Jahren!) Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Aber es ist auch ein inhaltlicher Erfolg. Zum ersten Das ist doch schon lange vorbei! Das ist seit
Mal ist das 2-Grad-Ziel von der Staatengemeinschaft zwei Jahren vorbei! – Dr. Hermann Ott
förmlich anerkannt worden. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 30 Prozent!
Nehmen Sie dazu mal Stellung!)
Darüber müssen sich doch alle freuen, die am Klima-
Aber es ist trotzdem nicht so einfach. Wir als deut-
schutz interessiert sind. Wie kann man das ignorieren?
sche Bundesregierung wollen ein international einheitli-
Wir haben das erreicht.
ches, rechtlich verbindliches Abkommen für alle Staa-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ten. Das ist unsere Position, aber das ist noch nicht der
Stand der Verhandlungen.
Die entsprechenden Instrumente sind mit erarbeitet
worden, ob es der internationale Waldschutz ist, ob es Wenn wir dieses Ziel nicht erreichen können, dann
sind wir auch für eine zweite Verpflichtungsperiode des (D)
(B) die Technologiekooperation ist, ob es die Langfristfinan-
zierung ist oder ob es die Transparenzregeln sind. Das ist Kioto-Protokolls bereit. Das ist schon ein „Weniger“,
gut. Darauf können wir weiter aufbauen. weil es bedeutet, dass man die zwei rechtlichen Stränge
beibehält. Aber wir stellen auch inhaltliche Anforderun-
All das ist selbstverständlich mit europäischer Beteili- gen an die zweite Verpflichtungsperiode. Sie muss auch
gung geschehen. Ich habe es auch hier schon mehrfach wirksam sein. Die heiße Luft, die im aktuellen Kioto-
ausgeführt: Die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäi- Protokoll noch enthalten ist, muss beseitigt werden. Da-
schen Union allein haben nicht die Fähigkeit und nicht rüber müssen wir mit den Ländern reden, die sie als ih-
die Macht, diesen Prozess zu steuern. Wir müssen unsere ren rechtlichen Besitzstand verteidigen wollen, etwa
Möglichkeiten und unseren Willen einbringen, damit Russland.
Europa mit einer klaren Stimme spricht und entschieden Aber das Kioto-Protokoll selber und unsere Bereit-
gegen den Klimawandel antritt. Das ist die Aufgabe schaft, weiterzumachen, lösen das Problem nicht. Das
deutscher Politik. Europa ist auch die Interessenvertre- Kioto-Protokoll deckt 27 Prozent – nicht 100 Prozent –
tung unseres deutschen Nationalstaates. Und so verhal- der globalen CO2-Emissionen ab. Das heißt, wir brau-
ten wir uns. Europäische Interessenvertretung dient auch chen die Beiträge der großen Emissionsländer – China
unseren Interessen, und so haben wir das eingebracht. und USA –, damit sich hier etwas bewegt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Die werden Sie nicht kriegen, Herr
Ich glaube, es ist ein Erfolg, dass es seit 1997, seit
Röttgen! Das wissen Sie genau!)
Kioto, zum ersten Mal wieder eine dermaßen umfas-
sende völkerrechtliche Entscheidung gibt. Das ist seit lan- Das alles führt uns zu der entscheidenden Frage des
gen, langen Jahren nun wieder der Fall. Vor uns liegt auch Selbstverständnisses. Was ist das Selbstverständnis von
weiterhin ein schwieriger Prozess, aber nicht, weil etwa Klimaschutzpolitik? Das ist in der Tat die entscheidende
eine unwillige deutsche Bundesregierung die 40 Pro- Frage. Ich möchte diese Frage – wie immer – eindeutig
zent CO2-Reduzierung einseitig und unkonditioniert be- beantworten: Erstens. Es ist eine moralische Verpflich-
schlossen hätte. Es ist doch nicht das Problem, dass die tung, die Lebensgrundlagen dieses Planeten für unsere
deutsche Regierung nicht vorangeht. Kinder und Enkelkinder und die nächsten Generationen
zu erhalten. Das ist eine Verpflichtung, die wir heute zu
(Frank Schwabe [SPD]: Bloß nicht umsetzt!) erfüllen haben; dieser Aufgabe wollen wir gerecht wer-
den.
Die Frage ist doch: Schaffen wir es, daraus einen welt-
weiten Akkord, ein weltweites Niveau abzuleiten? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
8968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) Zweitens. Es ist eine große Chance, Lebensqualität zu Vorreiterrolle zum Wohl des Klimaschutzes und zum (C)
sichern. Es ist eine große Wachstumschance auf der Ba- Wohle unseres Landes aktiv ausfüllen.
sis einer anderen Vorstellung von Wachstum, nämlich
der qualitativen Vorstellung von Wachstum, durch neue Herzlichen Dank.
Technologien Marktanteile, Wettbewerbsfähigkeit, Ar- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
beitsplätze zu erhalten. Es ist unsere europäische und Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
deutsche Chance. Aktiv aufgeben!)
Darum stimme ich zum Beispiel mit dem Bundes-
außenminister völlig überein, der öffentlich gesagt hat: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Europa und Deutschland sollen und werden ihre Vorrei- Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Miersch von
terrollen behalten. Das ist unsere Position, weil wir He- der SPD-Fraktion.
rausforderer sein wollen. Wir wollen vorangehen.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Matthias Miersch (SPD):
NEN]: Also Westerwelle gegen Brüderle?) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dazu gehört, das 40-Prozent-Ziel, das wir vorgegeben Herr Bundesumweltminister, was ist los? So empfindlich
haben, auf die EU auszuweiten. Deshalb trete ich seit haben Sie selten reagiert. Anscheinend sind die Argu-
langem in der EU ausdrücklich dafür ein, eine europäi- mente, die hier von der Opposition gekommen sind,
sche Position zum 30-Prozent-Ziel zu erreichen. Das ist doch nicht so falsch.
meine Position in Europa und hier in Deutschland. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Quatsch!
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mein Gott!)
NEN]: Aber Sie setzen sich nicht durch!) Ich glaube, es geht hier nicht um Belehrung der Welt
Es liegt in unserem Interesse, dass die anderen euro- durch Deutschland, sondern es geht hier um das Wahr-
päischen Länder Anschluss halten. Aber auch dabei ist nehmen einer Vorbildfunktion, um aktive Schritte in der
nicht die Frage, ob Deutschland dazu bereit ist, sondern Klimapolitik.
die Frage ist, ob die anderen Länder in Europa dazu be- (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
reit sind. NEN]: Genau das erwarten wir!)
(Frank Schwabe [SPD]: Nein, das ist nicht die Hier versagen Sie augenblicklich, liebe Kolleginnen
(B) Frage! – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE und Kollegen. (D)
GRÜNEN]: Sie müssen sich erst einmal dafür
einsetzen!) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Man braucht die anderen als Partner, um auf diesem Ge-
biet etwas zu erreichen. Das ist das Problem. Wir sind Es bringt nichts, in großen Hochglanzbroschüren
bereit, voranzugehen, weil wir darin eine Verpflichtung 2050er-Szenarien zu malen. Hier geht es vielmehr um
und eine Chance sehen. Es stellt erstens außenpolitisch Förderung von Erneuerbaren statt Wiedereinstieg in die
eine Chance für uns dar, weil Klimaschutz eines der Atomtechnologie. Sie sind somit auf dem völlig falschen
wichtigsten außenpolitischen Aktionsfelder Deutsch- Weg. Auf der einen Seite so zu handeln, zugleich aber
lands ist. Es stellt zweitens wirtschaftlich eine Chance schöne Worte zu machen, das bringt nichts. Das merkt
für uns dar, weil wir nur durch entsprechende Anreize auch die internationale Staatengemeinschaft.
und Ambitionen unsere Technologieführerschaft behal-
ten, die ja Basis für unseren Wohlstand und unser (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Wachstum ist. Es ist drittens notwendig, um den nötigen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der
Klimaschutzbeitrag zu leisten. Das werden wir tun. Da- CDU/CSU: Unsinn!)
für setzen wir uns ein. Wenn Sie, Herr Bundesumweltminister, uns vorwer-
Die Kunst besteht allerdings nicht darin – das haben fen, unseriös zu handeln, dann frage ich mich, ob es
die mexikanische Präsidentschaft und ihre Außenminis- nicht erst recht unseriös war, als die Parlamentarische
terin gezeigt –, die Welt zu belehren, dass man weiß, wie Staatssekretärin eben gesagt hat, die Bundesregierung
es geht, und alle anderen das zu akzeptieren haben, son- sei in Cancún dafür gelobt worden, dass sie ihre Verspre-
dern die Kunst besteht darin, offen und gesprächsbereit chungen bezüglich zugesagter Mittel in Sachen Entwick-
zu sein und die anderen partnerschaftlich von unseren lungshilfe wahrgemacht habe. Nennen Sie uns, Frau
Vorstellungen zu überzeugen. Kopp, bitte die NGO, nennen Sie bitte uns die Organisa-
tion, die so etwas gesagt hat. Alle Verlautbarungen gin-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – gen in die Richtung, dass die Bundesregierung massiv
Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dafür kritisiert wurde, dass sich von den zugesagten Mit-
NEN]: Aber Sie müssen auch etwas errei- teln bislang erst 10 Prozent in den Haushalten wiederfin-
chen!) den.
Diese Demut müssen wir als Deutsche und Europäer (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
schon aufbringen. Auf dieser Basis werden wir unsere BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8969
Dr. Matthias Miersch
(A) Das ist eben die Diskrepanz zwischen Taten und Wor- nächsten Jahr konkret anbieten: Lassen Sie uns einen (C)
ten, Herr Bundesumweltminister. Es geht hier nicht um Entschließungsantrag auf den Weg bringen, in dem sich
Belehrung, sondern um aktives Vorgehen. Das misst sich der Deutsche Bundestag dafür ausspricht, dass die Euro-
nicht an Worten. Vielmehr muss Deutschland der inter- päische Union unkonditioniert ein 30-Prozent-Minde-
nationalen Staatengemeinschaft klarmachen, dass es die- rungsziel aufgreift.
sen Weg wagt. Ich nehme Ihnen Ihre Ziele und Ihre
Absichten ab, vor allem auch Ihre christliche Verbun- (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
denheit, und sehe die Größe der Aufgabe, die Sie vor NEN]: Hatten wir schon! Haben die abge-
sich haben. Ich glaube, dass auch Sie momentan lehnt!)
Schmerzen verspüren angesichts der Konstellation, in Lassen Sie uns ein Klimagesetz verabschieden, in das
der Sie sich bewegen. Als Daheimgebliebener kann ich wir nicht Minderungsziele für 2020 oder 2030 hinein-
Ihnen sagen, was hier in den Tagen, in denen Sie in Can- schreiben, sondern in dem wir festlegen, kontinuierlich
cún verhandelt haben, los gewesen ist. Wir haben das an alle zwei oder drei Jahre zu überprüfen, wie weit wir
mehreren Stellen problematisiert. sind. Lassen Sie uns miteinander in die Haushalte hi-
So hat die umweltpolitische Sprecherin der CDU/ neinschreiben, wie wir den Schwellen- und Entwick-
CSU-Fraktion, Frau Dött, wieder einmal nachgelegt. Sie lungsländern in den kommenden Jahren helfen wollen.
hat in einem Interview mit der Zeit gesagt, es sei ver- Das sind konkrete Schritte und keine Hochglanzan-
dächtig, wenn sich alle immer nur auf den IPCC berufen. kündigungen für 2050. Dann haben wir, so glaube ich,
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Chancen, auch in Durban wieder eine Vorreiterrolle ein-
NEN]: Echt?) zunehmen. Das wünsche ich jedenfalls uns und der
Menschheit.
Ihr Berater sei wohl bleich geworden – so schreibt es je-
denfalls der Reporter der Zeit – und hat dann gesagt, das Vielen Dank.
wissenschaftliche Gremium IPCC sei schon Maßstab des (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Handelns. Wie hat darauf die umweltpolitische Spreche- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
rin reagiert? Sie hat mit dem Kopf geschüttelt.
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Ach ja? – Wei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
terer Zuruf von der CDU/CSU: Den Kopf ge- Das Wort hat der Kollege Michael Kauch von der
schüttelt!) FDP-Fraktion.
Das sind Dinge, die man problematisieren muss. Es kann (Beifall bei der FDP)
(B) doch nicht sein, dass die umweltpolitische Sprecherin (D)
der größten Koalitionsfraktion das Regelwerk, auf dem Michael Kauch (FDP):
alles aufbaut, an dem Hunderte von Wissenschaftlern in Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht
zwischenstaatlichen Organisationen arbeiten, infrage um die Zukunft des Planeten. Es geht um die Zukunft
stellt. der kommenden Generationen. Dieser Opposition fällt
Das ist die Widersprüchlichkeit, die außen ankommt. jedoch in dieser Debatte nichts anderes ein, als innen-
politische Beschimpfungen zu bringen. Das wird dem
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Anspruch nicht gerecht, den wir an die Klimapolitik zu
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stellen haben.
Herr Kauch – Sie reden nach mir –: Ihr Kollege (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Martin Lindner – nicht der Generalsekretär – sprach von Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dogmatischen Schreihälsen, die so tun würden, als ob die NEN]: Billig!)
Eisbären wieder in Norddeutschland Einzug hielten,
wenn wir die CO2-Ausstöße senken würden. Ich weiß Richtig billig war zum Beispiel der Kollege Ott mit
nicht, wozu die 14 Prozent, die Sie bei der Bundestags- sachfremden Attacken, die nichts mit der Klimapolitik
wahl bekommen haben, geführt haben. Da sind anschei- zu tun haben. Wie die Geier warten Sie offensichtlich
nend Leute ins Parlament gespült worden, die die ele- darauf, dass die FDP in sich zusammenfallen wird. Das
mentare Menschheitsaufgabe nicht begreifen und hier hat Ihnen die Fraktionsführung wahrscheinlich aufge-
Sprüche von sich geben, die völlig unangemessen sind, schrieben.
zumal wenn Sie in Cancún deutsche Interessen vertreten. (Frank Schwabe [SPD]: Das machen Sie von
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem selbst! Da müssen wir gar nichts tun!)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von dass man das jetzt in jeder Debatte sagen muss.
der FDP)
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Das entscheidende Argument lautet – Herr Döring, da NEN]: Wir arbeiten nicht so! Das machen Sie
können Sie auch noch lernen, Ihre Sprüche sind nicht vielleicht!)
viel besser –, dass es wie in der UNO darum geht, dass
man Allianzen schmiedet, die über Legislaturperioden Ich kann Ihnen nur sagen: Sie werden niemals die Er-
hinausreichen. Deshalb sage ich Ihnen: Wir werden Ih- ben der FDP werden; nicht nur deswegen, weil es keinen
nen die Hände reichen. Deswegen werden wir Ihnen im Erbfall gibt, sondern auch, weil Sie höchstens die Erb-
8970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Michael Kauch
(A) schleicher wären. Denn Sie sind doch nichts anderes als organisiert ist. Wir sagen: Wir brauchen eine Balance der (C)
eine grünlackierte Linkspartei mit bürgerlicher Maske. Anstrengungen von Wirtschaft und privaten Haushalten.
Dabei müssen Produktionsverlagerungen in energiein-
Die Kraft der Freiheit hat 150 Jahre Tradition. Die
tensiven Branchen vermieden werden. Wir müssen hier
Kraft der Freiheit wird diese Krise ebenso überstehen,
die Balance finden. Deswegen werden wir uns dafür ein-
wie sie jede Krise zuvor überstanden hat.
setzen, dass sich die Europäische Union hier bewegt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Frank Schwabe [SPD]: Ihr
der CDU/CSU und des Abg. Frank Schwabe
werdet bloß nicht mehr dabei sein!)
[SPD] – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE
– Sie können hier ja noch nervöser werden. GRÜNEN]: Sagen Sie das Ihrem Parteigenos-
sen Herrn Brüderle!)
(Lachen bei der SPD und der LINKEN)
Wir müssen nicht nur über die großen Linien streiten:
Ich fand es zum Beispiel total peinlich, was Herr Werden die Emissionsminderungsziele der Industrielän-
Gabriel gemacht hat. Herr Gabriel hat am letzten Don- der erhöht? Welche Beiträge werden vonseiten der
nerstag während der Weltklimakonferenz ein Interview Schwellen- und Entwicklungsländer geleistet? Wir müs-
gegeben, in dem er erklärte: Dabei wird nichts rauskom- sen auch einige Detailverhandlungen zu Aspekten füh-
men. Im Übrigen ist die EU schuld, und deswegen so- ren, die zunächst einmal sehr technisch wirken, aber
wieso die Bundesregierung. – Das hat es noch nie gege- große Auswirkungen darauf haben werden, wie effektiv
ben, dass ein Parteivorsitzender einer deutschen, im der Klimaschutz sein wird. Das betrifft insbesondere die
Parlament vertretenen Partei der Bundesregierung derart Reform des sogenannten Clean-Development-Mechanis-
in den Rücken fällt, und das, während die Bundesregie- mus, also die Frage, inwiefern deutsche Unternehmen,
rung in Cancún um ein Ergebnis für den Klimaschutz die ihre Auslandsprojekte umweltverträglich ausgestal-
ringt. Das ist stillos, gerade für den Amtsvorgänger von ten, ihren dort erzielten Beitrag zur Senkung der CO2-
Herrn Röttgen. Das ist peinlich,
Emissionen auf die entsprechenden Verpflichtungen im
(Frank Schwabe [SPD]: Lesen Sie bitte Ihre Inland anrechnen können. Die FDP – das sage ich sehr
Reden nach, Herr Kauch!) deutlich – will diesen Mechanismus; sie will, dass er
stärker genutzt wird, dass er gerade in den Ländern, für
und es zeigt: Der Opposition geht es nicht um das Klima. die er eigentlich gedacht ist – beispielsweise in den afri-
Ihnen geht es nur darum, Ihr innenpolitisches Süppchen kanischen Staaten –, tatsächlich handhabbar und unbüro-
zu kochen. kratischer wird.
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Auf der anderen Seite verlangen wir, dass es nicht (D)
(B)
NEN]: Das machen Sie gerade! Gehen Sie ein- zum Ökodumping kommt. Deshalb sage ich an dieser
mal darauf ein!) Stelle sehr klar: Wir müssen bei der Frage der Unabhän-
Das ist so etwas von schäbig. Es nützt nichts, aber es gigkeit derjenigen, die diese Projekte überprüfen, nach-
schadet den deutschen Interessen. verhandeln. Wir müssen mehr Rechtsstaatlichkeit in die
Verfahren bringen, sodass sich Unternehmen gegen Ent-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten scheidungen der Verwaltung wehren können. Ich sage
der CDU/CSU) auch ganz eindeutig: Das Dumping mit Industriegasen
Deutschland wird Vorreiter im Klimaschutz sein. Der wie HFC-23 muss ein Ende finden, wenn nicht im UN-
Bundesaußenminister hat das für die Bundesregierung Prozess, dann auf europäischer Ebene.
sehr deutlich gemacht. Die beschlossenen CO2-Minde- Vielen Dank.
rungsziele – 40 Prozent bis 2020, 80 bis 95 Prozent bis
2050, national und einseitig – sind ein Signal der Glaub- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
würdigkeit Deutschlands insbesondere gegenüber den
Schwellen- und Entwicklungsländern. Die anderen euro- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
päischen Staaten sind gefordert, ein vergleichbares Si- Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe von der
gnal zu geben. Deshalb muss die EU ihr Ziel der Verrin- SPD-Fraktion.
gerung der CO2-Emissionen um 20 Prozent vor der UN-
Klimakonferenz 2011 anheben. Dies erfordert auch, die (Beifall bei der SPD)
Einigung von Cancún anzuerkennen, dass die Industrie-
staaten eine Minderung der CO2-Emissionen um 25 bis Dr. Sascha Raabe (SPD):
40 Prozent erreichen sollen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-
lege Kauch, Sigmar Gabriel hat als Umweltminister für
(Beifall der Abg. Christian Hirte [CDU/CSU]
eine Politik gestanden, erneuerbaren Energien in
und Abg. Frank Schwabe [SPD])
Deutschland und weltweit zum Durchbruch zu verhel-
Bliebe es beim 20-Prozent-Ziel der EU und beim fen. Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht so aufblasen,
40-Prozent-Ziel Deutschlands, so müssten in Deutsch- wenn Sie hier als Vertreter der FDP sprechen, einer Par-
land vorrangig die Sektoren, die nicht vom Emissions- tei, die im Augenblick nicht nur in Deutschland ins
handel erfasst werden, die Emissionseinsparungen er- Steinzeitalter der Atomkraft zurückkehrt, sondern die
bringen; dadurch hätten vor allem die Verbraucher die Atomkraft auch in Entwicklungs- und Schwellenländern
Kosten zu zahlen, weil der Emissionshandel europäisch mit Hermesbürgschaften befördern will. Ich wäre froh,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8971
Dr. Sascha Raabe
(A) wenn die Bundesregierung und Sie als Vertreter einer Geld hernehmen möchten und wie Sie das mit den Ent- (C)
maßgeblichen Koalitionsfraktion zur vernünftigen Um- wicklungsgeldern verrechnen wollen. Wenn Sie alle Mit-
weltpolitik Sigmar Gabriels zurückkehren und nicht mit tel, wie es jetzt der Fall ist, auf die Mittel für die Ent-
Anschuldigungen um sich werfen würden, die der Sache wicklungszusammenarbeit anrechnen – im Fachchine-
wirklich nicht dienen. sisch heißt das ODA-Quote –, dann bedeutet das, dass
am Ende zwei Drittel der 0,7 Prozent, falls wir dieses
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ziel überhaupt jemals erreichen, aus Ausgaben für Um-
Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- welt- und Klimaschutz bestehen und wir für die klassi-
NEN]) sche Armutsbekämpfung nichts mehr übrig haben.
Die Auswirkungen des Klimawandels auf Entwick- (Michael Kauch [FDP]: Wer war denn elf
lungsländer sind dramatisch. Drei Viertel der ärmsten Jahre Entwicklungsminister? Welcher Partei
Menschen leben im ländlichen Raum und sind dringend gehörte er an?)
darauf angewiesen, dass sie für die Bewässerung ihrer
Felder genug Regenwasser oder Schmelzwasser von den – In den Jahren, in denen wir an der Regierung waren,
Gletschern zur Verfügung haben. Bereits jetzt nehmen in Herr Kollege Kauch, haben wir die Mittel für die Ent-
Afrika die Dürren zu; Ernteerträge sinken, Menschen wicklungszusammenarbeit – Stichwort: ODA-Quote –
verhungern. Hinzu kommt die Abschmelzung von Glet- von 0,26 Prozent auf faktisch 0,4 Prozent gesteigert. Wir
schern in Hochgebirgen wie dem Himalaya oder den An- hätten die Mittel weiter erhöht, aber das ist mit Ihnen
den. Das kann in Ländern wie Indien dazu führen, dass nicht möglich gewesen.
dort die Reisversorgung in Zukunft ernsthaft gefährdet
wird. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass in Die sogenannten innovativen Finanzierungsinstru-
Cancún die Schaffung eines Fonds für Anpassungsmaß- mente, die jetzt auch international in der Diskussion
nahmen in Entwicklungsländern in Höhe von 100 Mil- sind, zum Beispiel die Flugticketabgabe, haben Sie zwar
liarden US-Dollar beschlossen wurde. eingeführt, aber Sie nutzen sie zur Stopfung von Haus-
haltslöchern und eben nicht zur Stärkung des Bereichs
Die ärmsten Menschen dieser Welt haben – ich weiß Umwelt und Entwicklung.
das, weil ich schon seit 2002 in diesem Haus Entwick-
lungspolitik betreibe – auf internationalen Konferenzen (Michael Kauch [FDP]: Für kommende Gene-
aber schon ganz oft Versprechen erhalten. Im Jahr 2000, rationen! Die Schuldenberge, die Sie aufge-
auf der Millenniumskonferenz, haben sie gehört, dass bis türmt haben!)
zum Jahr 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkom- Zu dem Instrument, bei dem die meisten Mittel zu holen
(B) mens der Industriestaaten für die Armutsbekämpfung sind – es geht um die Einführung der Finanztransaktion- (D)
zur Verfügung gestellt werden sollen; im Jahr 2010 soll- steuer –, sagt ausgerechnet Ihr Entwicklungsminister
ten es 0,51 Prozent sein. Auch die Bundesregierung hatte Niebel bei uns im Ausschuss: Was interessiert mich, was
sich dazu verpflichtet. die Kanzlerin sagt; auch wenn die Kanzlerin das mittler-
Frau Staatssekretärin Kopp, was ist passiert? Ihr weile will, bin ich dagegen. – Da frage ich: Wie will man
Haus, Entwicklungsminister Niebel hat das Versprechen glaubhaft machen, dass man das Versprechen, das in
gebrochen. Wir haben 2010 die Marke gerissen. Wir sind Cancún gegeben wurde, einhält, obwohl man die Mittel,
nicht bei 0,51 Prozent angekommen, und Sie legen eine die in Kopenhagen zugesagt wurden, nicht zur Verfü-
Finanzplanung bis 2014 vor, nach der die Mittel für die gung gestellt hat, obwohl man Mittel in Höhe von 0,51
Entwicklungszusammenarbeit gekürzt werden. Deswe- bzw. 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die
gen können wir Ihnen nicht glauben, wenn Sie sagen, Entwicklungszusammenarbeit nicht in den Haushalt ein-
dass Sie das, was Sie jetzt in Cancún versprochen haben, gestellt hat? Dazu sage ich nur: Es scheint so zu sein,
halten werden. Sie haben leider immer wieder bewiesen, dass wieder viel versprochen wird, am Ende aber leider
dass Sie internationale Versprechen brechen. Das müs- wieder die ärmsten Menschen dieser Erde in die Röhre
sen wir hier anprangern; denn den ärmsten Menschen in schauen werden. Sie gehen leer aus. Sie werden sich der
den Entwicklungsländern muss es gut gehen, und mit Fluten, der Witterungsstürme und der Dürren nicht er-
warmen Worten allein können wir das warme Wetter wehren können. Deswegen werden wir weiter dafür
nicht bekämpfen. Es müssen endlich Taten folgen. kämpfen, dass den Versprechen auch Taten folgen. Lei-
der ist diese Regierung auf einem ganz schlechten Weg.
(Beifall bei der SPD) Wir werden alles dafür tun, dass das anders wird.

Am Dienstag war der ehemalige UN-Generalsekretär Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Kofi Annan im Ausschuss für wirtschaftliche Zusam-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
menarbeit und Entwicklung zu Gast. Er hat ausdrücklich
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
gesagt – ich zitiere –: Ich möchte keine neuen Verspre-
chen von Deutschland zur Bekämpfung der Armut und
des Klimawandels, sondern ich möchte die Einhaltung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
der bisher gegebenen Versprechen. – Frau Staatssekretä- Das Wort hat der Kollege Andreas Jung von der
rin Kopp, Sie sagen, dass zusätzliche Mittel für den Kli- CDU/CSU-Fraktion.
maschutz aufgebracht werden sollen, 80 Prozent davon
beim BMZ. Da muss man sich schon fragen, wo Sie das (Beifall bei der CDU/CSU)
8972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): Ich finde, es ist unstreitig, dass einer der Väter dieses (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Erfolges der deutsche Umweltminister, Dr. Norbert
will auf drei Fragen eingehen, die in dieser Debatte the- Röttgen – an der Spitze der deutschen Delegation –, ist.
matisiert wurden.
(Frank Schwabe [SPD]: Eijajei!)
Die erste Frage lautet: War dieser Gipfel in Cancún
ein Erfolg? Zunächst einmal ist unstrittig, dass das, wo- Er hat für die Bundesregierung in seiner Plenumsrede in
für wir als Bundesrepublik Deutschland stehen, dass das, Cancún herausgehoben, dass wir Klimaschutz vor allem
was wir in der EU gemeinsam wollen, nämlich ein inter- auch als wirtschaftliche Chance sehen und daraus Kon-
national verbindliches Abkommen als Antwort auf einen sequenzen gezogen haben. Wir haben in unserem Ener-
schneller voranschreitenden Klimawandel, auf diesem giekonzept verbindlich verankert – dies sind Taten, nicht
Gipfel nicht erreicht werden konnte. Das wussten wir Worte –, bis 2020 und nicht erst langfristig bis 2050 den
alle schon während der Debatte hier vor dem Gipfel. An- Ausstoß von Treibhausgasen in Deutschland um 40 Pro-
dererseits ist es aber so, dass das, was möglich war, dass zent zu reduzieren, und zwar egal was andere machen.
das, was auf dem Gipfel greifbar war, am Ende auch tat- Damit wollen wir unsere Vorreiterrolle unterstreichen
sächlich erreicht wurde. Das Wichtigste hat die Kanzle- und zeigen: Wir gehen voran und warten nicht auf die
rin gestern in ihrer Regierungserklärung unterstrichen. anderen, die zögern oder möglicherweise noch bremsen.

Es ist erstmals gelungen, das 2-Grad-Celsius-Ziel, also Das zeigt – das wurde uns in vielen Gesprächen in
die Begrenzung der globalen Erwärmung auf höchstens Cancún mit Delegationen aus aller Welt bestätigt –:
2 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau, in ein Deutschland wird nach wie vor als Vorreiter wahrge-
offizielles Dokument der Vereinten Nationen zu schrei- nommen. Deutschland ist Vorreiter in diesem internatio-
ben. Sie haben es selber gesagt: Dieses Ziel konnte nalen Klimaprozess. Ich glaube, wenn jemand dies an-
15 Jahre lang nicht erreicht werden. Jetzt, im 16. Jahr, ist ders wahrnimmt und von Mittelfeld spricht, wie es
es gelungen. Damit ist nach Ihrer eigenen Beschreibung Sigmar Gabriel getan hat, dann ist das nur so zu erklä-
ein Fortschritt erzielt worden, über den wir uns, bevor ren, dass man so weit im Abseits steht, dass man nicht
wir fragen, wie es gelingt, dies mit konkreten internatio- mehr richtig mitbekommt, was vorne passiert.
nalen Maßnahmen zu unterlegen, zunächst einmal ge- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Genau! –
meinsam freuen können. Frank Schwabe [SPD]: Abseits ist aber immer
(Beifall bei der CDU/CSU) vorne, oder?)
Darüber hinaus ist es gelungen – dies war in Kopen- Hier gilt es anzuknüpfen. Deshalb ist die dritte Frage:
hagen angedacht worden –, einen Klimafonds einzu- Was passiert jetzt nach Cancún? Ich glaube, wir haben (D)
(B)
richten und die Verabredung zu treffen, dass ab 2020 mit diesen Schritten von Cancún die Grundlage für eine
100 Milliarden US-Dollar im Jahr in diesen Fonds flie- neue Dynamik und eine Aufwärtsspirale in diesem inter-
ßen. Es gibt konkrete Verabredungen zur Anpassung, zur nationalen Prozess geschaffen. Darauf müssen wir auf-
Technologiekooperation und zum Waldschutz. Dies sind bauen. Deshalb bin ich der Meinung, dass jetzt der Zeit-
ganz konkrete Ergebnisse und wichtige Schritte auf dem punkt gekommen ist, an dem sich die Bundesregierung
Weg zu einem völkerrechtlich verbindlichen Abkom- in der Europäischen Union klar dafür einsetzen sollte,
men; dies ist unser Ziel. Ich finde, das ist ein gutes Er- das Reduktionsziel von 20 auf 30 Prozent zu erhöhen.
gebnis.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Die Botschaft von Cancún heißt: Der internationale neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-
Klimaschutzprozess geht weiter. Die Weltgemeinschaft SES 90/DIE GRÜNEN)
zerstreitet sich nicht und man verfolgt nicht nur egoisti-
sche nationalstaatliche Interessen, sondern – dies wird Damit leisten wir unseren Beitrag – nicht nur als
unterstrichen – wir sind bereit, die Herausforderung des Deutschland, sondern auch als Europäische Union –, um
Klimawandels gemeinsam anzugehen. Wir wollen ge- Vorreiter in diesem Prozess zu sein. Im Übrigen ist das
meinsam zu einem Ziel kommen. Das ist das, was bei auch im deutschen Interesse. Wenn wir bei unserem un-
diesem Gipfel erreicht werden konnte. bedingten 40-Prozent-Ziel bleiben, die Europäische
Union aber bei dem bedingten 30-Prozent-Ziel bleibt,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wäre das Ergebnis, dass „scharfe“ Klimaziele in der
neten der FDP und des Abg. Frank Schwabe Bundesrepublik „weichen“ Vereinbarungen in der Euro-
[SPD]) päischen Union gegenüberstehen. Wir wollen, dass für
Die zweite Frage ist: Wie konnte dieses Ergebnis, wie Deutschland und für die Europäische Union anspruchs-
konnte dieser Erfolg erreicht werden? Es ist immer so: volle, verbindliche und ehrgeizige Klimaziele vereinbart
Ein Erfolg hat viele Väter. In diesem Fall sind es im werden und wir mit diesem Rückenwind gemeinsam
Zweifel alle Staaten, die zu frühmorgendlicher Stunde, nach Durban fahren.
gegen 4 Uhr, in Cancún diesem Paket zugestimmt haben. Herzlichen Dank.
Wir wissen: Es gibt auch eine Mutter. Das ist die mexi-
kanische Außenministerin, die mit Herz, mit Hartnäckig- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
keit und einem Hammerschlag zum Abschluss die Welt- neten der FDP – Dr. Hermann Ott [BÜND-
gemeinschaft in diplomatisch vorbildlicher Manier NIS 90 /DIE GRÜNEN]: Überzeugen Sie ein-
zusammengeführt hat. mal Ihre Kollegen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8973

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Raabe, ich füge hinzu: Das ist auch ein (C)
Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Marina Beitrag zur Armutsbekämpfung. Ich verstehe nicht, wa-
Schuster von der FDP-Fraktion. rum Sie sich in jeder Ihrer Plenarreden über Quoten auf-
regen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Weil Sie die Quoten
nicht einhalten!)
Marina Schuster (FDP): Als wir den Haushalt des BMZ von Ihnen übernommen
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und haben, betrug die ODA-Quote 0,36 Prozent, also weni-
Kollegen! Eines sollte jedem, spätestens seit Kopenha- ger als 0,4 Prozent des Bruttonationaleinkommens. Den-
gen, klar geworden sein: Internationale Klimapolitik ist noch machen Sie hier jedes Mal auf dicke Hose und be-
längst nicht mehr nur Umweltpolitik. Seit der Konferenz haupten, wir würden unsere Versprechen nicht einhalten.
von Rio 1992 ist dieses Politikfeld vom Rande in den
Mittelpunkt der internationalen Diplomatie gerückt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Auch das Auswärtige Amt hat daran seinen Anteil, ge- Frank Schwabe [SPD]: Sie versprechen die
rade wenn es um die Vorbereitung von Verhandlungspo- Gelder doppelt!)
sitionen geht, aber auch im Hinblick auf die Energieau-
Unsere Politik ist konkret und transparent. Mit Er-
ßenpolitik.
laubnis des Präsidenten zeige ich Ihnen ein Dokument
Verträge wie das Kioto-Protokoll haben weitrei- – ich kann es Ihnen nachher gerne überreichen –, in dem
chende Veränderungen zur Folge, für Gesellschaften und zusammengestellt ist, wo sich die einzelnen Maßnahmen
für Ökonomien. Dabei geht es schon lange nicht mehr wiederfinden.
nur um die Verminderung von Treibhausgasen. Vielmehr
(Frank Schwabe [SPD]: Sie haben es doppelt
ist damit auch ein umfassender globaler Interessenaus-
versprochen!)
gleich verbunden. Diese Frage muss mit der Handels-
und Sicherheitspolitik verknüpft werden. Es ist wichtig, Das sollte auch die Opposition anerkennen;
dass wir dabei ressortübergreifend arbeiten.
(Frank Schwabe [SPD]: Sie haben es doppelt
(Beifall bei der FDP) versprochen!)
Das Ergebnis von Cancún ist nicht nur aus deutscher sie sollte sich freuen, dass dieses Ergebnis erzielt wor-
und europäischer Sicht erfreulich, sondern es ist auch für den ist.
die Länder Afrikas eine gute Nachricht. Manche Kolle-
(B) gen haben schon die Erfahrungen, die sie auf Reisen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D)
nach Afrika gemacht haben, geschildert. Wir wissen der CDU/CSU – Dr. Hermann Ott [BÜND-
zum Beispiel, dass das südliche Afrika mit der weltweit NIS 90/DIE GRÜNEN]: Doppelt versprochen
zweitgrößten Erwärmung konfrontiert sein wird. Man ist dreimal gebrochen!)
kann die Folgen schon heute beobachten. Ich selbst habe
Lassen Sie mich noch einen Punkt erwähnen, der
die Veränderungen der Biodiversität bei einer Reise nach
auch bei unseren Reisen nach Afrika immer wieder the-
Südafrika, in die Kapregion, festgestellt. Insofern ist es
matisiert wird. Die Abgeordneten, die wir dort treffen,
wirklich wichtig, dass wir in Cancún zu diesem Ergebnis fordern uns immer wieder auf: Schickt uns eure Unter-
gekommen sind. nehmer, die im Bereich erneuerbarer Energien tätig sind! –
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) In Afrika gibt es ein unglaublich großes Potenzial für er-
neuerbare Energien. Auf diesem Gebiet können wir
Der Klimawandel wird weitere Auswirkungen haben, wirklich einen großen Beitrag leisten, auch zur dezentra-
nicht nur auf die Regenzeiten. Es wird eine Zunahme len Stromversorgung. Im Bereich der Windenergie sind
von Dürren geben, und es wird zu Ernteausfällen kom- ebenfalls Potenziale zu heben. Deswegen ist es wichtig,
men. Das Problem der Wüstenbildung haben wir schon dass wir ressortübergreifend arbeiten.
in mehreren parlamentarischen Initiativen, auch in der
letzten Wahlperiode, deutlich gemacht. Hinzu kommen Es geht hierbei auch um einen Wissenstransfer, um ei-
Fehler in der Landwirtschaft, Monokulturen, Überwei- nen Know-how-Transfer. Wir müssen bei der Ausbil-
dung und Abholzung. Das alles sind Probleme, die dazu dung von Ingenieuren, Facharbeitern und Technikern ak-
führen, dass Agrarflächen zu Wüsten werden. tiv sein. Wir müssen den Menschen das notwendige
Know-how zur Verfügung stellen, damit erneuerbare
Weitere Probleme sind die Wasserknappheit und der Energien auch in Afrika zunehmend zum Einsatz kom-
fehlende Zugang zu sauberem Trinkwasser; wir haben men. Der Bedarf an Energie wird weltweit steigen, ge-
uns im Menschenrechtsausschuss schon über diese The- rade in Afrika. Erfreulicherweise verzeichnen viele Län-
men unterhalten. Nach wie vor sterben viel zu viele Kin- der Afrikas ein Wirtschaftswachstum. Es ist wichtig,
der an den Folgen von unsauberem Trinkwasser. Hier dass wir diesen Ländern im Rahmen des Technologie-
geht es um die existenziellen Fragen der Ernährungs- transfers zur Seite stehen. Das BMZ führt zu diesem
sicherheit. Deswegen war es richtig und wichtig, im Ko- Zweck sehr gute Projekte durch, die wir nur unterstützen
alitionsvertrag zu verankern, dass die ländliche Entwick- können.
lung und der Klima-, Umwelt- und Ressourcenschutz die
Schlüsselsektoren unserer Entwicklungszusammenarbeit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sind. der CDU/CSU)
8974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Marina Schuster
(A) Von Cancún geht ein wichtiges Signal aus: Die Phase Wälder beispielsweise, indem sie immer wieder einen (C)
der Stagnation und der gegenseitigen Schuldzuweisun- einzelnen Baum heraussuchen und daraus wertvolle Mö-
gen muss jetzt vorbei sein. Wir müssen den neuen belstücke machen. Mithilfe der mexikanischen Regie-
Schwung nutzen, um weltweit verbindliche Vereinba- rung ist es der Dorfgemeinschaft, die ich besucht habe,
rungen zu treffen. Wir müssen auf diesem Weg voran- möglich geworden, eine neue Seilwinde anzuschaffen,
schreiten. Deutschland und die EU sind dabei Vorreiter. sodass die Bäume nicht mehr stückweise auf den Schul-
Besonders wichtig ist, dass wir auch den Entwicklungs- tern aus dem Wald herausgetragen werden müssen, son-
und den Schwellenländern partnerschaftlich begegnen. dern mit der Seilwinde herausgezogen werden können.
An dieser Stelle setze ich auf unser ressortübergreifen-
des Konzept. Diesen Weg werden wir weiterhin unter- Das alles erinnert mich sehr an die ländliche Entwick-
stützen. lung in der Europäischen Union. Was machen wir in den
Programmen zur ländlichen Entwicklung in der EU? Wir
Vielen Dank. fördern kleinteilige Investitionen, soziale Einrichtungen
in den Dorfgemeinschaften und Einrichtungen zur Wert-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
schöpfung im ländlichen Raum. Ganz ähnlich wurde bei
den Maya in Yucatán zum Beispiel eine Schreinerei ge-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: fördert, in der die Produkte des eigenen Waldes weiter-
Das Wort hat der Kollege Josef Göppel von der CDU/ verarbeitet werden. Den jungen Leuten wird damit eine
CSU-Fraktion. Perspektive gegeben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Man muss die Dinge nicht neu erfinden. Ich habe ge-
spürt, dass wir mit den Maßnahmen zur ländlichen Ent-
Josef Göppel (CDU/CSU): wicklung in der Europäischen Union einen Instrumen-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der tenkasten haben, der beim Waldschutz sehr brauchbar
Schwung von Cancún hat bereits zu einem weiteren er- ist. Die Prämisse muss dabei immer sein, dass die Men-
freulichen Ergebnis geführt: Gestern hat das Europäi- schen, die in den ländlichen Räumen leben, ihre traditio-
sche Parlament mit großer Mehrheit beschlossen, dass nelle Wirtschaft mit modernen Mitteln weiterführen
das CO2-Einsparungsziel von 20 Prozent bis 2020 ver- können und auf diese Weise die nachhaltige Entwick-
bindlich werden soll – das war es bisher nicht –, und die lung ermöglichen, die wir uns auch aus ökologischen
Kommission aufgefordert, einen Richtlinienentwurf Gründen wünschen.
dazu vorzulegen. Das zeigt, dass es jetzt in allen Ländern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wieder das Bewusstsein gibt, dass wir mehr zum Schutz
(B) der Erde tun müssen, und wir können auch mehr tun. Der Waldschutz ist dafür ein sehr schönes Beispiel. (D)
Folgende Beobachtung habe ich bei meiner Teil- Ich möchte mich abschließend der Aussage meiner
nahme an der Konferenz von Cancún gemacht: Es gibt Kollegen Andreas Jung und Thomas Gebhart anschlie-
eine Reihe konkreter Projekte zwischen Entwicklungs- ßen, die hier bereits deutlich gemacht haben: Wir wol-
ländern und Industrieländern, aus denen ein Bewusstsein len, dass sich die Europäische Union jetzt auf 30 Prozent
dafür erwachsen ist, dass wir den Klimawandel bewälti- festlegt,
gen und mehr Klimaschutz realisieren können. Aus den
konkreten Projekten entsteht dann auch die Bereitschaft, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN
in den Verhandlungen weitere Schritte zu gehen und zu- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zusagen. weil nur mit dieser Festlegung ein Fortschritt in Durban
Das hat sich insbesondere beim Waldschutz gezeigt, erreicht werden kann.
auf den ich schwerpunktmäßig eingehen möchte. Der so- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
genannte REDD-Mechanismus – das Programm zur Un- Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
terstützung von Entwicklungsländern bei der Walderhal- NEN]: Wir sind dabei, Herr Göppel!)
tung – wurde in Abs. 70 der Vereinbarung von Cancún
festgeschrieben. Es heißt dort, dass Maßnahmen zum
Waldschutz gefördert und unterstützt werden. Zusam- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
men mit dem Kollegen Andreas Jung habe ich mir einen Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde hat der
Tag lang auf Yucatán einen Wald der Maya angesehen Kollege Christian Hirte von der CDU/CSU-Fraktion das
und bin dabei auf Folgendes besonders hingewiesen Wort.
worden: In diesen Wäldern leben Menschen, wenn auch
nur wenige. Es geht darum, die Waldschutzmaßnahmen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
so anzulegen, dass die Menschen in den ländlichen Räu-
men bleiben und mit modernen Methoden eine nachhal- Christian Hirte (CDU/CSU):
tige Wirtschaft weiterführen. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
(Beifall des Abg. Michael Kauch [FDP]) ren! Über den Erfolg von Cancún ist im Vorfeld und
auch während der Konferenz – wir haben das heute in
Es geht darum, dass auch junge Leute in den ländli- der Debatte schon gehört – vielfach spekuliert worden.
chen Gebieten der Entwicklungsländer für sich und ihre Ich glaube, bei allen Differenzen im Einzelnen sind wir
Familien eine Zukunft sehen. Die Maya nutzen ihre uns insgesamt doch insoweit einig, dass das Ergebnis
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8975
Christian Hirte
(A) sehr viel besser als das ist, was ursprünglich erwartet (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C)
wurde. der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ihre CDU-Bürgermeister sind
Wenn man sich anschaut, wer für dieses Ergebnis und doch dagegen! – Dr. Hermann Ott [BÜND-
auch für den Erfolg verantwortlich ist, dann stellt man NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sankt-Florians-Poli-
fest – das ist auch schon klar gesagt worden –: Zum ei- tik ist Ihr Ding!)
nen tragen dafür natürlich die Mexikaner und insbeson-
dere deren Außenministerin Espinosa die Verantwor- Diese permanente Oppositionspolitik nimmt Ihnen am
tung, zum anderen gilt dies aber natürlich auch für die Ende keiner ab. Die Wähler werden das merken – nicht
deutsche Delegation – ich habe mich gefreut, dass der nur in Berlin, sondern mit Sicherheit auch in Baden-
Kollege Miersch das so deutlich gesagt hat –, die in ih- Württemberg.
ren jeweiligen Panels und Verhandlungsrunden mit dazu
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
beigetragen hat.
NEN]: Ja, genau!)
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Damen und Herren, der Erfolg von Cancún,
Das hat er doch gar nicht gesagt!) aber auch die daraus folgenden weiteren Handlungsnot-
– Es war nicht der Kollege Miersch, sondern der Kollege wendigkeiten sind schon hinreichend dargestellt worden.
Schwabe. Entschuldigung! Die grundsätzliche Frage, die man aus Cancún mit nach
Hause nehmen kann, muss aber sein: Ist ein bindender
Einigen Rednern scheint dieses Lob nicht ganz gefal- Klimavertrag unter dem Dach der UN das, was man an-
len zu haben. Den Grünen passt es offensichtlich nicht streben muss, oder geht es vielmehr darum, mit wenigen
ganz in ihr politisches Kalkül, Staaten Verträge zu schließen, energiepolitisch vielleicht
(Beifall des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU] sogar nationale Alleinwege zu gehen oder sich in regio-
sowie des Abg. Michael Kauch [FDP]) nalen Gemeinschaften zusammenzuschließen? Ich bin
der Meinung, dass es sich beim Klimaschutz um ein glo-
wenn die deutsche Delegation unter Führung eines bales Problem handelt, das natürlich auch einer globalen
CDU-Bundesumweltministers nach Hause kommt und Lösung bedarf.
ein positives Ergebnis verkünden kann.
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: NEN]: Aber nicht so langsam!)
Dazu hat er wenig beigetragen! Das ist der
Das eine anzustreben, nämlich die globale Lösung, heißt
Punkt! – Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE
aber nicht notwendigerweise, dass man das andere sein
GRÜNEN]: Er war doch gar nicht daran betei-
(B) lässt, nämlich auch zu Hause, auf nationaler Ebene, das (D)
ligt!)
Mögliche anzustreben.
– Die Grünen freuen sich immer, wenn sie bei positiven Deutschland – darauf ist schon hingewiesen worden –
Ergebnissen am Ende noch einen Wermutstropfen fin- nimmt seine Rolle als Vorreiter nicht nur in Europa, son-
den. Das entspricht auch der allgemeinen Stimmungs- dern auch weltweit wahr. Daher möchte ich den Bun-
lage und dem Stimmungsbild, das die Grünen in der desumweltminister und seine Forderung, das 30-Prozent-
politischen Debatte permanent vermitteln. Ziel in Europa zu erreichen, ausdrücklich unterstützen.
(Dr. Michael Kauch [FDP]: Die sind nei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
disch!) Frank Schwabe [SPD] – Dr. Hermann Ott
Ich will jetzt gar nicht ins Einzelne gehen und sagen, an [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen
welchen Stellen, bei welchen Dingen und auch bei wel- alle, aber sie bringen nichts!)
chen Personen Sie immer dagegen sind. Wir sind in Deutschland aufgefordert, selbst und auch
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- unkonditioniert mit gutem Beispiel voranzugehen. Das
NEN]: Können Sie auch nicht! – Bärbel Höhn tun wir auch, etwa mit unserem Energiekonzept, mit
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch dem wir die Rahmenbedingungen für die Transforma-
gegen unsere Sachen! Sie sind die Nein- tion in ein Zeitalter der erneuerbaren Energien festgelegt
Sager!) haben.

– Nein. Ich will jetzt nicht auf Stuttgart 21 und auf Ener- Wir werden Treibhausgasersparnisse von etwa
giewege in Deutschland eingehen, sondern auf unser 40 Prozent bis 2020 und 80 bis 95 Prozent bis 2050 er-
Thema zurückkommen. reichen. Ab dem kommenden Jahr werden wir mit dem
Sonderfonds, der im Zusammenhang mit dem Energie-
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- konzept eingerichtet wird, auch einen Beitrag zur Förde-
NEN]: Wir sind gegen den Klimawandel! – rung umweltschonender, zuverlässiger und bezahlbarer
Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Energie leisten. Damit leisten wir natürlich auch einen
NEN]: Das sind nur schlechte Redner!) Beitrag für den weltweiten Klimaschutz.
– Sie sagen, Sie seien für den Ausbau erneuerbarer Ener- Aber wir sind natürlich nicht nur in Deutschland auf-
gien, aber Sie sind gegen den Ausbau der Energiewege gerufen, sondern auch in Europa; das habe ich gerade
in Deutschland. ausgeführt. Ebenso geht es darum, zu erreichen, dass es
8976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Christian Hirte
(A) weltweit weitere Verbesserungen gibt, insbesondere in rede hier, jedenfalls in der Funktion als Wehrbeauftrag- (C)
Abstimmung mit den stark wachsenden Schwellenlän- ter. Es handelt sich um den Bericht des Jahres 2009, den
dern. Der Bundesumweltminister hat schon darauf hin- mein Vorgänger Reinhold Robbe erarbeitet hat. Ich
gewiesen, dass es in diesem Bereich durchaus auch möchte die Gelegenheit nutzen, ihm für seine Arbeit, für
große Chancen für uns in Deutschland gibt. Wir in diesen Bericht und auch für das herzlich zu danken, was
Deutschland haben die Technologien und die Ressour- er in den Jahren davor getan hat.
cen und können die deutschen Klimatechnologien in die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Schwellenländer exportieren. Davon können der welt-
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
weite Klimaschutz, aber auch unsere deutsche Wirt-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
schaft und am Ende natürlich auch unsere Arbeitnehmer
profitieren. Daher sind Technologiekooperation und Meines Erachtens hat er ein Fundament gelegt, auf dem
Technologieexport unabdingbar. Kollege Gebhart hat ich aufbauen kann.
dies vorhin schon einmal kurz erwähnt.
Natürlich möchte ich die Gelegenheit auch nutzen,
Die Weltgemeinschaft und Deutschland haben es in den Mitarbeitern bei mir im Amt zu danken. Das ist ein
der Hand. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir dazu tolles Team; sie haben eine hervorragende Arbeit geleis-
unseren Beitrag leisten werden, aktuell in unserer natio- tet. Sie haben viel zu tun, und ich freue mich, dass sie
nalen Politik, aber auch bei der nächsten Runde in Dur- das auch weiterhin tun werden.
ban. Wir werden zu unserer Verantwortung stehen, und
Deutschland wird weiterhin seinen Beitrag leisten. (Beifall des Abg. Paul Schäfer [Köln]
[DIE LINKE])
Vielen Dank.
Mein Dank gilt auch den Mitgliedern des Verteidi-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gungsausschusses, die die Hinweise aus diesem Bericht
neten der FDP) und auch den vorherigen Berichten des Wehrbeauftrag-
ten stets aufgenommen und verarbeitet haben. Sie wer-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den verstehen, dass ich auch einen herzlichen Gruß an
Die Aktuelle Stunde ist beendet. die Soldatinnen und Soldaten richte, die mit ihren oft-
mals aufopferungsvollen Einsätzen schwer gefordert
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 7 auf: sind. Auch sie sollen heute in den Dank eingeschlossen
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- sein, genauso wie die Mitarbeiter im Ministerium und in
richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus- den Stäben,
schuss) zu der Unterrichtung durch den Wehrbe- (Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/
(B) auftragten (D)
CSU])
Jahresbericht 2009 (51. Bericht) die die manchmal, wie man hört, nervigen und nerven-
– Drucksachen 17/900, 17/3738 – den Anmerkungen des Wehrbeauftragten aufzunehmen
hatten.
Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer (Saalstadt) Meine Damen und Herren, wir stehen heute vor histo-
Lars Klingbeil rischen Umbrüchen in der Verteidigungspolitik: Ausset-
Christoph Schnurr zung der Wehrpflicht, drastische Verkleinerung der
Paul Schäfer (Köln) Streitkräfte, struktureller Umbau der Streitkräfte.
Omid Nouripour Vor diesem Hintergrund muss man sich als Außenste-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die hender fragen, ob der Jahresbericht 2009 noch relevant
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es ist. Augenscheinlich ja, glaube ich; das kann man so sa-
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist gen. Denn viele der Probleme, die in diesem Bericht auf-
das so beschlossen. geführt sind und die wir heute erörtern, sind schon im
Vorjahresbericht – manche sogar über mehrere Jahresbe-
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejenigen richte hinweg – angesprochen worden.
Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Aussprache
nicht teilnehmen wollen, den Plenarsaal zu verlassen, Das zeigt: In vielen Bereichen ist ein langer Atem er-
damit die anderen ungestört mitarbeiten können. forderlich. Es zeigt aber auch, dass es innerhalb der bü-
rokratischen Strukturen im Ministerium, aber auch im
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehr- militärischen Apparat manchmal an einer konstruktiven
beauftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut Fehlerkultur und an der Bereitschaft fehlt, Probleme
Königshaus. konstruktiv aufzugreifen und zu bearbeiten, statt sich da-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rauf zu beschränken, vergangenes Handeln oder auch
der CDU/CSU) Unterlassen zu rechtfertigen. Diesen Punkt hat auch die
Strukturkommission erkannt und angesprochen.
Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deut- Ich bin sehr froh, dass wir in diesem Bereich voran-
schen Bundestages: kommen werden. Der Vorsitzende der Kommission,
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Dr. Weise, hat dazu einmal gesagt, die Verantwortung
Herren Abgeordnete! Das ist sozusagen meine Jungfern- diffundiere. Das wird auch in dem Bericht manchmal
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8977
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
(A) deutlich, wenn man nach den Ursachen fragt. Das wird dern amerikanische. Ich glaube, dieser Verbund gleicht (C)
sicherlich durch die neuen Strukturen, die gerade vorbe- das früher vorhandene Defizit gut aus.
reitet werden, besser. Das ist auch dringend nötig.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wir müssen allerdings nach wie vor die Situation im
Sanitätsdienst beklagen. Wir müssen leider bis heute
Die Sicherheitslage in Afghanistan beispielsweise hat
feststellen – auch das ergibt sich aus der Stellungnahme,
sich in einigen Bereichen, insbesondere rund um Kun-
die Ihnen vorliegt –: Das Fehlen von Ärzten und medizi-
duz, seit einigen Jahren kontinuierlich verschlechtert.
nischem Personal und die hohe Dienst- und Einsatzbe-
Das gilt auch für den Berichtszeitraum und ging, wie ge-
lastung bestehen fort. In der truppenärztlichen Versor-
sagt, im laufenden Jahr so weiter. Dennoch haben wir
gung haben wir zum Teil Tagesantrittsstärken von
feststellen müssen, dass sich Ausrüstung und Ausbil-
40 Prozent. In einigen Bereichen bin ich darauf gesto-
dung noch immer nicht in einem vernünftigen Zustand
ßen, dass nur 20 Prozent ihren Dienst angetreten haben,
befinden. Sie werden der Situation nicht gerecht. Es fehlt
und in einem Fall stand sogar überhaupt kein Truppen-
insbesondere nach wie vor an einer ausreichenden Zahl
arzt zur Verfügung, übrigens auch kein ziviler Arzt, der
geeigneter geschützter Fahrzeuge. Geschützte Fahrzeuge
dort als Vertragsarzt gearbeitet hätte. Dies hat mit dem
gibt es; das ist richtig. Es fehlt aber an geeigneten ge-
generellen Personalmangel zu tun, und das gilt natürlich
schützten Fahrzeugen für spezielle Zwecke.
auch für die hohe PTBS-Belastung des Sanitätsdienstes,
Es fehlt oftmals nach wie vor an der persönlichen über die schon vielfach gesprochen wurde. Auf diese
Ausstattung. Noch immer klagen viele Soldatinnen und Belastung ist der Sanitätsdienst ebenfalls nicht ausge-
Soldaten darüber, dass sie aus eigenen Mitteln erhebli- richtet.
che Aufwendungen leisten, bevor sie in den Einsatz ge- Auch hier muss man anerkennend sagen, dass das
hen, um ihren Wünschen entsprechend ausgerüstet zu Ministerium gegenzusteuern versucht. Es gibt für das
sein. medizinische Personal Leistungszulagen, und es gibt für
die Ärzte Facharztzusagen und auch eine Höherbewer-
Für all dies gibt es Erklärungen: Lieferschwierigkei- tung einzelner Facharztdienstposten. Trotzdem ist noch
ten der Industrie, langwierige Tauglichkeitsprüfungen
kein Durchbruch zu erkennen. Man weiß natürlich nicht,
und technische Probleme bei der Zertifizierung. Aber bei ob hier eine Überkompensation bei anderen, belastenden
genauer Betrachtung sind diese Gründe – das kann man, Faktoren erfolgt oder ob es sich in der Öffentlichkeit und
glaube ich, sagen – nicht immer stichhaltig. Was bei- in den betreffenden Kreisen noch nicht herumgespro-
spielsweise das Route Clearance Package – also die chen hat, welche Möglichkeiten es hier inzwischen gibt.
Möglichkeit, aus geschützten Fahrzeugen heraus Wir müssen daher die Attraktivität gerade in diesem Be- (D)
(B)
Sprengsätze zu erkennen und zu beseitigen – angeht, reich weiter steigern.
wird immer wieder auf die langen Lieferfristen hinge-
wiesen, wenn es darum geht, am Markt erhältliche Sys- Aber gerade wenn wir das Thema PTBS ansprechen,
teme zu erwerben. Das stimmt zwar – davon habe ich das im Zentrum dieses Berichts steht, dann muss man sa-
mich überzeugt –, aber wenn die Bestellung etwas früher gen, dass es auch in der Regelversorgung und im zivilen
erfolgt wäre, wären die Lieferfristen inzwischen abge- Bereich an Fachkräften fehlt. Man kann diese Kräfte
laufen und die Fahrzeuge schon da. Das heißt, man hätte nicht einfach irgendwo abwerben. Vielmehr muss man
die Dringlichkeit früher erkennen müssen. Auch für feh- gezielt dafür sorgen, dass neues Personal dafür ausgebil-
lende Fahrzeuge gilt: Die Industrie kann nur dann recht- det und herangezogen wird.
zeitig liefern, wenn sie rechtzeitig bestellt werden. Sie
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
werden nur auf Bestellung produziert. Es sind keine Pro-
der CDU/CSU)
dukte, die im Supermarkt um die Ecke erworben werden
können. Nach wie vor fehlt es an hinreichenden Maßnahmen,
die Vereinbarkeit von Familie und Dienst zu verbessern.
Es gibt aber auch Gutes zu berichten. Der Minister hat Ich habe zwar gehört, was in Dresden gesagt wurde, dass
in einigen Bereichen entscheidende Verbesserungen ent- nämlich in diesem Bereich einiges passieren soll; aber es
weder eingeleitet oder vorbereitet. Ich möchte hierbei fehlt nach wie vor an einer ausreichenden Anzahl an
insbesondere rühmlich hervorheben, dass er die Arbeits- Pendlerwohnungen für die vielen Soldaten – es sind bis
gruppe ESB – ESB steht für „Einsatzbedingter Sofortbe- zu 70 Prozent der Truppe –, die regelmäßig zwischen ih-
darf“ – eingesetzt hat, die sich um die genannten Defi- rem Wohnort und dem Dienstort hin- und herfahren
zite kümmert. Sie kümmert sich insbesondere darum, müssen. Nach wie vor fehlt es an Kinderbetreuungsein-
wie weit man im Rahmen des einsatzbedingten Sofortbe- richtungen und an Maßnahmen zur Bekämpfung der
darfs schnellstmöglich Abhilfe schaffen kann. häufigen Versetzungsnotwendigkeit und der häufigen
Abwesenheit durch Lehrgänge. Dies wird natürlich wei-
Die Fortschritte sind unübersehbar, im Übrigen auch
terhin ein Schwerpunkt der Arbeit des Wehrbeauftragten
bei der Bewaffnung. Zum Beispiel sind jetzt Panzerhau-
sein.
bitzen in Afghanistan, um den Soldaten dort etwas mehr
Rückhalt zu geben. Wir haben wesentlich mehr Schüt- Ein weiterer Schwerpunkt bleibt das hier bereits ge-
zenpanzer im Einsatz. Wir haben die TOW-Rakete im nannte Problem der Kommunikation mit der Heimat,
Einsatz und inzwischen auch Hubschrauber in ausrei- und zwar nicht nur aus den Einsatzgebieten, sondern
chender Zahl; leider sind es nicht unsere eigenen, son- auch von den Schiffen. Auch dort habe ich den Ein-
8978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus


(A) druck, dass die Dringlichkeit dieses Problems nicht in al- gruppe der Unteroffiziere mit Portepee. In der Wehr- (C)
len Bereichen der militärischen und politischen Organi- pflichtdiskussion der vergangenen Jahre scheint mir
sation erkannt ist. Hier muss etwas getan werden. Die manchmal in den Hintergrund geraten zu sein, dass es
Ausschreibung, die gerade durchgeführt worden ist und sich dabei ebenso um Staatsbürger in Uniform handelt
über die demnächst entschieden werden wird, wird die- wie bei den Grundwehrdienstleistenden. Sie haben ja
ses Problem nicht so lösen, wie ich es mir wünsche. Bei nicht geringere Rechte, weil sie sich freiwillig zu diesem
der Kommunikation aus den Einsatzgebieten und von oft gefährlichen Dienst für unser aller Sicherheit gemel-
den Schiffen nach Hause geht es nicht einfach ganz all- det haben. Dass die Bundeswehr untrennbar Teil unserer
gemein um Fürsorge, sondern darum, dass die Soldatin- freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft ist, wird sich
nen und Soldaten die Möglichkeit erhalten, ihre Grund- auch durch den Übergang zu einer Freiwilligenarmee
rechte wahrzunehmen, sich aus allen zugänglichen nicht ändern. Das Konzept der Inneren Führung ist und
Quellen frei zu informieren und – jetzt geht es um Art. 6 bleibt ein Markenzeichen der Bundeswehr.
des Grundgesetzes – mit ihren Familien Kontakt zu hal-
ten. Gerade der Bereich der politischen Bildung wird in
Zukunft eher noch wichtiger. Stärker denn je gilt es zu
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten vermitteln, dass die Streitkräfte kein Fremdkörper und
der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- die Soldaten Bürger dieser Gesellschaft sind, besonders
SES 90/DIE GRÜNEN) wenn ihre Zahl sinkt und der Dienst auf Freiwilligkeit
beruht. Übrigens gilt es, das nicht nur innerhalb der
Dies geht nur mit verbesserten Angeboten. Um das zu
Truppe, sondern in der ganzen Gesellschaft zu vermit-
ändern, wird noch viel zu tun sein. Das habe ich dem
teln. Da haben wir alle noch eine Menge nachzuholen. In
Ministerium schon angekündigt.
jedem Fall bleibt der Wehrbeauftragte gerade für uns
Zum Ende meiner Rede nutze ich die Gelegenheit, die Abgeordnete im Verteidigungsausschuss ein wesentli-
Soldatinnen und Soldaten im Einsatz und ihre Angehöri- ches Kontrollorgan im Hinblick auf den Zustand der
gen zu Hause zu grüßen und ihnen, aber auch den Mit- Truppe; er bleibt sozusagen unser aller Frühwarnsystem.
gliedern dieses Hohen Hauses frohe Weihnachten und Dafür wünsche ich Ihnen, Herr Wehrbeauftragter
ein gutes neues Jahr zu wünschen. Königshaus, und Ihren Mitarbeitern im Namen der
Unionsfraktion weiter viel Erfolg. Wir freuen uns auf
Herzlichen Dank. eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen und Ihrem Hause.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
der FDP)
des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE])
(B) Lieber Herr Königshaus, der heute debattierte Jahres- (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: bericht 2009 ist zwar noch unter der Ägide Ihres Amts-
Die Kollegin Anita Schäfer hat für die CDU/CSU- vorgängers entstanden, Sie haben aber bereits im Juni ei-
Fraktion das Wort. nen Zwischenbericht über die Entwicklung im ersten
Halbjahr 2010 und erst kürzlich einen weiteren Bericht
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auf Grundlage Ihres Truppenbesuchs in Afghanistan so-
neten der FDP) wie beim Fallschirmjägerbataillon 263 aus meinem
Wahlkreis vorgelegt, das im Januar mit Masse in den
Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Einsatz geht. Am Freitag vor drei Wochen habe ich am
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Sehr Verabschiedungsappell des Bataillons in Zweibrücken
geehrter Herr Wehrbeauftragter, gerade gestern hat das teilgenommen. Ich möchte den Soldaten an dieser Stelle
Bundeskabinett der Reform der Bundeswehr zuge- nochmals viel Glück und eine vollzählige, gesunde
stimmt. Damit werden Sie, Herr Wehrbeauftragter, in Ih- Heimkehr wünschen.
rer Amtszeit die Truppe während des größten Umbruchs
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
seit ihrer Gründung begleiten. Die geplante Aussetzung
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
der Wehrpflicht zum 1. Juli nächsten Jahres ist eine ein-
GRÜNEN)
schneidende Veränderung. Sicherlich werden Sie sich in
den nächsten Jahren nicht zuletzt mit den Auswirkungen Ich hoffe, sie mit allem Notwendigen versorgt vorzufin-
zu befassen haben, die die Reform auf einzelne Soldatin- den, wenn ich sie im nächsten Halbjahr in Kunduz besu-
nen und Soldaten haben wird. Wir hoffen natürlich, dass che.
alles möglichst reibungslos verläuft. Dabei werden wir
den Minister und seine Mitarbeiter nach allen Kräften Im Einzelnen möchte ich vier Punkte herausgreifen.
unterstützen. Aber bei Umstellungen dieses Ausmaßes
Erster Punkt. Am wichtigsten sind mir die Klagen
werden sich Probleme im Einzelfall nicht vermeiden las-
über mangelnde Ausstattung mit Waffen und Munition.
sen. Dabei will ich eines hier in aller Deutlichkeit sagen:
Hierzu hat das BMVg inzwischen klargestellt, dass dies
Durch die Umstellung auf eine Freiwilligenarmee wird
beispielsweise beim Ausbildungs- und Schutzbataillon
das Amt des Wehrbeauftragten keinesfalls überflüssig.
in Kunduz lediglich in der Phase des planmäßigen Auf-
Wie der Jahresbericht 2009 wieder aufführt, kommt wuchses der Fall war. Mittlerweile verfügt jeder Soldat
bereits jetzt die größte Zahl der Eingaben aus dem Be- über eine fest zugeordnete Handwaffe. Die Munitions-
reich der Soldaten auf Zeit und aus der Dienstgrad- vorräte entsprechen den operativen Vorgaben. Auch der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8979
Anita Schäfer (Saalstadt)
(A) beklagte Mangel an Munition für die Granatmaschinen- in der Gesellschaft die Soldaten belastet. Wir haben im- (C)
waffen ist umgehend behoben worden. mer wieder beklagt, dass die Medien nur dann groß be-
richten, wenn es Tote und Verwundete gegeben hat. Nun
Zweite Punkt: Problematisch sein könnte einmal schafft das Ehepaar zu Guttenberg einmal außerhalb
mehr die Situation bei den geschützten Fahrzeugen so- solch trauriger Vorfälle Aufmerksamkeit für den Einsatz –
wohl für den Einsatz als auch für die einsatzvorberei- und trotzdem ist es vielen nicht recht. Wenn Fernsehzu-
tende Ausbildung. Es ist bekannt, dass wir uns hier in ei- schauer durch diesen Besuch motiviert werden, sich
nem kontinuierlichen Verbesserungsprozess befinden. heute Abend die in Masar-i-Scharif aufgezeichnete Sen-
Das Bundesministerium der Verteidigung hat kürzlich dung mit Herrn Kerner anzusehen, und wenn sie dabei
nochmals festgestellt, dass derzeit rund 1 000 Fahrzeuge einen ehrlichen Einblick in das Leben und die Sorgen
im Einsatz sind und 160 für die einsatzvorbereitende unserer Soldaten dort bekommen, wofür sie sich sonst
Ausbildung zur Verfügung stehen. nicht interessiert hätten, dann kann ich nur sagen: Herz-
Für die kommenden beiden Jahre ist der Zulauf von lichen Dank für diese Aktion, Herr Minister! Das war es
600 weiteren, vor allem von moderneren Typen geplant. wert.
Gerade gestern haben wir im Verteidigungs- und im Haus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
haltsausschuss der Beschaffung weiterer 195 Eagle IV zu- Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Das war der Wer-
gestimmt, sodass ich davon ausgehe, dass diese Fahr- beblock! – Iris Gleicke [SPD]: Wenn ich so
zeuge im nächsten Jahr zeitgerecht nicht nur der Truppe
was vorlesen müsste, würde ich mich schä-
in Afghanistan zulaufen können, sondern dass auch die
men!)
vorbereitende Ausbildung zunehmend auf dem gleichen
Modell wie im Einsatz stattfinden kann. Lassen Sie mich kurz auf ein Thema zurückkommen,
Dritter Punkt – er ist nicht wirklich lebenswichtig, das ich bereits bei der ersten Behandlung des Jahresbe-
aber ärgerlich angesichts der Dauer, seit der wir diese richts 2009 angesprochen habe, nämlich auf die Lage im
Klagen schon hören –: die durchgängigen Beschwerden zentralen Sanitätsdienst und hier besonders auf die Mög-
in allen Feldlagern über die mangelhaften Angebote zur lichkeit zur Behandlung von posttraumatischen Belas-
Kommunikation mit der Heimat, besonders im Vergleich tungsstörungen. Mittlerweile ist das lange geforderte
zu den Möglichkeiten, die Soldaten der Verbündeten Traumazentrum am hiesigen Bundeswehrkrankenhaus
teilweise zur Verfügung stehen. Das gilt nicht nur für Berlin eingerichtet und der Beauftragte als Anlaufstation
Afghanistan. Hierzu hat das Bundesministerium der Ver- für alle Probleme in diesem Bereich eingesetzt. Dieser
teidigung mitgeteilt, dass für Mitte dieses Monats, also wichtige Schritt wird die Dinge künftig sehr vereinfa-
jetzt gerade, die Entscheidung über den Zuschlag für ei- chen, weil es jetzt eine zentrale Adresse für alle Bemü-
hungen auf diesem Gebiet gibt. Nicht nur, aber auch we-
(B) nen neuen Vertrag zur Betreuungskommunikation vorge- gen dieser Problematik muss dem Sanitätsdienst
(D)
sehen ist. Offenbar hat nur einer von vier Wettbewerbern
mit seinem Angebot alle Anforderungen erfüllt. Ich gehe weiterhin höchste Aufmerksamkeit gelten. Das Attrakti-
in jedem Fall davon aus, dass es rasche Verbesserungen vitätsprogramm zur Verbesserung der Personallage ist
für die Truppe im Einsatz geben wird. bereits eingeleitet.
Vierter Punkt: die knappen Personalressourcen für Herr Wehrbeauftragter, jetzt habe ich noch einen letz-
wichtige Aufgabenbereiche durch die Mandatsober- ten Gedanken: Sie wissen, dass Reservisten zukünftig
grenze, insbesondere bei Infanterie und Aufklärung. eine größere Rolle in der Bundeswehr spielen sollen.
Diese Frage geht uns als Parlament direkt an; denn wir Deshalb wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie in Ihren
entscheiden mit der Zustimmung zum Mandat, ob genug nächsten Berichten ein besonderes Augenmerk auf die-
Personal für eine sichere Auftragserfüllung eingesetzt sen Bereich legen würden.
werden kann.
Ich möchte auch diesmal mit einem Dank an die Sol-
Die Koalition hat immer klipp und klar gesagt, dass daten und die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr schlie-
die Geschwindigkeit der geplanten Truppenreduzierung ßen. Wir denken besonders an die Männer und Frauen
über die nächsten Jahre vom Erfolg der Stabilisierungs- im Einsatz, die Weihnachten und Neujahr fernab ihrer
maßnahmen abhängt. Der Außenminister hat das heute Familien in gefährlicher Umgebung verbringen müssen.
Morgen in der Debatte zum Afghanistan-Fortschrittsbe- Wir denken zugleich an die Familien, die auch an den
richt sehr gut zusammengefasst: Die Übergabe der Si- Festtagen in Sorge um ihre Angehörigen sein werden.
cherheitsverantwortung an die Afghanen muss sorgfäl- Wir denken an die Familien der in diesem Jahr Gefalle-
tig, nachhaltig und unumkehrbar geschehen. nen ebenso wie an die Soldaten, die schwere Verwun-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dungen davongetragen haben und sich zum Teil mit
neuen Lebensumständen zurechtfinden müssen. Ich darf
Dieses Thema eignet sich nicht für parteitaktische Spiel- Sie bitten, alle diese mutigen Menschen in Ihre Gedan-
chen; denn die würden auf dem Rücken unserer Soldaten ken und vielleicht auch in Ihre Gebete einzuschließen.
ausgetragen. Gegenstand solcher Spielchen sollte auch
nicht ein gemeinsamer Besuch des Verteidigungsminis- Herzlichen Dank.
ters mit seiner Frau in Afghanistan sein.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Die letzten Jahresberichte des Wehrbeauftragten, Heidrun Dittrich [DIE LINKE]: Und die zivi-
auch der hier besprochene, haben immer wieder deutlich len Opfer? – Gegenruf der Abg. Anita Schäfer
gemacht, wie der Mangel an Interesse und Anerkennung [Saalstadt] [CDU/CSU]: Die waren dabei!)
8980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es gibt einen Punkt, wo man entweder kotzt oder (C)
Die Kollegin Karin Evers-Meyer hat jetzt das Wort weint.
für die SPD-Fraktion. Dass dieser Soldat quasi um Unterstützung betteln
(Beifall bei der SPD) musste, war für mich so ein Punkt.
Der damalige Wehrbeauftragte hat beim Thema PTBS
Karin Evers-Meyer (SPD): seinen Job gemacht, tut das übrigens auch heute noch,
Frau Präsidentin! Herr Wehrbeauftragter! Meine sehr etwa mit dem von ihm ins Leben gerufenen runden Tisch
verehrten Damen und Herren! Ich finde es gut, dass die „Solidarität mit Soldaten“, dem inzwischen rund
Bundeswehr in diesen Tagen so viel Aufmerksamkeit 40 Organisationen und Selbsthilfegruppen angehören
bekommt wie schon lange nicht mehr. Die Soldatinnen und der auch bereits wirklich konkrete Erfolge vorwei-
und Soldaten in den Einsatzgebieten verdienen unsere sen kann.
Aufmerksamkeit,
Aufseiten der jetzigen Bundesregierung jedoch ist seit
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem dieser Zeit fast nichts Erwähnenswertes mehr passiert –
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- außer vielen schönen Worten und einem Entschließungs-
geordneten der FDP) antrag mit einer Reihe wohlklingender Ankündigungen.
Wenn man sich aber so weit aus dem Fenster lehnt und
und sie wollen diese Aufmerksamkeit für ihre wichtige in Afghanistan eine Fernsehsendung vor Soldatinnen
und gefährliche Arbeit auch. Ob das nun in der Art und und Soldaten im Einsatz macht, dann reichen schöne
Weise passieren muss, in der der Verteidigungsminister Worte nicht, dann muss man zu Hause etwas tun.
dafür sorgt, oder ob es auch anders geht, das sind Ge-
schmacksfragen, die eine untergeordnete Rolle spielen. (Florian Hahn [CDU/CSU]: Jetzt schauen Sie
sich das erst einmal an!)
(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: So wie der
Minister das macht, ist das gut!) Das erwarten wir jetzt von Ihnen, Herr Minister zu
Guttenberg. Sie haben mit Ihrem Politikstil große Erwar-
Worum es wirklich geht: Wir müssen das, was wir mit tungen geweckt, die Sie jetzt auch erfüllen müssen. An-
Worten ankündigen, auch tatsächlich machen. Wenn hier sonsten werden Sie ein charmanter Ankündigungsminis-
nur öffentlichkeitswirksam Themen besetzt werden sol- ter bleiben und letztlich Ihr und auch unser aller
len, dann bleibt es bei heißer Luft, Vertrauen bei den Soldatinnen und Soldaten verspielen.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: (Florian Hahn [CDU/CSU]: Das hat Herr
Greifen Sie nicht gleich den Gabriel an! – Ingo Gabriel jetzt gemacht!)
(B) Gädechens [CDU/CSU]: Schimpfen Sie doch (D)
nicht mit Ihrem Parteivorsitzenden!) Lassen Sie uns beim Thema PTBS einfach gemein-
sam konkret werden. Wir brauchen ein selbstständig ar-
dann richten die handelnden Personen mehr Schaden an, beitendes Traumainstitut, das über ausreichende, qualifi-
als sie nützen. zierte Stellen verfügt, um auf den Feldern Prävention,
Therapie und Forschung etwas zu tun. Wir brauchen
Seien Sie sich darüber im Klaren, Herr Minister zu
Screening-Verfahren zur Früherkennung. Wir brauchen
Guttenberg, dass Sie mit Ihren Worten und Bildern Er-
Therapieeinrichtungen. Wir brauchen professionelle In-
wartungen wecken, die wir auch erfüllen müssen. Da
formationsangebote. Solche Angebote werden derzeit
habe ich als Fachpolitikerin aber meine Bedenken. Ich
immer noch ehrenamtlich organisiert, etwa auf der Inter-
habe seit einiger Zeit den Eindruck: Es wird viel ange-
netseite von Frank Eggen und Dr. Peter Zimmermann.
kündigt, und es passiert sehr wenig. Ich will in diesem
Wir brauchen konkrete Gesetzentwürfe für eine deutli-
Zusammenhang nicht auf die angekündigte Bundes-
che Verbesserung der Versorgungs- und Weiterverwen-
wehrreform eingehen, sondern mich an das halten, wo-
dungsgesetze. Wir müssen auch wieder über Einsatzzei-
rum es im Bericht des neuen Wehrbeauftragten, Herrn
ten und Einsatzbedingungen sprechen, insbesondere
Königshaus, geht.
darüber, dass einer wissenschaftlichen Studie zufolge
Ich greife nur einmal das Beispiel der Posttraumati- nach 127 Einsatztagen die Gefahr einer PTBS-Erkran-
schen Belastungsstörungen, PTBS, heraus. Dieses kung signifikant ansteigt.
Thema war ein Schwerpunkt im Jahresbericht 2008 des
Wir müssen Prävention, Nachsorge und Fürsorge sehr
Wehrbeauftragten, der damals noch Reinhold Robbe
ernst nehmen. Deutschland muss an dieser Stelle profes-
hieß. Also bereits vor einem Jahr hat Herr Robbe auf die
sioneller werden und sich besser aufstellen. Ein Jahr ist
sprunghaft gestiegenen Zahlen der an PTBS erkrankten
schon ins Land gegangen, ohne dass sich auch nur für
Soldaten hingewiesen, und er hat öffentlich Druck ge-
eine Soldatin oder einen Soldaten spürbar etwas verbes-
macht. Dazu braucht es auch die Medien. Das ist legitim.
sert hat. Der Fall des Soldaten, der zum Sozialamt geht,
Ich erinnere mich noch sehr gut an den erschütternden
ist nach wie vor Realität. Deswegen müssen wir dieses
Fernsehbericht, in dem der Wehrbeauftragte einen Sol-
Thema endlich einmal gemeinsam anpacken.
daten mit PTBS zum Sozialamt begleitet, weil dieser
nach einem Auslandseinsatz arbeitsunfähig geworden In diesem Punkt – das will ich hier deutlich sagen –
ist. Franz Josef Wagner hat gestern in seiner Bild-Zei- würde ich mir auch etwas mehr öffentliches Engagement
tungs-Kolumne geschrieben – den Kommentar finde ich des amtierenden Wehrbeauftragten wünschen. Sie sind
passend –: in große Fußstapfen getreten, Herr Königshaus. Sie müs-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8981
Karin Evers-Meyer
(A) sen bei diesem Thema jetzt Akzente setzen. Ihr Amts- Lassen Sie uns doch diese Blackbox, um die wir nun (C)
vorgänger Robbe hat gezeigt, wie das geht: Vertrauen schon seit Jahren herumschleichen, endlich gemeinsam
bei den Soldaten, große öffentliche Reputation und na- aufbrechen.
türlich auch Durchsetzungsvermögen. Das braucht das
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Thema, und das sind Sie und wir den Soldatinnen und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Soldaten schuldig. Wir können etwas daraus machen.
Herr Minister zu Guttenberg, ich bitte Sie ganz herzlich:
(Beifall bei der SPD) Geben Sie Ihrem Haus den Auftrag, dieses Problem ein-
mal zu prüfen, um uns zu sagen – das will ich einfach
Es gibt ein zweites Thema, das ich heute noch anspre-
nur wissen –, wie es gehen könnte und was das kosten
chen möchte – ich bin dem amtierenden Wehrbeauftrag-
würde. Dann können wir hier entscheiden, ob uns unsere
ten, Herrn Königshaus, wirklich sehr dankbar dafür, dass
Soldatinnen und Soldaten das wert sind. Ich finde, es
er hierbei den Finger in die Wunde legt –: Es geht noch
sind die kleinen Dinge, die Vertrauen schaffen und die
einmal um die Kommunikationswege zwischen Einsatz-
Wertschätzung zeigen.
gebiet und Heimat und damit für mich letztendlich auch
um die Wertschätzung der Soldatinnen und Soldaten und Wenn das mit dem Internet vonseiten des Ministe-
die Attraktivität der Bundeswehr insgesamt. riums wirtschaftlich nicht vernünftig umsetzbar sein
sollte, dann werden wir die Telekom oder welche Firma
Für uns hier im Bundestag ist die Kommunikation mit auch immer darum bitten, vor Ort geeignete Funkmas-
Freunden und Verwandten zu Hause eine Selbstverständ- ten, vielleicht zum Selbstkostenpreis, zu installieren. So
lichkeit. Wir skypen, wir kommunizieren über SMS, haben die Belgier das im Übrigen gemacht. Das muss
E-Mails und Mobiltelefone. All diese Möglichkeiten ste- doch auch hier bei uns möglich sein.
hen uns zur Verfügung. Wir sind ständig und überall er-
reichbar. Das ist gerade für uns sehr wichtig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die Bundes-
wehr ein attraktiver Arbeitgeber bleiben will – und das
Wenn man aber als Soldatin oder Soldat in Afghanis- muss sie angesichts unserer Vorhaben unbedingt blei-
tan stationiert ist oder auf einer Fregatte am Horn von ben –, dann dürfen wir uns gegenüber unseren Soldatin-
Afrika seinen Dienst versieht, dann sind die Kommuni- nen und Soldaten nicht in dieser Weise als Krämerseelen
kationswege zur Familie natürlich beschränkter. Ein Ma- aufführen. Kommunikation mit der Familie ist wichtig.
rinesoldat hat mir erzählt, dass auf seinem Schiff höchs-
tens einmal am Abend, wenn die Dienstrechner für eine (Beifall bei der SPD)
Stunde abgeschaltet werden, ein Internetzugang zur Ver- Sie macht es Soldatinnen und Soldaten überhaupt erst
(B) fügung steht. Gleichzeitig erfahre ich dann, dass belgi- möglich, über lange Einsatzzeiten hinweg die Beziehung (D)
sche, kanadische und amerikanische Kameraden jeden zu ihren Partnern aufrechtzuerhalten. Wir sollten uns bei
Abend per Skype mit ihren Partnern und Kindern spre- diesen Dingen die kleinen Karos verkneifen und zu mehr
chen können. Das ist beschämend. Das geht einfach Größe gelangen. Das ist meine dringende Bitte und mein
nicht. Auch in Deutschland leben wir im 21. Jahrhun- Plädoyer.
dert, und ich habe wirklich keine Lust mehr, Soldatinnen
und Soldaten vor Ort Begründungen aus dem Verteidi- Ich danke heute dem Wehrbeauftragten des Deut-
gungsministerium vorzulesen, in denen fein säuberlich schen Bundestages, Herrn Königshaus, und seinen Mit-
aufgelistet steht, warum die Soldaten in den Feldlagern arbeiterinnen und Mitarbeitern für ihre Arbeit und den
oder auf den Schiffen keinen brauchbaren Internetan- vorliegenden Bericht. Lassen Sie uns weiterhin gemein-
schluss und keine vernünftige Telekommunikationsan- sam dafür eintreten, dass unsere Soldatinnen und Solda-
lage bekommen können. ten in ihrem Alltag die Wertschätzung bekommen, die
sie verdienen. Mit Ihrem Bericht haben Sie einen wichti-
(Florian Hahn [CDU/CSU]: Wer hat denn den gen Beitrag dazu geleistet.
Vertrag gemacht? Wer ist denn dafür verant- Vielen Dank.
wortlich? Den haben Sie 2001 gemacht!)
(Beifall bei der SPD)
Im Schreiben vom Ministerium steht natürlich nicht,
dass die entsprechenden Verträge des Verteidigungs-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
ministeriums mit den Kommunikationsanbietern letzt-
lich wenig vorausschauend ausgeschrieben wurden. Na- Der Kollege Christoph Schnurr hat jetzt das Wort für
türlich sind die Datenmengen heute viel größer als vor die FDP-Fraktion.
zehn Jahren; aber man kann entsprechende Verträge ab- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
schließen. der CDU/CSU)
(Florian Hahn [CDU/CSU]: Wer war denn da
an der Regierung? Struck!) Christoph Schnurr (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist heutzutage möglich, dass man bei steigender Inan- Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Es ist schon inte-
spruchnahme mehr Kapazitäten bekommt. Wie ich höre, ressant gewesen, Frau Kollegin Evers-Meyer, was Sie
sind die neuen Ausschreibungen nicht wesentlich besser gesagt haben. Ich glaube, dass man das eine oder andere
und genauso dürftig wie die alten. schon noch einmal ansprechen muss.
8982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Christoph Schnurr
(A) Zunächst einmal ist zu sagen: Die Arbeit des ehemali- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem (C)
gen Wehrbeauftragten Reinhold Robbe war sicherlich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
beachtlich, und jeder seiner Berichte und jede seiner geordneten der SPD)
Stellungnahmen hat in diesem Hohen Hause Zuspruch
Die rund 5 500 Eingaben im Jahr 2009 sind in ihren
und Anerkennung gefunden. Wir behandeln heute den
Anliegen äußerst unterschiedlich. Einige Eingaben spre-
letzten Bericht, den Herr Robbe vorgelegt hat, und auch
chen Probleme und Vorfälle an, die menschlicher Natur
die Antworten des Ministeriums auf diesen Bericht.
sind. Dennoch können sie ärgerlich für die Betroffenen
Sie, Frau Evers-Meyer, haben dann gesagt, dass große sein. Wenn beispielsweise ein Geschäftszimmersoldat
Fußstapfen vorhanden gewesen sind und dass der neue Akten verlegt und deshalb eine Beförderung nicht sofort
Wehrbeauftragte diese nach Möglichkeit ausfüllen soll, durchgeführt werden kann und dann Monate auf sich
was aber wohl schwierig sein mag. Ich sage Ihnen ganz warten lässt, dann ist das für den Betroffenen zwar ärger-
offen: Es geht nicht darum, Fußstapfen auszufüllen, son- lich, aber es ist menschliches Versagen.
dern darum, neue Akzente zu setzen. Deswegen finde
Allerdings werden auch zu Recht Probleme der Sol-
ich es besonders gut und lobenswert, dass der neue
daten geschildert, die einen politischen Handlungsbedarf
Wehrbeauftragte seine Erkenntnisse, die er bei Truppen-
aufzeigen, bei denen Bundestag und Ministerium letzt-
besuchen und bei seinen Reisen in die Einsatzländer ge-
endlich gefordert sind, beispielsweise beim eklatanten
winnt, nicht zuerst in Zeitungen vermittelt. Er hat viel-
Mangel an Ärzten. Allein heute fehlen über 600 Ärzte in
mehr seine beiden Zwischenberichte, die er im letzten
der Bundeswehr; beruhigend ist das nicht. Jedoch denke
halben Jahr bereits geschrieben hat, erst dem Ausschuss
ich, dass mit der Zulage für Ärzte der erste Schritt in die
zur Diskussion vorgelegt und hat damit zugleich auch
richtige Richtung gemacht worden ist. Der erhöhte
dem Ministerium die Möglichkeit gegeben, mit entspre-
Haushaltsansatz 2011 für das Sanitätswesen ist ein An-
chenden Antworten auf diese Zwischenberichte zu re-
fang für die Attraktivitätssteigerung in diesem Organisa-
agieren. Es ist der richtige Weg, das auf diese Weise im
tionsbereich.
Parlament kundzutun.
Wenn Soldaten lesen, dass im Jahr 2009 466 Kame-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
radinnen und Kameraden mit PTBS behandelt worden
Nun zum Bereich PTBS: Wir Abgeordnete und insbe- sind, so schätzen einige in der Truppe diese Zahl wie-
sondere wir Verteidigungspolitiker wünschen uns natür- derum als wesentlich höher ein. Das ist alarmierend. Um
lich oft, dass Dinge schneller, zügiger und vielleicht diese Dunkelziffer mache ich mir – ich glaube, wir uns
auch effizienter ablaufen. Wenn wir uns aber einmal alle – große Sorgen. Ich setze daher auch auf die Vorge-
klarmachen, welchen Stellenwert das Thema PTBS vor setzten, Freunde und Familien von Soldaten und hoffe,
(B) fünf Jahren hatte – es sage mir keiner, dass es zu diesem dass sie sich bei Verdacht für eine Untersuchung der Be- (D)
Zeitpunkt keine PTBS-Betroffenen gegeben habe –, troffenen einsetzen. Denn eines ist klar: Es ist keine
kommen wir nicht umhin, festzustellen, dass wir heute Schmach und auch kein Makel. Der Soldatenberuf for-
auf einem richtigen und guten Weg sind. Ich glaube, das dert viel, und dementsprechend besteht auch der An-
darf man an dieser Stelle auch einmal sagen. spruch, viel zurückzubekommen, was die Genesung so-
wohl des Körpers als auch des Geistes betrifft. Dieses
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Land kann und wird darauf verzichten, seine gedienten
der CDU/CSU) Frauen und Männer ins Abseits zu stellen.
Meine Damen und Herren, es handelt sich – das habe (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ich bereits gesagt – nicht nur um den 51. Jahresbericht der CDU/CSU)
eines Wehrbeauftragten, sondern auch um den Ab-
schlussbericht von Reinhold Robbe. Dieser Bericht stellt Allerdings beschäftigen mich auch andere Dinge, vor-
verschiedene Mängel, Probleme und Schwierigkeiten im neweg die Reservisten. Auch ich bin Reservist. Es macht
Jahr 2009 innerhalb der Bundeswehr heraus. Darin wer- Spaß, auf diese Art und Weise etwas für das Land tun zu
den alle Teilstreitkräfte, Organisationsbereiche, Dienst- können. Doch zum Teil sind wohl einige Truppenteile
gradgruppen, die Relationen von Frauen und Männern, nicht in der Lage, adäquat mit ihren Reservisten umzu-
von Einsatzgebieten und Heimatländern, von Reservis- gehen. 188 Vorgänge im Jahr 2009 befassen sich mit der
ten und Aktiven genannt. Viele Probleme sind herausge- Thematik von Reservisten. Das sind Eingaben von Men-
stellt worden. Das einzig Richtige, das man dagegen tun schen, die freiwillig ihr soziales Gefüge – sprich: Fami-
kann, ist letztendlich, gegenzusteuern, die Probleme ab- lie, Freunde und Arbeit – für eine gewisse Zeit verlassen.
zustellen und niemals die Augen und Ohren zu ver- Da ist es aus meiner Sicht nicht zu viel verlangt, dass die
schließen. Der ehemalige Wehrbeauftragte hat nicht die personalbearbeitenden Stellen diesen Personen entge-
Ohren verschlossen, sondern er hat immer zugehört. genkommen und sie sachgerecht behandeln; denn die
Hellmut Königshaus, der neue Wehrbeauftragte, tut dies Reservisten sind gerade vor dem Hintergrund der Struk-
genauso. Er hört sich die Sorgen, die Nöte, die Anregun- turreform und der neuen Bundeswehr, die auf uns zu-
gen, zum Teil die Bitten und manchmal an der einen kommt, notwendig. Eigentlich sind, wenn wir einmal
oder anderen Stelle auch die bittere Wahrheit von unse- ganz ehrlich sind, die Reservisten schon heute aus der
ren Soldaten an und transportiert sie in den Deutschen Bundeswehr nicht mehr wegzudenken. Jeden Tag leisten
Bundestag. Ich bedanke mich bei dem ehemaligen Wehr- im Schnitt 2 400 Reservisten ihren Dienst in der Bundes-
beauftragten und auch beim heutigen Wehrbeauftragten wehr. Auch hier ein Dankeschön an die Reservisten. Sie
recht herzlich für ihre Arbeit. sind ein wichtiger Bestandteil der Bundeswehr.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8983
Christoph Schnurr
(A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nis zwischen diesen Dankesgesten und dem, was in der (C)
der CDU/CSU) Praxis für die persönlichen Belange der Soldatinnen und
Soldaten getan wird.
Ein weiteres oft debattiertes Problem, das wir im Aus-
schuss begleitet haben und das in der Tat in vielen Be- Es gibt in diesen Tagen eine Postkartenaktion des
richten immer wieder thematisiert wird, ist die Ausstat- Deutschen BundeswehrVerbandes. Auf der Postkarte ist
tung der Soldaten, und zwar von der Kleinstausstattung, eine Frau abgebildet, die unschwer als die Kanzlerin zu
die teilweise – so mag man denken – sehr schnell zu be- erkennen ist, der die Worte in den Mund gelegt werden:
schaffen ist, bis hin zu größeren Waffensystemen bzw.
geschützten Fahrzeugen. Ja, wir brauchen mehr ge- Alle Soldaten, die in Afghanistan Dienst tun, ver-
schützte Fahrzeuge, nicht nur in Einsatzgebieten, son- dienen unsere Solidarität …
dern auch an den Ausbildungseinrichtungen der Bundes- Der Soldat, der ihr auf dem Bild gegenübersteht, fragt:
wehr im Inland. Es ist von elementarer Wichtigkeit, dass
wir unsere Soldaten auf den Fahrzeugen ausbilden, auf … sind 2,5 % Bezügekürzung wirklich solidarisch?
denen sie im Einsatz arbeiten. Die Militärkraftfahrer Ich glaube, das trifft den Punkt.
müssen ihre Fahrzeuge in- und auswendig kennen und
wissen, wie sich das Fahrzeug in jeglicher Situation ver- Man kann es ein bisschen verallgemeinern: Wenn es
hält. Wenn auch nur ein Soldat nicht auf dem richtigen um rüstungsindustrielle oder beschaffungspolitische Maß-
Fahrzeug ausgebildet wird, dann ist das ein Soldat zu nahmen geht, dann sind die jeweiligen Regierungen und
viel. die sie tragenden Fraktionen sehr großzügig. Wir haben
es gestern erlebt – diese Übung gibt es immer vor Weih-
Ein wichtiges Thema bleibt die Frage der Kommuni-
nachten –, wie großzügig man da ist. Wenn es aber um
kation im Auslandseinsatz. Dazu gehört die Möglichkeit,
die persönlichen Belange der Soldatinnen und Soldaten
mit der Familie zu sprechen. Das bisherige Angebot ist
geht, dann ist man eher zurückhaltend. Das ist das Miss-
zu gering. Deshalb liegt meine Hoffnung, Herr Minister,
verhältnis, das ich meine. Es reicht vom ursprünglich
auf der Neuausschreibung und vor allem auf der Neuver-
versprochenen Weihnachtsgeld, das man dann verwei-
gabe dieser Leistungen. Wir müssen noch viel tun.
gert hat, über die völlig unzulänglichen Möglichkeiten
Meine Redezeit geht zu Ende; es gäbe aber noch eini- der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz, mit
ges zu sagen. Meine Ausführungen haben gezeigt, dass ihren Freunden und Familienangehörigen zu kommuni-
der Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus für seinen zieren – das ist angeblich viel zu teuer –, bis zur unzurei-
neuen Bericht noch einiges zu tun hat, angefangen beim chenden Ausstattung des Sanitätsdienstes, aber auch der
Sanitätsdienst, über die Frage der Steigerung der Attrak- Soldatinnen und Soldaten im Hinblick auf ihren persön-
(B) tivität des Dienstes und die Frage der Vereinbarkeit von lichen Schutz. (D)
Familie und Beruf, die weiterhin im Raum steht, bis hin
zur neuen Struktur. Der neue Wehrbeauftragte hat hierzu einen sehr um-
fangreichen Mängelbericht vorgelegt. Das ist bemer-
Herr Wehrbeauftragter, vor diesem Hintergrund möchte kenswert und richtig; das ist auch seine Aufgabe. Es
ich sagen, dass wir uns auf die Zusammenarbeit freuen. muss uns aber schon zu denken geben, dass sich das
Ich bedanke mich bei Ihnen allen recht herzlich. Bundesministerium der Verteidigung erst dadurch ge-
zwungen sieht, bestimmte Defizite einzugestehen und
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sie abzustellen sowie Verbesserungen auf den Weg zu
bringen, deren Umsetzung allerdings eine längere Zeit in
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Anspruch nehmen wird. Das ist überhaupt nicht gut. Das
Paul Schäfer ist der nächste Redner für die Fraktion ist der Punkt: Shows zu inszenieren, ist das eine; das an-
Die Linke. dere ist, sich wirklich um diese kleinen, aber drängenden
Probleme der Truppe zu kümmern. Herr Verteidigungs-
(Beifall bei der LINKEN) minister, das ist Ihre Aufgabe.
Ein anderes Thema ist aus unserer Sicht vordringlich:
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):
die nun in Gang gesetzte Reform der Bundeswehr an
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-
Haupt und Gliedern und die Aufgaben, die auf den
ehrter Herr Wehrbeauftragter! Es ist eine gute Tradition,
Wehrbeauftragten in diesem Zusammenhang zukom-
dass wir nicht erst zu mitternächtlicher Stunde, sondern
men. Wenn sich diese Reform durchsetzt, die darauf ge-
zu einer prominenten Zeit über den Jahresbericht des
richtet ist, die Bundeswehr auf Auslandseinsätze zu
Wehrbeauftragten diskutieren. Es ist zwar etwas ko-
trimmen und sie da noch besser zu machen, wird es ohne
misch, dass wir jetzt über den Jahresbericht 2009 eines
Zweifel zu beträchtlichen Veränderungen im inneren Ge-
Wehrbeauftragten diskutieren, der nicht mehr im Amt
füge der Streitkräfte kommen: Veränderungen der Struk-
ist, aber immerhin!
tur, Zentralisierung, stärkere Unterordnung der zivilen
Es gehört auch zur Tradition, dass in diesem Rahmen Säule der Bundeswehr. Die andere Seite ist der mögliche
immer den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr Wandel der Kultur in der Truppe, genauer gesagt des
Dank ausgedrückt wird. Abgesehen davon, dass mir die Selbstverständnisses der Truppe. Eine Armee, die eine
ritualisierte Form, in der das sehr oft geschieht, fremd ist offensive Aufstandsbekämpfung und die Durchsetzung
– Ritualisierung bedeutet oft auch Sinnentleerung –, wirtschaftlicher Interessen auf der Agenda hat, pflegt
stört uns – das ist ein wichtiger Punkt – das Missverhält- eine andere Kultur als eine Armee, die sich an den Zwe-
8984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Paul Schäfer (Köln)


(A) cken der Verteidigung orientiert. Es ist die Frage, was Eine Funktion des jährlichen Berichtes des Wehrbe- (C)
dann vom Staatsbürger in Uniform übrig bleibt; das ist auftragten ist die Herstellung von Aufmerksamkeit –
für den Wehrbeauftragten ein zentrales Thema. Aufmerksamkeit für den Zustand der Bundeswehr und
die Situation der Soldatinnen und Soldaten; denn die
Man kann aggressive Patches an der Uniform oder im Bundeswehr ist kein Staat im Staate, und sie soll es auch
Selbstdruck hergestellte T-Shirts als Randerscheinungen nie werden. Gleichzeitig haben wir eine besondere Ver-
abtun. Schwieriger wird es, wenn man in den Einsätzen antwortung für die Soldatinnen und Soldaten. Der
dazu kommt, gezielte Tötungen zumindest billigend in jüngste Versuch des Verteidigungsministers, diese not-
Kauf zu nehmen. Es wird ganz gefährlich, wenn sich wendige Aufmerksamkeit herzustellen, ging allerdings
– nicht zuletzt in Verbindung mit diesen Einsätzen – ein fehl. Es ist doch vollkommen klar: Mit einer Aktion wie
elitäres Korpsdenken und eine sich vertiefende Skepsis diesem Truppenbesuch mit Gattin und Talkmaster wird
gegenüber dem Parlamentarismus durchsetzen sollten. die Aufmerksamkeit von der schwierigen Situation in
Die Ergebnisse der im März 2010 veröffentlichten Afghanistan abgelenkt.
SOWI-Studie der Bundeswehr müssen uns in diesem
Zusammenhang zu denken geben. Das ist ein wichtiges (Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/
Thema, über das wir im nächsten Jahr dringend zu dis- CSU]: Oh, jetzt geht das schon wieder los! –
kutieren haben. Florian Hahn [CDU/CSU]: Schauen Sie sich
das heute Abend erst einmal an!)
2011 haben wir also nicht nur über Standortentschei-
dungen und Ausrüstungsvorhaben zu reden, sondern Im Vordergrund stehen schöne Bilder des Ehepaares zu
auch darüber, wie man die Innere Führung und damit ein Guttenberg. Im grellen Blitzlichtgewitter aber verblassen
gewisses Maß an Zivilität – darum geht es schließlich – Probleme, Sorgen und Nöte.
in den Streitkräften wiederbeleben bzw. stärken kann.
Folgende Themen stehen also an: Beteiligungsrechte der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Soldatinnen und Soldaten, strikte Ausrichtung der Streit- Das kann nicht im Sinne der Soldatinnen und Soldaten
kräfte an internationalem Recht und Gesetz sowie Fort- sein. Die Intention mag richtig gewesen sein, diese In-
führung der Bundeswehr als Ausbildungsarmee unter szenierung aber war unangemessen.
veränderten Bedingungen. Wenn man den Anteil der
Zeitsoldaten erhöhen will, muss man auch etwas tun, um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
sie besser auf die Zeit danach vorzubereiten. All das sind Florian Hahn [CDU/CSU]: Unangemessen ist
dringende Fragen, über die diskutiert werden muss. In die Reaktion der Opposition!)
diesem Zusammenhang ist das Amt des Wehrbeauftrag-
Gewisse Themen haben für eine bestimmte Zeit Kon-
ten von zentraler Bedeutung.
(B) junktur. Doch kaum rutschen diese Themen von den vor- (D)
Natürlich wünsche ich uns allen hier und auch allen, deren Seiten der Zeitungen, scheint auch der Handlungs-
die uns zusehen, frohe Weihnachten und wünsche, dass druck nachzulassen. Als dieser Bericht vorgestellt
die Soldatinnen und Soldaten gesund zurückkehren. Da- wurde, dominierten die Personalprobleme im Sanitäts-
bei gilt: Je früher, desto besser. dienst generell die Debatte. Die Personallücken dort ha-
ben gravierende Folgen.
Danke.
(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Vorschläge!)
(Beifall bei der LINKEN)
Es geht beim Sanitätsdienst auch um die psychologische
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und psychiatrische Betreuung der Bundeswehrangehöri-
Die Kollegin Agnes Malczak hat jetzt das Wort für gen.
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ein anderes Thema, das vor einiger Zeit Konjunktur
hatte, nun aber viel zu wenig Aufmerksamkeit genießt,
Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ist die steigende Zahl der Soldatinnen und Soldaten, die
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge- unter einer einsatzbedingten posttraumatischen Belas-
ehrter Herr Königshaus, ich möchte Ihnen genauso wie tungsstörung leiden. Ich freue mich, dass eigentlich alle
Ihrem Vorgänger, Reinhold Robbe, im Namen meiner Redner und Rednerinnen vor mir dieses wichtige Thema
Fraktion danken. Ich möchte aber auch den Mitarbeite- angesprochen haben. Die Soldatinnen und Soldaten, die
rinnen und Mitarbeitern danken, die die Vielzahl der davon betroffen sind, sind auf psychologisch gut ausge-
Eingaben bearbeiten und ihre Aufgabe engagiert erfül- bildetes Personal und eine qualifizierte psychotherapeu-
len. tische Behandlung angewiesen. Ich halte es für falsch
und gefährlich, dass das Verteidigungsministerium in
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) seiner Stellungnahme beschönigend so tut, als sei in die-
Der vorliegende Bericht des Wehrbeauftragten für das sem Bereich alles Nötige bereits getan.
Jahr 2009 nimmt die Situation der Soldatinnen und Sol- (Florian Hahn [CDU/CSU]: Das stimmt doch
daten und der Bundeswehr insgesamt in den Blick – gar nicht!)
sachlich, klar und differenziert. Das Parlament und die
Regierung sind aufgefordert, diesen Bericht nicht ein- Das ist Realitätsverweigerung. Die Maßnahmen, die das
fach nur zur Kenntnis zu nehmen; wir müssen ihn auch Verteidigungsministerium für den Sanitätsdienst bisher
als Aufforderung zum Handeln verstehen. ergriffen hat, greifen zu kurz oder wirken zu langsam.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8985
Agnes Malczak
(A) Entscheidend wird sein, was im Zuge der Bundeswehr- sche und militärische Führung. Das mag für Sie, liebe (C)
reform in Sachen Sanitätsdienst geschieht. Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, unbequem
und unangenehm sein, aber das müssen Sie aushalten.
Natürlich müssen die Bundeswehr und der Verteidi- Kritische Stellungnahmen und Fragen zu den Einsätzen
gungshaushalt insgesamt einen Beitrag zur Erreichung werden Sie sich von meiner Fraktion auch weiterhin ge-
der Sparziele leisten. Doch die Koalition schafft es der- fallen lassen müssen.
zeit nicht, im Zusammenhang mit der Bundeswehrre-
form ein Gesamtpaket zu schnüren, mit dem auch nur Vielen Dank.
geringe Einsparungen erreicht werden. Am Ende stehen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
wir wieder vor der Frage: Was kann sich die Bundes- Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]:
wehr noch leisten? Ich befürchte, dass es dann bei den Wir sind doch Kummer gewohnt!)
Fürsorgeleistungen Abstriche geben wird, statt diese zu
verbessern. Darum kann ich die Entscheidung für eine
Truppenstärke in einer Größenordnung von 185 000 Sol- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
datinnen und Soldaten nicht nachvollziehen. Masse auf Robert Hochbaum hat jetzt das Wort für die CDU/
Kosten von Qualität macht keinen Sinn. CSU-Fraktion.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU)

Ein Thema, das in der öffentlichen Debatte in diesem Robert Hochbaum (CDU/CSU):
Jahr nur an einer Stelle eine Rolle gespielt hat, ist die In- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
nere Führung. Thematisiert wurde sie nur im Zusam- Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter
menhang mit den Vorfällen in Mittenwald. Aufmerk- Königshaus! Ich möchte zunächst ganz kurz auf die
samkeit für die Innere Führung brauchen wir aber auch Rede von Frau Evers-Meyer eingehen, die davon ge-
jenseits der negativen Ereignisse und extremen Vorfälle. sprochen hat, dass im letzten Jahr im Bereich PTBS
Ihre Prinzipien binden die Bundeswehr an die Werte un- überhaupt nichts passiert sei. Ich weiß nicht, ob Ihnen
serer Gesellschaft, zuallererst an die Achtung der Men- entgangen ist, dass wir inzwischen ein PTBS-Trauma-
schenrechte. Das ist keine Einbahnstraße: Die Bundes- zentrum, einen PTBS-Beauftragten etc. haben. Die Liste
wehr muss nicht nur auf die Gesellschaft schauen, die könnte beliebig fortgesetzt werden. Ich möchte betonen,
Gesellschaft muss auch auf die Bundeswehr schauen. dass viel getan worden ist. Dafür danke ich unserem
Der Bericht des Wehrbeauftragten ist dafür nur ein In- Minister an dieser Stelle ausdrücklich.
strument, wenn auch ein sehr wichtiges. Die Tätigkeit (Beifall bei der CDU/CSU)
(B) des Wehrbeauftragten entbindet nicht von der Verpflich- (D)
tung zur weiteren und intensiven Auseinandersetzung Wir beraten heute den 51. Bericht des Wehrbeauftrag-
mit der Bundeswehr und der Inneren Führung. Der Be- ten, der von dem damaligen Wehrbeauftragen, Reinhold
richt wirft in diesem Zusammenhang bedenkenswerte Robbe, vorgelegt wurde. Wir haben inzwischen einen
Fragen auf, über die dringend diskutiert werden muss neuen Wehrbeauftragten. Interessant ist: Dessen aktuelle
und die nicht auf die lange Bank geschoben werden dür- Berichte sind dem Bericht, der dieser Debatte zugrunde
fen. liegt – zum Beispiel bezüglich der Ausrüstung in den
Einsätzen –, zumindest ähnlich.
Die Einsätze im Ausland sind in vielerlei Hinsicht
– auch im Hinblick auf die Innere Führung – eine beson- Aus diesem Grund möchte ich einen mir besonders
dere Herausforderung. Hier stellen sich ebenfalls Fra- wichtigen Punkt herausgreifen: die beschriebenen Män-
gen, die wir nicht ignorieren dürfen. Werden die Prinzi- gel an der Ausrüstung der Soldaten, ob im Einsatz oder
pien der Inneren Führung in der Einsatzsituation bei der Vorbereitung zu Hause. In diesem Zusammen-
umgesetzt? Was bedeuten zum Beispiel die multilatera- hang hat auch der neue Wehrbeauftragte, wie ich finde,
len Zusammenhänge in den Einsätzen für die Innere bereits auf nachhaltige Weise seiner Funktion, Anwalt
Führung? Dies sind einige Entwicklungen, die es zu be- der Soldaten zu sein, Ausdruck verliehen. Dafür möchte
gleiten gilt, auch weit über die Vorlage des Berichtes des ich an dieser Stelle dir, lieber Hellmut Königshaus, und
Wehrbeauftragten hinaus. deiner Mannschaft großen Dank sagen.

Lassen Sie mich abschließend noch auf einen letzten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Punkt zu sprechen kommen. Manche Zeitgenossen kriti- Zurück zu den aufgeführten Mängeln beim Material,
sieren gerne diejenigen, die Kritik üben. So manches von denen Soldaten mir und, wie ich weiß, auch anderen
Mal wurde beispielsweise gegen die Kritik an der Strate- meiner Kolleginnen und Kollegen vor Ort in Afghanis-
gie in Afghanistan die Behauptung ins Feld geführt, mit tan, aber auch in den Heimatstandorten immer wieder
Kritik würde die Solidarität mit den Soldatinnen und berichtet haben. Wir sollten dies nicht einfach beiseite-
Soldaten unterlaufen. Dabei ist es gerade für die Solda- wischen, sondern sehr genau zuhören und natürlich für
tinnen und Soldaten ungeheuer wichtig, dass kritisch ge- Abhilfe sorgen. Wenn es um geschützte Fahrzeuge, um
fragt wird, ob eine Strategie funktioniert oder nicht. Waffen, ja sogar – so lapidar das klingt – um Munition
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für unsere Einsatzkräfte geht, sollte bei allen die be-
rühmte rote Lampe aufleuchten. Bei aller Kritik weiß ich
Adressat solcher kritischen Fragen sind nicht die Sol- eines genau: Gerade diesen Hinweisen wird vonseiten
datinnen und Soldaten, sondern in erster Linie die politi- unseres Ministers sehr verantwortlich nachgegangen,
8986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Robert Hochbaum
(A) und das Abstellen tatsächlich erkannter Mängel wird un- unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, und halten (C)
verzüglich angeordnet. Sie für eine Minute inne!
Doch warum tauchen sie dann immer wieder auf? Herzlichen Dank.
Warum dauert ihre Behebung oft länger, als es für mich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
persönlich ertragbar ist? Beim näheren Beleuchten die-
ser Frage stößt man unweigerlich, über kurz oder lang,
auf ein leider weithin bekanntes Stichwort: die Bürokra- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
tie. Sie stellt schon ein Problem dar, wenn es um die Damit schließe ich die Aussprache.
Frage geht, wie schnell angesichts eines erkannten Man- Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Vertei-
gels eine Entscheidung über seine Behebung erfolgen digungsausschusses zum Jahresbericht 2009 des Wehr-
kann. Noch konkreter: Wie lange dauert es dann, bis der beauftragten auf den Drucksachen 17/900 und 17/3738.
Mangel behoben wird? Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung
Um es deutlicher zu sagen: Gerade beim Letztge- eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für die Be-
nannten kommt es mir oft so vor, als ob mancherorts Be- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
amte im Spiel sind, die nicht immer die Notwendigkeit, tungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung einstim-
vor allem aber nicht die Dringlichkeit von Beschaffun- mig angenommen.
gen und Maßnahmen für unsere Soldatinnen und Solda- Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
ten in den Einsätzen sehen. Hier darf es, wenn es darauf
ankommt, auch einmal keinen normalen Feierabend und Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
keine Regelstundenzahl in der Woche geben. Ich will es Ute Kumpf, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer
auf den Punkt bringen: Im und für den Einsatz hat Büro- Abgeordneter und der Fraktion der SPD
kratie nichts zu suchen. Engagementpolitik im Dialog mit der Bürger-
Ich darf die in genau dieselbe Kerbe treffenden Worte gesellschaft
des Ministers, die er bei der Kommandeurstagung der – Drucksache 17/3712 –
Bundeswehr in Dresden sagte, zitieren:
Hierzu ist vorgesehen, eine Dreiviertelstunde zu de-
Es gibt auch noch die andere Bundeswehr, ein Sys- battieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
tem bürokratischer Regelungswut, die Praxis des Dann ist das so beschlossen.
Absicherns und des Nach-oben-Schiebens – melden
soll angeblich frei machen. Wenn wir damit nicht Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Ute Kumpf das
(B) Schluss machen, dann werden wir scheitern! Wort. (D)
Richtig, Herr Minister. (Beifall bei der SPD)

Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang meine Ute Kumpf (SPD):


Hochachtung und meinen Dank aussprechen. Sie haben,
Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
neu im Amt, die Problematik, die schon seit langer Zeit
gen! Ich vermisse jemanden auf der Regierungsbank. Ich
bestanden hat, erkannt und bauen die Bundeswehr um.
weiß nicht, ob noch jemand aus dem zuständigen Hause
Ich weiß, dass es dabei nicht nur, was immer die Runde
kommt, um uns bei der Debatte zum bürgerschaftlichen
macht, um Kopfzahlen und Geld geht, sondern auch um
Engagement zu begleiten.
Effizienz, um Effizienz, die helfen wird, auch diese Pro-
bleme zumindest zu minimieren. Das tun Sie nicht für (Zuruf von der CDU/CSU: Wer soll noch kom-
uns – das weiß ich –, sondern für die Soldatinnen und men? – Iris Gleicke [SPD]: So sind sie! –
Soldaten im Einsatz. Dafür danke ich Ihnen und wün- Gerold Reichenbach [SPD]: So weit interes-
sche Ihnen tatkräftige Unterstützung aus diesem Haus siert die das Thema!)
und viel Erfolg auf diesem nicht ganz einfachen Weg.
Soweit dieses Feld die Ministerin interessiert, sollte sie
Sehr geehrte Damen und Herren, abschließend noch sich ein bisschen mehr reinknien.
einige Sätze zum Stichwort „Rückhalt in der Gesell-
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schaft“. In einer Woche feiern wir Weihnachten. Nichts
NEN]: Nicht mal ein Staatssekretär aus dem
ist schöner, als dieses Fest mit seiner Familie zu bege-
Hause ist da! – Manfred Grund [CDU/CSU]:
hen. Viele Soldatinnen und Soldaten können dies nicht
Die Bürgergesellschaft ist schon da! – Caren
tun, weil sie im Einsatz sind und für unsere Sicherheit
Marks [SPD]: Zumindest ein paar in diesem
Leib und Leben riskieren. Es liegt an uns, ihnen dabei
Raum wissen, wie man es richtig macht!)
Rückhalt zu geben. Aber das ist nicht nur unsere Auf-
gabe. Es ist auch die Aufgabe aller gesellschaftlichen In- Ich sehe auch nicht den zuständigen Staatssekretär. Aber
stitutionen und Organisationen. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind ja hier.
Ein sichtbares Zeichen des Beistandes wäre beispiels- Wir debattieren heute über ein sehr wichtiges Politik-
weise ein Innehalten und Gedenken an unsere Soldaten feld, das wir am 5. Dezember immer sehr hoch halten,
bei größeren Veranstaltungen. Gerade in diesen Tagen bei dem wir, wenn es zum Schwur kommt, in Bezug auf
würde ich mir dies von allen gesellschaftlichen Akteuren die Regierung aber auch Schwächen feststellen. Jeder
wünschen, denen ich zurufe: Seien Sie gedanklich bei von uns weiß, dass bürgerschaftliches Engagement für
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8987
Ute Kumpf
(A) eine vitale Demokratie und für den Zusammenhalt unse- Die Bundesregierung hat zu Beginn der Legislatur- (C)
rer Gesellschaft unabdingbar ist. Wer sich freiwillig en- periode angekündigt, das Vorhaben einer nationalen
gagiert, leistet in Eigenverantwortung und Eigeninitia- Engagementstrategie, das wir 2009 in der Großen Koali-
tive einen wesentlichen Beitrag für unsere Gesellschaft, tion gemeinsam geschultert haben, weiter zu verfolgen.
mit dem Vertrauen und Solidarität gestiftet wird. Als die nationale Engagementstrategie am 6. Oktober
beschlossen wurde, gab es große Überraschungen, Ent-
Bürgerschaftliches Engagement hat viele Gesichter. täuschungen und natürlich auch höfliche Bekundungen,
Das wissen Sie alle. Sie alle sind in den Wahlkreisen un- da man es sich mit dem zukünftigen Geldgeber natürlich
terwegs und kennen Ihren Teil von den 23 Millionen nicht verscherzen will; das wissen Sie ja, Herr Grübel.
Menschen, die sich in insgesamt 550 000 Vereinen,
17 000 Stiftungen sowie in Genossenschaften, Netzwer- Die beschlossene Engagementstrategie wurde aber
ken und Wohlfahrtsverbänden engagieren. Dieses Enga- durch die Haushaltsbeschlüsse konterkariert, die heftige
gement verdient unsere Anerkennung und Wertschät- Einschnitte bei Projekten vorsehen, die wir für wegwei-
zung und vor allem eine Politik, die die Förderung send halten, um Engagement überhaupt zu ermöglichen.
bürgerschaftlichen Engagements als Kernaufgabe ver- Es darf einen nicht wundern, dass kein Vertrauen wächst,
steht. wenn auf der einen Seite große Versprechungen gemacht
werden, die sich dann auf der anderen Seite aber nicht in
Bürgerschaftliches Engagement kann nicht verordnet finanzieller Unterstützung niederschlagen.
und darf nicht verzweckt und als Lückenbüßer miss-
braucht werden. Bürgerschaftliches Engagement ist Ich will einige Beispiele nennen. Mit Engagement als
nicht zum Nulltarif zu haben. Seit der Vorlage des Ab- Motor für Integration und Teilhabe will die Strategie den
schlussberichts der Enquete-Kommission „Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Diesen Satz
Bürgerschaftlichen Engagements“ waren diese Punkte unterschreiben wir alle. Aber was macht die Regierung?
über alle Fraktionen in diesem Hause hinweg immer Abrissbirne statt Abbau: Das Programm „Soziale Stadt“
Konsens. Darauf aufbauend haben wir seit über zehn soll nach dem Willen der Bundesregierung totgespart
Jahren Politik für die Engagierten entwickelt. Noch in werden. Zukünftig darf nur noch in Beton, aber nicht
der Großen Koalition wurde im Januar 2009 der Prozess mehr in Bürgerbeteiligung investiert werden.
für eine nationale Engagementstrategie angestoßen. Wir,
die SPD, waren und sind nach wie vor davon überzeugt, Zweites Beispiel. Mit Engagement für Bildung und
dass eine nationale Engagementstrategie nur im Dialog individuelle Förderung will die Engagementstrategie
und auf gleicher Augenhöhe mit der Bürgergesellschaft faire Chancen in unserer Gesellschaft schaffen. Doch
entwickelt werden kann. was geschieht konkret? Statt die Aussetzung der Wehr-
(B) pflicht für einen entschlossenen Ausbau der Jugendfrei- (D)
(Beifall bei der SPD – Parl. Staatssekretär willigendienste zu nutzen, errichtet die Bundesregierung
Dr. Hermann Kues nimmt auf der Regierungs- mit dem neuen Bundesfreiwilligendienst Doppelstruktu-
bank Platz) ren und schafft damit vor allem eine Verstaatlichung der
Freiwilligenarbeit.
– Jetzt ist das Ministerium endlich auch vertreten, wenn
auch nicht in Person der Ministerin, sondern eines ent- Auch die angekündigten lokalen Bildungsbündnisse
sprechenden Zuträgers. bleiben leere Versprechungen, wenn die föderale Zusam-
menarbeit nicht ernsthaft angegangen wird. Statt dass
(Zuruf von der SPD: Wir schenken der Bun- Bildungspäckchen geschnürt werden, fordern wir von
desregierung mal eine Uhr! – Markus Grübel der SPD, mehr Geld in Ganztagsschulen zu investieren
[CDU/CSU]: Der „Zuträger“ ist der Parlamen- und die Schule gemeinsam mit der Bürgergesellschaft zu
tarische Staatssekretär! So viel Zeit muss einer Bürgerschule zu entwickeln, in der Engagement
sein!) gelernt und auch erfahren wird.
Ich hoffe, er nimmt die Ergebnisse der Debatte auch mit.
Drittes Beispiel. Die Engagementstrategie wirbt für
Ich hätte mir eine Ministerin gewünscht, die sich für die-
die Bewahrung eines intakten Lebensumfeldes durch
ses wichtige Politikfeld – vor zwei Wochen hat sie noch
bürgerschaftliches Engagement: Auch das können wir
Preise für bürgerschaftliches Engagement verteilt – auch
unterstreichen. Dafür ist aber eine entsprechende Infra-
einmal nachmittags Zeit nimmt. Es wäre den Zeitauf-
struktur nötig, wie Freiwilligenagenturen, Seniorenbüros
wand von einer Stunde wert, sich einmal ein bisschen
und auch Selbsthilfegruppen, die vor Ort vermitteln,
mit dem vertraut zu machen, was wir in den letzten zehn
qualifizieren und unterstützen, sowie Netzwerke auf lo-
Jahren gemeinsam geleistet haben. Auch wenn wir hier
kaler und Bundesebene.
nur ein kleiner, aber sehr engagierter Kreis sind, hätten
wir die Aufmerksamkeit der Ministerin verdient. Doch auch hier wieder: Schall und Rauch. Der sowieso
schon kleine Haushaltstitel für Infrastruktur, Netzwerke
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie wird es
und Freiwilligenagenturen, der 2009 noch 2,3 Millionen
nachlesen im Protokoll!)
Euro umfasste, wird in 2011 auf 1,6 Millionen Euro
– Ich hoffe es. „eingedampft“. Die Bürgerstiftungen sollen hier als Aus-
fallbürgen einspringen, aber ich glaube, keiner von der
(Zuruf von der CDU/CSU: Wenn es sich Bundesregierung hat die Bürgerstiftungen je gefragt, ob
lohnt!) sie dazu bereit sind, diese Aufgabe zu übernehmen.
8988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Ute Kumpf
(A) Letztes Beispiel. Mit der nationalen Engagementstra- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
tegie soll Engagierten durch die Verbesserung der recht- Keiner weiß, was konkret Sie damit meinen!)
lichen Rahmenbedingungen geholfen werden. Auch
dazu können wir sagen: Ja, das wollen wir. – Bei der Nach den neuesten Ergebnissen des dritten Freiwilligen-
konkreten Ausgestaltung herrscht aber Fehlanzeige. surveys engagieren sich 71 Prozent unserer Bundesbürge-
rinnen und Bundesbürger über 14 Jahren ehrenamtlich.
Es fehlen Aussagen zum Zuwendungsrecht und zum Das sind sage und schreibe 23 Millionen Menschen.
Bürokratieabbau. Dabei ist das Feld schon bearbeitet
und beackert. Es gab eine Kommission im Bundeskanz- Ich freue mich über jeden Einzelnen, der dazu bei-
leramt, die Vorarbeiten geleistet hat, es gibt Vorarbeiten trägt, unsere Gesellschaft menschlicher zu machen, und
von der Arbeitsgruppe im „Nationalen Forum für Enga- der einen persönlichen Beitrag leistet, ohne viel Aufhe-
gement und Partizipation“, und es gibt Empfehlungen bens darum zu machen. Ich glaube, diese Hochachtung
noch und nöcher, die wir aufgrund unserer Erfahrungen müssen wir denjenigen zollen, die das Tag für Tag, Wo-
2008 bei dem Gemeinnützigkeits- und Stiftungsrecht che für Woche und Monat für Monat in diesem Land tun.
auch schon aufgegriffen haben, um praxistaugliche Lö- Sie tun das natürlich nicht nur in Nachbarschaftshilfen,
sungen zu finden. in Sportvereinen, bei den Kirchen, bei den Feuerwehren,
bei Rettungsdiensten, in Heimen und in Krankenhäu-
Wir sagen heute an dieser Stelle: Wir bieten unsere sern. Ich möchte mich auch einmal ganz herzlich bei
Mitarbeit dabei an, Ihre Engagementstrategie, die diesen denjenigen bedanken, die sich politisch ehrenamtlich en-
Namen bislang noch nicht verdient, weiterzuentwickeln gagieren. Auch das ist sehr wichtig für unsere Demokra-
und weiter auszubauen. Gehen Sie auf die Vorschläge tie.
ein, die jetzt bei der Onlinebefragung bei Ihnen einge-
gangen sind, und entwickeln Sie tatsächlich einen Dia- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
log mit der Bürgergesellschaft auf gleicher Augenhöhe, Damit diese Begeisterung nicht nachlässt, müssen
um eine Engagementstrategie auf den Weg zu bringen, förderliche Rahmenbedingungen durch eine zukunftsfä-
die diesen Namen wirklich verdient! Wir sind dazu be- hige Engagementpolitik geschaffen werden, und zwar
reit. für alle Altersklassen, für Menschen mit und für Men-
Zunächst einmal bitten wir aber um die Beantwortung schen ohne Migrationshintergrund, für Begabte, für
unserer Großen Anfrage, damit wir im Jahr 2011 weiter Benachteiligte, für Frauen und für Männer. Das gilt na-
mit Ihnen diskutieren – ich glaube, das wäre passend; türlich nicht nur für die älteren Mitbürgerinnen und Mit-
denn das Jahr 2011 wird das Europäische Jahr der Frei- bürger, nein, gerade auch die Jüngeren wollen sich aktiv
willigentätigkeit sein – und tatsächlich gemeinsam über einbringen. Wir haben zusätzlich zu den 35 Prozent der
(B) die Fraktionen hinweg weiter eine nachhaltige Engage- 14- bis 24-Jährigen, die sich bereits engagieren, weitere (D)
mentpolitik hier in diesem Hause betreiben können. 49 Prozent, die angeben, dass sie sich vorstellen können,
eine ehrenamtliche Tätigkeit zu übernehmen. Das heißt
Danke schön. für mich ganz deutlich, dass es nicht out ist, sich ehren-
amtlich zu engagieren, dass es nicht veraltet ist, sondern
(Beifall bei der SPD) dass ein ganz großes, tiefes Bedürfnis vorhanden ist. Wir
müssen auch die Rahmenbedingungen schaffen, damit
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: man nicht über diejenigen, die sich ehrenamtlich enga-
Jetzt hat die Kollegin Dorothee Bär für die CDU/ gieren, sagt: Bist du blöd, dich zu engagieren. – Viel-
CSU-Fraktion das Wort. mehr sollte man dies eigentlich über diejenigen sagen,
die das nicht tun.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Zahlen zeigen auch, dass junge Menschen keines-
wegs ichbezogen, lethargisch und desinteressiert sind,
Dorothee Bär (CDU/CSU): sondern sich sehr wohl engagieren wollen. Deswegen
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- haben wir gemeinsam mit der FDP das tolle Modul der
legen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Jugendfreiwilligendienste und des neuen Bundesfreiwil-
Herr Staatssekretär! Frau Kollegin Kumpf, bevor Sie ligendienstes entwickelt. Ich freue mich sehr, dass im
sich darüber beschweren, dass die Frau Ministerin nicht Anschluss meine Kollegen Markus Grübel und Dr. Peter
anwesend ist, um Ihrer großartigen Rede zu lauschen, Tauber dazu noch ausführlicher Stellung nehmen wer-
die, lassen Sie es mich gelinde sagen, nicht so großartig den.
war, sollten Sie lieber dankbar sein, dass die Ministerin
an großartigen Programmen arbeitet, durch die die Ar- (Gerold Reichenbach [SPD]: Wissen das Ihre
beitsbedingungen der Ehrenamtlichen in diesem Lande Kollegen von der FDP auch schon? – Weitere
verbessert werden. Zurufe von der SPD)

(Zurufe von der SPD: Ui!) – Es würde auch schon helfen, wenn man nicht nur kriti-
siert, dass jemand nicht da ist. Es nützt nämlich auch
Ohne bürgerschaftliches Engagement wäre unsere nichts, sich hier nur den Hintern platt zu sitzen, Frau
Gesellschaft ärmer – nicht nur im materiellen Sinne. Das Kumpf, die ganze Zeit zu schwätzen und nicht aufzupas-
hat unsere Fraktion gemeinsam mit unserem Koalitions- sen. Da ist mir jemand lieber, der außerhalb des Parla-
partner erkannt. ments arbeitet, statt dass jemand hier sitzt, der sich die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8989
Dorothee Bär
(A) ganze Zeit überhaupt nicht für die Debatte interessiert, Heidrun Dittrich (DIE LINKE): (C)
aber schreit: Wir interessieren uns dafür wahnsinnig. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die nationale Engagementstrategie gibt vor, die
(Widerspruch bei der SPD) Eigeninitiative der Bürger zu stärken. Aber welche Ini-
– Jetzt ist die SPD endlich auch aufgewacht. tiative ist gemeint? Viele Eltern, die Grundschulkinder
haben, kennen das aus eigener Erfahrung: Es wird not-
Exemplarisch für funktionierendes Engagement im wendig, ein Klassenzimmer zu streichen. Aber ach, die
kommunalen Bereich sind die Mehrgenerationenhäuser. Stadtverwaltung hat kein Geld für ihre Schule.
Die 500 Häuser, die wir haben, arbeiten in der Regel äu-
ßerst erfolgreich. Die Häuser sind offen für die Men- (Markus Grübel [CDU/CSU]: Dann sind sie
schen in Stadt, Gemeinde oder Landkreis. Das Konzept, rot-rot regiert!)
das von der damaligen zuständigen Ministerin Frau von Also streichen die Eltern das Klassenzimmer selbst. Bes-
der Leyen vorgestellt und umgesetzt wurde, sieht vor, ser wäre es, Sie streichen die Steuervergünstigungen bei
dass sich hier Menschen generationenübergreifend tref- den Reichen.
fen, dass es Hilfe zur Selbsthilfe und ein neues nachbar-
schaftliches Miteinander gibt. Die Mehrgenerationen- Stellen Sie lieber den arbeitslosen Maler ein, damit er
häuser werden zu über 60 Prozent von ehrenamtlich über guten Lohn am gesellschaftlichen Leben teilhaben
Engagierten getragen. Das heißt, über 16 000 Freiwillige kann und in die Sozialversicherungssysteme einzahlt!
unterstützen die Arbeit in diesen 500 Häusern. Das wäre aus meiner Sicht besser, als ihm über Freiwilli-
gen- oder Seniorenagenturen ein ehrenamtliches Enga-
Ich bin wahnsinnig froh, dass es uns als CDU/CSU- gement zu vermitteln.
Bundestagsfraktion in vielen Gesprächen gelungen ist,
dieses Erfolgsprojekt in die Zukunft zu tragen, darüber, Wenn die Eltern selbst streichen, übernehmen sie
dass wir es nicht nur im Koalitionsvertrag verankert ha- Aufgaben des Staates, für die eigentlich er zahlen sollte.
ben, sondern wir nach einem Jahr der vielen Gespräche Ich frage mich: Wozu zahlen wir Steuern? Was macht
und Diskussionen sagen können: Dieses Erfolgsprojekt die Bundesregierung mit unseren Steuern? Das Klassen-
wird in die Zukunft getragen. zimmer wird jedenfalls nicht renoviert. Die Steuerein-
nahmen werden stattdessen dafür verwendet, die Steuer-
Ich freue mich, dass wir ein neues Programm mit vier belastung einer großen Hotelkette zu senken. Dafür ist
neuen Schwerpunktthemen haben. Eines davon ist für sogar in der Wirtschafts- und Finanzkrise Geld da.
unsere Gesellschaft sehr wichtig, nämlich Alter und Nehmen wir die 480 Milliarden Euro, die allein in der
Pflege; hinzu kommen die Themen Integration und Bil- Bundesrepublik Deutschland für die Rettung der Banken
(B) dung, haushaltsnahe Dienstleistungen und freiwilliges bereitgehalten werden. Kein Wunder, dass dem Staat das (D)
Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Der Förder- Geld fehlt, um die Schulen zu sanieren.
zeitraum soll drei Jahre betragen, die Fördersumme wie
bislang 40 000 Euro im Jahr. In Zukunft sollen sich aber (Beifall bei der LINKEN)
auch die Kommunen daran beteiligen, wobei es ihnen
freigestellt sein wird, ob sie dies durch Geld- oder durch Nicht Deutschland schafft sich ab, wie ein SPD-Mitglied
Sachleistungen oder aber durch das Zurverfügungstellen kürzlich äußerte, sondern der Sozialstaat wird abge-
von Personal tun. Insofern betone ich noch einmal, dass schafft.
dies nicht nur ein Erfolg für uns ist, sondern ein großer Noch steht in Art. 20 unseres Grundgesetzes, dass wir
Erfolg für jeden Einzelnen in diesem Lande, für diejeni- ein sozialer Bundesstaat sind. Der hauptsächliche Inhalt
gen, die sich engagieren, aber auch für diejenigen, für des staatlichen Handelns sollte nicht die Umverteilung
die dieses Engagement angeboten wird. Es ist also ein zu Unternehmen und Banken sein, sondern die Bereit-
ganz großartiges Zeichen für gelungene Engagement- stellung von Schulen und Kindertagesstätten und die
politik. Vorsorge bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Aber ge-
rade dafür geht das Geld aus.
Ein Letztes, meine lieben Kolleginnen und Kollegen:
Ich bedanke mich bei denjenigen, die am Heiligen An dieser Stelle bietet die nationale Engagementstra-
Abend, am 24. Dezember, Freiwilliges leisten. Ich richte tegie eine unternehmerfreundliche Lösung. Damit wir
dieses Dankeschön stellvertretend für alle an die Caritas- uns richtig verstehen: Ich bin nicht dagegen, eine Stif-
Station in Haßfurt, die an diesem Tag für alle Alleinste- tung für krebskranke Kinder ins Leben zu rufen – aber
henden ein Weihnachtsfest veranstaltet, damit sie an die- nicht zur Ergänzung sozialstaatlicher Aufgaben.
sem Tag nicht allein sein müssen.
Es wurde immer behauptet, der Sozialstaat sei nicht
Vielen herzlichen Dank. mehr bezahlbar. Erst wurde er arm gemacht, und jetzt
wird er abgeschafft.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Un-
glaublich!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Heidrun Dittrich hat das Wort für die Fraktion Die Beim bürgerschaftlichen Engagement sind die ganz
Linke. Großen aber dabei. Die Deutsche Bank und die
Bertelsmann AG sind bereit, mit Stiftungsmitteln staat-
(Beifall bei der LINKEN) liche Aufgaben privat zu finanzieren. Was geschieht ei-
8990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Heidrun Dittrich
(A) gentlich beim Einsatz von Stiftungsmitteln? Die Stiftun- Nehmen Sie die Menschen ernst, die in Gorleben und (C)
gen erhalten einen Teil des eingesetzten Geldes vom Lubmin gegen den Castortransport demonstrieren!
Staat, also vom Steuerzahler, zurück. Gleichzeitig wird
kostenlos Werbung gemacht. Außerdem wählen sie aus, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
wo ihr Geld eingesetzt wird. Jetzt wird es völlig unde- In Stuttgart haben sich Tausende für ihre Interessen ein-
mokratisch: Diese Gelder fließen an den demokratischen gesetzt. Das wurde mit einem Wasserwerfer beantwortet.
Institutionen unseres Staates vorbei. Wir bestimmen Gehen Sie morgen um 9 Uhr zum Bundesrat! Dort wol-
nicht mehr durch Wahlen, Wahlprogramme oder das Par- len die Menschen gegen die ungerechte Hartz-IV-Ge-
lament, wo die Kinder gleichmäßig zu fördern sind. Wir setzgebung demonstrieren. Denn die Bürgerinnen und
bestimmen nicht mehr, wie in den Kitas Gruppen ver- Bürger wollen nicht Niedriglohnland Nummer eins sein.
kleinert und mehr Erzieherinnen eingestellt werden kön- Beenden Sie endlich die soziale Kälte in unserem Land!
nen.
(Beifall bei der LINKEN)
(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Das muss
doch das Land bestimmen! Das ist doch gar Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
nicht unsere Kompetenz!) Florian Bernschneider hat jetzt für die FDP-Fraktion
Nur einzelne Projekte werden befristet gefördert. Die das Wort.
eine Stadt hat Glück; die andere geht leer aus. Auch das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
widerspricht dem Grundsatz, gleiche Lebensbedingun- der CDU/CSU)
gen für alle herzustellen. Wer kennt sie nicht, die Spon-
sorenläufe in der Schule oder die Drittmitteleinwerbung,
damit noch Bundeszuschüsse an Mehrgenerationenhäu- Florian Bernschneider (FDP):
ser gewährt werden können? Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Dittrich, ich bin immer wieder erschro-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: cken, wie man so etwas überhaupt sagen kann. Sie müs-
Reden Sie eigentlich noch über bürgerschaftli- sen sich doch einmal vorstellen, was Sie den Menschen,
ches Engagement?) die sich in diesem Land ehrenamtlich engagieren, mit
solchen Äußerungen zumuten. Wie kann es denn sein,
Ihre Bürgergesellschaft ist das Gegenmodell zum So- dass wir über bürgerschaftliches Engagement sprechen
zialstaat. und Ihr zweiter Satz sich mit dem Mindestlohn beschäf-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tigt?
(B) Jetzt kommt sie langsam zum Thema!) (Heidrun Dittrich [DIE LINKE]: Das ist genau (D)
richtig!)
Sie ist der privatisierte Staat. Vorsorgeeinrichtungen wie
private Krankenhäuser sollen Profit bringen. Bildung Von dieser ewigen Platte, die wir auch aus dem Aus-
soll Geld kosten. Krankheit soll Geld kosten. schuss kennen, sollten Sie sich irgendwann trennen; es
wird nicht dadurch besser, dass Sie es ständig wiederho-
Es ist demokratischer, wenn die großen Unternehmen len.
höher besteuert werden und die Steuerhinterziehung be-
endet wird. Dann können soziale Leistungen dauerhaft (Beifall bei der FDP)
bezahlt werden. Nur so stellen Sie den Sozialstaat wie-
Aber, liebe Frau Kumpf, ich verstehe auch, ehrlich
der her.
gesagt, gar nicht, warum wir heute über diese Große An-
Was aber ist in diesem Land Realität? Freiwillige des frage diskutieren, wenn zu ihr noch keine Antworten
neuen Bundesfreiwilligendienstes werden als Pflege- vorliegen. Sie haben vorhin angemahnt, dass Ihnen an
dienstleistende mit Taschengeld oder gleich als Ehren- einem Dialog mit der Bundesregierung liegt. Dann muss
amtliche eingesetzt. Deutschland ist weltweit der Lohn- man eben auch abwarten, bis die Antworten auf die Fra-
drücker Nummer eins geworden, wie die Internationale gen vorliegen, die man stellt, weil der Dialog ansonsten
Arbeitsorganisation in Genf feststellt. Das stempelt schwierig ist.
Deutschland zum Hauptschuldigen der Krise in Europa. (Zuruf der Abg. Ute Kumpf [SPD])
(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das glauben – Wenn man die Antworten aber nicht abwartet, dann ist
Sie doch selber nicht! Wer hat Ihnen denn das es schwierig, darüber zu diskutieren. Es mag auch an
aufgeschrieben?) meiner geringen Erfahrung als junger Abgeordneter lie-
Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie die Menschen ernst gen; aber ich glaube, es ist nicht gewöhnlich, dass man
in ihrem Engagement, statt das Ehrenamt zu benutzen, über eine Große Anfrage diskutiert, bevor die Antwort
um in der Pflege Lücken zu schließen! Frau Bär hat sich vorliegt.
schon dafür bedankt, aber sie meint es bestimmt anders (Caren Marks [SPD]: Das ist sehr gewöhnlich! –
als ich. Nehmen Sie die Menschen ernst, die gegen Ute Kumpf [SPD]: Das ist das normale parla-
Stuttgart 21 sind! mentarische Recht!)
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Die Mehrheit – Das scheint jetzt in Ihrer Oppositionsarbeit gewöhnlich
hat sich nach der Umfrage geändert!) zu werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8991
Florian Bernschneider
(A) Frau Kumpf, ich werde das Gefühl nicht los, dass Aber im Unterschied dazu sorgen wir dafür, dass die (C)
diese Anfrage auch deswegen debattiert wird, damit die Freiwilligen, die im Einsatz sind, auch tatsächlich die
SPD in diesem Jahr noch einmal unter dem Stichwort gleichen Rahmenbedingungen bekommen, ob es nun
„bürgerschaftliches Engagement und Engagementpoli- beim Gehalt, beim Taschengeld, bei den Urlaubstagen
tik“ stattfindet; oder beim pädagogischen Begleitprogramm ist.
(Caren Marks [SPD]: Das haben wir gar nicht Sie fordern hier von uns schlüssige Konzepte, die wir
nötig!) angeblich nicht haben. Konkret beim Punkt Freiwilli-
gendienste appelliere ich noch einmal an die SPD, sich
denn es scheint Sie zu ärgern, dass wir hier mit großen selber einmal Gedanken über Konzepte zu machen.
Schritten vorankommen. Deswegen zählen Sie ja auch
die engagementpolitischen Erfolge der SPD in den letz- (Ute Kumpf [SPD]: Wir haben diese Freiwilli-
ten Jahrzehnten in dieser Großen Anfrage noch einmal gendienste ausgebaut!)
auf. Einerseits halte ich das für albern, andererseits kann
– Jetzt hören Sie doch einmal zu, Frau Kumpf! – Ihre
ich Ihnen aber auch ehrlich sagen, dass ich es durchaus
stellvertretende Vorsitzende, die Sozial- und Gesund-
akzeptiere und die Erfolge sozialdemokratischer Enga-
heitsministerin in Mecklenburg-Vorpommern, Manuela
gementpolitik anerkenne. Ich glaube nur, dass es an die-
Schwesig, forderte in einer Pressemitteilung vom 19. No-
ser Stelle wenig bringt, sich in der Vergangenheit zu suh-
vember:
len. Vielmehr sollten wir gemeinsam schauen, wo die
Herausforderungen der Zukunft liegen. Wir wollen stattdessen
(Beifall bei der FDP – Ute Kumpf [SPD]: Der – also statt unseres Modells –
Finanzminister hat sich doch davor gedrückt!
Herr Schäuble!) einen Bundesfreiwilligendienst auf Bundesebene.

Wir legen ja Modelle für die Zukunft vor. Das, was Hört her, so schlecht kann das also gar nicht sein, was
die Bundesregierung hier plant, nämlich den Ausstieg wir da vorlegen. Am letzten Wochenende beschließt
aus Zwangsdiensten hin zu Freiwilligkeit, ist ein histori- dann das SPD-Präsidium einen schwammigen Be-
scher Wandel in der Engagementpolitik. Dann muss man schluss, in dem die Rede davon ist, dass Sie das Freiwil-
sich aber auch entsprechend einbringen. Es werden lige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr
70 000 Freiwilligendienstplätze geschaffen – das ist der ausbauen wollen; denn Sie stellen in diesem Beschluss
größte Zuwachs, der in diesem Bereich jemals gesche- zu Recht fest, dass „die Jugendfreiwilligendienste, das
hen ist –, und mit einer pauschalen Förderung in Höhe freiwillige soziale, ökologische und demokratische Jahr,
die in den vergangenen Jahren großen Zuspruch erfuh-
(B) von 200 Euro in allen Diensten machen wir endlich mit ren, erfolgreich und langjährig erprobt sind“. Das sind (D)
den Unübersichtlichkeiten in den Förderstrukturen
Schluss. Ein weiterer Punkt, den Sie ansprechen, ist das die Dienste, die Sie ja eigentlich, wie es Ihre Sozialmi-
Freiwilligendienststatusgesetz. Natürlich müssen wir da- nisterin sagt, abschaffen wollen. Sie wollen alles auf
rüber sprechen; aber Sie müssen auch anerkennen, dass Bundesebene verlagern. Ihr Parteivorsitzender Sigmar
das Konzept, das wir hier vorlegen, ein guter Schritt zur Gabriel sagt danach in einem Interview, dass die Organi-
Übersichtlichkeit bei den Freiwilligendiensten ist. sation für das FSJ aber zukünftig beim BAZ liegen solle
– das verstehe ich auch nicht richtig –, und der Kollege
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten von Frau Schwesig, Herr Nieszery aus Mecklenburg-
der CDU/CSU) Vorpommern, hat mir bei der NDR-Info-Redezeit emp-
fohlen, wir sollten einmal darüber nachdenken, ob wir
Wir schaffen es mit dem Bundesfreiwilligendienst, nicht einen sozialen Pflichtdienst für alle wollen. In
endlich eine langfristige Perspektive auch für den Ein- puncto Freiwilligendienste ist bei der SPD also für jeden
satz Älterer in den Freiwilligendiensten aufzuzeigen, etwas dabei, außer einem einheitlichen Konzept. Da Sie
und wir fördern gerade diejenigen, die in den Freiwilli- uns immer Doppelstrukturen vorwerfen, kann ich Ihnen
gendiensten bisher zu kurz kommen, nämlich junge nur empfehlen, Ihre eigenen Doppelstrukturen in der Be-
Menschen mit besonderem pädagogischen Förderbedarf. schlusslage zu untersuchen und sich bis dahin konstruk-
(Ute Kumpf [SPD]: Sie sind nicht auf der tiv an der Debatte zu beteiligen.
Höhe der Zeit, Herr Bernschneider! Aber ich Vielen Dank.
frage Sie nicht!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Anstatt sich jetzt konstruktiv zum Beispiel in diese Dis-
kussion einzubringen, Frau Kumpf, kritisieren Sie hier
Doppelstrukturen, die wir mit diesem Bundesfreiwilli- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
gendienst und der Stärkung der Freiwilligendienste an- Britta Haßelmann hat jetzt das Wort für Bündnis 90/
geblich schaffen. Die Grünen.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Tatsächlich, nicht angeblich!)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
– Hören Sie doch einfach einmal zu! – Ja, meine Damen Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär Kues, ich
und Herren, es sind zwei Dienste, wie es früher übrigens habe das Gefühl, dass wir in dieser Debatte – das haben
auch war: der Zivildienst und die Freiwilligendienste. einige der Redebeiträge gezeigt – schon einmal sehr viel
8992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Britta Haßelmann
(A) weiter waren; das finde ich bedauerlich. Das Thema bür- chen Engagements von 2 Millionen Euro um 400 000 (C)
gerschaftliches Engagement wurde einst – ich bin seit Euro bzw. 20 Prozent gekürzt. Sie wollten doch ein paar
2005 Mitglied des Deutschen Bundestages; das sage ich Fakten hören. Das sind die Fakten. Sagen Sie angesichts
in Ihre Richtung, Herr Bernschneider und Frau Bär – dessen also nicht, wie toll Sie von Schwarz-Gelb das
von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag getragen. bürgerschaftliche Engagement fördern!
Es gab hier sehr viele Überschneidungspunkte. Man hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
versucht, konstruktiv zusammenzuarbeiten und die posi- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
tiven Elemente hervorzuheben, und hat ernsthaft über LINKEN)
die Frage diskutiert, welchen Beitrag der Deutsche Bun-
destag neben den Ländern, den Kommunen sowie den Ich nenne Ihnen gerne weitere Fakten. Sie haben in
vielen Initiativen, Verbänden und Institutionen zur För- der letzten Legislaturperiode in der Großen Koalition,
derung des bürgerschaftlichen Engagements leisten unterstützt durch uns Grüne, vereinbart, auch Menschen,
kann. die im Arbeitslosengeld-II-Bezug sind, eine Aufwands-
pauschale als Anerkennung zukommen zu lassen, die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht auf den ALG-II-Satz, also auf das Geld, das man
und bei der SPD) nach dem SGB II bekommt, angerechnet wird.
Wir alle haben sehr ernsthaft darum gerungen. Alle diese Vereinbarungen, die Sie, CDU/CSU und
SPD, damals gemeinsam vorgeschlagen haben, wurden
Bevor ich Mitglied des Deutschen Bundestages
jetzt in den Haushaltsplanberatungen sang- und klanglos
wurde, gab es eine Enquete-Kommission – das war der
unter dem Stichwort SGB II einkassiert und nicht weiter
Ausgangspunkt –, in der alle Fraktionen festgestellt ha-
berücksichtigt. Als ich die Kollegen von der CDU/CSU
ben, dass es notwendig ist, dass sich der Deutsche Bun- darauf ansprach, wussten sie das nicht einmal. So sieht
destag in der Verantwortung sieht, das bürgerschaftliche Förderung des bürgerschaftlichen Engagements bei Ih-
Engagement von Menschen in diesem Land zu fördern. nen anscheinend aus.
Engagement trägt zu einer lebendigen Zivilgesellschaft
bei. Vor diesem Hintergrund erscheinen mir manche Re- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
debeiträge heute wirklich profan. Es tut mir leid, aber es bei der SPD und der LINKEN)
geht hier nicht darum, kleinteilig aufzulisten, wer was Ich finde, wir tun dem Thema keinen Gefallen – des-
gemacht hat. Von diesem Debattenniveau sollten wir uns halb bin ich auch so ruhig gestartet –, wenn wir uns strei-
verabschieden. Sonst macht ein gemeinsamer Unteraus- ten; denn eigentlich stellt sich in Zeiten einer öffentli-
schuss zum bürgerschaftlichen Engagement, in dem bis- chen Debatte über Stuttgart 21, eines Volksentscheids in
lang interfraktionell intensiv gearbeitet wurde, über- Hamburg oder von Diskussionen in vielen Städten und
(B) haupt keinen Sinn. Ich muss an dieser Stelle deutlich Kommunen über Teilhabe, Partizipation und Bürger- (D)
sagen: Ich bin genervt von solchen Redebeiträgen wie haushalte doch für uns alle im Deutschen Bundestag eine
denen von der FDP und der CDU/CSU. Damit tun wir ganz zentrale Frage: Wie können wir diejenigen einbe-
uns allen und dem Thema keinen Gefallen. ziehen, die sich beteiligen wollen, die teilhaben wollen,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die vielleicht nicht Mitglied einer Partei, eines Gemein-
derates oder einer Fraktion sein wollen, die sich aber um
bei der SPD und der LINKEN)
ihr Gemeinwesen Gedanken machen und Verantwortung
Wir können in der Sache darüber streiten, ob die eine übernehmen wollen?
oder andere Idee richtig oder falsch ist. (Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/
(Florian Bernschneider [FDP]: Sagen Sie uns DIE GRÜNEN])
doch einmal ein Beispiel!) Wie können wir deren Arbeit anerkennen? Wie können
– In der Sache kann ich Ihnen gerne ein paar Beispiele wir diese Arbeit fördern und absichern, indem wir zum
nennen. Beispiel Freiwilligenagenturen oder andere Anlaufstel-
len in der Infrastruktur absichern? Über solche Fragen
Sie haben im Koalitionsvertrag vereinbart, sich drei haben wir zu diskutieren.
Themen auf diesem Feld zu widmen. Das Erste ist ein
Gesetz zur Förderung des bürgerschaftlichen Engage- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
ments. – Nichts! Ein solches Gesetz gibt es bisher nicht. bei der SPD und der LINKEN)
Das Zweite ist: Sie wollten geeignete Rahmenbedingun- Wir reden hier nicht über Klein-Klein, wie Sie es ge-
gen für eine nachhaltige Infrastruktur und Stabilisierung tan haben, Frau Bär, indem Sie gesagt haben, wie toll die
von Engagement und Partizipation schaffen. – Nichts! Ministerin ist.
Fehlanzeige! Der gesamte Prozess zur Infrastrukturför-
derung ist regelrecht eingestampft. Darüber wird mit den (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Wie lange dauern
Ländern und Kommunen nicht mehr diskutiert. Das Ihre fünf Minuten eigentlich?)
Dritte ist: Sie wollten einen Entwurf des Freiwilligen- Verdammt noch mal, diese Luftblasen, die in der natio-
dienstestatusgesetzes vorlegen. – Auch hier Fehlan- nalen Engagementstrategie aufgeschrieben sind, sind es
zeige! Niemand weiß, ob dieses Gesetz noch kommt. doch nicht wert, dass wir uns in der Tiefe lange damit
Das sind die Fakten; die wollten Sie doch hören. beschäftigen.
Ein weiterer Punkt. Im Haushaltsjahr 2011 wird der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Haushaltstitel 68472 zur Förderung des bürgerschaftli- bei der SPD und der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8993

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Ute Kumpf [SPD]: Was sagen Sie zum Zu- (C)
Markus Grübel hat das Wort für die CDU/CSU-Frak- wendungsrecht?)
tion.
Die nationale Engagementstrategie ist aber nicht, ein-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – mal vom Kabinett am 6. Oktober beschlossen, zur allge-
Dorothee Bär [CDU/CSU]: Dann bekommt meinen und ständigen Verehrung freigegeben, sondern
Herr Grübel auch mehr Zeit!) es ist eine Strategie, die lebt und weiterentwickelt wer-
den wird. Wir haben gerade den Internetbeteiligungspro-
Markus Grübel (CDU/CSU): zess. Jede und jeder in Deutschland kann sich an dieser
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Strategie beteiligen. Unter engagementzweinull.de kann
Kollegen! Trotz der schrillen Töne: Deutschland ist ein noch bis morgen Abend, 17. Dezember, jeder Anmer-
wunderbares Land, kungen, Ergänzungen und Vorschläge machen sowie
Kritik an dieser Strategie äußern. Nach Vorliegen der Er-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gebnisse werden wir uns im Unterausschuss „Bürger-
nicht wegen seiner wunderschönen Weihnachtsmärkte schaftliches Engagement“ wieder mit der nationalen En-
und der Schneelandschaft, sondern weil es einen wert- gagementstrategie befassen und diese weiterentwickeln.
vollen Schatz hat, nämlich das hohe bürgerschaftliche Lassen Sie mich auf eine zweite Kritik eingehen, die
Engagement der Menschen. Über 23 Millionen Men- hier genannt wurde. Sie betrifft den neuen Bundesfrei-
schen engagieren sich ehrenamtlich. Sie sagen: Das ist willigendienst. Schauen wir uns einmal die Zahlen an:
mein Land, darum engagiere ich mich. Das ist meine Der Bund wird künftig die Freiwilligendienste mit
Stadt, darum engagiere ich mich. Das ist mein Verein, 350 Millionen Euro fördern.
das ist meine Schule, das ist mein Anliegen, das ist mein
Ideal, das sind meine Werte, darum engagiere ich mich. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wo bleiben die anderen 250 Millionen aus
Die Menschen fördern freiwillig das Gemeinwohl.
dem Zivildienstetat?)
Sie spenden Zeit, sie spenden Geld, und sie stiften ihr
Vermögen über die Pflichtabgaben, die der Staat ver- Die Länder geben etwas mehr als 12 Millionen Euro,
langt, hinaus. Das ist das Besondere an Deutschland, und und 8 Millionen Euro kommen aus dem Europäischen
dafür darf ich hoffentlich für uns alle ganz herzlich Sozialfonds. Schon ein oberflächlicher Blick auf die
Danke sagen. Zahlen macht deutlich, dass das Geld schwerpunktmäßig
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vom Bund kommt, weshalb die Forderung der SPD, die-
ser Dienst solle in Verantwortung der Länder durchge-
(B) Auf zwei Punkte aus der Großen Anfrage und aus den führt werden, an unserer Verfassung vorbeigeht. Sie alle (D)
Beiträgen der Oppositionsredner möchte ich besonders haben in Ihren Schubladen das Grundgesetz der Bundes-
eingehen. Der erste Punkt ist die nationale Engagement- republik Deutschland. Darin ist eindeutig geregelt: Die
strategie. Eine solche Strategie gab es bisher noch nicht; Finanzierungskompetenz folgt der Verwaltungskompe-
jetzt gibt es sie. In der Strategie werden Grundsätze ge- tenz.
nannt, Prinzipien und Ziele formuliert und konkrete
Maßnahmen aufgeführt. Die nationale Engagementstra-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
tegie hat fünf inhaltliche Schwerpunkte von hoher ge-
sellschaftlicher Relevanz: Integration, Bildung, Bewah- Herr Grübel, möchten Sie eine Frage des Kollegen
rung der Schöpfung, demografischer Wandel und Gehring zulassen?
internationale Zusammenarbeit. Diese fünf Punkte – wir
hören es in fast jeder Rede hier im Bundestag – bilden Markus Grübel (CDU/CSU):
die großen Herausforderungen der nächsten Jahre. Die Ja, gern.
Ziele sind eine Verbesserung der Zusammenarbeit von
Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft bei der Engage-
mentförderung, um die Schwerpunkte, die ich genannt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
habe, besser zu befördern, ein besseres Miteinander der Bitte schön.
Bundesministerien, um Synergien zu fördern – kein Ne-
beneinander bei der Engagementpolitik, sondern ein Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Miteinander –, eine bessere Koordinierung zwischen
Sie starten gerade mit dem Selbstlob, dass Sie aus
Bund, Ländern und Gemeinden, die Einbeziehung von
dem Zivildiensthaushalt 300 bis 350 Millionen Euro für
Stiftungen und die Anerkennung und Wertschätzung der
den Bundesfreiwilligendienst aufwenden. Jetzt ist es
Freiwilligen. All dies steht in der nationalen Engage-
aber so, dass im Zivildienstetat knapp 600 Millionen
mentstrategie, und all dies ist gut. Die Strategie ist ein
Euro sind. Was tun Sie überhaupt im Sinne von Zivil-
richtiger Schritt in die richtige Richtung.
dienstkonversion? Was wird getan, um den Pflegenot-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: stand zu beheben? Wo sind die Konzepte, die Angebote,
Ein Sammelsurium an Luftblasen!) die konkreten Strukturen und die Vorgaben, die man den
Sozial- und Pflegeeinrichtungen machen kann?
Ihre Kritik, Frau Kumpf, ist für mich Oppositionsritual
an der Arbeit der Regierung. Ich glaube, wir sollten uns (Klaus Riegert [CDU/CSU]: Die Frage spricht
daran nicht so lange aufhalten. ja für sich selber!)
8994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Kai Gehring
(A) Das fehlt definitiv. Dabei ist allen klar – selbst die Die Kritik, die Sie geäußert haben, halte ich für völlig (C)
Ministerin formuliert das so –, dass die jetzigen Zivis unangebracht. Wir können feststellen: Es sind 70 000
nicht allein durch Bundesfreiwilligendienstleistende er- Freiwilligendienststellen. Es gab noch nie so viele geför-
setzt werden können. Die spannende Frage ist: Was ist derte Freiwilligendienststellen in Deutschland. Es wurde
eigentlich mit den 200 bis 250 Millionen Euro, die bis- noch nie so viel Geld eingesetzt, um Freiwilligendienste
her nicht verplant sind? in Deutschland zu fördern.
(Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär: Das (Florian Bernschneider [FDP]: Richtig!)
weiß man doch!) Das ist ein gutes Ergebnis der Arbeit der christlich-libe-
Sollen die zum Stopfen von Haushaltslöchern benutzt ralen Koalition. Damit können wir uns durchaus sehen
werden, oder was machen Sie damit? lassen.
„Tu was für Dein Land! – Tu was für Dich!“, unter
Markus Grübel (CDU/CSU): diesem oder einem ähnlichen Motto gibt es künftig ein
Herr Gehring, es sind rund 2 Millionen Menschen in breites Angebot an Freiwilligendiensten, ein Angebot, so
Deutschland im Bereich der Pflege beschäftigt. breit und vielfältig wie unsere Gesellschaft: in den Be-
reichen Soziales, Ökologie, Kultur, Sport, Integration,
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zivil- und Katastrophenschutz. Auch in Verantwortung
Zu wenig!) des Verteidigungsministers gibt es einen freiwilligen
Wehrdienst.
Wir hatten im letzten Jahr 92 000 Zivildienstleistende.
Sie haben einen wertvollen und wichtigen Beitrag ge- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
leistet. Nicht umsonst ist der Begriff „Zivi“ für unsere Was ist mit dem Gemeinnützigkeitsrecht, dem
Zivildienstleistenden zu einem Markenbegriff geworden. Vereinsrecht usw.? Das ist doch keine Strate-
Die Pflege wird auch ohne die Zivildienstleistenden gie!)
funktionieren müssen. Wir haben den Zivildienst ja so Ob Pflegekittel oder Flecktarn, ob Feuerwehrhelm oder
organisiert, dass es nicht zwingend notwendige Arbeiten Sportdress – künftig ist vieles freiwillig möglich. Die
sind, die die Zivildienstleistenden ausführen, sondern er- Felder für die Freiwilligendienste werden deutlich brei-
gänzende Tätigkeiten. ter. Ich glaube, das ist eine gute Bilanz. Wir haben ein
gutes Ergebnis erzielt. Das ist ein deutlicher Fortschritt
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
für das Engagement in Deutschland.
Und wo bleiben die 250 Millionen Euro?)
(B) Wir werden die Debatte im Frühjahr noch einmal füh- (D)
Wir nutzen jetzt einen Teil des Geldes für den Pflicht- ren, wenn die Antwort der Bundesregierung vorliegt. Ich
dienst, und zwar einen großen Teil, um die Freiwilligen- freue mich auf dieses Gespräch, das wir hier im Plenum,
dienste in Deutschland zu stärken. im zuständigen Fachausschuss, dem Familienausschuss,
(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Die Grünen woll- und im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engage-
ten den Zivildienst schon vor 20 Jahren ab- ment“ führen werden. Ich denke, es wird gute Antworten
schaffen!) auf die Fragen geben, die die SPD-Fraktion in der Gro-
ßen Anfrage gestellt hat.
Wenn es früher über 700 Millionen Euro waren, ist na-
Herzlichen Dank.
türlich die Frage berechtigt: Was ist mit dem Geld? Wir
haben schon einen Teil wegen der Verkürzung des Zivil- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dienstes eingespart. Es ist für eine Regierung sicherlich
ehrenwert, wenn ein Teil des Geldes in die Haushalts- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
konsolidierung fließt, um die Schuldenaufnahme zu ver-
Gerold Reichenbach hat jetzt das Wort für die SPD-
ringern oder Schulden abzubauen.
Fraktion.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD)
Also kommt es nicht dem Pflegebereich zu-
gute! Das ist schade! Das wäre im Pflegebe-
reich dringend notwendig gewesen!) Gerold Reichenbach (SPD):
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
Die Finanzierungskompetenz, so hatte ich gesagt, legen! Es ist allgemein anerkannt: Im Bereich des frei-
folgt der Verwaltungskompetenz. Der Bund finanziert willigen Engagements unserer Bürger spielt Anerken-
die Freiwilligendienste überwiegend. Dazu möchte ich nungskultur eine große Rolle. Aber damit, liebe Vertreter
Ihnen noch etwas sagen: Bayern und Baden-Württem- der Regierungsfraktionen, ist nicht gouvernementales
berg bringen den größten Teil der 12 Millionen Euro auf Selbstlob gemeint, wie wir es hier erlebt haben. Damit
Länderseite auf. Abgeordnete aus Ländern, in denen die ist Anerkennung für die Bürger gemeint, die sich drau-
SPD regiert, sollten sich davon einmal eine Scheibe ab- ßen im Lande freiwillig engagieren. Ich möchte das für
schneiden und ihre Landesregierungen auffordern, die meine Fraktion auch einmal zum Ausdruck bringen:
Jugendfreiwilligendienste deutlich stärker zu stützen und Danke an all diejenigen, die sich tagaus, tagein in Sport-
zu finanzieren. Dann gäbe es auf dem Wege noch etwas vereinen, karitativen Vereinen, sozialen Organisationen,
mehr. Kulturvereinen, Hilfsorganisationen, Feuerwehren, Kir-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8995
Gerold Reichenbach
(A) chengemeinden und Moscheevereinen freiwillig enga- Freiwilligen Sozialen Jahr und im Freiwilligen Ökologi- (C)
gieren. schen Jahr und baut sie aus? Das hätten wir für eine
sinnvolle Strategie gehalten.
Wir haben diese Anfrage gestellt, weil wir den Ver-
dacht haben – und vieles von dem, was Sie vorgetragen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
haben, begründet ihn –, dass hinter diesem Begriff der DIE GRÜNEN – Florian Bernschneider
Engagementstrategie weniger eine wirkliche Strategie [FDP]: Das will die SPD also! – Gegenruf von
– die Kollegin der Grünen-Fraktion hat das angespro- der SPD: Sie haben es immer noch nicht ver-
chen – zur Weiterentwicklung des guten Bestehenden standen! Wir geben Ihnen gerne Nachhilfe!)
steckt, das wir gemeinsam entwickelt haben, sondern
eher eine – ich sage es einmal vorsichtig – PR-Strategie Der einzige Grund, den ich erkennen kann, ist, dass man
dieser Regierung, das Instrument des Pflichtdienstes in der Zukunft nicht
ganz weglassen will. Dann hat man einen freiwilligen
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pflichtdienst, den man Bundesfreiwilligendienst nennt.
Null Substanz! – Markus Grübel [CDU/CSU]:
Zur PR-Strategie: In Ihrem Antrag sind die (Florian Bernschneider [FDP]: Das will Frau
ersten beiden Seiten nur Eigenlob!) Schwesig doch auch!)

auch um zu verdecken, was inzwischen schon wieder ka- Ich nenne ein zweites Beispiel: den Bereich der
puttgemacht wird. Mehrgenerationenhäuser. In diesem Bereich sind Struk-
turen aufgebaut worden. Bundesweit – in den Ländern
Das Programm „Soziale Stadt“ wurde angesprochen. werden sie zum Teil mit unterschiedlichen Modellen ge-
Ich sehe das in meinem eigenen Wahlkreis. Dort ist im fördert; wir alle haben im Unterausschuss darüber disku-
Rahmen dieses Programms ein großes, breit angelegtes tiert – gibt es eine ganze Reihe von bewährten Instru-
freiwilliges Engagement der Bürger zur Wohnumfeld- menten.
verbesserung und zur Integration entwickelt worden.
Ich nenne die Freiwilligenagenturen, die gerade im
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bereich der Betreuung älterer Bürger, im Bereich der
DIE GRÜNEN) Pflege, im Bereich der sozialen Zuwendung eine ganze
Die dürfen demnächst nur noch Backsteine bezahlen. Menge aufgebaut haben. Jetzt wird ein großes Pro-
gramm für Mehrgenerationenhäuser aufgepfropft. Was
Wir beide haben gemeinsam dafür gekämpft, dass das passiert eigentlich mit dem Programm, das schon be-
Vorstandsmitglied der karitativen Hilfsorganisation in steht? Statt es auszubauen bzw. auszuweiten, werden
(B) meiner Heimat, das gerade keine Arbeit hat, bei der Auf- neue Etiketten unters Volk gebracht. Unser Verdacht ist: (D)
wandspauschale nicht schlechtergestellt wird als das Das dient nicht dazu, die Strukturen voranzubringen,
Vorstandsmitglied, das ein Bankdirektorengehalt erhält. sondern dazu, um sagen zu können: Wir haben etwas ge-
macht. – Das ist nicht im Interesse der Freiwilligen-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dienste.
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Das wird wieder kaputtgemacht. Das verstehe ich nicht
unter Anerkennungskultur, sondern das ist eher eine Zer-
störung des Bestehenden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Kommen Sie bitte zum Ende.
Wir haben auch den Verdacht, dass Sie andere Struk-
turen teilweise weniger aus sachlichen Gründen, sondern
sozusagen aus innerer Koalitionsnot – zum Teil sogar Gerold Reichenbach (SPD):
aus innerer Parteinot – aufbauen, deren Weiterentwick- Das fragen wir konkret ab. Wir wollen auch wissen,
lung nicht sinnvoll ist. Ich nenne das Beispiel Freiwilli- wie es um die anderen angekündigten Vorhaben steht.
gendienst. Es geht doch darum, dass die Parallelstruktu- Sollen die auch im Rahmen einer PR-Aktion abgearbei-
ren, die Sie jetzt in Bundeshand aufbauen, kein echter tet werden, oder sollen sie doch real abgearbeitet wer-
Freiwilligendienst sind, sondern – das liegt ja in der Lo- den?
gik; wahrscheinlich machen Sie das auch, um die Ak-
zeptanz innerhalb der Union zu fördern – ein Pendant
zum „freiwilligen Pflichtdienst“, zu der nach wie vor Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
aufgehobenen, aber weiter existierenden Wehrpflicht. Herr Kollege?
(Florian Bernschneider [FDP]: Erklären Sie
doch mal Ihr Konzept!) Gerold Reichenbach (SPD):
Wir freuen uns auf Ihre Antworten. Dann werden wir
Dabei nehmen Sie in Kauf, dass Doppelstrukturen ent- mit Ihnen auch gerne in einen konstruktiven Dialog ein-
stehen. Gegen die Ausweitung haben wir nichts; darüber treten.
kann man sprechen. Aber wenn man das freiwillige En-
gagement der Bürger breit fördern will, warum erweitert (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
man dann nicht einfach die bestehenden Strukturen im der LINKEN)
8996 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: 2011 zum Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit (C)
Der Kollege Heinz Golombeck hat das Wort für die auszurufen. Die Bundesregierung wird dies aktiv unter-
FDP-Fraktion. stützen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich möchte hier von dieser Stelle aus allen Bürgerin-
nen und Bürgern, die sich engagieren und ehrenamtlich
tätig sind, noch einmal meinen Dank aussprechen.
Heinz Golombeck (FDP):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Vielen Dank.
Kollegen! Bürgerschaftliches Engagement ist eine tra-
gende Säule unserer freiheitlichen Demokratie. In (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutschland engagiert sich gut ein Drittel der Bevölke-
rung in Vereinen, Verbänden und Initiativen. Die Enga- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
gierten fördern den Zusammenhalt unseres Gemeinwe- Der Kollege Dr. Peter Tauber hat das Wort für die
sens. Dieses Gemeinwesen ist ein wesentliches Element CDU/CSU-Fraktion.
der aktiven Bürgergesellschaft. Engagierte Menschen
gestalten nicht nur ihr individuelles Leben, sondern auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
das staatliche Gemeinwesen aktiv mit.
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU):
Gerade jetzt, in der Vorweihnachtszeit, ist die Arbeit Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ehrenamtlicher Helfer besonders wichtig. Ich denke hier Seit dem 6. Oktober dieses Jahres hat Deutschland erst-
beispielsweise an Bürgerinnen und Bürger, die mit soge- mals eine nationale Engagementstrategie. Das ist erst
nannten Kältebussen unterwegs sind oder die in Suppen- einmal eine positive Botschaft. Ich finde es durchaus
küchen aushelfen. Es haben nicht alle das Glück, die Fei- schade, dass die Oppositionsfraktionen auch hier schon
ertage in der Geborgenheit ihrer Familie an einem wieder den Eindruck erwecken, sie seien einfach nur da-
geschmückten Weihnachtstisch und bei einem Festessen gegen.
zu verbringen. Insbesondere für jene Menschen, die ein-
sam und verlassen sind, frieren und Hunger haben, leis- (Ute Kumpf [SPD]: Nein, das haben wir nicht
ten ehrenamtliche Helfer in diesen Tagen Unermessli- gesagt! Stimmt doch gar nicht! Sie müssen zu-
ches. hören!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sicher ist das nur ein erster Schritt, dem weitere fol-
der CDU/CSU) gen müssen. Ich glaube aber, die Tatsache, dass wir diese
nationale Engagementstrategie haben, ist erst einmal
Wir hatten bereits im Koalitionsvertrag angekündigt,
(B) eine nationale Engagementstrategie auf den Weg zu eine gute Sache, weil dadurch eines deutlich wird: Bür- (D)
gerschaftliches Engagement und Ehrenamt sind gesamt-
bringen. Vor kurzem wurde diese nun verabschiedet.
gesellschaftliche Aufgaben.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, die christlich-libe-
rale Koalition hält Wort und setzt den Koalitionsvertrag Ich möchte an die vier Ziele der Engagementstrategie
um. erinnern. Das erste Ziel ist eine bessere Abstimmung
zwischen den Kommunen, den Ländern und dem Bund.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Das ist auch dringend nötig.
der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: Wir wol-
len mal schauen, Herr Kollege, was da heraus- Das zweite Ziel ist, Stiftungen und Unternehmen wei-
kommt!) terhin eng in diesen Prozess einzubinden. Ich kann die
Kritik der Linkspartei am Stiftungswesen und dessen
Die nationale Engagementstrategie hebt das bürger-
Zunahme in Deutschland überhaupt nicht teilen. Es ist
schaftliche Engagement als wesentliche Form der Teil-
gelebte soziale Marktwirtschaft, wenn Unternehmen die
habe am gesellschaftlichen Leben hervor. Die Strategie
Rahmenbedingungen schaffen, damit sich Mitarbeiterin-
zielt nicht nur auf ein generationenübergreifendes Enga-
nen und Mitarbeiter ehrenamtlich engagieren können.
gement zwischen jungen und alten Menschen ab; sie för-
Das ist aller Ehren wert und darf an dieser Stelle einmal
dert ebenso die Einbindung von Migrantinnen und
positiv erwähnt werden.
Migranten. Unser Ziel ist es, die geeigneten Rahmenbe-
dingungen für eine nachhaltige Infrastruktur und zur Sta- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
bilisierung von Engagement zu schaffen. Hieran werden
wir in dieser Legislaturperiode weiter arbeiten. Die na- Der dritte Punkt – das ist schon genannt worden – ist
tionale Engagementstrategie ist der erste Schritt zur Um- die Anerkennung und Wertschätzung derer, die sich en-
setzung dieser Ziele. gagieren. Dabei geht es eben nicht, wie Sie es zum Teil
suggerieren, um eine materielle Besserstellung. Viele
Bürgerschaftliches Engagement ist nicht nur eine ge- Menschen, die sich engagieren, wünschen sich einfach,
wachsene Säule; es schlägt auch Brücken. Es trägt dazu dass man das anerkennt und wertschätzt und dass man
bei, dass Europa näher zusammenrückt. In der Europäi- das auch einmal sagt. Ich glaube, das sollten wir in der
schen Union leisten Millionen von Bürgerinnen und Tat ein bisschen öfter tun. Dazu kam vonseiten der Op-
Bürgern aller Altersschichten einen positiven Beitrag position etwas wenig; das hätten Sie stärker betonen
hierzu. Die Europäische Kommission sieht die Freiwilli- können.
gentätigkeit als gelebte Bürgerbeteiligung, die gemein-
same europäische Werte wie Solidarität und sozialen Zu- Der vierte Punkt – auch das ist wichtig – sind die
sammenhalt stärkt. Daher wurde beschlossen, das Jahr Rahmenbedingungen vor Ort. Da wundere ich mich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8997
Dr. Peter Tauber
(A) schon über Ihre Ausführungen; denn genau das machen Auszeichnung ist, rufen Sie erstaunlich oft dazwischen. (C)
wir. Mit dem Feuerwehrführerschein, den das Kabinett Hören Sie doch einfach einmal zu.
am 15. Dezember beschlossen hat, wurde die Vorausset-
zung dafür geschaffen, dass sich Bürgerinnen und Bür- (Ute Kumpf [SPD]: Ich höre zu!)
ger unbürokratischer engagieren können und der Grund, Schreien Sie nicht immer dazwischen.
warum sie sich engagieren, im Mittelpunkt steht. Des-
halb muss man dem Bundesverkehrsminister wegen der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Änderung des Straßenverkehrsgesetzes an der Stelle der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Was sind Sie
herzlich Danke sagen. denn für ein Schnösel?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen junge Menschen motivieren, Verantwor-
tung zu übernehmen. Die Botschaft „Tu was für Dein
Warum ist eine solche Strategie notwendig? Wir könn- Land! – Tu was für Dich!“ ist genau richtig. Dasselbe
ten doch sagen: Alles ist ganz wunderbar. Das Ehrenamt gilt für die ältere Generation; auch sie wollen wir mit-
ist in der freiwilligen Feuerwehr, im Sport, in der Musik, nehmen.
in der Kultur, im sozialen Engagement, in den Tafeln und
in der Hospizbewegung fest verwurzelt. – Wir wissen Grundsätzlich gilt: Die nationale Engagementstrate-
aber auch, dass unsere Gesellschaft vor dramatischen gie ist ein Schritt zur Stärkung einer aktiven Bürgerge-
Veränderungsprozessen steht, und zwar wegen des demo- sellschaft, in der Menschen füreinander Verantwortung
grafischen Wandels und der steigenden Zahl von Men- übernehmen und Solidarität leben, statt nach dem Staat
schen mit Migrationshintergrund, die in ihrem Kultur- zu rufen und sich umzudrehen, wenn sie Probleme se-
kreis diese Form des Engagements sehr oft gar nicht hen.
kennen und denen wir es vermitteln müssen. Deswegen
(Zuruf der Abg. Heidrun Dittrich [DIE
ist es richtig, dass wir eine solche Strategie auf den Weg
LINKE])
gebracht haben und dass wir diejenigen, die sich engagie-
ren, ermutigen, sich selbst zu vernetzen. – Frau Dittrich, Sie sollten jetzt einmal genau zuhören;
Dafür gibt es gute Beispiele. Ein Beispiel ist das On- vielleicht trägt das dazu bei, dass Sie einmal eine neue
linenetzwerk www.weltbeweger.de der Stiftung Bürger- Platte auflegen. Die größte Gefahr für diese Art von Bür-
mut. Warum ist das so wertvoll? Weil wir wollen, dass gerkultur, die eine feste Säule der Kultur in Deutschland
Menschen erleben, dass sie, wenn sie ein Problem in die ist, besteht in einem paternalistischen Staatsverständnis,
Hand nehmen, eine Perspektive für sich selbst und für wie Sie es propagieren, nach dem der Staat für alles sorgt
die Menschen schaffen können, für die sie sich engagie- und die Menschen nicht füreinander Verantwortung
(B) ren. Dann werden sie nämlich merken, dass sie selbst oft übernehmen müssen. (D)
etwas bewegen können, was die Politik – so hat es der Ich persönlich fühle mich in einer Gesellschaft nicht
Geschäftsführer der Stiftung Bürgermut formuliert – nie wohl, in der der Staat fürsorglich über alle wacht. Ich
leisten könnte. wünsche mir eine Gesellschaft, in der Menschen Verant-
Dabei ist wichtig: Es geht nicht, wie Sie unterstellen, wortung übernehmen und füreinander einstehen, weil
um den Rückzug des Staates aus gewissen Bereichen. Es nur das – dies muss das Ziel sein – den Zusammenhalt
geht nicht um die Botschaft, dass Bürgerinnen und Bür- und das Miteinander stärkt. Die nationale Engagement-
ger etwas leisten, was der Staat nicht finanzieren kann; strategie ist ein Beitrag dazu. Ich freue mich auf die wei-
denn niemand engagiert sich, um die Haushalte seiner tere Debatte, die in der Tat heute erst beginnt.
Kommune, des Landes oder des Bundes zu entlasten, Herzlichen Dank.
sondern Menschen engagieren sich aus Begeisterung für
eine Sache. Das steht im Mittelpunkt. Das muss man (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
einmal deutlich sagen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
neten der FDP) Damit schließe ich die Aussprache.
Die Menschen erfahren Gemeinschaft. Sie erleben Ver- Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
antwortung als positive Herausforderung, die Spaß ma- Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
chen kann, und sie erleben Anerkennung. Das ist der CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
zentrale Punkt. Man muss lernen, Verantwortung zu Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung
übernehmen. Deshalb sind uns junge Menschen, Jugend- von Geldwäsche und Steuerhinterziehung
freiwilligendienste und der neue Bundesfreiwilligen- (Schwarzgeldbekämpfungsgesetz)
dienst so wichtig. Darüber, was wir hier auf den Weg
bringen, haben Sie jahrelang nur geredet. Das muss man – Drucksache 17/4182 –
an dieser Stelle einmal ganz deutlich sagen. Wir sagen Überweisungsvorschlag:
den jungen Menschen, dass sie gebraucht werden. Finanzausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
(Zuruf der Abg. Ute Kumpf [SPD]) Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
– Frau Kumpf, dafür, dass Sie das Bundesverdienstkreuz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
verliehen bekommen haben, was eine wirklich würdige Haushaltsausschuss
8998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) Es ist verabredet, hierüber eine Dreiviertelstunde zu amter niemals einen Hinweis auf Konten im Ausland er- (C)
debattieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann halten wird.
ist das so beschlossen.
Dieser Umstand führte dazu, dass mittlerweile erheb-
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Parlamenta- liche Milliardenbeträge von nicht in Deutschland ver-
rischen Staatssekretär Hartmut Koschyk das Wort. steuerten Geldern im Ausland lagern und so der Besteue-
rung in Deutschland entzogen sind.
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun- Selbst die von der rot-grünen Bundesregierung im
desminister der Finanzen: Jahr 2004 durchgeführte Steueramnestie hat zu keiner
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit flächendeckenden Bewegung hin zu mehr Steuerehrlich-
dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Verbesse- keit in Deutschland geführt. Letztendlich hat der Ankauf
rung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinter- von Steuerdaten, die wir nach der klaren Entscheidung
ziehung wollen wir dazu beitragen, den Wirtschaftsstand- des Bundesverfassungsgerichts in den Verfahren verwer-
ort Deutschland noch wirksamer vor Geldwäsche, aber ten dürfen, den alles entscheidenden Impuls gebracht.
auch – das ist ein sehr aktuelles Thema – vor Terrorismus- Aus Angst vor Entdeckung haben Zehntausende die
finanzierung zu schützen. Dazu soll der Katalog der Vor- Reißleine gezogen, eine Selbstanzeige gemacht und sich
taten des Straftatbestandes der Geldwäsche um die De- den Finanzämtern offenbart. Allein aufgrund der Selbst-
likte der Marktmanipulation, des Insiderhandels sowie anzeigen aus dem Jahr 2010 können wir mit Steuermehr-
der Produktpiraterie erweitert werden. einnahmen in Höhe von rund 2 Milliarden Euro rechnen.
Die christlich-liberale Koalition ist entschlossen,
Damit ist das unabdingbare international abgestimmte
diese Praxis der Steuerhinterziehung zu beenden. Wir
Vorgehen im Rahmen des dafür zuständigen internatio-
wollen mehr Steuerehrlichkeit in Deutschland. Deshalb
nalen Gremiums für Maßnahmen zur Bekämpfung von
erhöhen wir mit diesem Gesetzentwurf den Druck auf
Geldwäsche verbunden, das auf den schönen englischen
die Steuerhinterzieher. Wir zwingen sie in Zukunft, sich
Namen Financial Action Task Force on Money Launde-
vollständig zu offenbaren. Wer der Bestrafung entgehen
ring, FATF, hört. Die 36 Mitgliedstaaten dieses Gre-
will, der muss künftig eine steuerliche Lebensbeichte ab-
miums haben jetzt Standards vereinbart, um Geldwäsche
legen; so will ich es einmal formulieren. Mit der Salami-
und Terrorismusfinanzierung staatenübergreifend besser
taktik machen wir Schluss.
bekämpfen zu können. Die Erweiterung des Geldwä-
schestraftatbestandes im vorliegenden Gesetzentwurf (Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl
wird ein wichtiger Beitrag, Geldwäsche und Terroris- [SPD]: Das waren nicht Sie! – Dr. Gerhard
(B) musfinanzierung in Deutschland noch wirksamer zu ver- Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D)
hindern. Fremde Lorbeeren!)
Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen terroristi- Damit das auch wirklich jeder versteht: Die strafbefrei-
schen Bedrohung ist es wichtig, dass wir das Thema ende Selbstanzeige ist künftig die letzte Chance für
über das von Schwarz-Gelb eingebrachte Schwarzgeld- Steuersünder. Als Spielzeug für Taktierer hat die strafbe-
bekämpfungsgesetz hinaus mit anderen Gesetzgebungs- freiende Selbstanzeige ausgedient.
vorhaben energisch und entschlossen angehen. Die von
der FATF im Finanzsektor identifizierten Defizite wollen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
wir mit dem Gesetz zur Umsetzung der Zweiten neten der FDP)
E-Geld-Richtlinie beseitigen. Dabei soll insbesondere Die in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Verschärfun-
der Maßstab der Sorgfaltspflichten, den die Institute bei gen stärken die Steuergerechtigkeit, und sie machen un-
Risikogeschäften einzuhalten haben, vollständig an den missverständlich klar, dass die christlich-liberale Koali-
internationalen Standard angepasst werden. Die instituts- tion Ernst macht im Kampf gegen Steuerhinterziehung
internen Sicherungsmaßnahmen gegen Geldwäsche und in Deutschland.
das Risikomanagement der Institute werden ebenfalls
auf FATF-Standard angehoben. Dieses Gesetz soll be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
reits im März 2011 in Kraft treten.
Die sogenannte Teilselbstanzeige wird es künftig
Darüber hinaus werden Änderungen im Aktiengesetz nicht mehr geben. Steuerhinterzieher werden sich nicht
erforderlich sein, insbesondere in Bezug auf Namens- mehr scheibchenweise, je nach aktuellem Entdeckungs-
bzw. Inhaberaktien, um damit dem Petitum der FATF risiko strafbefreiend erklären können. Straffrei wird in
nach mehr Transparenz im Wertpapiergeschäft Rech- Zukunft nur der bleiben, der alle hinterzogenen Steuern
nung zu tragen. offenbart. Der Zeitraum für die Inanspruchnahme der
strafbefreienden Selbstanzeige wird deutlich verkürzt.
Quellen von Schwarzgeld müssen nicht nur illegale Künftig wird schon dann, wenn die Prüfungsanordnung
Geschäfte sein; auch legale Formen der Anlage im Aus- des Finanzamtes bekanntgegeben worden ist, die straf-
land haben in den vergangenen Jahren eine Sogwirkung befreiende Wirkung einer Selbstanzeige ausgeschlossen
auf Kapital von deutschen Anlegern ausgeübt. Die Er- sein. Auch ein fortwährendes Nachschieben von Be-
träge aus diesen Anlagen sind häufig nicht bei der Steu- gründungen und Erklärungen, so lange, bis der Prüfer
ererklärung in Deutschland angegeben worden, auch tatsächlich vor Ort erscheint, wird künftig nicht mehr
aufgrund der Einschätzung, dass ein deutscher Finanzbe- mit einer strafbefreienden Wirkung möglich sein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8999
Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
(A) Ich will sehr offen darauf hinweisen, dass wir schon (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Unbelehrbar! – (C)
in der Diskussion über den Gesetzentwurf über die Frage Nicolette Kressl [SPD]: Nicht nur bei diesem
von weiteren Zuschlägen diskutiert haben. Im parlamen- Thema!)
tarischen Verfahren werden wir über die Frage entschei-
den, ob wir bei der Inanspruchnahme der strafbefreien- dass Sie dieses Thema nicht so recht angehen wollen. Je-
den Selbstanzeige zusätzlich noch einen Extrazuschlag denfalls muss man deutlich sagen, dass Sie bei der Be-
erheben, um Steuerhinterzieher auch wirtschaftlich stär- kämpfung der Geldwäsche noch lange nicht das getan
ker zu belasten als Bürgerinnen und Bürger, die ihre haben, was wirklich notwendig ist. Allein der Kurztitel,
Steuern lediglich verspätet bezahlen. Hierzu – darüber der für diesen Gesetzentwurf gewählt wurde, macht
sind wir uns einig – brauchen wir aber eine absolut ver- nachdenklich. Es stellt sich die Frage, warum Sie es
fassungsfeste Regelung. Deshalb wollen wir die Sach- Schwarzgeldbekämpfungsgesetz und nicht Geldwäsche-
verständigenanhörung, aber auch die Beratungen des bekämpfungsgesetz nennen.
Bundesrates abwarten. Hier gilt eindeutig: Rechtssicher- (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
heit geht vor Schnelligkeit. An der Wand steht: „Bekämpfung von Geld-
wäsche, Steuerhinterziehung“!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich habe den Eindruck, dass Sie ein bisschen Etiketten-
Was wir am Schluss brauchen, ist eine verfassungsrecht- schwindel betreiben und davon ablenken wollen, dass
lich absolut saubere Lösung. Sie die Bekämpfung der Geldwäsche nicht so recht an-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gehen wollen, dass Sie sich zieren, all das umzusetzen,
neten der FDP) was die Financial Action Task Force on Money Launde-
ring Deutschland ins Stammbuch geschrieben hat.
Die christlich-liberale Koalition macht Ernst im
Kampf gegen Geldwäsche und Steuerbetrug. Wir wollen (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Leo
den Wirtschaftsstandort Deutschland, aber auch das Dautzenberg [CDU/CSU]: Das hättet ihr auch
Funktionieren unseres Gemeinwesens durch ausgegli- schon umsetzen können!)
chene öffentliche Haushalte und steuerehrliche Steuer- Geldwäschebekämpfung bedeutet, dass wir vermei-
erhebung sichern. Wirksame und zielgenaue Schritte den wollen, dass illegal erworbenes Geld in den legalen
dazu enthält der vorliegende Gesetzentwurf. Ich bitte Sie Geldkreislauf kommt. Bei Schwarzgeld hingegen han-
um Unterstützung bei der parlamentarischen Beratung, delt es sich um steuerpflichtige, aber unversteuerte Ein-
Behandlung und Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs. nahmen. Deswegen stellt sich die Frage, warum Sie die-
Herzlichen Dank. sen Begriff und nicht einen anderen gewählt haben. Sie
(B) wollen aus meiner Sicht verschleiern, dass 2010 für (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutschland wahrlich kein Ruhmesblatt war. Ihnen
wurde durch dieses OECD-Gremium, dem 36 Staaten
angehören, ein verheerendes Zeugnis ausgestellt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Martin Gerster spricht für die SPD-Fraktion. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber mehr als
die Kavallerie, Herr Kollege!)
(Beifall bei der SPD)
Sie sagen, Herr Staatssekretär, dass jetzt vereinbart
wurde, dass wir etwas tun müssen. Entschuldigung, der
Martin Gerster (SPD): Bericht lag schon im Februar 2010 vor.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Ich weiß nicht, ob auch Sie die Frage kennen, die (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wer war elf
in der Adventszeit vor allem Kindern gestellt wird: Seid Jahre Finanzminister, Herr Kollege? –
ihr brav gewesen? Es wird abgefragt: Habt ihr alles erle- Dr. Daniel Volk [FDP]: Zehn Jahre vorher wa-
digt, was euch aufgetragen wurde? Habt ihr all das ge- ren Sie in der Regierungsverantwortung!)
macht, was notwendig ist? Sie haben jetzt fast ein Jahr gebraucht, um einen einzi-
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist der gen Punkt aufzugreifen und in einen Gesetzentwurf zu
Nikolaus! Knecht Ruprecht!) gießen.

Wenn man der Bundesregierung diese Frage gerade im (Beifall bei der SPD – Ingrid Arndt-Brauer
Hinblick auf die Bekämpfung von Steuerhinterziehung [SPD]: Man muss schon klatschen, dass Sie
und Geldwäsche stellen würde, dann müsste sie, wenn überhaupt etwas geschafft haben!)
sie ehrlich wäre, sagen: Nein, und wir verzichten daher 49 Empfehlungen wurden ausgesprochen. Deutschland
auf die Geschenke. ist in 20 Punkten massiv kritisiert worden.
(Beifall bei der SPD – Ingrid Arndt-Brauer (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Seit wann gibt
[SPD]: Dann käme Knecht Ruprecht!) es die Empfehlungen, Herr Kollege?)
Herr Staatssekretär Koschyk, das wird gerade bei die- 15 Kriterien sind teilweise umgesetzt worden, 5 über-
sem Gesetzentwurf deutlich. Man merkt, dass Schwarz- haupt nicht. Deutschland wurden gravierende Defizite
Gelb bei diesem Thema ein bisschen bockig ist, bescheinigt. Deutschland ist kurz davor, auf die
9000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Martin Gerster
(A) schwarze Liste nicht kooperativer Jurisdiktionen gesetzt Die Zahl der Verdachtsanzeigen ist gestiegen. Im letzten (C)
zu werden. Berichtszeitraum, im Jahr 2009, gab es 9 000; das ent-
spricht einem Anstieg um 23 Prozent. Dies zeigt uns,
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Was?) dass es gelungen ist, die Leute für diese Gefahr ein biss-
Das wäre eine Blamage. Sie schreiben im Gesetzentwurf chen zu sensibilisieren. Es zeigt aus meiner Sicht aber
unter B: auch, dass Themen wie Datendiebstahl und Erschlei-
chung von Passwörtern, aber auch die Aktivitäten der
Die rasche Beseitigung der … festgestellten Defi- sogenannten Financial Agents, also von Personen, die
zite ist notwendig, … ihr Konto gegen Gebühr für illegale Transaktionen zur
Verfügung stellen, dringend angegangen werden müs-
Dazu muss ich sagen: Es ist höchste Eisenbahn, dass
sen.
Sie in die Puschen kommen und dass Sie diese Themen
abarbeiten. Wir begrüßen es – das sage ich ganz deut- (Beifall bei der SPD)
lich –, dass Sie jetzt einen Punkt angehen. Herr Staatssekretär, das erste Problem ist, dass Sie
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das hätten Sie nicht wirklich etwas tun. Das zweite Problem ist, dass
schon vor zwei Jahren sagen können, Herr Sie kleine, eigentlich sinnvolle Schritte bei der Geldwä-
Kollege!) schebekämpfung mit halbgaren Ansätzen bei der Be-
kämpfung der Steuerhinterziehung verknüpfen.
Natürlich sind wir dankbar, dass Sie Insiderhandel,
Marktmanipulationen und Produktpiraterie in den Kata- (Beifall bei der SPD)
log der Vortaten des Geldwäschestraftatbestandes auf- Sie bringen zum Beispiel die Teilselbstanzeige ins
nehmen wollen. Im Ziel sind wir d’accord, aber über den Spiel. Sie sagen, Schwarz-Gelb schafft die Teilselbst-
Weg müssen wir noch reden. Wir müssen schauen, was anzeige ab. Entschuldigung, aber das tut nicht Schwarz-
die Anhörung dazu ergibt. Ich kann Ihnen nur dringend Gelb, sondern das hat der Bundesgerichtshof gefordert.
raten, die anderen Punkte unbedingt anzugehen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Insgesamt stellt sich die Frage: Warum machen Sie DIE GRÜNEN)
nicht ein Gesamtpaket? Sie gehen hier mit Salamitaktik
In seinem Beschluss vom 20. Mai 2010 hat er entschie-
vor. Einen Punkt hat man an die Umsetzung der zweiten
den: So geht es nicht mehr weiter. – Sie muss man bei
E-Geld-Richtlinie angehängt. Jetzt kümmert man sich
diesem Thema regelrecht zum Jagen tragen; sonst pas-
um einen kleinen Punkt. Warum behandeln Sie das nicht siert überhaupt nichts.
als Paket? Ich verstehe das nicht. Es gibt dringenden
Handlungsbedarf, beispielsweise im Gesellschafts- und (Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg
(B) Registerrecht, speziell dort, wo es um die Treuhand als [CDU/CSU]: Dann haben Sie unseren Gesetz- (D)
Rechtsform geht. Immobilienmaklerbranche, Goldhänd- entwurf nicht gelesen! Er lag übrigens schon
ler, Juweliere, Steuerberater, Rechtsanwälte – all diese vor dem Beschluss des Bundesgerichtshofs
Themen sind angesprochen worden. Nichts ist passiert. vor! Unser Gesetzentwurf ist zwei Monate äl-
ter! Ihr ärgert euch doch nur, dass ihr nicht da-
Sie kündigen jetzt für März 2011 etwas Weiteres an. rauf gekommen seid! Ihr habt mal wieder ge-
Wir sind gespannt, wie es weitergeht. Ich meine, die pennt! – Manfred Kolbe [CDU/CSU]: Genau!
Bundesregierung ist in der Pflicht, insbesondere die hei- Ihr habt gar nichts gemacht!)
ßen Eisen Spielbanken und Kasinos anzugehen. Diese
sind heutzutage schon ein Vergnügungspark für profes- Was Sie machen, ist letztendlich nur ein Herumdok-
sionelle Geldwäscher. Diese Probleme muss man ange- tern und Herumlavieren. Die SPD-Fraktion hingegen hat
hen; man darf da nicht schlafen. den Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung der strafbe-
freienden Selbstanzeige eingebracht. Wir glauben, dass
(Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/ dies der einzig richtige Schritt ist.
CSU]: Wer betreibt denn die Kasinos?)
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Glauben hilft hier
Deswegen muss man deutlich sagen: Los geht es! Das ist aber nicht weiter!)
dringend. Sie beheben lediglich die Unsicherheit, die bei den bera-
Bereits im Sommer dieses Jahres – auch darauf will tenden Berufen und der Finanzverwaltung im Moment
ich hinweisen – haben die Koalitionsfraktionen ange- herrscht.
kündigt, diese Probleme zu lösen. Große Sprünge sind Der Bundesrat hat im Zuge des Jahressteuergesetzes
uns bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Terroris- 2010 einige Vorschläge unterbreitet. In der Anhörung
musfinanzierung versprochen worden. Man hat aller- hat sich gezeigt, dass das so nicht wirklich praktikabel
dings den Eindruck, Sie laufen in Trippelschritten schlei- ist. Wenn man, wie Sie, das System beibehalten und die
chend um das Ziel herum. Vielleicht steckt auch eine Strafbefreiung nicht abschaffen möchte, dann kann ich
gewisse Denke dahinter. Womöglich meinen Sie, illega- natürlich verstehen, dass man zum Beispiel sagt: Wir
les Kapital ist wie ein scheues Reh und macht sich von wollen den Zeitfaktor ändern. Wir wollen, dass die Be-
alleine davon. kanntgabe der Prüfungsanordnung als Ausschlusskrite-
rium für die Straffreiheit bei Selbstanzeige gewählt
Ich glaube, das ist weit gefehlt. Hier muss gehandelt
wird. – Das ist nachvollziehbar.
werden. Das zeigt auch der jüngste Bericht des Bundes-
kriminalamtes und der BaFin zum Thema Geldwäsche. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Hört! Hört!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9001
Martin Gerster
(A) In der Tat wurde in der Anhörung deutlich, dass genau Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
dieser Zeitraum oft als Opportunitätsfenster zur Selbst- Ich gebe das Wort dem Kollegen Daniel Volk für die
anzeige genutzt wird. Insofern sage ich: Hier haben Sie FDP-Fraktion.
recht. Das muss man auf jeden Fall abstellen. Aber das
wäre wieder eine Minimallösung, zu der Sie getrieben (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
werden mussten.
(Beifall bei der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Dr. Daniel Volk (FDP):
Was schlagen Sie denn vor? – Manfred Kolbe Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
[CDU/CSU]: Was wollen Sie denn?) Herren! Herr Gerster, die Grundlage Ihrer Analyse des
Weitaus konsequenter wäre das, was wir vorschlagen; Berichts der Financial Action Task Force
das ist nämlich nicht so ein Herumgeeiere wie bei Ihnen.
Herr Dautzenberg hat selbst gesagt: (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: War sehr
gut!)
(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
Vorsicht! Herr Dautzenberg ist ein guter vom Februar 2010
Mann!)
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das war noch bes-
Über die Frage, ob wir den Zinszuschlag erheben oder ser!)
nicht, müssen wir noch diskutieren. Darüber gibt es in
der Koalition vielleicht sogar Streit. ist die Gesetzgebung, die Ihre sozialdemokratischen
Finanzminister nach elf Jahren Verantwortung für die
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja! Da muss Finanzpolitik hinterlassen haben. Damit haben Sie selbst
man schließlich genau abwägen! Wir wollen Ihren sozialdemokratischen Finanzministern ein Ar-
das nämlich verfassungsfest machen, Herr mutszeugnis bei der Schwarzgeldbekämpfung und der
Kollege!) Bekämpfung der Steuerhinterziehung ausgestellt. So viel
Nein, bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung ist Ehrlichkeit zu Weihnachten hätte ich von Ihnen gar nicht
klare Kante notwendig. In unserem Gesetzentwurf haben erwartet. Vielen Dank dafür!
wir eine eindeutige Regelung vorgeschlagen: Erstens (Beifall bei der FDP)
muss die Straffreiheit abgeschafft werden, und zweitens
muss die Selbstanzeige im Zuge der Bemessung des Die Regierung legt dem Parlament heute den Entwurf
Strafmaßes berücksichtigt werden. Das wäre gut. eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung von
(B) (Beifall bei der SPD) Geldwäsche und der Steuerhinterziehung vor, welches (D)
auf die volle Unterstützung der FDP-Fraktion trifft.
Diese Variante wird von der Deutschen Steuergewerk- Denn wir werden damit die Empfehlungen der Financial
schaft, vom Deutschen Gewerkschaftsbund und vielen Action Task Force im Bereich der Geldwäsche umset-
anderen unterstützt. Deswegen bitte ich Schwarz-Gelb: zen. Diese Task Force ist das wichtigste internationale
Zeigen Sie endlich etwas mehr Mut im Kampf gegen Gremium zur Bekämpfung der Geldwäsche und der Ter-
Steuerkriminalität und mehr Mut zur beherzten Tat. Das rorismusfinanzierung. Deutschland beteiligt sich als
wäre auch ein guter Vorsatz für das neue Jahr. Gründungsmitglied aktiv an der weiteren Entwicklung
der Empfehlungen, die wir mit unserem Gesetz umset-
Das würde im Übrigen dazu führen, dass wir uns auf zen werden.
einen Weg begeben, der uns von der OECD gewiesen
wurde. Die OECD hat nämlich in einer internationalen (Beifall bei der FDP)
Vergleichsstudie festgestellt, dass die zeitliche Befris-
tung und das Auslaufenlassen der Selbstanzeigemöglich- Auch im Bereich der Steuerhinterziehung ist das Ge-
keiten zentrale Kriterien für den Erfolg im Sinne von setz ein wichtiger und richtiger Schritt für mehr Steuer-
mehr Steuerehrlichkeit und mehr Steuereinnahmen sind. gerechtigkeit in Deutschland. Wir sorgen damit dafür,
Das alles wird in Ihrem Gesetzentwurf nicht berücksich- dass Missbrauch in Form von Steuerbetrug in Zukunft
tigt. Das finden wir sehr schade, und die negativen besser bekämpft werden kann. Die SPD hat es in den elf
Effekte dessen werden wir bei der Anhörung entspre- Jahren ihrer Regierungsverantwortung leider nicht ge-
chend herausarbeiten. schafft, die strafbefreiende Selbstanzeige so zu gestalten,
dass sie nicht zu einer Besserstellung von Steuerhinter-
Ich werbe noch einmal für unseren Gesetzentwurf, ziehern führt. Das Einzige, was der SPD in elf Jahren
der sich im Verfahren befindet. Bei der Anhörung wer- eingefallen ist, war ein Steueramnestiegesetz, das als
den wir alles Weitere besprechen. Bis dahin wünsche ich Rohrkrepierer geendet ist.
Ihnen besinnliche Tage. Denken Sie noch einmal in
Ruhe darüber nach. Schöne Weihnachtsfeiertage und ei- (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist gelogen! Wir
nen guten Rutsch ins neue Jahr! haben das Steuerhinterziehungsbekämpfungs-
Danke schön. gesetz gemacht! – Gegenruf des Abg.
Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
(Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg Die Amnestie war auch dabei! – Gegenruf der
[CDU/CSU]: Danke, gleichfalls, Herr Kol- Abg. Nicolette Kressl [SPD]: Aber nicht bei
lege!) dem Gesetz!)
9002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Daniel Volk


(A) Wir als schwarz-gelbe Koalition handeln jetzt und arbei- keine gute und angemessene Ergänzung zu der strafbe- (C)
ten all das auf, was in den letzten elf Jahren versäumt freienden Selbstanzeige an.
wurde.
Ich möchte ganz kurz auch noch darauf hinweisen,
(Beifall bei der FDP) dass wir gerade in den letzten Monaten einen Erfolg mit
der strafbefreienden Selbstanzeige erleben konnten,
Wir werden die strafbefreiende Selbstanzeige im
Kern beibehalten, werden aber dafür sorgen, dass sie (Lachen der Abg. Nicolette Kressl [SPD])
nicht für eine Steuerhinterziehungsstrategie missbraucht
nämlich dadurch, dass Steuerpflichtige tatsächlich eine
werden kann.
strafbefreiende Selbstanzeige erstattet haben, weil sie
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!) die Befürchtung hatten, dass bislang nicht versteuerte
Gelder auf ausländischen Konten entdeckt werden.
Wenn man über dieses Thema spricht, sollte man als
Erstes die hohe praktische Bedeutung der strafbefreien- Das ist nicht nur eine Entwicklung aufgrund der
den Selbstanzeige betonen. Steuer-CDs, also dadurch, dass rechtswidrig erlangte
Bankkundendaten verkauft wurden, sondern das ist eine
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das! Für
Entwicklung aufgrund des immer stärkeren Zusammen-
den normalen Steuerzahler!)
wachsens der Welt und der Finanzmärkte, sodass dem
Das ist bei Ihnen, Herr Gerster, völlig in den Hintergrund einzelnen Steuerpflichtigen immer klarer wird, dass es
gerückt. Dazu habe ich kein Wort von Ihnen gehört. Fra- nicht mehr möglich ist, Gelder zu hinterziehen, indem
gen Sie einmal bei den steuerberatenden Berufen und bei sie auf ausländische Konten verbracht werden.
den Steuerpflichtigen nach,
(Nicolette Kressl [SPD]: Fragen Sie doch ein- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
mal bei den Steuergewerkschaften nach!) Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gerster zulassen?
wie wichtig die strafbefreiende Selbstanzeige im tägli-
chen Steuerveranlagungsgeschäft ist. Sie ist eine einfa-
Dr. Daniel Volk (FDP):
che Möglichkeit der Behebung von Fehlern, die in der
Vergangenheit fahrlässig – nicht mutwillig – begangen Sehr gerne.
wurden. Insofern ist es vollkommen richtig, dass wir die
strafbefreiende Selbstanzeige im Kern beibehalten. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte schön.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit zu dem Vorschlag
(B) eines Strafzuschlags, der auch vom Bundesrat kam, ganz (D)
kurz erwähnen, dass wir als FDP-Fraktion erhebliche Martin Gerster (SPD):
Bedenken haben, einen solchen Strafzuschlag einzufüh- Herr Kollege Volk, ich möchte Sie gerne fragen, ob
ren, Sie aus heutiger Sicht im Angesicht der Tatsache, dass
jetzt eine entsprechende Entscheidung des Bundesver-
(Nicolette Kressl [SPD]: Das wundert uns fassungsgerichts vorliegt, die Entscheidung der Landes-
sehr!) regierung Baden-Württemberg noch immer für richtig
denn Strafzuschlag bedeutet Strafe. halten, seinerzeit auf den Erwerb der Steuerdaten-CD zu
verzichten.
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ja!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Das eine Wort enthält das andere. der LINKEN)
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ja!)
Dr. Daniel Volk (FDP):
Nach unserer Auffassung ist eine Strafe aber durch ein Herr Kollege Gerster, das ist ein Thema, das ich auch
Strafgericht und nicht durch die Finanzverwaltung zu noch ansprechen wollte, aber ich kann das gerne vorzie-
verhängen. hen.
(Beifall bei der FDP) (Nicolette Kressl [SPD]: Ja!)
Dementsprechend haben wir dort allein schon im Hin-
Ich finde es gerade in rechtsstaatlicher Hinsicht und
blick auf die Gewaltenteilung erhebliche Bedenken.
vor dem Hintergrund der Gewaltenteilung zunächst ein-
Im Übrigen darf ich darauf hinweisen: Wenn ein sol- mal sehr gut, dass es jetzt eine Entscheidung des höchs-
cher Strafzuschlag eingeführt werden sollte, würde die ten deutschen Gerichtes zu dieser Frage gibt. Ich glaube,
einfache Möglichkeit der Behebung von fahrlässigen dass das Bundesverfassungsgericht weitaus besser als
Fehlern bei der Steuerveranlagung faktisch abgeschafft; die Finanzverwaltung dazu berufen ist, diese Frage zu
denn jeder Steuerpflichtige wäre gehalten, darauf zu beurteilen.
dringen, dass es keine strafbefreiende Selbstanzeige,
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Auch als das Land
sondern eine Ergänzung, eine Berichtigung oder Ähnli-
Baden-Württemberg!)
ches ist. Dadurch würde die Steuerbürokratie ausgewei-
tet und das ganze Verfahren nicht vereinfacht werden. Gerade aus Ihren Reihen wird aber immer suggeriert,
Deswegen sehen wir einen solchen Strafzuschlag als man könne das alles sozusagen immer einheitlich be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9003
Dr. Daniel Volk
(A) trachten, Steuer-CD sei Steuer-CD. Wie gesagt: Es geht Gerster, Sie haben dies dankenswerterweise hier bereits (C)
um Bankkundendaten. als positiv eingeschätzt.
(Nicolette Kressl [SPD]: Würden Sie auf die Zu der Teilselbstanzeige erwähne ich nur ganz kurz:
Frage antworten?) Ja, es gibt die Entscheidung des Bundesgerichtshofs,
aber Rechtsprechung kann auch wieder geändert wer-
– Ich gehe doch auf die Frage ein, Frau Kressl. Wenn Sie den. Gesetze sind Maßnahmen, die einen politischen
meiner Antwort lauschen würden, dann würden Sie hö- Willen umsetzen; wir sorgen dafür, dass dies nun end-
ren, dass das genau die Antwort auf die Frage Ihres Kol- gültig in das Gesetz einfließen wird. Dementsprechend
legen ist. ist auch dies ein wichtiger Schritt hin zur Regelung die-
(Nicolette Kressl [SPD]: Nein!) ses Bereichs. Wir stehen klar für den Kampf gegen Steu-
erhinterziehung.
– Nein? Sie hören also nicht zu, okay.
(Zurufe von der SPD: Oh!)
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Was?)
Gleichzeitig wollen wir den Steuerpflichtigen weiterhin
Sie suggerieren, dass jeder Fall sozusagen gleich zu eine goldene Brücke hin zur Steuerehrlichkeit bauen.
behandeln ist. Die SPD setzt sich dafür ein, dass jede
rechtswidrig erlangte Sammlung von Bankkundendaten (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE
anzukaufen ist. Ich bin der Auffassung, dass jeder Ein- GRÜNEN]: Die Betonung liegt auf „golden“! –
zelfall gesondert geprüft werden muss, weil eben nicht Dr. Carsten Sieling [SPD]: Da freuen sie sich
alle Fälle immer vergleichbar sind. Insofern ist auch die aber!)
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Ent-
Da sind wir auf einem sehr guten Weg. Wir wünschen
scheidung in einem Einzelfall.
uns dabei auch die Unterstützung von der Opposition.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Es könnte ja
Vielen Dank.
auch eine CD von Heino drin sein!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die Verwaltung wird dadurch zu keinem Zeitpunkt da-
von entbunden, immer den jeweiligen Einzelfall zu prü-
fen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Barbara Höll hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
Im Übrigen: Die rechtsstaatliche Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts liegt zwar vor, es bleibt aber (Beifall bei der LINKEN)
weiterhin die Frage offen, ob es politisch opportun ist, (D)
(B)
über einen Ankauf rechtswidrig erlangter Daten sozusa- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
gen geradewegs in die Gefahr zu kommen, dadurch ei-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
nen schwunghaften Datenhandel zu befeuern.
Herren! Sie alle kennen doch den Spruch: Steuern zahlen
(Nicolette Kressl [SPD]: Ein Eiertanz vor nur die Dummen.
Weihnachten!)
(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ich glaube, dieser Verantwortung sollten wir uns in der NEN]: Ich bin nicht dumm, und ich zahle auch
Politik auch stellen. Steuern!)
(Martin Gerster [SPD]: Heißt das jetzt Ja oder – Hören Sie doch zu, Herr Schick. Sie kennen aber den
Nein?) Spruch.
– Ich habe Ihre Frage klar mit einem Nein beantwortet, Wenn man sich die zahlreichen Selbstanzeigen der
indem ich gesagt habe, dass nicht alle Fälle über einen letzten Zeit anschaut, fragt man sich angesichts dieser
Kamm zu scheren sind. Ich denke, diese Frage habe ich großen Zahl, ob an diesem Spruch nicht doch etwas da-
damit durchaus klar beantwortet. ran sein könnte.
(Nicolette Kressl [SPD]: Nein!) (Manfred Kolbe [CDU/CSU]: Zahlen Sie denn
welche?)
Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass wir als
schwarz-gelbe Koalition endlich die richtigen Schritte Fakt ist, Steuern zahlen die Ehrlichen, Herr Schick: Sie
einleiten, die in diesem Bereich notwendig sind, nach- und ich. Die anderen begehen ohne Wenn und Aber eine
dem die jetzt in der Opposition befindliche SPD dies zu- Straftat – das ist das Entscheidende – und betrügen die
vor vernachlässigt hat. Gesellschaft.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Oh Wunder, dieses Jahr ist die Zahl der Selbstanzei-
der CDU/CSU) gen auf etwa 28 000 angestiegen. Das ist 14-mal so viel
wie in den Jahren zuvor. In Baden-Württemberg gab es
Wir werden dafür sorgen, dass die strafbefreiende 7 342 Selbstanzeigen, in Nordrhein-Westfalen 5 158 und
Selbstanzeige eben kein Hilfsmittel für eine Steuerhin- in Bayern 3 870.
terziehungsstrategie ist. Deswegen haben wir den Zeit-
punkt, ab dem die Straffreiheit nicht mehr in Anspruch (Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist ja gerade der
genommen werden kann, vorverlagert. Herr Kollege Erfolg der Selbstanzeige!)
9004 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Barbara Höll


(A) Nicht etwa das schlechte Gewissen plagte die Leute, die Prüfungsanordnung im Unternehmen eingeht. Auch das (C)
sich auf einmal selbst anzeigen. Sie gehen nicht etwa ist halbherzig. Warum folgen Sie nicht wenigstens hier
deshalb jetzt reuevoll zum Finanzamt, weil sie auf ein- der Empfehlung des Bundesrates, der bereits die Absen-
mal Steuern zahlen wollen. Nein, sie machen es, weil sie dung des Briefes als Zeitpunkt der Bekanntgabe der Prü-
wissen, dass sie bald geschnappt werden könnten, aber, fungsanordnung vorsieht?
wenn sie sich jetzt selbst anzeigen, noch straffrei ausge-
hen könnten. Das ist die Wahrheit. Das kann doch wohl Drittens. Der vorliegende Gesetzentwurf sieht keiner-
nicht Ihr Ernst sein. Das ist einfach grob ungerecht. lei Strafgebühr – auch das wäre möglich, Herr Volk – auf
den zu entrichtenden Steuerbetrag vor. In der öffentli-
(Beifall bei der LINKEN) chen Debatte sind 5 Prozent im Gespräch. Es bleibt da-
bei: 6 Prozent Zinsen ab Fälligkeit. Damit zahlen – das
Steuergerechtigkeit ist so nicht zu schaffen.
ist grob ungerecht – die Unehrlichen genauso viel wie
Die Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige die Ehrlichen. Das kann doch nicht sein. Hier muss un-
forderten laut Politbarometer vom Oktober dieses Jahres bedingt etwas geändert werden.
etwa 60 Prozent der Befragten. Wahrscheinlich sind es
inzwischen noch mehr. Wir wissen, dass mit dieser Bun- Der Staatssekretär nährt vor Weihnachten ein biss-
desregierung eine Abschaffung wohl leider nicht mög- chen die Hoffnung, dass sich die CDU/CSU bewegt. Von
lich ist. Ich gebe zu, dass auch ich die Hoffnung hatte, der FDP haben wir leider eben das Gegenteil vernehmen
dass Sie zumindest solche verschärfenden Regelungen müssen. Trotzdem hoffe ich – an dieser Stelle werden
planen, die auch tatsächlich verschärfend wirken. Aber Sie unsere Unterstützung haben –, dass wir zu einer je-
Pustekuchen! Es gibt nur halbherzige Änderungen statt weils angemessenen Gebühr kommen.
Konsequenz. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: „Gebühr“
Bevor ich auf Ihre Änderungen eingehe, stelle ich klingt schon anders!)
fest, dass die Regelung der strafbefreienden Selbstan- Wir sagen Ihnen ganz deutlich: Mit Ihrer halbherzi-
zeige, geregelt in § 371 der Abgabenordnung, eben nicht gen Herangehensweise wird sich an dem Problem nichts
zu mehr Steuerehrlichkeit geführt hat, auch wenn Sie das ändern. Ohne den Druck auf die Steuersünder durch ver-
laufend behaupten. Sie sollten dann wirklich einmal er- mehrte Prüfungen können Sie sich das Ganze sparen.
klären, warum ausgerechnet in diesem Jahr nach dem Dann haben wir nur einen zahmen Papiertiger.
Ankauf von Daten-CDs die Zahl der Anzeigen auf ein-
mal gestiegen ist, Sie verfolgen einen völlig falschen Denkansatz, wenn
Sie sagen – ich zitiere aus der Antwort der Bundesregie-
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das war klar!
(B) rung auf unsere Anfrage vom 8. April dieses Jahres zur (D)
Deshalb der Gesetzentwurf!)
strafbefreienden Selbstanzeige –:
nachdem die Bankdaten in Umlauf waren, nicht aber
vorher. Wenn Sie ehrlich wären, müssten Sie das den Eine Abschaffung der strafbefreienden Selbstan-
Bürgerinnen und Bürgern sagen. Das tun Sie aber nicht. zeige nimmt den Finanzbehörden daher im Ergeb-
nis Ermittlungsmöglichkeiten und verringert das
Sie tun etwas anderes, und das zeigt, für wen Ihr Herz Steueraufkommen ….
schlägt. Herr Volk hat das eben noch einmal sehr deut-
lich gemacht. Es schlägt eben nicht für den kleinen Genau hier liegt aber der Hase im Pfeffer. Denn die Fi-
Handwerker, der brav seine Steuern zahlt, sondern für nanzbehörden haben nicht genug Betriebsprüfer und
diejenigen, die ihr Vermögen fleißig ins Ausland brin- Steuerfahnder. Es gibt auch keinen automatischen Infor-
gen. mationsaustausch zwischen den Steuerbehörden der ver-
schiedenen Länder.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Über goldene
Brücken laufen lässt!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Nun kommen wir zu Ihrem großen Wurf. Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Erstens. Künftig sollen bei einer Selbstanzeige alle
Hinterziehungssachverhalte für alle nicht verjährten Ver- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
anlagungszeiträume offengelegt werden. Andernfalls er- Wenn Sie etwas ändern wollen, dann müssen Sie da-
lischt die Straffreiheit. Das ist aber nicht neu – darauf für Sorge tragen, dass die Finanzbehörden viel besser
wurde schon hingewiesen –; das hat der Bundesgerichts- ausgestattet werden und Betriebsprüfungen stattfinden.
hof bereits im Mai dieses Jahres gefordert. Schätzungen Sie müssen sich auch endlich auf internationaler Ebene
der Deutschen Steuergewerkschaft gehen davon aus, für den automatischen Informationsaustausch einsetzen.
dass derzeit noch etwa 100 Milliarden Euro versteckt
liegen, die noch nicht der Verjährung zum Opfer gefallen Ich danke Ihnen.
sind. Wenn Sie konsequent wären, könnten Sie zugrei-
(Beifall bei der LINKEN)
fen. Aber Sie tun es nicht.
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Wie denn?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Zweitens. Die Selbstanzeige soll künftig nicht mehr Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für
möglich sein, sobald der Brief mit der Bekanntgabe der Bündnis 90/Die Grünen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9005

(A) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das muss eingeschränkt werden; sonst ist der Ehrliche (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tatsächlich an dieser Stelle der Dumme.
Ich will zuerst etwas zum Thema Geldwäsche sagen. Ich
glaube, man kann es insoweit aus dem Parteienstreit he- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
rausnehmen, als man sagen muss: Viele Länder in Eu- Dr. Daniel Volk [FDP]: Schauen Sie in die
ropa waren überrascht von dem, was die Financial Ac- Veranlagungspraxis!)
tion Task Force ihnen zur Geldwäsche ins Stammbuch – Machen Sie eine andere Schätzung. Es ist auf jeden
geschrieben hat. Dass man seit Februar die Wirklichkeit Fall die überwältigende Mehrheit.
noch nicht perfekt geändert hat, liegt nahe. Ich finde, da
müssen wir ehrlich sein. Nehmen Sie den Fall, der vor dem Bundesgerichtshof
behandelt worden ist. Da ging es darum, dass die Unter-
Aber in einem Punkt ist die Kritik von Herrn Gerster suchung schon lief und dann jemand meinte, einklagen
richtig, und ich möchte sie noch einmal unterstreichen: zu müssen, dass er noch eine Selbstanzeige machen
Statt einer klaren und vollständigen Bestandsaufnahme könne.
und eines Gesetzentwurfs, mit dem wir die Defizite sys-
tematisch aufarbeiten, finden wir jetzt in dem einen oder (Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ändern wir doch
anderen Gesetzentwurf jeweils ein bisschen, sodass die jetzt!)
Befürchtung bestehen muss, dass wir am Ende die ekla-
tanten Schwächen, die in Deutschland vorhanden sind, – Ja, das hat der Bundesgerichtshof festgelegt. Dann ist
eben nicht systematisch aufarbeiten und Geldwäsche da- aber die Frage, ob man nicht auch Wiederholungstäter
mit einmal mehr nicht deutlich genug als zentrales Pro- bei diesem Fall klar einschränken müsste. Sie greifen
blem unserer Wirtschaft erkennen und entsprechend kor- hier deutlich zu kurz.
rigieren. Das halte ich für die falsche Strategie. Statt hier Jetzt will ich auf das zentrale Problem Ihres Gesetz-
und da ein bisschen zu ändern, wäre ein systematischer entwurfes eingehen, den Art. 3. Es ist richtig, wie es der
Ansatz notwendig. BGH gesagt hat: Wer sich nur teilweise ehrlich macht,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) also sozusagen nur das Konto bei der Credit Suisse auf-
deckt, aber das Konto bei der UBS oder in Liechtenstein
Ich komme zum Hauptpunkt: die strafbefreiende nicht aufdeckt, soll in Zukunft nicht mehr von der
Selbstanzeige. Im Wesentlichen wird in den Gesetzent- Selbstanzeige profitieren können. Das ist korrekt. Sie
wurf aufgenommen, was der Bundesgerichtshof festge- aber schreiben in Art. 3 eine Übergangsregelung hinein,
legt hat. Dass es schon vorher in der Diskussion war, än- in der Sie demjenigen, der bisher nur einen Teil aufge-
dert nichts daran. Es ist trotzdem richtig, das in den deckt hat, also so getan hat, als sei er jetzt ehrlich, in
(B) Gesetzentwurf aufzunehmen. Aber es fehlen entschei- Wirklichkeit aber nur für ein Konto etwas aufgedeckt (D)
dende Punkte. hat, weil er Angst hatte, dass ihm die Ermittler auf die
Erstens haben Sie in Ihrem eigenen Antrag im Früh- Spur kommen, für die Zukunft garantieren, dass er straf-
jahr festgestellt: Taktieren darf sich nicht lohnen. Mit frei ausgeht.
dem, was Sie jetzt vorlegen, bleiben Sie hinter diesem (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Skan-
Anspruch zurück, weil es sich nach wie vor lohnt. Der dal!)
Ehrliche, der zu spät zahlt, hat einen höheren Zuschlag
als der Unehrliche, der eine Selbstanzeige macht. Sie leisten an dieser Stelle einen Bestandsschutz für
Steuerhinterzieher. Das lehnen wir ab; das werden wir
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das stimmt doch nicht durchgehen lassen.
nicht! Er zahlt jetzt mehr!)
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Wir leisten Vertrau-
Herr Dautzenberg hat das dargelegt. Hier ist Korrektur- ensschutz! – Gegenruf der Abg. Dr. Barbara
bedarf. Höll [DIE LINKE]: Vertrauensschutz für
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Steuerhinterziehung? – Gegenruf des Abg.
Dr. Daniel Volk [FDP]: Nein, für Selbstanzei-
Der zweite Punkt: Sie greifen bei der Frage der ger, die hier tätig werden!)
Selbstanzeige viel zu kurz. Es kann doch nicht sein, dass
man es als tätige Reue bezeichnet, wenn Menschen in – Ich könnte mir vorstellen, dass Herr Kolbe nachher für
dem Moment, in dem die Untersuchung schon läuft, in die Koalition auf diesen Punkt noch eingehen will.
dem die Durchsuchung ihrer Wohnungen und ihrer Ge-
schäftsräume stattfindet, schnell einmal reuig werden. Sie schreiben in Ihrer Begründung:
Die Zunahme – das hat Frau Höll richtig dargestellt – der Für bereits erstattete Selbstanzeigen, die tatsächlich
Zahl der Selbstanzeigen in diesem Jahr ist darauf zu- (nur) Teilselbstanzeigen waren, bleibt daher der bei
rückzuführen, dass die Leute Angst hatten, dass konkret Abgabe der Selbstanzeige bestehende Status der
in ihrer Bank etwas aufgeflogen ist. Da muss man sich Straffreiheit insoweit erhalten.
einmal ehrlich machen. Nach meiner Schätzung haben
etwa 80 Prozent der Selbstanzeigen nichts mit tätiger (Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist Vertrauens-
Reue, sondern nur mit Taktik zu tun. schutz!)
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Nein, das stimmt nicht! – Genau. Für unehrliche Leute schaffen Sie Vertrauens-
80 Prozent stimmt nicht, Herr Kollege!) schutz. Aber die vielen ehrlichen Steuerzahler, die in der
9006 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Gerhard Schick


(A) Zwischenzeit ehrlich gezahlt haben, gucken in die Steuerhinterziehung auf zehn Jahre verlängert. All dies (C)
Röhre. hat eine unionsgeführte Bundesregierung eingeführt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Nicolette Kressl [SPD]: Das mussten wir Ih-
bei der SPD und der LINKEN) nen abhandeln!)
Deswegen wäre es richtig, an dieser Stelle eine klare – Das haben wir teilweise im Zusammenwirken mit Ih-
Frist einzuführen und zu sagen: Die Leute, die sich in nen erreicht, Frau Kressl. Auch wir haben das gewollt.
der Vergangenheit nur teilweise ehrlich gemacht haben,
haben jetzt noch ein Jahr Zeit, um sich insgesamt ehrlich Gleichzeitig hat der Bundesgerichtshof vernünftige
zu machen. Dann können sie davon profitieren. Aber Strafzumessungsregeln aufgestellt. Ab 1 Million Euro
nach unserer Ansicht darf es keinen Vertrauensschutz für hinterzogene Steuern gibt es grundsätzlich keine Straf-
unehrliche Leute geben, die so tun, als würden sie sich aussetzung zur Bewährung mehr. Das ist eine richtige
ehrlich machen, und in Wirklichkeit mit ganz kaltem Entscheidung. Wir haben dann bei den Steuer-CDs ent-
Kalkül weiterhin die ehrlichen Menschen in diesem schlossen zugegriffen. Ich zitiere die Bundeskanzlerin
Lande betrügen. So geht es nicht. vom Februar 2002:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Vom Ziel her sollten wir, wenn diese Daten relevant
bei der SPD und der LINKEN) sind, auch in den Besitz dieser Daten kommen.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundeskanzlerin
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: eindrucksvoll bestätigt. Zudem schließen wir im interna-
Der Kollege Manfred Kolbe hat jetzt das Wort für die tionalen Bereich fast wöchentlich Abkommen ab, mit
CDU/CSU-Fraktion. denen wir den Informationsaustausch nach OECD-Stan-
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der dard vereinbaren und somit die internationale Steuerhin-
CDU/CSU: Jetzt kommt endlich ein sachlicher terziehung bekämpfen. Diese Bundesregierung ist er-
Beitrag!) folgreich bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Manfred Kolbe (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schick, wenn ich versuche, herauszubekommen,
Es war allen drei Oppositionsrednern physisch förmlich was Rot-Grün – Sie haben schließlich von 1998 bis 2005
anzumerken, dass sie sich ärgern, dass der Koalition regiert – in sieben Jahren geschafft hat, dann stelle ich
wieder einmal ein guter Gesetzentwurf, diesmal zur fest, dass das fast nichts ist. Das mag daran liegen, dass
(B) Reform der strafbefreienden Selbstanzeige gemäß Sie damals dem Hohen Hause noch nicht angehört ha- (D)
§ 371 AO, geglückt ist. ben. Aber in Erinnerung sind mir nur ein völlig ver-
korkster § 370 a AO – den mussten wir aufheben – und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- eine Steueramnestie geblieben, die alles andere als ein
chen bei der SPD, der LINKEN und dem Ruhmesblatt war. Das ist die rot-grüne Bilanz bei der
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Gerhard Bekämpfung von Steuerhinterziehung.
Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr
Sinn für Humor ist wunderbar, Herr Kolbe! – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Dr. Daniel Volk [FDP]: Gut für das Land, der FDP – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/
schlecht für die Opposition!) DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)
Keine eigenen Vorschläge außer der Totalabschaffung, Das Gesetz, über dessen Entwurf wir heute in erster
mehr als ein „weg damit“ wird nicht geboten. Es wird Lesung beraten, sieht eine Neuregelung der strafbefrei-
noch gesagt, es sei ein bisschen zu wenig, zwar richtig, enden Selbstanzeige nach § 371 AO vor und geht auf
aber eine Minimallösung usw. Dies zeigt, dass wir auf eine Initiative meiner Fraktion zurück. Diese Initiative
dem richtigen Wege sind und einen guten Gesetzentwurf haben wir im März gestartet, also vor dem Urteil des
vorgelegt haben. Bundesgerichtshofs, um das hier einzuflechten. Wir, die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Union, haben damals drei Maßnahmen gefordert.
Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Erstens. Wir wollen den Ausschluss der Selbstanzeige
NEN]: Zur Sache, bitte!) bereits bei Bekanntgabe der Prüfungsanordnung und
Damit setzt die unionsgeführte Bundesregierung ihre nicht erst bei Erscheinen des Prüfers. Wir wollen keine
konsequente Politik der Bekämpfung der Steuerhinter- Klausurfälle mehr, in denen davon, ob der Prüfer vor
ziehung seit 2005 fort. Was haben wir seit 2005 – in den oder hinter dem Gartenzaun steht, abhängt, ob die
ersten Jahren teilweise im Zusammenwirken mit der Selbstanzeige wirksam ist oder nicht. Die Bekanntgabe
SPD – erreicht? Wir haben endlich eine vernünftige ist nun entscheidend.
Strafvorschrift – § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 AO – für die Zweitens. Wir wollen eine umfassende Selbstanzeige.
bandenmäßige Hinterziehung von Umsatz- und Ver- Teilselbstanzeigen werden nicht mehr anerkannt.
brauchsteuern geschaffen. Wir haben erstmals eine Tele-
kommunikationsüberwachung für schwere Steuerhinter- Drittens. Wir wollen einen Zuschlag auf die Hinter-
ziehungstatbestände eingeführt; das gab es vorher nicht. ziehungszinsen, um den Steuerhinterzieher wirtschaft-
Wir haben die Verjährungsfrist für besonders schwere lich stärker zu belasten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9007
Manfred Kolbe
(A) Wie sah Ihre Reaktion aus, meine Damen und Herren Das ist richtig. Aber wir gehen jetzt einen vernünfti- (C)
von der SPD? Sie war simpel. Zuerst haben Sie sich wo- gen Mittelweg, um beiden gerecht zu werden, während
chenlang geärgert, dass die Union bei der Bekämpfung die Totalabschaffung der Steuergerechtigkeit nicht die-
der Steuerhinterziehung wieder vorne war. Dann kam nen würde.
der Antrag auf Totalabschaffung. Diesen haben Sie heute
kaum noch vertreten, weil dieser im Bundesrat sang- und (Beifall bei der CDU/CSU)
klanglos untergegangen ist. Der Freistaat Bayern hat die Lassen Sie mich abschließend noch einen Satz zum
Unionsinitiative aufgegriffen. 15 von 16 Bundesländern Zuschlag sagen. Derzeit gibt es einen Wertungswider-
haben sich im Bundesrat unserer Initiative angeschlos- spruch. Einerseits werden gemäß § 235 AO pro Jahr
sen. 6 Prozent Hinterziehungszinsen erhoben, andererseits
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- beträgt der Säumniszuschlag gemäß § 240 AO, wenn ich
neten der FDP) beispielsweise einmal aus Schusseligkeit die Umsatz-
steuererklärung ein paar Tage oder nur einen Tag zu spät
Ich zitiere wörtlich den Finanzminister von Rheinland- abgebe, 1 Prozent pro Monat. Das ist ein Wertungswi-
Pfalz, Herrn Kühl, vom April dieses Jahres: derspruch, auf der einen Seite 6 Prozent per annum für
den Hinterzieher, auf der anderen Seite 12 Prozent per
Ich bin dafür, dass wir die Möglichkeit der Strafbe- annum für den bloß schusseligen Säumigen.
freiung durch Selbstanzeige beibehalten. Letztlich
profitiert der Staat davon, denn wer sich selbst an- Deshalb meinen wir als Union, hier wäre ein Zu-
zeigt, muss alles offenlegen. Das ist viel effektiver schlag sachgerecht, damit der Steuerhinterzieher wirt-
als der Einsatz von Ermittlern. schaftlich spürbarer belastet würde als der ehrliche Steu-
erzahler. Dieser Zuschlag, Herr Volk, wäre keine Strafe,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
hätte keinen Strafcharakter, sondern wäre eine steuerli-
neten der FDP)
che Nebenleistung, wie sie schon jetzt in der Abgaben-
Den Worten Ihres Finanzministers kann man nur wenig ordnung vorgesehen ist, beispielsweise gemäß § 162
hinzufügen. Abs. 4 Satz 2 Abgabenordnung bei der Verletzung von
Dokumentationspflichten bei Sachverhalten mit Aus-
Die Selbstanzeige ist auch kein isolierter Fremdkör- landsbezug. Der Zuschlag ist ein typisierendes Äquiva-
per im Strafrecht. Es gibt vergleichbare Strafbefreiungs- lent für den Mehraufwand, der der Finanzverwaltung
vorschriften auf vielen anderen Gebieten. Es gibt § 149 durch die fehlende Mitwirkung des Steuerhinterziehers
Abs. 2 Strafgesetzbuch: Wegen Fälschung von Geld- entsteht.
und Wertzeichen wird nicht bestraft, „wer freiwillig die
(B) Fälschungsmittel, soweit sie noch vorhanden und zur Wir werden in der Anhörung prüfen, ob wir dafür (D)
Fälschung brauchbar sind, vernichtet“. Es gibt § 261 eine verfassungsfeste Formulierung finden können. Im
Abs. 9 Strafgesetzbuch: Wegen Geldwäsche wird nicht Ausschuss werden wir dann noch darüber zu reden ha-
bestraft, „wer die Tat freiwillig bei der zuständigen Be- ben, ob wir diese Regelung treffen oder nicht.
hörde anzeigt“. Es gibt § 264 Abs. 5 Strafgesetzbuch:
(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wegen Subventionsbetrug wird nicht bestraft, „wer frei-
NEN]: Sagen Sie mal was zum Vertrauens-
willig verhindert, dass aufgrund der Tat die Subvention
schutz!)
gewährt wird“.
Vorerst bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit
Das sind alles vergleichbare Vorschriften, nach denen
und bitte Sie alle, diesen guten Gesetzentwurf zu unter-
auch ein gesetzlicher Anspruch auf Strafbefreiung be-
stützen.
steht, nicht nur auf Milderung im Gerichtsverfahren.
§ 371 AO ist kein Fremdkörper, sondern er entspricht ei- Danke.
nem allgemeinen Rechtsgedanken.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie haben gar nichts zum Vertrauens-
Deshalb werden wir ihn auch nicht abschaffen. Sowohl
der Herr Staatssekretär als auch der Vorredner haben ja schutz gesagt!)
schon ausgeführt, was eine Abschaffung in der Praxis
bedeuten würde. Jeder Berichtigungsfall ginge mögli- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
cherweise zur Staatsanwaltschaft. Ich schließe die Aussprache.
(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist nicht wahr!) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/4182 an die Ausschüsse vorge-
Das kann nicht gewünscht sein, auch von der Effektivität schlagen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. Gibt
her nicht. Immerhin haben wir dieses Jahr bisher über es dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
28 000 Selbstanzeigen. Selbst wenn Sie das Personal Dann ist die Überweisung so beschlossen.
verdoppeln oder verdreifachen, würden Sie diese Fälle
nicht aufklären. Ich kann wieder nur Herrn Kühl zitie- Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 10 auf:
ren:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Mir ist bewusst, dass Strafgerechtigkeit und Steuer- richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
gerechtigkeit hier im Konflikt miteinander stehen. dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin
9008 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) von Notz, Wolfgang Wieland, Jerzy Montag, wei- In anderen EU-Mitgliedstaaten – das ist das beson- (C)
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- ders Interessante –, wo niemand geklagt hat, wo es keine
NIS 90/DIE GRÜNEN politische Diskussion gegeben hat, sind die Zahlen auch
nicht besser. Es gibt also keine belastbaren Zahlen dafür,
Keine Vorratsdatenspeicherungen über den dass die anlasslose millionenfache Speicherung von Ver-
Umweg Europa bindungsdaten zur Kriminalitätsbekämpfung unbedingt
– Drucksachen 17/1168, 17/3589 – notwendig ist.

Berichterstattung: (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/


Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Dr. Eva Högl LINKEN)
Christine Lambrecht Was mich persönlich wirklich umtreibt – das habe ich
Christian Ahrendt auch an anderer Stelle schon gesagt –, ist die Tatsache,
Halina Wawzyniak dass dann, wenn es ums Geld geht, nämlich bei Urheber-
Jerzy Montag rechtsverletzungen, allein im letzten Jahr von der Tele-
Verabredet ist es, hierzu eine halbe Stunde zu debat- kom 2,7 Millionen IP-Adressen gespeichert bzw. ver-
folgt und mitgeteilt werden konnten. Ich frage mich
tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
ernsthaft: Wie kann es sein, dass das dann, wenn es ums
Dann eröffne ich die Aussprache und gebe das Wort Geld geht, um die Verfolgung von Urheberrechtsansprü-
der Kollegin Gisela Piltz für die FDP-Fraktion. chen, leichter möglich sein soll als bei – in Anführungs-
zeichen – normaler Kriminalität?
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Jan Korte [DIE LINKE]: Das hätte ich nicht
besser sagen können!)
Gisela Piltz (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir haben hier ein Vollzugsdefizit und
Wir diskutieren heute zum wiederholten Mal über ein nicht so sehr ein Umsetzungsdefizit. Wir setzen daher
Thema, mit dem wir uns beschäftigen müssen, weil das ganz klar auf die Evaluierung der Richtlinie in der EU.
Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein Gesetz der Die Bundesjustizministerin hat das mehrfach sehr deut-
Vorgängerregierung quasi pulverisiert hat. Karlsruhe hat lich gemacht. Deshalb brauchen die Grünen das auch gar
ganz deutlich die Rote Karte für die bisherige Regelung nicht per Antrag einzufordern.
der Vorratsdatenspeicherung gezeigt. Nach Auffassung
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
(B) der Liberalen kann es daher bei diesem Thema ein (D)
Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
schlichtes „Weiter so“ mit einigen kleinen Stellschrau-
GRÜNEN]: Gut gemeint!)
ben nicht geben.
Wir tun das. Wir setzen uns für das sogenannte Quick-
(Beifall bei der FDP) Freeze-Verfahren, für die anlassbezogene Pufferung von
Vielmehr müssen wir gründlich nachdenken, was wirk- Daten ein, damit Strafverfolgung da möglich ist, wo sie
lich notwendig ist und was verfassungsrechtlich verein- notwendig ist. Wir sind gern bereit, unseren Vorschlag
bar ist mit dem, was wir das Grundgesetz nennen. mit allen Fraktionen im Deutschen Bundestag zu disku-
tieren. Wir freuen uns auf eine gute Debatte.
Sie alle wissen, dass derzeit in Europa eine Evaluie-
rung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung läuft. Herzlichen Dank.
Im September sollten eigentlich Vorschläge dafür vorlie- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
gen, was passieren soll. Doch offensichtlich hat die der CDU/CSU)
Kommission in Brüssel dasselbe Problem, das hie und
da die Bundesregierung in Karlsruhe gehabt hat, nämlich
klar und deutlich nachzuweisen, dass die Vorratsdaten- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
speicherung, wie sie von Brüssel vorgesehen ist und wie Jetzt hat Eva Högl das Wort für die SPD-Fraktion.
sie hier auch umgesetzt worden ist, wirklich Vorteile
(Beifall bei der SPD)
bringt und das ist, was die Sicherheitsbehörden brau-
chen.
Dr. Eva Högl (SPD):
Dazu muss man sich nur einmal ein paar Zahlen anse- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
hen. Die Aufklärungsquote bei Straftaten im Internet vor gen! Frau Piltz, das Angebot nehmen wir an. Aber dann
der Einführung der Vorratsdatenspeicherung betrug legen Sie doch einmal etwas vor! Darauf warten wir
82,9 Prozent im Jahr 2007 und nach Einführung der Vor- ganz gespannt. Wir haben vernommen, dass die Spitzen
ratsdatenspeicherung 75,7 Prozent im Jahr 2009. Da der Koalition das Thema auf 2011 vertagt haben und
wurde das Gesetz schon angewandt. dass das Bundesjustizministerium aufgefordert ist, bis
(Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist komisch!) Ende 2010 noch einen Bericht über die Vorratsdatenspei-
cherung vorzulegen. Nun schauen wir auf den Kalender
Das heißt doch, dass die Vorratsdatenspeicherung an und stellen fest, dass das Jahr noch 16 Tage hat, eher 15;
sich offensichtlich nicht das beste Mittel ist. wir sind ja jetzt schon am Abend. Wir warten gespannt,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9009
Dr. Eva Högl
(A) was wir unter dem Tannenbaum zur Vorratsdatenspei- wir. Wir müssen das europäische Recht gestalten. Wir (C)
cherung lesen dürfen. sind ein großer Staat mit viel Gewicht. Ich möchte an
dieser Stelle, anders als es sich in der Europapolitik der
(Gisela Piltz [FDP]: Ich hoffe, dass Sie unter Bundesregierung zeigt, nicht sagen, was ich nicht will,
dem Tannenbaum nicht so etwas lesen müs- sondern ich möchte Europa gestalten, liebe Kolleginnen
sen!) und Kollegen. Wir haben dazu die Chance.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
wir lesen immer nur, dass Sie sich nicht einigen können. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir sehen, dass Sie nicht handlungsfähig und nicht in Frau Kollegin, würden Sie eine Zwischenfrage des
der Lage sind, dieses wichtige Thema zu entscheiden. Kollegen Höferlin zulassen?
(Beifall der Abg. Christine Lambrecht [SPD])
Frau Piltz hat gesagt: Es darf kein „Weiter so“ geben. – Dr. Eva Högl (SPD):
Dem kann man zustimmen. Das Bundesverfassungsge- Ja, bitte sehr.
richt hat entschieden. Wir warten darauf, dass Sie etwas
vorlegen. Sie sind am Zug. Wir wollen hier über etwas Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
diskutieren. Bitte schön.
(Jan Korte [DIE LINKE]: Aber was ist Ihre
Meinung?) Manuel Höferlin (FDP):
– Ich komme dazu; ich habe ja noch ein paar Minuten. Vielen herzlichen Dank. – Frau Kollegin Högl, ich
lese im Bericht des Rechtsausschusses, dass die SPD-
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Was ist Fraktion Folgendes von sich gegeben hat:
das für eine Unruhe hier? – Gegenruf des Abg.
Jan Korte [DIE LINKE]: Ich bin eben interes- Die Richtlinie 2006/24/EG werde derzeit auf euro-
siert!) päischer Ebene evaluiert. Das Ergebnis solle zu-
nächst abgewartet werden.
Inakzeptabel ist meiner Meinung nach das Argument:
Wir warten auf Europa. – Darüber müssen wir uns wirk- Können Sie mir den Zusammenhang zwischen dieser
lich einmal auseinandersetzen. Die Grünen haben den Aussage und dem, was Sie eben gesagt haben, erklären?
Antrag mit dem Titel „Keine Vorratsdatenspeicherungen Den verstehe ich nicht ganz.
über den Umweg Europa“ vorgelegt. Ich finde übrigens:
(B) Europa ist nie ein Umweg. Aber wir müssen uns darüber Dr. Eva Högl (SPD): (D)
unterhalten, ob wir auf Europa warten können oder Das bezog sich auf den Antrag der Grünen.
nicht.
(Manuel Höferlin [FDP]: Da sind wir doch
Wir sind der Auffassung, dass wir in Deutschland ent- jetzt! Das ist doch jetzt Thema!)
scheiden müssen, wie es mit der Vorratsdatenspeiche-
rung weitergeht. Das Bundesverfassungsgericht hat am – Genau. Der Titel des Antrags der Grünen ist: „Keine
2. März dieses Jahres entschieden, dass die Vorratsdaten- Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“.
speicherung mit Art. 10 Grundgesetz unvereinbar ist. Es Ich sage aber: Wir dürfen nicht auf Europa warten, son-
hat klare Kriterien und klare Voraussetzungen formu- dern wir müssen unsere Position in Europa einbringen.
liert, unter denen eine Vorratsdatenspeicherung möglich Das ist ein Unterschied. Deswegen haben wir uns da-
wäre, wenn man sie denn möchte. mals so positioniert und bei der Abstimmung über den
Antrag der Grünen enthalten.
Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt – ich
will das zitieren, weil das sehr eindringlich war und für Ich will kurz ausführen – ich glaube, wir sind gar nicht
uns auch ein Handlungsauftrag ist –: Anlasslose Speiche- so weit voneinander entfernt –, warum ich es falsch finde,
rung von Telekommunikationsverkehrsdaten ist geeignet, auf Europa zu warten. Ich habe es schon gesagt: Wir müs-
„ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins her- sen unsere Position in Europa einbringen. Wir haben dazu
vorzurufen“, das „eine unbefangene Wahrnehmung der eine Chance. Es gibt jetzt einen neuen Vertrag, den Ver-
Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen“ kann. trag von Lissabon, und die Grundrechtecharta. Das gibt
Wir alle haben das gut gelesen. die Gelegenheit, die Balance von Bürgerrechten und Si-
Diese Frage, liebe Kolleginnen und Kollegen, können cherheit – ich habe das im Deutschen Bundestag schon
wir nicht kommentarlos nach Europa delegieren. Diese öfter gesagt – neu zu justieren. Das ist eine Riesenchance.
Frage müssen wir hier im Deutschen Bundestag beant- Die Bürgerinnen und Bürger warten darauf, dass wir uns
worten. Wir müssen anhand der Maßstäbe des Grundge- positionieren. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass
setzes entscheiden, wie wir bei der Vorratsdatenspeiche- die Richtlinie evaluiert wird. Denn es gibt mit dem Ver-
rung weiter vorgehen. Wir im Deutschen Bundestag sind trag von Lissabon und der Grundrechtecharta neue Maß-
als Gesetzgeber gefragt. stäbe. Außerdem ist die Richtlinie in einigen Mitglied-
staaten nicht umgesetzt – das wissen wir auch –, und in
Ich will noch einen zweiten Grund nennen, warum es einigen Mitgliedstaaten haben die Verfassungsgerichte
falsch ist, auf Europa zu warten. Wir sind nicht irgendein wie in Deutschland die nationale Umsetzung der Richtli-
Mitgliedstaat in der Europäischen Union; das wissen nie kritisiert.
9010 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Eva Högl


(A) Es gibt also Bewegung in der Debatte um Vorratsda- Dr. Eva Högl (SPD): (C)
tenspeicherungen. Auch die Entscheidung des Europäi- Ja, der Kollege noch einmal. Aber sicher!
schen Gerichtshofs steht noch aus. Wir müssen die
neuen Maßstäbe, die sich aufgrund der neuen Vertrags- Manuel Höferlin (FDP):
grundlagen ergeben, nutzen. Aber ich sage – darin unter-
Frau Högl, ich habe noch nicht ganz verstanden, wo-
scheiden wir uns von den Koalitionsfraktionen und der
für Sie stehen und wie Sie zu dem Antrag stehen. Viel-
Bundesregierung –: Wir dürfen nicht tatenlos dabei zu-
leicht hilft es Ihnen, wenn ich aus der letzten Sitzungs-
sehen, was in Europa passiert, sondern wir müssen un-
woche vorlese, was der Kollege Olaf Scholz aus Ihrer
sere Vorstellungen in die europäische Debatte einbrin-
Fraktion gesagt hat.
gen.
(Gisela Piltz [FDP]: Das tun wir doch auch!) Dr. Eva Högl (SPD):
Wir erwarten von der Kommission einerseits, dass bei Ja.
der Evaluierung das Ergebnis nicht schon vorgegeben
wird, sondern dass sie ergebnisoffen durchgeführt wird. Manuel Höferlin (FDP):
Im Übrigen schreiben auch vier Mitglieder der FDP- Er sagte zum Thema Vorratsdatenspeicherung:
Bundestagsfraktion an die Kommissarin Malmström,
dass sie das erwarten. Da haben wir sogar die gleiche Ich jedenfalls versichere Ihnen gerne, dass die So-
Auffassung. zialdemokratische Partei, wenn Sie das aufrechter-
halten wollen, was schon einmal da war, oder in
(Manuel Höferlin [FDP]: Wir haben wenigs- einer gesetzlich neuen Fassung wiederherstellen
tens etwas getan!) wollen, Ihnen Unterstützung leistet.
Wir erwarten andererseits von der Bundesregierung, Ich verstehe das so, dass die sozialdemokratische Frak-
dass sie etwas vorlegt und sagt, was sie in die Evaluie- tion gerne möchte, dass die Vorratsdatenspeicherung so,
rung einbringt. Darin besteht der Unterschied; denn dazu wie sie schon einmal war, oder in einer neuen Form wie-
haben wir von Ihnen bisher überhaupt noch nichts gese- deraufersteht. Ist das so?
hen.
Dr. Eva Högl (SPD):
(Manuel Höferlin [FDP]: Und wir von Ihnen
nichts gehört!) Lieber Herr Kollege, wenn Sie meine Sätze zuvor ge-
hört hätten und sich nicht darauf konzentriert hätten,
– Sie sind am Zug, Sie müssen etwas vorlegen. nachzulesen, was Olaf Scholz gesagt hat, dann hätten Sie
(B) gehört, dass ich für die Fraktion der SPD angeboten (D)
Wir wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die habe, konstruktiv mitzuarbeiten. Wir haben allerdings
Kommission auf die deutsche Positionierung wartet. nichts auf dem Tisch liegen.
Deutschland ist am Zug. Wir haben uns im Rechtsaus-
schuss mit der Kommissarin Reding und in Brüssel mit (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
der Kommissarin Malmström unterhalten. Beide haben GRÜNEN]: Sind Sie denn dafür oder dage-
uns gesagt, dass wir unsere Position in die Evaluierung gen? Das ist doch die entscheidende Frage!)
einbringen müssen und dass die Kommission darauf
Am 2. März ist ein Urteil des Bundesverfassungsge-
wartet, dass Deutschland als großer Mitgliedstaat seine
richts ergangen. Wir haben jetzt den 16. Dezember. Wir
Auffassung deutlich macht.
haben klare Kriterien aufgestellt und erwarten jetzt, dass
Deswegen sage ich es noch einmal: Sie sind am Zug. Sie als Koalition etwas vorlegen, das die folgenden Kri-
Wir bieten an, konstruktiv mitzudiskutieren. Aber uns terien berücksichtigt: Datensicherheit, Begrenzung der
muss hier im Deutschen Bundestag etwas vorgelegt wer- Verwendung – das ist ja schon gesagt worden und in der
den. Diskussion –,

(Beifall bei der SPD) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ein dünnes Brett!)
Ein Brief von FDP-MdBs an die Kommissarin reicht
nicht aus, sondern wir wollen von der Bundesregierung Transparenz, das heißt, die Bürgerinnen und Bürger
und den Koalitionsfraktionen etwas vorgelegt bekom- müssen informiert werden über das, was gespeichert
men. wird, und Rechtsschutz. Nun sind Sie am Zug, etwas
vorzulegen.
(Gisela Piltz [FDP]: Das, was Sie vorgelegt haben,
hat das Verfassungsgericht kassiert!) (Gisela Piltz [FDP]: Das hätten Sie alles besser
machen können! Späte Erkenntnis!)
Ich will noch einmal kurz daran erinnern, was uns das
Wir wissen auch, dass Sie sich nicht einigen können.
Bundesverfassungsgericht – –
Das lesen wir ja jeden Tag in der Presse.

Vizepräsidentin Petra Pau: Deswegen sage ich noch einmal: Der Ball ist in Ihrem
Feld. Wir bieten an, konstruktiv mitzuarbeiten.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kolle-
gen Höferlin? (Zuruf von der FDP: Sie enthalten sich!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9011
Dr. Eva Högl
(A) Insofern besteht kein Unterschied zu den Aussagen mei- Aufhebung der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie for- (C)
nes stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Olaf Scholz. dern.
(Zuruf von der FDP: Das ist gar keine Mei- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
nung!) GRÜNEN]: In der Tat! Für uns zu Weihnach-
ten! Los geht’s!)
– Das ist eine klare Position, aber selbstverständlich.
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und Bei der Vorratsdatenspeicherung handelt es sich um bin-
der FDP – Jan Korte [DIE LINKE]: Volle dendes Europarecht. Eine Richtlinie bedarf der Umset-
Kampfkraft hier!) zung. Das müssen inhaltlich die Mitgliedstaaten machen.
Die Umsetzung hätte letztendlich bis zum 15. März 2009
Meine Damen und Herren, wir warten ab, was Sie vorle- erfolgen müssen. Sprich: Wir haben derzeit einen europa-
gen. Die SPD wird sich dann eine Meinung bilden. Wir rechtswidrigen Zustand. Wir verletzen die europäischen
werden uns konstruktiv einbringen. Verträge. Sie fordern, dass wir genau das weitermachen.
Dazu kann ich nur sagen: Auf welchen europarechtlichen
Ich will noch einmal daran erinnern, was das Bundes- Grundsätzen stehen Sie eigentlich, wenn Sie sehenden
verfassungsgericht gesagt hat. Weil ich das wichtig ge- Auges in die Rechtswidrigkeit hereinrennen wollen? Das
nug finde und das ja wirklich ein ganz entscheidender ist schon etwas abstrus.
Punkt in der Debatte ist, möchte ich gerne, dass die Bun-
desregierung und die Koalitionsfraktionen in der weite- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
ren Debatte das auch berücksichtigen und in die europäi-
sche Debatte einspeisen, nämlich dass Möglichkeiten Die Vorratsdatenspeicherung ist aus sicherheitspoliti-
zur Wahrnehmung der Rechte der Bürgerinnen und Bür- schen Aspekten ein dringend benötigtes Instrument.
ger bei der Registrierung von Daten zur verfassungs- Deswegen haben fast alle Länder diese Richtlinie umge-
rechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland setzt: 20 Länder haben die Richtlinie umgesetzt, in drei
gehören. Von Ihrer Seite, liebe Kolleginnen und Kolle- Ländern befindet sie sich in der Umsetzung, und in zwei
gen, habe ich nicht gehört, dass das erfolgen soll. Es gibt Ländern haben Verfassungsgerichte die Umsetzung auf-
keinen Beitrag zur Evaluierung. Sie haben keine klare gehoben, nämlich bei uns in Deutschland und in Rumä-
Position dazu, was Sie in Europa vortragen wollen. Des- nien. Die ganz überwiegende Mehrheit der Länder hat
wegen komme ich zu dem Ergebnis: Nichtstun ist keine die Richtlinie umgesetzt und arbeitet erfolgreich mit der
Antwort. Wir haben aber eine klare Position. Diese wer- Richtlinie; das müssen wir auch sagen.
den wir einbringen. Wir haben ein Problem durch die Entscheidung des
(B) Vielen Dank. Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010. Es ist ja (D)
nicht so, wie es gerade dargestellt worden ist, dass das
(Beifall bei der SPD) Bundesverfassungsgericht gesagt hätte, die Vorratsda-
tenspeicherung wäre verfassungswidrig. Ich zitiere Ih-
Vizepräsidentin Petra Pau: nen auch einmal einen Satz aus dem Urteil:
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Sensburg Eine sechsmonatige, vorsorglich anlasslose Spei-
das Wort. cherung von Telekommunikationsverkehrsdaten …
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ist mit Art. 10 GG nicht schlechthin unvereinbar …
neten der FDP)
Das Verfassungsgericht sagt also ganz deutlich: Das,
was uns die europäische Richtlinie vorgibt, ist mit unse-
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): rer Verfassung vereinbar, aber nur dann – auch das hat
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und das Bundesverfassungsgericht ganz deutlich gesagt –,
Herren! Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen – ich wenn Datensicherheit, Datenverwendung, Transparenz
sage das direkt von vorne her frei heraus – ist politisch und Rechtsschutz gegeben sind.
durchschaubar, europarechtlich fragwürdig, wenn nicht
gar grenzwertig, und sicherheitspolitisch verantwor- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
tungslos. GRÜNEN]: Wo ist das? Los geht’s!)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir müssen jetzt daran arbeiten, dass wir eine Richtli-
neten der FDP – Dr. Konstantin von Notz nie hinbekommen, die das erfüllt. Die Koalition wird so
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oi, oi, oi!) etwas vorlegen.
Herr Kollege von Notz, damit erübrigt sich auch die (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Frage nach unserer Position, die Sie ja eben noch an die NEN]: Wann denn?)
SPD gestellt haben.
Karlsruhe hat klipp und klar gesagt: Die Vorratsdaten-
(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: speicherung ist nicht verfassungswidrig, sondern sie ist
Aber die FDP sieht das anders!) verfassungsgemäß. – Wir als Gesetzgeber müssen jetzt
handeln. Dazu muss die Bundesregierung einen entspre-
Sie beantragen, die Bundesregierung möge weiteren chenden Vorschlag vorlegen.
Vorhaben zur Vorratsdatenspeicherung auf europäischer
Ebene entgegentreten, und, man solle die vollständige (Beifall bei der CDU/CSU)
9012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Patrick Sensburg


(A) Eigentlich, meine Damen und Herren von Bünd- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (C)
nis 90/Die Grünen, dürften Sie nicht die vollständige Christine Lambrecht [SPD]: Wo werden Sie
Aufhebung der Richtlinie fordern. Im Grunde genommen denn tätig? – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE
müssten Sie die zügige Umsetzung fordern, wenn Sie GRÜNEN]: Sind Sie nicht die Regierung?)
rechtmäßig handeln würden.
Hinzu kommt noch die Überlegung, dass Sie meinen,
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Quick Freeze wäre die Alternative zur Vorratsdatenspei-
GRÜNEN]: Rechtmäßig handeln wir ja cherung. Auch ich bin inzwischen ein Befürworter von
schon!) Quick Freeze geworden, weil Quick Freeze nämlich
ganz eindeutig die Vorratsdatenspeicherung voraussetzt;
Sie sagen immer: Setzen Sie europäisches Recht endlich denn man kann nichts einfrieren, was man vorher nicht
in nationales Recht um, wie es Ihre Aufgabe ist. – Dazu gespeichert hat.
kann man nur sagen: Man kann Frau Malmström nur da-
für danken, dass die Richtlinie evaluiert wird. Sie wird (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich dachte,
aber evaluiert, um zu schauen, wie gut es läuft und wo das sei die Position der Bundesjustizministerin!
Verbesserungen notwendig sind. Mit wem reden Sie eigentlich? Da müssen Sie
zur FDP gucken und zum Herrn Staatssekretär
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Stadler, zur Bundesregierung! Sprechen Sie
GRÜNEN]: Und wie gut läuft es?) einmal mit der Bundesregierung! Sind Sie ei-
gentlich Koalitionsabgeordneter?)
Wir werden nicht vor dem Frühjahr nächsten Jahres mit
Ergebnissen rechnen können. Wenn diese auch noch im- Gucken wir uns einmal die Fälle an, die aufgetreten
plementiert werden müssen, dann wird es noch andert- sind: Aus Luxemburg sind uns 1 200 IP-Adressen von
halb bis zwei Jahre dauern. Das soll aber nicht heißen, Delikten gemeldet worden. Dann muss geschaut werden,
dass wir einen europarechtswidrigen Zustand so lange wem sich diese IP-Adresse zuordnen lässt und wie man
aufrechterhalten. Vielmehr haben wir die Pflicht, die sie matchen kann. Dazu kann man nur sagen: Das sind
Richtlinie verfassungskonform und europarechtskon- keine Alternativen, sondern wir brauchen die Vorratsda-
form umzusetzen. Das müssen wir machen. Auch Frau tenspeicherung. Das ist genauso, als wenn Sie bei einem
Malmström hat das am 3. Dezember ganz deutlich ge- Banküberfall zwar ein Autonummernschild registrieren,
sagt. Dass evaluiert wird, entbindet nicht von der Ver- dann aber den Halter nicht ermitteln können, weil es
pflichtung, die Richtlinie umzusetzen. Das meinen Sie keine Hinterlegung gibt, wem dieses Autokennzeichen
aber; allerdings ist das falsch. Wir müssen die Richtlinie zuzuordnen ist. Wir brauchen also die Vorratsdatenspei-
umsetzen. Ich glaube, da stellen Sie Ihre politischen cherung für die Ermittlung von schweren und schwers-
(B) Wünsche über die Rechtsstaatlichkeit. So geht es leider ten Straftraten. Wir können nicht einfach wegsehen, wie (D)
nicht. Sie es machen wollen, und sagen: Das legen wir jetzt ad
acta.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Verweigern Sie sich nicht aus ideologischen Gründen,
Die Generalstaatsanwälte haben auf ihrer Arbeitsta- die Vorratsdatenspeicherung zu überarbeiten und zuzu-
gung vom 9. bis 11. November Folgendes beschlossen lassen. Wir werden das machen. Wir werden die Vorrats-
– ich trage Ihnen das einmal vor; vielleicht trägt das zu datenspeicherung verfassungskonform ausgestalten. Ihr
Ihrer Erhellung bei –: Die Generalstaatsanwältinnen und Antrag hat weder Hand noch Fuß. Deswegen kann man
Generalstaatsanwälte sowie die Generalbundesanwältin ihn nur ablehnen.
stellen fest, dass der Wegfall der Vorratsdatenspeiche-
rung dazu geführt hat, dass auch schwere und schwerste Danke schön.
Straftaten nicht mehr aufgeklärt werden können. Sie hal-
ten eine schnelle gesetzliche Regelung nach Maßgabe (Beifall bei der CDU/CSU)
des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März
2010 für dringend erforderlich. – Auch da sagen unsere Vizepräsidentin Petra Pau:
Strafverfolgungsbehörden, dass wir die Vorratsdaten- Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion
speicherung brauchen. Die Linke.
(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der LINKEN)
Wenn sie dringend erforderlich ist, warum tun
Sie das nicht dringend?) Jan Korte (DIE LINKE):
– Wir machen das. Warum stellen Sie solche Anträge? Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das war gerade immerhin ein Standpunkt; das muss man
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sagen. Hingegen hat Kollegin Högl nur gesagt, es sei
„sehr richtig und wichtig, dass die Richtlinie evaluiert
Wir debattieren über Ihren Antrag. Das scheint Ihnen wird“ und sie von der Bundesregierung erwarte, „dass
entgangen zu sein. Sie bringen einen Antrag ein „Vor- sie etwas vorlegt und sagt, was sie in die Evaluierung
ratsdatenspeicherung entgegenwirken – Richtlinie auf- einbringt“.
heben“ und fragen uns, warum wir jetzt tätig werden.
Das ist wirklich skurril. Dann ziehen Sie doch Ihren An- (Christine Lambrecht [SPD]: Wir sind nicht an
trag zurück. der Regierung!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9013
Jan Korte
(A) Allerdings müssten die Sozen einmal klären, was ihre Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): (C)
Meinung dazu ist. Dann könnte man darüber diskutieren. Herr Kollege Korte, ist Ihnen bekannt, dass man euro-
Andere Oppositionsparteien haben sich eine Meinung päische Richtlinien innerhalb der Frist, die in der Richt-
gebildet; auch die CDU/CSU und die FDP haben eine linie genannt ist, umzusetzen hat? Macht das ein Mit-
Meinung. Nur die Sozen haben keine Meinung dazu. gliedstaat nicht, verstößt er gegen Europarecht, gegen
Das ist die Situation. Damit ist man raus aus der Debatte. die europäischen Verträge, die wir alle unterzeichnet ha-
ben.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Schimpfen Sie
nicht auf die! Vielleicht brauchen Sie die noch (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
einmal!) GRÜNEN]: Wir nicht!)
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat Dann besteht sogar die Möglichkeit, dass es zu einem
sich nichts geändert – ich darf überraschenderweise sa- Vertragsverletzungsverfahren kommt. Ist Ihnen das be-
gen, dass die Kollegin Piltz da schlicht recht hat –: Wir kannt? Denn gerade haben Sie gesagt, es bleibe uns
hatten vor der Einführung der Vorratsdatenspeicherung überlassen, ob wir das machen oder nicht.
offensichtlich kein größeres Problem; nach der Ausset-
zung der Vorratsdatenspeicherung durch das Bundesver- Jan Korte (DIE LINKE):
fassungsgericht gibt es offensichtlich auch kein größeres Wir beschließen das hier im Bundestag. Wer im Glas-
Problem. Es ist nicht so, dass jetzt auf einmal überall die haus sitzt, sollte bekanntlich nicht mit Steinen werfen.
Kriminalität explodiert. Kollegin Piltz, in diesem Falle Fakt ist: Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass
haben Sie sehr recht. Ich hoffe, dass Sie das auch Ihrem das, was Sie eingebracht und dem Sie zugestimmt haben,
Koalitionspartner verklickern können. gar nicht geht und dass alle Daten, die gespeichert wor-
Richtig ist – das ist zu Recht gesagt worden –: Das den sind, zu löschen sind. Sie haben dem entsprechenden
Bundesverfassungsgericht hat zu der Regelung, die es Gesetz zugestimmt; die Linke hat dem nicht zugestimmt.
gab, gesagt, dass das gar nicht funktioniert. Es hat auch Wir haben uns in diesem Fall offenbar völlig verfas-
gesagt, unter bestimmten, hohen Voraussetzungen sei sungskonform verhalten; das ist erst einmal festzuhalten.
eine Vorratsdatenspeicherung möglich. Das ist zunächst (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
einmal richtig: Das Gericht hat nicht gesagt, dass es auf NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Patrick Sensburg
keinen Fall möglich ist. Das Gericht hat aber auch nicht [CDU/CSU]: Sie haben noch gar nicht geant-
gesagt, dass wir Vorratsdatenspeicherung betreiben sol- wortet!)
len. In der jetzigen politischen Auseinandersetzung geht
es darum, ob wir sie betreiben wollen oder nicht. Zweitens: Stichwort Europa. Folgendes Verhalten ist
(B) interessant – das waren, um vor Weihnachten etwas Ver- (D)
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Wir müs- söhnliches zu sagen, nicht nur Sie –: Bei bestimmten
sen!) Maßnahmen im Bereich der inneren Sicherheit – etwa
Biometrie in Ausweisen –, die man hier in der Bundesre-
Wir haben uns eine klare Meinung dazu gebildet. Im
publik nicht durchbekommen würde, weil es zu viel Wi-
Übrigen werden wir im Gegensatz zur SPD auf keinen
derstand in der Gesellschaft gibt, haben Sie und Ihre
Fall die Einführung der Vorratsdatenspeicherung kon-
Vorgänger immer wieder versucht, über die Bande, über
struktiv begleiten. Wir werden extrem konstruktiv dage-
Europa zu spielen und dort massiv das einzufordern, was
gen arbeiten. Zumindest das können wir zusagen.
Sie hier nicht durchsetzen können, um dann zu sagen, es
(Beifall bei der LINKEN – Christine handele sich um eine EU-Richtlinie, die wir umsetzen
Lambrecht [SPD]: Das tut uns aber leid! – müssten. Das geht natürlich nicht. Man müsste es umge-
Christian Lange [Backnang] [SPD]: So kennen kehrt machen: Man müsste die Europäische Union nut-
wir Sie! Destruktiv auf allen Ebenen!) zen, um die Grundrechte besser zu schützen. So viel
dazu.
All Ihre Vorhaben – Ihre Datensammelwut, der Ab-
bau von Grund- und Freiheitsrechten in den letzten Jah- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Josef
ren – haben zwei Gemeinsamkeiten: Zum einen werden Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dort leichtfertig lang erkämpfte demokratische Rechte NEN])
geopfert; zum Zweiten – das ist hier heute zu Recht aner-
kannt worden – haben Sie weder bei der Onlinedurchsu- Vizepräsidentin Petra Pau:
chung noch bei anderen Maßnahmen dem Bundestag Kollege Korte, der Kollege Kauder möchte Sie auch
plausibel darlegen können, warum die Maßnahmen noch etwas fragen.
wichtig sind und worin der konkrete Nutzen besteht. Das
haben Sie nicht gemacht; das wäre einmal schön.
Jan Korte (DIE LINKE):
Ja, bitte.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Korte, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
Sensburg? CSU):
Herr Kollege, könnten wir uns darauf einigen, dass
Jan Korte (DIE LINKE): Sie die Frage des Kollegen Sensburg bewusst nicht be-
Ja. Schöne Bescherung! antwortet haben? Sie haben hypothetisch gesagt, was
9014 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)


(A) wäre, wenn es diese europäische Richtlinie nicht gäbe. Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
Es gibt sie aber. Jetzt sind Sie dran. Das Wort hat der Kollege Konstantin von Notz für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN)
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Jan Korte (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herr Kollege Kauder, in der Tat gibt es die europäi- Herren! Liebe SPD, es ist wirklich lustig, wenn man der
sche Richtlinie. Aber gab es ein Urteil des Bundesver- Regierung vorwirft, vor lauter Zerstrittenheit nicht lie-
fassungsgerichts, oder habe ich da irgendetwas überse- fern zu können, wenn man selbst vor lauter Zerstritten-
hen? Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: So, wie heit nicht sprechfähig ist.
die Richtlinie hier umgesetzt werden soll, ist es nicht zu-
lässig; das geht nicht. Das ist doch die Situation. Sehe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ich das falsch, oder wie? sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Christine Lambrecht [SPD]: Das er-
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Ja! Sie schüttert uns aber! – Christian Lange [Back-
kennen sich gar nicht aus!) nang] [SPD]: Haben Sie nicht zugehört? Da
sieht man wieder: Sie können noch nicht ein-
Ich finde, ich sehe das vollkommen richtig: Wir haben mal zuhören!)
kein verfassungsfeindliches Gesetz eingebracht, Sie
schon. Das ist die Situation. Zu dieser zentralen bürgerrechtlichen Frage haben Sie
sieben Minuten lang nichts gesagt. Das ist bedauerlich.
(Beifall bei der LINKEN)
Liebe Union, lieber Herr Kollege Sensburg, lieber
In diesem Falle ist es spannend, wie sich die FDP ver- Herr Kauder, diese Europahörigkeit, zumal die einer li-
hält. Ich würde mir natürlich wünschen, dass Sie die beralen Frau Malmström, würde man sich in anderen
ganze Energie, die Sie aufwenden, um Ihren Parteivor- Fragen auch wünschen, gerade in diesen Zeiten. Die
sitzenden zu demontieren, in den Widerstand gegen die Aufmüpfigkeit gegenüber Europa sitzt sozusagen in die-
Vorratsdatenspeicherung umleiten könnten. Das wäre sehr sem Tortenstück. Hier tun Sie so, als würde quasi alles,
gut. was in Brüssel gemacht wird, vom Himmel fallen und
(Beifall bei der LINKEN – Gisela Piltz [FDP]: als müsse man das schnell ausführen, weil man ein bra-
Ich dachte, wir sind im Parlament und nicht ver Europäer ist. So ist das nun auch nicht. Man kann es
auf dem Parteitag, Kollege Korte!) schon kritisch gegen das eigene Grundgesetz halten, und
(B) (D)
das wollen wir tun.
Eines will ich ganz ernsthaft sagen: In der Tat ist es
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
besser – Kollege Stadler, damit haben Sie von der FDP
recht, auch wenn Sie das nicht so explizit gesagt haben –, Seit dem Karlsruher Urteil vergeht keine Woche, in
wenn Sie gar nichts einreichen, als das zu übernehmen, der Sie die Vorratsdatenspeicherung nicht als Allheilmit-
was die Union möchte. Deswegen hoffe ich, dass Sie in tel gegen alle möglichen Gefahren preisen. Das reicht
diesem Punkt weiterhin nichts einreichen werden. Die bis zu Mobbing und Beleidigungen. Dabei drängt sich
Linke steht in dieser Frage an der Seite der FDP. Halten die Frage auf: Ist die Vorratsdatenspeicherung wirklich
Sie stand, Kollege Stadler und Kollegin Piltz. Das ist rich- ein Allheilmittel, ist sie in Sachen Kriminalpolitik wirk-
tig. lich eine eierlegende Wollmilchsau, was Sie hier heute
wieder suggerieren? Das ist sie eben nicht; denn die Vor-
(Beifall bei der LINKEN – Gisela Piltz [FDP]: ratsdatenspeicherung kommt – das hat das Gericht glas-
Ist das jetzt eine Drohung oder ein Verspre- klar gesagt –, wenn überhaupt, nur bei schwersten Straf-
chen? – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist taten in Betracht. Bezüglich der Auswirkungen der
jetzt die Höchststrafe!) Vorratsdatenspeicherung auf die polizeiliche Kriminali-
– Schließlich wollen wir sachlich Politik machen. tätsstatistik hat Frau Kollegin Piltz schon darauf hinge-
wiesen, dass der zweijährige Test, der in den Jahren
Lange Rede, kurzer Sinn: Der Antrag der Grünen ist 2008 bis 2010 durchgeführt wurde, gezeigt hat, dass da-
selbstverständlich sinnvoll. Er ist angebracht und auf der durch keine messbaren Änderungen zu verzeichnen sind.
Höhe der Zeit. Er findet unsere volle Unterstützung. Wir
bleiben ganz klar dabei: Nein zur Vorratsdatenspeiche- Etwas geht überhaupt nicht. Herr Sensburg, ich bin
rung Ihnen dankbar, dass Sie auf die Äußerungen von Frau
Malmström eingegangen sind. Man kann nicht wie Frau
(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] Malmström behaupten, dass sich an der Tatsache, dass es
[CDU/CSU]: Und Nein zu Europa!) pro Jahr und Land im Durchschnitt 148 000 Zugriffe
gibt – das ist offensichtlich die Zahl –, die Effektivität
und Ja zu einer freien und aufmüpfigen Kommunikation. der Vorratsdatenspeicherung manifestieren würde. Das
Das braucht diese Demokratie. ist total unseriös. Das ist ungefähr so, als würde man sa-
Schönen Dank. gen, dass sich aus der Tatsache, dass Millionen Men-
schen morgens Horoskope lesen, Rückschlüsse auf den
(Beifall bei der LINKEN) Wahrheitsgehalt der Horoskope ziehen lassen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9015
Dr. Konstantin von Notz
(A) (Norbert Geis [CDU/CSU]: Was für ein (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
Unsinn!) der CDU/CSU)
Das ist unwissenschaftlich und unseriös. So kann man
mit Fragen, die den Kern unserer Verfassung berühren, Christian Ahrendt (FDP):
nicht in Brüssel und auch nicht hier im Hohen Haus um- Verehrte Präsidentin! Meine verehrten Kollegen und
gehen. Kolleginnen! Liebe Frau Högl, die Regierung ist für viel
verantwortlich, aber dass wir jetzt von der Opposition
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
aufgefordert werden, die Weihnachtsgeschenke unter Ih-
sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])
ren Tannenbaum zu legen, ist ein ganz besonderer
Weil Ihnen hartes Zahlenmaterial fehlt, kommen Sie Wunsch. Tatsache ist: Dass Sie diesen Wunsch über-
oft mit dem Einzelfall. Auch das BKA liefert häufig Ein- haupt äußern konnten, ist Abgeordneten wie Gisela Piltz
zelfälle. Ich sage Ihnen: Die Einzelfälle sind zweifellos zu verdanken, die, vertreten von der Justizministerin, ge-
schlimm – daran gibt es nichts zu rütteln –, aber der Ein- gen die Umsetzung der Richtlinie in Karlsruhe geklagt
zelfall – Herr Kauder, das ist mein guter juristischer Ge- haben.
danke, der Sie freuen wird – ist der denkbar schlechteste
Ratgeber für den Gesetzgeber. Ob die Vorratsdatenspei- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
cherung in diesen Fällen, die aufgeführt werden, hilft GRÜNEN]: Wir auch! Unterschlagen Sie nicht
oder nicht, ist eine rein hypothetische Frage. Belegbar ist die Grünen! – Josef Philip Winkler [BÜND-
das nicht. Das Einzelfallargument kann nicht als seriöse NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe auch ge-
Grundlage für einen so tiefen Grundrechtseingriff die- klagt!)
nen. Dass wir heute überhaupt darüber nachdenken können,
Zum letzten, einem wundersamen Punkt, Herr Kol- wie wir unsere Vorstellungen zu diesem Thema auf euro-
lege Sensburg, der mir auch in Ihrer Argumentation auf- päischer Ebene formulieren, ist Abgeordneten wie
gefallen ist: Bis heute legen Sie keinen Entwurf vor, der Gisela Piltz zu verdanken.
zeigt, wie die Vorratsdatenspeicherung aussehen könnte. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
Meine These ist: Sie können es aufgrund der Vorausset- GRÜNEN]: Und der Grünen-Fraktion!)
zungen, die das Bundesverfassungsgericht genannt hat,
nicht so einfach in einem Gesetz umsetzen; das ist näm- Das muss man an dieser Stelle ganz klar sagen.
lich nicht so ohne.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE] – Zu- Es stellt sich die Frage – das ist eben in der Debatte (D)
ruf von der CDU/CSU: Warten Sie doch ab!) deutlich geworden –: Wie gehen wir mit der Situation
um? Wir haben eine Richtlinie, die umgesetzt werden
Zuletzt. Die aktuelle Debatte über WikiLeaks wirft muss, und ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, in
ein ganz neues Licht auf die Pläne einer Massenspeiche- dem das, was hier von der Großen Koalition umgesetzt
rung. Jede Vorratsdatenspeicherung ist die Schaffung ei- worden ist, für verfassungswidrig erklärt wurde. In einer
ner beispiellosen Tatgelegenheitsinfrastruktur. Sie ist solchen Situation ist zunächst einmal Sorgfalt angezeigt.
eine Einladung zum Datenmissbrauch und führt das Ge- Auf europäischer Ebene wird evaluiert. Wir wissen noch
bot der Datensparsamkeit durch staatliche Speicherver- nicht, wie sich die Evaluation entwickeln wird und wie
pflichtung ad absurdum. sie im März 2011 abgeschlossen wird. Sie war für Sep-
Ich komme zum Schluss. Ihr Vorhaben ist bürger- tember angekündigt. Man muss abwarten, was kommt.
rechtlich gesehen Gift für diese Demokratie. Spannend ist auch: Wir haben das erste Mal die Situa-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tion, dass ein Land, nämlich Irland, über sein höchstes
sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]) Gericht dem Europäischen Gerichtshof die Frage vor-
legt, wie mit der Vorratsdatenspeicherung im Hinblick
Sie wollen unsere Kommunikationsinfrastruktur zu ei- auf europäische Grundrechte umzugehen ist. Man muss
nem Strafverfolgungsnetz umbauen. Sie beschädigen da- sich fragen, ob man nicht erst abwartet, wie sich das
mit das Vertrauen der Menschen, in einem freiheitlichen Schicksal der Richtlinie auf europäischer Ebene und vor
Rechtsstaat ohne Überwachung kommunizieren zu kön- dem EuGH entwickelt, oder ob man mit vorauseilendem
nen. Deswegen ist die Vorratsdatenspeicherung der fal- Gehorsam unterwegs ist.
sche Weg. Ich bitte Sie in dieser weihnachtlichen Zeit:
Kehren Sie um! (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Erklären Sie das jetzt der CDU?
Vielen Dank. Oder was?)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Man muss sich auch über einen weiteren Punkt klar
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) werden. Eine Umsetzung der Richtlinie ist gar nicht
mehr möglich, weil das Bundesverfassungsgerichtsurteil
Vizepräsidentin Petra Pau: besagt, dass die Richtlinie so, wie sie formuliert ist, in
Das Wort hat der Kollege Christian Ahrendt für die Deutschland nicht mehr umsetzbar ist; denn das wäre ge-
FDP-Fraktion. gen dieses Urteil. Auch das muss man sich klarmachen.
9016 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Christian Ahrendt
(A) Man muss sich in dieser Situation fragen: Wie geht Wir werden den Grundsätzen der Transparenz, der (C)
man mit dem Gesamtthema Vorratsdatenspeicherung Rechtsstaatlichkeit, des Datenschutzes und vor allem der
um? Man muss zu einem klaren Ergebnis kommen. Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen
Dazu muss man die Entwicklung der Rechtsprechung
(Dr. Eva Högl [SPD]: Nicht reden! Handeln!)
hin zu diesem Urteil betrachten. Zunächst kam es zur
Aussetzung der Vorratsdatenspeicherung. Während die- und diese Richtlinie umsetzen.
ser Zeit durfte nur im Rahmen des § 100 g der Strafpro-
(Dr. Eva Högl [SPD]: Hört! Hört!
zessordnung, also bei besonders schweren Straftaten, auf
Wir warten!)
Vorratsdaten zugegriffen werden. Selbst diese Regelung
hat das Bundesverfassungsgericht nicht aufrechterhal- Lieber Kollege von Notz, ich habe natürlich Verständ-
ten. Es hat sozusagen seinen eigenen einstweiligen nis dafür, dass Sie versuchen, sich über das Thema Ver-
Rechtsschutz einkassiert und ist in dem Urteil darüber bindungsdatenspeicherung zu profilieren; das ist in Ord-
hinausgegangen. nung. Aber ich bitte Sie, auf Ihre Wortwahl zu achten.
Sie sagten, die Umsetzung der Richtlinie oder die Vor-
Das ist ein klares Signal, wohin es gehen muss. Es ratsdatenspeicherung seien Gift für die Demokratie bzw.
kann, weil es darum geht, Straftaten aufzuklären, nur in Gift für den Rechtsstaat. Ich bitte Sie, auf solche Formu-
eine Richtung gehen: Man puffert kurzfristig Daten, lierungen wirklich zu verzichten und entsprechend abzu-
wenn es dazu einen konkreten Anlass, nämlich einen rüsten. Es geht hier um ein hochseriöses und wichtiges
Verdacht für eine Straftat, gibt und wenn es einen ent- Thema. Da hat solche Polemik nichts verloren.
sprechenden richterlichen Beschluss gibt, diese Daten
für strafrechtliche Ermittlungen zu nutzen. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Beifall bei der FDP) Des Weiteren ist festzuhalten, dass wir nicht umhin-
kommen, diese Richtlinie umzusetzen. Mir kommt es ein
Das ist das, was wir in unserer Rechtsordnung an jeder bisschen so vor, dass es denjenigen, die jetzt die Hoff-
Stelle kennen. Das ist auch das, was nach dem Urteil des nung haben, Europa wird die EU-Richtlinie und die Ver-
Bundesverfassungsgerichts maximal umgesetzt werden bindungsdatenspeicherung zu Fall bringen, genauso er-
kann. Diese Diskussion müssen wir führen. gehen wird wie denjenigen, die auf Godot gewartet
haben.
Strafrecht muss sein. Aufklärung muss sein. Aber mas-
senhafte, vorbehaltslose Vorratsdatenspeicherung kann es (Dr. Eva Högl [SPD]: Das ist in diesem Fall
nicht mehr geben. wohl Ihr Koalitionspartner!)
Sie haben nämlich vergebens gewartet.
(B) Danke schön. (D)
(Christine Lambrecht [SPD]: Zuhören, Herr
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ahrendt!)
der CDU/CSU)
Die EU-Kommissarin Malmström hat vor zwei Wo-
chen deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie an dieser
Vizepräsidentin Petra Pau: Richtlinie festhalten und es eine Evaluierung geben wird,
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die dass aber keinesfalls daran gedacht ist, diese EU-Richtli-
Unionsfraktion. nie abzuschaffen – ganz im Gegenteil. Die EU-Kommis-
sarin Malmström ist bekanntermaßen keine konservative
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Politikerin, sondern eine liberale Politikerin.
neten der FDP)
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Umso verwunderlicher!)
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle- Wir kommen gar nicht umhin, diese EU-Richtlinie um-
ginnen! Liebe Kollegen! Zunächst einmal ist und bleibt zusetzen, genauso wie es 20 andere EU-Länder bereits
festzuhalten: Das Bundesverfassungsgericht hat in sei- getan haben.
nem Urteil vom 2. März dieses Jahres deutlich zum Aus- Es ist doch kein Geheimnis: Der blaue Brief aus Brüs-
druck gebracht, dass die Umsetzung der EU-Richtlinie sel ist in Berlin schon eingegangen. Es droht auch gegen
zur Vorratsdatenspeicherung möglich und verfassungs- Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren, wie es
gemäß ist. gegen Schweden und Österreich bereits läuft. Diese EU-
Richtlinie muss und wird also umgesetzt werden. Davon
(Christine Lambrecht [SPD]: Interessant! Das bin ich fest überzeugt.
hat Herr Ahrendt aber gerade anders erklärt!)
(Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip
Sie können sich sicher sein, meine liebe Kolleginnen und Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Kollegen von der Opposition: Es wird uns gelingen, eine Überzeugen Sie mal Frau Leutheusser-
verfassungskonforme und europarechtskonforme Umset- Schnarrenberger davon!)
zung dieser EU-Richtlinie ins Werk zu setzen.
Eine ganz wichtige Frage lautet: Welche Auswirkun-
(Dr. Eva Högl [SPD]: Wir sind gespannt und gen hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
warten darauf!) richts auf die Arbeit unserer Ermittlungsbehörden? Ich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9017
Stephan Mayer (Altötting)
(A) gebe Ihnen sogar recht, Herr Kollege von Notz, wenn (Beifall bei der CDU/CSU) (C)
Sie sagen: Die Verbindungsdatenspeicherung ist kein
Ein letzter Punkt noch. Es ist ja immer vom Quick-
Allheilmittel. – Das ist richtig. Aber die Verbindungsda-
freeze-Verfahren die Rede. Abgesehen davon – das ist
tenspeicherung ist aus meiner Sicht eine essenzielle, eine
mittlerweile hinlänglich bekannt –, dass man nur Sachen
nicht verzichtbare Methode, die dazu beiträgt, schwerst-
speichern kann, die man auch wirklich hat – man kann
kriminelle Straftäter zur Strecke zu bringen oder terroris-
einem Nackten nicht in die Tasche greifen; Dinge, die
tische Angriffe in Deutschland zu verhindern.
nicht gespeichert sind, kann man auch nicht einfrieren –,
(Beifall bei der CDU/CSU) (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sprechen
Die Zahlen liegen auf dem Tisch. Mittlerweile kön- Sie doch zur FDP! Da sitzt Frau Piltz, und da
nen die Ermittlungsbehörden in Deutschland 78 Prozent sitzt Herr Staatssekretär Stadler! Dahin müs-
aller Auskunftsersuchen, die sie an Internetprovider sen Sie sich wenden!)
richten, nicht mehr mit einem positiven Ergebnis ab- hat die EU-Kommissarin Malmström deutlich zum Aus-
schließen. 78 Prozent aller Auskunftsersuchen gehen ins druck gebracht, dass das Quick-freeze-Verfahren nicht
Leere. Es ist nun einmal so, dass die IP-Adresse insbe- den Voraussetzungen der EU-Richtlinie entspricht.
sondere bei Straftaten im Internet und im Umfeld des In-
ternets der einzige Ermittlungsansatz ist. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Was meint
die Bundesregierung zu dieser Aussage? Das
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE würde mich interessieren!)
GRÜNEN]: Na ja! Nicht der einzige, aber ein
relevanter!) Beim Quick-freeze-Verfahren handelt es sich um eine an-
lassbezogene Speicherung, und es genügt diesen Voraus-
In diesem Jahr gab es ein größeres Ermittlungsverfah- setzungen deshalb nicht.
ren mit 120 Tatverdächtigen. In diesem Verfahren konn-
ten nicht einmal 2 Prozent der Tatverdächtigen ermittelt Zuallerletzt ist deutlich zu machen, dass das Bundes-
werden, weil die Telekommunikationsunternehmen keine verfassungsgericht selbst in seinem Urteil vom 2. März
Daten mehr speichern. Nur die Deutsche Telekom spei- zum Ausdruck gebracht hat, dass das Quick-freeze-Ver-
chert noch Daten, aus abrechnungstechnischen Gründen fahren keine Umsetzung der EU-Richtlinie wäre. Des-
für eine Woche. Andere Telekommunikationsunterneh- wegen, glaube ich, sollten wir uns mit dem Thema zwar
men wie Arcor oder HanseNet speichern die Daten über- beschäftigen, aber wir brauchen eine schnellstmögliche
haupt nicht mehr. Bei Flatrates, die immer mehr im Kom- Umsetzung dieser EU-Richtlinie.
men sind, wird die IP-Adresse nun einmal nicht Da selbst Wochenzeitschriften und -zeitungen wie
(B) gespeichert. Deswegen kommen wir gar nicht umhin, Die Zeit oder der Stern, die nicht in dem Ruf stehen, (D)
eine Speicherung der IP-Adressen vorzunehmen. Das ist rechtskonservative Publikationen zu sein, sich deutlich
für unsere Ermittlungsbehörden ein essenzielles Mittel. für eine Verbindungsdatenspeicherung aussprechen,
Da Sie, lieber Kollege von Notz, ein bisschen lapidar (Zuruf von der SPD: Das ist kein Maßstab!)
von Einzelfällen gesprochen haben,
bitte ich Sie, einzulenken und sich einer vernünftigen
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Lösung nicht zu verschließen.
GRÜNEN]: Nicht lapidar!)
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass es auch Fälle
(Beifall bei der CDU/CSU)
gab – das ist nicht gelogen; das hat sich in diesem Jahr
leider Gottes so zugetragen –, in denen Selbstmörder
nicht mehr rechtzeitig ausfindig gemacht werden konn- Vizepräsidentin Petra Pau:
ten, sondern erst drei Stunden nachdem sie Selbstmord Ich schließe die Aussprache.
begangen haben. Wenn in diesen Fällen die IP-Adresse Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts-
feststellbar gewesen wäre, dann wären diese Menschen ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
möglicherweise – nicht mit Sicherheit, aber möglicher- Grünen mit dem Titel „Keine Vorratsdatenspeicherung
weise – noch rechtzeitig gefunden und gerettet worden. über den Umweg Europa“. Der Ausschuss empfiehlt in
(Christine Lambrecht [SPD]: Und dafür wol- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3589,
len Sie die Vorratsdatenspeicherung?) den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/1168 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Ich bitte Sie deshalb eindringlich, nicht lapidar von Ein- Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
zelfällen zu sprechen. enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
GRÜNEN]: Ich habe nicht lapidar davon ge- gen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
sprochen, Herr Kollege!) und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-
Fraktion angenommen.
Es geht um zahlreiche Einzelfälle in Deutschland, um
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und b auf:
Tausende oder Hunderttausende. Ihnen gilt es Rechnung
zu tragen. Deswegen brauchen wir schnellstmöglich eine a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
vernünftige Regelung zur Mindestspeicherfrist. gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-
9018 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) derung des Strafgesetzbuchs – Widerstand ge- schützten Personen auf Rettungskräfte und Feuerwehr- (C)
gen Vollstreckungsbeamte leute erweitert wird.
– Drucksache 17/4143 – Das ist es, was wir mit dem Gesetzentwurf bezwe-
Überweisungsvorschlag: cken. Wie wichtig das ist, wird an Tagen deutlich, an de-
Rechtsausschuss (f) nen wir erleben, dass diejenigen, die uns schützen, zur
Innenausschuss Kenntnis nehmen müssen, dass andere, die eigentlich
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten mit für ihren Schutz verantwortlich sind, gemeinsam mit
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des denjenigen demonstrieren, die sie angreifen. Wir erleben
Strafgesetzbuches (… Strafrechtsänderungsge- das jetzt gerade in Mecklenburg-Vorpommern, wo der
setz – … StRÄndG) Ministerpräsident mit solchen Leuten unterwegs ist, die
das berühmte Schottern ausüben, während der Innen-
– Drucksache 17/2165 – minister im Einsatzstab bei seinen Polizisten ist.
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f) Wir senden hier das klare Signal aus, dass diese geis-
Innenausschuss tige Beihilfe zum Widerstand gegen Polizeibeamte nicht
weiter geleistet werden darf. Deswegen ist die Verschär-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die fung des § 113 Strafgesetzbuch wichtig.
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Entschul-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege digen Sie sich auf der Stelle beim Herrn Mi-
Ahrendt für die FDP-Fraktion. nisterpräsidenten! Unglaublich! Haben Sie
(Beifall bei der FDP) keinen Respekt? – Wolfgang Wieland
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Unver-
schämtheit! Das traut sich noch nicht mal die
Christian Ahrendt (FDP):
CSU!)
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Retten, löschen, helfen und schützen – – Auch durch Ihren Zwischenruf helfen Sie hier nicht,
das ist das, was Feuerwehrleute, Rettungssanitäter und Herr Kollege.
Polizisten in Deutschland tagtäglich für unsere Bürgerin-
(Burkhard Lischka [SPD]: Das, was Sie hier
nen und Bürger leisten. Trotzdem sehen sie sich in zu-
erzählen, ist unwahr! – Wolfgang Wieland
nehmendem Maße Angriffen ausgesetzt. Deswegen ist
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer demon-
es wichtig, dass wir den Schutz unserer Polizisten, unse-
(B) striert, ist also Terrorist für Sie!) (D)
rer Feuerwehrleute und auch den der Rettungssanitäter
verbessern. Dazu legen wir Ihnen einen Gesetzentwurf Wir müssen nicht nur die Strafen verschärfen, son-
vor, der eine Verschärfung der Gesetzeslage bei Wider- dern auch die Länder sind ein Stück weit gefordert, weil
stand gegen Vollstreckungsbeamte vorsieht. immer mehr Polizisten in immer mehr Einsätzen sind
und die Polizeien in den Ländern in den letzten Jahren
Ich will einmal an einem kleinen Beispiel deutlich
personell ausgedünnt worden sind. Wir brauchen auch
machen, worum es geht: Da werden einige Feuerwehr-
ein Stück weit Verbesserungen bei der Ausbildung unse-
leute Silvester 2008/2009 zu einem Brandeinsatz geru-
rer Polizisten. Das, was wir als Koalition hier auf Bun-
fen. Sie fahren hin, finden brennende Container vor und
desebene zur Verbesserung des Schutzes tun können, ist
werden bei ihrem Einsatz mit Raketen beschossen und
das eine, aber auch die Länder sind gefordert, die Situa-
mit Böllern beworfen.
tion der Polizeibeamten zu verbessern.
Es ist festzustellen, dass Polizeibeamte, wenn sie
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Polizisten, Feu-
ganz normal ihren Dienst verrichten, sich zunehmend
erwehrleute und Rettungskräfte müssen immer und je-
Angriffen ausgesetzt sehen. Die Bundespolizei verzeich-
derzeit bereit sein, ihre Gesundheit und teilweise auch
nete im Jahre 2009 1 555 Straftaten gegen Polizeibeamte
ihr Leben einzusetzen, um Menschen in Not und in be-
bei ganz profanen Dingen wie Identitätsfeststellung, In-
sonderen Situationen zu helfen. Deswegen ist es wichtig,
gewahrsamnahmen und Festnahmen, die zum normalen
dass die Koalition handelt. Sie handelt konsequent.
Dienst eines Beamten gehören. 462 körperliche Verlet-
zungen mit Krankenhausbehandlungen waren die Folge. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Placebos streut sie ins Land!)
In den Ländern sieht es nicht besser aus. In Nord-
rhein-Westfalen gab es im Jahre 2008 6 400 Wider- Deswegen verschärfen wir den § 113 Strafgesetzbuch.
standshandlungen; in Bayern waren es 3 500. Die Zahlen
sind also auch da hoch. Deswegen ist es von großer Be- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
deutung, nicht nur den Schutz zu verbessern, sondern (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
auch den Straftatbestand des § 113 Strafgesetzbuch zu
ändern, und zwar einmal dadurch, dass man die general- Vizepräsidentin Petra Pau:
präventive Wirkung verschärft, indem das Strafmaß an-
Das Wort hat die Kollegin Christine Lambrecht für
gehoben wird, zum Zweiten dadurch, dass auch das ge-
die SPD-Fraktion.
fährliche Werkzeug in den Straftatbestand einbezogen
wird, und zu guter Letzt dadurch, dass der Kreis der ge- (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9019

(A) Christine Lambrecht (SPD): (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christian
Herr Ahrendt, ich fand es schon ein bisschen befremd- Lange [Backnang] [SPD]: Die treten das De-
lich, dass sich ausgerechnet ein Vertreter der FDP, der monstrationsrecht mit Füßen! So weit ist es
Liberalen, hier hinstellt und das Demonstrationsrecht, mit der Partei schon gekommen!)
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Mit Füßen Ich glaube, ich muss für die SPD nicht besonders er-
tritt! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE klären, dass für uns Gewalt gegen Polizeibeamte, gegen
GRÜNEN]: Das sind die Implosionsgeräusche Rettungsdienste, gegen den Katastrophenschutz und ge-
bei der Koalition!) gen die Feuerwehr nicht zu akzeptieren ist. Man muss
sich die Frage stellen, was dagegen zu tun ist. In diesem
also die Möglichkeit, zu demonstrieren und seine Mei- Punkt bin ich mit Ihnen der Meinung: Da müssen wir ge-
nung zum Ausdruck zu bringen, die im Grundgesetz ver- nau hinschauen. Ich sage Ihnen aber auch, dass wir die
ankert ist, infrage stellt und die Teilnahme an Demon- Diskussion über diese Frage kritisch-konstruktiv beglei-
strationen – ich will es kaum wiederholen – als geistige ten werden, wie wir es auch in anderen Bereichen schon
Beihilfe darstellt. durchexerziert haben. Jetzt will ich Ihnen einige Punkte
(Gisela Piltz [FDP]: Frau Kollegin, wenn Sie dazu sagen.
nicht richtig zuhören, dann können wir auch
Es passt nicht, dass Sie hier alle geplanten Maßnah-
nichts dafür!)
men gleichsetzen. In diesem Gesetzentwurf werden drei
Ich glaube, als überzeugter Liberaler sollten Sie sich für verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen. Lassen Sie
eine solche Äußerung schämen. Schämen, schämen, uns eine nach der anderen prüfen.
schämen!
Sie schlagen auf der einen Seite eine Verschärfung
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem des § 113 StGB vor, indem Sie die Strafandrohung von
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gisela Piltz zwei Jahren auf drei Jahre hochsetzen wollen. Dazu sage
[FDP]: Vielleicht sollten Sie einfach einmal ich: Das ist nichts anderes als ein Symbolstrafrecht und
zuhören, bevor Sie sich schämen!) sonst nichts.
– Mich wundert es nicht, dass Sie aufgeregt sind. Wenn (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
eine solche Äußerung aus unseren Reihen käme, dann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
würde auch ich mich aufregen – aber ganz gewaltig. Das
kann ich mir bei den Liberalen noch viel besser vorstel- Damit helfen Sie keinem einzigen Polizeibeamten;
denn das, was Sie ansprechen, die massive Ausübung
(B) len. von Gewalt, ist bisher nicht straffrei. Wenn ein Polizist (D)
(Gisela Piltz [FDP]: Nein, ich bin nicht aufge- beispielsweise bei einer Demonstration von jemandem
regt! Ich bin erstaunt darüber, dass Sie nicht angegriffen wird und unter Umständen einen Zahn ver-
zuhören können!) liert, dann ist es nicht so, dass der Täter nicht belangt
werden kann. Dazu benötigt man aber den § 113 nicht;
Jetzt möchte ich aber zum Gesetzentwurf kommen.
dafür sind schon die Gesetze zur gefährlichen Körper-
Herr Ahrendt, wir alle hier in diesem Hause sind uns ei-
verletzung einschlägig. Den § 113 benötigt man hierfür
nig, dass Gewalt kein Mittel zur Auseinandersetzung
nicht, weil er nichts anderes als ein Auffangtatbestand
sein darf.
für den Fall ist, dass andere Regelungen nicht greifen.
(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] Das ist selten der Fall. Deswegen sage ich: In diesem
[CDU/CSU]: Genau das hat er gesagt!) Fall haben wir unsere Probleme mit einer Heraufsetzung
des Strafmaßes.
Ich bin der Meinung: Demonstration ja, aber Gewalt
nein. (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
(Holger Krestel [FDP]: Da haben Sie den fal- Kein Problem haben wir beispielsweise damit, dass
schen Anfang gewählt! – Gegenruf des Abg. Sie in die strafverschärfenden Regelbeispiele des § 113
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nein, ge- Abs. 2 nicht nur die Waffe, sondern auch die gefährli-
nau den richtigen!) chen Werkzeuge aufnehmen wollen. Darüber können wir
reden; ob wir dem zustimmen, werden die Ausschussbe-
– Nein, ich glaube, Sie stellen hier etwas in einen völlig
ratungen ergeben. Das ist durchaus ein akzeptabler Vor-
falschen Zusammenhang. Eine Demonstration hat nichts
schlag.
mit Gewalt zu tun,
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Noch etwas halte ich für akzeptabel, weil der zu-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) grunde liegende Sachverhalt mich sehr belastet. Das
liegt vielleicht an einer anderen Funktion, die ich aus-
eine Demonstration ist das durch die Verfassung ge- übe; ich bin, wie Sie wahrscheinlich wissen, Vizepräsi-
währte Recht, seine Meinung kundzutun. Wenn das für dentin der THW-Bundeshelfervereinigung. Es nimmt
Sie Gewalt ist, dann sollten Sie Ihr Verfassungsverständ- immer mehr zu, dass gegen Helfer während der Aus-
nis überprüfen, lieber Kollege. Mir geht wirklich die übung ihrer Aufgaben in irgendeiner Form Gewalt aus-
Hutschnur hoch, wenn so etwas in diesem Haus ausge- geübt wird. Das muss man sich einmal vorstellen: Die
rechnet von den Liberalen zum Besten gegeben wird. Leute engagieren sich, die Leute helfen, die Leute ber-
9020 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Christine Lambrecht
(A) gen, und dann sind sie Übergriffen ausgesetzt. Deswe- und der körperlichen Unversehrtheit wurden bereits an (C)
gen bin ich ebenso wie meine Fraktion vollkommen ein- vielen Stellen beseitigt. Auch das ist gut und richtig.
verstanden, diese Rettungsdienste mit aufzunehmen.
Opfer haben einen Anspruch darauf, dass der Staat ef-
Die Regelung, die Sie dazu in Ihrem Gesetzentwurf fektiv gegen die sie verletzenden Täter vorgeht. Es ist
vorgeschlagen haben, indem Sie die Rettungsdienste und eine seiner Kernaufgaben, die Sicherheit und Freiheit
die Feuerwehren aufgenommen haben, nicht aber bei- der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen. Wenn es zu
spielsweise den Katastrophenschutz – darauf hat Sie der Verletzungen dieser Rechtsgüter gekommen ist, ist es
Bundesrat zu Recht hingewiesen –, müssen wir wohl seine Pflicht, diese Taten angemessen zu ahnden; denn
noch einmal genau betrachten. Sie wollen diesen Punkt in unserer Gesellschaft kommt alleine dem Staat das
zwar weiter prüfen, aber dies wird meines Erachtens in Recht zu, im Interesse seiner Bürgerinnen und Bürger
den Ausschussberatungen genau zu hinterfragen sein; notfalls Gewalt anzuwenden.
denn es ergibt keinen Sinn, dass der Katastrophenschutz
in der Regelung nicht enthalten ist. Bei uns gilt nicht das Faustrecht. Wir haben das ar-
chaische „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ lange über-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) wunden. Der Staat hat das Gewaltmonopol. Das ist eine
Ich halte den Vorschlag, den Sie auf den Tisch gelegt ha- Errungenschaft des modernen Rechtsstaats.
ben, in einigen Punkten für durchaus diskutabel. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Bei der Strafverschärfung haben wir, wie gesagt, das der FDP)
Problem, dass wir sie für eine Symbolik halten. Das wird Diese Errungenschaft müssen wir gegen Erosionen, egal
auch von den Betroffenen so gesehen. Es ist keineswegs von welcher Seite, verteidigen.
so, dass Sie ihnen damit helfen. Glauben Sie allen Erns-
tes, ein gewaltbereiter Täter überlegt sich, eine Straftat Gesetze allein setzen das Gewaltmonopol nicht durch.
zu begehen, weil die Strafe von zwei auf drei Jahre Auch wir Politiker, die die Gesetze beschließen, setzen
hochgesetzt wurde? Diese Täter gehören zu einer Klien- es nicht durch. Der Staat muss sich seiner Organe bedie-
tel, die nicht wohlberechnend und abwägend agiert; viel- nen. So sind es konkrete Personen, die im Dienste der
mehr reagieren diese Täter aus dem Bauch heraus, aus Gesellschaft für das Gewaltmonopol stehen: Polizistin-
Wut heraus. Deswegen bringt die Verschärfung des nen und Polizisten, Rettungs- und Hilfskräfte, Vollzie-
§ 113 gar nichts. Dort, wo es tatsächlich zu gewalttätigen hungsbeamte. Sie alle halten ihren Kopf hin. Dabei wer-
Übergriffen kommt, haben wir schon längst die Mög- den sie oftmals selbst Opfer von Gewalt.
lichkeit, Strafen wegen Körperverletzung zu verhängen. Wenn es heute um die Anpassung der Vorschriften be-
Das habe ich schon gesagt, aber vielleicht ist dies noch züglich des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (D)
(B) einmal eine kleine Nachhilfe. Einige sagen, der Täter
geht, dann geht es auch um Fragen des Opferschutzes;
gehe straffrei aus; aber das ist Quatsch. denn es ist auch Aufgabe des Staates, diejenigen zu
Wir brauchen diese weiße Salbe nicht, aber wir brau- schützen, die ihren Dienst für den Staat leisten. Dafür
chen durchaus die Möglichkeit, die Regelbeispiele und gibt es neben den allgemeinen Strafvorschriften wie Nö-
den Kreis derjenigen zu erweitern, die geschützt werden tigung oder Beleidigung auch die Sondervorschriften für
sollen. Deswegen werden wir uns in die Ausschussbera- Vollstreckungsbeamte.
tungen einbringen. Allerdings werden wir hinsichtlich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
des letzten Punktes prüfen, ob wir das eine oder andere der FDP)
in den Ausschussberatungen noch verbessern können.
Wir als christlich-liberale Koalition sehen hierbei die
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Notwendigkeit zu Anpassungen; denn leider müssen wir
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten feststellen, dass der Respekt gegenüber den Staatsorga-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE nen und damit der Respekt gegenüber dem Staat insge-
GRÜNEN) samt an vielen Stellen abnimmt. Das halten wir für eine
bedenkliche Entwicklung.
Vizepräsidentin Petra Pau: Ausweislich der Polizeilichen Kriminalstatistik ist die
Das Wort hat der Kollege Heveling für die Unions- Zahl der Fälle von Widerstandshandlungen gegen die
fraktion. Staatsgewalt von 1993 bis 2009 um 44 Prozent auf
(Beifall bei der CDU/CSU) 26 344 Fälle angestiegen. 2009 befanden sich darunter
2 194 Fälle politisch motivierter Kriminalität. Das ent-
spricht einer Steigerung um 100 Prozent gegenüber dem
Ansgar Heveling (CDU/CSU):
Vorjahr. Das alles sind Entwicklungen, die uns alarmie-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ren müssen.
Bei strafrechtspolitischen Debatten hier im Deutschen
Bundestag steht oft der Opferschutz im Mittelpunkt – zu Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang einige
Recht. In den vergangenen Jahren ist der Schutz der kör- zentrale Befunde, die das Kriminologische Forschungs-
perlichen Unversehrtheit und der Integrität mehr und institut Niedersachsen, für das der Name Professor
mehr in den Vordergrund der politischen Überlegungen Christian Pfeiffer steht, in einem jüngst veröffentlichten
gerückt. Bestehende Ungleichgewichte zwischen Straf- Forschungsbericht im Hinblick auf Gewalt gegen Poli-
rechtsnormen zum Schutz von Eigentum und Vermögen zeibeamte festgestellt hat: Erstens. Die Täter handeln
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9021
Ansgar Heveling
(A) meist allein, sind in der großen Mehrheit männlich und eingestellt. Kommt es zur Aburteilung, werden in den (C)
durchschnittlich jüngeren Alters. meisten Fällen Geldstrafen verhängt.
Zweitens. Zwei von fünf Tätern haben eine nichtdeut- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die christlich-libe-
sche Herkunft. Insbesondere Personen aus den Ländern rale Koalition sieht die Notwendigkeit, die Vorschriften
der ehemaligen Sowjetunion sowie türkische Täterinnen über den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte anzu-
bzw. Täter oder Täter aus anderen islamischen Ländern passen. Die vorgenannten Befunde des Forschungsbe-
treten überproportional in Erscheinung. richts des Kriminologischen Forschungsinstituts Nieder-
sachsen untermauern dies. Uns geht es dabei um
Drittens. Das zweithäufigste Motiv für Angriffe auf
zweierlei: zum einen um den Schutz des staatlichen Ge-
Polizeibeamte ist Feindschaft gegenüber der Polizei
waltmonopols. Es hat eine wichtige Befriedungsfunktion
bzw. dem Staat.
für die Gesellschaft. Wir dürfen es nicht aushöhlen und
Viertens. Es zeigt sich, dass der Anteil unter Alkohol- unterminieren lassen. Zum anderen geht es aber auch um
einfluss verübter Angriffe seit 2005 gestiegen ist. den Schutz der Polizistinnen und Polizisten sowie ande-
rer Vollstreckungsbeamter.
Fünftens. Zwei Drittel der Angriffe werden von Per-
sonen begangen, die bereits polizeilich in Erscheinung Angesichts der zunehmenden Gewalt sprechen wir
getreten sind. uns deshalb dafür aus, den Strafrahmen beim Widerstand
gegen Vollstreckungsbeamte von zwei Jahren auf drei
Sechstens. Personen, die im Rahmen von Demonstra-
Jahre anzuheben. Dies findet sich so im Gesetzentwurf
tionen Übergriffe ausführen, stellen eine besondere Täter-
wieder, und ich möchte dazu noch eine Beurteilung zitie-
gruppe dar. Hier ist der Anteil von Gruppentaten naturge-
ren, die der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende
mäß am höchsten. Zudem werden bei solchen Übergriffen
Olaf Scholz zur Erhöhung des Strafrahmens am
am häufigsten Waffen eingesetzt. Feindschaft gegenüber
14. Oktober 2010 dem Hamburger Abendblatt gegeben
der Polizei und dem Staat allgemein ist dabei ein zentrales
hat:
Übergriffsmotiv. Bei etwa einem Viertel der Übergriffe
lässt sich zudem Tötungsabsicht unterstellen. Die Beschlüsse der Bundesregierung sind zu begrü-
ßen. Sie entsprechen dem, was die sozialdemokrati-
Die Ergebnisse dieser Studie müssen uns aufrütteln.
schen Innenminister und der Bundesrat schon lange
Wir können und dürfen es nicht zulassen, dass das Ge-
gefordert haben.
waltmonopol des Staates infrage gestellt wird. Wir kön-
nen und dürfen diejenigen, die das Gewaltmonopol des (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
Staates repräsentieren, nicht einfach ihrem Schicksal
überlassen. Offensichtlich liegen wir bei der Erhöhung des Strafrah-
(B) mens nicht ganz so falsch. (D)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wird Zeit, dass der nach Hamburg ab-
Wir sollten uns aber auch vor bloßen politischen Re- schwirrt! Es ist ja nicht auszuhalten, was
flexen in jeglicher Hinsicht hüten. Die Befunde des For- Scholz hier so alles sagt!)
schungsberichts sind zu ernst, und sie zeigen, dass das
Problem vielschichtig ist und eines Ansetzens an vielen Es ist richtig, den Strafrahmen anzuheben; denn es ist
Stellen bedarf. So erzeuge ich Respekt vor dem Staat nicht nachzuvollziehen, dass etwa die Beschädigung ei-
und seinen Organen sicherlich nicht oder nicht vorrangig nes Polizeiautos mit bis zu fünf Jahren Haft wesentlich
allein durch repressive Maßnahmen und die Mittel des härter bestraft werden kann als der Übergriff auf einen
Strafrechts. Strategien hierfür müssen an anderer Stelle Polizisten, der mit zwei Jahren bestraft werden kann.
ansetzen. Aber angesichts der Entwicklung dürfen wir Auch hier gilt es, Unwuchten beim Rechtsgüterschutz
die Instrumente des Strafrechts auch nicht aus dem Blick auszugleichen.
lassen. Wenn sich – die Zahlen belegen dies – eine zu- (Beifall bei der CDU/CSU)
nehmende Bereitschaft zur Gewalt in der gesamten
Bandbreite, beim – in Anführungsstrichen – einfachen Bislang können im Übrigen Fischwilderer genauso be-
Streifengang wie bei der Großdemonstration, konstatie- straft werden wie Täter, die Gewalt gegen Vollstre-
ren lässt, müssen wir darauf mit dem Strafrecht reagie- ckungsbeamte ausüben. Hier besteht also Handlungsbe-
ren. darf.
Im Hinblick darauf sind im Übrigen drei weitere Be- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
funde des Forschungsberichts von Bedeutung: zum ei- NEN]: Nein, nein! Sie haben es nicht verstan-
nen, dass es in der deutlichen Mehrheit der Fälle gelingt, den!)
die Täter unmittelbar oder später dingfest zu machen. Vor allem die besondere gewalttätige Tätergruppe bei
Konkret ist dies bei über 90 Prozent der Fall. Zum ande- Demonstrationen geht oftmals mit Waffengewalt gegen
ren findet gegen rund 90 Prozent der festgenommenen die Vollstreckungsbeamten vor. Mit der Anpassung des
oder ermittelten Täter schließlich auch ein Strafverfah- § 113 Abs. 2 StGB wird hierzu eine Differenzierung
ren statt. Die Chancen zur Verwirklichung des staatli- durch die Rechtsprechung gesetzlich nachvollzogen.
chen Strafanspruchs sind damit in den Fällen von Gewalt
gegen Polizeibeamte recht groß. Allerdings wird – dies Bedenkenswert ist – dies sollten wir in der weiteren
ist der dritte Befund – fast ein Drittel der Strafverfahren Beratung des Gesetzentwurfs sehr genau diskutieren –,
9022 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Ansgar Heveling
(A) wie wir mit der zunehmenden Gewalt bei den – in An- die es zu schützen gilt, als gerecht empfunden. Wer sich (C)
führungsstrichen – einfachen Diensthandlungen umge- an ihnen vergreift, soll härter bestraft werden. Emotional
hen. Hier sollten wir uns schon die Frage stellen, ob es habe ich dafür volles Verständnis. Ist es aber vordergrün-
die Möglichkeit gibt, auch sie in den Schutz des § 113 dig unsere Aufgabe, das Gerechtigkeitsempfinden zu be-
einzubeziehen; denn auch das ist eine der wesentlichen dienen, oder sollten wir in erster Linie den Anstieg von
Erkenntnisse der Studie des Instituts von Professor Gewalt gegen Polizeibeamte bekämpfen?
Pfeiffer: Gerade hierbei hat die Gewaltanwendung zuge-
(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen]
nommen.
[CDU/CSU]: Das eine tun und das andere
Außerdem sollten wir überlegen, ob die Opfergruppe nicht lassen!)
in ausreichendem Maße definiert ist. Ins Auge fallen na-
Letzteres wäre doch sicherlich das oberste Ziel.
turgemäß die Fälle von Gewaltanwendung gegenüber
Schauen wir uns also Ihren Vorschlag aus dieser Rich-
Polizisten. Darüber hinaus repräsentieren aber eben viele
tung an.
andere Personengruppen von Rettungskräften über die
Feuerwehr bis hin zum THW und dem Katastrophen- Hält ein härteres Strafmaß irgendeinen Täter von An-
schutz den Staat. Auch hier sollten wir sorgsam überle- griffen ab? Ich erinnere Sie daran, dass solche Handlun-
gen und intensiv miteinander diskutieren. gen sehr häufig unter Alkoholeinfluss oder hoher Emo-
Wir haben also noch einige Punkte zu besprechen. tionalität stattfinden. Welcher Täter denkt da an das
Wir als christlich-liberale Koalition haben dabei aber Strafmaß? Ich kann Ihnen aus eigenem Erleben sagen:
auch ein klares Ziel im Blick: deutlich zu machen, dass Einen kühlen, abwägenden Eindruck haben solche Täter
wir am staatlichen Gewaltmonopol nicht rütteln lassen auf mich nicht gemacht, und ich habe mehrere solcher
und dass für uns der Schutz von Polizistinnen und Poli- Täter erlebt. Wo setzt Ihr Vorschlag dann an? Gibt es
zisten sowie anderen Vollstreckungsbeamten wichtig ist. Übergriffe, die bisher nicht ausreichend unter Strafe ge-
stellt werden können? Es gibt Tatbestände von Beleidi-
Vielen Dank. gung bis Mord, die, wenn sie dem Sachverhalt entspre-
chen, angewendet werden können. Nennen Sie mir einen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
strafwürdigen Sachverhalt, bei dem die Justiz nicht an-
lasswürdig handeln kann! Ich denke, das können Sie
Vizepräsidentin Petra Pau: nicht.
Das Wort hat der Kollege Frank Tempel für die Frak-
tion Die Linke. Das Thema „Gewalt gegen Polizeibeamte“ schlägt
hier im Haus oft in eine Extremismusdiskussion um; das
(Beifall bei der LINKEN) haben wir gerade erlebt. Es dürfte aber auch Ihnen nicht
(B) (D)
entgangen sein, dass der Großteil der Vorfälle im norma-
Frank Tempel (DIE LINKE): len polizeilichen Alltag im Streifeneinzeldienst stattfin-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen det. Das ist nun genau der Bereich, den ich selber viele
und Herren! Deutscher Richterbund, Deutscher Anwalt- Jahre erlebt habe. Da hat sich einiges in den vergangen
verein und auch die Strafverteidigervereinigungen haben Jahren geändert. Wussten Sie, dass es einen Unterschied
in Stellungnahmen Ihre Änderungswünsche zum Straf- ausmacht, ob ich eine Streifenwagenbesatzung oder drei
recht deutlich kritisiert und als sachlich falsch definiert. Besatzungen in den Einsatz schicken kann? Können Sie
sich vorstellen, dass die Kombination aus weniger für
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Zu Recht!) den Einsatz zur Verfügung stehenden Beamten und ein
Aber lassen Sie uns dieses Thema ganz nüchtern be- deutlich höher werdender Altersdurchschnitt sich nicht
trachten. Ausgangspunkt der Diskussion sind Studien gerade fördernd auf die Sicherheit von Einsatzbeamten
zum Anstieg von Gewalt gegen Polizeibeamte. Um eines auswirkt?
ganz klar zu sagen: Gewalt gegen Menschen ist grund-
Nehmen wir das Phänomen häusliche Gewalt. Hier
sätzlich abzulehnen.
gibt es den deutlichsten Anstieg an Übergriffen gegen
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Polizeibeamte. Zu Recht wurden die Handlungsmöglich-
neten der SPD und des Abg. Wolfgang keiten gerade bei diesem Phänomen für die Polizei er-
Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) weitert. Aber bei geringeren Einsatzstärken und höhe-
rem Altersdurchschnitt entstehen vermehrt Situationen,
Wenn es zu einem Anstieg kommt, muss versucht wer- in denen Beamte ihre Gesundheit aufs Spiel setzen müs-
den, gegen diesen Anstieg Maßnahmen zu ergreifen. Das sen. Hier sind also Handlungskonzepte gefragt. Die
heißt in diesem Fall: Werden Polizeibeamte immer häu- Linke will nicht Rache an den Tätern durch härtere Stra-
figer Opfer von Gewalt, sind wir in der Verpflichtung, fen, sondern weniger Opfer durch Prävention und ausrei-
dagegen zu wirken. Insofern besteht keine Zwietracht. chend personelle und technische Ausstattung.
Das Wie ist jedoch die Frage. Damit kommen wir zu (Beifall bei der LINKEN – Siegfried Kauder
einem grundlegenden Aspekt Ihres Gesetzentwurfs. Sie [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Das
schlagen höhere Höchststrafen vor. Was würden wir da- Strafrecht kennt keinen Rachegedanken!)
mit erreichen? Was wäre die Wirkung Ihrer vorgeschla-
genen Änderungen? In der Begründung Ihres Gesetzent- Noch ein Gedanke zum Schluss. Es trifft mich per-
wurfs findet sich übrigens darüber nicht ein Wort. Mit sönlich, wenn Polizeibeamte immer wieder mit der Wut
Sicherheit wird dieser Vorschlag von den Beschäftigten, von Menschen konfrontiert werden, mit einer Wut, die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9023
Frank Tempel
(A) eigentlich nicht den Beamten meint, sondern den Staat, Der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach sagte (C)
in dessen Auftrag der Beamte handelt, oder – noch ge- jüngst: „Wer einen Polizeibeamten verletzt, dem
nauer gesagt – die Wut über das, was Regierungen hier- drohen zwei Jahre. Das ist absolut nicht nachvoll-
zulande machen oder manchmal auch nicht machen. Ob ziehbar.“ Kennt er unser Strafrecht nicht?
es das Unvermögen ist, die NPD endlich zu verbieten,
oder Ihre Atompolitik – die Polizei muss es draußen aus- Antwort von Max Stadler:
baden. Es ist falsch, die Polizei zu einem Ersatzgegner Herr Bosbach ist ein exzellenter Jurist.
zu machen. Aber das fängt eben schon dann an, wenn
eine Regierung an ihrem Volk vorbeiregiert. Ändern Sie (Beifall bei der CDU/CSU)
das! Hier können Sie tatsächlich zu einer Entspannung
beitragen, und das ganz ohne Gesetzesverschärfung. Das will ich einmal so im Raum stehen lassen; wir spre-
chen zurzeit über ein wichtigeres Thema. Stadler weiter:
Danke schön.
Er hat hier aber nur den Strafrahmen für den „Wi-
(Beifall bei der LINKEN) derstand gegen Vollstreckungsbeamte“ erwähnt.
Daneben gelten selbstverständlich die deutlich hö-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: heren Strafdrohungen für Körperverletzungen.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat Frage:
der Kollege Wolfgang Wieland von Bündnis 90/Die
Grünen das Wort. Schärfere Strafen für Gewalt gegen Polizeibeamte
lehnen Sie aber ab?
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Antwort:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-
lege Ahrendt, bisher hielt ich den Vergleich der FDP mit Wir verurteilen jede Gewalt gegen Polizeibeamte.
der implodierenden DDR durch Ihren nordischen Kolle- Es ist unerträglich, wenn sie bei ihrer schweren Ar-
gen Wolfgang Kubicki für richtig schräg. beit angegriffen werden. Aber die Strafrahmen sind
ausreichend, die Gerichte können sie ausschöp-
(Marco Buschmann [FDP]: Ist er ja auch!) fen …
Aber nun ist mir aufgefallen, dass die Machthaber in der Das Interview schließt mit dem denkwürdigen Satz:
DDR auch keine Demonstrationen mochten.
Wir brauchen weder zum Schutz von Polizisten
(Marco Buschmann [FDP]: Das ist ein großer noch für andere Berufsgruppen ein Sonderstraf- (D)
(B) Unterschied!) recht.
Auch Sie haben friedliche Demonstranten in die Nähe
Wahr gesprochen; so ist es.
von Straftätern gerückt. Darüber sollten Sie einmal
nachdenken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)
bei der SPD und der LINKEN) Nur setzen Sie diese Einsicht leider nicht um.
Wir reden hier über Widerstand gegen Vollstreckungsbe- Was Sie uns hier präsentieren, ist ein reines Placebo.
amte, und Sie stellen den Ministerpräsidenten, mit dem Ich komme aus Berlin und weiß nun wirklich, was Ge-
Sie am liebsten selbst eine Koalition gebildet hätten, in walt gegen Polizeibeamte bedeutet, gerade im täglichen
diese Ecke. Ich schließe mich Frau Lambrecht an: Das Dienst. Dass auch nur eine einzige Straftat in Zukunft
war eine Schande! nicht mehr geschieht, weil Sie im Strafrahmen von zwei
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf drei Jahre gehen, glauben Sie doch selber nicht.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
LINKEN) bei der SPD und der LINKEN)
Ich will aber nicht nur Schlechtes über die FDP sagen,
Es war eine gute Idee, das Forschungsinstitut von
sondern ich will jemanden von meiner Kritik ganz deut-
Pfeiffer in Niedersachsen zu beauftragen, eine umfängli-
lich ausnehmen, jemanden, den ich niemals auch nur in
che Untersuchung über Gewalt gegen Polizeibeamte
die Nähe von Erich Honecker rücken würde, nämlich
durchzuführen. Sie warten dann aber noch nicht einmal
den Kollegen Max Stadler. Er hat in dieser Frage wie im-
das Endergebnis und die Vorschläge zur Prävention ab,
mer einen liberalen Standpunkt. Hervorragend!
sondern kommen jetzt mit diesem Vorschlag nach dem
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Motto „Immer mehr der gleichen Dosis; das wird dann
SES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Ansgar auch helfen“. Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Wer ein
Heveling [CDU/CSU]: Und er guckt richtig reales Problem einer Scheinlösung zuführt, der handelt
begeistert!) schlimmer als derjenige, der gar keine Lösung vorlegt.
Das ist die Kritik an Ihrem Entwurf.
– Er wird gleich strahlen. – Ich zitiere aus einem Inter-
view mit ihm in der taz vom 29. April dieses Jahres. Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Frage lautete: sowie bei Abgeordneten der SPD)
9024 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Wolfgang Wieland
(A) Natürlich gibt es vielschichtige Gründe für diese Art Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (C)
des Vorgehens gegen Polizeibeamte. Da müssen wir he- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
rangehen. Ausschuss für Kultur und Medien
Federführung strittig
(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Wir tun das!)
Die Lösung liegt aber in der Prävention. Es gibt soziale b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gründe, die Lebenschancen müssen verbessert werden, Gehring, Beate Müller-Gemmeke, Ekin Deligöz,
und es ist Antiaggressionsarbeit zu leisten. weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Hat dem ir-
gendwer widersprochen?) Faire Bedingungen in allen Praktika garantie-
ren
Es bedarf eines breiten gesellschaftlichen Ansatzes. So
müsste das sein. Das, was Sie hier vorlegen, ist wirklich – Drucksache 17/4044 –
in keiner Weise geeignet, um zu Verbesserungen zu ge- Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
langen. Da können und wollen wir auch nicht konstruk- Technikfolgenabschätzung (f)
tiv sein. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss
(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Kennen wir Finanzausschuss
schon!) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Das ist der falsche Weg. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Wir brauchen eine Debatte. Wir brauchen Pfeiffers Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Ergebnis, um es umfangreich erörtern zu können, und Entwicklung
nicht wieder nur sieben Thesen, die Schünemann ihm Ausschuss für Kultur und Medien
abgenötigt hat – so war es doch –, nach dem Motto: Le- Federführung strittig
gen Sie schnell etwas vor! Wir brauchen eine grundsätz- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
liche Auseinandersetzung und Abhilfe bei der Justiz. Die Alpers, Dr. Petra Sitte, Diana Golze, weiterer Ab-
hohe Zahl an Verfahrenseinstellungen ist doch auch im geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Personalmangel begründet, darin, dass die Justiz an die-
ser Stelle schlecht arbeitet. Da muss man ansetzen. Es Missbrauch von Praktika gesetzlich stoppen
geht nicht an, die Höchststrafe einfach mal so hoppla- – Drucksache 17/4186 –
hopp von zwei auf drei Jahre zu erhöhen.
Überweisungsvorschlag:
(B) (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Bildung, Forschung und
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
LINKEN) Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ich schließe die Aussprache. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
würfe auf den Drucksachen 17/4143 und 17/2165 an die Entwicklung
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Ausschuss für Kultur und Medien
schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist Federführung strittig
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
schlossen. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c auf: derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Josip Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Frak- nerin das Wort der Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller
tion der SPD von der SPD-Fraktion.
Für Fairness beim Berufseinstieg – Rechte der (Beifall bei der SPD)
Praktikanten und Praktikantinnen stärken
– Drucksache 17/3482 – Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man muss
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und so anfangen: Ja, wo sind sie denn? Sie werden das ken-
Technikfolgenabschätzung (f) nen. Eigentlich führt das zu einer Geschichte, bei der
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) man schmunzeln muss. Wenn wir fragen: „Ja, wo sind
Rechtsausschuss sie denn, die Fachkräfte, die wir schon heute so dringend
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
brauchen und morgen und übermorgen noch mehr?“
Verteidigungsausschuss – von überall tönt dieser Ruf –, dann ist zu sagen: Sie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend verstecken sich gar nicht. Sie sind mitten unter uns, nicht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9025
Gabriele Lösekrug-Möller
(A) nur im Bundestag oder in den Ministerien, nicht nur in auch in der Politik. Dieser Missbrauch – Sie alle wissen (C)
den Redaktionen und Industriebetrieben, nein, überall in das – macht nicht einmal vor den Türen unserer Ministe-
der Arbeitswelt treffen wir auf junge Menschen, die eine rien halt. Das finde ich skandalös.
abgeschlossene Ausbildung, aber keine reguläre Be-
(Beifall bei der SPD – Gisela Piltz [FDP]: Den
schäftigung haben. Zu viele Fachkräfte von morgen und
gibt es auch in Ihren Büros!)
übermorgen verkümmern in Deutschland im Wartesaal
Praktikum. Genau um diese jungen Menschen geht es Wahrscheinlich werden Sie sagen: Da gab es doch
uns in unserem Antrag. auch einmal etwas in einem Ministerium für Arbeit und
Soziales. Ja, stimmt. Auch da waren wir nicht damit zu-
Um Ihnen zu schildern, wie umfangreich das Problem frieden, wie Praktikantinnen und Praktikanten vergütet
ist, sage ich: Jede vierte Hochschulabsolventin, jeder wurden. Aber ich will Ihnen sagen: Daraus haben wir
Dritte mit schulischer Ausbildung und jede Fünfte mit gelernt. Das ist bei Ihnen bis heute noch nicht passiert.
betrieblicher Ausbildung steigt per Praktikum in den Be-
ruf ein, obwohl die Ausbildung abgeschlossen ist, das (Beifall bei der SPD)
Studium mit Erfolg absolviert wurde und im Rahmen der Wir reden über Ausbeutung im Zusammenhang mit
Ausbildung selbstredend auch viele Praktika abgeleistet jungen Menschen, die eine Ausbildung komplett abge-
wurden. Seit mehr als fünf Jahren weiß der Deutsche schlossen haben und zu Recht einen ordentlichen Be-
Bundestag, wissen wir alle um diese Situation. Zwei rufseinstieg erwarten; aber wir ermöglichen ihn in
große Petitionen, eine davon von der DGB-Jugend, hät- Deutschland nicht. Deshalb, finde ich, ist es relativ ver-
ten eigentlich auch dem Letzten von uns damals die Au- logen, wenn wir uns auf der einen Seite alle Möglichkei-
gen öffnen müssen. Doch Sie, Kolleginnen und Kollegen ten vor Augen halten, wie wir den Fachkräftemangel be-
von CDU/CSU und FDP – das muss ich Ihnen wirklich heben, aber den jungen Leuten, die wir gut ausgebildet
sagen –, haben die Augen erst einmal ganz fest zugeknif- haben, auf der anderen Seite keinen seriösen Einstieg in
fen, den Beruf ermöglichen. Ich weiß, dass viele von uns sol-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: che Beispiele kennen: in der Familie, bei Kindern, Nich-
Sie hätten damals unserem Antrag zustimmen ten und Neffen, aus der Nachbarschaft. Das spielt sich
können!) nicht im Geheimen ab.
Wir haben mit unserem Antrag voll qualifizierte Be-
frei nach dem Motto: Wenn ich nichts sehe, dann ist da
rufseinsteiger im Fokus, die ausgebeutet werden. Es ist
auch kein Problem.
nämlich nichts anderes als Ausbeutung, wenn Berufsein-
(Gisela Piltz [FDP]: Das machen wir nicht!) steiger monatelang als flexible und billige Arbeitskräfte
(B) missbraucht werden. (D)
Das ist die Devise, nach der Sie fünf Jahre lang nichts
getan haben. Fünf Jahre Blockade! (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Eine Saue-
rei ist das!)
(Beifall bei der SPD) Dann haben sie vielleicht die Hoffnung, doch irgend-
Dabei ist 2008 auch noch wissenschaftlich unterlegt wann einmal fest eingestellt zu werden. Sie sind Berufs-
worden, dass wir ein dickes Problem haben. einsteiger und Opfer unternehmerischer Interessen – im-
mer wieder. Wir wissen: Es gibt Ausnahmen. Ja, es gibt
(Gisela Piltz [FDP]: Wer hat denn elf Jahre re- lobenswerte Unternehmen; aber sie stehen leider nicht
giert?) für das große Ganze.
INIFES, das Internationale Institut für Empirische So- (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Sie stehen aber
zialökonomie, hat festgestellt: Je jünger die Alters- für die Mehrheit!)
gruppe, desto größer der Anteil derjenigen, die nach Wenn Sie sich einmal die Mühe machen, die Internet-
Ausbildungsabschluss nur über ein Praktikum einsteigen seite der DGB-Jugend oder die von fairwork e. V. anzu-
konnten. Nur jeder Vierte wurde anschließend in ein Ar- schauen, dann werden Sie feststellen – es wurde eine
beitsverhältnis übernommen. Dieser negative Trend ist große Umfrage durchgeführt –, dass viele junge Leute
bis heute ungebrochen. Das heißt, wir haben eine ein- gute Erfahrungen im Praktikum gemacht haben und dass
deutige Datenlage: Berufseinstieg in Deutschland wird andere hingegen sagen: Nie wieder so; keine Bezahlung,
immer prekärer. keine freien Tage und vor allem keine Chance, etwas zu
Dann musste ich lesen – Herr Kollege Schummer, ich lernen. – Genau darum soll es in einem guten Praktikum
sage es jetzt einmal Ihnen –, dass Albert Rupprecht von aber gehen.
einigen wenigen schwarzen Schafen spricht. Dazu kann (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Kai Gehring
ich nur sagen: Es geht nicht um wenige schwarze [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Schafe, es geht um einen immer größer werdenden Teil
der Herde. Da sind inzwischen ganz viele schwarz ge- Wir sagen deshalb: Wir möchten, dass der Begriff
worden; denn Scheinpraktika sind im Laufe der Jahre sa- „Praktikum“ im BGB definiert ist. Wir wollen eine Min-
lonfähig geworden, destvergütung festschreiben. Wir wollen, dass jedes
Praktikum mit einem schriftlichen Vertrag begründet
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wird. Wir meinen auch, dass die Zeit der Betriebszuge-
Vor allem in den Ministerien!) hörigkeit im Rahmen eines Praktikums angerechnet wer-
9026 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Gabriele Lösekrug-Möller
(A) den muss, wenn später eine Einstellung erfolgt. Das sind den. Ohne unseren Druck, Herr Kollege, wäre das heute (C)
unsere Mindestforderungen. Außerdem wollen wir die noch nicht so weit.
Rechte von Missbrauchsopfern stärken.
(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich fahre fort. Es geht auch um diejenigen, deren
Frau Kollegin Lösekrug-Möller, erlauben Sie eine Rechte missbraucht wurden. Wir wollen, dass sie besser
Zwischenfrage des Kollegen Kurth? geschützt werden. Auch dazu finden Sie Vorschläge in
unserem Antrag.
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Ich fasse zusammen, worum es der SPD geht: Sie füh-
Selbstverständlich. ren eine Debatte über den Fachkräftemangel und tun
zugleich nichts, aber auch gar nichts dafür, dass unsere
jungen ausgebildeten Fachkräfte zuversichtlich und or-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dentlich in ihr Berufsleben einsteigen können. Das ist
Bitte schön, Herr Kurth. ein Problem. Wenn wir es jetzt nicht lösen, machen wir
uns doppelt schuldig. Sie alle wissen, dass wir einem
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): doppelten Abiturjahrgang und damit einer großen
Frau Kollegin, Sie sprachen von Ausbeutung beim Menge von jungen Leuten entgegensehen, die studieren
Berufseinstieg, von Opfern unternehmerischer Ausbeu- wollen.
tung. Ich habe die große Sorge, dass sie, wenn sie ihre Aus-
bildung abgeschlossen haben, nur das Angebot bekom-
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): men, erst einmal ein Praktikum zu machen. Dann ma-
Ja. chen sie vielleicht noch eines und noch eines und noch
eines. Das ist die Erfahrung, die junge Leute machen,
wenn sie in den Beruf einsteigen.
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP):
In Thüringen wurde jüngst bei den Haushaltsberatun- (Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Sie
gen bekannt, dass das von der SPD geleitete Wirtschafts- kennen die Realität nicht!)
ministerium keinerlei Mittel für Praktika eingestellt hat. Ich finde, das ist ein unhaltbarer Zustand.
Es wurde angefragt, wie viele Mittel das Wirtschafts-
ministerium einzustellen gedenkt. Die Frage wurde von Ich freue mich, dass nicht nur von uns, sondern auch
Herrn Machnig von der SPD wie folgt beantwortet: Er von den Grünen und von den Linken ein Antrag vorliegt.
(B) gedenke nicht, Mittel einzustellen; er bekomme Prakti- Diese drei Anträge haben ja eines gemeinsam: Sie (D)
kanten auch so. Ist das unter Ausbeutung zu verstehen? schauen der Realität ins Auge und schlagen konkrete Lö-
Sind die dortigen Praktikanten vielleicht Opfer ministe- sungen vor. Diese hätte ich gerne – das sage ich als ehe-
rieller Ausbeutung? maliges Mitglied des Petitionsausschusses – vor vielen
Jahren schon gehabt. Da haben sich Zigtausende von
jungen Leuten an den Bundestag gewandt und um Hilfe
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
gebeten. Diese ist nicht möglich gewesen, weil das Bil-
Ich freue mich über Ihre Frage, und ich will sie Ihnen dungsministerium in der Großen Koalition – Herr
gerne beantworten: Das ist nicht in Ordnung. Das Fuchtel, ich nehme Sie da jetzt aus; Sie vertreten heute
Schlimme ist: Nichts anderes tun viele CDU- und FDP- ein anderes Haus – strikt abgelehnt hat, festzustellen,
geführte Ministerien. Da können alle noch dazulernen. dass es überhaupt einen Handlungsbedarf gibt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der FDP: Müntefering, ja!)
DIE GRÜNEN – Uwe Schummer [CDU/
CSU]: Ich dachte, Sie hätten gelernt!) Wir sollten unsere jungen Leute nicht so im Stich las-
sen. Handeln Sie! Das Beste wäre, Sie würden unserem
Vielleicht haben Sie die entsprechende Passage in mei- Antrag zustimmen.
ner Rede, Herr Kollege, überhört.
Vielen Dank.
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Schicken Sie
Ihre Rede an den Kollegen in Thüringen!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Ich halte viel davon, wenn man klar sagt, wo die Pro-
bleme liegen, und dann anfängt, die Probleme zu lösen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das ist das Ziel unseres Antrags. Sie können sicher sein: Das Wort hat der Kollege Uwe Schummer von der
Ich werde den Kollegen Machnig anschreiben. Ich bin CDU/CSU-Fraktion.
mir sicher, dass er seine Haltung revidieren wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Da bin ich ge-
spannt!)
Uwe Schummer (CDU/CSU):
Übrigens bin ich dankbar, dass sich der Ältestenrat Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
des Bundestages aufgrund unseres hartnäckigen Einsat- Liebe Kollegin Lösekrug-Möller, wenn Sie sagen, dass
zes entschieden hat, in Sachen Praktika besser zu wer- es fünf Jahre Stillstand gab, sollten Sie auch bedenken,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9027
Uwe Schummer
(A) dass der Arbeitsminister in der alten Bundesregierung, schäftigung. Das heißt, das Horrorszenario, das Sie eben (C)
also zu Zeiten der Großen Koalition, eine ganz wichtige gemalt haben, dass es eine Generation Praktikum gibt,
Funktion innehatte. dass flächendeckend Ausbeutung stattfindet, ist völlig
überzogen, falsch und diskriminierend,
(Anette Kramme [SPD]: Der ist vom Bil-
dungsministerium gebremst worden!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie müssten also auch sagen: Das von uns geführte Ar- weil all die Unternehmen, die Praktika anbieten, damit in
beitsministerium hat diesen Stillstand mit verursacht. die falsche Ecke gestellt werden.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ihre
Fraktion wollte das doch nicht! Bleiben Sie Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
doch bei der Wahrheit!) Herr Kollege Schummer, erlauben Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Lösekrug-Möller?
Ich denke, miteinander zu regieren und sich dann wie
heute aus dem Staub zu machen, das ist zu billig. Hier
Uwe Schummer (CDU/CSU):
sollten Sie entsprechend Mitverantwortung übernehmen.
Immer, wenn sie kurz ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
derspruch bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
– Die Zwischenrufe zeigen, wie wichtig es ist, dass mor- Bitte schön.
gen im Bundesrat das Bildungspaket verabschiedet wird.
Ich wünsche mir allerdings auch ein Bildungspaket für Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
die SPD-Fraktion. Die Länge der Frage, Herr Kollege Schummer, be-
(Zurufe des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann stimme immer noch ich.
[SPD]) Ich möchte wissen, ob Sie mit mir übereinstimmen,
Meine lieben Freunde, ich habe seit 2002 selbst hun- dass, wenn es um die Regelung von Praktika geht, wie
dert Praktikanten über das Bundestagsbüro erlebt. wir sie in unserem Antrag vorschlagen, es mitnichten um
Praktika geht, die im Rahmen einer Ausbildung, eines
(Anette Kramme [SPD]: Alle bezahlt?) Studienganges, einer schulischen Ausbildung im Grunde
– Alle bezahlt. 400 Euro für eine projektbezogene Auf- genommen Regelungen der Bundesländer unterliegen.
gabe. Sie laufen mit und erleben in der Parlamentswoche Uns geht es vielmehr ausdrücklich um jene jungen Men-
schen – der Fachbegriff lautet: Berufseinsteiger –, die (D)
(B) die verschiedensten Gremien. Es gibt ein Zeugnis. Das
ist eine tolle Talentschmiede. Es sind auch wunderbare über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen. Ist
Botschafter im Heimatkreis dafür, dass parlamentarische Ihnen dieser Zusammenhang klar?
Demokratie eben nicht nur aus Schimpferei besteht, son-
dern dass man auch versucht, miteinander vernünftige Uwe Schummer (CDU/CSU):
Lösungen zu finden und Argumente auszutauschen, Die Frage ist, in welcher Form diese Definition in ei-
ohne sich aus der Verantwortung zu stehlen. nem Gesetz möglich ist und ob Abgrenzungsnotwendig-
keiten vorhanden sind. Das ist ein Thema, über das wir
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
im Ausschuss und in der weiteren Debatte reden werden.
Welche Lösung schlagen Sie vor? – Zurufe
von der SPD) (Anette Kramme [SPD]: Das Bundesarbeitsge-
richt kann definieren, aber die Union offen-
So gibt es verschiedenste Praktika, die absolut positiv
sichtlich nicht!)
und wichtig sind: Praktika zur Berufsorientierung, an de-
nen in diesem Jahr 300 000 Schüler teilgenommen ha- – Wir als Parlament können selber definieren; denn wir
ben und sich weiterentwickeln konnten; Praktika zum sind gesetzgebende Instanz. Das gehört zur Gewaltentei-
Einstieg in die Berufswelt, die von der Bundesagentur lung, die wir miteinander respektieren sollten.
für Arbeit finanziert werden; studienbegleitende Prak-
tika als integraler Bestandteil des Studiums oder Aus- Das Entscheidende für gute Praktika ist der Paradig-
landspraktika. In allen Befragungen, die mir vorliegen, menwechsel. Dieser liegt derzeit darin, dass im Jahr
hat der überwiegende Teil derer, die ein Praktikum ab- 2005 jeden Tag netto 2 000 Arbeitsplätze vernichtet
solviert haben, gesagt: Es war sinnvoll; es war hilfreich; wurden und dass in diesem Jahr, also 2010, trotz der
es war gut. Weltwirtschaftskrise jeden Tag netto 1 100 Arbeitsplätze
neu geschaffen werden. Erstmals seit über 30 Jahren re-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den wir über einen Fachkräftemangel. Heute ist es nicht
mehr so – das ist der Paradigmenwechsel –, dass sich
Es gibt auch eine Studie des Internationalen Zentrums
viele Qualifizierte auf wenige Arbeitsplätze bewerben.
für Hochschulforschung, bei der 70 000 Absolventen be-
Vielmehr müssen viele Unternehmen heute um die fä-
fragt wurden. Als Ergebnis wurde festgehalten, dass je-
higsten Köpfe kämpfen. Hier hat sich das Gewicht im
der Hochschulabsolvent im Schnitt nach drei Monaten
Sinne der Beschäftigten massiv verändert.
eine solide und vernünftige Arbeit gefunden hat. Nach
18 Monaten lag die Quote der Arbeitslosigkeit bei dieser Ich halte Ihre Anträge für schmalspurig. Wir müssen
Gruppe bei 2 Prozent; hier herrschte folglich Vollbe- in der Tat miteinander überlegen und darüber reden, was
9028 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Uwe Schummer
(A) wir tun können, um den Fachkräftemangel und auch die (Beifall bei der LINKEN) (C)
Abwanderung hier im Land zu stoppen. In einem sol-
chen Diskurs sollten wir verschiedene Themen bespre- Agnes Alpers (DIE LINKE):
chen. Mit Ihrer Konzentration auf Praktika führen Sie
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
eine Scheindebatte, die bei der Behandlung des Themas
Kollegen! Es bleibt dabei: Jeder Dritte nach einer schuli-
„Gute Arbeit und gute Konditionen für die Arbeit“ über-
schen Ausbildung, jeder Vierte nach einem Hochschul-
haupt nicht weiterführt.
studium und jeder Fünfte nach einer betrieblichen Aus-
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie wol- bildung steigt über ein Praktikum in den Beruf ein. Diese
len sich wieder wegschummeln!) Praktikantinnen und Praktikanten werden oft gar nicht
oder schlecht bezahlt. Nur jeder Fünfte wird nach dem
Ich kann Ihnen nur empfehlen, dafür einzutreten, dass Praktikum eingestellt. Das ist in Deutschland für viele
das Bildungspaket morgen im Bundesrat verabschiedet der einzige Weg, sich eine berufliche Perspektive aufzu-
wird. Das Niveau Ihrer Zwischenrufe zeigt, dass auch bauen.
Sie dieses Bildungspaket benötigen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) Die Bundesregierung tut so, als ob das alles ganz nor-
mal sei. Dabei weist eine Studie des Bundesministe-
Von folgenden Fragen waren wir als Exportnation in riums für Arbeit und Soziales aus dem Jahr 2008 darauf
den letzten Jahren der Krise in besonderer Weise betrof- hin, dass viele Betriebe Praktikantinnen und Praktikan-
fen: Wie ist die Lohnentwicklung, die sich auch dadurch ten als reguläre Arbeitskräfte ausnutzen. Das darf so
verbessert, dass wir entsprechende Arbeitsmarktdaten nicht bleiben.
– es gibt unter 3 Millionen Arbeitslose in unserem
Land – haben? Warum ist die Bürokratie bei Existenz- (Beifall bei der LINKEN)
gründungen so überbordend? Wie sind die Sicherheit
und die Standards für Arbeitsplätze? Wie sind die beruf- Für Schwarz-Gelb sind solche Praktika noch immer kein
lichen Perspektiven? Gibt es ausreichend Akzeptanz für typischer Weg für den Berufseinstieg. Die Bundesregie-
Technik? Auch das führt dazu, dass Menschen in andere rung behauptet auch noch, „dass sich der Arbeits- und
Länder abwandern. Das wäre ein Breitbandthema, über der Ausbildungsmarkt seit 2008“ – als die Studie veröf-
das wir im Ausschuss und darüber hinaus reden sollten. fentlicht wurde – „bereits sehr positiv zugunsten der Be-
Notwendig ist ein Bündel an Maßnahmen. Die entspre- rufsanfänger entwickelt“ habe.
chenden Konsequenzen sind zu ziehen. (Dr. Philipp Murmann [CDU/CSU]: Das ist
(B) (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Reden Sie auch so!) (D)
doch einmal zur Sache!) Sehen Sie den Tatsachen endlich einmal ins Auge: Für
Wenn wir jetzt einmal konkret über Missbrauch reden die Absolventinnen und Absolventen im Praktikum hat
– jeder hat dafür sein Beispiel –, dann denke ich an die sich in Deutschland nichts verändert.
SPD in Hamburg; denn sie bietet derzeit ein Wahlkampf- Die Generation Praktikum ist aktueller denn je. Seit
praktikum an. Lernziel: Plakate kleben, Stände aufbauen den Massenpetitionen im Jahre 2006 liegen die Pro-
und Zettel verteilen. Lernzeit: 37,5 Stunden in der Wo- bleme glasklar auf dem Tisch. Unsere Fraktion, Die
che. Die SPD zahlt hierfür 300 Euro monatlich, also Linke, wollte schon im Jahre 2007 das Berufsbildungs-
2 Euro die Stunde. Erwartet werden aber: fortgeschritte- gesetz so ändern, dass vertragliche Mindestschutzbe-
nes Studium, Führerschein, EDV-Kenntnisse und ein stimmungen für alle Praktikantinnen und Praktikanten
Höchstmaß an Flexibilität. Das ist das sozialdemokrati- gelten.
sche Problem: Sie sind Weltmeister in der Theorie und
Anfänger in der Praxis. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Seit Jahren fordern Betroffene und Gewerkschaften,
endlich etwas zu verändern.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Meine Damen und Herren von der Koalition, all das
Herr Kollege Schummer! ignorieren Sie einfach; Sie verbauen Zukunftschancen,
statt sie zu schaffen.
Uwe Schummer (CDU/CSU):
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Aus der Opposition heraus können Sie immer nur
tolle Anträge stellen. Ich finde, für dieses Jahr reicht es. Das Einzige, was Ihnen immer wieder einfällt, ist, die
Alles andere sollten wir im nächsten Jahr weiterdiskutie- Wirtschaft um Selbstverpflichtung zu bitten. Doch die
ren. Unternehmen husten Ihnen da etwas: Nur 1 500 von ins-
gesamt 3,5 Millionen Betrieben haben sich an die Min-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deststandards für Praktika gehalten. Gratuliere, meine
Damen und Herren von der Regierung! Sie sagen:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 0,5 Prozent sind schon viel mehr als nichts. Ich sage Ih-
Das Wort hat die Kollegin Agnes Alpers von der nen heute: Der Weg der Selbstverpflichtung ist einfach
Fraktion Die Linke. gescheitert.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9029
Agnes Alpers
(A) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
Anton Schaaf [SPD]) Sie glauben also nicht, dass es das gibt?)
Die Folgen für den Staat und für die Betroffenen sind Die Mehrheit der Praktikanten war mit dem Praktikum
immens: Durch Ihre Praxis wird ein solider Berufsein- auch inhaltlich zufrieden, sowohl hinsichtlich des Ni-
stieg bei vielen Absolventen immer weiter hinausgezö- veaus als auch des Lerngehalts. Gleichwohl – das ist der
gert. Dadurch verschiebt sich auch die Familienplanung Unterschied – gab es spürbare Unterschiede bei der Be-
immer weiter nach hinten. In Deutschland wandern gut zahlung der Praktika. Ein Fazit der HIS-Studie war, dass
ausgebildete Fachkräfte aus. Dem Staat entgehen so So- „der berufliche Einstieg über Praktika mitnichten der
zialversicherungsbeiträge und Steuereinnahmen. Wann Regelfall“ ist.
beenden Sie endlich diesen Spuk? Wir müssen den folgenden Punkt ansprechen: Die im
Ich muss die Bildungsministerin auffordern: Bezahlen Zuge der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudien-
Sie die Praktikantinnen und Praktikanten in Ihrem gänge erfolgte verstärkte Einbettung von Praktika in den
Ministerium! Wo leben wir eigentlich, wenn die deut- Studienordnungen war eine notwendige Maßnahme.
sche Bildungsministerin die Praktikantinnen und Prakti-
kanten in ihrem eigenen Hause ausnutzen lässt? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Neumann, darf ich Sie kurz unterbre-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie
chen? Die Kollegin Mast von der SPD-Fraktion würde
des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE
gerne eine Zwischenfrage stellen.
GRÜNEN] – Patrick Kurth [Kyffhäuser]
[FDP]: Da begeben Sie sich auf dünnes Eis!)
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):
Wir Linke bleiben dabei: Wir wollen das Berufsbil- Ja.
dungsgesetz so gestalten, dass es auch für Praktika nach
der Ausbildung und nach dem Studium gilt. Wir setzen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
uns weiterhin dafür ein, dass Praktika nicht länger als
Bitte schön, Frau Mast.
drei Monate dauern, dass Praktikantinnen und Praktikan-
ten die vollen Mitbestimmungsrechte erhalten und dass
Praktika nach der Ausbildung und nach dem Studium Katja Mast (SPD):
gut bezahlt werden. Herr Kollege Dr. Neumann, angenommen, Sie hätten
recht und das Problem würde nicht existieren,
Meine Damen und Herren von der Regierung, Größe
zeigt der, der Fehler zugibt und bereit ist, neue Wege zu (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Das hat er
(B) gehen. Wir laden Sie deshalb heute ein, unseren Antrag nicht gesagt!) (D)
zu unterstützen. dann dürfte es für Sie doch kein Problem sein, unseren
Vielen Dank. Anträgen zuzustimmen, weil sie dann ja auch nicht scha-
den würden. Stimmen Sie mit mir überein?
(Beifall bei der LINKEN)
(Lachen bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich bin zwar nicht Ihrer Meinung. Wenn es aber so ist,
Das Wort hat der Kollege Dr. Martin Neumann von wie Sie sagen, wäre es doch kein Problem, die Debatte
der FDP-Fraktion. jetzt zu schließen. Dann könnten Sie unserem Antrag zu-
stimmen, und die Welt wäre für die Jugendlichen in Ord-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nung.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): LINKEN – Gisela Piltz [FDP]: Das ist eine in-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und teressante Verdrehung!)
Kollegen! Wir beschäftigen uns heute einmal mehr mit
Anträgen der Opposition, die zum Ziel haben, ein Pro- Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):
blem zu lösen, das so, wie es in den Anträgen steht, nicht Liebe Kollegin, ich habe ganz klar gesagt, dass die
zu lösen ist. Anträge der Oppositionsfraktionen mitnichten das Pro-
(Anette Kramme [SPD]: Da träumen Sie blem lösen.
aber!) (Anette Kramme [SPD]: Ah! – Anton Schaaf
Bereits die HIS-Studie aus dem Jahr 2007 mit dem Titel [SPD]: Sie haben gesagt, es gibt kein Pro-
„Generation Praktikum – Mythos oder Massenphäno- blem!)
men?“ hat mit Blick auf den Vorwurf, dass Praktikanten – Hören Sie mir weiter zu. Ich werde Ihnen das erklären.
als billige Hilfskräfte eingesetzt werden, empirisch Sie lösen das Problem nicht.
nachgewiesen,
(Anette Kramme [SPD]: Erkenntnisgewinn
… dass … der Begriff „Generation Praktikum“ mit während der Rede! – Gisela Piltz [FDP]: Ich
Blick auf den beruflichen Verbleib von Hochschul- weiß gar nicht, warum diese SPD nicht zuhö-
absolventen nicht gerechtfertigt ist. ren kann!)
9030 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Martin Neumann (Lausitz)


(A) Lassen Sie mich ganz kurz etwas zu den Anträgen der Berufsbildungsgesetzes – das haben Sie gesagt – und des (C)
Oppositionsfraktionen sagen: Arbeitsschutzgesetzes, und sie genießen auch den vollen
Sozialversicherungsschutz.
Erstens. Der allgemeinen Aussage, dass Absolventen-
praktika nach einer Ausbildung oder einem Studium Interessant ist – das ist der vierte Punkt –, dass sich
grundsätzlich fragwürdig sind – das merken Sie ja an –, bis heute mehr als 1 500 Unternehmen freiwillig der Ini-
muss entschieden widersprochen werden. Das zeigen tiative „Fair Company“ angeschlossen haben.
auch die Ergebnisse der Studie. Eine Vielzahl von Stu-
diengängen, gerade an Universitäten – das muss man (Anette Kramme [SPD]: Wie viele Unterneh-
sich einmal genau anschauen –, zielt nicht auf ein klar men gibt es in Deutschland?)
umrissenes Berufsfeld. Selbst nach Abschluss eines Stu- Darunter sind 23 von 30 DAX-Unternehmen – das sind
diums kann daher ein Praktikum zur Orientierung oder fast 80 Prozent –, die ihre Praktikanten grundsätzlich be-
zum Ausfüllen von Übergangszeiten sinnvoll sein. Ich zahlen. Selbst wenn Sie das hier bestreiten, sage ich: Die
denke, dass es viele Praxisbeispiele gibt, die belegen, FDP setzt daher auf die Selbstverpflichtung der Wirt-
dass es für den Lebenslauf, für die Vita eines Absolven- schaft.
ten und damit für seinen weiteren Berufsweg wichtig ist,
vor dem tatsächlichen Berufseinstieg unterschiedliche (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Oh!)
Erfahrungen gemacht zu haben. – Hören Sie bitte genau zu. – Die genannten Zahlen ge-
(Anette Kramme [SPD]: Aber bitte bezahlt!) ben uns wieder einmal recht.
Zweitens. Der angebliche Regelungsbedarf hinsicht- Wir haben gute Möglichkeiten, Absolventen frühzei-
lich Dauer und Vergütung – darum geht es in Ihren An- tig an das Unternehmen zu binden. Denken Sie bitte da-
trägen – wird nicht gesehen. Das zeigen auch die Ergeb- ran, dass derjenige Arbeitgeber schlecht beraten ist, der
nisse der HIS-Studie. in diesen Zeiten gute Absolventen, die er als Praktikan-
ten in seinem Unternehmen beschäftigt, gehen lässt, ins-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
besondere mit Blick auf die Zukunft.
Das ist Quatsch!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Herr Gehring, die meisten Praktika dauern nur kurze
der CDU/CSU)
Zeit. 50 Prozent dauern maximal drei Monate.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Lesen Sie die Studie einmal komplett!)
Herr Kollege Neumann, es besteht der Wunsch nach
(B) Ihr Vorschlag, eine Mindestvergütung von monatlich einer Zwischenfrage der Kollegin Alpers. (D)
350 Euro brutto einzuführen – damit komme ich auf das
Kernproblem zurück –, kann doch wohl nicht ernst ge- Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):
meint sein. Wollen Sie tatsächlich einen weiteren Nie- Bitte schön.
driglohnsektor schaffen? Das wäre ein Missbrauch von
Praktika. An dieser Stelle muss nicht mit gesetzlichen
Regelungen entgegengewirkt werden. Das zeigt die Agnes Alpers (DIE LINKE):
HIS-Studie. Seltene Ausnahmen, die Sie hier beschrie- Herr Kollege Neumann, Sie haben gerade hervorge-
ben haben, sind nicht der Regelfall. hoben – das hatte ich vorhin schon einmal gesagt –, dass
sich 1 500 Betriebe an der Selbstverpflichtung bezüglich
Ich komme jetzt ganz kurz auf die Aussage der Bun- Mindeststandards beteiligt haben. Herr Neumann, wir
desregierung in der Antwort auf die Kleine Anfrage der haben in Deutschland insgesamt 3,5 Millionen Betriebe.
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Drucksache 17/3047 – 1 500 Betriebe entsprechen ungefähr 0,05 Prozent aller
hinsichtlich des Bedarfs an gesetzlichen Regelungen zu Betriebe. In all den letzten Jahren haben sich also nur
sprechen. Dem ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen. 0,05 Prozent an der Selbstverpflichtung beteiligt. Ich
Herr Präsident, ich zitiere ganz kurz aus dieser Antwort: frage Sie angesichts dieser Erfahrung, dass sich über
Entscheidend ist aber, dass sich der Arbeits- und viele Jahre eine so geringe Selbstverpflichtungsquote er-
der Ausbildungsmarkt seit 2008 bereits sehr positiv gibt: Ist das eine Grundlage, auf der wir aufbauen kön-
zugunsten der Berufsanfänger entwickelt hat und nen?
auch die Prognose auf eine weiter steigende Nach-
Herr Neumann, Sie sagen, dass diese Orientierung für
frage nach qualifizierten jungen Fachkräften schlie-
den Berufseinstieg positiv ist. Ich frage mich: Wenn wir
ßen lässt. in allen Bereichen einen so großen Fachkräftemangel ha-
Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt. ben, warum müssen sich dann gut ausgebildete Fach-
kräfte und gut ausgebildete Akademiker orientieren? Die
Ich will noch einen dritten Punkt vortragen. Bereits Akademiker sagen nach dem zweiten oder dritten Prakti-
heute sind junge Menschen, die sich in einer Berufsaus- kum, dass sie das vierte, fünfte oder sechste Praktikum
bildung befinden oder ein Praktikum absolvieren, hin- nicht mehr im Lebenslauf angeben, weil es einen schlech-
sichtlich ihrer Vergütungsansprüche, hinsichtlich der Ar- ten Eindruck macht. Bitte erklären Sie uns das einmal.
beitszeit sowie hinsichtlich Fragen der Sicherheit und
Gesundheit am Arbeitsplatz durch rechtliche Regelun- (Gisela Piltz [FDP]: Haben Sie noch etwas an-
gen geschützt. Sie unterliegen den Bestimmungen des deres drauf als Zahlen?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9031

(A) Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Wunderlich [DIE LINKE]: Wie bei vielen an- (C)
Das war mehr als eine Frage. Ich möchte ganz kurz deren Dingen auch!)
darauf antworten. Das, was ich gesagt habe, bezog sich
Dass die FDP hier heute durch Herrn Neumann erst-
auf die Unternehmen, die sich dieser Selbstverpflichtung
mals einräumt, dass es ein Problem bei Praktika gibt, ist
angeschlossen haben. Gehen Sie bitte nicht davon aus,
zwar durchaus bemerkenswert und interessant, aber ich
dass eine Regelung für den Umgang mit Praktikanten
hätte mir gewünscht, dass Sie einen praktikablen Lö-
unbedingt notwendig ist. Warum soll es nicht möglich
sungsvorschlag machen. Selbstverpflichtungen – das ist
sein – ich habe ja gerade über die Selbstverpflichtung
sehr deutlich geworden – sind keine Lösung; sie funktio-
gesprochen –, dass es auch ohne Regelung faire Bedin-
nieren nicht. Mit Ihrer Position schützen Sie nicht die
gungen gibt? Schützen wir doch die Praktikanten vor
Praktikanten, sondern Unternehmen, die Praktikanten
übermäßigen Regelungen,
nicht schützen.
(Lachen bei der SPD und der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
lassen wir ihnen doch die Perspektive, sich vielschichtig sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
zu orientieren, um in der beruflichen Weiterbildung Er- KEN)
fahrungen für den zukünftigen Beruf zu sammeln.
Der Berufseinstieg der jungen Generation hat sich in
(Anette Kramme [SPD]: Sie sind lustig! – den letzten Jahren auch infolge der Wirtschaftskrise er-
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ein schwert. Das ist ganz offensichtlich. Mittlerweile ist es
schlechter Witz!) alltägliche Erfahrung, dass selbst sehr gut ausgebildete
junge Menschen mit Praktika, mit Honorar- und Mini-
Ich komme zum fünften und letzten Punkt. Da hören jobs sowie mit befristeten Arbeitsverträgen konfrontiert
Sie bitte ganz genau zu. Wenn wir eine weitere Regelung sind.
zum Zugang und zur Ausgestaltung von Praktika zulas-
sen würden – das machen wir ja nicht –, dann würden Damit können wir uns nicht einfach abfinden, son-
das Angebot, die Flexibilität und auch die Inanspruch- dern wir müssen die Chancen aller jungen Menschen
nahme von Praktikumsplätzen gefährdet werden. ganz klar verbessern. Uns sind faire Praktika während
der Ausbildung und während des Studiums und danach
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ein guter Berufseinstieg statt Warteschleifen wichtig.
Denken Sie bitte an gemeinnützige Organisationen, an Das muss das gemeinsame Ziel aller Fraktionen in die-
soziale Organisationen und dergleichen. Bei diesen Or- sem Haus sein.
ganisationen ist es oftmals schwierig, Praktika genau zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) regeln. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (D)
Wir brauchen eine Perspektive für die jungen Men- LINKEN)
schen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Auch das, was auf Natürlich sind Praktika in der Regel eine wertvolle
EU-Ebene beraten wurde, sehen wir sehr kritisch, weil Lernphase; das bestreitet niemand, auch niemand aus der
wir damit rechnen, dass es in den meisten Fällen Nach- Opposition. Sie können zur Berufsorientierung dienen;
teile für die Praktikumssuchenden mit sich bringt. Las- das ist doch ganz klar. Aber wir können nicht einfach
sen wir den Unternehmen bei der Schaffung von Rege- vom Tisch wischen, dass es Probleme in Form des Miss-
lungen Freiheit und Möglichkeiten und den Praktikanten brauchs von Praktika gibt. Den Problemen, die es hier
und Berufseinsteigern die Chancen, weiter Erfahrungen gibt, muss sich auch die konservative, neoliberale Seite
zu sammeln, um einen erfolgreichen Weg in den Beruf dieses Hauses stellen, statt sie weiterhin zu leugnen und
zu finden. schönzureden.
Ich bedanke mich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Es ist einfach nicht hinnehmbar, dass Unternehmen
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring von unter dem Deckmantel von Praktika billige Arbeitskräfte
Bündnis 90/Die Grünen. einstellen, reguläre Jobs ersetzen oder sogar Lohndum-
ping betreiben. Praktika sind Lernverhältnisse, und sie
müssen endlich auch als solche definiert werden. Sie
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
dürfen weder als Arbeitsverhältnisse noch als Ausbeu-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tungsverhältnisse missbraucht werden. Auch das müsste
Diese Debatte und die Anträge von SPD, Linksfraktion in diesem Hause eigentlich Konsens sein.
und von uns Grünen sind offensichtlich bitter notwen-
dig. Sie sind leider notwendig, weil der Bundesregierung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
offensichtlich das Problembewusstsein und der Reali- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
tätssinn für die Situation der jungen Generation in die- LINKEN)
sem Land völlig fehlen.
Es ist seit Jahren überfällig, dass die Bundesregierung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, klare rechtliche Regelungen zum Schutz von Praktikan-
bei der SPD und der LINKEN – Jörn tinnen und Praktikanten trifft. Bestehende Schutzlücken
9032 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Kai Gehring
(A) müssen endlich geschlossen werden, um für alle Prak- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
tika faire Bedingungen zu garantieren. Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Ich möchte Ihnen die Daten einer Untersuchung des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, also einer Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Studie Ihres eigenen Hauses, ans Herz legen. Die zentra- Wir Grüne fordern, gesetzlich ganz klar zu regeln,
len Ergebnisse sind, dass die Praktikumsphase für jede dass Praktika Lernverhältnisse sind, dass jeder Prakti-
zweite Person länger als sechs Monate dauert und das kant einen Vertrag und ein Zeugnis bekommt und dass
Praktikum für die Hälfte der Praktikanten unbezahlt ist. die Dauer von Praktika auf maximal drei bis sechs Mo-
nate begrenzt wird, damit gar nicht erst das Risiko be-
(Agnes Alpers [DIE LINKE]: Genau!) steht, dass reguläre Jobs ersetzt werden oder der Grund-
Bei den Absolventen solcher Praktika geht es nicht um satz der Arbeitsmarktneutralität verletzt wird.
eine Minigruppe. Denn 20 Prozent der jungen Erwachse- Der letzte Punkt: Natürlich müssen Studierende und
nen machen nach dem Abschluss der Berufsausbildung Azubis, die ein Praktikum machen, eine Aufwandsent-
oder des Studiums ein Praktikum oder mehrere Praktika; schädigung von mindestens 300 Euro pro Monat erhal-
(Agnes Alpers [DIE LINKE]: 1,9 Millionen ten. Wenn Sie diese und weitere Regelungsvorschläge
junger Menschen!) aus den Anträgen der Oppositionsfraktionen aufgreifen
und sie sich zu eigen machen würden, dann würden
das sind 1,9 Millionen junger Menschen in diesem Land; Praktika gestärkt und Ausnutzung und Prekarität ge-
dieser Problematik müssen Sie sich endlich stellen. Nur stoppt. Das müssen Sie jetzt endlich tun. Ich hätte mir
bei wenigen von ihnen, nämlich bei genau 11 Prozent, bei Ihnen einen etwas größeren vorweihnachtlichen
mündet das Praktikum in ein sicheres Jobverhältnis. So- Ruck gewünscht, damit Sie jetzt endlich handeln.
mit ist offenkundig, dass Praktika auch missbraucht wer-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
den. Wer das ignoriert, liebe Kolleginnen und Kollegen
bei der SPD und der LINKEN)
von Schwarz-Gelb, der versündigt sich an den Berufs-
einstiegschancen der jungen Generation.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der der Kollege Dr. Philipp Murmann von der CDU/CSU-
LINKEN) Fraktion das Wort.
Wir Grüne weisen seit Jahren auf die zunehmende (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) Ausnutzung von Praktikanten als unter- und unbezahlte (D)
Arbeitskräfte hin. Wir haben 2006, übrigens als erste
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU):
Fraktion im Deutschen Bundestag, einen Antrag einge-
bracht, der Vorschläge zur Beseitigung unfairer Prakti- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
kumsbedingungen beinhaltete. Wir waren auch diejeni- ren! Jetzt kommt der vorweihnachtliche Ruck.
gen, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass sich (Agnes Alpers [DIE LINKE]: Aha! Aber Herr
der Bundestag fraktionsübergreifend eine Selbstver- Murmann!)
pflichtung im Hinblick auf den fairen Umgang mit Prak-
tikantinnen und Praktikanten im Parlament auferlegt hat. Dieses Haus befasst sich ja nun schon zum wiederhol-
Nicht zuletzt deshalb sind wir vom Wegsehen und ten Male mit dem Thema Praktika. Die Oppositionspar-
Nichtstun der jetzigen und im Übrigen auch der vorheri- teien haben uns eine bunte Mischung von Anträgen vor-
gen Bundesregierung so genervt. gelegt. Sie konnten sich offensichtlich auch nicht
darüber einigen; denn die Anträge sind sehr unterschied-
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das waren lich. Die SPD nennt das „Für Fairness beim Berufsein-
wir auch!) stieg“. Die Grünen fordern: „Faire Bedingungen in allen
– Ja. Praktika garantieren“. Garantien sind natürlich immer
gut. „Missbrauch von Praktika gesetzlich stoppen“, so
Wenn jetzt – unsere Kleine Anfrage ist schon erwähnt nennen das die Linken. Auf den ersten Blick mag das
worden – selbst in den Bundesministerien pro Jahr Hun- eine oder andere ja auch ganz gut aussehen.
derte von Hochschulabsolventen im Rahmen mehrmona-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
tiger, unbezahlter Praktika beschäftigt sind, dann ist das
Das ist auch gut!)
Ausnutzung und keine Bagatelle. Vor diesem Hinter-
grund geht es nicht an, dass Frau von der Leyen – vorher Aber aus meiner Sicht gehen diese Anträge an der aktu-
war es Herr Scholz – die Schirmherrschaft für die Initia- ellen Lage vorbei. Warum das so ist, möchte ich Ihnen
tive „Fair Company“ übernommen hat. Hier muss man begründen.
endlich geeignete Regelungen treffen. Gerade der Ar-
beitsminister bzw. die Arbeitsministerin muss ein Vor- Werfen wir zunächst einmal einen Blick auf die Pra-
bild sein und darf kein schlechtes Beispiel geben. xis und nicht nur auf die vielen Papiere, die Sie hier im-
mer wieder zitieren. Wie sieht denn so etwas in der Pra-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN xis aus? Bei einem Handwerksbetrieb oder auch bei
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- einem Mittelständler geht eine Bewerbung ein. Mal ge-
KEN) schieht das schriftlich, mal mündlich, mal über einen be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9033
Dr. Philipp Murmann
(A) kannten Mitarbeiter. In den meisten Fällen möchten die (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
Mädchen und Jungen oder Jugendlichen einfach einmal Sie verweigern ja, neue Zahlen zu erheben!
hineinschnuppern. Manchmal kommen sie von einer Dann legen Sie doch eine neue Studie auf!)
Schule, häufig von einer Partnerschule.
Entscheidend sind diese Erfahrungen für die spätere Be-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rufswahl.
Das ist richtig und kein Problem! Es sagt doch
Wir stellen auch fest, dass die Nachfrage an Praktika
niemand, dass das ein Problem ist!)
ständig steigt. Das merke ich zum Beispiel auch in mei-
– Das ist auch kein Problem. Aber dann lesen Sie einmal nem Unternehmen. Deswegen ist die Frage, ob es sinn-
Ihre Anträge. Sie haben darin die Praktika in Gänze be- voll ist, hier eine staatliche Regulierung einzuführen und
schrieben. die Hürden für die Betriebe, die Praktika anbieten, wei-
ter nach oben zu schrauben.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das stimmt doch überhaupt nicht!) (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wie ma-
chen Sie es in Ihrem Unternehmen?)
– Doch, schauen Sie einmal hinein! Da ist null Differen-
zierung enthalten. Ich möchte auch noch einmal darauf Schon heute scheuen viele kleine Unternehmen, Prakti-
hinweisen, dass gerade die Praktika, die von den Betrie- kanten anzunehmen. Wir müssen, wenn wir Regelungen
ben angeboten werden, für eine Berufsorientierung sehr treffen – gesetzliche Regelungen sind für solche Dinge
wichtig sind. meiner Meinung nach unangemessen –, sehr darauf ach-
ten, dass wir die Hindernisse für Praktika nicht immer
(Beifall bei der SPD) weiter aufbauen; denn damit vermindern wir die Anreize
für Unternehmen, Praktikanten auszubilden.
Das sind mal zwei Wochen; mal sind es vier Wochen.
Selten sind es mehr als zwei Monate. (Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn die
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Es geht Nachfrage so stark steigt, gibt es anscheinend
nicht um Schulorientierung, sondern es geht keine Hindernisse!)
um Leute, die eine abgeschlossene Ausbildung
haben!) Eine Sache ist natürlich auch klar: Wenn ein Prakti-
kant Arbeitsleistungen erbringt, dann sollte man es ihm
– Ja, genau. Aber das sind eben ganz wenige Fälle. auch vergüten. Das tun auch die meisten Unternehmen.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dort, wo es tatsächlich Missbrauch gibt – da sind wir
(B) 1,9 Millionen Menschen!) uns sicherlich einig –, ist das auf das Schärfste zu verur- (D)
teilen.
In Ihren Anträgen fassen Sie einfach alle Praktika zu-
sammen. Das ist undifferenziert und deswegen sinnlos. Aber jetzt noch einmal zu dem von Ihnen immer zi-
tierten Mythos von der Generation Praktikum. Der My-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – An- thos stammt aus einem Zeit-Artikel vom März 2005. Da-
haltende Zurufe von der SPD und dem BÜND- rin wurde eine prekäre Situation von Akademikern
NIS 90/DIE GRÜNEN) beschrieben, die keinen Job finden und daher Praktikum
an Praktikum reihen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: März 2005, vielleicht erinnern Sie sich noch, in wel-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie doch ein- cher Zeit wir uns damals befanden: rot-grüne Regierung,
mal den Redner zu Wort kommen. Ihre Redner hatten ja hohe Arbeitslosigkeit, Frustration in Deutschland; Bun-
auch die Möglichkeit. – Bitte, Herr Kollege. deskanzler Schröder schmeißt hin. In dieser Zeit entsteht
der Begriff „Generation Praktikum“ in der Öffentlich-
(Zuruf von der FDP: Gute Stube! Kann man keit. Es gehen Petitionen ein, die von 60 000 Leuten un-
im Praktikum lernen!) terschrieben werden.
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU):
GRÜNEN]: Also gibt es doch ein Problem!
Danke, Herr Präsident. – Ehe es bei diesen Praktika Was machen wir jetzt dagegen?)
wirklich einmal zu wertschöpfenden Tätigkeiten kommt,
vergehen in der Regel mehrere Wochen, sei es im Ma- Das bauen Sie jetzt als aktuelles Problem auf. Das ist al-
schinenbaubetrieb, beim Heizungsbauer, beim Kfz- ter Wein in alten Schläuchen und bringt uns überhaupt
Meister oder in der Apotheke. Dem steht ein erheblicher nicht weiter.
Aufwand für die Betreuung dieser Praktikanten gegen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai
über. Das ist auch richtig so; denn die jungen Leute sol- Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die
len ja auch etwas lernen. Sie sollen durch verschiedene Generation Praktikum ist heute noch größer!)
Bereiche in den Firmen gehen. Das kann natürlich auch
einmal nach einer Berufsausbildung sein. Dies ist aber Insgesamt ist festzustellen: Diese Generation Prakti-
nach allem, was mir vorliegt, heute eher die Ausnahme. kum gibt es in dieser Form heute nicht. Die Bewertung
Sie zitieren ja immer irgendwelche Zahlen von 2006 und der Praktika ist überwiegend positiv. Wir sollten den Un-
2007. Das ist längst Vergangenheit. ternehmen und vielen Betrieben, die Praktikantenplätze
9034 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Philipp Murmann


(A) zur Verfügung stellen, auch danken und nicht immer nur blem oder ist das kein Problem für die Regierungskoali- (C)
auf ihnen herumhacken. tion?
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU):
Über einige Punkte lässt sich aber sicherlich nachden- Sie haben jetzt völlig verschiedene Themen angespro-
ken. Ein schriftlicher Praktikantenvertrag, ein Prakti- chen. Man sollte sie jetzt nicht alle mit dem Thema Prak-
kumszeugnis und auch eine Begrenzung von Praktika tikum vermischen.
sollten sicherlich selbstverständlich sein. Ich bin aber
der Meinung, dass das keine Aufgabe des Gesetzgebers, Es ist natürlich so, dass wir alle uns bemühen – ich
denke, darin sind wir uns auch einig –, dass der Über-
(Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Doch, ge- gang in das Berufsleben nach dem Studium möglichst
nau das ist im Berufsbildungsgesetz nicht ge- reibungslos funktioniert. Ich denke, das ist in der Mehr-
regelt!) zahl – leider nicht immer; das ist halt so – auch der Fall.
sondern zum Beispiel der Tarifparteien ist. Das können Ich persönlich kenne kein Unternehmen, das solche Vor-
die Betriebe und die Gewerkschaften miteinander aus- gehensweisen, die von Ihnen kritisiert werden, anwen-
handeln. Dafür muss doch nicht der Gesetzgeber tätig det. Ich hielte das sicherlich auch für fragwürdig.
werden. Wir müssen uns aber die Frage stellen, ob wir jetzt als
Gesetzgeber mit staatlichen Gerüsten gegen dieses
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Thema vorgehen oder ob wir nicht lieber dafür plädieren
Herr Kollege Murmann, sind Sie bereit, noch Zwi- sollten, dass dies im Rahmen einer Selbstverpflichtung,
schenfragen von Frau Alpers und Herrn Gehring zu be- die ja schon angesprochen wurde, geregelt wird. Das al-
antworten? les sind tolle Initiativen. Übrigens: Sie sagen, 1 500 Un-
ternehmen hätten sich der Initiative „Fair Company“ an-
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): geschlossen. Das heißt aber nicht, dass all diejenigen,
Ja, bitte gerne. die sich ihr nicht angeschlossen haben, jetzt Missbrauch
betreiben. Das unterstellen Sie ja immer.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Hat Ihr Un-
Bitte, Frau Alpers. ternehmen sich angeschlossen?)
Insofern bin ich der Meinung, dass man über einzelne
Agnes Alpers (DIE LINKE): Dinge sicherlich reden kann. Aber man muss aufpassen,
(B) Sehr geehrter Herr Murmann, Sie sagten gerade, das dass man das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet, da- (D)
Problem bestehe nicht, das sei ein altes Problem. Ich mit der Anreiz für Unternehmen, gerade auch für klei-
möchte Sie noch einmal darauf hinweisen: Dieses Pro- nere, groß bleibt, auch Praktikanten einzustellen. Darauf
blem besteht für 1,9 Millionen junge Menschen. Das ha- kommt es mir an.
ben wir jetzt schon dreimal gehört.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU):
Das sind Zahlen von 2008 aus dem Ministerium von
Olaf Scholz. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Murmann, jetzt möchte der Kollege
Gehring noch eine Zwischenfrage stellen.
Agnes Alpers (DIE LINKE):
Ja. Herr Murmann, aber die Situation hat sich nicht
verändert. Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU):
Bitte schön. So haben wir noch einen fröhlichen
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Abend, bevor wir anfangen, Adventslieder zu singen.
Das behaupten Sie.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Agnes Alpers (DIE LINKE): Bitte schön, Herr Kollege Gehring.
Warum ist das kein Problem? Sie selber wollten keine
neuen Untersuchungen. Warum wollten Sie denn keine Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
neue Evaluation, wenn das für Sie doch angeblich kein Bei den Debattenbeiträgen der Regierungsfraktionen
Problem ist? Das ist der erste Teil meiner Frage. vergeht mir leider die Heiterkeit.
(Gisela Piltz [FDP]: Ach nein, nicht auch noch (Zurufe von der FDP: Oh!)
zwei Teile!)
Da Sie die letzten verfügbaren regierungsamtlichen
Zum zweiten Teil meiner Frage. Ist es für Sie kein Zahlen aus dem BMAS hier mehrfach angezweifelt ha-
Problem, dass jeder Dritte nach einer abgeschlossenen ben, möchte ich Sie einfach einmal fragen: Wann werden
Schulausbildung, jeder vierte Hochschulabsolvent und Sie als Koalition die nächste Umfrage, die nächste Stu-
jeder Fünfte nach einer beruflichen Ausbildung keine die, die nächste empirische Erhebung auf den Weg brin-
Arbeit als vollwertige Fachkraft erhält? Ist das ein Pro- gen? Dafür sollten Sie sich doch eigentlich einsetzen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9035
Kai Gehring
(A) Wenn doch eh alles in Ordnung ist, dann können Sie ja Wenn Sie sich Praktika in Ministerien der Linken in (C)
eine solche Studie durchführen und ihre Annahmen be- Brandenburg oder in Ministerien der SPD oder bei der
weisen. Thüringer SPD-Landtagsfraktion ansehen, so finden sich
auch dort diese von mir genannten Punkte. Deswegen ist
Zum anderen möchte ich einmal eine ganz konkrete es aus meiner Sicht wichtig, dass man zwischen Praktika
Frage stellen. Im Bundesjugendministerium, im Ministe- und solchen Dingen unterscheidet, die tatsächlich mit
rium mit Frau Schröder – geborene Köhler – an der wertschöpfender Arbeit verbunden sind. Die Tarifpar-
Spitze, das für die Jugendlichen zuständig ist, sind teien sollten sich darüber unterhalten, was sinnvoll ist.
80 Praktika gemacht worden, die bis zu sechs Monate Im Übrigen ist dies auch im Europaparlament im Mo-
dauerten und für die es keine Vergütung gab. Diese ment ein Thema. Ich bin der Meinung, wir sollten ab-
80 Praktikanten waren Hochschulabsolventinnen und warten, wie die Diskussion dort läuft, bevor wir hier vor-
-absolventen. Finden Sie das eigentlich in Ordnung? Ist schnell handeln.
Frau Schröder, die Bundesjugendministerin, damit ein
Vorbild, oder ist sie eher ein schlechtes Beispiel?
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich habe es ja schon gesagt: Es kommt sehr darauf an,
was für eine Art Praktikum das ist. Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU):
Ich komme zum Schluss und möchte Ihnen empfeh-
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE len: Machen Sie ab und zu wieder einmal ein Praktikum,
GRÜNEN]: Oh! – Kai Gehring [BÜND- damit Sie sehen, dass die Welt gar nicht so schlecht ist.
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war eine ganz
konkrete Frage!) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das mache ich sogar!)
Bei manchen Praktika schnuppert man einmal in einen
Betrieb hinein. Man will einfach ein Gefühl für die ent- – Ich mache häufiger Praktika; das können Sie mir glau-
sprechende Tätigkeit bekommen. ben. – Wir werden im Ausschuss sicherlich noch eine in-
teressante Diskussion führen.
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Aber sechs Monate sind ein biss- Vielen Dank.
chen viel!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
– Ja, sechs Monate sind ungewöhnlich; das ist richtig.
(B) Deswegen bin ich auch dafür, dass man eine Bezahlung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (D)
grundsätzlich in Erwägung zieht. Aber ich bin eben nicht
Ich schließe die Aussprache.
dafür, dass man mit gesetzlich befohlenen Mindestlöh-
nen arbeitet. Sie schlagen 10 Euro pro Stunde für einen Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
Schüler vor, der vielleicht eine Woche in meinem Unter- den Drucksachen 17/3482, 17/4044 und 17/4186 an die
nehmen ist. in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu über-
weisen. Die Federführung zu den drei Vorlagen ist je-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
doch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Nein! Sie haben den Antrag nicht gelesen! Das
wünschen jeweils Federführung beim Ausschuss für Bil-
haben wir nicht vorgeschlagen! – Priska Hinz
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Die
[Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
antragstellenden Fraktionen wünschen Federführung
Das ist Quatsch!)
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.
– Lesen Sie es einmal nach. Das steht so in Ihrem An-
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
trag.
antragstellenden Fraktionen abstimmen, Federführung
Sie haben das alles in einen Topf geworfen – das ist es beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für
ja, was ich kritisiere –, und deswegen bin ich dagegen, diesen Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? –
solche gesetzlichen Regelungen hier überhaupt zu disku- Enthaltungen? – Die Überweisungsvorschläge sind da-
tieren. Vielmehr müssen wir uns die Situation sehr genau mit abgelehnt.
anschauen, weil das Praktikum für junge Leute eine
wichtige Funktion im Hinblick auf ihren späteren Beruf (Widerspruch bei der LINKEN)
hat. – Die Linke hat doch diese Federführung mit beantragt.
Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Thema anspre- (Zuruf: Federführung beim Ausschuss für Bil-
chen, und zwar das Thema Beweislastumkehr, das Sie in dung!)
die Debatte einbringen. Das bedeutet auch für kleine Un-
ternehmen – Sie sprechen in Ihren Anträgen immer von – Genau. So haben wir auch abgestimmt.
allen Praktikumsstellen; das ist ebenfalls ein Problem –, (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Sie haben ge-
beispielsweise für eine Apotheke, dass sie nachweisen sagt: Ausschuss für Arbeit und Soziales!)
müssen, was gemacht wurde. Ich halte dies für einen
weiteren Sargnagel dafür, dass Unternehmen weitere – Nein, ich hatte gesagt: Ich lasse zuerst über den Über-
Praktikumsplätze zur Verfügung stellen. weisungsvorschlag der antragstellenden Fraktionen ab-
9036 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) stimmen, Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Jahre 2007 und 2008 sowie die dazugehörige Entschlie- (C)
Soziales. ßung. Man könnte sich zunächst zu der Annahme verlei-
ten lassen, dass das ein alter Hut ist, weil es um einen
(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) Tätigkeitsbericht für die Jahre 2007 und 2008 geht. Wer
Das ist das, was die SPD beantragt hat. sich aber den Bericht näher zu Gemüte führt, wird sehr
schnell feststellen, dass er nichts an Aktualität verloren
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: hat. Er nimmt sogar in einer gewissen Weise weissagend
Es gibt drei Anträge, also drei Antragsteller! – manche Dinge voraus, die heute brandaktuell sind. Ich
Gegenruf der Abg. Gisela Piltz [FDP]: Habt denke dabei an die Debatte über Geodatendienste oder
ihr nichts Besseres zu tun?) an die sehr intensive Debatte über soziale Netzwerke im
– Wir können auch über alle Anträge einzeln abstimmen, Internet.
wenn Sie das wünschen. Das Ergebnis wird dadurch Ich möchte vorausschicken, dass ich allen Kollegin-
nicht verändert werden. Jedenfalls ist der Antrag, die Fe- nen und Kollegen Berichterstatter herzlich dafür danke
derführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales zu – das meine ich sehr ernst –, dass es gelungen ist, wieder
ressortieren, abgelehnt worden. eine fraktionsübergreifende Entschließung zu dem Tä-
tigkeitsbericht zustande zu bringen.
Dann lasse ich jetzt über die Überweisungsvorschläge
der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, (Beifall im ganzen Hause)
Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung
Das war bisher immer guter Brauch und ist auch dieses
und Technikfolgenabschätzung. Wer diesem Überwei-
Mal gelungen. Ich möchte nicht verhehlen, dass es sich
sungsvorschlag zustimmt, den bitte ich um sein Hand- für mich dabei nicht um eine Selbstverständlichkeit oder
zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Über- eine Petitesse handelt. Denn – auch das ist kein Geheim-
weisungsvorschläge sind angenommen mit den Stimmen nis – die Positionen und Meinungen zum Thema Daten-
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke und der schutz sind in diesem Hause durchaus kontrovers und
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der teilweise auch sehr konträr.
SPD-Fraktion. Damit liegt die Federführung jeweils
beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol- Dass es uns wieder gelungen ist, über alle fünf Frak-
genabschätzung. tionen hinweg eine fraktionsübergreifende Entschlie-
ßung zustande zu bringen, ist, glaube ich, bemerkens-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: wert. Ich möchte in diesen Dank an die Kollegin
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Berichterstatter Piltz und an die Herren Berichterstatter
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu der auch den Dank an die Mitarbeiter sowohl der Abgeord-
(B) Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für neten als auch aus dem Bundesinnenministerium und (D)
den Datenschutz und die Informationsfreiheit beim Bundesdatenschutzbeauftragten mit einbeziehen.
Es waren sehr konstruktive Gespräche, die vor allem in
Tätigkeitsbericht 2007 und 2008 des Bundes- dem Geist geführt wurden, dass wir zu einem positiven
beauftragten für den Datenschutz und die In- Ergebnis kommen wollten.
formationsfreiheit
– 22. Tätigkeitsbericht – Ich glaube, es ist ein schönes Zeichen, dass der Deut-
sche Bundestag eine einheitliche Position zum Thema
– Drucksachen 16/12600, 17/790 Nr. 5, 17/4179 – Datenschutz hat. Ich möchte nicht verhehlen, dass jede
Fraktion auch gewisse Abstriche machen musste, was
Berichterstattung: Maximalforderungen anbelangt. Bei einem Kompromiss
Abgeordnete Stephan Mayer (Altötting) ist es nun einmal so, dass sich nicht jeder zu 100 Prozent
Gerold Reichenbach durchsetzen kann. Aber ich glaube, es ist ein schönes
Gisela Piltz Zeichen, dass wir, wenn es um Datenschutz und den Tä-
Jan Korte tigkeitsbericht des Bundesdatenschutzbeauftragten geht,
Dr. Konstantin von Notz mit einer Stimme sprechen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Datenschutz und Datensicherheit haben deutlich an
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- Bedeutung gewonnen. Ich halte es für bemerkenswert,
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- dass es uns gelungen ist, insgesamt zu 16 einzelnen
schlossen. Punkten sehr dezidierte und meines Erachtens auch sub-
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- stantiierte Aussagen zu treffen. Aus meiner Sicht muss
ner dem Kollegen Stephan Mayer von der CDU/CSU- es, wenn es um das Thema Datenschutz geht, insgesamt
einen Dreiklang geben, und zwar zwischen der Selbst-
Fraktion das Wort.
verantwortung der Bürgerinnen und Bürger, der selbst-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- verpflichtenden Bindung der Wirtschaft und den not-
neten der FDP) wendigen gesetzlichen Regelungen.
Zunächst zum Thema Selbstverantwortung der Bür-
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): ger. Ich erachte es als außerordentlich interessant und
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr ge- positiv, dass die jüngste sogenannte JIM-Studie für das
ehrte Kollegen! Wir debattieren heute den 22. Tätig- Jahr 2010 festgestellt hat, dass insbesondere die Jugend-
keitsbericht des Bundesdatenschutzbeauftragten für die lichen – es sind über 1 000 Jugendliche zwischen 12 und 19
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9037
Stephan Mayer (Altötting)
(A) befragt worden – deutlich sensibler mit ihren personen- richtige, der zukunftsweisende Weg. Das Internet darf (C)
bezogenen Daten im Internet umgehen. auf der einen Seite kein rechtsfreier Raum sein; auf der
anderen Seite müssen wir uns aber auch davor hüten, das
Die Ergebnisse zeigen: Noch im Jahr 2009 haben Internet und den Umgang mit dem Internet überzuregu-
51 Prozent der Jugendlichen Fotos und Filme von Freun- lieren.
den und Verwandten ins Internet gestellt. Ein Jahr später,
2010, sind es nur noch 41 Prozent. Es geben auch nur Ich glaube, dass es richtig ist, zu sagen, dass Mei-
noch 46 Prozent der befragten Jugendlichen persönliche nungsfreiheit im Internet, in der virtuellen Welt, genauso
Informationen im Internet an. Ein Jahr zuvor, 2009, wa- wie in der realen Welt gilt. Aber es muss natürlich auch
ren es noch 83 Prozent. bestimmte Grenzen, bestimmte Barrieren geben. Wenn
Im Jahr 2009 haben immerhin noch 69 Prozent der es schwerwiegende Eingriffe in Persönlichkeitsrechte
befragten Jugendlichen persönliches Material, insbeson- und in die Intimsphäre gibt oder es zu ehrverletzenden
dere Fotos, ins Internet hochgeladen. Ein Jahr später, Beschreibungen im Internet kommt, muss es auch einen
2010, sind es nur noch 64 Prozent. Rechtsanspruch für den Einzelnen geben, diese Inhalte
aus dem Internet zu tilgen. Ich sage ganz offen: Dieses
Das zeigt: Die öffentliche Debatte zum Thema Daten- Recht des Betroffenen muss natürlich auch sanktionsbe-
sicherheit und Datenschutz und der Auftrag an den Ein- wehrt sein, sprich: mit eventuellen Schmerzensgeldan-
zelnen, verantwortungsvoll und selbstbestimmt mit per- sprüchen ausgestaltet sein.
sonenbezogenen Daten umzugehen, trägt erste Früchte.
Aber natürlich darf dies nicht das Ende sein. Die Aufklä- Das Eckpunktepapier zeigt also einen hervorragenden
rungsarbeit muss weitergehen und noch intensiviert wer- Weg auf. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch
den, und zwar schon allein deshalb, weil – das hat diese die Selbstverpflichtung der Wirtschaft anzusprechen.
Studie auch zutage gefördert – die Aufenthaltszeit im In- Die BITKOM hat vor kurzem einen Entwurf für einen
ternet zunimmt. Jugendliche bewegen sich im Durch- Datenschutzkodex für Geodatendienste vorgelegt. Ich
schnitt täglich knapp zweieinhalb Stunden im Internet. begrüße diesen Entwurf – das sage ich in aller Deutlich-
Auch die Mitgliedschaft in sozialen Netzwerken im In- keit –; er ist meines Erachtens eine gute Diskussions-
ternet hat im Vergleich zum Vorjahr noch einmal deut- grundlage. Aber es muss uns auch erlaubt sein, dabei
lich zugenommen. noch mit Hand anzulegen und entsprechende Hinweise
Was das Thema Aufklärung und Bildungsarbeit anbe- zu geben. Es ist ein wichtiger Ansatzpunkt, dass man
langt, verspreche ich mir sehr viel von der kommenden eine zentrale Informations- und Widerspruchsstelle für
Stiftung Datenschutz. den Einzelnen schafft, dass er im Internet also an einer
zentralen Stelle seinen Widerspruch deponieren kann,
(B) (Beifall bei der FDP) wenn es um das Pixeln, die Unkenntlichmachung von (D)
Immobilien im Internet, geht.
Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, im kommen-
den Haushalt 2011 schon einmal 10 Millionen Euro ein- Ich sage aber auch ganz offen, dass ich ein Problem
zustellen, um diese Stiftung Datenschutz auf den Weg zu mit diesem Vorhaben der BITKOM habe, weil sie die
bringen. Ich verspreche mir von dieser kommenden Stif- Kontrolle dieser Selbstverpflichtung nur auf eigene
tung Datenschutz vor allem deshalb sehr viel, weil sie in Rechnung machen will. So kann es nicht gehen. Die
prädestinierter Weise dazu beitragen kann, der Vertrau- Kontrolle dieser Selbstverpflichtung muss meines Er-
ensbildung zwischen den Bürgern und den Unternehmen achtens in staatliche Hand gegeben werden. Man kann
Vorschub zu leisten. Dabei stellen Themen wie das Da- der Wirtschaft nicht einerseits zugestehen, sich Selbst-
tenschutzgütesiegel oder das Datenschutzaudit Chancen verpflichtungen aufzuerlegen – das ist meines Erachtens
dar. Auch wenn die Wirtschaft diesen Themen vielleicht grundsätzlich der richtige Weg –, und ihr andererseits er-
etwas reserviert gegenübersteht, glaube ich, dass man lauben, die Einhaltung dieser Selbstverpflichtungen
mit den beiden genannten Themen zu einer stärkeren selbst zu kontrollieren. Das geht meines Erachtens zu
Vertrauensbildung bei den Verbrauchern beitragen kann. weit.
Ein großes Thema in der aktuellen Debatte ist die
Profilbildung im Internet, insbesondere was personenbe- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
zogene Daten anbelangt. Dies ist zunächst einmal kri- GRÜNEN]: Ja, das stimmt!)
tisch zu sehen, wobei ich hinzufüge, dass nicht jede Pro- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die dritte
filbildung per se negativ zu sehen ist, insbesondere dann Komponente in dem Dreiklang, den ich vorhin beschrie-
nicht, wenn sie auf die persönliche Einwilligung des Be- ben habe, ist der Gesetzgeber. Es bedarf gesetzgeberi-
troffenen zurückzuführen ist. Sie muss aus meiner Sicht scher Änderungen als Leitplanken, die als Schutz im
immer die Grundvoraussetzung dafür sein, dass es über- Hinblick auf die freiwilligen Selbstverpflichtungen der
haupt zu einer Profilbildung von personenbezogenen
Wirtschaft dienen. In diesem Zusammenhang ist natür-
Daten im Internet kommt.
lich festzustellen, dass im Laufe der letzten 20 Jahre das
In diesem Zusammenhang bin ich dem Bundesinnen- Bundesdatenschutzgesetz an Übersichtlichkeit und Pra-
minister sehr dankbar dafür, dass er ein Eckpunktepapier xistauglichkeit verloren hat. Deshalb ist es neben dem
vorgelegt hat, das Grundlage sein wird, um das kom- Erfordernis, den Beschäftigtendatenschutz neu zu re-
mende Gesetz zum Schutz von Persönlichkeitsrechten geln, unser Ansinnen und unser ernsthaftes Bestreben in
im Internet zu erarbeiten. Die rote Linie, von der der der christlich-liberalen Koalition, das Bundesdaten-
Bundesinnenminister spricht, ist meines Erachtens der schutzgesetz modern und technikneutral umzugestalten.
9038 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Stephan Mayer (Altötting)


(A) Ich bin sehr froh, dass es uns in der Entschließung ge- Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die hervorragende (C)
lungen ist, nicht an der Oberfläche zu bleiben, sondern Arbeit im Bereich des Datenschutzes und der Informa-
uns zu konkreten Themen dezidiert zu äußern. Wir ha- tionsfreiheit danken.
ben uns zum Beispiel zum Thema intelligente Stromzäh-
ler – der englische Begriff lautet „Smart Metering“ – ge- (Beifall im ganzen Hause)
äußert. Hier besteht die akute Gefahr des Missbrauchs Oft kämpfen Sie gegen Windmühlen, manchmal mit gro-
durch Unbefugte. Es bedarf entsprechender technischer ßem Rückhalt, oft aber auch ziemlich allein gelassen.
und organisatorischer Maßnahmen, um zu verhindern, Herr Schaar, vielen Dank für Ihre hervorragende Arbeit!
dass die Lastenprofile, die durch solche Stromzähler er- Obwohl Sie meistens als Mahner und eher als personifi-
mittelt werden, missbräuchlich genutzt werden. Wir ha- ziertes schlechtes Gewissen uns Politikern im Nacken
ben uns zum Melderecht dahin gehend geäußert, dass sitzen, wissen wir alle, dass Sie Ihre Arbeit mit absoluter
wir derzeit kein Erfordernis für ein bundesweites, zen- Leidenschaft und höchster Gewissenhaftigkeit ausfüh-
trales Melderegister sehen. Wir haben uns zudem zum ren. Nichts anderes erwarten wir von Ihnen als unserem
Zensus 2011 geäußert, genauso wie ganz dezidiert zur obersten Hüter von Daten und Informationen.
Speicherung von Passagierdaten. Ich betone: Es ist aus
meiner Sicht dringend erforderlich, dass die Europäische Ein Zeichen dafür ist unter anderem der vorliegende
Union ein Musterabkommen nicht nur mit den USA, Tätigkeitsbericht, über den wir heute debattieren. Sie
sondern auch mit anderen Ländern erarbeitet, das ganz zeigen uns darin die Möglichkeiten und Gefahren für die
klar festlegt, unter welchen Voraussetzungen Passagier- Zukunft auf. Sie mahnen die Politik, zu handeln, und
daten übermittelt werden, und das konkrete Hinweise zwar insbesondere mit Blick auf ein Zeitalter, in dem
gibt und Verpflichtungen aufoktroyiert, wenn es um die sich die Technik derart schnell weiterentwickelt, dass
Festlegung der Speicherfrist und den Rechtsschutz geht. der Gesetzgeber oft hinterherhinkt und dem technologi-
schen Fortschritt nur hinterherschaut.
Abgesehen von dem Tätigkeitsbericht für die Jahre
2007 und 2008 stehen wir vor ganz neuen Herausforde- Das wird auch dadurch deutlich – das ist schon ange-
rungen. Wenn Persönlichkeitsprofile von Gesichtserken- sprochen worden –, dass das Gefährdungspotenzial mehr
nungsdiensten erstellt werden, wenn es zum Beispiel mit als aktuell ist, das in dem Bericht für die Jahre 2007 und
einem internetfähigen Fotohandy möglich ist, in Echtzeit 2008, den wir heute debattieren, aufgezeigt wird. Darum
eine Person auf der Straße oder im Café zu identifizie- haben die Bundestagsfraktionen diesen Bericht zum An-
ren, dann ist Vorsicht geboten. Wenn es bei Suchmaschi- lass genommen, erneut eine gemeinsame Entschließung
nen immer mehr gang und gäbe ist, Profilbildung vorzu- zu formulieren. Auch ich möchte mich bei den Kollegin-
nehmen, ist dies höchst gefährlich, wenn aus diesen nen und Kollegen, bei den Mitarbeiterinnen und Mitar-
Erkenntnissen konkrete Rückschlüsse auf Verhaltens- beitern sowie bei den Ministerien bedanken.
(B) weisen, Vorlieben oder Hobbys gezogen werden. Ge- Natürlich ist diese Entschließung ein Kompromiss. (D)
nauso besteht eine konkrete Gefahr in der zunehmenden Inhaltlich gibt es aber trotzdem viele Dinge, in denen
Ermittlung von Standortdaten. Das ist zwar nach § 98 sich die Fraktionen einig waren. Ich möchte hier nicht
des Telekommunikationsgesetzes verboten. Aber nach- alle Punkte aufzählen, aber ein paar Beispiele nennen,
dem immer mehr Diensteanbieter auf dem Markt sind, etwa das Erfordernis der Stärkung der Rechte der Betrof-
die nicht dem Telekommunikationsgesetz unterfallen, fenen – das ist angesprochen worden –, eine Regelung
besteht auch hier eine konkrete Gefahr des Missbrauchs. zur Profilbildung sowie eine engere Zweckbindung beim
Dem müssen wir uns sehr intensiv annehmen. Ich hoffe Umgang mit persönlichen Daten. Das ist ein Problem,
auf die gleiche konsensuale und sachliche Zusammenar- das bei der Zunahme von Diensten, Verknüpfungsmög-
beit, wenn es um diese von mir angesprochenen Themen lichkeiten und neuen Netzwerken nach unserer Ansicht
geht. immer dringlicher wird.
Ich darf mich abschließend bei allen herzlich bedan- Ebenso einig war man sich grundsätzlich darin, dass
ken. Es ist ein mutiges und schönes Zeichen, dass es uns im Bereich der Bildung und Medienkompetenz gehan-
gelungen ist, eine fraktionsübergreifende Entschließung delt werden muss und die von der Bundesregierung ge-
zustande zu bringen. Lassen Sie uns in diesem Sinne plante Stiftung Datenschutz keine Parallelstrukturen zu
weiterarbeiten, wenn es um Datenschutz und Datensi- den Aufgaben der Datenschutzbeauftragten des Bundes
cherheit in Deutschland geht. und der Länder herausbilden darf und gleichzeitig ihre
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Unabhängigkeit garantiert sein muss.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) So weit bestand Einigkeit – um nur die wichtigsten
Punkte zu nennen. Die Nagelprobe jedoch wird die kon-
krete Ausgestaltung und Umsetzung der erforderlichen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Maßnahmen sein. Die Bundesregierung ist gefordert,
Das Wort hat jetzt der Kollege Gerold Reichenbach konkret tätig zu werden; denn der Tätigkeitsbericht ist
von der SPD-Fraktion. nicht nur dazu da, ihn zur Kenntnis zu nehmen und eine
(Beifall bei der SPD) gemeinsame Entschließung mit guten Absichten zu for-
mulieren. Er ist vielmehr dazu da, Missstände und Pro-
blemfelder aufzudecken, sie anzugehen und politisches
Gerold Reichenbach (SPD):
und gesetzgeberisches Handeln folgen zu lassen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Kollegen! Lassen Sie mich vorab Herrn Davon, Kollege Mayer, kann ich bei den aktuellen
Peter Schaar, der oben auf der Tribüne sitzt, und seinen Vorschlägen der Bundesregierung allerdings noch nicht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9039
Gerold Reichenbach
(A) so viel erkennen. Im Bereich des Datenschutzes ist diese überlassen bleibt, Regeln zu entwickeln, an die sie sich (C)
Bundesregierung nach wie vor, wie in anderen Berei- freiwillig hält. Wenn ich mir den Kodex anschaue, stelle
chen, gespalten. Der Bundesinnenminister und die CDU ich übrigens fest: Es gibt nur minimale Sanktionen, die
fordern eine schnelle Regelung zur Vorratsdatenspeiche- geradezu einen Anreiz bieten, dann, wenn es wirtschaft-
rung. Die Bundesjustizministerin und die FDP – wir ha- lich opportun ist, dagegen zu verstoßen.
ben es vorhin in der Debatte erlebt – sagen: Wir warten
lieber ab, wir wollen Europa nicht vorgreifen. Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der
Länder haben mit ihrer Entschließung zu einem moder-
(Gisela Piltz [FDP]: Das war eine mutige In- nen Datenschutzrecht für das 21. Jahrhundert vom
terpretation meiner Rede, Herr Reichenbach! – Juni 2010 eine ganze Reihe von Vorschlägen vorgelegt.
Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Wir Die von uns zur Annahme empfohlene Entschließung
werden uns einigen! Sie werden sehen!) nimmt darauf Bezug. Wir fordern die Bundesregierung
Abwarten und möglichst wenig entscheiden scheint auf, die Vorschläge ernsthaft in die Überlegungen einzu-
ohnehin ein Prinzip zu sein. Die Verbraucherschutzmi- beziehen und den gesetzlichen Rahmen wirkungsvoll zu
nisterin moniert beispielsweise den mangelnden Schutz verbessern, gerade im Hinblick auf Widerspruchsrechte
der Persönlichkeitsrechte im Internet, und da sie mit ih- und andere Betroffenenrechte, sowie ein Verbot der Ver-
ren Forderungen bei den Diensteanbietern nicht durch- knüpfung von Daten zu erlassen, welches an einen kla-
dringt, schaltet sie öffentlichkeitswirksam, aber ziemlich ren Erlaubnisvorbehalt geknüpft werden sollte. Hier se-
hilflos ihr Facebook-Profil ab. hen wir alle gemeinsam Handlungsbedarf, wie in der
Entschließung auch zum Ausdruck kommt. Es geht da-
Andererseits setzt der Bundesinnenminister mit sei- rum, rechtsfeste Kategorien umzusetzen.
nem Vorschlag der sogenannten Rote-Linie-Gesetzge-
bung und dem gleichzeitig vorgelegten Kodex der Inter- Wir brauchen klar definierte Regeln und Rechte, die
netbranche – Sie haben das eben angesprochen – die Betroffenen wirksam einfordern können und die mit
weitestgehend auf die Selbstkontrolle durch die wirt- wirksamen Kontrollen und Sanktionen bewehrt sind.
schaftlichen Interessen der beteiligten Unternehmen. Dazu bieten wir Ihnen unsere Kooperation an. Wir for-
dern die Bundesregierung nach wie vor auf: Nehmen Sie
Wir sagen dagegen ganz klar: Ein lockerer gesetzlicher das ernst, was der Bundesdatenschutzbeauftragte, aber
Rahmen, der durch jede Menge Selbstverpflichtungen der auch die Gesamtheit der Datenschutzbeauftragten des
Branche ergänzt werden würde, ist nicht ausreichend, um Bundes und der Länder an Vorschlägen unterbreitet ha-
einen adäquaten Persönlichkeits- und Datenschutz zu ge- ben, und setzen Sie es in gesetzgeberisches Handeln um!
währleisten. Nach dem sogenannten Rote-Linie-Entwurf Dabei wird die SPD-Fraktion Sie in diesem Hause unter-
– so wie er uns bekannt geworden ist – werden die Unter- stützen.
(B) nehmen auch weiterhin fleißig Daten erheben, verarbeiten (D)
und weitergeben, Profile erstellen und diese wirtschaft- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
lich nutzen dürfen, da nur die gezielte Veröffentlichung
personenbezogener Daten für unzulässig erklärt werden (Beifall bei der SPD)
soll. Bis zu der roten Linie soll der Wirtschaft dann wohl
ohne einklagbare gesetzliche Regelungen ein freier Ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
staltungsspielraum gegeben werden, in dem sie sich le- Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz von der FDP-
diglich nach eigenem Ermessen einschränkt. Sie selbst Fraktion.
haben gesagt, dass es nicht sein kann, dass sich diejeni-
gen, die davon profitieren, selbst kontrollieren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Was die Effektivität und Reichweite von Selbstregu-
lierungskräften betrifft, haben wir auch aufgrund der Er-
fahrungen aus der Vergangenheit unsere Zweifel. Denn Gisela Piltz (FDP):
es ist gerade anhand der Banken- und Finanzkrise deut- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
lich geworden, dass es eine Mär ist, dass der Markt sich Sehr geehrter Herr Schaar, Sie sitzen zwar da oben al-
selbst reguliert und sanktioniert. leine auf der Tribüne, aber Sie sind nicht allein auf wei-
ter Flur im Datenschutz. Ich denke, das wird durch diese
Wir halten es für wichtig – die Datenskandale in der
Debatte sehr deutlich.
Vergangenheit haben das gezeigt –, dass die bestehenden
Datenschutzgesetze und Regeln zunächst einmal konse- Ich möchte mich meinen Vorrednern insofern an-
quent vollzogen werden. In der Vergangenheit – ich schließen, als auch ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern, un-
denke da etwa an die jüngsten Debatten über den bar- seren Mitarbeitern, dem BMI und seinen Mitarbeitern
geldlosen Zahlungsverkehr – ging es noch nicht einmal ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit danke.
um Selbstkontrolle, sondern darum, dass Grenzsituatio-
nen ausgenutzt werden. Da geht es darum, dass zum Bei- Ich sitze jetzt schon seit über drei Stunden hier im
spiel internationale Anbieter sich um Monierungen Plenum.
durch Landesdatenschutzbeauftragte – ich formuliere es
einmal etwas umgangssprachlich – einen Dreck scheren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
Deshalb meinen wir: Wir brauchen klare Regelungen GRÜNEN]: Das finden wir gut! – Wolfgang
und nicht nur eine rote Linie, sodass alles vor der roten Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da-
Linie sozusagen freigegeben ist und es der Wirtschaft für danken wir dir!)
9040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Gisela Piltz
(A) – Ja, das ist schon einen Beifall wert. Dafür bin ich (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Gerold (C)
dankbar. Das ist auch sehr nett, aber darum ging es gar Reichenbach [SPD]: Das ist ein statistischer
nicht. – Ich wollte sagen: Es ist schon ein besonderes Effekt! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/
Highlight des heutigen Tages, dass es uns gelungen ist, DIE GRÜNEN]: Tonnenideologie reinsten
zu diesem Thema eine fraktionsübergreifende Entschlie- Wassers! Immer diese DDR-Vergleiche! Das
ßung zustande zu bringen. Das hebt sich wohltuend von ist ja furchtbar!)
manch anderer Debatte ab. Dafür mein ganz persönli-
cher Dank. Und wir setzen unsere Vorgaben auch um. Da ist zum
Beispiel die Forderung nach einem Arbeitnehmerdaten-
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ schutzgesetz.
DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/
CSU]: Wir können ja da mal was bei der Vor- (Gerold Reichenbach [SPD]: Wir haben eins
ratsdatenspeicherung probieren! – Heiterkeit) vorgelegt!)

– Gemeinsame Beschlüsse auf Vorrat, gar kein Problem, Wir als christlich-liberale Koalition arbeiten an einem
lieber Kollege Grindel; darüber können wir einmal re- Arbeitnehmerdatenschutzgesetz, das wir im nächsten
den. Jahr hier vorlegen und umsetzen werden.

Der Tagesspiegel titelte vor nicht allzu langer Zeit, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
die „Idee Datenschutz“ habe sich überlebt. Auch Mark GRÜNEN]: Wir sind gespannt!)
Zuckerberg von Facebook meint zu wissen: The age of Das ist ein deutlicher Fortschritt gegenüber den elf Jah-
privacy is over. – Der Deutsche Bundestag ist da augen- ren, in denen die verschiedenen sozialdemokratischen
scheinlich anderer Meinung. Ich persönlich finde: Das Arbeitsminister das nicht hinbekommen haben.
ist auch gut so.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Datenschutz hat sich keineswegs überlebt. Ob in Düs- CDU/CSU – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/
seldorf oder Köln, in Berlin oder Schwerin – Daten- DIE GRÜNEN]: Nicht so sozial wie die FDP!)
schutz ist aktuell. Eine freie und offene Informationsge-
sellschaft würde genau diese Freiheit verlieren, wenn sie Es ist schon darauf hingewiesen worden: Wir haben
dem Einzelnen das Bedürfnis nach Privatheit versagen es geschafft, eine Stiftung Datenschutz ins Leben zu ru-
würde. fen. Selbstverständlich wird sie unabhängig sein. Und
selbstverständlich ist doppelte Arbeit nicht sinnvoll.
Richtig ist natürlich, dass sich die datenschutzrechtli- Aber wir haben das auf den Weg gebracht; Sie haben das
(B) chen Rahmenbedingungen in den zurückliegenden Jah- nicht geschafft – genauso wenig wie Sie es geschafft ha- (D)
ren deutlich verändert haben. Vorbei ist die Zeit von ben, dem Bundesdatenschutzbeauftragten mehr Geld zur
Hängeordnern und Leitz-Ordnern. Verfügung zu stellen. Sie haben nur Sprüche gemacht,
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir haben gehandelt und mehr Geld draufgelegt. Von da-
NEN]: Leider!) her haben wir mehr bewegt als Sie in den elf Jahren, in
denen Sie vergeblich versucht haben, etwas beim Daten-
– Alles relativ, mein Lieber. – Vorbei ist die Zeit von schutz zu bewegen.
Stechkarten und Spiralkabeln. Heute mieten wir Server-
kapazitäten in Neu-Delhi oder speichern direkt in einer (Gerold Reichenbach [SPD]: Guck’ mal: Gar
Cloud. Die globale Dimension des Themas Datenschutz kein Applaus! Da klatscht noch nicht mal die
und die dadurch bedingte, sich stetig verändernde Nach- eigene Fraktion!)
frage nach datenschutzrechtlichen Vorgaben müssen bei Wir als christlich-liberale Koalition setzen auf ein Ne-
der Anpassung des Datenschutzrechts an das digitale beneinander gleich mehrerer Regelungsmechanismen.
Zeitalter umfassend berücksichtigt werden. Dabei sind So richtig es ist, dass wir an neuen gesetzlichen Rege-
wir auf einem guten Weg. lungen für manche Phänomene nicht vorbeikommen, so
Dass sich diese Koalition des Themas Datenschutz falsch ist der Glaube, allein über neue Gesetze Probleme
angenommen hat, lieber Kollege Reichenbach, belegen lösen zu können. Selbstverpflichtungen, vor allem der
die folgenden einfachen Zahlen – ich habe in der vorhe- Internetwirtschaft, tragen insofern schlicht der Tatsache
rigen Debatte ja gelernt: Zahlen sind das A und O –: Im Rechnung, dass deutsches Recht eben nur in Deutsch-
Koalitionsvertrag von Union und FDP findet sich der land gilt und nicht auf den Cayman Islands. Das muss
Begriff Datenschutz an 27 unterschiedlichen Stellen. man einfach zur Kenntnis nehmen.

(Gerold Reichenbach [SPD]: Das sagt noch Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass ein solcher
gar nichts! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ Kodex der Branche nur dann akzeptabel ist, wenn darin
DIE GRÜNEN]: Papier ist geduldig und Da- effektive und transparente Verfahren garantiert werden.
tenträger auch!) Das gilt vor allem auch für Verfahren bei etwaigen Ver-
stößen einzelner Unternehmen gegen die selbst gesetzten
Zum Vergleich: Im Koalitionsvertrag zwischen SPD und Vorgaben. Funktionieren diese Sanktionsmechanismen
Grünen war es genau fünfmal, im Koalitionsvertrag der allerdings, würde das zu einer dringend notwendigen
Großen Koalition sogar nur dreimal der Fall. Ich finde, Entlastung der Aufsichtsbehörden beitragen. Auch das
das ist schon ein deutlicher Fortschritt. kann ein positiver Effekt sein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9041
Gisela Piltz
(A) Denn zur Wahrheit beim Datenschutz gehört leider (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (C)
auch, dass es erhebliche Vollzugsdefizite gibt. Laut Sta- NIS 90/DIE GRÜNEN)
tistik musste ein deutsches Unternehmen im Jahr 2009
alle 39 000 Jahre – in Worten: neununddreißigtausend Wichtig ist
Jahre – damit rechnen, durch einen Vertreter einer Auf- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Bekämpfung
sichtsbehörde kontrolliert zu werden. Ich glaube, dass von Linksextremismus!)
wir hier ansetzen müssen, dass auch die Landesregierun-
gen nachbessern und ihre Landesdatenschutzbeauftrag- – der Kollege Grindel ist wach geworden; das ist gut,
ten besser ausstatten müssen. jetzt kommt ein bisschen Stimmung in den Laden –, dass
wir innerhalb dieser Legislaturperiode versuchen – das
(Beifall bei der FDP – Jan Korte [DIE
war in den letzten Jahren genauso –, die gemeinsame
LINKE]: Das stimmt!)
Beschlussempfehlung Stück für Stück umzusetzen.
Trotz der begrenzten Reichweite müssen gesetzliche Wenn alle Fraktionen dafür sind und diese Beschluss-
Regelungen – wo nötig – über die Formulierung eines empfehlung ernst nehmen, wird man das ja wohl irgend-
Rahmens weit hinausgehen und konkret werden. Das gilt wie hinbekommen. Wir als Linke sind auf jeden Fall da-
selbstverständlich für die Rechte der Betroffenen wie bei.
Widerspruchsrechte oder Ansprüche auf Sperrung oder
Löschung. Solche Instrumente, die die informationelle Da Herr Schaar im Haus ist, möchte ich vorab noch
Selbstbestimmung des Betroffenen absichern sollen, einen Punkt ansprechen. Wir beraten heute den Tätig-
dürfen nicht vom Gutdünken einer datenverarbeitenden keitsbericht von 2007 und 2008. Wir sollten dafür sor-
Stelle abhängig gemacht werden. Diese Aussage gilt gen, dass Herrn Schaar in Zukunft genügend Kollegin-
umso mehr, wenn die persönlichen Daten des Einzelnen nen und Kollegen zur Verfügung stehen, sodass wir in
zu kommerziellen Zwecken ge- oder – und das passiert späteren Jahren den Bericht des Vorjahres diskutieren
nicht selten – missbraucht werden. und nicht den von vor drei Jahren. Hier müssen wir un-
bedingt nachbessern.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Wolfgang
Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – (Beifall bei der LINKEN)
Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Selbstverständlich fehlen viele wichtige Punkte in
NEN]: Ich habe schon vorher geklatscht!)
dieser gemeinsamen Beschlussempfehlung. Das ist klar.
– Ich bin begeistert, Wolfgang. – Ich komme zu einem Es handelt sich um einen Minimalkonsens.
tendenziell weihnachtsfreundlichen Abschluss: Noch
einmal mein Dank für die gemeinsame Beratung. Ich Auf Seite 45 des Berichtes – ich habe ihn gelesen –
(B) würde mich freuen, wenn wir beim Thema Datenschutz findet sich zum Beispiel das Thema Onlinedurch- (D)
auch in Zukunft gemeinsam etwas bewegen könnten. suchungen. Dort wird zu Recht gesagt, das sei ein
schwerwiegender Grundrechtseingriff. Das ist wohl
Herzlichen Dank. wahr; wir haben heute schon über die Vorratsdatenspei-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie cherung gesprochen. Bis heute haben Sie, die die Mög-
der Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜND- lichkeit einer Onlinedurchsuchung eingeführt haben,
NIS 90/DIE GRÜNEN] und Wolfgang Wieland auch in diesem Fall nicht gesagt, wofür wir dieses In-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) strument überhaupt brauchen. Das BKA hat laut der
jüngsten Anfrage der Fraktion Die Linke noch gar keine
Onlinedurchsuchung durchgeführt. Wir sollten also die
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Aussagen im Bericht hierzu ernst nehmen und diese
Das Wort hat der Kollege Jan Korte von der Fraktion Möglichkeit streichen.
Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der LINKEN)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Jan Korte (DIE LINKE): Ein anderer Punkt ist, dass bei allen elektronischen
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Großprojekten einige Aspekte nicht beachtet wurden –
Sehr geehrter Peter Schaar! In der Tat ist es eine gute Sa- von uns zwar schon, aber darüber gab es keinen Konsens.
che, dass wir eine gemeinsame Beschlussempfehlung So gibt es zum Beispiel beim Millionengrab E-Perso und
auf den Weg gebracht haben. Ich denke, das trägt auch bei der gesamten Biometriestrategie weniger Daten-
der Tatsache Rechnung, dass der Datenschutz innerhalb schutz. Deshalb muss hier – darauf wurde schon hinge-
der Gesellschaft, der Bevölkerung einen hohen Stellen- wiesen – dringend ein Kurswechsel eingeleitet werden.
wert bekommen hat. Ich erinnere auch an ELENA, an die Gesundheitskarte
und die Vorratsdatenspeicherung, über die wir heute
Noch eine kleine Anmerkung. Dieser gemeinsame schon diskutiert haben und die einen der schwerwie-
Antrag ist auch insofern ein gutes Zeichen, als die Kolle- gendsten Eingriffe in die informationelle Selbstbestim-
gen von der CDU/CSU in dieser Beziehung vielleicht mung überhaupt darstellt.
einmal in sich gehen könnten. Bei diesem Sachthema
konnten wir gut zusammenarbeiten. Vielleicht ist das bei Lange Rede, kurzer Sinn: Wenn man die Aussagen
anderen Themen in Zukunft auch möglich. Das wäre des Berichts ernst nimmt, müsste man ein Moratorium
doch ein gutes Zeichen. für all diese Großprojekte fordern und eine wirkliche
9042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Jan Korte
(A) bürgerrechtliche Evaluierung vornehmen. Das wäre an- Datenschutz. Wir wollen an dieser Stelle offen über Da- (C)
gemessen. tenschutz sprechen. Nicht nur innerhalb der Regierung
gibt es erhebliche Meinungsunterschiede – nehmen wir
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten nur das Stichwort „Vorratsdatenspeicherung“ –, sondern
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auch uns Grüne trennt manches von der Bundesregie-
Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen, über rung – das sei hier erwähnt –, zum Beispiel bei ELENA.
den noch gar nicht diskutiert worden ist, nämlich den Hier findet im Augenblick eine verfahrenstechnisch aus-
Umgang mit Sozialdaten. Hartz IV ist nicht nur Armut gesprochen unwürdige Beerdigung – häppchenweise
per Gesetz, sondern damit einher geht per Gesetz auch und auf Raten – statt, ohne dass die Datensammelei ge-
ein Fehlen von Datenschutz. Auch beim Umgang mit stoppt wird. Noch immer werden die Daten jeden Monat
den Daten von Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfän- zentral gespeichert und gemeldet, was klar rechtswidrig
gern ist es an der Zeit, endlich einen wirksamen Daten- ist. Frau Piltz, auch wenn Sie sich hier für die tolle Da-
schutz einzuführen. Hier hätten Sie uns an Ihrer Seite. tenschutzpolitik abfeiern lassen, da versagen Sie leider
Hier ist aber, wie ich glaube, noch extrem viel Druck komplett.
vonnöten. (Gisela Piltz [FDP]: Das werden Sie noch
Der Bericht sollte für uns also Mahnung und Hand- sehen!)
lungsanweisung zugleich sein. Wir würden uns in die- Beim neuen Pannen-Personalausweis ist es genauso.
sem Bereich intensiv engagieren. Wir sollten jetzt aber Man kann ihn den Bürgerinnen und Bürgern nicht emp-
erst einmal die Punkte der gemeinsamen Beschlussemp- fehlen, und dies tut kaum jemand mehr;
fehlung, bei denen wir alle einer Meinung sind – Herr
Grindel schaut begeistert –, umsetzen. Dann sollten wir (Jan Korte [DIE LINKE]: Richtig!)
einen grundlegenden Kurswechsel einleiten. Dafür muss denn über die zugesagte Sicherheit verfügt er gerade
allerdings diese Regierung abgewählt werden. Auch da- nicht.
ran arbeiten wir.
(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: 400 000
(Beifall bei der LINKEN) haben ihn schon beantragt!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:


Das Beharren auf der Vorratsdatenspeicherung von
Union und – nach dem halbgaren Vortrag vorhin; wir ha-
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
ben darüber vor zwei Stunden diskutiert – vermutlich
der Kollege Dr. Konstantin von Notz von Bündnis 90/
auch dem Kern der SPD steht meiner Ansicht nach im
Die Grünen das Wort.
klaren Widerspruch zu dem vorliegenden Bericht, der
(B) (D)
die Sorge zum Ausdruck bringt, dass die Vielzahl der
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Datenverarbeitungen und das unaufhörliche Anwachsen
NEN): von Datenbeständen es den Bürgerinnen und Bürgern
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und immer schwerer mache, ihr Recht auf informationelle
Herren! Lieber Peter Schaar, auch wir Grünen begrüßen Selbstbestimmung auszuüben. Die verpflichtende Vor-
die mit und in dem Bericht zum Ausdruck kommende ratsdatenspeicherung trägt genau zu einem solch unauf-
Bedeutung der Arbeit des Bundesdatenschutzbeauftrag- hörlichen Anwachsen von Datenbeständen bei.
ten. Wir bedanken uns bei ihm und all seinen Mitarbei-
terinnen und Mitarbeitern für die insgesamt geleistete Beim Thema Internet, der zentralen Bewährungs-
Arbeit, aber insbesondere für die in den Jahren 2007 und probe für den Datenschutz unserer Zeit, liefert die Bun-
2008. An diesem Punkt gilt es festzuhalten: Ein unab- desregierung bisher nichts außer einer angedeuteten ro-
hängiges Aufsichtssystem ist ein verfassungsfester Bau- ten Linie. Frau Piltz, das ist wichtig; jetzt müssen Sie
stein unseres Datenschutzkonzeptes. aufpassen, weil Sie sich eben so gelobt haben.

Auch ich freue mich über die fraktionsübergreifende (Gisela Piltz [FDP]: Wir sind doch nicht in der
Beschlussempfehlung und die konstruktive Zusammen- Schule! Das ist echt unter meiner Würde!)
arbeit. Das ist ein positives Signal in diesen manchmal Die rote Linie des Innenministers erfasst eben nur die
garstigen politischen Zeiten. Das zeigt auch – da stimme Veröffentlichung von Daten. Nicht erfasst, sondern der
ich dem Kollegen Mayer völlig zu – die Bedeutung und Selbstregulierung überlassen bleiben die Erhebung, die
die Wichtigkeit dieses Themas in der aktuellen Zeit. Speicherung, die Verwaltung, die Weitergabe und die
Kommerzialisierung von Daten; das ist alles ungeregelt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Da bohren Sie ein wirklich dünnes Brett. Das geht so
sowie des Abg. Stephan Mayer [Altötting]
nicht.
[CDU/CSU])
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Für uns besonders wichtig war, dass in den Bericht
Zuruf von der FDP: Ich wusste gar nicht, dass
die Bedeutung bundesweiter Gütesiegel und ein Prüfan-
ihr so einen Regelungswahn habt!)
trag zur Schaffung gesetzlicher Regelungen für Smart
Grid Eingang gefunden haben sowie Bezug auf die Auch die letzten Entscheidungen des Bundesverfas-
wichtigen Anregungen im Eckpunktepapier zur Moder- sungsgerichts zur Onlinedurchsuchung und zur Vorrats-
nisierung des Datenschutzes genommen wurde. Das al- datenspeicherung mit komplexen umfänglichen Maßga-
les sind wichtige politische Punkte für einen modernen ben zu den verfassungsrechtlich gebotenen Schutzmaß-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9043
Dr. Konstantin von Notz
(A) nahmen machen diesen Bedarf überdeutlich. Da haben Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (C)
Sie nichts getan. Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Kollege Mayer hat das Bundesdatenschutzgesetz an- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
gesprochen und es sehr milde gesagt. Es ist in der Tat
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
völlig überholt und in den 70er- und 80er-Jahren stehen
derspruch? – Das ist nicht der Fall.
geblieben. Es stellt auf Großrechnertechnologien ab und
geht an den Realitäten im Jahr 2010 völlig vorbei. Wir Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
brauchen eine Generalrevision dieses Gesetzes, das für ner dem Kollegen Gustav Herzog von der SPD-Fraktion
uns die nächsten Jahre ein ganz zentrales Gesetz werden das Wort.
muss.
(Beifall bei der SPD)
(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das
machen wir!) Gustav Herzog (SPD):
Ich bin gespannt, was in diesem Bereich erfolgt, wenn es Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
schon mit der roten Linie so schwierig ist. Antrag der SPD-Fraktion mit dem Titel „Zukunftsfähig-
keit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sichern“ ist
Noch wichtiger und grundlegender sind Anstrengun- die Reaktion auf eine Entscheidung des Haushaltsaus-
gen beim Datenschutz durch Technik. Auch hier muss schusses, die die Koalitionsfraktionen mit Unterstützung
der Gesetzgeber tätig werden; denn alle Hoffnungen auf von Grünen und Linken herbeigeführt haben. Das Bun-
einen sich selbst entfaltenden Markt der sogenannten desministerium wurde vorgeführt, als Sie deutlich ge-
Privacy Enhancing Technologies haben sich nicht hinrei- macht haben, was Sie vorhaben, nämlich dass aus der
chend erfüllt. Bereits ab Werk muss für freiheitswah- bisher sehr gut funktionierenden Ausführungsverwal-
rende Einstellungen und Optionen in Soft- und Hard- tung lediglich eine Gewährleistungsverwaltung wird.
ware gesorgt werden.
Ich will in meiner Rede drei Schwerpunkte setzen
Im Datenschutz liegt der entscheidende Weg noch vor – über die Details der Wasser- und Schifffahrtsverwal-
uns. Der Bericht des Bundesdatenschutzbeauftragten ist tung können wir sicherlich im Verkehrsausschuss reden,
ein erster Schritt; viele weitere große – und nicht kleine – sobald der angeforderte Bericht des Ministeriums vor-
Schritte müssen folgen. Die Bürgerinnen und Bürger die- liegt –: Ich will mich als Abgeordneter mit der gesell-
ses Landes erwarten von uns einen effektiven Schutz ih- schaftspolitischen Frage beschäftigen, ob es uns um öf-
rer Daten. fentliche Daseinsvorsorge oder um eine reine
Ganz herzlichen Dank. Privatisierungsideologie gehen sollte. Ich will mich als
(B) Verkehrspolitiker der Frage stellen, ob Sie sich die rich- (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – tigen Ziele gesetzt haben, ob Sie ausreichend Mittel zur
Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die Debatte Verfügung stellen und ob Sie über die passende Organi-
war von großer Einmütigkeit geprägt!) sation verfügen, um den Ausbau und die Unterhaltung
der Wasserwege zu gewährleisten. Ich stelle mir als So-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zialdemokrat die Frage, wie Sie mit 13 000 Menschen
Ich schließe die Aussprache. umgehen, die gute Arbeit geleistet haben. Ich sage Ih-
nen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wasser-
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus- und Schifffahrtsverwaltung haben aufgrund Ihrer Ent-
schusses zu dem Tätigkeitsbericht 2007 und 2008 des scheidung keine schöne Weihnacht.
Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Infor-
mationsfreiheit. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- (Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]:
schlussempfehlung auf Drucksache 17/4179, in Kennt- Quatsch!)
nis des genannten Berichts auf Drucksache 16/12600 Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ist vielen
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Prüfungen unterzogen worden: durch Kienbaum in den
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Jahren 1996/1997
gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen. (Patrick Döring [FDP]: Das ist nicht umgesetzt
worden!)
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf:
und im Rahmen des Gutachtens zu den Kernaufgaben
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe von 2001. Es gab einen ständigen Personalabbau und
Beckmeyer, Heinz-Joachim Barchmann, eine ständige Anpassung: Über 27 Prozent der Stellen
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter sind in den letzten 17 Jahren abgebaut worden. Heute
und der Fraktion der SPD sind in dieser Verwaltung weniger Menschen beschäf-
Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schiff- tigt, als es die Vorgabe von 2001 vorsah. Ich füge hinzu:
fahrtsverwaltung sichern Auch sozialdemokratische Verkehrsminister waren an
diesem Abbau beteiligt.
– Drucksache 17/4030 –
Überweisungsvorschlag:
Wie ist die aktuelle Situation? Ich muss der FDP und
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) den Grünen ein Kompliment machen: Sie haben ge-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie schickte Medienvorarbeit geleistet. Ich lese in der
9044 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Gustav Herzog
(A) Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 21. No- (Patrick Döring [FDP]: Quatsch!) (C)
vember dieses Jahres, dass 13 000 Bürokraten 8 000
Die gesamten Mauteinnahmen fließen in den Verkehrs-
Binnenschiffern gegenüberstehen. Ich hätte mir von den
träger Straße.
Kollegen Wilms und Staffeldt, die dort zitiert wurden,
schon gewünscht, dass sie auf Folgendes hinweisen: In (Patrick Döring [FDP]: So, wie alle Trassen-
dieser Verwaltung sind nicht 13 000 Bürokraten tätig. entgelte bei der Schiene bleiben!)
Natürlich zählen auch der Staatssekretär und Vertreter
Das Haushaltsrisiko und die Auswirkungen der Schul-
des Ministeriums dazu; aber 70 Prozent der Beschäftig-
denbremse tragen in Zukunft allein die Verkehrsträger
ten in der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung – es ist
Schiene und Wasserstraße. Das werden wir in den nächs-
wichtig, darauf hinzuweisen – sind Menschen, die in den
ten Jahren erst richtig merken, wenn die Verteilungs-
Außenbereichen arbeiten, die sich bei jedem Wetter,
kämpfe noch härter werden.
auch bei diesem, darum kümmern, dass die Schleusen
und die Sicherheitseinrichtungen funktionieren und die (Beifall bei der SPD)
Bojen Licht geben, dass die Sicherheit auf See und auf
unseren Binnenwasserstraßen gewährleistet ist. Ich habe nicht den Eindruck, dass es Ihnen um eine
effizientere Organisation geht, was der Bundesrech-
Zudem sind dort über 1 000 Auszubildende tätig. Es nungshof anmahnt.
ist eine spannende Frage an die Bundesregierung, wie (Torsten Staffeldt [FDP]: Guck an!)
die Bundesverwaltung in Zukunft ihre Ausbildungsquote
halten will, wenn die Wasser- und Schifffahrtsverwal- Ihnen geht es darum, vergaberechtlich darauf zu achten,
tung so abgespeckt worden ist. Ich sage Ihnen: Die Lehr- dass möglichst viele ihr Geld damit verdienen.
linge, die Sie in der politischen Führung haben, werden (Christian Lange [Backnang] [SPD]: So ist
bei der Ausbildungsquote nicht mitgezählt. es!)
(Beifall bei der SPD) Sie missbrauchen die Wasser- und Schifffahrtsverwal-
All Ihre Argumente und Sparappelle wären tatsäch- tung für Ihre Privatisierungsideologie. Das Ganze pas-
lich glaubwürdig, wenn Sie von der FDP sich darange- siert auf dem Rücken der Beschäftigten, geht zulasten
macht hätten, die in Ihrem Sparbuch vorgeschlagenen der Infrastruktur und geschieht auf Kosten des Steuer-
Maßnahmen umzusetzen. Sie wollten ein Ministerium zahlers.
abschaffen; jetzt fühlt sich Ihr früherer Generalsekretär (Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]:
da sehr wohl. Sie wollten die Anzahl der Staatssekretäre Abwegig! – Weiterer Zuruf von der FDP: Wie
reduzieren; nichts ist passiert. Aber bei den Leuten, die aus der Phrasendreschmaschine!)
(B) draußen an den Schleusen arbeiten, wollen Sie einspa- (D)
ren. Die öffentliche Verwaltung kann sich diesem Wettbe-
werb stellen, wenn es um Qualität, Sicherheit und Kos-
(Patrick Döring [FDP]: Da klatscht nicht ein- ten geht. Wenn Sie das einem Sozialdemokraten nicht
mal die SPD! – Gegenruf des Abg. Christian glauben wollen,
Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja eine bit-
tere Wahrheit! Das ist wirklich kein Grund, zu (Torsten Staffeldt [FDP]: Das fällt uns nicht
jubeln!) schwer!)
dann machen Sie einmal eine Dienstreise nach Hessen.
– Bei bitteren Wahrheiten fehlt einem vielleicht der En-
Herr Westerwelle darf zwar nicht mehr nach Rheinland-
thusiasmus.
Pfalz; aber ich denke, dass Sie Ihren hessischen Ver-
Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis will ich zitieren: kehrsminister besuchen dürfen. Dessen Vorgänger hat
vor drei Jahren einen Versuch gestartet. Er hat eine Stra-
Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bun- ßenmeisterei zur Privatisierung ausgeschrieben.
des verfügt über hohe Kompetenz und stellt sich
mit neuen Methoden und Lösungen den veränder- (Torsten Staffeldt [FDP]: Äpfel mit Birnen
ten Herausforderungen. vergleichen!)

Jetzt hätte ich natürlich donnernden Applaus von der Es gab einen Wettbewerb mit den anderen Straßenmeis-
Koalition erwartet. Warum? Ich habe Ihren Bundes- tereien. Im Sommer dieses Jahres hat er den Versuch
minister, Herrn Dr. Peter Ramsauer, zitiert. Das steht auf vorzeitig für beendet erklärt. Er hat gesagt: Die Privaten
Seite 1 einer schönen druckfrischen Broschüre, Ausgabe waren teurer, die Qualität war nicht so gut, und vor allen
11/2010, mit dem sehr interessanten Titel „Gut zu wis- Dingen waren Mängel bei der Sicherheit zu finden. –
sen, was dahintersteckt“. Gehen Sie einmal nach Hessen.
Ich sage Ihnen: Wir Sozialdemokraten treten für mehr
Das ist tatsächlich die Frage: Was steckt dahinter? Sie
Transport auf der Wasserstraße ein. Dafür brauchen wir
haben eine andere verkehrspolitische Konzeption. Sie
eine leistungsfähige und regional verankerte Wasser-
haben sich vom integrierten Verkehr verabschiedet. Sie
und Schifffahrtsverwaltung.
haben in Ihrem Aktionsplan das Ziel „Verlagerung auf
Schiene und Wasserstraße“ relativiert. Vor allen Dingen Zum Abschluss noch an die Adresse unserer mariti-
haben Sie mit geschlossenen Finanzierungskreisläufen men Freunde: Es nützt nichts, mit voller Kraft vorauszu-
die Straße privilegiert. fahren, wenn das Ruder falsch eingestellt ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9045
Gustav Herzog
(A) Vielen Dank. tet, auch nur annähernd einen Weg zur Erreichung dieses (C)
Zieles zu beschreiten. Stattdessen hat man sich immer
(Beifall bei der SPD – Torsten Staffeldt [FDP]: für die Zementierung bestehender Strukturen entschie-
Bei euch ist das Ruder blockiert! Das dreht den.
sich nur linksherum! Das ist das Problem!)
(Gustav Herzog [SPD]: Wir wussten eben, was
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wichtig ist!)
Das Wort hat der Kollege Matthias Lietz von der Sie haben sich von Ihrem Leitbild eines aktivierenden
CDU/CSU-Fraktion. Staates verabschiedet, in dem der Staat nicht einfach we-
niger, sondern anders werden muss.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Florian Pronold [SPD]: Haben Sie einmal ge-
Matthias Lietz (CDU/CSU): schaut, welche Aufgaben es gibt?)
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren Ab- Wenn man über Ihr Leitbild liest, kommt man zu dem
geordnete! Kollege Herzog, auch ich möchte zu Beginn Schluss, dass statt einer Zementierung der Durchfüh-
zurückblicken: Bereits 1999 richtete das Verkehrsminis- rungsverwaltung ein Schritt zu mehr Gewährleistungs-
terium die Projektgruppe „Entwicklungskonzepte für verantwortung der richtige Ansatz zur Reform der WSV
eine zukunftsorientierte WSV – Konzentration der WSV ist.
auf Kernaufgaben“ ein. Vor dem Hintergrund bisheriger
und künftiger Personaleinsparungen sowie knapper wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
dender Haushaltsmittel sollten die künftige Aufgaben- Florian Pronold [SPD]: Was heißt das auf
struktur und konkrete Umsetzungsvorschläge ermittelt Deutsch?)
werden. Ziel des Gutachtens war die zukunftsfähige Ge- In Ihrem heute vorliegenden Antrag erwähnen Sie die
staltung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des gemeinsame Vereinbarung von 2005 und beklagen sich,
Bundes. Mit Blick auf eine künftige Aufgabenstruktur dass diese Vereinbarung ausgelaufen ist und nicht ver-
und ihre Kernaufgaben wurde unter anderem Folgendes längert wurde. Eines kann ich Ihnen in diesem Zusam-
geprüft: Welche Aufgaben müssen oder sollen von der menhang versichern: Wir werden uns als Koalition ge-
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung mit welcher Intensi- nau überlegen, wie wir künftig eine Vereinbarung
tät selbst wahrgenommen werden und welche nicht? gestalten. Wir unterstützen eine echte Reform der Was-
Welche Aufgaben können oder sollen durch Dritte wahr- ser- und Schifffahrtsverwaltung. Wir wollen die Wasser-
genommen werden, und welche Aufgaben können sogar und Schifffahrtsverwaltung zukunftsfest machen und
ganz entfallen? Der Abschlussbericht wurde 2001 vorge- uns nicht nur auf die Optimierung bestehender Ge-
(B) legt. (D)
schäftsabläufe beschränken.
Heute stellt sich natürlich die Frage: Was wurde aus (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Florian
dem Gutachten der Projektgruppe, und was wurde von Pronold [SPD]: Das heißt konkret?)
den damaligen Ergebnissen bis heute umgesetzt?
Wir unterstützen eine echte Aufgabenkritik und eine
Seit einem Jahr wird das Verkehrsministerium von ei- Überprüfung der bisherigen Reformschritte bei der Was-
nem Minister der christlich-liberalen Koalition geführt. ser- und Schifffahrtsverwaltung.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja Ich bin mir sicher: Eine echte Reform ist nur in einem
das Problem! – Florian Pronold [SPD]: „Ge- engen Dialog mit den Beschäftigten, ihren Interessen-
führt“ eigentlich nicht! „Geführt“ ist übertrie- vertretungen sowie mit den Gewerkschaften auf den
ben!) Weg zu bringen. Dabei müssen beide Seiten vorurteils-
Bis dahin – das haben Sie hier selbst erwähnt –, also bis und ideologiefrei in den Dialog eintreten. Ich sage nicht,
zum Herbst des Jahres 2009, lag das Verkehrsministe- dass die Gespräche ohne intensive Debatte verlaufen
rium in der Verantwortung der SPD. Es ist daher interes- werden; aber keine Seite sollte sich bereits jetzt auf un-
sant, dass der Antrag „Zukunftsfähigkeit der Wasser- verrückbare Positionen versteifen.
und Schifffahrtsverwaltung sichern“ ausgerechnet von (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr vernünftig!)
Ihnen vorgelegt wurde.
Noch bevor der Bericht aus dem Ministerium überhaupt
Im Abschlussbericht von 2001 nennt die Projekt- vorliegt und somit noch gar nicht klar ist, welche
gruppe beispielsweise für Aufgaben, die der Gewährleis- Schritte die Regierung konkret ergreifen wird, ist es un-
tungsverantwortung zugeordnet und auch durch Dritte nütz, hier und heute über eine mögliche Zerschlagung
erbracht werden können, ein theoretisches Einsparpoten- der Strukturen der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
zial von 6 200 Dienstposten bei damals rund 15 000 Mit- zu reden.
arbeitern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
Die vom Bundesrechnungshof angemahnte Organisa-
Bei Umsetzung der Vorschläge wäre ein künftiger Perso- tionsreform ist notwendig. Wie diese konkret aussieht,
nalumfang von 8 800 Dienstposten bei der Wasser- und werden wir erst – so ist es angekündigt – nach dem
Schifffahrtsverwaltung denkbar. Bis zum Ende ihrer Ver- 26. Januar 2011 entscheiden können, wissend, dass auch
antwortung im Ministerium hat die SPD darauf verzich- die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung den kommenden
9046 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Matthias Lietz
(A) Reformprozess konstruktiv begleiten will. Mit Ihrem (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. (C)
Antrag wollen Sie erreichen, dass krampfhaft an der bis- Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
herigen Struktur festgehalten wird. Darüber hinaus for- NEN])
dern Sie eine Aufstockung des bestehenden Personals.
Das sichert nicht die Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Wir sagen ganz deutlich: Wir wollen keine als Ge-
Schifffahrtsverwaltung, sondern verhindert eine effi- währleistung getarnte Privatisierung der Wasser- und
ziente, langfristige und kritische Betrachtung der Aufga- Schifffahrtsverwaltung. Das Bundesverkehrsministe-
benerledigung. rium müsste eigentlich noch wissen, wohin das führt;
denn es ist auch Bundesbauministerium. Bei der Sanie-
Vielen Dank, meine Damen und Herren. rung Ihres eigenen Hauses in der Invalidenstraße hier in
Berlin ist Ihnen selbiges fast auf den Kopf gestürzt,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nachdem Sie die Bauaufsicht privatisiert haben. Liebe
Bundesregierung, aus Fehlern kann man klug oder stur
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: werden. Sie müssen selbst entscheiden, welchen Weg
Das Wort hat der Kollege Roland Claus von der Frak- Sie gehen.
tion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring
(Beifall bei der LINKEN) [FDP]: Die Geschichte mit den volkseigenen
Betrieben ist schon ein bisschen länger her!)
Roland Claus (DIE LINKE):
Allerdings muss auch die sozialdemokratische Frak-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für den tion an die Zeit erinnert werden, als sie noch den Traum
Fall, dass uns noch jemand außerhalb dieses Plenarsaals von Tony Blair und Gerhard Schröder träumte. Er ging
wahrnimmt: Wir reden hier über eine Beschäftigten- so: Wir von der SPD können Privatisierung besser als
gruppe, die selten im Rampenlicht steht, aber wichtige CDU, CSU und FDP.
Aufgaben erfüllt. Wir reden über die Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung des Bundes, die WSV. Es geht hier im (Sebastian Körber [FDP]: Absoluter Unsinn!)
besten Sinne des Wortes um einen öffentlichen Dienst
mit etwa 13 000 Mitarbeitern, um eine Verwaltung, die Immerhin stammt das Konzept, das Sie jetzt kritisieren,
wir als Abgeordnete oder auch Bürgerinnen und Bürger aus dem Jahre 2001. Damals gab es eine rot-grüne Bun-
keinesfalls alltäglich wahrnehmen, aber der wir viel häu- desregierung und einen sozialdemokratischen Verkehrs-
figer begegnen, als wir es wahrnehmen, sei es, wenn wir minister, wenn ich das einigermaßen richtig erinnere. Sei
mit dem Schiff in Berlin auf der Spree fahren, sei es, es drum: Eine SPD-Fraktion minus Agenda 2010 ist mir
allemal lieber als eine Agenda-SPD. Deshalb stimmen
(B) wenn wir als Käufer von Produkten aus Übersee in Er- wir Ihrem Antrag zu. Wenn auch der Bericht vorliegt, (D)
scheinung treten. Die Sache ist uns also lieb und teuer.
Deshalb ist es gut, dass die SPD diesen Antrag einbringt, können wir für Klarheit sorgen. Wir sagen: Klarheit ja,
in dem es heißt: Der WSV als leistungsfähiger Institu- Privatisierung nein.
tion muss eine Zukunft gegeben werden. Wir wollen den (Beifall bei der LINKEN)
öffentlichen Dienst erhalten und modernisieren und
nicht zerschlagen. – Dem wird die Linke zustimmen. In diesem Sinne habe ich eine kleine lokalpatriotische
Bitte an die WSV. Es gibt in Magdeburg-Rothensee ein
(Beifall bei der LINKEN) sehr traditionsreiches Schiffshebewerk, das seit 2006 au-
Der Grundkonflikt, der hier besteht, ist mit zwei sehr ßer Betrieb ist. Es handelt sich um ein technisches Denk-
sperrigen bürokratischen Begriffen besetzt, die ich über- mal. Wir setzen uns dafür ein, dass dieses technische
setzen muss. Der erste Begriff lautet „Ausführungsver- Denkmal erhalten bleibt. Wir sind für die Zukunft der
waltung“. Dabei geht es um eine Verwaltung, die selbst WSV. Also sollte sich die WSV auch ein Stück weit für
tun kann, was notwendig ist. Ein Beispiel: Eine Schleuse die Zukunft dieses technischen Denkmals einsetzen.
muss repariert werden. Die Verwaltung ist in der Lage, Vielen Dank.
die Schleuse zu reparieren. – Der zweite sperrige Begriff
lautet „Gewährleistungsverwaltung“. Er bedeutet: Was (Beifall bei der LINKEN)
zu tun ist, soll anderen übertragen werden. Im genannten
Beispiel muss man also jemanden suchen, der die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Schleuse reparieren kann. Wir sagen, um das klarzustel- Das Wort hat jetzt der Kollege Torsten Staffeldt von
len, ganz deutlich: Die Linke will, dass die WSV selbst der FDP-Fraktion.
handeln kann.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der LINKEN und der SPD)
Allerdings wollen wir wissen, was die Bundesregie- Torsten Staffeldt (FDP):
rung vorhat, über Jahre aber nicht öffentlich vorgetragen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist wie-
hat. Deshalb – nur deshalb – haben wir im Haushaltsaus- der einmal bezeichnend, dass sich die Linke für Denk-
schuss dafür gestimmt, dass bis zum 26. Januar nächsten mäler einsetzt.
Jahres ein Bericht vorzulegen ist. Wir wollen, dass die
Karten auf dem Tisch liegen. Erst dann können wir ent- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie
scheiden. machen es ja nicht! – Cornelia Behm [BÜND-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9047
Torsten Staffeldt
(A) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das tun wir liche Auseinandersetzung mit dem, was wir mit dieser (C)
auch!) Reform eigentlich vorhaben.
Ich beginne mit einem Zitat: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Florian Pronold [SPD]: Ich finde die Aussage
Gerade wer das Bewahrenswerte bewahren will,
angesichts Ihrer Vorhaben eher harmlos!)
muss verändern, was der Erneuerung bedarf.
Meine Damen und Herren, Sie behaupten, dass unsere
(Florian Pronold [SPD]: Ja! Aber damit kann
Reform zu Problemen bei der Schifffahrt führen wird.
man nicht jeden Schmarrn begründen!)
Sie lehnen jede Veränderung ab.
Meine Damen und Herren, es mag für die Kolleginnen
(Florian Pronold [SPD]: Das ist nicht wahr!)
und Kollegen von der SPD vielleicht überraschend sein,
aber dieses Zitat stammt von Willy Brandt. Es steht in Herr Herzog, Sie haben eben das Beispiel mit dem
völligem Widerspruch zu dem, was wir gerade vom Kol- schönen Weihnachten für die Mitarbeiterinnen und Mit-
legen Herzog gehört haben. arbeiter gebracht. Sie verunsichern doch die Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter der Verwaltung, wenn Sie von ei-
(Florian Pronold [SPD]: Aber Willy Brandt
nem Stellenabbau sprechen, der angeblich 6 000
hätte bestimmt nie die Wasser- und Schiff-
Menschen betrifft. Das ist völlig absurd. Diese Zahl ha-
fahrtsverwaltung privatisiert! Das ist der Un-
ben Sie sich aus den Fingern gesogen.
terschied!)
(Gustav Herzog [SPD]: Nein, das ist Ihr Ziel!)
– Sie sollten lieber das beherzigen, was Willy Brandt ge-
sagt hat; denn er war zukunftsgerichteter als Sie heute. – Nein, das ist nicht unser Ziel. Unser Ziel ist es, die Ver-
waltung zukunftsfähig zu gestalten. Aber darauf komme
(Florian Pronold [SPD]: Ist die FDP schon so
ich noch.
orientierungslos, dass sie sich an Willy Brandt
orientiert?) Ich will sagen: Sie sind die Brandstifter, die erst Feuer
legen und sich hinterher als Feuerwehr aufspielen wol-
Meine Damen und Herren, was ist geschehen? Wir
len.
haben im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir ein
Gesetz zur Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwal- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
tung vorlegen werden. Ursache dafür ist, dass die bishe- Florian Pronold [SPD]: Und das bei einer Was-
rigen SPD-Verkehrsminister dies nie geschafft haben ser- und Schifffahrtsverwaltung!)
oder schaffen wollten. Seit 1998 haben Sie fünfmal – mit
Sie sind das eigentliche Problem. Eigentlich hätte ich
den Ministern Müntefering, Klimmt, Bodewig, Stolpe
(B) das eher – das muss ich in diesem Falle sagen – von der (D)
und Tiefensee – die Chance gehabt, die Wasser- und
Dagegen-Partei, nämlich von den Grünen erwartet.
Schifffahrtsverwaltung zu reformieren. Sie haben es
nicht geschafft. (Florian Pronold [SPD]: Sie sollten sich einen
besseren Redenschreiber suchen!)
(Gustav Herzog [SPD]: Wir haben sie refor-
miert, aber Sie haben es zerschlagen!) Zu den Fakten. Viele Berichte des Bundesrechnungs-
hofs weisen nach, dass eine wirkliche Reform längst
Auch jetzt will die SPD das nicht und spielt sich hier
überfällig ist. Wenn man die Berichte aufmerksam liest,
als Retter der Bedrohten auf. Da werden Horrorszena-
stellt man fest, dass die Ursache vieler Probleme in der
rien und Untergangsvisionen an die Wand gemalt. Ich
Struktur der Verwaltung liegt. Viele Köche verderben
möchte gerne ein paar Beispiele aus der Presse der letz-
den Brei, könnte man auch ganz platt sagen. Der Bun-
ten Monate zitieren. So sagte etwa der Kollege Gustav
desrechnungshof mahnt einen ernsthaften ganzheitlichen
Herzog am 4. November: Die Koalition hat sich vorge-
und nachhaltigen Sanierungsprozess bei der WSV an,
nommen, diese Behörde auf Biegen und Brechen zu de-
und das hat seinen Grund.
montieren.
Der behauptete Stellenabbau in der Verwaltung hat
Der Kollege Johannes Kahrs aus Hamburg, der jetzt
nicht stattgefunden; darauf hat der Kollege Lietz eben
nicht da ist, sagte:
schon hingewiesen. Die Verwaltung beschäftigt nämlich
Hier soll nach dem Willen der Koalition eine Be- nahezu genauso viele Menschen wie 2001, nämlich in
hörde … kaputtmodernisiert werden. etwa 14 400 und nicht 13 000, wie hier immer gesagt
wird. Gemäß der Antwort auf eine Anfrage der Grünen
Immerhin redet der Kollege Kahrs von Modernisie-
vom Sommer dieses Jahres sind es 14 400.
rung und nicht von Demontage wie der Kollege Herzog.
(Gustav Herzog [SPD]: Das ist der Unterschied
Mein Bremerhavener Kollege Uwe Beckmeyer, der
zwischen Stellen und Beschäftigten!)
leider auch nicht da ist, wusste bereits am 26. Juni, was
kommen wird; denn er behauptete: Das kommt einer Das entsprechende Beispiel haben wir schon gehabt. Das
Zerschlagung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ist, bezogen auf die Gesamtlänge der Schifffahrtsstra-
gleich. ßen, so, dass etwa alle 500 Meter ein Mitarbeiter oder
eine Mitarbeiterin stehen müsste.
Es gab Beschimpfungen und Unterstellungen der
Kollegen aus der SPD in der Öffentlichkeit. Das alles Die seit langem geforderte und in § 7 der Bundes-
war völlig sach- und fachfremd und ohne jegliche inhalt- haushaltsordnung geforderte Prüfung der Vergabe von
9048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Torsten Staffeldt
(A) Arbeiten an Externe, wenn es denn wirtschaftlich sinn- Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden weiter (C)
voll ist, wird seit Jahren durch unklare Ausschreibungs- benötigt, weil sie als Einzige über das detaillierte Know-
bedingungen und nicht vollkostenorientierte Vergleiche how verfügen, um Vergaben auch durchführen, kontrol-
unterlaufen. Anstatt umzusteuern wird sogar noch einer lieren und bewerten zu können. Deswegen sind Ihre An-
draufgesetzt, indem heutzutage darüber nachgedacht sätze völlig abstrus. Das, was Sie hier in die Öffentlich-
wird, wieder einen Bagger auf Kosten der Schifffahrts- keit hinein propagieren, ist völlig abstrus und absurd.
verwaltung einzusetzen, um angeblich einen Markt her-
zustellen, der so nicht vorhanden wäre. (Gustav Herzog [SPD]: Wir werden sehen!)

(Gustav Herzog [SPD]: Legen Sie doch einmal die Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich komme
Zahlen vor, dass die Vergabe günstiger ist!) zum Ende.

Wenn wir Märkte schaffen wollen, dann müssen wir (Florian Pronold [SPD]: Das ist gut! Die erste
den Anbietern am Markt die Möglichkeit geben, Geld zu positive Botschaft!)
verdienen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Gustav Herzog [SPD]: Darum geht es Ihnen!)
Schnell, bitte.
Das heißt, wir müssen die Ausschreibungszeiträume und
die Vergabezeiträume so gestalten, dass es auch Sinn Torsten Staffeldt (FDP):
macht. Die Verwaltung macht das Gegenteil.
Ja. – Wir haben Verantwortung für die Mitarbeiterin-
(Florian Pronold [SPD]: Es geht nicht darum, nen und Mitarbeiter der Schifffahrtsverwaltung über-
Geld zulasten der Steuerzahler zu verdienen! nommen. Vor allem haben wir aber auch eine Verant-
Eine Vergabe muss günstiger für den Steuer- wortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern
zahler sein! – Gegenruf von der FDP: Ist sie ja unseres Landes, den Steuerzahlerinnen und Steuerzah-
auch!) lern, dafür übernommen,
– Genau so ist es. Die Vergabe wird auch günstiger sein, (Florian Pronold [SPD]: Dann stimmen Sie
wenn man eine Vollkostenrechnung betrachtet, lieber unserem Antrag zu!)
Kollege.
sinnvoll und effektiv mit den Mitteln umzugehen, die
(Florian Pronold [SPD]: Traue keiner Statistik, uns zur Verfügung gestellt werden.
die die FDP nicht selber gefälscht hat!)
Ich danke Ihnen.
(B) Das Motto der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung (D)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
lautet nicht: „Wir machen Schifffahrt“, sondern das
Motto lautet: „Wir machen Schifffahrt möglich.“ – Wa-
rum also müssen Seezeichen, umgangssprachlich Bojen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
oder seemännisch auch Tonnen genannt, von einer Be- Das Wort hat nun Valerie Wilms für die Fraktion
hörde verlegt werden? Das muss keineswegs zwangsläu- Bündnis 90/Die Grünen.
fig so sein. Die Handelskammer Bremen beispielsweise
hat über Jahrhunderte die Tonnen gelegt, um Bremen für Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
die Schifffahrt erreichbar zu machen. Erst später wurden
diese Aufgaben vom Staat übernommen. Das Gleiche Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
gilt für die Schleusen, die nicht unbedingt staatlich be- Wir haben jetzt ja schon eine ganze Menge gehört. In die
trieben werden müssen, und auch für Schiffskonstruktio- Historie sind wir vom Kollegen Lietz eingeführt worden,
nen. Es wurden eierlegende Wollmilchsäue konzipiert und Kollege Claus hat es irgendwie geschafft, auch noch
und zu astronomischen Kosten gebaut, die hinterher aber die Agenda 2010 einfließen zu lassen. Es hat mich doch
trotzdem nicht nutzbar waren. ganz schön gewundert, dass das mit der Zukunftsfähig-
keit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung in Verbin-
Das alles sind Beispiele dafür, dass es zwingend not- dung zu bringen sein soll.
wendig ist, diese Behörde zu reformieren, zu erneuern
und für die Zukunft fit zu machen. Das ist unsere Auf- Ich möchte jetzt wieder auf das zurückkommen, was
gabe. auch Kollege Staffeldt angesprochen hat, nämlich auf
die Erfahrungen mit der Wasser- und Schifffahrtsverwal-
Die Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrts- tung, und das ansprechen, was hinter dieser Verwaltung
verwaltung liegt uns am Herzen. Die Schifffahrt auf See steckt.
und auf Binnenrevieren muss effektiv und möglich sein.
Wir werden daher den Umbau mit dem Ziel betreiben, Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben ein an-
die Effizienz zu steigern. Die Verwaltung wird langfris- strengendes Jahr hinter uns und freuen uns jetzt wirklich
tig und sozialverträglich zunehmend zum TÜV und we- endlich auf Weihnachten, auch wenn durch dieses Fest
niger zur Autowerkstatt für Wasserstraßen, um das bei manchem zwiespältige Gefühle ausgelöst werden.
Ganze einmal ein bisschen anschaulicher zu machen. Manche Weihnachtsgeschenke sind schön verpackt, aber
Enttäuschung macht sich breit, wenn man hineinschaut.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dieses Gefühl habe ich leider auch bei dem Antrag der
der CDU/CSU) SPD.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9049
Dr. Valerie Wilms
(A) Sie reden von der Zukunftsfähigkeit der Wasser- und deswasserstraßen. Wir müssen fragen: Wo findet der (C)
Schifffahrtsverwaltung. Ihre Hauptforderung besteht je- Verkehr statt? Welche Wasserstraßen müssen erweitert
doch darin, alles so zu lassen, wie es ist. und saniert werden? Wie können wir die natürlichen Be-
dingungen unserer Flusslandschaften erhalten? Erst
(Gustav Herzog [SPD]: Dann haben Sie nicht müssen wir darauf ehrliche Antworten finden, und dann
richtig gelesen!) können wir sagen, welche Verwaltung wir dafür an wel-
Für zukunftsfähige Lösungen ist es aber erforderlich, cher Stelle und mit welchen Kompetenzen brauchen.
erstens die Probleme zu erkennen, zweitens sie zu unter- Ich begrüße deswegen ausdrücklich die Signale aus
suchen und drittens wirkliche Verbesserungsvorschläge dem Verkehrsministerium, Herr Ferlemann:
zu machen.
(Gustav Herzog [SPD]: Das ist aber jetzt sehr
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN interessant! – Florian Pronold [SPD]: Ja-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und maika!)
der FDP)
Jetzt wird eine Überprüfung der Wasserstraßen für das
Sie tun aber nichts davon. Sie ignorieren, dass die Bedin- nächste Jahr angekündigt. Diese ist verdammt lange
gungen an den Wasserstraßen und in den Direktionen überfällig.
unterschiedlich sind.
Den Damen und Herren von der Koalition kann ich
Ich gebe Ihnen recht, dass wir zum Beispiel eine leis- hier nur eine im Auftrag meiner Fraktion erarbeitete Stu-
tungsfähige Struktur für den Seeverkehr brauchen. Herr die empfehlen. Wir sind eine konstruktive Opposition,
Staffeldt, Sie kennen das ja auch. Sie müssen aber bitte
auch eines zur Kenntnis nehmen: Trotz Investitionen in (Lachen des Parl. Staatssekretärs Hans-
Milliardenhöhe stagniert die Binnenschifffahrt seit Joachim Otto – Zuruf von der CDU/CSU: Sel-
20 Jahren. Sie scheren aber alles über einen Kamm. Da- ten so gelacht!)
mit werden Sie vor allem den Mitarbeiterinnen und Mit-
und wir haben gar nichts dagegen, wenn Sie, Herr
arbeitern nicht gerecht. Die Menschen verlangen Ehr-
Ferlemann, einmal bei uns abschreiben.
lichkeit. Das ist oft nicht populär. Es ist aber nun einmal
unsere Aufgabe, das Gemeinwohl und nicht die Interes- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sen einer Verwaltung im Blick zu haben.
Das Ministerium muss jetzt endlich sagen, wohin die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Reise gehen soll. Wir werden uns daran aktiv und kon-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und struktiv beteiligen.
(B) des Abg. Torsten Staffeldt [FDP] – Florian (D)
Pronold [SPD]: Hier spricht die grüne FDP!) An die Kollegen von der SPD appelliere ich: Lassen
Sie hier die Fundamentalopposition beiseite und beteili-
Wir müssen uns deswegen genau ansehen, was vor gen Sie sich konstruktiv.
Ort los ist. Ich habe mir im jetzt zu Ende gehenden Jahr
viel Zeit genommen und alle sieben Direktionen im Bun- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/
desgebiet und das BSH besucht und vor allem auch in- DIE GRÜNEN – Beifall bei der CDU/CSU
tensive Fachgespräche mit den Mitarbeitern über die und der FDP – Gustav Herzog [SPD]: Der Bei-
dort stattfindenden Arbeiten geführt. Ich habe dort viel fall kommt von der falschen Seite! Das sollte
Beeindruckendes gesehen. Vielfach habe ich gute An- Sie sehr nachdenklich machen!)
sätze dafür kennengelernt, wie man die Verwaltung effi- Wer eine Reform blockiert, schädigt nachhaltig die Zu-
zienter machen und auf neue Ziele ausrichten kann. kunft unserer Wasserstraßen.
Aber auch die Defizite sind sehr offensichtlich: Es Vielen Dank.
existieren zu viele Ideen, Strukturen und Vorschläge ne-
beneinander. Die linke Hand weiß einfach viel zu oft (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nicht, was die rechte macht. Trotz Gutachten, Arbeits- und bei der SPD)
gruppen und deutlicher Kritik vom Bundesrechnungshof
ist hier sowohl unter Unions- wie zum Schluss auch un- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ter SPD-Führung im Verkehrsministerium nichts, aber Das Wort hat nun Hans-Werner Kammer für die
auch gar nichts Substanzielles passiert. CDU/CSU-Fraktion.
Mit dieser permanenten Problemignoranz geschieht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
genau das, was die SPD mit ihrem Antrag eigentlich ver- ruf von der CDU/CSU: Das tut nach solchem
hindern will: Die Haushälter machen uns nämlich den Unsinn gut!)
Hahn dicht; sie sperren uns das Geld, weil nichts pas-
siert. Damit werden einfach nur Stellen abgebaut, aber
Hans-Werner Kammer (CDU/CSU):
die Struktur wird nicht verändert. Das Ergebnis wird
dann tatsächlich eine schlechtere Bewirtschaftung der Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Bundeswasserstraßen sein. Liebe Kollegen! Nach dem letzten Beitrag hätte ich
meine Rede fast umschreiben müssen, aber der Antrag,
Werte Kolleginnen und Kollegen, was wir jetzt wirk- über den wir heute sprechen, setzt sich mit der Wasser-
lich brauchen, ist eine fundierte Analyse unserer Bun- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes auseinander. Das
9050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Hans-Werner Kammer
(A) ist ein Thema, dessen Bedeutung in der Tat nicht unter- Das, was andere besser können, soll die Wasser- und (C)
schätzt werden darf. Schifffahrtsverwaltung an andere vergeben. Die Kern-
kompetenzen dieser Verwaltung werden wir nicht antas-
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) ten. Privatisierung darf nicht zu einem Kompetenzver-
Als ich den Titel des Antrags las, war ich überrascht: lust des Staates führen. Die Privatisierung staatlicher
„Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwal- Aufgaben findet ihre Grenze in der Verantwortung für
tung sichern“ – das ist ein Herzensanliegen der Union. das Gemeinwohl.
Sollten die Sozialdemokraten vernünftig geworden sein,
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
Herr Kollege Herzog?
Gustav Herzog [SPD]: Das müssen Sie aber in
(Gustav Herzog [SPD]: Wir sind immer ver- die Tat umsetzen!)
nünftig!)
Für uns bedeutet dies, dass hoheitliche und sicher-
Nein, das Undenkbare ist nicht geschehen. Die SPD tut heitsrelevante Aufgaben auch weiterhin von der Wasser-
das, was sie am besten kann: Sie geht auf Distanz zu sich und Schifffahrtsverwaltung erledigt werden müssen.
selbst, verleugnet die Reformen der Regierung Schröder,
ignoriert die Zukunft und lebt mit Begeisterung in der (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)
Vergangenheit. Wir wollen keinen trägen und verfetteten Staat. Wir wol-
(Florian Pronold [SPD]: Was denn jetzt? Vor- len einen starken und schlanken Staat, der entschieden
her haben wir nichts gemacht, jetzt haben wir durchgreift, wo es nötig ist, aber auch nur da. Dieser
zu viel gemacht! Können Sie sich mal einigen, Staat kann dann Aufgaben der Baudurchführung,
was der Vorwurf ist?) Schleusendecks- und Fährdienste, Fahrwasserausbagge-
rung und planbare Unterhaltungsmaßnahmen an Dritte
Im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages vergeben, wenn er die Fähigkeit behält, deren Leistung
haben fast alle hier vertretenen Parteien das Bundes- zu beurteilen und zu überwachen. Das ist der entschei-
ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf- dende Punkt.
gefordert, bis zum 26. Januar des nächsten Jahres einen
Bericht über den Umbau der Wasser- und Schifffahrts- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
verwaltung von einer Ausführungs- zu einer Gewährleis- Gustav Herzog [SPD]: Wir werden ein paar
tungsverwaltung vorzulegen. Grundlage dafür sollten Berichte anfordern! – Florian Pronold [SPD]:
die Ergebnisse einer Projektgruppe aus der Schröder- Wird es billiger oder teurer für den Steuerzah-
Zeit sein. Es ist klar, dass es die Sozialdemokraten wa- ler?)
(B) ren, die sich ihren eigenen Erkenntnissen verweigerten. Ich glaube nicht, dass wir durch diese moderaten (D)
Sie stimmten wieder gegen sich selbst. Maßnahmen Leistungs- und Sicherheitseinbußen hin-
(Gustav Herzog [SPD]: Nein, nein! Wir haben nehmen müssen. Im Gegenteil: Nach einer Entschla-
die Erkenntnisse genau geprüft und nur das ckung geht es im Normalfall immer wieder besser.
umgesetzt, was vernünftig ist!) Aber lassen Sie mich bitte noch auf diejenigen zu
Wir als Union wollen den Wandel, wir wollen die Zu- sprechen kommen, die am meisten von dem Wandel be-
kunft: troffen sind: die Menschen in der Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung. Neben dem Titel gibt es einen wahren
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Satz in Ihrem Antrag:
der FDP – Florian Pronold [SPD]: Da klatscht
aber nur die Hälfte bei Ihnen!) Die wichtigste Ressource der WSV ist ihr Personal.
Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung wird zusätzli- (Gustav Herzog [SPD]: Das legen Sie sich un-
che Aufgaben erhalten, ohne alte Kernkompetenzen zu ter das Kopfkissen!)
verlieren. Wir denken dabei an Natur- und Umwelt- Das kann ich nur unterschreiben. Die Mitarbeiter brau-
schutz, Wasserwirtschaft und Wassertourismus. Auch chen klare Ansagen und verlässliche Rahmenbedingun-
die Gewährleistung der ökologischen Durchgängigkeit gen.
an Stauanlagen soll in den Aufgabenkatalog der Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung aufgenommen werden. Meine Besuche vor allem im Wasser- und Schiff-
fahrtsamt in meiner Heimatstadt Wilhelmshaven haben
Die Welt dreht sich, die Welt bewegt sich und verän- mir gezeigt, dass hier hochmotivierte Menschen hart ar-
dert sich. Auch wir müssen uns verändern, um zu blei- beiten. Sie sind der Zukunft zugewandt und offen für
ben. Das gilt auch für Sie. Die Dinosaurier konnten sich
neue Aufgaben.
nicht schnell genug anpassen.
Wenn ich allerdings in der Zeitung lese – das kam auch
(Florian Pronold [SPD]: Mit solchen Sprüchen
in Ihrem Beitrag zur Sprache, Herr Kollege Herzog –,
kann man jeden Unsinn begründen!)
dass SPD-Politiker auch bei mir vor Ort das Amt heim-
Deren Schicksal wollen wir der Wasser- und Schiff- suchen, um dort Angst zu schüren, Panik zu verbreiten
fahrtsverwaltung ersparen. und den nahenden Weltuntergang in den grellsten Farben
schildern,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) (Torsten Staffeldt [FDP]: Brandstifter!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9051
Hans-Werner Kammer
(A) dann verstehe ich, dass die Motivation leidet. Dies verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (C)
würde auch mir aufs Gemüt schlagen. so beschlossen.
(Florian Pronold [SPD]: Das kann ich mir bei Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Ihrem Gemüt gar nicht vorstellen!)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Motivation statt Resignation und Aufbruch statt Läh- Brähmig, Stephan Mayer (Altötting), Wolfgang
mung: Das sind die Devisen der Union. Deshalb werden Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und
die neuen Aufgaben der Wasser- und Schifffahrtsverwal- der Fraktion der CDU/CSU
tung auch im Bereich des Personals Konsequenzen ha- sowie der Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäu-
ben: Im Bereich der hoheitlichen und sicherheitsrelevan- ser), Lars Lindemann, Reiner Deutschmann, wei-
ten Aufgaben wird es grundsätzlich keinen Stellenabbau terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
geben. Unser aller Sicherheit kann nur von Profis garan-
60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertrie-
tiert werden. Das wissen wir. Das schätzen wir. Das ga-
benen – Aussöhnung vollenden
rantieren wir.
– Drucksache 17/4193 –
(Gustav Herzog [SPD]: Die Häuptlinge blei-
ben, die Indianer werden in die Wüste ge- Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
schickt!) Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
– Wir schicken niemanden in die Wüste. Das können Sie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
vielleicht besser. Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Es gibt derzeit bedauerlicherweise eine betrübliche Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Entwicklung: Wir haben zurzeit ein Moratorium bei der Haushaltsausschuss
Wiederbesetzung vakanter Stellen in der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung. Wir haben einen Beförderungs- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
stopp beim gehobenen und höheren Dienst. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
(Gustav Herzog [SPD]: Das motiviert!)
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Leidtragende sind die engagierten Mitarbeiter des Was- Thomas Strobl für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
ser- und Schifffahrtsamtes in Wilhelmshaven und ihre
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
vielen Kollegen in der ganzen Bundesrepublik. Deshalb
der FDP)
hat der Haushaltsausschuss beschlossen, diese Maßnah-
(B) (D)
men aufzuheben, wenn das Bundesministerium für Ver-
kehr, Bau und Stadtentwicklung einen aussagefähigen Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU):
Bericht vorlegt. Nur eine Partei hat gegen die Aufhe- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
bung des Beförderungsstopps gestimmt: die SPD. ren! Am 5. August 1950 gaben sich in Stuttgart Vertreter
der Vertriebenen die Charta der deutschen Heimatvertrie-
(Zuruf von der CDU/CSU: Ach nee!) benen. Sie gilt seither als Grundgesetz der deutschen
Gleichzeitig will die SPD die WSV wie eine basisde- Heimatvertriebenen. Sie gehört zu den Gründungsdoku-
mokratische Kolchose im öffentlichen Dienst führen. menten unseres Landes, und sie ist untrennbar mit der Er-
Solche Experimente sind noch öfter gescheitert als so- folgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland verbun-
zialdemokratische Regierungen. den.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der FDP) Dieses Grundgesetz der Vertriebenen, liebe Kollegin-
Deshalb lehnen wir so rückwärtsgewandte Anträge nen und Kollegen, darf als schriftlicher Ausdruck der
ab. Für uns ist klar: Schifffahrt tut not. Machen wir sie Entschlossenheit der damaligen Heimatvertriebenen gel-
möglich. Eine starke maritime Wirtschaft braucht eine ten, ihren Beitrag zum Wiederaufbau in Deutschland und
starke Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Nehmen wir zum Frieden in Europa zu leisten. Dieser dann tatsäch-
Kurs auf die Zukunft. lich und in beispielhafter Weise geleistete Beitrag wurde
vom Deutschen Bundestag in einem Entschließungsan-
Herzlichen Dank. trag vor dem Hintergrund des 50. Jahrestages des Endes
des Zweiten Weltkriegs gewürdigt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Gustav Herzog [SPD]: Sie Ziel des nunmehr eingebrachten Antrags ist es, die
nehmen Kurs auf die Vergangenheit!) Leistung der Heimatvertriebenen erneut zu unterstrei-
chen und dafür Sorge zu tragen, dass der Heimatverlust
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: von 14 Millionen Deutschen zum Mahnmal für alle Ver-
Ich schließe die Aussprache. treibungen der Gegenwart gemacht wird. Revisionis-
musabsichten sind damit freilich ebenso wenig verbun-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf den wie Versuche, die Einzigartigkeit des Holocaust und
Drucksache 17/4030 an die in der Tagesordnung aufge- anderer Verbrechen rund um den Zweiten Weltkrieg zu
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- leugnen.
9052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Thomas Strobl (Heilbronn)


(A) Sieben Forderungen werden nun von uns erhoben, die ßel bezeugen, die sie tatsächlich ist, und damit einen (C)
allesamt dem Ziel der Vollendung der Versöhnung die- unschätzbaren Beitrag dazu leisten, dass Vertreibung ge-
nen. Einige Forderungen sind wissenschaftlicher Natur nerell geächtet wird.
wie die systematische Erfassung von Zeitzeugenberich-
ten oder die Nachwuchsförderung im akademischen Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
reich angesichts auslaufender Stiftungsprofessuren im Für diese Rolle, meine Damen und Herren, schulden wir
Bereich „Geschichte der Deutschen im östlichen Eu- den Vertriebenen nicht nur Anerkennung, sondern auch
ropa“. Andere unserer Vorschläge haben einen wertvol- unseren ausdrücklichen Dank, den ich in aller Form zum
len kollektivpädagogischen Charakter wie etwa der inte- Ausdruck bringe.
ressante Vorschlag der Deklarierung des 5. August zum
bundesweiten Gedenktag für die Opfer der Vertreibung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
oder der Appell zur Unterstützung der Arbeit der Stif- Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Seiner Heimat
tung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. beraubt zu sein, wie es 14 Millionen deutschen Lands-
Am Wichtigsten erscheint mir indes die ganz am An- leuten nach 1945 widerfuhr, und dennoch nicht auf Ra-
fang gestellte Forderung nach pragmatischer Zukunfts- che zu sinnen, sondern aus Überzeugung am friedlichen
orientierung und nationaler Selbstversöhnung. Tatsäch- Bau des gemeinsamen Hauses Europa mitzuwirken,
lich sind es ja weniger die Vertreiber von damals, die
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
einer Aussöhnung im Wege stehen; teilweise sind wir es
Große Leistung!)
eher selbst. Ich denke hierbei beispielsweise an die Kol-
leginnen und Kollegen, die ganz links in diesem Hohen ist ein Akt christlicher Demut und staatsbürgerlicher
Hause sitzen und aus ideologischen Gründen den deut- Verantwortung, der aller Ehren wert ist.
schen Vertriebenen die berechtigte Aufmerksamkeit bis
heute vorenthalten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dass die Vertriebenen sich 1950 bereits eine Charta
mit europäischer Dimension gaben, zeugt von ihrem
Sie setzen damit das böse Werk der DDR fort, die Weitblick. Diesen Akt sollten wir Nichtvertriebenen nach
Gleiches tat. In Zeiten der deutschen Teilung galten die Kräften unterstützen und jene Solidarität mit ihnen be-
Vertriebenen im Osten als unliebsam. Ihr Schicksal weisen, die ein Werk der Versöhnung verdient hat. In die-
wurde vom SED-Staat verharmlost und ihrem Schmerz sem Sinne kann die Antwort des Hauses nur eine klare
des Heimatverlustes noch die Demütigung des Leid Ig- und deutliche Mehrheit für den vorgelegten Antrag sein.
norierens hinzugefügt.
(B) Danke fürs Zuhören. (D)
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Unglaublich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Diese beschämende Vernachlässigung hat zwar 1990 mit
dem Ende der DDR-Diktatur nachgelassen. Was aber Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
immer noch fehlt, ist die endgültige Aussöhnung der Leider kann ich dem nächsten Redner nicht das Wort
Deutschen mit sich selbst. Diese wollen wir mit dem erteilen, da ich noch immer nicht in der Lage bin, so-
vorliegenden Antrag voranbringen. wohl hier oben zu sitzen als auch unten zu reden. Ich
gebe also meine Rede zu Protokoll1). Sie müssen darauf
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verzichten, meine wohl abgewogenen Worte zu hören.
Wie schon Abraham Lincoln unter Berufung auf ein Ich erteile das Wort dem Kollegen Patrick Kurth für
Jesus-Wort sagte: die FDP-Fraktion.
Ein Haus, das mit sich selbst uneins ist, mag nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
bestehen.
Wir wollen die Vertriebenen in ihrem Bemühen unter- Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP):
stützen, unser Volk durch Erinnerung zu dieser Selbst- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
versöhnung zu führen und damit jene Einigkeit in dem ren! Wir reden heute erneut über ein Thema, das mehr ist
von Lincoln beschworenen Haus der Nation herzustel- als eine Geschichtsstunde, ein Erinnerungsfestakt oder
len, die zu dessen dauerhafter Stabilität notwendig ist. ein Folkloreseminar, obwohl das manche gerne so sehen
Wir wollen die Vertriebenen aber auch als wertvolle möchten. Wir reden mehr als über den Austausch von
Mittler und Brückenbauer zwischen den Völkern aner- gleichen oder unterschiedlichen Anschauungen. Nein,
kennen, als welche sie schon der frühere Bundesinnen- wir reden heute über Vertreibung und ihre Ausmaße bis
minister Otto Schily zu Recht betrachtet hat. Tatsächlich heute und in Zukunft. Das ist ein sehr komplexes Thema,
prädestiniert die Vertriebenen ihr Schicksal des Heimat- zu dem jede Partei und jede Generation den eigenen
verlustes mehr als andere Gruppen zur grenzübergreifen- Standpunkt beständig überprüfen muss. Bis heute, bis in
den humanitären Mahnung und Warnung vor künftigen die Gegenwart ist dieses traurige Thema aktuell. Auch in
Vertreibungen. Die deutschen Heimatvertriebenen kön- der Gegenwart gibt es in der Welt Vertreibung und Ent-
nen aufgrund ihrer leidvollen eigenen Erfahrungen glaub-
würdiger als andere Vertreibung als jene Menschheitsgei- 1) Anlage 2
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9053
Patrick Kurth (Kyffhäuser)
(A) rechtung. Für die Zukunft ist das Gleiche zu erwarten. – gerade wenn wir an Jugoslawien denken – ein ganz (C)
Das ist traurige Realität. starkes Element.
Vertreibung ist durch internationales Recht geächtet. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Sie findet dennoch selbst in jüngster Zeit statt. Die Bei- Sie hat eine große Bedeutung, weil sie wirtschafts- und
spiele in Ruanda, Jugoslawien oder Darfur kennen Sie. gesellschaftspolitisch die Integration von Millionen von
Schätzungsweise 70 Millionen Menschen wurden in den Flüchtlingen und Vertriebenen ermöglichte. Denken Sie
letzten 100 Jahren im Sinne der Vertreibung, über die nur an das Wirtschaftswunder. Gerade die gesellschaftli-
wir heute sprechen, vertrieben. Die bis heute aktuellen che und wirtschaftspolitische Integration von Vertriebe-
Vertreibungen betrachten wir Deutsche mit ganz beson- nen in ihren jeweiligen neuen Ländern fehlt aber bis
derer Sensibilität, nicht nur weil wir eine große Verant- heute an vielen Stellen.
wortung haben, sondern auch weil wir selbst als Deut-
sche betroffen sind. In diesem Zusammenhang sind der Übrigens ist die Vertriebenenfrage bis in die Gegen-
Antrag und die BdV-Charta zu sehen. Nach dem von wart auch bei einer ganz anderen Diskussion von Bedeu-
Deutschland ausgehenden Krieg entstand im Nachgang tung, nämlich bei der deutschen Integrationsdebatte.
der zweifelsohne größten Vertreibung diese Charta. Sie Viele Deutsche haben Zuwanderungs- und Integrations-
entstand von und durch die Betroffenen, und sie entstand erfahrungen, und zwar im eigenen Land. Erinnern Sie
auch mit Blick auf die künftige Zeit. sich, wie Deutsche ihre eigenen Landsleute nach dem
Krieg aufgenommen haben? Oftmals alles andere als
Versuchen Sie sich nur einen Moment in die Nach- herzlich. Auch diesbezüglich mussten viele dazulernen.
kriegszeit und die Menschen hineinzuversetzen, die den Viele von denen, die heute über Integration reden, haben
von Deutschland verursachten Krieg überlebt haben und in ihrer eigenen Familie Integration erlebt.
ihre Heimat verlassen mussten. Sie mussten Strapazen
der Flucht, die Trauer um den Verlust von Verwandten, (Beifall bei der FDP)
Nachbarn und Eigentum sowie die Schwierigkeit der In- Am Ende aber gilt: Wir wissen um die deutsche
tegration in die neuen Gebiete auf sich nehmen. Vor kur- Schuld. Wir wissen, dass das deutsche Reich einen
zem hat eine Tageszeitung kommentiert: fürchterlichen Krieg begonnen hat, dass Verbrechen in
bis dahin unbekanntem Ausmaß stattfanden und furcht-
Man stelle sich die Menschen vor, die quasi noch bares Leid über Europa gebracht wurde. Wir wissen aber
mit der Kleidung, die sie auf der Flucht trugen, ei- auch von den schrecklichen Folgen, die eine Flucht mit
nen Beschluss fassten und auf ihre Heimat verzich- sich bringt.
teten.
Das ist vielleicht eines der stärksten Leitbilder im in-
(B) Wenn Sie an diese Umstände, an die Verhältnisse der (D)
ternationalen Vergleich: Verbrechen dürfen nicht gegen-
Zeit, die Ungewissheit der Zukunft, den aufziehenden einander aufgewogen werden. Sonst legitimieren sie ein
Kalten Krieg denken, dann stellen Sie fest, dass diese Stück weit zahlreiche weitere Vertreibungen, in diesem
Charta wirklich erstaunlich und zukunftsweisend ist. Fall diejenigen seit 1945. Schuld und Leid sind immer
individuell, wobei der Holocaust und die Taten der Nazi-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
herrschaft einen herausragenden Stellenwert besitzen.
Dazu gehören mehrere Punkte, zum Beispiel der Im- Es ist gut, dass die Koalition noch einmal klarstellt,
puls der Aussöhnung. Das 20. Jahrhundert war bestimmt wie sie zu Flucht und Vertreibung steht. Ich möchte mich
durch Krieg, Gewaltherrschaft, Flucht und Vertreibung, ganz herzlich bei Klaus Brähmig und bei der Koalition
aber auch durch den Willen, sich auszusöhnen. Die für die gute Zusammenarbeit bedanken. Es war ein har-
Charta der Heimatvertriebenen zeigte dies schon kurz tes Ringen, zum Teil um jedes einzelne Wort. Am Ende
nach dem Krieg. Leider fehlt gerade das Element der ist ein sehr guter Antrag herausgekommen, der nicht nur
Aussöhnung bei so vielen Vertreibungen bis in die an die Vorgänge erinnern soll, die geschehen sind, son-
jüngste Zeit. Dazu gehört auch: Die Worte „Rache“ und dern der auch in die Zukunft weist, damit wir in Sachen
„Vergeltung“ spielten damals eine große Rolle. Sie spie- Vertreibung und Unrecht urteilsfähig bleiben.
len auch in der Gegenwart oft eine große Rolle. In der
Charta werden sie explizit nicht erwähnt. Natürlich kann Herzlichen Dank.
man nicht auf etwas verzichten, das einem ohnehin nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
zusteht. Aber das Vermächtnis bleibt deswegen stark,
weil gerade Rache und Vergeltung bis in die heutige Zeit
eine große Rolle spielen. Mehr noch: Die Vertriebenen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
verpflichteten sich schon damals vor allen Parteien zur Das Wort hat nun Lukrezia Jochimsen für die Frak-
Schaffung eines geeinten Europas. Die Heimatvertriebe- tion Die Linke.
nen wussten, dass nur ein versöhntes und geeintes Eu- (Beifall bei der LINKEN)
ropa dauerhaft den Frieden sichern kann.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Die Charta ist aber auch deshalb bis in die heutige Eins vorweg: Ich spreche heute hier als Kriegskind. In
Zeit von großer Bedeutung, weil sie innenpolitisch radi- Ihrem Antrag wird die Generation der Kriegskinder be-
kalen Versuchungen den Boden entzog. Auch das ist sonders erwähnt als eine Bevölkerungsgruppe, der man
9054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Lukrezia Jochimsen


(A) bisher zu wenig Zuwendung und wissenschaftliche Auf- was Sie hier machen! Das ist doch völlig am (C)
merksamkeit gewidmet hat. Außerdem spreche ich hier Thema vorbei!)
als jemand, der zu keiner Zeit in der DDR ideologisiert
worden ist. Und rächen? An wem sollten sich Heimatvertriebene
1950 eigentlich rächen können? An den Alliierten viel-
Es ist schon sonderbar, welch unterschiedliche Auf- leicht? Was hier zum Ausdruck kommt und laut Antrag
fassung von Geschichte man als Zeitzeuge haben kann. 65 Jahre später immer noch Gültigkeit haben soll, ist aus
Denn so viel Geschichtsklitterung, so viel Ausblendung meiner Sicht moralische Hybris.
von historischen Tatsachen und so viel Verdrehung wie
in diesem Antrag zur Charta der Heimatvertriebenen (Beifall bei der LINKEN – Klaus Brähmig
kommt aus meiner Sicht selten zusammen. [CDU/CSU]: Das ist nicht Ihr Ernst! – Patrick
Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Irgendwo müssen
(Beifall bei der LINKEN – Klaus Brähmig Sie aber Ihre ideologische Verbohrtheit herha-
[CDU/CSU]: Das ist doch nicht Ihr Ernst! Das ben!)
kann doch niemals Ihr Ernst sein! Dann müs-
sen Sie den Antrag einmal lesen! – Weiterer Ralph Giordano hat vor einem Jahr geschrieben:
Zuruf von der CDU/CSU: Die ist doch unver- Mit dem stets im Brustton großmütigen Verzeihens
besserlich!) vorgetragenen Kernsatz macht die „Charta“
Jetzt gehen wir das einmal Schritt für Schritt durch. In Deutschland zum Gläubiger der Geschichte, die
dem Antrag heißt es: einst okkupierten Länder Mittel- und Osteuropas
aber zu deren Schuldnern. Darin liegt der eigentli-
Die Deutschen nehmen Vertreibungen auch deshalb che Skandal der „Charta“.
mit besonderer Sensibilität wahr, weil sie selbst in
ihrer jüngeren Geschichte massiv davon betroffen Skandal!
waren. Nein, diese Charta ist kein Meilenstein zu Integration
Es findet sich kein Wort darüber, dass die Deutschen die und Aussöhnung, wie es im Antrag heißt. Im Gegenteil:
brutalsten Vertreiber waren, und zwar lange bevor sie Sie verkehrt die Dimensionen von Opfererfahrungen in
von Vertreibungen betroffen waren. der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf nicht hin-
nehmbare Weise.
(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth [Kyff-
häuser] [FDP]: Das steht alles drin!) (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das sagen
Sie?)
Ausgeblendet werden die Massenvertreibungen ganzer
(B) Völkerschaften unter deutscher Herrschaft. – Jawohl, das sage ich. (D)
(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist nicht Ihr (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ist ja
Ernst!) interessant! Das gibt es doch überhaupt nicht!
Seit 1990 redet Ihre Partei Unglaubliches! –
Verschwiegen wird die Vertreibung und Ermordung der
Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dann müssen
Juden, Roma und Sinti.
Sie die SED auch noch aufführen! Dann wäre
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Was reden es richtig!)
Sie denn da? – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]:
Auf nicht hinnehmbare Weise wird in dem Antrag
Sie reden von einem anderen Thema!)
verschwiegen, wer eigentlich diese Charta geschrieben
Es wird die Charta von 1950 gefeiert, die, genau wie und unterschrieben hat, zum Beispiel, dass zahlreiche
der Antrag von 2010, die Vorgeschichte der Vertreibung Unterzeichner Funktionsträger des NS-Regimes waren,
vollständig ausklammert. Da wird folgender Satz dieser zum Beispiel, dass die frühe Verbandsgeschichte des
Charta gefeiert: „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Bundes der Vertriebenen eng mit den Nazis verbunden
Rache und Vergeltung.“ war, und zum Beispiel, dass der Bund der Vertriebenen
diese Geschichte bis heute nicht aufgearbeitet hat.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
Verzichten? Verzichten kann man doch nur auf etwas,
NIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der LIN-
von dem man glaubt, dass es einem zusteht.
KEN: Das ist ein Skandal! – Gegenruf des
(Beifall bei der LINKEN) Abg. Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]:
Unerhört!)
Der Satz war 1950 ein Unding.
Pure Geschichtsverfälschung betreiben die Autoren
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ich habe
des Antrags auch damit, dass sie behaupten, die Vertrie-
doch gerade etwas dazu gesagt!)
benen und ihre Verbände hätten eine positive Funktion
Ihn 2010 zu feiern, ist eine politische Zumutung. bei der Normalisierung des Verhältnisses zu den östli-
chen Nachbarländern gehabt.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ (Michael Link [Heilbronn] [FDP]: Eben! Ganz
CSU]: Sie sind eine Zumutung! – Klaus genau! – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Was
Brähmig [CDU/CSU]: Das geht doch nicht, denn sonst?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9055
Dr. Lukrezia Jochimsen
(A) Auch da ist das Gegenteil der Fall. Die Nichtanerken- sind, dann müssen Sie beim Thema „Roma aus dem Ko- (C)
nung der Oder-Neiße-Grenze war ihr Dogma, und die sovo“ flüchtlingspolitisch tatsächlich die Konsequenzen
Entspannungspolitik gegenüber dem Osten konnte nur ziehen; ansonsten ist das alles weiße Salbe und besten-
gegen sie durchgesetzt werden. falls Heuchelei.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Ausgesprochen gefühllose Rede!) bei der SPD und der LINKEN)
Sie nannten das „Verrat“, und Willy Brandt nannten sie Dass die Charta der Heimatvertriebenen 60 Jahre alt
„Verräter“. wird, ist für mich als Kind von Vertriebenen kein Grund
zum Feiern. Der 5. August 1950 ist gewiss kein geeigne-
Vertreibungen in der Gegenwart, ja, das ist ein ter Gedenktag, um an das Vertreibungsschicksal zu erin-
Thema, in der Tat. nern.
(Zuruf von der FDP: Sie diffamieren die Opfer (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Was denn sonst,
der Vertreibung!) Herr Beck!)
Aber kein Satz zur Lage der Roma und Sinti in Europa! – Lassen Sie mich ausreden, dann erzähle ich es Ihnen.
Hat man irgendwann vom Bund der Vertriebenen etwas Oder stellen Sie eine Zwischenfrage.
zu den Abschiebungen der Roma in den Kosovo gehört?
Die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, ein Ich möchte keinen Zweifel aufkommen lassen: Mein
angesehenes CDU-Mitglied, hat diese Abschiebungen Vater ist selbst vertriebener Sudetendeutscher. Meine
heute in Berlin angeprangert. Gerade an diesem Beispiel Großeltern wurden in beiden Weltkriegen vertrieben.
könnten Sie deutlich machen, wie wichtig Ihnen die Mit den Vertreibungen aus den Ostgebieten und aus
Lehren aus der Geschichte wirklich sind. Tschechien in den letzten Wochen und Monaten des
Zweiten Weltkrieges – mit schweigendem Einverständ-
Stattdessen wollen Sie eine Gedenkmöglichkeit bei nis der westlichen Alliierten; das gehört auch zur Wahr-
der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ einrich- heit –, ist den Vertriebenen großes Unrecht widerfahren.
ten, wahrscheinlich ein Denkmal. Trotz alledem: Weder diese Charta noch die dahinterste-
(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Gott sei Dank! henden Organisationen tragen zur Versöhnung mit unse-
Das wird höchste Zeit!) ren osteuropäischen Nachbarn bei.
Zu allem Überfluss wollen Sie einen nationalen Gedenk- Sie schreiben in dem vorliegenden Antrag zwar von
tag für die Opfer von Vertreibungen. einem Geist der Charta für ein geeintes Europa, doch
auch nach mehrfacher Lektüre dieser Charta habe ich
(B) (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: diesen Geist nicht finden können; ganz im Gegenteil.
Der von uns allen hier geschätzte Professor Micha
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Brumlik
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie ist schon
(Erika Steinbach [CDU/CSU]: Es stimmt
die ganze Zeit am Ende!)
nicht, dass der überall geschätzt ist!)
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): schrieb dazu im August in der taz treffend:
Das ist alles falsches, die Geschichte verdrehendes Sogar wenn man von der völkischen Schöpfungs-
Pathos. Wir sagen dazu Nein. theologie absieht, die den Text durchweht, und den
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das hätte mich Umstand übergeht, dass viele der Erstunterzeichner
auch gewundert, bei der Rede!) in der NSDAP oder der SS waren

Ich meine, die Antragsteller spielen ein gefährliches (Erika Steinbach [CDU/CSU]: Wie beim
Spiel mit der Geschichte. Spiegel und beim Stern auch!)

(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Ihre Rede ist ein bzw. Männer, die sich lange vor 1933 in Ostmittel-
Schlag ins Gesicht der Heimatvertriebenen!) europa als Volkstumskämpfer betätigten, zeigt sich
in der Sache, wie falsch die Grundaussage der
Ich kann nur hoffen, dass die Mehrheit dieses Hohen Charta ist:
Hauses das erkennt und dabei nicht mitmacht.
Weder entspricht es der historischen Wahrheit, dass
(Beifall bei der LINKEN) das Schicksal der Vertriebenen an Leid vom
Schicksal keiner anderen Gruppe in den Jahren
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 1939 bis 1945 übertroffen wurde,
Das Wort erteile ich nun Kollegen Volker Beck für die (Erika Steinbach [CDU/CSU]: 1950!)
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
– wie es in der Charta heißt –
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): noch ist einsichtig, wie man auf Rache und Vergel-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn all tung verzichten kann. … Verzichten – feierlich
die salbungsvollen Worte, die zum Thema „Vertreibung dazu – kann man nämlich nur auf etwas, was einem
und Flucht“ von der Koalition kamen, ernst gemeint legitimerweise zusteht …
9056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Volker Beck (Köln)


(A) Das hat die Kollegin richtigerweise ausgeführt. gie nicht gemein machen wollte. Das war für mich per- (C)
sönlich vielleicht ein Fehler, aber das zeigt, wie schwie-
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wie ich rig es ist, zu einer Heimat ein Verhältnis zu finden, wenn
bereits ausgeführt habe!) das Heimatgefühl und Rückbesinnungsgefühl mit dieser
Meine Damen und Herren, die Charta ist ein einseiti- Art von revanchistischer Ideologie und der Politik Ihres
ges Dokument. Sie klammert die historische Kriegs- Verbandes konnotiert ist.
schuld Nazideutschlands aus,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei der LINKEN) und bei der LINKEN – Erika Steinbach [CDU/
CSU]: Das ist ja unglaublich!)
und sie erwähnt mit keinem Wort die Verbrechen der
Deutschen, die im Holocaust und in der Ermordung von – Wenn Sie das unglaublich finden, dann nenne ich Ih-
6 Millionen Jüdinnen und Juden gipfelten. nen gerne einige Erstunterzeichner der Erklärung von
Stuttgart 1950:
(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Dann müssen
Sie die Charta mal lesen, Herr Beck!) (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ein Schau-
spieler sind Sie! Sie führen eine Komödie auf!
Diese Verbrechen gingen der Vertreibung voraus. Sie
Und das bei einem solchen Thema! – Klaus
rechtfertigen sie nicht, aber sie stehen im Kontext mitei-
Brähmig [CDU/CSU]: Unfassbar, was Sie hier
nander.
erzählen! Sie wissen überhaupt nicht, was los
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und
sowie bei Abgeordneten der SPD) der FDP)
Meine Damen und Herren, eine angemessene Erinne- – Lassen Sie mich noch drei Sätze sagen. – Rudolf
rungskultur im Land der Täterinnen und Täter muss an- Wagner, Sprecher der Landsmannschaft der Deutschen
ders aussehen. Ihr Antrag stellt an einem Punkt etwas zu Umsiedler aus der Bukowina – SS-Obersturmbandführer –,
Recht fest. Da heißt es: Erik von Witzleben, Sprecher der Landsmannschaft
Westpreußen – SS-Offizier –, Walter von Keudell, Spre-
So gilt es ebenfalls, an die Vertreibung von über ei-
cher der Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg –
ner Million Polen aus den damaligen polnischen
Ostgebieten und hunderttausender Ukrainer im (Zuruf von der CDU/CSU: Herr Beck, Sie ha-
Zuge der von der Sowjetunion erzwungenen „West- ben doch keine Ahnung!)
verschiebung“ Polens zu erinnern.
(B) erst in der DNVP, dann in der NSDAP –, Josef Walter, (D)
Richtig, aber auch dazu findet sich in der Charta der Vorsitzender des Landesverbands der Heimatvertriebe-
Vertriebenen kein Sterbenswörtchen. Der Deutsche Bun- nen in Hessen – –
destag kann sich doch nicht positiv auf ein Dokument
beziehen, in dem behauptet wird, dass das Schicksal der (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das bringt doch
Vertriebenen an Leid in dieser Zeit dem Schicksal keiner nichts! Keine neuen Erkenntnisse! – Patrick
anderen Gruppe vergleichbar ist, sondern das Vertrei- Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Unwürdig!)
bungsschicksal diese übertroffen hat.
Meine Damen und Herren von der Union und von der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
FDP, Sie alle waren doch schon einmal in einem Kon- Herr Kollege, Sie müssen trotzdem zum Ende kom-
zentrationslager. Sie alle haben sich in Ihrer Heimatstadt men.
doch schon einmal gefragt: Wo sind eigentlich die Jüdin-
nen und Juden hin, die früher in unserer Stadt gelebt ha-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ben? – Die gibt es nicht mehr; die Familien sind nicht
mehr da, die Straßenzüge sind nicht mehr da. Die Syna- Er war stellvertretender Hauptgeschäftsführer der su-
gogen sind weg. Sie können doch nicht so tun, als ob das detendeutschen Wirtschaftskammer und zuständig für
Vertreibungsschicksal in dieser Art und Weise singulär die Verteilung des jüdischen Vermögens im Reichspro-
war. tektorat Böhmen/Mähren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Meine Damen und Herren, das ist nur ein Auszug aus
Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Was Sie der langen Liste von Komplizen und Tätern des NS-Re-
hier unterstellen! Was Sie für einen Kontext gimes, die diese Charta unterzeichnet haben. Im Geiste
herstellen!) Europas brauchen wir eine andere Grundlage für die
Versöhnung. Nur dann werden wir einig sein, Herr
Meine Damen und Herren, die Rache- und Verzichts- Strobl, in diesem Haus Deutschland.
haltung des Vertriebenenverbandes, die Haltung von
Frau Steinbach zur Oder-Neiße-Grenze, diese Art von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Politik hat mir als Enkel und Kind von Vertriebenen zum bei der SPD und der LINKEN – Klaus
zweiten Mal die Heimat genommen. Ich war in Tsche- Brähmig [CDU/CSU]: Unverschämtheit von
chien, ich war in der Slowakei, aber als Kind von Sude- Herrn Beck! So kann man das nicht machen! –
tendeutschen war ich niemals im Sudetenland, weil ich Gegenruf von der LINKEN: Das ist eine Tat-
mich mit Ihren Verbandsfunktionären und Ihrer Ideolo- sache!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9057

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Jun- (C)
Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSU- ger Mann, das kann ich ganz gut!)
Fraktion. Es ist leicht, jetzt, 60 Jahre später, über ein Dokument zu
urteilen und zu sagen: Da hätte noch der eine Satz hi-
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): neingehört, und der andere Satz hätte noch etwas aus-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin- führlicher dargelegt werden müssen. Sie müssen sich der
nen! Sehr geehrte Kollegen! Frau Kollegin Jochimsen, Ehrlichkeit halber einmal in die Zeit um 1950 zurückver-
Herr Kollege Beck, ich halte es für unwürdig und be- setzen: 15 Millionen Deutsche sind am Ende und nach
schämend, dem Zweiten Weltkrieg vertrieben worden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- (Zurufe von der LINKEN)
ruf von der CDU/CSU: So ist es! Jawohl!)
3 Millionen davon kamen auf schreckliche und barbari-
wie Sie mit Ihren Reden auf dem Schicksal von sche Art und Weise ums Leben. Viele sind gedemütigt
15 Millionen Vertriebenen und deren Nachkommen he- und vergewaltigt worden.
rumtrampeln und einen Gründungsakt der Bundesrepu-
(Zurufe von der LINKEN)
blik Deutschlands diskreditieren,
Fast alle waren traumatisiert. Man hat im Jahr 1950
(Widerspruch bei der LINKEN – Volker Beck
durchaus andere Dinge angesichts von 8 Millionen Hei-
[Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich
matvertriebenen in Westdeutschland erwartet. Die 4 Mil-
trample auf niemandem herum! – Zuruf von
lionen Heimatvertriebenen in Ostdeutschland durften
der CDU/CSU: Unwürdig!)
sich ja gar nicht äußern. Deren Schicksal ist in jeglicher
der an Größe aus meiner Sicht kaum zu übertreffen ist. Weise verniedlicht und in keiner Weise gewürdigt wor-
Davor sollte man Respekt haben. den.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
derspruch bei der LINKEN – Klaus Brähmig
Um mit den Worten unseres Bundestagspräsidenten, [CDU/CSU]: Durch die Kommunisten!)
Professor Lammert, zu sprechen: Es handelt sich bei der
Charta der Heimatvertriebenen um das Gründungsdoku- Man hatte durchaus befürchtet, dass sich diese 8 Millio-
ment der Bundesrepublik Deutschland und nen Deutsche radikalisieren würden. Aber das ist nicht
eingetreten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
(B) derspruch bei der SPD und der LINKEN – (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Die ha- (D)
Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Ihr habt doch ben über die Bodenreform Land bekommen! –
überhaupt nichts begriffen!) Gegenruf des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser]
[FDP]: Raub und Totschlag war das!)
– um ihn weiter zu zitieren – um ein bleibendes Ver-
mächtnis für die Zukunft des wiedervereinigten Sie haben auf jegliche Rache, auf jeglichen Revanchis-
Deutschlands. Ich möchte hinzufügen: auf das wir Deut- mus, auf jeglichen Hass verzichtet.
sche alle stolz sein können, egal, ob wir einen Vertriebe- (Zurufe von der LINKEN)
nenhintergrund haben oder nicht.
Ich halte das im Nachhinein für höchst bemerkenswert.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Alle Deutsche können auf diese heroische Leistung stolz
der FDP – Widerspruch bei der SPD und der sein.
LINKEN – Gegenruf des Abg. Klaus Brähmig
[CDU/CSU]: Die haben nichts begriffen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Zurufe von der LINKEN – Hilde Mattheis
Meine sehr verehrten Kollegen Jochimsen und Beck, [SPD]: „Heroische Leistung“?)
ich wundere mich schon, mit welchem Hochmut, mit
welcher Arroganz
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Arroganz! Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Überheblichkeit!) Kollegin Jochimsen?
Sie hier ein Dokument diffamieren, das vor 60 Jahren
proklamiert wurde. Das halte ich für abscheulich und für Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
in jeder Hinsicht traurig und beschämend. Sehr gerne.
(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Für unwürdig! –
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE):
Zuruf von der LINKEN: Ihre Rede ist traurig
und beschämend! – Volker Beck [Köln] Herr Kollege, ich kann mich sehr gut in die Jahre
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen 1950 und folgende versetzen. Ich war damals ein junges
das zur Grundlage Europas machen?) Mädchen und nachher eine junge Frau. Ich frage Sie: Ist
Ihnen eigentlich bekannt, wie viele Millionen Ausge-
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, man bombte, wie viele Menschen, die alles Hab und Gut ver-
muss sich wirklich in die Zeit zurückversetzen. loren haben, wie viele Schwerverletzte 1950 in Deutsch-
9058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Lukrezia Jochimsen


(A) land gelebt haben und dass nicht nur die Vertriebenen ler begehen, Unrecht gegen Unrecht aufzuwiegen. Un- (C)
das Schuldschicksal dieses schrecklichen Krieges zu tra- recht ist etwas Singuläres.
gen hatten, sondern auch Millionen von Menschen im
Lande selbst? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
derspruch bei der LINKEN)
Es ging mir persönlich nie um eine Aufrechnung.
Aber ich verwahre mich dagegen, dass man sagt, Es bestreitet doch keiner, dass von deutscher Hand kata-
strophales Unrecht über den ganzen Globus verbreitet
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Frage!) worden ist. Aber das rechtfertigt in keiner Weise das Un-
eine Gruppe sei die vom Schicksal am schlimmsten be- recht, das 12 Millionen Deutschen am Ende des Zweiten
troffene gewesen, und so tut, als hätte es 1950 eine Nor- Weltkriegs und danach zuteilwurde.
malgesellschaft von solchen gegeben, die im Gegensatz (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Lukrezia
zu den Heimatvertriebenen kein Leid erfahren hätten. Jochimsen [DIE LINKE]: Es geht um keine
Ich kann Ihnen sagen: Ich kann mich sehr gut in die Rechtfertigung!)
Zeit von 1950 versetzen. Ich möchte einmal wissen, ob Das ist der historische Fehler, den Sie begehen: Sie wie-
Sie eine Vorstellung davon haben, wie viele Millionen gen das eine gegen das andere auf. Diesen Fehler ma-
Erwachsene und Kinder in beiden Teilen Deutschlands chen wir nicht, und diesen Fehler dürfen wir nicht ma-
1950 unter diesem Kriegsleid gelitten haben. chen.

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Eine
Frau Kollegin Jochimsen, mir ist nicht nur bekannt, Frage zum Schluss: Wenn es den Krieg nicht
welch großes Unheil der Zweite Weltkrieg über gegeben hätte, hätte es dann Vertreibungen ge-
Deutschland gebracht hat, geben? Was ist der Kontext? Was war zuerst:
der Krieg oder die Vertreibungen?)
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]:
Deutschland über die Welt!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
sondern auch – dies möchte ich ganz deutlich betonen –, Frau Kollegin, Sie haben jetzt nicht das Wort, sondern
welch schreckliches Unheil der Zweite Weltkrieg, der Herr Mayer hat das Wort.
unbestreitbar von deutscher Hand ausgegangen ist, über
die gesamte Welt gebracht hat. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: So ist das! – Frau Kollegin Jochimsen, es war ein herausragender
(B) Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Genau!) (D)
Akt der Versöhnung und Verständigung, dass die Hei-
matvertriebenen am 5. August in Stuttgart-Bad Cannstatt
Das wird von niemandem, insbesondere auch nicht vom
diese Erklärung proklamiert haben.
Bund der Vertriebenen bestritten, ganz im Gegenteil.
Sie werden doch nicht negieren können, dass am (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ende des Zweiten Weltkriegs Menschen nur aufgrund Diese Erklärung sollte heute nicht nur der Erinnerung
der Tatsache, dass sie an einem bestimmten Ort wohn- dienen, sondern sie sollte in progressiver Hinsicht auch
ten, vertrieben wurden, unabhängig davon, ob ihnen per- dafür dienen, dass sich das Leid, das 15 Millionen Deut-
sönliche Schuld zuteilwurde oder nicht. schen nach dem Zweiten Weltkrieg wiederfahren ist, nie
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE mehr wiederholt. Deswegen ist es umso wichtiger, dass
GRÜNEN]: Das wird doch nicht bestritten! – der 5. August den Status eines nationalen Gedenktags
Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Es sind bekommt.
Menschen ausgebombt worden! Was ist mit Ich sage ganz offen: Wir werden hier leisten müssen,
den Ermordeten?) was der Bundesrat im Jahr 2003 beschlossen hat, näm-
Ich möchte schon betonen: Das Schlimmste und, wie lich dass der 5. August nationaler Gedenktag wird. Hier
ich glaube, auch das Schwerwiegendste, was man einem sind wir – auch das sage ich ganz offen – als gesamter
Menschen antun kann, ist, dass man ihm seine Heimat Deutscher Bundestag in der Bringschuld. Ich hoffe, dass
nimmt. Ich persönlich habe noch sehr gut die Schilde- uns dies alsbald gelingt. Gerade für die jungen Leute
rung meiner Großeltern, die aus dem Sudetenland stam- müssen wir uns dafür einsetzen, dass sich das nicht wie-
men, in den Ohren, wie schlimm es ist, wenn man aufge- derholt, was sich im letzten Jahrhundert viel zu oft ereig-
fordert wird, innerhalb von zwölf Stunden das eigene net hat, nämlich massenhafte Vertreibungen.
Haus, das man sich mühsam aufgebaut hat, zu verlassen, Vertreibung hat an Aktualität leider Gottes nicht ver-
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Fragen loren.
Sie mal KZ-Überlebende! Unglaublich!) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
maximal 30 Kilogramm Gepäck mitnehmen darf und die NEN]: Was ist denn mit den Roma?)
Heimat nie mehr wiedersieht.
Just an diesem Tag sind 44 Millionen Menschen auf die-
Frau Kollegin Jochimsen, ich möchte auch noch ein- sem Globus auf der Flucht oder vertrieben worden. Das
mal betonen, dass Sie aus meiner Sicht den großen Feh- zeigt ganz deutlich, dass es leider Gottes noch immer ein
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9059
Stephan Mayer (Altötting)
(A) viel zu aktuelles Thema ist. Gerade deshalb ist es wich- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (C)
tig, dass der 5. August ein nationaler Gedenktag wird. so beschlossen.
Ich bin insbesondere sehr dankbar, dass es uns in dem Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
gemeinsamen Entschließungsantrag der christlich-libe-
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Ilja
ralen Koalition gelungen ist, aufzunehmen, dass wir die
Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W.
Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ noch weiter
Birkwald, weiteren Abgeordneten und der Frak-
vorantreiben wollen. Wir sind hier auf einem guten
tion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
Weg. Es waren schwierige Monate. Das Jahr 2010 war
Gesetzes zur Ausweitung der Assistenzpflege
kein einfaches Jahr. Insbesondere der Hintanstellung
auf Einrichtungen der stationären Vorsorge
jeglicher persönlicher Interessen der Präsidentin des
und Rehabilitation
BdV – dies sage ich hier in aller Deutlichkeit – ist es zu
verdanken, dass sich die Stiftung so erfolgreich weiter- – Drucksache 17/3746 –
entwickeln konnte. Der Kollegin Erika Steinbach gilt in Überweisungsvorschlag:
diesem Zusammenhang großer Dank und hohe Anerken- Ausschuss für Gesundheit (f)
nung. Ausschuss für Arbeit und Soziales

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Große Leistung Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
von Erika Steinbach!) keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Es ist die historische Wahrheit, dass es die Stiftung Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Ilja
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nicht gäbe, wenn Seifert für die Fraktion Die Linke das Wort.
Erika Steinbach als BdV-Präsidentin im Jahr 2000 nicht (Beifall bei der LINKEN)
die Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ gegründet
hätte, damals mit Peter Glotz an ihrer Seite, der leider
Gottes viel zu früh verstorben ist. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erika Steinbach hat die Charta der Heimatvertriebe- Meine Damen und Herren! Ich beginne mit einem Bei-
nen als Akt der Selbstüberwindung bezeichnet. Ich spiel: Zwei Personen werden ungefähr zeitgleich mit ei-
glaube, genau das ist es auch. Es ist bemerkenswert, dass nem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert. Beide er-
in der Präambel der Charta der Gottesbezug mit aufge- halten ungefähr dieselbe Diagnose. Beide bekommen im
nommen wurde. Ich darf deutlich machen, dass der pro- Krankenhaus die erforderliche Behandlung. Der eine ist
(B) gressive Charakter der Charta sehr entscheidend ist, um Rollstuhlfahrer und wird nicht nur von den Kranken- (D)
mit den Worten von George Santayana, einem amerika- schwestern und -pflegern versorgt, sondern hat auch
nischen Philosophen und Schriftsteller, zu sprechen: noch seine Assistentin oder seinen Assistenten dabei, die
Wer sich der Geschichte nicht erinnert, ist dazu ver- oder der ihm hilft, seinen Alltag zu bewältigen. Der an-
dammt, sie zu wiederholen. dere geht anschließend in die Reha. Der Mensch mit
Rollstuhl geht nicht in die Reha, weil er seine Assisten-
(Beifall des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/ tin oder seinen Assistenten dorthin nicht mitnehmen
CSU]) kann. Wie soll er wieder gesund werden? So ist zurzeit
Ich glaube, das sollten wir uns ins Stammbuch schrei- die Situation in Deutschland.
ben. Wir haben hier kurz vor der Bundestagswahl 2009 ge-
meinsam beschlossen, dass Menschen mit Behinderung
Ich darf mit dem Schlusssatz der Charta enden, mei-
nes Erachtens ein herausragendes Dokument: ihre Assistentin oder ihren Assistenten, wenn sie oder er
nach dem Arbeitgebermodell beschäftigt ist, mit ins
Wir rufen Völker und Menschen auf, die guten Wil- Krankenhaus nehmen können, weil inzwischen eingese-
lens sind, Hand anzulegen ans Werk, damit aus hen wurde, dass dort besondere Bedingungen herrschen,
Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns die man nur mit der Assistentin oder dem Assistenten
alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden bewältigen kann. Das ist aber weder in der Vorsorge,
wird. also bei prophylaktischen Maßnahmen, noch in der
Nachsorge möglich. Deshalb legt die Linke jetzt einen
Den Sinn dieses Satzes sollten wir uns immer vor Augen Gesetzentwurf vor, der diese Lücke schließt.
halten.
Lassen Sie Menschen mit Behinderung sowohl pro-
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. phylaktische Maßnahmen als auch kurative Maßnahmen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) als auch Reha-Maßnahmen mit ihrer Assistentin oder ih-
rem Assistenten bewältigen, damit sie voll am Leben
teilhaben können, so wie es die UN-Behindertenrechts-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
konvention vorschreibt.
Ich schließe die Aussprache.
(Beifall bei der LINKEN)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4193 an die in der Tagesordnung aufge- Wir schlagen hier eine kleine gesetzgeberische Maß-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- nahme vor. Es entsteht kein großer Aufwand; es ist un-
9060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Ilja Seifert


(A) problematisch zu regeln. Es bedarf keiner großen Ak- (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das war ja (C)
tionspläne, keiner Umsetzungskonzeptionen und auch gut, aber es reicht nicht aus!)
keiner großen Datenerhebungen; die Kosten sind über-
Dieses ermöglicht es Behinderten mit besonderem pfle-
schaubar.
gerischen Bedarf, ihre eigenen, bei ihnen beschäftigten
Ich weiß wie die meisten von Ihnen, die sich mit der Pflegekräfte mit einem Kostenanspruch für Übernach-
Problematik beschäftigen, dass das nur ein kleiner tung und Verpflegung gegenüber dem jeweiligen Kran-
Schritt auf dem Weg ist, den wir gehen müssten: Eigent- kenhausträger in das Krankenhaus mitzunehmen. Wir
lich müssten wir auch den Menschen, die ihre Assistenz haben mit diesem Gesetz vor einem Jahr die Hoffnung
nicht nach dem Arbeitgebermodell beschäftigen, die verbunden, dass die persönlichen Assistenzkräfte mit
Möglichkeit geben, ihre Assistentin oder ihren Assisten- dem Krankenhauspersonal sehr gut zusammenarbeiten
ten sowohl bei Vorsorge- als auch bei Behandlungs- und und die pflegerische Versorgung für Menschen mit Be-
Nachsorgemaßnahmen mitzunehmen. Aber lassen Sie hinderung deutlich verbessert wird, weil sie die vertrau-
uns wenigstens diesen kleinen Schritt gehen. ten Pflegekräfte Tag und Nacht um sich haben.
Das Ziel muss sein – dazu haben wir alle uns ver- Es wurde geschätzt, dass für diese Leistungen der
pflichtet, als wir das UN-Übereinkommen über die Pflegeversicherung, für die Weiterzahlung des Pflege-
Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert und geldes jährlich Aufwendungen in Höhe von 50 000 Euro
es damit ohne Vorbehalte in nationales Recht umgesetzt entstehen. Das war damals die Einschätzung. Die Kosten
haben –, die volle Teilhabe von Menschen mit Behinde- der gesetzlichen Krankenversicherung waren wegen der
rungen in allen Lebensbereichen zu sichern. Volle Teil- nicht bekannten Verweildauer – die spielt in diesem Zu-
habe heißt im Krankheitsfall, dass wir wieder richtig ge- sammenhang auch eine Rolle – kaum zu schätzen.
sund werden können, jedenfalls, was eine akute Schon damals hat die Fraktion Die Linke einen Ände-
Krankheit wie den Herzinfarkt angeht. Die Menschen rungsantrag auf Ausweitung der Leistungen auf Vorsor-
haben gelernt, mit ihrer Behinderung zu leben; aber wir ge- und Rehabilitationseinrichtungen nach § 107 SGB V
dürfen ihnen nicht zumuten, zusätzlich krankgemacht zu gestellt. Auch wurden Stimmen laut, die die Anbindung
werden. der Leistungen an das Arbeitgebermodell kritisierten,
(Beifall bei der LINKEN) weil geistig Behinderte oder Menschen mit Demenzer-
krankungen, die von ihren Angehörigen gepflegt werden,
Bitte ergreifen Sie die Initiative, springen Sie über Ihren nicht in den Genuss dieser Leistungen kommen. Das kann
Schatten und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu. ich nachempfinden. Andererseits bauen wir auch in Zu-
kunft nicht nur auf die Solidarität in unserer Gesellschaft
Vielen Dank.
als Ganzes, sondern auch auf die Solidarität in den Fami-
(B) (Beifall bei der LINKEN) lien. Wir werden es nicht schaffen, alles finanziell auszu- (D)
gleichen, was an Liebe, Fürsorge, Unterstützung und So-
lidarität in der Familie geleistet wird. Das verdient mehr
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
als bisher unsere größte Hochachtung. Dies ist die richtige
Das Wort hat nun Kollegin Maria Michalk für die Stelle, um das noch einmal zu erwähnen.
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Nun ist gerade einmal ein Jahr seit Inkrafttreten die-
ses Gesetzes vergangen. Wir müssen hier und da feststel-
Maria Michalk (CDU/CSU): len – das gebe ich zu –, dass es mit der Umsetzung der
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und persönlichen Assistenz im Krankenhaus noch nicht hun-
Kollegen! Auch zur fortgeschrittenen Abendstunde wird dertprozentig klappt. Manche Krankenhäuser sind über
wohl niemand in unserem Land ernsthaft bestreiten, dass das Gesetz und seine Inhalte wohl unzureichend infor-
die Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinde- miert. Immer wieder hören wir von Beispielen, dass es
rungen seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland bei der Aufnahme der Assistenzperson zu Problemen
und vor allen Dingen seit der Wiedervereinigung vor kommt.
20 Jahren Schritt für Schritt verbessert wurden.
Ich finde, wir haben zunächst einmal nicht ein Rege-
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Heute gehen lungsdefizit, sondern ein Umsetzungs- und Anwen-
wir den nächsten Schritt!) dungsproblem. Gleichwohl nehme ich das Anliegen ei-
Es ist aber auch unbestritten, dass es in unserer gesell- ner Gleichberechtigung bei der persönlichen Assistenz
schaftlichen Wirklichkeit hier und da noch Teilbereiche in anderen Verweilorten ernst. Wir sind auch nach der
gibt, in denen Optimierungsbedarf besteht. Das ist ein UN-Behindertenkonvention gehalten – da sind wir uns
immerwährender Prozess; ich glaube, bei dieser Feststel- einig –, uns mit den unterschiedlichsten Lebensumstän-
lung sind wir uns einig. den und den sehr individuellen Lebensstandards ausein-
anderzusetzen. Das gilt zum Beispiel auch für stationäre
Eher uneinig sind wir uns mit den Initiatoren des in Einrichtungen zur Behandlung nach einem Suchtentzug;
Rede stehenden Gesetzentwurfs hinsichtlich der Schritt- so etwas ist auch gemeint. Man kann auch vermuten,
folgen und der Geschwindigkeit bestimmter Initiativen. dass Menschen mit Behinderung gerade in Rehabilita-
Warum? Kurz vor Ende der letzten Wahlperiode, am tionseinrichtungen die erforderlichen Hilfen erhalten,
5. August 2009, haben wir das Gesetz zur Regelung des vielleicht sogar eher als in einem Krankenhaus. Darüber
Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus in Kraft gesetzt. kann man sehr gut reden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9061
Maria Michalk
(A) Unser Leben ist sehr individuell. Deshalb haben wir Bis dahin gab es keinen Anspruch gegenüber den (C)
als Gesetzgeber Schwierigkeiten, nicht nur in diesem Kostenträgern auf Mitaufnahme dieser Pflegekraft ins
Punkt, die Wechselfälle des Lebens in ein und demsel- Krankenhaus und auch keinen Anspruch auf Weiterzah-
ben Gesetz einzufangen. Mancher Fortschritt ist nur des- lung der Leistungen während der Dauer des Kranken-
halb gelungen – gerade in der sozialen Gesetzgebung –, hausaufenthaltes. Das hatte zur Folge – dies ist mit unse-
weil es auch den Mut zur Lücke gab, wenn keine ver- ren Sozialgesetzbüchern das eine oder andere Mal der
lässlichen Daten vorlagen. Schritt für Schritt ist dann Fall –, dass sich die Kostenträger für nicht zuständig er-
nachgebessert worden. Klarheit in der Gesetzgebung be- klärt haben oder – das ist noch schlimmer – dass Men-
deutet, neben sachlichen Argumenten immer auch die fi- schen mit hohem Hilfebedarf notwendige Untersuchun-
nanziellen Auswirkungen zu betrachten. gen und Krankenhausaufenthalte vermieden haben, was
natürlich mitunter gravierende Folgen für ihren Gesund-
Ich hoffe, die Offenheit für das Anliegen als solches
heitszustand hatte.
ist klargeworden. Dazu stehen wir.
(Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben in der letzten Legislaturperiode diese Si-
cherheit gewährleistet. Wir haben mit diesem Gesetz
Wir wollen die Daten aber erst einmal dahin gehend prü- nicht nur die Mitaufnahme garantiert, sondern auch die
fen, wie es um die praktische Umsetzung steht. Dafür ist Zahlung des Pflegegelds für die Dauer von stationären
es ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes aber viel zu Aufenthalten zur Akutbehandlung sowie bei kranken-
zeitig. hausersetzender häuslicher Krankenpflege und für die
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass dies den Re- Dauer einer stationären Leistung zur medizinischen Re-
gelungsbedarf des SGB IX als auch den des SGB XII habilitation gewährleistet. Wir haben mit dem Gesetz
betrifft. Deshalb müssen auch die Kommunen in die auch Hilfe zur Pflege für die Dauer des stationären Kran-
Diskussion einbezogen werden. Ich sage: Im Sinne der kenhausaufenthaltes gewährt, sodass die Möglichkeit
UN-Behindertenrechtskonvention und zugunsten der be- der Weiterbeschäftigung einer besonderen Pflegekraft
troffenen behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger gesichert ist.
plädieren wir für eine Gesetzesberatung, aber nach dem Mit diesen Maßnahmen haben wir den Forderungen
Prinzip „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“. vieler Verbände entsprochen, die die Interessen von
Vielen Dank. Menschen mit Behinderungen vertreten. Das war, meine
ich, zu Recht ein großes Anliegen. Mit damals hochge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rechnetem geringem finanziellen Einsatz wurde mit dem
Assistenzpflegebedarfsgesetz für eine Personengruppe
(B) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: in unserer Gesellschaft Gutes bewirkt. (D)
Das Wort hat nun Hilde Mattheis für die SPD-Frak-
tion. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Ja!)
(Beifall bei der SPD) Wir haben die Gesetzesänderungen in den entsprechen-
den Sozialgesetzbüchern V, XI und XII verankert.
Hilde Mattheis (SPD): Allerdings steht eine Evaluierung noch aus. Es ist zum
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Beispiel unklar, ob es weiterhin Probleme mit Kostenträ-
ist in diesem Haus wichtig, sich die Lebenssituationen gern gibt. Der vorliegende Gesetzentwurf ist sicherlich
von Menschen mit Behinderungen immer vor Augen zu ein guter Anlass, das Thema erneut aufzugreifen. In dem
halten und darauf zu achten, dass es in der Tat um Anti- jetzt in erster Lesung zu beratenden Gesetzentwurf der
diskriminierung und Teilhabe geht. Partei Die Linke wird gefordert, die Assistenzpflege auf
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Einrichtungen der stationären Vorsorge und der Rehabili-
tation auszuweiten.
Ihre Initiative, das, was Sie vorlegen, ist richtig und
wichtig. Ich bedanke mich ganz ausdrücklich bei Ihnen. Wir als SPD
Denn uns alle eint, glaube ich, das Bestreben, für Men-
schen mit Behinderungen – vor allem in besonderen Le- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die drei Leute
benslagen – Erleichterungen und Hilfen zu gewährleis- da?)
ten, und zwar für alle. können diese Forderung generell unterstützen.
Deswegen haben wir vor anderthalb Jahren hier im
Deutschen Bundestag das Gesetz zur Regelung des As- (Beifall bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/
sistenzpflegebedarfs im Krankenhaus verabschiedet. CSU]: Oh ja! Ihr seid heute völlig geschlos-
Dieses gemeinsame Anliegen, Menschen mit Behinde- sen!)
rungen, die einen besonderen Assistenzbedarf haben, im – Ja, wir als SPD können diese Forderung generell sehr
Falle eines Krankenhausaufenthaltes eine Pflegekraft an unterstützen. Wir sind uns absolut einig, dass wir diese
die Seite zu stellen, die ihr Vertrauen genießt und die vor Forderung unterstützen, Herr Zöller.
allen Dingen um diesen besonderen Pflegebedarf weiß
und ergänzend zu dem, was das Krankenhauspersonal (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Man sollte da-
leistet, Hilfestellungen bieten kann, ist richtig und wich- für sorgen, dass ihr nie mehr werdet! Ihr seid
tig. ja die drei von der Tankstelle!)
9062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Hilde Mattheis
(A) Denn sie betrifft, wie ich bereits dargestellt habe, insbe- Beide Male lautete die Antwort gleich: Es gibt aufgrund (C)
sondere Menschen mit einem ganz starken individuellen der kurzen Geltungsdauer des Gesetzes noch keine Er-
Hilfebedarf. fahrungen.
Unser Appell lautet: Lassen Sie uns in dem jetzt be- (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Dann müsst ihr
ginnenden Verfahren auch die Bilanz aus dem ziehen, mal die Betroffenen fragen!)
was wir vor anderthalb Jahren gemeinsam auf den Weg Insbesondere gibt es keine Erfahrungen, die auf die drin-
gebracht haben. gende Notwendigkeit der Ausweitung der betroffenen
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Richtig!) Einrichtungen hindeuten würden. Außerdem hat das Bun-
desgesundheitsministerium Ihnen, Herr Seifert, deutlich
Wie war die Wirkung des Assistenzpflegebedarfsgeset- gemacht: Eine Erweiterung des Leistungsanspruchs auf
zes seit seinem Inkrafttreten? Wie viele Menschen konn- Einrichtungen über den Krankenhausbereich hinaus wird
ten davon profitieren? War der 2009 aufgestellte Finanz- nicht in Aussicht gestellt. Das war vor zwei Monaten.
rahmen einigermaßen gut kalkuliert? Wird die Leistung, Wozu also jetzt diese Debatte?
wie es unsere Absicht war, auch in der medizinischen
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Eben! Um das
Reha gewährt? Wird dadurch auch die Vorsorge abge-
zu ändern!)
deckt? Denn in § 111 SGB V werden Vorsorgeeinrich-
tungen und Rehaeinrichtungen gleichgesetzt. Die Linke nimmt in ihrem Gesetzentwurf Bezug auf
die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit
Dies alles sollten wir gemeinsam im Sinne der Men- Behinderungen. Die Ausdehnung des Assistenzbedarfs
schen mit Behinderungen klären. Ich bin mir sicher, dass für Menschen mit Behinderungen leitet sie aus Art. 25
wir dann in diesem Hause, genauso wie 2009, eine ganz dieser Konvention ab. Nichts könnte verfehlter sein.
breite Mehrheit für dieses gemeinsame Anliegen hinbe- Denn bereits in der Debatte im Juli 2009 wurde deutlich,
kommen und weiter Gutes bewirken können. dass sich schon das Gesetz zur Regelung des Assistenz-
In diesem Sinne bedanke ich mich. pflegebedarfs im Krankenhaus nicht aus dieser UN-Kon-
vention ableiten ließ.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der LINKEN – Wolfgang Aus diesem Grund hat sich die FDP seinerzeit der
Zöller [CDU/CSU]: Aber dann solltet ihr mit Stimme enthalten. Zu Recht haben wir die Auffassung
ein paar mehr Leuten da sein!) vertreten, dass die Aufnahme einer Begleitperson im
Krankenhaus bereits in § 2 der Bundespflegesatzverord-
nung geregelt ist. Dieser beschreibt die aus medizini-
(B) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: schen Gründen notwendige Mitaufnahme einer Begleit- (D)
Das Wort hat nun Erwin Lotter für die FDP-Fraktion. person des Patienten. Eine Neuregelung war daher
unnötig, und unnötigen Gesetzen stimmen wir nicht zu.
(Beifall bei der FDP)
Wenn die Linke jetzt auch noch die Ausweitung des
Gesetzes auf die Bereiche Vorsorge und Rehabilitation
Dr. Erwin Lotter (FDP): aus der UN-Konvention ableiten möchte, ist dies noch
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Gut weniger begründet. Bereits in der Debatte im Jahr 2009
gemeint ist nicht immer gut gemacht. Die Motivation wollte die Linke die Zahlungen für Assistenzpfleger aus-
mag nachvollziehbar sein; aber der Gesetzentwurf geht weiten. Sie wollte neben den Krankenhäusern die Vor-
an der Realität vorbei. Zunächst einmal kommt diese sorge- und Rehabilitationseinrichtungen gemäß § 107
Diskussion hier und jetzt zur falschen Zeit. SGB V in den Leistungskatalog aufnehmen. An der
Situation des letzten Jahres hat sich aber nichts geändert.
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Aha! Wieso?)
Der Gesetzentwurf der Linken kann nicht aus der
Denn das Gesetz zur Regelung des Assistenzpflege- UN-Konvention abgeleitet werden.
bedarfs im Krankenhaus wurde erst im Juli 2009 vom (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Klar kann er
Bundestag beschlossen. Über die Erfahrungen bei der das!)
Umsetzung des Gesetzes gibt es seither noch keine Er-
kenntnisse. Sehen wir uns einmal die Realität an. Es ist sicher aus
behindertenpolitischer Sicht erfreulich, dass die Assis-
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Fragen Sie mal tenzpfleger im Krankenhaus an der Seite der Betreuten
die Betroffenen!) sind. Wir haben aber noch keine Erkenntnisse über den
tatsächlichen Bedarf. Die medizinisch hochwertige Be-
Niemand weiß das besser als die Linke selbst.
treuung ist ja allein schon durch den Krankenhausaufent-
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Fragen Sie halt rund um die Uhr gewährleistet.
doch mal die Betroffenen!) Wir haben ferner keine Erkenntnisse, ob auch im
Sie, Herr Kollege Seifert, haben die Bundesregierung Vorsorge- und Rehabilitationsbereich Assistenzpfleger
im Juni und im Oktober 2010 nach einem Erfahrungsbe- zwingend benötigt werden. In der Regel dauern Vor-
richt gefragt. sorge- und Rehamaßnahmen sehr viel länger und sind
sehr viel zeitaufwendiger als Krankenhausaufenthalte.
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Ja!) Das bedeutet: Die Pfleger werden bei voller Bezahlung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9063
Dr. Erwin Lotter
(A) für einen erheblichen Zeitraum auf ihre reine Begleit- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (C)
funktion reduziert. Die Linke behauptet, das vorhandene Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das sagen
Rehapersonal könne die Assistenzleistung nicht in der Sie den Betroffenen, die eine Assistenz brau-
nötigen Qualität und im nötigen Umfang erbringen. Dies chen!)
entspricht schlichtweg nicht den Tatsachen. Es entwertet
die Arbeit, die von den Menschen im Krankenhaus und Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
in den Rehazentren erbracht wird. Das Wort hat nun Elisabeth Scharfenberg von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Die Argumentation der Linken ist an den Haaren her-
beigezogen. Sie behaupten, es seien Mehrkosten von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
circa 150 000 Euro zu erwarten. Das ist reines Wunsch-
denken. Ihr Gesetzentwurf hätte eine fatale Konsequenz. Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Die Leistungsverpflichtungen der Kommunen würden NEN):
erheblich ausgeweitet. Gleiches gilt für die Verpflichtun- Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen der Pflegeversicherung, und dies ohne jede zwin- gen! Vor anderthalb Jahren haben wir an gleicher Stelle
gende Begründung. schon einmal über den Assistenzpflegebedarf von Men-
Die Linke führt in ihrem Antrag aus: Zu erwartende schen mit Behinderung beraten. Wir haben damals un-
Mehrausgaben „sollen im Ergebnis nicht die Kommunen sere Bedenken und auch unsere Anmerkungen zu dem
mit zusätzlichen Kosten belasten.“ Schön wäre es, meine verabschiedeten Assistenzpflegebedarfsgesetz kundge-
tan. Uns ging es damals ums Ganze. Es ging uns darum,
Damen und Herren. Natürlich würden die kommunalen
Menschen mit Behinderung ganzheitlich zu betrachten.
Haushalte belastet; denn die Assistenten werden aus dem
Es ging uns um die Verbesserung der gesundheitlichen
SGB XII finanziert. Schon in der Anhörung zum Assis-
Versorgung, und es ging uns auch darum, Menschen mit
tenzpflegebedarfsgesetz im Jahr 2009 wurde übrigens
Pflegebedarf in den Blick zu nehmen.
von der Sozialhilfe klargestellt: Die Kosten wären für
die Sozialhilfeträger erheblich. Das Assistenzpflegebedarfsgesetz hat aber genau die-
sen ganzheitlichen Blick nicht. Es weist nämlich einen
Verstehen Sie mich nicht falsch. Im Jahr 2009 war ich Mangel auf, den leider auch der Gesetzentwurf der Frak-
behindertenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestags- tion Die Linke nicht beseitigt. Der Mangel liegt in dem
fraktion. Ich habe die Diskussion um die Assistenzpfle- kleinen Anspruchskreis von Leistungsempfängerinnen
ger aufmerksam verfolgt. Damals wie heute sage ich und Leistungsempfängern. Es profitieren nämlich nur
klar: Die UN-Konvention über die Rechte von Men- diejenigen, die ihre Alltagsunterstützung und Pflege
(B) schen mit Behinderungen muss in Deutschland ohne durch von ihnen persönlich angestellte besondere Assis- (D)
Wenn und Aber in nationales Recht umgesetzt werden. tenzkräfte sicherstellen. Dabei stellt sich natürlich die
Aber für ein Gesetz im Sinne der UN-Konvention gibt es begründete Frage: Was passiert mit den anderen pflege-
doch eine ganz klare Voraussetzung: Die vorgeschlage- bedürftigen Menschen mit Behinderung, mit denen näm-
nen Maßnahmen müssen die Situation der betreuungsbe- lich, die ihre Assistenz von ambulanten Diensten oder
dürftigen Behinderten nachweisbar und dauerhaft ver- anderen Anbietern erhalten? Diese haben zu Recht den
bessern. Dann kann man sich auch über eine Novel- gleichen Wunsch und auch Bedarf, aber dummerweise
lierung unterhalten. Dann kann man auch darüber spre- beschäftigen sie ihre Assistenzen nicht nach dem Arbeit-
chen, ob nicht entsprechend Geld in die Hand genom- gebermodell. Eine derartige Ungleichbehandlung bei
men werden sollte. Wenn künftige Erfahrungsberichte gleichen Bedarfen lässt sich wirklich nur sehr schwer
erweisen, dass die derzeitige Lage nicht zufriedenstel- vermitteln.
lend ist, können wir diese Debatte ansetzen. Vorausset-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zung wäre die Erkenntnis: Eine Ausweitung eines Ge-
setzes auf Vorsorge- und Rehaeinrichtungen ist medizi- Für uns ist das unverständlich und auch inkonsistent.
nisch zwingend geboten. Je weniger es einem Menschen mit Behinderung mög-
lich ist, selbstbestimmt ein Arbeitgebermodell zu mana-
Aber zunächst werden wir die Auswirkungen der ge- gen – dafür gibt es wirklich gewisse Voraussetzungen –,
rade erst vor 17 Monaten in Kraft getretenen Regelungen umso geringer ist die Chance auf Assistenzpflege im
abwarten und sorgfältig auswerten. Vielleicht lässt sich Krankenhaus oder in Vorsorge- oder Rehaeinrichtungen.
dann ja Anpassungsbedarf feststellen. Das erklären Sie einmal einem Menschen mit Behinde-
rung, der von diesen Regelungen nicht profitiert!
Sie wollen die Parteien der Regierungskoalition als
behindertenfeindlich darstellen. Nicht mit uns, liebe Es ist also eine privilegierte Gruppe von Menschen
Kolleginnen und Kollegen, und schon gar nicht mit mir. mit Behinderung, die vom Assistenzpflegebedarfsgesetz
Wir werden uns für alle Maßnahmen einsetzen, die sinn- profitiert. Das gilt ebenso bei der geplanten Erweiterung
voll sind im Interesse der Behinderten. Schaumschläge- durch den nun vorgelegten Gesetzentwurf.
rei aber ist ineffektiv und würde Kosten verursachen, die
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Aber wir
wir nicht mittragen. Dies ist nicht im Interesse der Be-
können ja einmal klein anfangen!)
troffenen, und dies ist auch nicht im Sinne derjenigen,
die ihr Engagement und ihre Arbeitskraft für unsere be- Die Bundesregierung hat in der Beantwortung einer
hinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger einsetzen. Kleinen Anfrage vom 15. September 2010 als eine Maß-
9064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Elisabeth Scharfenberg
(A) gabe des Assistenzpflegebedarfsgesetzes angeführt, dass Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
Versorgungsbrüche vermieden werden sollen. Die ver- Frau Kollegin, Sie müssen aber allmählich zum Ende
trauten Betreuungspersonen sollen den auf Hilfe ange- kommen.
wiesenen Personen auch in kritischen Versorgungssitua-
tionen zur Verfügung stehen. Eine Regelungslücke sei (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)
durch das Assistenzpflegebedarfsgesetz geschlossen
worden, so die Bundesregierung. Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
In ihrer Antwort verkennt die Bundesregierung, dass
diese Lücke eigentlich sehr viel größer ist. Durch das Wir werden uns dem Gesetzentwurf nicht versperren,
Assistenzpflegebedarfsgesetz in seiner jetzigen Form weil es uns um die Betroffenen geht, anders offensicht-
wird nur für einen kleinen Kreis von Menschen mit Be- lich als Ihnen gerade. Wir müssen aber grundlegend
hinderung ein Schutzschirm aufgespannt. Ein Großteil überdenken, wie die zukünftige Weiterentwicklung des
der Betroffenen wird unbeachtet im Regen stehen gelas- Assistenzpflegebedarfsgesetzes, über die wir hier gerade
sen. Daran wird auch durch den Gesetzentwurf der Frak- reden, aussehen soll.
tion der Linken nur bedingt etwas geändert. Vielen Dank.
Hinzu kommt noch, dass wir bisher nur wenig bis gar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nichts über die Annahme der Regelung zur Assistenz- und bei der SPD)
pflege in Krankenhäusern wissen. Aus diesem Grund
möchte ich die Bundesregierung auffordern, uns in ab-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
sehbarer Zeit über den Sachstand und die Erfahrungen
mit dem Assistenzpflegebedarfsgesetz im Krankenhaus Als letztem Redner in dieser Debatte gebe ich Kolle-
für Menschen mit Behinderung zu unterrichten. gen Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Eine Reihe von Abgeordneten der CDU/CSU (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und der FDP betritt den Plenarsaal)
Rudolf Henke (CDU/CSU):
– Guten Abend.
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren!
(Unruhe) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte das kurz
zusammenfassen: Wir sprechen gerade – und haben ge-
sprochen; ich möchte das kurz zusammenfassen – über
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: einen Gesetzentwurf,
(B) Reden Sie ruhig weiter, Frau Kollegin. (D)
(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Lassen Sie es, die hören eh nicht
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
zu!)
NEN):
Ja, ich möchte aber auch gehört werden. mit dem gefordert wird, dass Menschen mit Behinde-
rung ihre persönliche Assistenz nicht nur ins Kranken-
haus, sondern auch in die oft folgende medizinische Re-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
habilitationsmaßnahme und in stationäre Vorsorge-
Das ist ein ganz unerheblicher Vorgang. maßnahmen mitnehmen können.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Man wird sich jetzt natürlich fragen, warum über all
das zu dieser späten Stunde – viele externe Zuhörer gab
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- es ja nicht – hier noch einmal so ausführlich diskutiert
NEN): wird. Ich glaube, das hat auch ein bisschen damit zu tun,
Nein, nein, auch wenn Sie es nicht unerheblich fin- dass die Linken in ihrem Gesetzentwurf neue Leistungen
den, wenn die FDP ihre Reihen auffüllt. Ich möchte fordern, was sie deutlich machen und auch in bestimm-
gerne, dass auch diese Herren in den Genuss meiner ten Situationen vor Wahlkämpfen deutlich machen wol-
Rede kommen. len, weil sie dort, wo sie selbst in der Regierungsverant-
wortung sind – ich kann es Ihnen ja nicht ersparen, das
Uns ist an einer guten und nachhaltigen Gesundheits- zu sagen –, Leistungen für Menschen mit Behinderung
versorgung gelegen. Verbesserungen können wir nur er- gekürzt und eingespart haben.
zielen, wenn wir ausreichend und transparent informiert
werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Unruhe) Das gilt etwa in Berlin für die Kürzung des Blindengel-
des zu Zeiten der rot-roten Koalition, das gilt für Einspa-
– Es freut mich, dass Sie jetzt hierhergekommen sind, es rungen im Bereich der Behindertenfahrdienste, für Ein-
würde mich aber noch mehr freuen, wenn Sie zuhören sparungen bei Mobilitätshilfen und bei Wohlfahrts-
würden. verbänden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Kommen Sie
bei der SPD und der LINKEN) mal zum Thema!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9065
Rudolf Henke
(A) – Ja, ich will nur, dass man versteht, was die Motivation Ratifizierung der UN-Konvention, dem Sozialgesetz- (C)
dafür ist, dass das alles jetzt in dieser Weise als eine ein- buch IX und dem Rechtsanspruch auf Leistungen in
zelne Initiative vorgetragen wird. Form des Persönlichen Budgets haben wir wichtige Re-
gelungen auf einem Weg zu gleichberechtigter Teilhabe
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von Menschen mit Behinderung verabschiedet. Als
In der Sache leuchtet es mir völlig ein, dass Menschen CDU/CSU-Fraktion haben wir daran einen wichtigen
mit Behinderung ihre Assistenzkräfte, die sie im Arbeit- Anteil.
gebermodell beschäftigen, selbstverständlich sowohl zu
stationären Klinikaufenthalten als auch zu Vorsorge- und Aber in der Praxis zeigt sich, dass diese Ansprüche
Rehabilitationsmaßnahmen mitnehmen wollen. Nach mitunter zu spät, nur zum Teil oder auch gar nicht umge-
wie vor halte ich die Schaffung des gesetzlichen An- setzt werden; auch das gehört zur Realität. Das kann uns
spruchs auf die Mitnahme der Assistenz bei stationären alle hier im Haus nicht ruhen lassen. Für uns ist es des-
Krankenhausaufenthalten für richtig. Dies ist unter Mit- halb ein wichtiges Anliegen, die Eingliederungshilfe
wirkung der Union und aufgrund wesentlicher Impulse weiterzuentwickeln. Hier besteht Reformbedarf, um eine
beispielsweise unseres damaligen Behindertenbeauftrag- moderne und teilhabeorientierte Behindertenpolitik wei-
ten Hubert Hüppe gelaufen, des Vorgängers von Maria terhin zu ermöglichen. Ich glaube, dass wir uns auch in
Michalk. diesem Punkt fraktionsübergreifend einig sind oder zu-
mindest einig sein müssten. Bei all unseren Forderungen
(Hilde Mattheis [SPD]: Ich kann mich aber an- und Verbesserungsvorschlägen brauchen wir dann aber
ders erinnern!) auch die Unterstützung der Länder und der Kommunen,
denn sie tragen in erster Linie die Kosten für Eingliede-
Ich meine nach wie vor – darin unterscheide ich mich
rungshilfeleistungen. Der Grundsatz muss sein: Leistun-
vielleicht ein bisschen von anderen Rednern –, es war
gen müssen dem Menschen mit Behinderung entspre-
eine richtige Entscheidung der vorigen Bundesregierung
chen, nicht der Mensch den Leistungen.
und der vorigen Koalition, diese Leistung einzuführen.
(Zuruf von der LINKEN) Ich habe vorhin vom Sozialgesetzbuch IX gespro-
chen. Darin gibt es etwas, was mich regelrecht aufregt,
– Ich habe ja gesagt, ich habe volles Verständnis für je- nämlich dass Menschen mit Behinderung bei der Suche
den, der sich das als Betroffener wünscht, auch wenn es nach den zuständigen Kostenträgern entgegen der gel-
eben – Frau Scharfenberg hat das hervorgehoben – auf tenden Rechtslage immer noch viel zu häufig von einer
das Arbeitgebermodell begrenzt ist. Ich habe volles Ver- Stelle zur anderen weitergereicht werden, ohne die für
ständnis dafür, dass jemand, der dies als Betroffener im sie erforderlichen Leistungen zu bekommen.
(B) Krankenhaus nutzt, es auch in Rehabilitations- und Vor- (D)
sorgeeinrichtungen nutzen will. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Aber wenn wir eine solche Erweiterung des Leis-
tungsanspruchs wollen, dann muss das sorgfältig vorbe- Das ist eine besonders ärgerliche Form von Schwarzer
reitet werden. Darin hat Kollege Lotter doch komplett Peter. Fristen für die Bearbeitung von Anträgen werden
recht. nicht eingehalten, unterschiedliche Leistungen nicht ko-
ordiniert.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Ich glaube, wir müssen uns über die Zukunft Gedan-
ken machen und gegebenenfalls eine andere Ausgestal-
Dazu gehört, dass die Auswirkungen der bestehenden
tung der gemeinsamen Servicestellen in Betracht ziehen,
Regelung, die immerhin erst am 31. Juli 2009 in Kraft
die wir im Sozialgesetzbuch IX geschaffen haben. Ich
getreten ist, beobachtet und ausgewertet werden. Ich
kann mir zum Beispiel vorstellen, über ein neues Mitei-
habe das Gefühl, auch darüber, dass das zu geschehen
nander von Servicestellen, Pflegestützpunkten, Pflege-
hat, besteht Einvernehmen im Haus.
beratungsstellen und ähnlichen Stellen zu reden.
Auf dieser Grundlage kann dann geprüft werden, ob
und in welcher Form gesetzgeberischer Anpassungsbe- Ich komme zum Schluss. Politische Entscheidungen,
darf besteht. Ich bin Herrn Lotter und der FDP-Fraktion die Menschen mit Behinderungen direkt oder indirekt
ausgesprochen dankbar dafür, dass er betont hat: Wenn betreffen, müssen sich an den Inhalten der UN-Konven-
sich zeigt, dass dort Handlungsbedarf besteht, dann ist tion über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
selbstverständlich auch Bereitschaft zum Handeln vor- messen lassen. Ich appelliere an uns alle: Schaffen wir
handen. nicht noch mehr Bürokratie! Vereinfachen wir den Be-
hördendschungel, damit die Betroffenen nicht ständig
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten von Pontius zu Pilatus laufen müssen, um das zu bekom-
der CDU/CSU) men, was ihnen zusteht. Das gilt nicht nur für diejenigen,
Selbstverständlich bedeutet eine Leistungsausweitung die ihre Assistenz nach dem Arbeitgebermodell organi-
auch höhere Kosten für die Träger der Sozialhilfe. Das sieren, sondern für alle Menschen mit Behinderungen.
ist ein Problem, das es immer wieder erschwert, zusätzli- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
che Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen zu
treffen. Dennoch haben wir in den vergangenen Jahren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
in der Politik für diese Menschen vieles erreicht. Mit der neten der FDP)
9066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Reisende besser schützen (C)


Ich schließe die Aussprache. – Drucksachen 17/2428, 17/4019 –
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Berichterstattung:
wurfs auf Drucksache 17/3746 an die in der Tagesord- Abgeordnete Marlene Mortler
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Gabriele Hiller-Ohm
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Horst Meierhofer
Dann ist die Überweisung so beschlossen. Dr. Ilja Seifert
Es folgen jetzt zehn Tagesordnungspunkte hinter- Abg. Markus Tressel
einander. Ich bitte um angemessene Aufmerksamkeit, Auch hier ist vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll
wenn Sie schon hier eingetroffen sind. zu geben. – Sie sind einverstanden. Folgende Kollegen
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: wollten sprechen und haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben: Peter Wichtel, Marlene Mortler, Gabriele Hiller-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika Ohm, Jens Ackermann, Kornelia Möller, Markus
Steinbach, Arnold Vaatz, Ute Granold, weiterer Tressel.2)
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
wie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und Drucksache 17/4041 an die in der Tagesordnung aufge-
der Fraktion der FDP führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-
rung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtent-
Freie und gleiche Wahlen in Belarus einfor- wicklung liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? –
dern – Menschenrechtslage verbessern Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
– Drucksache 17/4194 – sen.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu Tagesordnungspunkt 18 b. Wir kommen zur Abstim-
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – mung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich fehlung auf Drucksache 17/4019, den Antrag der Frak-
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Erika tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2428
Steinbach, Uta Zapf, Marina Schuster, Wolfgang abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
Gehrcke, Marieluise Beck.1) lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Ko-
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der alitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/
(B) Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Die Grünen und den Linken bei Stimmenthaltung der (D)
Drucksache 17/4194. Wer stimmt für diesen Antrag? – SPD angenommen.
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der Grü-
nen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
SPD angenommen. nen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und b auf:
setzes über die Einsetzung eines Nationalen
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Normenkontrollrates
Tressel, Nicole Maisch, Winfried Hermann, wei- – Drucksache 17/1954 –
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-
Durchsetzung und Evaluation des Reiserechts schuss)
verbessern
– Drucksache 17/4241 –
– Drucksache 17/4041 –
Überweisungsvorschlag:
Berichterstattung:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Abgeordneter Kai Wegner
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Auch hier sind die Reden zu Protokoll gegeben, und
Verbraucherschutz zwar von den Kollegen Kai Wegner, Andrea Wicklein,
Ausschuss für Tourismus Frank Schäffler, Michael Schlecht und Kerstin
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Andreae.3)
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
richts des Ausschusses für Tourismus (20. Aus- Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Markus schlussempfehlung auf Drucksache 17/4241, den Ge-
Tressel, Nicole Maisch, Ingrid Hönlinger, weite- setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Drucksache 17/1954 in der Ausschussfassung anzuneh-
NIS 90/DIE GRÜNEN
2) Anlage 4
1) Anlage 3 3) Anlage 5
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9067
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der – Es finden hier also noch künstlerische Betätigungen (C)
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- statt?
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)
men der CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen Dabei, liebe Kolleginnen und Kollegen, vollbringe ich
der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenom- doch gerade die rhetorische Meisterleistung, die Abstim-
men. mungen in hohem Tempo zu absolvieren.
Dritte Beratung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Wir stimmen zunächst über die Änderungsanträge ab,
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktio-
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- nen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu- che 17/4251. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? –
vor angenommen.
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ände-
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Aber rungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
knapp!) nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abge-
lehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4252: Wer
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-
zur Änderung des Energiesteuer- und des
gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den
Stromsteuergesetzes
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
– Drucksachen 17/3055, 17/3307 – der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD und der Lin-
ken abgelehnt.
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss) Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
– Drucksache 17/4234 –
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Berichterstattung: Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
Abgeordnete Norbert Schindler der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
Ingrid Arndt-Brauer tionsfraktionen angenommen.
(B) Dr. Birgit Reinemund (D)
Dritte Beratung
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
gemäß § 96 der Geschäftsordnung und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
– Drucksache 17/4235 – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
Berichterstattung: wurf ist mit denselben Mehrheitsverhältnissen wie zuvor
Abgeordnete Norbert Barthle angenommen.
Carsten Schneider (Erfurt) Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
Otto Fricke ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Dr. Gesine Lötzsch Drucksache 17/4253. Wer stimmt für diesen Entschlie-
Alexander Bonde ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Hierzu liegen ein gemeinsamer Änderungsantrag der Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grünen bei
ein weiterer Änderungsantrag und ein Entschließungsan- Enthaltung der Linken abgelehnt.
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Auch hier Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
sind die Reden zu Protokoll gegeben worden, und zwar
von den Kollegen Norbert Schindler, Peter Aumer, Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Ingrid Arndt-Brauer, Birgit Reinemund, Barbara Höll Dieter Rossmann, Ulla Burchardt, Dr. Hans-Peter
und Lisa Paus.1) Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Bildungszusammenarbeit von Bund und Län-
che 17/4234, den Gesetzentwurf der Bundesregierung dern verlässlich weiterentwickeln
auf Drucksachen 17/3055 und 17/3307 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. – Drucksache 17/4187 –
Überweisungsvorschlag:
(Parl. Staatssekretär Daniel Bahr fotografiert Ausschuss für Bildung, Forschung und
von der Regierungsbank aus die Abgeordneten Technikfolgenabschätzung (f)
der FDP-Fraktion) Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
1) Anlage 6 Haushaltsausschuss
9068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die den Euro alleine tragen soll: 10 Milliarden Euro über ei- (C)
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol- nen „direkten Beitrag“ und die anderen 10 Milliarden
gende Kolleginnen und Kollegen: Monika Grütters, Euro durch Transfers des Bundes an die Länder und
Tankred Schipanski, Ernst Dieter Rossmann, Swen Kommunen. Dieses Verständnis von „Bildungszusam-
Schulz, Patrick Meinhardt, Rosemarie Hein und Priska menarbeit“, in dem der eine zahlt, während der andere
Hinz. das Geld nach bildungsideologischem Gutdünken aus-
geben darf, ist eine gedankenlose Übernahme der Ver-
sorgungsmentalität, die so mancher SPD-Bildungs-
Monika Grütters (CDU/CSU):
minister in den letzten Wochen zur Schau gestellt hat.
Vor fast genau sechs Monaten, am 10. Juni 2010, ha-
ben wir im Plenum bereits einmal einen Antrag der SPD Dabei investiert diese Bundesregierung bereits mehr
diskutiert. Der Titel des Antrags lautet „Nationalen Bil- Geld in die Bildung, als jede andere Regierung das je
dungspakt für starke Bildungsinfrastrukturen schaffen“. zuvor getan hat. Das gilt im Übrigen auch für alle Re-
Die Ähnlichkeiten zum nun vorliegenden Antrag „Bil- gierungen, die von SPD und Grünen gebildet wurden.
dungszusammenarbeit von Bund und Ländern verläss- Ich darf Ihnen zwei Beispiele nennen: Wir unterstützen
lich weiterentwickeln“ entgehen dem aufmerksamen Le- die Studierenden in Deutschland bei der Finanzierung
ser nicht. ihres Studiums im kommenden Jahr mit mehr als
1,7 Milliarden Euro. Damit haben wir die Förderung in
Der Grund dafür, dass die SPD ihren alten Wein noch diesem Bereich im Vergleich zu Rot-Grün – 2005:
einmal in neue Schläuche packt, ist schnell gefunden. 1,1 Milliarden Euro – um mehr als 53 Prozent ausge-
Denn die Verabschiedung des Bundeshaushalts 2011 vor baut.
wenigen Wochen hat noch einmal deutlich gemacht, wie
ernst die christlich-liberale Bundesregierung ihr Be- In die konkrete Verbesserung der Lehre an den Hoch-
kenntnis zur Schaffung der Bildungsrepublik Deutsch- schulen investieren wir in diesem Jahr 780 Millionen
land nimmt: Wie schon im Jahr 2010 werden auch im Euro, zum Beispiel durch den Wettbewerb „offene Hoch-
Jahr 2011 die Mittel für Bildung und Forschung um schule“ und den Bologna-Mobilitätspakt. Damit über-
mehr als 7 Prozent erhöht. Die Steigerung des Gesamt- treffen wir die Förderung der letzten rot-grünen Regie-
haushaltes um 782 Millionen auf nun insgesamt mehr rung in diesem Bereich bei weitem. 2005 hatten SPD
als 11,6 Milliarden Euro ist in Zeiten der Schulden- und Grüne hierfür nämlich nur 9 Millionen Euro übrig,
bremse ein starkes Zeichen, das Bildung und Forschung obwohl die Umsetzung des Bologna-Prozesses bereits
für diese Regierung absolute Priorität genießen. seit 1999 auf der Tagesordnung stand.

Der gerade erschienene Bildungsfinanzbericht bestä- Die ersten Ergebnisse unserer Investitionen in die
(B)
tigt diese Einschätzung ausdrücklich. Im Jahr 2010 wer- Bildungsrepublik Deutschland können wir bereits jetzt (D)
den die öffentlichen Bildungsaufgaben in Deutschland sehen:
zum ersten Mal die Grenze von 100 Milliarden Euro Im Jahr 2010 konnte das Statistische Bundesamt wie-
überschreiten. Auch einen Hinweis auf die Gründe für der einen Rekord bei den Studienanfängerzahlen ver-
diese Steigerung gibt der Bildungsfinanzbericht: „Als melden. 442 000 junge Menschen haben im Jahr 2010
Ergebnis politischer Entscheidungen stiegen die öffent- ein Studium aufgenommen, 4 Prozent mehr als noch
lichen Bildungsausgaben im Vergleich zu den gesamten 2009. Das ist auch ein Verdienst unseres Engagements
öffentlichen Ausgaben überproportional.“ bei der Studienfinanzierung. Mit BaföG-Erhöhung, der
Stärkung der Begabtenförderungswerke und der Einfüh-
Ich empfehle den Kollegen hier noch einmal einen
rung des Deutschlandstipendiums schaffen wir die Vo-
Blick in unseren Koalitionsvertrag „Wachstum. Bildung.
raussetzungen dafür, dass möglichst viele junge Men-
Zusammenhalt“. Die christlich-liberale Koalition hält
schen ein Studium finanziert bekommen.
ihre Versprechen nicht nur mit einem aktuellen Wirt-
schaftswachstum von 3,5 Prozent, sondern auch mit ei- Auch sorgen wir dafür, dass sich wieder vermehrt
nem nie dagewesenen Engagement für Bildung und For- junge Menschen aus bildungsfernen Schichten für ein
schung. Studium entscheiden. Die letzte Studie des HIS hat ge-
zeigt, dass die Studierquote in dieser Gruppe um 6 Pro-
Das reizt die Opposition natürlich – und statt eine zent angestiegen ist, während die Studierquote bei Kin-
verantwortungsbewusste und nachhaltige Politik zu dern aus bildungsnahen Schichten „nur“ um 3 Prozent
würdigen, legt die SPD ihre wenig originellen Ideen stieg. Anders als die Opposition gern polemisiert, sor-
schon wieder vor. Viel Neues ist Ihnen nicht eingefallen. gen wir dafür, dass die Kluft zwischen bildungsfernen
Noch immer beschränkt sich Ihre Kreativität auf die und bildungsnahen Schichten kleiner wird und eben
plumpe Forderung nach noch mehr Geld und einem nicht wächst. Das schaffen wir, weil wir unsere Bil-
noch größeren Engagement des Bundes. Fast ein wenig dungspolitik verantwortungsvoll und nachhaltig gestal-
dreist ist Ihre Haltung, dem Bund die alleinige Verant- ten und uns nicht in ideologischen Debatten erschöpfen.
wortung für die Erreichung des 7-Prozent-Ziels für die
Bildung zuzuschieben, und das auch noch „unbeschadet Auch die aktuelle PISA-Studie, die Deutschland si-
der föderalen Zuständigkeiten“, wie Sie es ja ausdrück- gnifikante Fortschritte in allen Teilbereichen attestiert,
lich formulieren. Dazu gehört schon ein gerüttelt Maß zeigt, dass die Bundesregierung unter Angela Merkel
an Ignoranz. Sie fordern, dass der Bund bis 2015 die und mit Annette Schavan im Bildungsbereich ihre Ver-
notwendigen jährlichen Mehrausgaben von 20 Milliar- sprechen hält.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9069
Monika Grütters
(A) Das beste Beispiel dafür, wie man es nicht macht, ist tet. Ideen und Vorstellungen müssen aber immer in der (C)
leider nicht nur hinsichtlich der PISA-Studie wieder ein- Wirklichkeit, allen voran in der Verfassungswirklichkeit
mal Berlin. Nicht nur, dass wir einen rot-roten Senat ha- eingebettet sein, ansonsten wird man schnell wie die
ben, dem nicht mehr einfällt, als Gymnasiumsplätze ver- Partei Die Linke zu einer Partei der Utopien.
losen zu lassen; nun haben wir auch noch eine grüne
Spitzenkandidatin, die sich vorstellen kann, diese erfolg- Die Bildungspolitik liegt in unserem Bundesstaat pri-
reichste aller Schulformen „mittelfristig“ ganz zur Dis- mär im Verantwortungsbereich der Länder. Dieser ver-
position zu stellen. fassungsrechtliche Fakt stößt auf große Ablehnung in
der Bevölkerung. Dies belegen uns beinahe jede Woche
Damit bin ich auch schon beim Kooperationsverbot, neue Umfragen in den Zeitungen. Unser Volk wünscht
das die Bildungsdebatte zwischen Bund und Ländern sich ein stärkeres Engagement des Bundes in der Bil-
wesentlich prägt. Sie sprechen sich in Ihrem Antrag für dung, es wünscht sich mehr Vergleichbarkeit, Transpa-
eine verstärkte Kooperation zwischen Bund und Län- renz und Konstanz.
dern aus. Sie haben recht: Schaut man sich die Bil-
dungsergebnisse der SPD-geführten Bundesländer an Auch wenn wir als Bundespolitiker dies ähnlich be-
und vergleicht diese mit den CDU-geführten Bundeslän- werten, können wir dies nicht „von oben“ verordnen,
dern, dann kann man wirklich nur zu dem Schluss kom- und wir dürfen auch in der Bevölkerung nicht den Ein-
men, dass ein stärkeres Engagement dieser christlich-li- druck erwecken, dass wir dies könnten. Politik muss ehr-
beralen Regierung in den SPD-geführten Länder lich sein. Zur Ehrlichkeit gehört, dass ohne ein „Mitma-
wirklich notwendig wäre. chen“ der Länder im Bereich der Bildung nichts geht. So
kann die SPD-Bundestagsfraktion noch so gute Modelle,
Die Bundesbildungsministerin und auch meine Frak- Ideen und Vorschläge erarbeiten – ohne ein Miteinander
tion haben immer wieder deutlich gemacht, dass wir ei- mit den Bundesländern wird die Umsetzung nicht gelin-
ner Fortentwicklung der Verfassungswirklichkeit offen gen.
gegenüberstehen. Bund und Länder sollten in der Tat ge-
meinsam dafür Sorge tragen, die Leistungsfähigkeit un- Der Bund hat durch die christlich-liberale Koalition
seres Bildungssystems nicht nur gemeinsam „festzustel- seinen Part vorbildlich gestaltet. Wir gestalten die Bil-
len“ sondern „sicherzustellen“. Es sind allerdings die dungsrepublik Deutschland. Massive Aufwüchse im
Länder, in denen die Bereitschaft, dem Bund eine ange- Haushalt des BMBF und ein intensives Arbeiten mit den
messene Mitsprache zu ermöglichen, noch nicht in aus- Bundesländern bei der Exzellenzinitiative, dem Hoch-
reichendem Maße gegeben ist. So lange bleibt nur der schulpakt 2020, dem Pakt für Forschung und Innova-
Appell an eben diese Länder, ihrer Verantwortung für tion, dem Qualitätspakt Lehre. Diese Pakte sind finan-
die Bildung dann auch finanziell angemessen gerecht zu ziell hervorragend ausgestattet. Einen im Antrag
(B) werden. geforderten zusätzlichen „Nationalen Bildungspakt“ (D)
Bisher hat es Annette Schavan jedenfalls mit großer bedarf es nicht. Allen voran ist nicht einzusehen, warum
Kunstfertigkeit verstanden, dem Bund mit intelligenten der Bund für Maßnahmen zahlen soll, die im alleinigen
Instrumenten ein Engagement in der Bildungspolitik zu Zuständigkeitsbereich der Bundesländer liegen.
ermöglichen. Mit Exzellenzinitiative und Hochschulpakt Es sind einige Bundesländer, die nicht „mitziehen“,
hat die Ministerin Wege jenseits des Kooperationsverbo- insbesondere die, in denen die SPD Verantwortung
tes gefunden, die wirksam genutzt werden. trägt. Das haben uns die jüngsten Diskussionen um das
So ist die Fortentwicklung des Hochschulpakts eine Deutschlandstipendium und die BAföG-Novelle gezeigt.
Möglichkeit, um auf den absehbaren Anstieg der Studie- Es ist ein Versagen der Länder in der Bildungspolitik,
rendenzahlen aufgrund der Aussetzung der Wehrpflicht insbesondere bei der finanziellen Schwerpunkt- bzw.
zu reagieren. Fest muss aber stehen, dass ein Engage- Prioritätensetzung. Auch der Bund hat eine ange-
ment des Bundes nicht mit einem finanziellen Rückzug spannte Haushaltslage, aber für uns haben Bildung und
der Länder einhergehen darf, wie das anscheinend dem Wissenschaft höchste Priorität. Für uns ist eine gute
Berliner Bildungssenator Zöllner und einigen anderen Bildungspolitik die beste Sozialpolitik. Bundesbildungs-
Bildungsministern vorschwebt. ministerin Annette Schavan ist stetig bemüht, mit den
Ländern Grundlinien der Bildungspolitik festzulegen,
Der Bund wird seine Verantwortung für die Bildungs-
und sucht eine konstruktive Zusammenarbeit. Doch die
politik wahrnehmen, das zeigt nicht zuletzt der Haushalt
Bundesländer verwehren uns oftmals diese konstruktive
des BMBF. Er wird aber die Länder nicht aus ihrer
Zusammenarbeit, primär aus ideologischen und partei-
– auch finanziellen – Verantwortung für das Bildungs-
taktischen Gründen. Die Länder kommen ihrer verfas-
system entlassen. Dies zu glauben wäre ein Missver-
sungsmäßigen Aufgabe im Bereich der Bildung nicht
ständnis unseres föderalistischen Systems, und das wird
mehr nach.
in meiner Fraktion keine Zustimmung finden.
Richtig erkennt der vorliegende Antrag daher, dass es
Tankred Schipanski (CDU/CSU): einer Koordinierung der Bildungszusammenarbeit be-
Der Antrag der SPD-Fraktion „Bildungszusammen- darf. Der im Antrag vorgeschlagene Ausbau des Natio-
arbeit von Bund und Ländern verlässlich weiterentwi- nalen Bildungsberichtes ist eine Idee. Ob sie zielführend
ckeln“ findet zumindest in seinem Titel Zustimmung ist, vermag ich aus der heutigen Perspektive nicht zu be-
über Fraktionsgrenzen hinweg. Es ist lobenswert, dass urteilen. Entscheidend ist, dass die Bundesländer die
sich die SPD aktueller bildungspolitischer Fragen an- Notwendigkeit einer Koordinierung durch den Bund an-
nimmt und durchaus konstruktive Vorschläge unterbrei- erkennen. Die Kultusministerkonferenz ist das gelebte

Zu Protokoll gegebene Reden


9070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Tankred Schipanski
(A) Gegenteil eines modernen Föderalismus. Doch zeigt uns fahren, wenn sie so nicht die Chancen, sondern die (C)
die Ausgestaltung des Art. 91 b Abs. 2 GG, dass der Grenzen des deutschen Föderalismus und seine Zersplit-
Bund eine begrenzte Rolle im Bildungsbereich hat. Hier terung im Bildungsbereich leidvoll selbst erfahren müs-
wünscht sich unsere Bildungsministerin die Möglichkeit sen.
eines stärkeren Engagements. Art. 104 b GG enthält und
enthielt auch vor den Föderalismusreformen keine gene- Konsens und Kooperation müssen also Leitprinzipien
relle Befugnis zur Zusammenarbeit von Bund und Län- für eine Politik sein, die sich an den tatsächlichen Bil-
dern im Bildungs- und Forschungsbereich. Der Bund dungsbedürfnissen und Bildungserfordernissen orien-
scheint danach nicht befugt zu sein, über Investitionshil- tiert. Dann stellt sich aber die Frage, welche praktisch
fen hinaus inhaltlich Einfluss auf die Bildungspolitik der zugänglichen Wege wir in der gegenwärtigen Verfas-
Länder zu nehmen. sung der Bundesrepublik und bei der Vielfalt der politi-
schen Akteure konstruktiv gehen können, um diesen
Wir dürfen aber eines nicht vergessen: Die klare Auf- Prinzipien gerecht zu werden. Um es glasklar zu sagen:
gabenzuweisung im Bundesstaat ist eingebettet in un- Die SPD ist nicht dafür, die landespolitische Zuständig-
sere Verfassung. Unsere Verfassung ist gekennzeichnet keit für die Bildung durch eine Bundeszuständigkeit ab-
von verschiedenen Verfassungsprinzipien. So ist im zulösen. Dies würde nicht nur den Grundprinzipien der
Bund-Länder-Verhältnis der „Grundsatz des bundes- Verfassung widersprechen, es wäre auch bildungspoli-
freundlichen Verhaltens“, die sogenannte Bundestreue, tisch falsch. Denn natürlich liegen in der landesbezoge-
elementar. Dieses Prinzip ist – als ungeschriebene Ge- nen, sehr konkreten und direkten Ausgestaltung von
neralklausel – als staatsrechtliche Ausprägung des schulischen Bildungsangeboten auch große Chancen.
Grundsatzes von Treu und Glauben zu verstehen. Es ver-
pflichtet – so das Bundesverfassungsgericht – den Bund Die SPD sieht aber auch mit großer Sorge, wie das
und die Länder, „bei der Wahrnehmung ihrer Kompeten- Zusammenwirken von Bund und Ländern in der Bil-
zen die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das dungspolitik in der Vergangenheit hin und her ge-
Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange schwankt ist. Oft gab es da euphorische Ankündigungen
der Länder zu nehmen“. Diesen Fakt müssen die Bun- von Bildungsgipfeln, die aber von Kohl bis Merkel dann
desländer begreifen. Sie müssen die koordinierende doch vor allem Attrappe und schöner Marketing-Schein
Funktion des Bundes wollen. Nur dann kann Bildungs- gewesen sind. Dem gegenüber steht dann wieder der Mi-
zusammenarbeit in einem modernen Föderalismus ge- nimalismus vieler kleiner Punkt-zu-Punkt-Entscheidun-
lingen. gen und Verabredungen, die trotz aller Widerstände un-
ter dem Druck der Verhältnisse dennoch zustande
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): gekommen sind. Für eine zukunftsgerichtete Bildungs-
(B)
Gestern haben sich einmal mehr die Ministerpräsi- politik brauchen wir eine neue und nachhaltige sowie (D)
denten mit der Bundeskanzlerin zu einem Bund-Länder- konkret gefasste Bereitschaft, die Bildungszusammenar-
Gipfel getroffen, deren Vorgängertreffen in den letzten beit von Bund und Ländern verlässlich weiterzuentwi-
zwei Jahren bekanntlich zu „Bildungsgipfeln“ stilisiert ckeln.
worden sind. Davon könnte nun in diesem Jahr keine
Rede sein, obwohl der Bedarf für eine bessere Koordi- Als machbares Projekt möchten wir Ihnen mit diesem
nierung und für gemeinsame Aktionen von Bund und Antrag die Aufwertung der seit fünf Jahren erfolgreich
Ländern doch aktueller denn je ist. Die jüngsten PISA- eingeführten Bildungsberichterstattung hin zu einem In-
Studien haben gezeigt, dass das konzertierte Vorgehen strument von offener Bildungskoordinierung und -bera-
von Bildungspolitikern in Kommunen, Ländern und tung vorschlagen. Wir sehen hierin eine große Chance
Bund für eine gute Bildungspolitik auch gute Ergebnisse für eine bessere, offene Koordinierung der Bund-Län-
hervorbringen kann. Dies macht Mut, dieses Zusammen- der-Bildungszusammenarbeit. Dazu soll die Bundesre-
wirken auch in der Zukunft fortzusetzen. Nicht zuletzt gierung ein Konzept für die Weiterentwicklung des Na-
deshalb mehren sich auch die Stimmen, die die absolut tionalen Bildungsberichtes vorlegen. Der Bericht soll
überflüssige und unverständliche Selbstfesselung des sich künftig nicht nur wie bisher auf die wissenschaftli-
Bundes und Selbstkasteiung der Länder durch das soge- che Feststellung und Beschreibung von Wirklichkeiten
nannte „Kooperationsverbot“ aus den leidigen Zeiten beschränken. Er soll stattdessen ambitionierter, politi-
der Föderalismusreform I zurecht infrage stellen. Die scher, zielbestimmter und damit auch praxiswirksamer
Einsicht wächst: Wenn in Zeiten von Finanzenge in den werden.
öffentlichen Haushalten Bildung weiterhin Priorität ha-
Dafür sollen die bildungspolitischen Ziele, die von
ben soll, brauchen wir gerade mehr und nicht weniger
den Ländern und vom Bund gemeinsam verfolgt werden,
Kooperation.
in diesem alle zwei Jahre vorzulegenden Bildungsbe-
Schließlich stellen wir auch fest: In der bildungspoli- richt klar bestimmt, terminiert und quantifiziert werden.
tischen Debatte fordern immer mehr Stimmen eine Bun- Die gesamte Bildungskette von der frühkindlichen Bil-
deseinheitlichkeit im schulischen Bildungsbereich ein. dung bis zur Weiterbildung ist einzubeziehen. Bei der
Viele sind es leid, zwischen den Bundesländern auf un- Auswahl der Zielvereinbarungen sind dabei sowohl die
terschiedliche Schulsysteme und nicht aufeinander ab- auf europäischer Ebene vereinbarten Kernziele des stra-
gestimmte Lehr- und Lerninhalte zu treffen. Das müssen tegischen Rahmens für die Zusammenarbeit auf dem Ge-
auch die jährlich über 100 000 Kinder, die von einem biet der allgemeinen und beruflichen Bildung 2020 als
Bundesland in ein anderes ziehen, am eigenen Leib er- auch die in der Qualifizierungsinitiative für Deutsch-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9071
Dr. Ernst Dieter Rossmann
(A) land von Bund und Ländern vereinbarten Ziele ange- es um das Zusammengehen von beruflicher Erstausbil- (C)
messen zu berücksichtigen. dung und Weiterbildung, sei es im akademischen oder im
klassisch berufsbildenden Bereich? Wir haben zugleich
Um hier einen politischen Einschub zu machen: Es ist auch noch die Schnittstellen zwischen den verschiede-
doch absurd, dass wir im Bildungsausschuss des Bun- nen politischen Ebenen: Wie steht es um die Zusammen-
destages und auch hier im Plenum immer wieder mit arbeit zwischen Kommunen und Ländern? Wie steht es
Zielvorstellungen konfrontiert werden, die auf europäi- um die Zusammenarbeit zwischen den Ländern und dem
scher oder nationaler Ebene von den Exekutivgremien Bund? Auch wenn eine durchsetzungsstarke Plattform
der Länder und des Bundes festgelegt worden sind, diese für eine gemeinsame bildungspolitische Steuerung oder
Zielvorstellungen aber der parlamentarischen Beglei- Koordinierung bisher verfassungsrechtlich nicht vorge-
tung und Beratung entzogen sind, weil sie im entschei- sehen ist – das praktische Bedürfnis danach besteht of-
denden Instrument zur Bildungsentwicklung in Deutsch- fensichtlich umso dringlicher.
land, nämlich dem Nationalen Bildungsbericht, keine
Rolle spielen. Ein Bildungsbericht, der aus seiner Ana- Allein schon die Übersicht über bildungsrelevante
lyse keine Handlungsempfehlungen und Folgerungen Entscheidungen in den Ländern und Kommunen zu be-
ableitet, kastriert sich selbst und ist damit letztlich ein halten, wird immer schwieriger. Nicht anders ist es bei
verschenktes Instrument. Deshalb sind wir auch dafür, den Berichten über Sachstände und Fortschritte bei be-
dass zu diesen Zielen auch der Grad ihrer Verwirkli- stehenden Bund-Länder-Initiativen oder bildungspoliti-
chung, wenn möglich landesspezifisch, ausgewiesen schen Zielvereinbarungen. Die entsprechenden Bil-
werden sollte. dungsberichte von kommunaler Seite, von Ländern und
Ein solcher Ansatz, Sachstände und Zielvereinbarun- vom Bund sind selbst Legion. Allerdings verhält sich
gen zu den bestehenden Bund-Länder-Initiativen sehr ihre bildungspolitische Bedeutung proportional umge-
konkret zu fassen, wie es unter anderem beim Hoch- kehrt zu ihrer Rezeption. Diese erfolgt in der Regel nur
schulpakt 2020 bis in Details hinein vorgesehen ist, ist in engen Experten- und Fachpolitikerkreisen und reicht
so auch für andere bildungspolitische Aufgabenstellun- wenig in die parlamentarische und öffentliche Mei-
gen als Methode anwendbar und hilfreich. Die Autoren- nungsbildung hinein. PISA ist hier eine Ausnahme.
gruppe, die von Bund und Ländern gemeinschaftlich mit Umso wichtiger ist deshalb ein Koordinierungsinstru-
diesem Bildungsbericht beauftragt ist, soll deshalb zu- ment, das es ermöglicht, dass die Erreichung europäi-
sätzlich zu den Zielvereinbarungen, die auf politischer scher wie nationaler Bildungsziele besser überprüfbar
Ebene zwischen Bund und Ländern respektive nur zwi- ist.
schen den Ländern geschlossen werden, weitere von der Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Gerade
Wissenschaft aus als relevant erachtete Kennzahlen des weil wir keine Allzuständigkeit des Bundes in Bildungs- (D)
(B)
Bildungsberichtes sowie bildungspolitische Maßnahmen fragen wollen, müssen wir jetzt die vorhandenen Instru-
von Bund, Ländern und Kommunen Bewertungen und mente im konstruktiven Sinne weiter entwickeln. Das
Handlungsempfehlungen entwickeln und im Rahmen der Ziel ist nicht die direkte Steuerung von Bildungsmaß-
Bildungsberichterstattung mit vorlegen. nahmen durch den Bund, sondern die Etablierung und
Die Auseinandersetzung mit solchen bildungspoliti- Unterstützung einer gemeinschaftlichen Zielorientie-
schen Gutachten kann die bildungspolitische Diskussion rung von Bund, Ländern und Kommunen. In diesem
in Bund und Ländern nur fördern und so am Ende dazu Sinne werben wir bei der Bundesregierung und auch bei
beitragen, dass dem Interesse von Bund wie Ländern, den anderen Fraktionen um Unterstützung für unsere
von allen bildungspolitischen Akteuren und vor allem Initiative.
auch von denjenigen, die von guter Bildung in Deutsch-
land am meisten profitieren sollen, an einem möglichst Swen Schulz (Spandau) (SPD):
hochwertigen Bildungssystem in Deutschland gedient Eine zentrale Herausforderung ist die Verbesserung
wird. unseres Bildungswesens. Damit dies gelingen kann,
Um es noch einmal klar herauszustellen: Eine erfolg- müssen alle Kräfte zusammengenommen werden, auch
reiche, konstruktive Bildungszusammenarbeit von Bund und gerade die von Bund und Ländern. Das gegenseitige
und Ländern setzt Vertrauen, Erwartungs- und Pla- Beharren auf Zuständigkeiten oder Nichtzuständigkei-
nungssicherheit voraus. Dies gilt umso mehr, als dass ten behindert gute und schnelle Problemlösungen. Den
das Grundgesetz im Bereich der Bildungszuständigkei- Bürgerinnen und Bürgern ist es vollkommen egal, wel-
ten klar zwischen Bund und Ländern ordnet, aber auch che staatliche Stelle denn nun wofür zuständig ist. Am
bildungsrelevante Gemeinschaftsaufgaben definiert und Ende nehmen sie uns – vollkommen zurecht – alle in die
die in der Praxis zunehmend entscheidende Frage, wie Pflicht. Wir sind also, ob wir wollen oder nicht, alle,
die Schnittstellen zwischen den Bildungsphasen trotz un- egal ob auf kommunaler, Landes- oder Bundesebene, in
terschiedlicher Zuständigkeiten reibungsfrei zu gestal- der Verantwortung.
ten sind, offen lässt.
Es gibt wahrlich viel zu leisten. Die aktuellen Ergeb-
Wir erleben an allen relevanten Bildungsfragen, dass nisse der PISA-Studie haben deutlich gezeigt, dass sich
sich diese Fragen immer dringlicher stellen: Wie steht Anstrengungen lohnen, dass unser Bildungswesen aber
es um die Zusammenarbeit zwischen Kindertagesstätten weiterhin unter unseren Erwartungen und Möglichkei-
und Schulen? Wie steht es um die Zusammenarbeit von ten bleibt. Die SPD-Fraktion hat mit diesem Antrag den
Schulen und berufsbildenden Einrichtungen? Wie steht Rahmen für einen nationalen Bildungspakt definiert.

Zu Protokoll gegebene Reden


9072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Swen Schulz (Spandau)


(A) Wir wollen, dass der Bund 10 Milliarden Euro jährlich Schließlich braucht es auch eine Änderung des (C)
zusätzlich für Bildung einsetzt. Dieses Ziel ist erreich- Grundgesetzes zur Aufhebung des Kooperationsverbo-
bar, wenn wir auf Steuergeschenke und auf das falsche tes, damit so erfolgreiche Initiativen wie das Ganztags-
Betreuungsgeld verzichten und gleichzeitig Vermögende schulprogramm der Regierung Gerhard Schröder neu
und Hochverdienende stärker zur Finanzierung heran- ermöglicht werden.
ziehen. Einige der zentralen Ziele, die mit diesen Mitteln
im nationalen Bildungspakt umgesetzt werden sollen, Wir haben schon lange kein Erkenntnis-, sondern ein
möchte ich hier kurz skizzieren. Umsetzungsproblem. Eigentlich braucht es nur den gu-
ten Willen der Akteure. Dann könnten wir mit der Bil-
Von entscheidender Bedeutung ist, dass die Kinder dungsrepublik Deutschland starten. Fangen wir an!
und Jugendlichen in den Kindertagesstätten und in den
Schulen optimal gefördert werden. Dazu braucht es zum
Ersten flächendeckend kostenlose Ganztagsangebote Patrick Meinhardt (FDP):
mit kostenlosem Mittagessen. Zum Zweiten braucht es Wir haben hier in dieser Woche in einer aktuellen
deutlich mehr pädagogisches Personal, also Lehrer, Stunde bereits über die Ergebnisse der neuesten PISA-
aber auch Sozialpädagogen, Erzieher, Pädagogen für Studie für Deutschland gesprochen. PISA hat Deutsch-
Musik, Sport, Theater und anderes mehr. Das muss be- land bildungspolitisch wachgerüttelt. Wie auch schon
zahlt werden; aber das können die Kommunen und die bei den vorangegangenen Untersuchungen wurde deut-
Länder allein unmöglich auf die Beine stellen, nicht zu- lich, dass gute Ergebnisse bei den PISA-Studien immer
letzt, weil diese Regierungskoalition ihnen mit ihrer un- dort erzielt werden, wo FDP und Union verantwortlich
seriösen Finanzpolitik finanzielle Spielräume genom- sind. Die größten Schwierigkeiten haben dagegen die
men hat. Der Bund muss also bei der Finanzierung Schülerinnen und Schüler, auf deren Rücken die ideolo-
helfen. gischen Bildungsexperimente der rot-rot-grünen Lan-
desregierungen ausgetragen werden. Und weil diese
Doch selbst wenn das Geld zur Verfügung steht, fallen
genau solche Fehlentwicklungen offensichtlich zur
diese Leute ja nicht vom Himmel. Um sie überhaupt zu
Kenntnis nehmen, fällt Ihnen nichts anderes ein, als
bekommen, braucht es eine entsprechende Ausbildungs-,
Geld aus dem Bundeshaushalt zu fordern – um eigene
eine Fachkräfteoffensive. Auch hier müssen Bund und
Fehler auszugleichen. Das ist Bildungsflucht vor der
Länder zusammenarbeiten, sonst wird das wahrschein-
Verantwortung!
lich in hundert Jahren nichts.
Aber wie soll denn nun die Zusammenarbeit von Machen Sie doch bitte zuerst Ihre Hausaufgaben in
Bund und Ländern erreicht werden? Es gibt dazu viele den Ländern, anstatt auf das Geld des Bundes zu setzen.
(B) Überlegungen. Die Länder stellen sich unter Koopera- Das wäre ehrlich, und das wäre vor allem redlich gegen- (D)
tion vor, dass der Bund ihnen möglichst viel Geld mit über den Kindern und Jugendlichen in den Ländern, in
möglichst wenig Vorbedingungen zur Verfügung stellt, denen Rot-Rot-Grün regiert. Wir jedenfalls sind nicht
und dann machen die Länder schon alles gut. Das ist bereit, Geld in Ihre überschuldeten Landeshaushalte zu
verständlicherweise nicht die erste Wahl aus Bundes- pumpen, um Ihre verfehlten Bildungsexperimente zu fi-
sicht. Der Bund wiederum hätte sicher am liebsten, nanzieren.
wenn er Geld nur für Dinge gibt, die klar in seiner Ver-
Und was sind denn die Konsequenzen Ihrer Politik?
antwortung liegen und unter seiner Kontrolle stehen.
Betrachten Sie einmal die Zahl der Schulabgänger ohne
Dann gibt es die Mischvariante der Kooperation, so wie
Abschluss! Diese ist nirgends so hoch wie in den Bun-
sie im Hochschulbereich etwa beim Hochschulpakt er-
desländern, in denen Sie regieren: 7,2 Prozent in Rhein-
folgreich angewandt wird – nachdem die SPD-Bundes-
land-Pfalz, 10,6 Prozent in Berlin, und in Mecklenburg-
tagsfraktion dies bei der Föderalismusreform durchge-
Vorpommern verlassen 17,9 Prozent aller Schülerinnen
setzt hat. Dort nehmen Bund und Länder gemeinsam
und Schüler die Schule, ohne über einen Abschluss zu
Verantwortung wahr, indem sie eine gemeinsame Ziel-,
verfügen. In Baden-Württemberg sind es gerade noch
Verwaltungs- und Finanzierungsvereinbarung treffen.
5,6 Prozent.
Die Lösung des Problems liegt möglicherweise in ei-
ner Mischung aus allen drei Bereichen. Was spricht da- Dies sind junge Menschen, die es Ihrer verfehlten Bil-
gegen, wenn der Bund in den von ihm verantworteten dungspolitik verdanken, dass sie sich ohne jede Chance
Bereichen ordentlich nach vorne prescht. Etwa bei der und ohne Perspektive auf einem zunehmend hochqualifi-
Versorgung von Schulen mit Sozialarbeitern? Das dürfte zierten Arbeitsmarkt zurechtfinden sollen. Eines zeigt
kaum auf den Widerstand der Länder treffen und der sich damit doch ganz deutlich: Die rot-rot-grünen Bil-
Bund könnte das einfach machen. dungsexperimente sind die beste Garantie für weniger
Bildungsgerechtigkeit und für mehr Bildungsarmut in
Die Länder brauchen auch mehr Mittel, um ihre urei- unserem Land.
genen Aufgaben wahrzunehmen, beispielsweise zur Ein-
stellung von Personal. Der Bund muss ihnen also Spiel- Gerade beim Thema Bildungspartnerschaft kann man
raum geben, etwa durch die Überlassung von höheren doch deutlich sehen, wie Anspruch und Wirklichkeit so-
Mehrwertsteueranteilen oder indem in bisherigen zialdemokratischer Politik auseinanderklaffen. Dieses
Mischfinanzierungen der Anteil des Bundes erhöht und Land braucht endlich eine echte Bildungspartnerschaft
die Länder dadurch entlastet werden. Das könnte etwa zwischen Bund, Ländern und vor allem den Kommunen.
beim BAföG so funktionieren. Dafür steht diese Regierung der Mitte!

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9073
Patrick Meinhardt
(A) Als Oppositionspartei legen Sie uns heute einen um- Sie reden bei Bildungspartnerschaften immer nur (C)
fangreichen Antrag mit mehr oder weniger sinnvollen vom rechtlichen Verhältnis zwischen Bund und Ländern.
Forderungen vor – und wenn Sie gefordert sind, dann Sie reden von mehr Geld vom Bund an die Länder. Ja,
kneifen Sie. Das konnte man bei Ihrer Blockade der der Bund hat seine Verantwortung wahrzunehmen. Und
BAföG-Modernisierung erleben, als Sie eine notwendige mit 12 Milliarden Euro mehr für Bildung und Forschung
Erhöhung der Leistungen verzögert haben, und das – dem bisher höchsten Aufwuchs – nimmt diese Regie-
konnte man beim nationalen Stipendienprogramm se- rung der Mitte ihre Verantwortung so wahr wie keine
hen. Dieses wird nun aufgrund Ihrer Blockadepolitik Vorgängerregierung.
ausschließlich vom Bund finanziert und eben nicht in ei-
ner Partnerschaft von Bund und Ländern. So ernst ist es Ja, diese Regierung will eine ehrliche Partnerschaft
Ihnen mit Bildungspartnerschaften in unserem Land. zwischen allen Beteiligten. Und wir wollen klare Zustän-
Hören Sie also auf, immer nur Sonntagsreden über Bil- digkeiten zwischen Bund und Ländern. Wir wollen mehr
dungspartnerschaften zu halten, und gestalten Sie diese Freiheiten für Schulen, sich an solchen Partnerschaften
endlich. zu beteiligen. Aber ich sage Ihnen gerade als bekennen-
der Bildungsföderalist: Die Länder haben ihre Verant-
Natürlich ist es notwendig, über die Finanzbeziehun- wortung genauso wahrzunehmen und der Bildung die
gen zwischen Bund und Ländern zu diskutieren. Span- höchste Priorität einzuräumen und dürfen sich nicht in
nend ist, was in Ihrem Antrag nicht steht. Kein Wort zum die Büsche zu schlagen.
Kooperationsverbot. Hier haben wir quer durch die Par-
teien sehr unterschiedliche Positionen. Hier haben Sie
sich bisher als die moralischen Entrüster aufgespielt. Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE):
Und jetzt schweigen Sie. Was ist da los? Hat Sie Ihr Niemand ist unfehlbar. Aber wenn einer einen Fehler
rheinland-pfälzischer Ministerpräsident zum Schweigen gemacht hat und das erkennt, sollte er ihn korrigieren.
verdonnert? Hier haben Sie die Möglichkeit: Sagen Sie Die Einführung des Kooperationsverbotes zwischen
es doch offen! Bund und Ländern in der Bildung war ein Fehler. Pro-
Wenn es um Finanzbeziehungen geht, darf es doch jekte, wie das Ganztagsschulprogramm, das bei aller be-
nicht darum gehen, dass wir über Bundesbeglückungs- rechtigter Kritik für manche sanierte Schule gesorgt hat,
programme Milliarden in Ihre Bildungsirrwege pumpen, können nun nicht mehr vereinbart werden. Nun macht
ohne dass Ihre Landesregierungen endlich die Fehlent- der Bund erstaunliche Verrenkungen, um doch noch ir-
wicklungen in der Bildungspolitik korrigieren. gendwie in die Bildung hineinzuregieren. Bildungsketten,
Berufseinstiegsbegleiter etc. werden erfunden, um die
Wir werden nicht über Bundesmittel die Kürzungen schlimmsten Auswüchse einer verfehlten Bildungspolitik
(B) ausgleichen, die Sie bei den Bildungsausgaben vorneh- von Bund und Ländern zu kaschieren, sogar Umwege (D)
men. Wir werden nicht aus dem Bundeshaushalt Ihre über die Bundesanstalt für Arbeit werden nicht gescheut,
Bildungsbürokratie finanzieren, ohne dass Sie den Schu- um Geld für die Bildungsbeteiligung Benachteiligter lo-
len endlich mehr Freiräume und Gestaltungsmöglich- cker zu machen. Da wird manches zum bürokratischen
keiten geben. Und wir werden keinen Cent dafür geben, Monstrum und läuft an den für Bildung Zuständigen vor-
dass Sie in den Ländern den Menschen kostenfreie Kin- bei. Dabei wäre es so einfach: mehr Geld in Schulen und
dergärten und Universitäten versprechen, während an- Kindereinrichtungen, für Volkshochschulen und andere
dere dafür zahlen müssen. Träger der Erwachsenenbildung und natürlich in die
In Ihrem Antrag kritisieren Sie die Bildungsgipfel, die berufliche Weiterbildung. Letzteres kann durchaus zu-
angeblich ohne greifbare Ergebnisse geblieben seien. mindest teilweise durch die Bundesagentur für Arbeit
Also, meine Damen und Herren von der SPD, das ist verantwortet werden. Aber das alles passiert nicht, je-
doch nun wirklich heuchlerisch. Sie waren doch in der denfalls nicht durch den Bund – er darf ja nicht –, und zu
Regierung, als die Bildungsgipfel eingeführt wurden, wenig durch Länder und Kommunen – die können nicht
und Sie haben diese doch mitgetragen. Aber wie in vie- mehr.
len Punkten gilt bei den Sozialdemokraten wohl auch Darum hat Die Linke schon im März beantragt, das
hier, dass man sich aus Opportunismus und Wahltaktik Kooperationsverbot aufzuheben. Nun wagt sich eigent-
von dem verabschiedet, was man in der Regierung be-
lich fast niemand mehr, die Aufkündigung der Zusam-
schlossen hat. Dies ist unredlich, und dies werden wir
menarbeit in Bildungsfragen gutzuheißen, aber es hat
Ihnen nicht durchgehen lassen.
auch niemand den Mut, die notwendige Grundgesetzän-
Und eines sage ich Ihnen auch: Für mich sind die Bil- derung in Angriff zu nehmen. Solange reicht es aber
dungsgipfel auch nicht das Allheilmittel, und ich bin auch nicht, immer aufs Neue einzuklagen, dass man
auch nicht überzeugt, dass die Bildungsgipfel immer ge- 7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in die Bildung ste-
nug konkrete Ergebnisse bringen. – Dies habe ich be- cken und – gleich wie viele Milliarden jährlich – mehr
reits in der Vergangenheit gesagt, und zu dieser Mei- ausgeben will. Uns sind die Instrumente fürs Ausgeben
nung stehe ich auch weiterhin. Aber dass dabei eben abhandengekommen, und eine neue Verteilung der
doch auch Ergebnisse herauskommen können, die unse- Geldströme zwischen Bund, Ländern und Kommunen,
rer Bildungs- und Wissenschaftslandschaft positive Im- die eine bessere Finanzierung der Bildungsinfrastruktur
pulse geben, zeigt nicht zuletzt der Qualitätspakt Lehre. möglich machen würde, ist nicht in Sicht. Außerdem sind
Und es wäre gut, wenn Sie dies auch anerkennen wür- 20 Milliarden Euro wohl zu gering bemessen; selbst die
den, anstatt alles immer nur schlechtzureden. Hans-Böckler-Stiftung geht von 37 Milliarden Euro aus.

Zu Protokoll gegebene Reden


9074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Rosemarie Hein


(A) Aber das Problem liegt tiefer. Die jüngste PISA-Stu- tens die Gymnasiasten werden ausgeschlossen aus der (C)
die war noch nicht richtig veröffentlicht, da tönte es aus neuen Form des Lernens. Wer es – wie die SPD – also
dem Süden des Landes, die Nordländer versauten den schon für einen Fortschritt hält, Haupt- und Realschule
Durchschnitt. Aber es geht hier um den Durchschnitt, zusammengeschlossen zu haben, der hat von Inklusion
und man sollte sich damit auch nicht zufrieden geben. noch überhaupt nichts verstanden.
Bildungspolitisch verliert die Bundesrepublik als Gan-
In dem ausführlichen Forderungsteil hat die SPD
zes und jede einzelne Schülerin und jeder einzelne Schü-
übersehen, dass es auch bei den Lehrerinnen und Leh-
ler, der oder die sich nicht ausreichend Bildung aneig-
rern zu dramatischen Engpässen kommen wird, wenn
nen kann. Dem stehen aber noch andere Dinge im Wege
nicht mehr Lehrkräfte ausgebildet werden. Darum hat
als die mangelhafte Ausfinanzierung des bundesdeut-
Die Linke im Sommer ein Fachkräfteprogramm „Bil-
schen Bildungssystems.
dung und Erziehung“ beantragt, das könnte man zwi-
Neulich erklärte mir eine junge Frau aus einer Besu- schen Bund und Ländern sogar vereinbaren. Vielleicht
chergruppe – sie steht kurz vor dem Abitur –, dass sie wäre ja das ein Anfang für weitergehende Vereinbarun-
aus Bayern in ein anderes, nördlicher und östlicher ge- gen, die endlich dem ganzen Bildungssystem und allen
legenes Bundesland gezogen sei und dort einen Vorteil Lernenden in allen Ländern der Bundesrepublik zugute-
und einen Nachteil für sich verspürte. Der Vorteil: Die kommen.
Fremdsprachenausbildung war in Bayern intensiver.
Der Nachteil: In Chemie fehlten ihr zwei vollständige Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Schuljahre an Unterrichtsstoff. Denn in Bayern wird NEN):
Chemie erst von der 9. Klasse an unterrichtet, in Sach- Die Advents- und Weihnachtszeit ist voll von Ritua-
sen-Anhalt bereits ab Klasse 7. Wer für sein Abitur die len. Im Dezember 2010 fehlt nun ein Ritual, das Bundes-
zweite Fremdsprache braucht, hat Pech, wenn er nach kanzlerin Merkel im Jahr 2008 erfunden hat und seitdem
einem Umzug die begonnene Sprache nicht weiterführen vorantreiben wollte: „Die Bildungsgipfel auf dem Weg
kann, weil die neue Schule sich auf andere Fremdspra- zur Bildungsrepublik“. – Heute ist der Tag, an dem ei-
chen konzentriert. Beim Abitur kommt es nämlich nicht gentlich der Bildungsgipfel Nr. 4 hätte stattfinden müs-
darauf an, ob man die Fremdsprache beherrscht, son- sen. Stattdessen? Fällt aus wegen „ist nicht“.
dern ob man drei Jahre dem entsprechenden Unterricht
beigewohnt hat. Die Liste solcher Unmöglichkeiten Im Herbst 2008 haben Bundeskanzlerin und Bundes-
ließe sich fortsetzen. bildungsministerin die Länder aufgefordert, mit einer
nationalen Qualifizierungsinitiative Deutschland zu ei-
Ein Zentralabitur, bei dem alle bundesweit die glei- ner Bildungsrepublik zu machen. Seitdem werden Be-
(B) chen Aufgaben lösen, wird das nur noch verschlimmern. standsaufnahmen gemacht, Übersichten erstellt und Lis- (D)
Dabei gibt es inzwischen für jedes Fach einheitliche Bil- ten ausgefüllt – mehr leider nicht. Im Dezember 2008
dungsstandards, in denen akribisch genau aufgelistet begannen dann die Trauerspiele, genannt „Bildungsgip-
wird, welche Fähigkeiten und welche Wissenskomplexe fel“.
am Ende eines Bildungsganges erreicht werden müssen.
Das eigentlich müsste reichen, um Vergleichbarkeit her- Nr. 1 war im Dezember 2008 ein Warmlaufen, bei
zustellen. dem sich die Konflikte um Geld und Steuerung schon
glasklar abzeichneten.
Im bundesdeutschen Bildungssystem sind aber Ver-
einbarungen, die ein halbes Jahrhundert alt sind, wich- Nr. 2 im Dezember 2009 brachte statt erster Ergeb-
tiger als ein vielfältiges und hohes Bildungsniveau. Die nisse einen bildungspolitischen Offenbarungseid. Statt
Bildungspolitiker und die bildungsinteressierte Lobby wie angekündigt, „in die Bildungsrepublik aufzubre-
der Betuchten achten peinlich genau darauf, dass ihnen chen“, einigten sich Bund und Länder nur aufs Vertagen
keines der überkommenen Privilegien verloren geht. und darauf, den Finanzbedarf kleinzurechnen. Die
Dagegen scheint kein Kraut gewachsen. Fast verschämt OECD errechnet konstant einen jährlichen Mehrbedarf
werden darum alle möglichen Förderinstrumente entwi- von gut 20 Milliarden Euro, Bund und Länder rechneten
ckelt, weil man ja nicht als unsozial gelten will. das gemeinsam schön auf nur noch 13 Milliarden Euro.
Schlimmer noch: Wieder wurden die notwendigen Qua-
Nun haben Bildungsforscher und Autoren der PISA- litätsziele nicht formuliert.
Studie diesem System eine ziemliche Abfuhr erteilt. Aber Bildungsgipfel Nr. 3 im Sommer 2010 war dann das
ob Bewegung in die Sache kommt? Ich fürchte, mit einer
letzte Aufbäumen. Der unauflösbare Interessenwider-
noch ausgeprägteren Bildungsberichterstattung wird
spruch wurde deutlich. Nebulöses Vertagen – Ende.
man da nicht viel ausrichten, weil der Wille zum Um-
steuern nicht vorhanden ist. Das ginge nämlich auch mit Das ist kein gutes Signal gewesen. Auch wenn die
den vorhandenen Instrumenten. Aber es geht nicht in PISA-Ergebnisse in der letzten Woche einen ermutigen-
diesem System. Ein Beispiel dafür ist der Ansatz der In- den Zwischenstand aus den Schulen geben, so bleibt
klusion. Das scheint zum neuen Modewort zu verkom- klar: Deutschland ist noch immer keine Bildungsrepu-
men. Jeder benutzt es, kaum einer weiß, was das ist. In- blik. Schlimmer noch: Seit dem Herbst 2008 ist viel zu
klusion meint alle: Mädchen und Jungen, mit und ohne wenig passiert. Da stellt sich die Frage: Warum fällt der
Behinderung, mit und ohne Migrationshintergrund, aus Bildungsgipfel Nr. 4 heute aus, obwohl Ergebnisse so
allen sozialen Milieus. Inklusion, die nicht auch im Gym- dringend nötig wären? Die Antwort ist so kurz wie er-
nasium stattfindet, geht nicht; das ist Exklusion. Wenigs- nüchternd: weil die Kanzlerin die „Bildungsrepublik“

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9075
Priska Hinz (Herborn)
(A) nicht mehr für ein Gewinnerthema hält. Nach drei bluti- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
gen Nasen hat sie gelernt, dass sie ihre unionsphysikali- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
schen Gesetze der Macht hier nicht anwenden kann. Mit Drucksache 17/4187 an die in der Tagesordnung aufge-
der Föderalismusreform hat sie sich als Bundeskanz- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
lerin im Bildungsbereich selbst entmachtet. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Diese Erkenntnis ist in Teilen der Union nun immer-
hin angekommen: Bildungsministerin Schavan lässt öf- Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
fentlich immer wieder verlauten, dass sie das Koopera-
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
tionsverbot für einen Fehler hält. Bisher folgt aus dieser
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Sta-
Erkenntnis leider nichts. Sobald CSU-Kultusminister
bilisierungs- und Assoziierungsabkommen
Spaenle neben Frau Schavan sitzt, versteigt sie sich zu
vom 29. April 2008 zwischen den Europäi-
so aberwitzigen Argumenten wie –, der Föderalismus an schen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaa-
sich stehe einer guten Bildungspolitik nicht im Wege, so ten einerseits und der Republik Serbien ande-
bei der Pressekonferenz zur Vorstellung der PISA-Er- rerseits
gebnisse letzte Woche. Den Föderalismus will ja auch
niemand abschaffen, aber das Kooperationsverbot. – Drucksache 17/3963 –
Überweisungsvorschlag:
Hier lässt allerdings leider auch die SPD zu wün- Auswärtiger Ausschuss (f)
schen übrig. Der heute vorliegende Antrag der Bundes- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
tagsfraktion ist da so wachsweich, dass ich mich frage,
warum sie da der Mut verlassen hat. Statt sich klar ge- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
gen das Kooperationsverbot auszusprechen, verschwur- Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
beln Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, die gende Kolleginnen und Kollegen: Peter Beyer,
derzeitige bildungsfeindliche Verfassungslage. Zitat aus Wolfgang Götzer, Günter Gloser, Rainer Stinner, Sevim
Ihrem Antrag: „Eine durchsetzungsstarke Plattform für Dağdelen und Marieluise Beck.
eine gemeinsame bildungspolitische Steuerung oder Ko-
ordinierung ist verfassungsrechtlich nicht vorgesehen“. Peter Beyer (CDU/CSU):
Und dann schlagen Sie allen Ernstes vor, dass der Als Ende letzter Woche in Oslo der chinesische Frie-
Nationale Bildungsbericht „das Koordinierungsinstru- densnobelpreisträger Liu Xiaobo geehrt wurde, konnte
ment“ sein soll, nennen ihn aber selbst ein „Hilfsinstru- er selbst der Zeremonie nicht beiwohnen. Er ist im Nord-
ment“ und überfrachten ihn dann völlig? Liebe Kolle- osten Chinas inhaftiert. Seine Frau konnte ebenfalls
(B) gen, das ist, gelinde gesagt, undurchdacht. Wir nicht nach Oslo reisen. Sie steht in Peking unter Hausar- (D)
brauchen den politischen Willen zur Zusammenarbeit, rest. Der Stuhl des Preisträgers war nicht der einzige,
damit Bund und Länder ihre gemeinsame Verantwortung der leer blieb. Gleich eine Reihe von Staaten hatten auf
auch gemeinsam wahrnehmen können. Mit diesem poli- Druck Chinas keine Vertreter nach Oslo entsandt.
tischen Willen kann dann auch die Verfassung entspre-
chend geändert werden. Ein Signal der Stärke hingegen war die Teilnahme
Serbiens. Nach heftigen Diskussionen im Lande zog Bel-
Gestern Abend hat sich die Kanzlerin routinemäßig grad die ursprüngliche Absage zurück. Sicherlich, die
mit den Ministerpräsidenten getroffen. Unter ferner lie- Europäische Union hatte zuvor hinter den Kulissen an
fen stand auch ein Bildungsthema an: die Finanzierung Serbien appelliert, beim Festakt in der norwegischen
von zusätzlichen Studienplätzen angesichts der Ausset- Hauptstadt Präsenz zu zeigen; denn wer die EU-Mit-
zung der Wehrpflicht. Was dabei rausgekommen ist, geht gliedschaft anstrebt, sollte die europäischen Werte, zu
zulasten der Studierenden. Bund und Länder wahren ihr deren Kern die Menschenrechte gehören, bedingungslos
Gesicht, indem sie alles dem Hochschulpakt aufbürden. teilen.
Die Hochschulen bleiben überfordert, weil der Hoch- Bemerkenswert am serbischen Sinneswandel waren
schulpakt eh schon unterausgestattet ist. Den Studienbe- jedenfalls die ermutigenden Erklärungen aus der Belgra-
rechtigten wird keine gute Perspektive geboten – trotz der Politik, vom Präsidenten, von Regierungsmitgliedern
Fachkräftemangels. Ich frage mich, wann Bund und und Abgeordneten. Überzeugend war die wahrnehmbare
Länder endlich konkrete Maßnahmen und verbindliche Kritik der Zivilgesellschaft an den Boykottplänen des
inhaltliche Zielmargen im Bildungssystem vereinbaren serbischen Außenministers. Die Bürger halten nichts von
oder wenigstens überhaupt formulieren werden. Das ist einer Rückkehr zur längst überwunden geglaubten Ära
nämlich notwendig, um die Schwächen bei frühkindli- Milosevic und allen damit verbundenen negativen Aus-
cher und schulischer Bildung sowie an den Hochschulen wirkungen. Serbien war am vergangenen Freitag also in
zu beseitigen. Oslo vertreten: Ein Gewinn für Europa und ein Zeichen
für die Stärkung der Menschenrechte.
Die Bundeskanzlerin und die Bundesbildungsministe-
rin sollten eingestehen, dass die Überhöhung der Treffen Russlands Stimme ist ebenfalls in Serbien gut wahr-
zu „Bildungsgipfeln“ ein Fehler war. Stattdessen sollten nehmbar. Deshalb ist die anstehende Einleitung des Ra-
sie sich mit den Ländern zusammensetzen und konkrete tifikationsprozesses des Stabilisierungsabkommens mit
Fortschritte vereinbaren. Das ist die Aufgabe einer Bun- Serbien durch den Bundestag ein richtiger und notwen-
desregierung. diger Schritt nach vorn.
9076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Peter Beyer
(A) Der Ratifizierungsprozess ist das Ergebnis der positi- Union zur Prüfung an die Europäische Kommission wei- (C)
ven Entwicklungen im Verhältnis Serbiens zur Europäi- terzuleiten, und heute geht es darum, mit der Zustim-
schen Union. Die Bundesregierung hat diesen Annähe- mung zur Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assozi-
rungsprozess mit Engagement und Nachdruck begleitet. ierungsabkommens mit Serbien einen umfassenden
Die Koalitionsfraktionen hatten Anfang Oktober dieses rechtlichen Rahmen zu schaffen, in dem die Vorbereitun-
Jahres unter dem Titel „Beitrittsantrag der Republik gen Serbiens auf den von ihm gewünschten EU-Beitritt
Serbien zur Prüfung an die Europäische Kommission erfolgen.
weiterleiten“ einen Antrag ins Plenum eingebracht und
Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess, in
mit Mehrheit des Hauses verabschiedet. Denn wir befür-
den Serbien nach der Ratifizierung dieses Abkommens
worten, dass der Beitrittsprozess in Gang gesetzt wird.
in allen EU-Mitgliedstaaten eintreten wird, ist für Ser-
Serbien hatte zuvor im September zusammen mit al- bien eine große Chance und eine große Herausforde-
len Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine Reso- rung. Für die EU ist das Stabilisierungs- und Assoziie-
lution in die VN-Generalversammlung eingebracht, die rungsabkommen ebenfalls eine sehr gute Möglichkeit,
das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur die Beziehungen zwischen der EU und Serbien zu gestal-
Kenntnis nimmt, dass die Unabhängigkeitserklärung des ten. Wir bauen damit eine Arbeitsstruktur auf, und es
Kosovo nicht gegen das Völkerrecht verstößt, und di- wird regelmäßige Berichte und Konferenzen geben. Da-
rekte Gespräche zwischen Serbien und Kosovo mit Un- durch wird Serbien klar bestimmen können, wo es auf
terstützung der Europäischen Union vorsieht. Das seinem Weg bei der Integration in die EU steht, und wir
gemeinsame Vorgehen mit der EU zeigt, dass Serbien können klar sehen, welche Entwicklungen sich in Ser-
auf Kooperation statt Konfrontation setzt und sich klar bien vollziehen, und klar definieren, was wir von Serbien
auf einen proeuropäischen Weg begeben hat. Dieser auf seinem Weg in die EU erwarten.
Weg nach Europa lohnt sich für die Menschen.
Bayern hat mit Serbien im Rahmen der Zusammenar-
Serbien wird im Rahmen des Stabilisierungs- und As- beit in der seit 40 Jahren bestehenden Ständigen Kom-
soziierungsprozesses indes hart daran arbeiten müssen, mission viele Erfahrungen sammeln können. Serbien gilt
alle Kriterien der Europäischen Union vollständig und in der Region als verwaltungsstark und wirtschaftlich
uneingeschränkt zu erfüllen. Dazu gehört die verlässli- innovativ. Insofern bietet das Stabilisierungs- und Asso-
che und aktive Zusammenarbeit mit dem Internationalen ziierungsabkommen durch die Heranführung an den eu-
Strafgerichtshof. Dazu gehören des Weiteren die regio- ropäischen Markt insbesondere große Vorteile für die
nale Zusammenarbeit und die gutnachbarschaftlichen Entwicklung der serbischen Wirtschaft und aufgrund der
Beziehungen auch und gerade mit dem Kosovo, ein- zentralen Lage Serbiens die Möglichkeit zur Prosperi-
schließlich eines konstruktiven Lösens offener bilatera- tätssteigerung in der gesamten Region. Serbien wird die
(B) (D)
ler Fragen. einmalige Möglichkeit bekommen, von dem Experten-
wissen der europäischen Beamten und von den Vorbei-
Gerade mit Blick auf die gutnachbarschaftlichen Be- trittshilfen des EU-Heranführungsinstruments IPA zu
ziehungen sind durchaus positive Entwicklungsansätze profitieren. Ich hoffe, dass Serbien diese große Chance
erkennbar. So stelle ich in diesem Zusammenhang erfreut nutzen wird und dadurch schnelle Fortschritte auf dem
fest, dass Serbien in Bosnien und Herzegowina – das war Weg in die EU macht.
nach meinem Eindruck weitgehender Konsens in der
Debatte zum Althea-Einsatz vor zwei Wochen an dieser Gleichzeitig möchte ich dem Wunsch Ausdruck ge-
Stelle – allmählich mehr und mehr stabilisierend wirkt. ben, dass Deutschland Serbien auf diesem Weg auch in
Ein weiteres Beispiel für die intensiver werdende Zu- der Zukunft weiterhin so eng diplomatisch begleitet, wie
sammenarbeit im ehemals jugoslawischen Raum ist die dies in den letzten Monaten geschehen ist. Deutschland
verstärkte Kooperation im internationalen Güterbahn- hat unter der christlich-liberalen Regierung endlich
verkehr. Und der serbische Präsident Boris Tadic hat wieder eine aktive Rolle in der Westbalkan-Politik ein-
jüngst nicht nur Zagreb besucht, sondern auch Vukovar. genommen.
Zusammen mit seinem kroatischen Amtskollegen Ivo Die Herausforderungen, vor denen Serbien steht,
Josipovic setzte er ein starkes Signal der Versöhnung an
sind groß, wie der letzte Fortschrittsbericht der EU-
dem Ort, der so sehr für die Schrecken des Krieges zwi-
Kommission zeigt: Funktionsfähigkeit der demokrati-
schen beiden Ländern steht. Es gibt sie also, die so wich- schen Institutionen, Reform des Justizwesens, Korrup-
tigen ermutigenden Signale, Symbole und Aktionen, die
tionsbekämpfung und Regelung der Wahlkampffinanzie-
ernsthaftes Bemühen erkennen lassen.
rung, Klärung von Eigentumsrechten und des Status von
Am Ende des Tages gelten für Serbien wie übrigens Flüchtlingen, Reform des Arbeitsmarkts, Bekämpfung
für alle EU-Beitrittsaspiranten die gleichen Kriterien. der Arbeitslosigkeit und des Schwarzmarktes, Fortfüh-
Kein Beitrittsland darf zeitlich bevorzugt werden. Einen rung der Privatisierung – all dies, um nur einige wenige
EU-Beitritt gibt es nur bei strikter, vollständiger Erfül- Beispiele herauszugreifen, sind Aufgaben, die Serbien in
lung aller Kriterien, ansonsten nicht. Das müssen alle den nächsten Jahren ernsthaft angehen muss.
am Prozess Beteiligten verinnerlichen. Hinzu kommen zwei weitere wichtige, für Serbien in-
nenpolitisch höchst sensible Herausforderungen, bei de-
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): nen wir das Land nicht aus der Verantwortung lassen
Vor zwei Monaten haben wir uns dafür ausgespro- können. Erstens muss Serbien unter Respektierung der
chen, das Beitrittsgesuch Serbiens zur Europäischen bestehenden Grenzen einen Modus Vivendi mit Kosovo

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9077
Dr. Wolfgang Götzer
(A) finden, der dazu führt, dass die noch offenen bilateralen Für eine mögliche Erweiterung der EU müssen aber (C)
Fragen schrittweise mit dem Ziel gelöst werden, dass nicht nur die Länder Südosteuropas noch viele Voraus-
Kosovo zunehmend tatsächlich als souveräner Staat setzungen erfüllen. Auch die EU selbst muss erst noch
agieren kann. Die Förderung regionaler Kooperation im erweiterungsfähig werden. Denn Europa scheint ja wei-
Zeichen eines von guter Nachbarschaft und friedlichem terhin in einer Dauerkrise zu sein. Trotz wirtschaftlichen
Herangehen geprägten europäischen Geistes gehört zu Aufschwungs gibt es nur noch ein Thema: die Staatsfi-
den Kernpunkten des Stabilisierungs- und Assoziie- nanzen und den Euro.
rungsabkommens. Auf der Erfüllung dieses Kernpunktes
So wichtig das auch ist, durch diese Debatten werden
– und zwar sowohl im Verhältnis zu Kosovo als auch im
wichtige Reformthemen hintangestellt. Eigentlich gilt es
Verhältnis zu seinen anderen Nachbarn, insbesondere
ja, Europa nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lis-
Kroatien und Bosnien-Herzegowina – werden wir ge-
sabon wieder flottzumachen und auf Kurs zu bringen.
genüber Serbien bestehen.
Stattdessen wird die EU weiter auf unbestimmte Zeit auf
Zweitens muss sich Serbien seiner Verantwortung das Trockendock gelegt. Was wir damit riskieren, habe
stellen, die es beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens ich eingangs dargestellt. Auch deshalb ist die Verunsi-
gespielt hat. Hierbei ist die uneingeschränkte Zusam- cherung in der deutschen Europapolitik, die Kanzlerin
menarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für Merkel und ihr Außenminister Westerwelle zu verant-
das frühere Jugoslawien von größter Bedeutung und aus worten haben, nicht nur bedauerlich, sondern höchst ge-
meiner Sicht gehört hierzu auch ganz klar die Ausliefe- fährlich. Europa braucht Orientierung und Klarheit
rung von Ratko Mladić und Goran Hadžić, die wegen über die eigene Entwicklung. Die derzeitige Bundesre-
Kriegsverbrechen angeklagt sind. Ich möchte in diesem gierung liefert leider das Gegenteil: Sie erzeugt den Ein-
Zusammenhang daran erinnern, dass 2005 die Auf- druck von nationalem Egoismus und verhindert damit
nahme von Beitrittsverhandlungen mit Kroatien so lange nicht nur eine positive Entwicklung in Europa, sondern
hinausgezögert wurde, bis die damalige Chefanklägerin sie schwächt in der Folge auch die dringend notwendige
Carla del Ponte am 4. Oktober 2005 die uneinge- Fähigkeit der EU zu einer Erweiterung in Südosteuropa.
schränkte Zusammenarbeit mit dem Strafgerichtshof be- Im Fall von Serbien ist das besonders bedauerlich.
stätigte. Zwei Monate später wurde der flüchtige Gene- Serbien als ehemaliger Kriegsgegner der NATO im Ko-
ral Gotovina auf Teneriffa festgenommen. Ich glaube, sovo-Krieg 1999 hatte und hat wohl von allen Staaten
dass es sehr wichtig ist, dass wir in dieser Frage eine des ehemaligen Jugoslawiens den weitesten Weg nach
klare und konsequente Linie verfolgen. Europa zu gehen. Umso mehr müssen wir anerkennen,
Zu einer wahrhaftigen Aufarbeitung der Kriegsge- welche Strecke Serbien erfolgreich zurückgelegt hat,
und das Land weiter unterstützend und sehr aufmerksam
(B) schehnisse gehört aber bei allen ehemaligen Beteiligten (D)
noch mehr, zum Beispiel sich zu den historischen Fakten begleiten. Heute hat Serbien bei allen Problemen, auf
zu bekennen, Schuld einzugestehen und sich dafür zu die ich noch zu sprechen kommen werde, auf jeden Fall
entschuldigen und echte Aussöhnung anzustreben. Ich einen europäischen Weg eingeschlagen und manchen
finde, wir sollten hierbei Unterstützung leisten. Nachbarn auf dem Weg nach Europa sogar überholt.
Angesichts dieser Erfolge erwartet und verdient das
Serbien bekommt mit dem Stabilisierungs- und Asso- Land unsere aktive Unterstützung und Begleitung.
ziierungsabkommen eine große Chance. Wir begrüßen Für die Menschen in Serbien selbst stellt sich die Si-
dies und stimmen deshalb dem Gesetzentwurf zu. tuation freilich etwas anders dar. Sie verspüren jetzt
– nach den beschriebenen historischen Umbrüchen –
Günter Gloser (SPD): schmerzlich die Mühen der Ebene. Die europäische
Die Menschen in Südosteuropa vertrauen auf das Orientierung der derzeitigen Regierung wird zwar
Versprechen einer europäischen Perspektive. Mit diesem mehrheitlich von der Bevölkerung mitgetragen – selbst
Ziel vor Augen unternehmen sie große Anstrengungen, in der Kosovo-Frage sind viele Menschen pragmatisch
um ihre Länder an europäische Standards anzupassen. eingestellt –, Inflation, Arbeitslosigkeit, Bürokratie,
Mit diesem Ziel vor Augen muten Politiker in dieser Re- Korruption und organisierte Kriminalität lassen sich
gion ihren Wählerinnen und Wählern harte Reform- aber nicht von heute auf morgen bekämpfen. Wie überall
schritte zu. messen die Menschen eine Regierung letztlich an dem,
was bei ihnen persönlich ankommt.
Deshalb sollten wir Serbien wie auch die anderen Die Erfahrung anderer Reformländer in Mittel-, Ost-
Länder der Region auf ihrem Weg in die Europäische und Südosteuropa zeigt, dass die Zeitspanne kurz ist, in
Union wohlwollend begleiten und unterstützen. Denn der Reformen die volle Unterstützung der Menschen ha-
wenn wir ihnen am Ende ihrer Bemühungen die Tür vor ben. Soziale Härten und wachsende soziale Ungleich-
der Nase zuschlagen, werden wir nicht nur eine Ent- heiten können schnell den Reformeifer untergraben.
wicklungsmöglichkeit für die Europäische Union ver- Deshalb ist es wichtig, dass besonders die wirtschaftli-
passt haben. Wir werden mitten in der EU – denn die che Öffnung und die Modernisierung von Verwaltung
Länder des Balkans sind schließlich vollständig von EU- und Justiz zügig vorangetrieben und die weit verbreitete
Ländern umringt – erneut massive Sicherheitsprobleme Korruption effektiv bekämpft wird.
haben, etwa politische, soziale und ethnische Unruhen,
Migration und möglicherweise auch wieder bewaffnete Dies sind auch aus Sicht der Europäischen Union die
Konflikte. wichtigsten Arbeitsfelder für weitere Reformen. Und

Zu Protokoll gegebene Reden


9078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Günter Gloser
(A) machen wir uns nichts vor: Ohne den freundschaftlichen gen: Serbien muss die notwendigen Bedingungen dafür (C)
Druck aus Brüssel, ohne den ständigen Wettbewerb un- erfüllen. Wir haben hier im Deutschen Bundestag im Ok-
ter den Ländern der Region würde es viele positive Ent- tober einen Antrag beschlossen, in dem wir die Bundes-
wicklungen nicht geben. Deshalb müssen wir kritisch regierung aufgefordert haben, sich für die Weiterleitung
sein. Deshalb dürfen wir keine politischen Rabatte für des Beitrittsantrages Serbiens an die Europäische Kom-
Beitrittskandidaten geben. Deshalb müssen wir aber mission einzusetzen. Das ist in der Zwischenzeit erfolgt.
auch die europäische Perspektive als positiven Anreiz Wir haben in diesem Antrag aber auch ganz deutlich ge-
glaubwürdig anbieten. macht, dass Serbien sich nicht auf bisherigen Fort-
schritten ausruhen darf. Wir haben ganz deutlich die Vo-
Wenden wir uns aber noch einmal der internationalen raussetzungen für die weitere Annäherung benannt. Das
Diplomatie zu: Die nach einigem Zögern doch sehr kon- sind, neben den Kopenhagener Kriterien, eben auch die
struktive Reaktion Belgrads auf das Gutachten des In- beiden folgenden ganz wichtigen Punkte: volle Koope-
ternationalen Gerichtshofs zur Unabhängigkeit des Ko- ration mit dem internationalen Kriegsverbrechertribu-
sovo bedeutete für die serbische Führung ein hohes nal in Den Haag und eine einvernehmliche Grenzrege-
politisches Risiko. Sie hat es auf sich genommen und ist lung mit dem Kosovo. Von diesen Kriterien werden und
mit der formellen Empfehlung der EU-Außenminister können wir nicht abgehen, wenn wir das Wertefunda-
zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zur EU zu- ment und die Handlungsfähigkeit der Europäischen
recht belohnt worden. Union nicht gefährden wollen. Ich habe es immer für
Dieser Punkt entspricht geradezu mustergültig den fair gehalten, das von Anfang an ganz klar zu sagen und
drei Grundprinzipien des Stabilisierungs- und Assoziie- Serbien hier keine falschen Hoffnungen zu machen. Ich
rungsprozesses: nämlich erstens, den Ländern der Re- halte es für besser, von Anfang an die Karten auf den
gion attraktive Anreize für eine europäische Orientie- Tisch zu legen, denn nur dann können wir Serbien auch
rung zu geben und mittelfristig die volle Integration in zusagen, dass es keine weiteren Hürden geben wird.
die EU in Aussicht zu stellen, zweitens dafür auch mutig Wie sieht es nun mit beiden Punkten aus? Die Ge-
Reformschritte und umfassende Kooperation zu verlan- spräche mit dem Kosovo sind in Vorbereitung. Hier gab
gen und drittens die regionale Zusammenarbeit zu inten- es natürlich durch die Neuwahlen im Kosovo Verzöge-
sivieren. rungen. Ich hoffe aber, dass auf der technischen Ebene
Das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen bald Gespräche beginnen können. Wir werden beide Sei-
stellte den Anreiz dar, den Serbien brauchte, um auf ei- ten genau beobachten und auch jeden für sich bewerten.
nen konstruktiven Weg der Auseinandersetzung mit der Niemand muss befürchten, zur Geisel eines anderen ge-
Existenz eines unabhängigen Kosovo einzuschwenken. macht zu werden. Ich warne aktuell aber die serbische
(B) Die Änderung der harten Haltung Serbiens war das Er- Seite ganz ausdrücklich, die vom Europarat veröffent- (D)
gebnis. Das ist eine erhebliche Leistung angesichts der lichten Vorwürfe gegen den amtierenden kosovarischen
Stimmung in dem durch den Verlust des Kosovo noch im- Ministerpräsidenten Hashim Thaći als Vorwand für wei-
mer traumatisierten Land. tere Verzögerungen zu missbrauchen. Diesen Vorwürfen
muss eindeutig nachgegangen werden. Sie sind aber
Die in Aussicht gestellten Verhandlungen zwischen kein Grund, die dringend notwendigen Gespräche über
Serbien und dem Kosovo werden die regionale Zusam- praktische Kooperation zwischen Serbien und Kosovo
menarbeit stärken und zur Einsicht beitragen, dass mit- zu verschieben.
tel- und langfristig beide Seiten ein großes Interesse an
einer umfassenden Zusammenarbeit haben. Wenn sich Die uneingeschränkte Kooperation mit dem interna-
diese Erkenntnis erst durchsetzt, werden sich auch Pro- tionalen Kriegsverbrechertribunal ist unabdingbare Vo-
bleme wie die Situation der serbischen Minderheit im raussetzung für weitere Fortschritte. Hier müssen und
Kosovo oder die Anerkennung von Zolldokumenten des werden wir genau hinschauen. Die letzten Äußerungen
Kosovo durch Serbien lösen lassen. von Chefankläger Brammertz mahnen stärkere Bemü-
hungen Serbiens an. In seinem Bericht vor dem Sicher-
heitsrat der Vereinten Nationen vom 6. Dezember 2010
Dr. Rainer Stinner (FDP): verlangt er von Serbien einen pro-aktiveren Ansatz zu
Die Europäische Union hält Wort, und Deutschland Festnahme von Ratko Mladić und Goran Hadžić. Die
hält Wort: Wir stehen zu der Zusage, dass die Zukunft serbische Regierung müsse deutlicher machen, dass sie
der Länder des westlichen Balkans in der Europäischen Unterstützungsnetzwerke nicht toleriere, sondern im
Union liegt. Wir gehen dabei Schritt für Schritt vor, und Gegenteil jede Unterstützung der Angeklagten bei ihrer
nun steht ein weiterer konkreter Schritt an. Die Bundes- Flucht strafbar sei. Der Schlüssel zur Festnahme von
regierung hat dem Deutschen Bundestag das Assoziie- Mladić und Hadžić liegt nach Brammertz in Serbien.
rungs- und Stabilisierungsabkommen der Europäischen Hier muss es also dringend klarere Bemühungen geben.
Union mit Serbien zur Ratifizierung vorgelegt, und die
FDP unterstützt diesen Antrag. Das ist auch mein Appell an die serbische Regierung:
Unterstützten Sie uns deutsche Politiker durch gute
Diese Ratifizierung ist, gemeinsam mit der Weiterlei- Nachrichten aus Ihrem Land. Wir haben in Deutschland
tung des serbischen Beitrittsantrages an die Kommis- und in der gesamten EU eine gewisse Erweiterungsmü-
sion, ein klares Signal an Serbien, dass wir Serbiens digkeit. Wir Politiker in Deutschland werden dauerhaft
Weg in die Europäische Union voll und ganz unterstüt- unsere Wählerinnen und Wähler nur dann von neuen
zen. Ich will hier aber auch noch einmal ganz klar sa- Beitritten überzeugen können, wenn wir substanzielle

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9079
Dr. Rainer Stinner
(A) Fortschritte der Kandidatenländer vorweisen können. eigenes Gesetz und nicht das Völkerrecht. Dieses Gesetz (C)
Politische Rabatte kann sich die Europäische Union schreiben wir in Brüssel, und wir schreiben es in jedem
nicht mehr leisten, und es wird sie auch nicht mehr ge- Fall neu, je nach unseren Interessen. Deshalb erklären
ben. Die Tür zur Europäischen Union bleibt offen. Den wir die Abspaltung des Kosovo für legitim, während wir
Weg hindurch gehen müssen die Länder selber. Dazu er- drohen, die Unabhängigkeit der Republik Srpska von
folgt jetzt hier ein weiterer wichtiger Schritt. Ich hoffe Bosnien und Herzegowina notfalls auch mit Waffenge-
und wünsche mir eine Entwicklung in Serbien, die uns walt zu verhindern.
ermöglicht, weitere Schritte schnell folgen zu lassen.
Es ging damals um einen Resolutionsentwurf, den
Serbien in die UN-Vollversammlung eingebracht hatte,
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): der erneut – im Einklang mit dem Völkerrecht und den
Der deutsche Außenminister Westerwelle ließ in sei- vorangegangenen UN-Resolutionen – die Prinzipien der
ner Pressemitteilung zur Wahl im Kosovo am vergange- Souveränität und territorialen Unversehrtheit betonte
nen Wochenende verlauten: und neue Statusverhandlungen im Rahmen der UN ein-
Ich bin zuversichtlich, dass der 12. Dezember ein er- forderte. Deutschland drohte damals, die Weiterleitung
folgreicher Tag für die Demokratie und die Menschen in des serbischen Beitrittsersuchens zur EU nicht an die
diesem jungen Staat wird. Kommission weiterzuleiten, sollte Serbien von diesem
Entwurf nicht Abstand nehmen. Serbien knickte ein und
Nach der Wahl hieß es in einer gemeinsamen Erklä- brachte stattdessen einen neuen Entwurf ein, in dem die
rung der EU-Außenbeauftragten Ashton und des EU-Er- EU aufgefordert wurde, einen Dialog zwischen Belgrad
weiterungskommissars Stefan Füle: und Pristina zu moderieren. Deutschland hat somit ver-
Wir freuen uns darauf, mit der neuen kosovarischen hindert, dass die UN-Vollversammlung im Namen des
Regierung zusammenzuarbeiten und baldmöglichst den Völkerrechts zur Sezession des Kosovo Stellung nehmen
Dialog zwischen Pristina und Belgrad zu beginnen. konnte und somit tatsächlich das Völkerrecht durch ein
Brüsseler Recht ersetzt.
Einen Tag zuvor hatte der Europarat einen Bericht
von Dick Marty veröffentlicht, nach dem der wiederge- In diesem Zusammenhang ist auch zu verstehen, wa-
wählte kosovarische „Regierungschef“ Hashim Thaci rum wir erst heute über den vorliegenden Gesetzentwurf
während des NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien debattieren, mit dem ein Abkommen vom Frühjahr 2008
schwere Kriegsverbrechen an Serben begangen habe – ratifiziert werden soll. Das Stabilisierungsabkommen,
ein Krieg, den die damalige rot-grüne Bundesregierung über das wir heute diskutieren, ist datiert auf den
mit teilweise gefälschten Berichten über serbische Mas- 29. April 2008. Abgeschlossen wurde es zu diesem Zeit-
(B) saker und „Hufeisenpläne“ begründete. Aus dem Be- punkt, um die Pro-EU-Kräfte bei den damals stattfin- (D)
richt geht auch hervor, dass Thaci bis heute ein führen- denden Parlamentswahlen in Serbien zu stärken. Dass
der Kopf des organisierten Verbrechens sei und sich das Abkommen so bald nicht ratifiziert würde, wurde
wegen seiner politischen Ämter und seiner guten Kon- schon damals offen ausgesprochen.
takte zu westlichen Regierungen und Geheimdiensten Die Linke warnt davor, den EU-Beitrittsprozess zur
„unberührbar“ fühle. Die NATO, die EULEX, der Inter- Aushebelung des Völkerrechts zu missbrauchen. Das
nationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugosla- Völkerrecht gilt auch für Europa, und die Kriegsverbre-
wien und sämtliche westlichen Geheimdienste wüssten cher aller Seiten müssen im gleichen Maße verfolgt wer-
von den schmutzigen Geschäften der kosovarischen den. Sie können nicht die einen vor Gericht stellen und
„Regierungen“, hätten aber ihre Ermittlungen auf poli- die anderen zum „Regierungschef“ eines illegitimen
tischen Druck hin eingestellt. Laut dem Bericht des Eu- Mafiastaates machen. Die Linke fordert die Bundesre-
roparates hätten sie sogar Beweismittel vernichtet. gierung auf: Kündigen Sie den Pakt mit dem Teufel, und
Das verwundert kaum. Denn es war Hashim Thaci, geben Sie Ihre Unterstützung für die Sezession des Ko-
der nach Verhandlungen mit der deutschen und den eu- sovo auf!
ropäischen Regierungen im Februar 2008 die Unabhän-
Zuletzt noch zum Inhalt dieses Abkommens, der hier
gigkeitserklärung des Kosovo ankündigte, die bereits
leider sehr kurz kommt, da das Abkommen instrumenta-
nach wenigen Tagen von der deutschen Regierung aner-
lisiert wurde. Das Abkommen zwingt Serbien – ich zi-
kannt wurde. Der deutsche Geheimdienst warnte damals
tiere aus dem Gesetzentwurf –, „seinen Außenhandel ge-
schon, hier werde ein Mafiastaat errichtet. Ende August
genüber der Union vollständig zu liberalisieren“.
traf sich Westerwelle noch mit Thaci, schüttelte – wie zu-
Dadurch sollen – ich zitiere weiter – „deutschen Unter-
vor schon seine grünen und rosaroten Vorgänger
nehmen verbesserte Exportchancen“ geboten und „die
Fischer und Steinmeier – diesem Kriegsverbrecher die
Niederlassung von Unternehmen aus der Europäischen
Hand und brüstete sich damit, dass Deutschland „einer
Union in Serbien“ erleichtert werden. Schon heute
der ersten Staaten“ war, „die die Republik Kosovo als
drängen deutsche Telekommunikations- und Energie-
unabhängigen Staat anerkannt haben“.
unternehmen massiv auf den serbischen Markt, was zu
Bundesaußenminister Westerwelle wurde bei seiner steigenden Preisen für die Bevölkerung führen wird.
damaligen Reise auf den Balkan nicht müde, auch den Zugleich wird Serbien gezwungen, Löhne und Sozialleis-
folgenden Satz zu sagen: „Das, was uns betrifft, gehört tungen drastisch zu kürzen, um, wie es heißt, „dem Wett-
nach Brüssel und nicht nach New York.“ Was er damit bewerbsdruck und den Marktkräften in der Europäi-
gemeint hat, war unverblümt: Hier in Europa gilt unser schen Union standhalten zu können“. Zugleich lehnt die

Zu Protokoll gegebene Reden


9080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Sevim Dağdelen
Daðdelen
(A) Bundesregierung jeden „Beitrittsautomatismus“ ab. Es gibt ein miteinander verflochtenes Dreieck aus (C)
Das heißt: Selbst wenn Serbien all diese neoliberalen Serbien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo. Sie
Reformen durchführt, wird es vermutlich niemals selbst alle wollen in die EU, und sie alle sollen in die EU. Ein
in die EU aufgenommen werden und mitbestimmen kön- schwarzes Loch in ihrer Mitte kann sich die EU auf
nen. Erkauft wird dieses Abkommen mit Heranführungs- Dauer nicht leisten. Dazu müssen jedoch die Beziehun-
hilfen und Darlehen in Milliardenhöhe. Wenn diese ei- gen zwischen diesen drei Nachbarn verbessert werden.
nes Tages versiegen, wird sich die EU mit dem nächsten Was sie entwickeln müssen, ist konstruktive Zusammen-
völlig verarmten und verschuldeten Staat an ihrer Peri- arbeit.
pherie konfrontiert sehen. Mit ihrer neoliberalen Politik
Vor einigen Wochen habe ich hier im Plenum eine fal-
arbeitet die Bundesregierung mitten in der Krise schon
sche Information verbreitet. Dafür möchte ich mich ent-
an den Zusammenbrüchen und Aufständen von morgen.
schuldigen und das heute richtigstellen. Die serbische
Die Linke lehnt diesen Irrweg ab und fordert eine Ab- Regierung war trotz vorheriger Ankündigung nicht ge-
kehr vom Neoliberalismus und eine Rückkehr zum Völ- schlossen zur Amtseinführung des neuen serbischen Pa-
kerrecht. Maxime deutscher Außenpolitik muss Demo- triarchen in das kosovarische Pec gereist, und Serbien
kratie, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit sein. beansprucht auch nicht diese Stadt, wie es das im Fall
von Nord-Mitrovica tut. In Pec steht das Patriarchats-
kloster, dessen Schutz Serbien beansprucht und auch er-
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hält.
NEN):
Aber Serbien beharrt auf dem Kosovo als Teil seines
Das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen Staates und erschwert so die Stabilisierung des Kosovo.
zwischen der Europäischen Union und Serbien ist ein Verschiedene internationale Institutionen agieren des-
wichtiger Schritt für beide Seiten. Er bringt das Land halb dort nebeneinander und stehen sich oft genug im
der EU näher, und er trägt dazu bei, im noch immer Weg. Eine dynamische Wirtschaft kann so kaum entste-
glimmenden Krisenherd mitten in Europa die Vorausset- hen.
zungen für eine sich dynamisch entwickelnde Region zu
schaffen. Das ist jedenfalls die Hoffnung, die wir sicher Problematisch bleibt auch die Entwicklung Bosnien-
hier im Bundestag und in der EU alle gemeinsam teilen. Herzegowinas. Noch immer ist das Land blockiert durch
Deshalb begrüßen wir dieses Abkommen als Chance das Fehlen einer modernen Verfassung. Der Vertrag von
und nicht zuletzt als Signal an Serbien. Dayton bleibt Grundlage und Hürde zugleich. Und der
serbische Präsident Tadic tritt im Wahlkampf mit dem
Wir tun dies, obwohl nach wie vor eine der lange Zeit härtesten Blockierer einer Verfassungsreform, dem Prä-
(B) geltenden Bedingungen für sein Zustandekommen nicht sidenten der serbischen Teilrepublik Dodik, und der frü- (D)
erfüllt ist: die Überstellung von Ratko Mladić und heren Vertrauten des Serbenführers Karadzić Biljana
Goran Hadžić nach Den Haag. Mehr noch: Der jüngste Plavsić auf.
Bericht des Chefanklägers zur Bewertung der Zusam-
menarbeit Serbiens mit dem Internationalen Gerichtshof Die beiden Staaten, die Hauptopfer der Kriege wa-
ist deutlich kritisch. Er formuliert es natürlich diploma- ren, bleiben auch heute zurück, und Serbien tut sich
tisch, aber es ist zu verstehen: Nach wie vor fehlt der schwer mit seiner Vergangenheit und Gegenwart.
politische Wille in Serbien, diese Bedingung zu erfüllen. Deutschland und die EU, involviert in die Geschichte
Brammertz fordert zugleich – wiederum verklausuliert – der Kriege und mitverantwortlich für ihr Ende, sind an-
anhaltenden Druck seitens der EU, ohne den eine Aus- gesichts des Reformstaus in den Ländern des Balkans
lieferung der Beschuldigten wohl kaum zu erwarten sei. müde geworden. Jetzt werden auch die Mittel zur Unter-
stützung der Region gekürzt. Aber wir brauchen Dyna-
Es steht also noch viel Arbeit bevor, die eigentlich vor mik und Anstrengungen. Wir brauchen ständiges und
der Geltung des Stabilisierungsabkommens zu leisten anhaltendes, ernsthaftes Engagement. Das aber fehlt,
gewesen wäre. Aber auch das Abkommen selbst ist zu- teils in der Region selbst, teils in der EU.
gleich ein Katalog zu erfüllender Aufgaben – und auch Außenminister Westerwelle hat mit seinem ersten und
dies für beide Seiten. Denn es verpflichtet die EU zu bisher einzigen Besuch zur Entspannung im serbisch-ko-
dauerhaftem und verstärktem Engagement, und es ver- sovarischen Verhältnis beigetragen. Vor Zeiten gab es
pflichtet Serbien zur Erfüllung der Bedingungen, derer Außenminister, die in anderen Regionen monatelange
es zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen bedarf. Pendeldiplomatie betrieben, um Einigungen zu erzielen,
Dabei geht es nicht allein um innenpolitische Entwick- Verhandlungen voranzubringen. Ich wünschte mir einen
lungen, sondern auch um intensivierte regionale Koope- deutschen Außenminister, der heute dasselbe auf dem
ration. westlichen Balkan tut und der für die Anerkennung der
staatlichen Realitäten auch in der EU wirbt, um dort
Denn trotz aller Fortschritte ist die ganze Region im
endlich Geschlossenheit zu erzielen.
Südosten Europas nach wie vor eine ernsthafte Heraus-
forderung für die europäische und nicht zuletzt deutsche
Politik. Deutschland als größter Staat der EU und Ver- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ursacher eines Teils der historischen Lasten in Südost- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
europa in den großen Kriegen des vergangen Jahrhun- wurfs auf Drucksache 17/3963 an die in der Tagesord-
derts hat hier besondere Verantwortung. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9081
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) anderweitige Vorschläge dazu? – Das ist nicht der Fall. jekt wurde nicht zuletzt von Ihrer Fraktion im Haus- (C)
Dann ist die Überweisung so beschlossen. haltsausschuss zu Fall gebracht. Von einer konstrukti-
ven Opposition keine Spur.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Auch Ihre Einlassungen zur Energieproblematik sind
Beratung des Antrags der Abgeordneten René
realitätsfremd. So behaupten Sie in Ihrem Antrag, die
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
Fusionsforschung käme als Energiequelle definitiv zu
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
spät. Dabei ist bekannt, dass noch in diesem Jahrhun-
Fraktion der SPD
dert der weltweite Strombedarf etwa auf das Sechsfache
Für eine Stärkung der breit aufgestellten euro- des heutigen Bedarfs ansteigen wird. Selbst Greenpeace
päischen Grundlagenforschung – Keine finan- rechnet mit einer Vervierfachung des Bedarfs. Dieser
ziellen Einschnitte beim Europäischen For- von Experten prognostizierte Bedarf an Energie ist mit
schungsrat zu Gunsten des Einzelprojekts keiner der heute bekannten Technologien zu decken,
ITER auch nicht etwa mit regenerativen Energien.
– Drucksache 17/3483 – Die Fusionsenergie verspricht vor diesem Hinter-
Überweisungsvorschlag: grund gegenüber den bekannten Energiequellen derart
Ausschuss für Bildung, Forschung und große Vorteile, dass sich alle Anstrengungen lohnen, ihr
Technikfolgenabschätzung (f) zum Durchbruch zu verhelfen. Das gilt im Übrigen auch
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
dann, wenn man das Projekt noch der Grundlagenfor-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union schung zurechnet. Funktioniert die Kernfusion wie ge-
Haushaltsausschuss plant, können wir unseren Energiebedarf ab der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts einfach und sauber decken.
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Lassen Sie mich Ihnen nur vier Punkte zu bedenken ge-
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
ben:
gende Kolleginnen und Kollegen: Stefan Kaufmann,
René Röspel, Martin Neumann, Petra Sitte und Sylvia Erstens: Die für den Fusionsprozess nötigen Grund-
Kotting-Uhl. stoffe – einerseits Deuterium, das in natürlichem Wasser
enthalten ist, andererseits Tritium, das aus Lithium ge-
Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): wonnen wird – sind nahezu überall auf dieser Welt vor-
Das Grundanliegen des vorliegenden Antrags der handen; der Vorrat ist nach menschlichen Maßstäben
SPD – Stärkung des Europäischen Forschungsrates unerschöpflich. Da die Fusionstechnik eine extrem hohe
– ERC – und eine ausgewogene Finanzierung des ITER- Energiekonzentration zur Folge hat, wird im Gegensatz
(B)
Projektes – ist richtig. Auch die Forderung nach Verrin- zur Solar-, Wind- und Wasserkraft auch nur sehr wenig (D)
gerung von administrativen Hürden für den ERC erhält Fläche verbraucht. Klimatische Schwankungen haben
unsere Unterstützung. – wie auch bei der Kernspaltung – keinerlei Einfluss auf
die Fusion. Gerade deshalb ist die Kernfusion ideal für
Die Bundesregierung ist jedoch schon weiter als die die Grundlastversorgung von Ballungsräumen sowie
Opposition: der Großindustrie.
Bereits im Frühjahr 2010 hat die Bundesregierung in Zweitens: Bei der Kernfusion entstehen praktisch kei-
einem Leitlinienpapier die deutschen Vorstellungen für nerlei CO2-Emissionen. Es ist eine saubere Ener-
die Struktur des 8. Forschungsrahmenprogrammes der gieform. Wir dürfen daher die Kernfusion – anders als
EU-Kommission übermittelt. Dieses Leitlinienpapier Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in
beinhaltet auch eine finanzielle und administrative Stär- Abs. 2 Ihres Antrags – nicht gegen die Förderung erneu-
kung des ERC. Außerdem gehen die Schlussfolgerungen erbarer Energien und der Energieeffizienz ausspielen.
des Europäischen Rates vom Juli mit dem Ziel einer bes- Bei der harten internationalen Konkurrenz liegt die Zu-
seren Kostenkontrolle und einer Verbesserung des Ma- kunft Deutschlands als Innovationsstandort in der For-
nagements bei ITER auf die Initiative der Bundesregie- schung. Die Fortführung von ITER hat also nichts damit
rung zurück. Vor diesem Hintergrund fordern Sie nur, zu tun, die Förderung erneuerbarer Energien oder For-
was die Bundesregierung schon lange getan hat. schungsausgaben in diesem Bereich zurückzufahren. Im
Ihre weiteren Forderungen, zum Beispiel jene, dafür Übrigen ist die Kernfusion aufgrund der faktisch unbe-
Sorge zu tragen, dass ITER nicht auf Kosten gut funktio- grenzten Verfügbarkeit ihres Brennstoffs den erneuerba-
nierender und auch international als innovativ bewerte- ren Energien gleichzustellen.
ter Institutionen und Projekte finanziert wird oder dass Drittens: Die Kernfusionstechnologie bietet auch jen-
ITER nicht auf Kosten der Erforschung und Nutzung der seits der Energiegewinnung im Kraftwerk bahnbre-
erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz finan- chende Entwicklungsmöglichkeiten. So ist beispiels-
ziert wird, sind eher dazu bestimmt, das ITER-Projekt weise eine Weiterentwicklung für den wichtigen Bereich
zum Scheitern zu bringen. Auch das Abstimmungsver- der Antriebstechnik vorstellbar.
halten Ihrer Parteikollegen im Haushaltsausschuss des
Europäischen Parlaments macht dies deutlich. Der am Viertens: Wir stehen in internationaler Verantwor-
6. Dezember im Trilog mit Rat, Kommission und Vertre- tung. Wie Sie in Ihrem Antrag hervorheben, sind am
tern des EP mühsam ausgehandelte Kompromiss über ITER-Projekt neben der EU auch Japan, Russland, die
die Bereitstellung zusätzlicher Mittel für das ITER-Pro- USA, China, Indien und Südkorea beteiligt. Das bietet
9082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Stefan Kaufmann


(A) Chancen, setzt uns aber auch einer erhöhten Beobach- René Röspel (SPD): (C)
tung aus. Unsere Partner beobachten sehr genau, wie Letzte Woche waren wir auf Ausschussdelegations-
sich die Bundesrepublik bei diesem wichtigen, zukunfts- reise in Brüssel. Gemeinsam haben wir mit Experten der
weisenden Projekt verhält. Auch das verpflichtet uns zu Ständigen Vertretung, des Europäischen Parlaments,
einer sehr gewissenhaften Prüfung des weiteren Vorge- der Europäischen Kommission, des Europäischen Rates,
hens. Bei einem Ausstieg müssen insbesondere die Aus- der deutschen Forschungsorganisationen und der Wirt-
wirkungen auf die europäische Forschungszusammen- schaft über die europäische Forschungspolitik gespro-
arbeit, auf die deutschen Fusionsprojekte in Garching chen. Das waren zwei sehr intensive und hoch span-
und Greifswald, aber auch auf andere deutsche Großfor- nende Tage, für deren Organisation ich mich hier noch
schungsprojekte mit internationaler Beteiligung wie einmal ganz ausdrücklich bei den Mitarbeiterinnen und
XFEL in Hamburg und FAIR in Darmstadt geprüft wer-
Mitarbeitern der Ständigen Vertretung und des Deut-
den. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass unsere deut-
schen Bundestages bedanken möchte.
schen Forschungseinrichtungen, zum Beispiel die Helm-
holtz-Zentren in Jülich und am KIT in Karlsruhe, vor Ich glaube, keiner der Delegationsteilnehmerinnen
allem aber das IPP in Garching, bisher überproportio- und -teilnehmer widerspricht, wenn ich zusammenfas-
nal von den Euratom-Mitteln für ITER profitiert haben. send sage, dass alle Vertreter eine europäische For-
Ohne ITER ist Garching in seiner Existenz bedroht, schungsinstitution am meisten gelobt haben: den Euro-
ohne ITER fehlt Wendelstein 7-X in Greifswald bzw. dem päischen Forschungsrat – ERC. Dieses seit 2007 auf der
Nachfolger DEMO ab circa 2025 die Perspektive. europäischen Ebene neue Instrument ist Bestandteil des
Die deutsch-französische Zusammenarbeit und 7. Forschungsrahmenprogramms – FRP. Die Deutsche
Freundschaft könnte aufgrund des ITER-Sitzes in Cada- Forschungsgemeinschaft – DFG – hat dabei in Bezug
rache und des damit zusammenhängenden starken fran- auf Arbeitsweise und Strukturen Pate gestanden. Wie bei
zösischen Interesses am Projekt in Mitleidenschaft gezo- der DFG fördert der ERC einzelne Wissenschaftlerinnen
gen werden. Auch diese Überlegungen gehören zu einem und Wissenschaftler aller Fachrichtungen der Grundla-
ehrlichen Umgang mit der Zukunft von ITER. Eine ein- genforschung. Die Umsetzung des Bottom-up-Prinzips,
seitige Kündigung des ITER-Abkommens ist – abgese- Projekte werden dabei von der Basis her von Wissen-
hen von den außenpolitischen Verwerfungen – auch for- schaftlerinnen und Wissenschaftlern entwickelt und
schungs- und umweltpolitisch unverantwortlich. Das allein nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten bewer-
ITER-Abkommen enthält im Übrigen auch keine Rück- tet, ist hierbei ein Kernelement der Förderung. Eine
trittsmöglichkeit für Euratom als einem der Vertrags- Steuerung „von oben“ etwa seitens der EU-Kommission
partner. Gemäß Art. 24 Abs. 6 ist die Beendigung des soll nicht stattfinden. Dies ist für die europäische For-
(B) Vertrages nur durch eine Vereinbarung aller Partner schungsförderung ein neues Prinzip. (D)
möglich.
Für den Zeitraum 2007 bis 2013 stehen für den ERC
Wir – die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP – circa 7,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Diese werden
bekennen uns zur Fusionsforschung, weil wir die darin als „starting grants“ für junge Wissenschaftlerinnen
liegenden immensen Chancen zur Sicherung unserer und Wissenschaftler sowie als „advanced grants“ an be-
Energieversorgung über das Jahr 2050 hinaus sehen. reits etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
Die Kernfusion ist eine der wichtigsten Zukunftstechno- ler vergeben. Die Nationalität der Bewerberinnen und
logien überhaupt.
Bewerber spielt dabei keine Rolle; sie müssen aber in-
Bei Ihnen hingegen, liebe Kolleginnen und Kollegen nerhalb der EU oder in den assoziierten Staaten for-
von der SPD, lässt sich keine klare Position erkennen. schen. Dass die ausgewählten Wissenschaftlerinnen und
Einerseits erklären Sie Ihre grundsätzliche Zustimmung Wissenschaftler zur weltweiten wissenschaftlichen Spit-
zum ITER-Projekt und beschreiben in Ihrem Antrag die zenklasse gehören, zeigt exemplarisch die Verleihung
Fusionsforschung als einen „spannenden Forschungs- des diesjährigen Nobelpreis für Physik an Kostya
bereich“, dessen „Vorteile die dafür langfristig verfüg- Novoselov. Herr Novoselov erhielt bereits 2008 einen
baren Ressourcen und die relative Umweltverträglich- „starting grant“.
keit im Vergleich zur Kernspaltung sind“. Andererseits
versuchen Sie alles, um das Projekt zu torpedieren. Dies Dr. Jack Metthey, Direktor der ERC Executive
ist ein erneutes Beispiel für die unklare Haltung der So- Agency, erklärte uns letzte Woche in Brüssel, dass im
zialdemokraten zu beinahe allen politischen Themen. Es Vergleich zum Durchschnitt die Bewerbungen von Deut-
ist schade, dass Sie in der Opposition immer mehr die schen für einen ERC-Grant überproportional positiv be-
Regierungsfähigkeit verlieren, sich mehr und mehr den schieden wurden. Hier wirkt sich wohl die gute Vorbe-
Grünen annähern und offensichtlich eine zweite Dage- reitung der Anträge aus, unter anderem durch die DFG.
genpartei werden wollen. Feststellen muss man aber auch, dass wir Deutschen
„Exporteure von Talenten“ sind. Denn viele deutsche
Festzuhalten bleibt: Genau wie bei Stuttgart 21 ist
Staatsbürger, die einen Grant gewinnen, forschen mit
unklar, ob die SPD das ITER-Projekt unterstützt oder
diesem Geld im europäischen Ausland, insbesondere in
nicht. Bekennen Sie Farbe und sagen Sie endlich, ob Sie
Großbritannien. Auch ziehen wir immer noch zu wenig
für oder gegen das ITER-Projekt sind.
ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
Wir stimmen jedenfalls mit voller Überzeugung gegen nach Deutschland. Hier müssen wir auf Bundes-, aber
Ihren Antrag. auch Landesebene unbedingt nachbessern.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9083
René Röspel
(A) Bei aller Euphorie für das Instrument war bei der De- scheinlicher. Wir als SPD-Bundestagsfraktion lehnen (C)
legationsreise aber auch nicht zu überhören, dass die dies ab.
Administration des ERC durchaus noch verbesserungs-
fähig ist. Das betrifft die administrativen Regularien für Ob die Kernfusion in der Zukunft wirklich zu einer
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber beson- bezahlbaren und sicheren Energiequelle wird, ist voll-
ders auch die institutionelle Anbindung des ERC und kommen unklar. Herausfinden werden das unsere Nach-
damit die Sicherstellung des Bottom-up-Prinzips. nachfolger frühestens 2050. Fusionsforschung ist ein
spannender Forschungsbereich. Für die bereits heute
So wie das Thema ERC bei unseren Gesprächspart- nötige Energiewende kommt sie als Energiequelle aber
nern die Augen leuchten ließ, so verdrehten sie diese bei definitiv zu spät. Wir als SPD-Bundestagfraktion fänden
einem anderen Thema: dem Internationalen Thermonu- es nicht hinnehmbar, wenn ITER auf Kosten regenerati-
klearen Experimental-Reaktor, kurz ITER. Dabei han- ver Energiequellen finanziert werden würde. Nicht ak-
delt es sich um ein gemeinsames Projekt der EU, zeptierbar wäre es außerdem – und ich glaube, da sind
Japans, Russlands, der USA, Chinas, Indiens und Süd- wir uns in diesem Hohen Hause einig – wenn ITER auf
koreas zum Bau und Unterhalt eines Fusionsforschungs- Kosten des bereits heute überaus erfolgreichen ERC ge-
reaktors. In diesem Reaktor sollen Abläufe, die in der baut werden würde. Ein einziges Forschungsprojekt darf
Sonne stattfinden, in einem Kraftwerk nachempfunden einfach nicht auf Kosten aller anderen Forschungsberei-
werden. Als Standort wurde das französische Cadarache che durchgedrückt werden. Dr. Metthey wies in seinem
gewählt. Die EU trägt 45,5 Prozent der Kosten. Im Un- Vortrag darauf hin, dass die Einrichtung des ERC ohne
terschied zum ERC handelt es sich bei ITER um ein typi- die starke Unterstützung Deutschlands nicht möglich
sches Top-down-Projekt. Dies bedeutet, dass über die gewesen wäre. Der ERC benötigt auch weiterhin diesen
Förderung des Projektes maßgeblich auf politischer Beistand. Eine einstimmige Unterstützung durch den
Ebene entschieden wurde und wird. Deutschen Bundestag wäre deshalb aus meiner Sicht
wünschenswert.
Was unseren Gesprächspartnern in Brüssel – und ich
denke, uns geht es dabei ähnlich – bei dem Thema be-
sonders übel aufstieß, sind die bekannt gewordenen Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):
enormen Kostensteigerungen für das Projekt. Nach ak- Bei der Fusionsforschung geht es um die Auswirkun-
tuellen Informationen werden die Baukosten für ITER gen von Strömungen auf die Stabilität der magnetisch
auf über 15 Milliarden Euro steigen, was eine Verdreifa- eingeschlossenen Plasmen und auf den Transport von
chung der ursprünglichen Kosten bedeutet. Für die EU Energie und Teilchen aus dem Plasma heraus. Das
heißt dies einen Kostenanstieg auf circa 7,2 Milliarden große Ziel der weltweiten Fusionsforschung ist es, ein
Euro, im Vergleich zu den 2,7 Milliarden Euro, die bei heißes Gas aus Wasserstoff möglichst lange und stabil in (D)
(B)
Vertragsunterzeichnung vereinbart waren. Diese Gelder einem Magnetfeldkäfig zusammenzuhalten, um so die
sollen nach der Entscheidung des Europäischen Rates Energieerzeugung durch Verschmelzung der Teilchen
aus dem EU-Haushalt fließen. Allein für die Jahre 2012 nach dem Vorbild der Sonne in einem Kraftwerk auf der
und 2013 klafft nach heutigen Informationen eine Erde zu verwirklichen. Diesem Ziel wollen die Forscher
Finanzierungslücke von 1,3 Milliarden Euro. Ein großer in Zukunft mit dem Fusionsexperiment ITER näherkom-
Teil soll davon aus dem EU-Forschungsbudget gegenfi- men. Auf dem Weg zur Nutzung der Fusionsenergie sind
nanziert werden, was nachhaltig negative Auswirkungen aber nicht nur einige technische, sondern auch noch
auf die gesamte europäische Forschungslandschaft ha- grundlegende physikalische Fragen zu lösen.
ben könnte. Frau Professor Helga Nowotny, die Gene-
ralsekretärin des ERC, sieht deshalb die Gefahr, dass Das ist Ihnen alles bekannt, und dennoch habe ich
auch am ERC gespart werden könnte. Das ist sicher immer wieder den Eindruck, dass die Kollegen der Op-
keine abwegige Einschätzung. position, insbesondere Bündnis 90/Die Grünen, die Fu-
sionsforschung zu einseitig betrachten. Immer wieder
Eigentlich hatten sich Rat, Kommission und Vertreter höre ich die gleichen Sätze: Bis ITER Energie erzeugt,
des Europäischen Parlaments letzte Woche auf einen vergehen noch vierzig Jahre und mehr. Das lohnt sich
Haushaltskompromiss geeinigt. Geplant waren Budget- nicht. – Es geht aber bei dem Fusionsreaktor ITER nicht
umschichtungen im Bereich 1a (Wettbewerbsfähigkeit) ausschließlich um die Stromerzeugung. ITER ist ein For-
und 2 (Landwirtschaft) für den Zeitraum 2010 bis 2013. schungsreaktor. Er dient dem Erkenntnisgewinn zur
Dieser Vorschlag ist aber vom Europäischen Parlament Plasmaforschung. Was kann Plasma, was tut es unter
abgelehnt worden. Eine Entscheidung über die ITER- bestimmten Bedingungen usw.? Hier geht es um Grund-
Finanzierung ist nun mit ungewissem Ausgang auf 2011 lagenforschung, und die muss finanziert werden, aber
verschoben worden. Wie mögliche Erhöhungen nach nicht unter den gegenwärtigen Voraussetzungen und
2013, die bei diesem Mammutprojekt leider auch für die schon gar nicht zum Nachteil anderer Forschungsvorha-
Zukunft nicht ausgeschlossen werden können, abgefan- ben.
gen werden, ist noch vollkommen unklar. Die Kommis-
sion hat bereits vorgeschlagen, diese bzw. ähnliche Pro- Die Ergebnisse des Rates für Wettbewerbsfähigkeit
jekte in Zukunft nicht mehr aus dem allgemeinen EU- vom 26. November 2010 stellen die geplante Finanzie-
Haushalt, sondern über einen extra Topf zu finanzieren. rung des europäischen Großprojektes ITER vor neue
Woher das Geld dafür kommen soll, ist ebenfalls noch Herausforderungen. Die Ergebnisse machen ganz deut-
vollkommen unklar. Eine stärkere finanzielle Beteili- lich, dass es nach wie vor einen erheblichen Handlungs-
gung der Mitgliedstaaten an ITER wird somit wahr- bedarf bei der Finanzierung gibt und dass das Projekt

Zu Protokoll gegebene Reden


9084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Martin Neumann (Lausitz)


(A) innerhalb kurzer Zeit auf eine nachhaltige finanzielle mit enormen Mitteln fördern. Wir wollen in die Zukunft (C)
Grundlage gestellt werden muss. Dem stimmen wir voll investieren.
und ganz zu. Kostendeckelung, nachvollziehbare Kon-
trollmechanismen und gutes Management sind dafür die Die bisher geleisteten Forschungsarbeiten dürfen
Basis. nicht vergeblich gewesen sein. Deswegen wird das Fu-
sionsforschungsprojekt ITER, auch wenn wir zukünftige
Das Großprojekt ITER aber einfach fallen zu lassen, Entwicklungen aufmerksam und kritisch beobachten
halten wir nach wie vor für den falschen Ansatz. Denn und analysieren müssen, von der Bundesregierung nach
ein Scheitern des Projektes kommt aus forschungspoliti- wie vor befürwortet und unterstützt. Denn der ITER wird
scher Betrachtung einem immensen Gesichtsverlust bahnbrechende Forschungs- und Entwicklungsarbeit er-
gleich. Internationale Partner jetzt im Regen stehen zu möglichen.
lassen, hätte auch für andere internationale Projekte fa-
tale Auswirkungen. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE):
Es ist unstrittig, dass bei der Finanzierung des Pro- Das Megaprojekt ITER, der Versuchsreaktor zur Er-
jektes sowie bei der Arbeitsweise des Managements probung der Kernfusion, beschäftigt uns hier seit länge-
noch erheblicher Klärungsbedarf besteht. Der erste Lö- rem. Aktuell geht es um die Frage, wie kurzfristig
sungsvorschlag ist nicht, wie wir gehofft hatten, akzep- 1,4 Milliarden Euro aufgebracht werden können, um
tiert worden. Das zwingt uns zu neuen strategischen und überhaupt weiter planen zu können. Denn bereits vor
finanzplanerischen Überlegungen. dem eigentlichen Baubeginn sind die Kosten explodiert
und lassen sich auch weiterhin kaum verlässlich planen.
Aus den Berichten der Kommission werden zwei
Das ist auch der Haken am vorliegenden SPD-An-
grundlegende Probleme in der Konzeption um das For-
trag: Die Geschichte der bisherigen ITER-Planung
schungsprojekt sichtbar: die Finanzierung auf der einen
zeigt, dass die Kosten nicht beherrschbar sind, also
Seite und die konzeptionelle Umsetzung und Controlling
auch nicht zuverlässig gedeckelt werden können, wie
auf der anderen Seite. Von Anfang an hätten reale wirt-
dies die Kolleginnen und Kollegen in ihrem Antrag for-
schaftliche Kennzahlen und ökonomische Gesetzmäßig-
dern. Wir treten seit langem dafür ein, aus diesem Pro-
keiten dem Vorhaben zugrunde gelegt werden müssen.
jekt auszusteigen, bevor unumkehrbare Tatsachen ge-
Die Kalkulation rechnete damals mit einer Gesamt- schaffen werden – nicht weil wir technikfeindlich sind,
summe der Kosten von 5,5 Milliarden Euro. Jetzt sind sondern weil neue Technologien nicht ohne ihren sozia-
wir bei Gesamtkosten von 7,2 Milliarden Euro angekom- len und ökologischen Kontext zu denken sind. Vor die-
men. Diese Kostensteigerung ist auf erhöhte Rohstoff- sem Hintergrund fällt ITER aus der Zeit. Es ist ein Pro-
(B)
preise, neue wissenschaftliche Erkenntnisse, höhere dukt der 80er-Jahre, einer Zeit, als internationale (D)
Qualitätsanforderungen und Fehleinschätzungen über Zusammenarbeit an Großtechnologien über die Grenzen
den notwendigen Umfang von Diagnostiken zurückzu- der Blöcke hinweg etwas Neues war. Unsere Grundkritik
führen. ist, dass eine Technologie, die – wenn überhaupt – frü-
hestens 2050 zur Verfügung steht, nichts zum Kampf
Erst jetzt wird erkennbar, dass ein wesentliches Ein- gegen den Klimawandel beitragen kann, bleibt. Die
sparpotenzial vorhanden ist. Eine strategisch ausgerich- Zukunft gehört dezentralen und erneuerbaren Ener-
tete Kostenkontrolle hätte bereits zu Beginn eingeführt gieformen, die jetzt schnell und flächendeckend durch-
und ein konkreter Finanzplan vorgelegt werden müssen. gesetzt werden müssen. Auch dies wird Geld kosten,
Das erwarten wir von jedem anderen Forschungsprojekt Geld, das nicht für den Bau von Megareaktoren ver-
auch. Hier liegt vielleicht auch die Volksweisheit „Zu brannt werden darf.
viele Köche verderben den Brei.“ zugrunde. Hohe Er-
Der SPD-Antrag lenkt jedoch den Blick auch auf den
wartungen, die Verpflichtungen gegenüber wichtigen
Europäischen Forschungsrat, dessen Budget, so der An-
wirtschaftlichen Partnern und der potenzielle Verlust
tragstext, keinesfalls unter den Mehrausgaben für ITER
der internationalen Anerkennung haben wohl den In-
leiden dürfe. Dieser Forderung kann sich die Linke na-
stinkt für Wirtschaftlichkeit und sinnvolle Kosten-Nut-
türlich anschließen. Die Einzelförderung einer wirklich
zen-Analyse überlagert.
innovativen Pionierforschung durch eine wissenschafts-
Wir sind daher immer wieder gefordert, uns mit den geleitete Auswahl der geförderten Personen ist eine
enormen Kostensteigerungen zu befassen, die sich be- richtige Idee. Wir sagen aber auch: das Konzept der
reits im Jahre 2008 abgezeichnet hatten. Die Verteue- Förderauswahl muss überarbeitet werden.
rung des Projektes ist und bleibt ein ernst zu nehmendes Mich hat, wie andere Kolleginnen und Kollegen im
Problem. Deshalb ist es wichtig, eine Kostendeckelung Forschungsausschuss auch, die Präsentation des Grün-
einzuführen und Geld zur Verfügung zu stellen, ohne da- dungsgeneralsekretärs des ERC, Professor Winnacker,
bei andere wichtige Forschungsprojekte zu gefährden. im vergangenen Jahr schockiert. Die aktuellen Förder-
Es geht an dieser Stelle aber auch um eine strategische statistiken bestätigen seine Aussagen:
Entscheidung, in welche Bereiche die EU perspektivisch
Geld investieren möchte. Deswegen halte ich es für Die Beitrittsländer in Mittel- und Osteuropa spielen
wichtig und richtig, eine Umschichtung aus dem EU- bei der Vergabe der Fördermittel keine nennenswerte
Agrarhaushalt zugunsten der Fusionsforschung vorzu- Rolle. Als Begründung gibt der ERC an, dass diese Län-
nehmen. Wir wollen nicht länger unrentable Bereiche der eben noch nicht solch eine leistungsfähige Wissen-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9085
Dr. Petra Sitte
(A) schaftslandschaft hätten und diese erst aufgebaut wer- kommt frühestens nach 2050 und damit viel zu spät und (C)
den müsse. Diese Aussage konterkariert das eigentliche sie ist nicht umweltverträglich.
Förderkonzept: Wenn wirklich innovative Köpfe und
Seit einem Jahr sind bei ITER erhebliche Kostenstei-
nicht große Strukturen gefördert werden sollen, er-
gerungen, eklatante Managementfehler und strukturelle
scheint es sehr unwahrscheinlich, dass diese Pionierfor-
Probleme bekannt. Die Finanzierung der Mehrkosten
scher alle in Westeuropa sitzen. Und selbst wenn die Tat-
von 1,3 bis 1,4 Milliarden Euro allein in den Jahren
sache Berücksichtigung findet, dass knapp 30 Prozent
2012/2013 konnte bisher nicht bewerkstelligt werden.
der Geförderten außerhalb ihres Heimatlandes arbeiten,
Jetzt hat die Bundesregierung im Ausschuss der Ständi-
bleibt die Feststellung, dass die Verteilung wohl nicht
gen Vertreter der EU einem Vorschlag der europäi-
nur die Leistungsfähigkeit der einzelnen Wissenschaftle-
schen Präsidentschaft zugestimmt, der eine Finanzie-
rinnen und Wissenschaftler widerspiegelt. Viel eher
rung innerhalb des EU-Haushaltes vorsieht. Es sollen
dürfte die Zusammensetzung der Gutachterkommitees
460 Millionen Euro aus der Rubrik 1 a – unter anderem
Aufschluss über Präferenzen der ERC-Förderung ge-
Forschung – und 814 Millionen Euro aus der Rubrik 2
ben. Die ERC-Präsidentin Helga Nowotny sieht einen
– Landwirtschaft – entnommen werden. Aus der Ru-
eindeutigen Zusammenhang zwischen Forschungsaus-
brik 1 a werden neben dem Forschungsrahmenpro-
gaben des jeweiligen Sitzlandes und Erfolg bei der För-
gramm die Programme Lebenslanges Lernen und Eras-
derung durch den Forschungsrat.
mus, das Innovationsprogramm für Kleine und Mittlere
Wenn also bei der Förderung nur die ohnehin schon Unternehmen sowie die Energieprojekte des Konjunk-
finanz- und drittmittelstarken Institutionen zum Zuge turbelebungsprogramms finanziert. Das EU-Parlament
kommen, bleibt die Frage: Wie soll die Wissenschafts- hat seine Zustimmung dazu bisher mit Recht verweigert:
landschaft in den neuen EU-Staaten ohne spezifische ITER ist ein Fass ohne Boden und verhindert ein nach-
Förderung jemals auf Augenhöhe kommen, wenn der haltiges Energiekonzept, weil es die Mittel für erneuer-
Vorsprung der etablierten Staaten noch zusätzlich durch bare, kurz- und mittelfristig zu entwickelnde Energien
ERC-Milliarden und andere Initiativen ausgebaut wird? bindet.

Frauen sind schlicht unterrepräsentiert bei der För- Die Zukunftsaufgabe der europäischen Energierevo-
derung. Der Anteil sank zuletzt sogar von 20,7 auf lution liegt in den erneuerbaren Energien, im Netzaus-
19,4 Prozent. Auch hier ist es sehr unwahrscheinlich, bau und -management, in der Effizienz und in der Green
dass mehr als 80 Prozent der begabtesten Nachwuchs- Economy. Die Herausforderung der klimaverträglichen
wissenschaftler Männer sein sollen. Die Frage, was Wohlstandssicherung gilt es durch Innovationen zu be-
Spitzenforschung ausmacht, kann nicht ohne die Be- wältigen, statt an unhaltbaren Versprechen auf dem Weg
zu „unendlich viel Energie“ zu kleben. Nach mehr als
(B) rücksichtigung sozialer Kontexte beantwortet werden. (D)
Wer die innovativsten Köpfe sucht, sollte die spezifi- einem halben Jahrhundert Fusionsforschung haben sich
schen Forschungsansätze aus weiblicher Sicht stärker andere, zukunftsweisendere Wege gezeigt als die fossi-
berücksichtigen. len, atomaren Visionen der Fusionsforschung des ver-
gangenen Jahrtausends.
Wenn also die Reformen der europäischen For-
schungsförderung, auch des Forschungsrates, derzeit Wir halten deshalb an unserer Forderung nach Aus-
vorbereitet werden, dann geht es nicht nur um Entbüro- stieg aus dem Milliardengrab ITER fest und bitten die
kratisierung. Die Kommissionsdirektion Forschung und Bundesregierung, über den Ministerrat und durch ent-
die neue ERC-Präsidentin Helga Nowotny sollten sich sprechende europäische Initiativen darauf hinzuwirken,
dringend mit der Frage beschäftigen, wie die Förderung dass – solange die Finanzierung des Prestigeprojektes
von Spitzenforschung nicht nur denjenigen eine Chance nicht gesichert ist – auch keine weiteren Aufträge für
gibt, die schon qua Publikationsliste und Titel als exzel- Komponenten und zum Bau von ITER vergeben werden.
lent gelten, sondern auch denen, die es qua eigener Es ist hochgradig unseriös, das Festhalten am ITER-
Ideen werden könnten. Die Förderung von Frauen und Konzept zu beteuern, ohne die finanzielle Beteiligung ab-
die Unterstützung für die Wissenschaft in den Beitritts- sichern zu können. Den europäischen Landwirtschafts-
ländern muss eine stärkere Rolle im Begutachtungspro- etat für ländliche Entwicklung zu plündern, ist jedenfalls
zess spielen. Nur dann hat die Bezeichnung Pionierfor- genau so wenig seriös, wie die europäische Energiefor-
schung – oder neudeutsch: Frontier Research – für die schung einseitig auf ein Fusionsprojekt auszurichten.
Förderung des ERC seine Berechtigung. ITER ist in seiner einmaligen internationalen Kon-
struktion – so zeigt sich nun – der Versuch, staatlich ge-
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): förderte Forschung unter internationaler Beteiligung zu
bewerkstelligen und weltweit gefertigte Komponenten
Unbestreitbar ist die Fusionsforschung ein spannen- für einen Reaktor zusammenzutragen. Die entsprechen-
der Forschungsbereich, der bereits Generationen von den nationalen Organisationen, wie für Europa F4E
Naturwissenschaftlern fasziniert und der durch die ent- sind bereits am Design des Projektes gescheitert, der
sprechende Grundlagenfinanzierung politisch zur Blüte Zusammenbau wird die Energieforschung nicht beflü-
gebracht wurde. Ob die Kernfusion aber jemals in das geln können.
Stadium einer verlässlichen Energieproduktion über-
führt werden kann, steht vollkommen in den Sternen. Für Der von der SPD vorgelegte Antrag benennt den ak-
die bereits heute einzuleitende Zukunft nachhaltiger tuellen Konflikt der Finanzierung auf europäischer
Energiegewinnung ist die Fusion kein Beitrag, denn sie Ebene zutreffend und hat daher meine Sympathie. Aller-

Zu Protokoll gegebene Reden


9086 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Sylvia Kotting-Uhl
(A) dings ist meine Fraktion sowohl auf nationaler als auch Halina Wawzyniak (C)
auf europäischer Ebene davon überzeugt, dass die poli- Jerzy Montag
tische Verantwortung nicht bei der Benennung des Kon-
Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des
flikts stehen bleiben darf. Der Haushaltsehrlichkeit
Rahmenbeschlusses liegt ein Änderungsantrag der Frak-
muss eine Fokussierung auf die Zukunftsaufgaben fol-
tion Bündnis 90/Die Grünen vor.
gen. Die öffentlich finanzierte Forschung hat gerade im
Nachgang der internationalen Klimakonferenz in Can- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
cún verstärkt Beiträge zur Begrenzung des Klimawan- Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Proto-
dels und zum Umbau der Energiesysteme zu liefern. Hier koll genommen: Ansgar Heveling, Christoph Strässer,
darf nicht zugunsten eines unbrauchbaren Prestigepro- Jörg van Essen, Halina Wawzyniak und Jerzy Montag.
jekts gekürzt werden.
Die Europäische Kommission hat bereits im Mai Ansgar Heveling (CDU/CSU):
2010 prognostiziert, was ein geordneter Ausstieg der EU Heute schließen wir mit der zweiten und dritten Le-
aus ITER jetzt kosten würde. Es ist an der Zeit, bei ITER sung die Beratung von zwei Gesetzentwürfen im Zusam-
die Notbremse zu ziehen und das Projekt zu verlassen. menhang mit Straftaten im Bereich der Cyberkriminali-
Entsprechende Anträge haben Bündnis 90/Die Grünen tät ab.
bereits im April und Juli in den Bundestag eingebracht. Worum geht es in der Sache?
Mit Drucksache 17/3123 liegt ein Gesetzentwurf vor,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
der die Voraussetzungen – nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf GG – für die Ratifikation des Zusatzprotokolls zum
Drucksache 17/3483 an die in der Tagesordnung aufge- Übereinkommen des Europarates über Computerkrimi-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein- nalität betreffend die Kriminalisierung mittels Compu-
verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. tersystemen begangener Handlungen rassistischer und
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: fremdenfeindlicher Art schaffen soll.
Mit Drucksache 17/3124 liegt ein Gesetzentwurf zur
– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Umsetzung der sich aus dem Zusatzprotokoll sowie aus
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs dem Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates zur straf-
eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom rechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Aus-
28. Januar 2003 zum Übereinkommen des Eu- drucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit
roparats vom 23. November 2001 über Com- ergebenden Verpflichtungen auf nationaler Ebene vor.
(B) puterkriminalität betreffend die Kriminalisie- (D)
rung mittels Computersystemen begangener Der Zweck des Rahmenbeschlusses ist die strafrecht-
Handlungen rassistischer und fremdenfeindli- liche Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeind-
cher Art lichkeit. Das Zusatzprotokoll erweitert diese Bekämp-
fung um die strafrechtliche Verfolgung im Bereich
– Drucksache 17/3123 – rassistischer und fremdenfeindlicher Handlungen im In-
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- ternet. Sowohl das Zusatzprotokoll als auch der Rah-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes menbeschluss führen die Angleichung des materiellen
zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/ Strafrechts und damit eine Mindestharmonisierung von
913/JI des Rates vom 28. November 2008 zur Strafvorschriften auf europäischer Ebene fort. Nicht zu-
strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter For- letzt sind dieser Entwicklung die großen Fortschritte der
men und Ausdrucksweisen von Rassismus und letzten Jahre im internationalen Kampf gegen Rassis-
Fremdenfeindlichkeit und zur Umsetzung des mus und Fremdenfeindlichkeit zu verdanken. Die Frist
Zusatzprotokolls vom 28. Januar 2003 zum zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses ist mit dem
Übereinkommen des Europarats vom 23. No- 28. November 2010 verstrichen. Wir treffen damit heute
vember 2001 über Computerkriminalität betref- sehr zeitnah die notwendigen Umsetzungsentscheidun-
fend die Kriminalisierung mittels Computersys- gen.
temen begangener Handlungen rassistischer In weiten Teilen entspricht das geltende deutsche
und fremdenfeindlicher Art Recht bereits heute den Anforderungen des Rahmenbe-
schlusses und des Zusatzprotokolls. Umsetzungsbedarf
– Drucksache 17/3124 –
ergibt sich aber unter anderem in Bezug auf den Kreis
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- der Schutzbedürftigen. Dieser wird in Art. 1 Abs. 1
schusses (6. Ausschuss) Buchstabe a des Rahmenbeschlusses definiert. Schutz-
bedürftig ist eine „nach den Kriterien der Rasse, Haut-
– Drucksache 17/4123 – farbe, Religion, Abstammung oder nationalen oder
ethnischen Herkunft definierte Gruppe von Personen
Berichterstattung:
oder […] ein Mitglied einer solchen Gruppe“.
Abgeordnete Ansgar Heveling
Sebastian Edathy Gemäß Zusatzprotokoll – Art. 3 Abs. 1 – sollen unter
Christoph Strässer bestimmten Voraussetzungen „das Verbreiten oder an-
Jörg van Essen derweitige Öffentlich-verfügbar-Machen rassistischen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9087
Ansgar Heveling
(A) und fremdenfeindlichen Materials über ein Computer- rechtlichen Vorschriften nicht mit möglichen Irritatio- (C)
system“ als Straftaten gelten. Rassistisches und frem- nen im Wege stehen, aber doch nicht, um andere
denfeindliches Material nach Art. 2 Abs. 1 des Zusatz- Bevölkerungsgruppen, die keine explizite Erwähnung
protokolls ist „jedes schriftliche Material, jedes Bild finden, gegenüber den explizit erwähnten schlechterzu-
oder jede andere Darstellung von Ideen oder Theorien, stellen. Unser Ziel muss doch eine klare Umsetzung der
das beziehungsweise die Hass, Diskriminierung oder Zielvorgaben und der damit verbundene bessere Schutz
Gewalt aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, der Abstam- aller Bevölkerungsgruppen sein. Anstatt dieses Ziel zu
mung, der nationalen oder ethnischen Herkunft oder der verfolgen, stimmen Sie eine allgemeine Antidiskriminie-
Religion, wenn Letztere für eines dieser Merkmale vor- rungsdebatte an, die uns an dieser Stelle überhaupt nicht
geschoben wird, gegen eine Person oder eine Personen- weiterbringt und die vor allen Dingen an den Zielsetzun-
gruppe befürwortet oder fördert oder dazu aufstachelt“. gen des Gesetzentwurfes rein gar nichts ändert. Zusätz-
lich sollten Sie sich ins Gedächtnis rufen, dass es hier im
Um nun den Anforderungen des Rahmenbeschlusses Speziellen um den internationalen Kampf gegen Rassis-
und des Zusatzprotokolls zu genügen, ist eine Änderung mus und Fremdenfeindlichkeit geht.
von § 130 StGB notwendig. § 130 StGB Abs. 1 Nr. 1 in
seiner heutigen Form bezeichnet denjenigen als strafbar, Natürlich kann man über die Benutzung des Begriffes
„wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen „Rasse“ trefflich streiten und der Auffassung sein, er sei
Frieden zu stören, zum Hass gegen Teile der Bevölkerung generell problematisch und werfe grundsätzliche Fra-
aufstachelt oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gen auf. Dann stellt sich allerdings die Frage, ob die jet-
gegen sie auffordert“. zige Debatte der richtige Ort ist, sich mit diesen Fragen
zu befassen. Vielleicht würde aber schon ausreichend
Explizit werden in § 130 StGB „Teile der Bevölke- helfen, die Gesetzesbegründung zum allgemeinen
rung“ erfasst, nicht aber Einzelpersonen, wie es sowohl Gleichbehandlungsgesetz durchlesen, in der es heißt,
der Rahmenbeschluss als auch das Zusatzprotokoll aus- dass nicht der Gesetzgeber die Existenz menschlicher
drücklich verlangen, da hier nicht nur „Gruppen von Rassen annimmt, sondern dass derjenige, der sich ras-
Personen“ sondern auch das einzelne „Mitglied einer sistisch verhält, dies annimmt. Natürlich ist die Verwen-
solchen Gruppe“ in den Kontext der Schutzbedürftigen dung des Begriffes nicht unproblematisch und wurde ja
fallen. auch bereits auf EU-Ebene vor allem vor dem Hinter-
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auf Drucksache grund der Antirassismusrichtlinie viel und intensiv dis-
17/3124 kommt die Bundesregierung dieser Pflicht nach kutiert. Auf EU-Ebene hat man sich für die Beibehaltung
und schlägt unter anderen folgende Änderung des § 130 der Begrifflichkeit entschieden, und auch auf nationaler
Abs. 1 Nr. 1 vor: Ebene verwenden wir den Begriff im Grundgesetz. Eine
(B) spannende Diskussion, die es sich an anderer Stelle si- (D)
Strafbar ist, „wer in einer Weise, die geeignet ist, den cher lohnt zu führen. An dieser Stelle aber und im Kon-
öffentlichen Frieden zu stören, gegen eine nationale, text des vorliegenden Gesetzentwurfes handelt es sich
rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft um eine Diskussion ohne Not. Wir sollten daher jetzt un-
bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder sere Entscheidung über die Gesetzentwürfe treffen und
gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu sie so wie vorgelegt beschließen.
einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der
Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder
Christoph Strässer (SPD):
Willkürmaßnahmen auffordert“.
Wir stimmen heute über den Entwurf eines Gesetzes
Mit diesen Änderungen sind die im Rahmenbeschluss zum Zusatzprotokoll zu einem Übereinkommen des Eu-
genannten Gruppen ausdrücklich aufgeführt, darüber roparates über mittels Computersysteme begangene
hinaus bleiben weiterhin Einzelpersonen und Gruppen Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art
aller anderen „Teile der Bevölkerung“ durch § 130 sowie über das entsprechende Gesetz zur Umsetzung des
StGB Abs. 1 Nr. 1 geschützt, das heißt also auch Ein- Rahmenbeschlusses ab. Das Zusatzprotokoll intendiert
zelne oder Gruppen, die aufgrund ihrer Homosexualität, die internationale Angleichung des materiellen Straf-
Behinderung oder ihres Alters angegriffen werden. rechts und die Verbesserung der Zusammenarbeit in dem
Bereich der Bekämpfung von Rassismus und Fremden-
Womit wir beim Änderungsantrag der Fraktion Bünd- feindlichkeit. Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregie-
nis 90/Die Grünen angekommen sind, der eine Erweite- rung werden Änderungen im Strafgesetzbuch vorgenom-
rung der aufgezählten Gruppen um die Merkmale der men, die der Umsetzung des Rahmenbeschlusses und des
Sexualität, des Alters und der Behinderung vorsieht. Zusatzprotokolls dienen.
Dieser Antrag kurz vor Toresschluss und nach einer aus-
führlichen Debatte im Rechtsausschuss geht an den Not- Im Wesentlichen entspricht das deutsche Strafrecht,
wendigkeiten vorbei, geht es doch in dem vorliegenden insbesondere der Straftatbestand der Volksverhetzung,
Gesetzentwurf mitnichten darum, andere als die explizit bereits den Vorgaben des Rahmenbeschlusses und des
erwähnten Gruppen zu diskriminieren oder gar ihnen Zusatzprotokolls. Doch während bisher § 130 Abs. 1
den Schutz durch den § 130 StGB zu entziehen. Was ist StGB nur „Teile der Bevölkerung“ unter Schutz stellte,
das für eine Idee! Die im Rahmenbeschluss genannten verlangt die Umsetzung, dass auch Einzelne bzw. Mit-
Gruppen finden im neuen Gesetzestext lediglich eine glieder von Gruppen gegen die Aufstachelung zu Hass
wörtliche Erwähnung, damit wir die EU-Vorgaben ein- und Gewalt vom Schutzbereich der Norm umfasst wer-
deutig umsetzen und einer Vereinheitlichung der straf- den müssen. Dem wird nunmehr nachgekommen.

Zu Protokoll gegebene Reden


9088 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Christoph Strässer
(A) Im gleichen Zuge werden die im Rahmenbeschluss europäischer Ebene umstritten. Schon mit dem Glauben (C)
genannten und die in der Praxis die wesentlichen an die Existenz von „Rassen“ können Differenzierungen
Anwendungsfälle bildenden Gruppen in Zukunft in und Hierarchiesierung von konstruierten Menschenbil-
Abs. 1 der Vorschrift gegen Volksverhetzung explizit auf- dern entstehen und Vorurteile aufrechterhalten werden.
geführt. Danach macht sich in Zukunft strafbar, „wer in
Die UNESCO hat sich schon 1995 in einer Erklärung
einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu
gegen den Rasse-Begriff gewendet. Von Bedeutung ist
stören, gegen eine nationale, rassische, religiöse oder
auch eine Entschließung des Europäischen Parlaments
durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen
von 1997 anlässlich des Europäischen Jahres gegen
Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen we-
Rassismus. Das Europäische Parlament regt an, den Be-
gen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten
griff in allen amtlichen Texten zu vermeiden, genauso
Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass
wie auch das Deutsche Institut für Menschenrechte emp-
aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffor-
fiehlt, den Begriff aus deutschen Rechtstexten zu entfer-
dert“.
nen.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt jeden Schritt
Die Politik hat diese Vorgaben und Empfehlungen
zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlich-
noch nicht aufgenommen. Der Vorschlag des Menschen-
keit. Nicht nur als Rechtspolitiker, sondern auch als
rechtsinstituts basiert auf einer Tagung, an der auch
Menschenrechtspolitiker und Mitglied der Parlamenta-
Vertreter des Bundesjustizministeriums und des Auswär-
rischen Versammlung des Europarates begrüße auch ich
tigen Amtes teilgenommen haben. Andere staatliche In-
grundsätzlich die Intension der Gesetzentwürfe und die-
stitutionen wie die Antidiskriminierungsstelle des Bun-
sen Schritt. Deshalb werden wir den Gesetzentwürfen
des verwenden den Begriff bereits bewusst nicht mehr.
auch zustimmen.
Stattdessen ist von „rassistischer Diskriminierung“
Wir wollen uns auch nicht grundsätzlich den Vor- oder von Benachteiligungen aus „rassistischen Grün-
schlägen des Änderungsantrags der Fraktion Bünd- den“ die Rede. Es ist bemerkenswert, dass bis heute in
nis 90/Die Grünen verschließen, der noch einen Schritt Gesetzestexten, die eigentlich der Bekämpfung von Ras-
weiter geht und die Aufzählung um weitere Antidiskrimi- sismus dienen sollen, der Ausdruck „Rasse“ verwendet
nierungsmerkmale erweitert und explizit weitere Merk- wird. Rassismus lässt sich aber nicht glaubwürdig be-
male von Gruppen, die Opfer der sogenannten hate kämpfen, solange der Begriff „Rasse“ weiter verwendet
crimes werden und als besonders gefährdet gelten, auf- wird.
nimmt – nämlich durch ihr Geschlecht, ihre Behinde-
Die Formulierung im Strafgesetzbuch, aber auch in
rung, ihr Alter oder ihre sexuelle Identität bestimmte
den anderen deutschen Gesetzen bis hin zur Verfassung
Gruppen. Der Antrag wurde aber so spät gestellt, dass
(B) führen zu einem eklatanten Widerspruch. Nach der au- (D)
er nicht mehr im Rechtsausschuss beraten werden
genblicklichen Lage müssen Opfer im Falle rassisti-
konnte und bereits nach der 1. Lesung abgestimmt wer-
scher Diskriminierung geltend machen, aufgrund ihrer
den soll. Wir werden uns deshalb enthalten, ohne uns ei-
„Rasse“ diskriminiert worden zu sein. Sie müssen sich
ner zukünftigen ausführlicheren Debatte zu dieser Frage
gewissermaßen selbst einer vermeintlichen „Rasse“ zu-
verschließen zu wollen.
ordnen und werden so gezwungen, selbst rassistische
Wenn ich sage, dass ich grundsätzlich inhaltlich mit Terminologie und Gedankengut verwenden zu müssen.
den Gesetzentwürfen und dem Änderungsantrag über- Eine Änderung dieser Sachlage wäre ein wichtiges Si-
einstimme oder nicht prinzipiell abgeneigt bin, so gnal, um jeden Anschein einer Anerkennung von Ras-
möchte ich aber die Gelegenheit nicht versäumen, mein senkonzeptionen entgegenzutreten.
Missfallen gegenüber der sprachlichen bzw. begriffli-
Es ist unbestritten, dass nicht der bloße Begriff Poli-
chen Umsetzungen der Diskriminierungstermini zum
tik und Gesellschaft schlecht macht. Es gibt Probleme,
Ausdruck zu bringen.
die Staaten nicht alleine durch Sprachpolitik lösen wer-
Es geht mir im Wesentlichen um den historisch extrem den. Gesetzestexte tragen aber auch zur Bewusstseins-
belasteten Begriff der „Rasse“. Der Begriff „Rasse“ bildung bei und sollten eine Vorbildfunktion haben.
suggeriert außerdem, dass es unterschiedliche mensch- Dass es auch anders geht, zeigen mehrere europäische
liche Rassen gebe. Der Begriff ist heute wissenschaftlich Länder wie Schweden, Finnland und Österreich, die be-
entkräftet. Es gibt keinen wissenschaftlichen Grund, den reits alternative Begrifflichkeiten nutzen.
Begriff „Rasse“ weiterhin zu verwenden – und es gibt
Nun ist es so, dass der jetzige Gesetzentwurf bereits
erst recht keinen politischen Grund. Zwar ist der Begriff
sprachliche Modernisierungen an anderer Stelle vor-
nicht neu und wird auch in Rechtsordnungen anderer
sieht. So wird das bisher in § 130 Abs. 2 Nr. 1 StGB ver-
Länder angewendet. In Deutschland wird der Begriff zu-
wendete Tatbestandsmerkmal „durch ihr Volkstum be-
dem in Wissenschaft und Rechtsprechung sehr reflektiert
stimmte Gruppe“ durch die Formulierung „durch ihre
benutzt. Trotzdem müssen Gerichte und Parlamente im-
ethnische Herkunft bestimmte Gruppe“ ersetzt. Der
mer wieder herausstellen, dass sie das Konzept der
„Rasse“ selbstverständlich ablehnen, auch wenn sie den sachliche Gehalt der Vorschrift wird dadurch nicht ge-
Terminus verwenden. ändert. Durch das Merkmal der ethnischen Herkunft
werden außerdem die im Rahmenbeschluss verwendeten
Die Verwendung der Begrifflichkeit in juristischen Begriffe „Hautfarbe“ und „Abstammung“ erfasst. Im
und politischen Dokumenten, aber auch zunehmend im Zuge dessen hätte man nun auch den Begriff „Rasse“
gesellschaftlichen Bereich ist auf internationaler und ersetzen können. Eine bloße Streichung des Begriffs

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9089
Christoph Strässer
(A) „Rasse“ wäre allerdings nicht ausreichend und wirk- bestimmte Gruppen, sondern auch gegen einzelne Mit- (C)
sam, weil damit der Schutzbereich verengt würde. Zu- glieder der Gruppen erfassen.
dem ist es zur Bekämpfung von Rassismus gerade not-
wendig, dass die Verfassung sich klar und explizit davon Zur Umsetzung der Vorgaben von Rahmenbeschluss
distanziert. und Zusatzprotokoll ist es daher erforderlich, dass in
§ 130 StGB zukünftig neben Bevölkerungsteilen auch
Die Fraktion Die Linke legt einen Antrag vor, in dem Gruppen und Einzelpersonen gesondert aufgeführt wer-
sie den Begriff aus dem Grundgesetz und anderen Geset- den. Damit wird auch dem Umstand Rechnung getragen,
zestexten streichen will und die Formulierung „ethni- dass Hetze gegen Gruppen einen wesentlichen Anwen-
sche, soziale und territoriale Herkunft“ verwendet. dungsfall in der Praxis bildet.
Würde man den Begriff „Rasse“ aber durch Begrifflich-
keiten mit Bezug zu Ethnizität ersetzen, stellt sich die Den übrigen Vorgaben des Rahmenbeschlusses und
Frage, ob der Schutzbereich der Norm dadurch nicht des Zusatzprotokolls genügt das geltende Recht bereits
eingeschränkt würde. heute.

Zu überdenken ist – so wie es das Deutsche Institut Die Grünen wollen dazu mit ihrem kurz vor Abschluss
für Menschenrechte vorschlägt –, grundsätzlich von des Gesetzgebungsverfahrens noch eingebrachten Ände-
„rassistischer Diskriminierung“ und nicht von „Diskri- rungsantrag explizit zusätzlich die Merkmale „Ge-
minierung aus Gründen der Rasse“ zu sprechen. Es gilt schlecht, soziale Herkunft, Weltanschauung, Behinde-
in jedem Fall eine Regelung zu finden, die den sachli- rung, Alter, sexuelle Identität“ in den Tatbestand der
chen Gehalt von Vorschriften nicht einengt. Doch diese Norm aufnehmen.
Frage müssen wir heute weder juristisch, noch politisch Diese weitere Aufzählung verlängert den Volksverhet-
beantworten. CDU/CSU und FDP haben unseren zungsparagrafen jedoch unnötig, denn alle Träger sol-
Wunsch abgelehnt, für eine Klarstellung im Gesetz zu cher Merkmale sind bereits als Teile der Bevölkerung
sorgen, zumindest den Begriff der „Rasse“ in weiteren oder zumindest als Einzelne ohne weiteres vom Schutz-
Beratungen kritisch zu hinterfragen und nach Alternati- bereich der Norm erfasst.
ven zu suchen. Sie werden sich also in Zukunft die Frage
gefallen lassen müssen, wie sie zu diesem Begriff stehen. Wenn der Grünen-Antrag auf die sogenannten Hate
Für uns ist dieses Thema damit noch nicht erledigt und Crimes abzielt, also auf von Hass und abwertender Ge-
wird auch in Zukunft auf der Tagesordnung stehen. sinnung motivierte Taten, so verkennt er, dass diese und
fremdenfeindliche Beweggründe eines Täters bereits
nach geltendem Recht als erschwerender Umstand ge-
Jörg van Essen (FDP):
(B) wertet und bei Festlegung des Strafmaßes durch die Ge- (D)
Der Europarat hat im Jahre 2003 ein Zusatzprotokoll richte berücksichtigt werden können.
beschlossen, mit dem das Übereinkommen von 2001 ge-
gen mittels Computersystemen begangener Handlungen Von daher besteht kein Umsetzungsbedarf, da Beweg-
rassistischer und fremdenfeindlicher Art ergänzt wurde. gründe und Ziele des Täters sowie die Gesinnung, die
Dieses Zusatzprotokoll muss von Deutschland noch rati- aus seiner Tat spricht, bei der Strafzumessung nach § 46
fiziert werden, wofür mit dem vorliegenden Gesetzent- StGB vom Gericht abzuwägen sind und auch regelmäßig
wurf die nach dem Grundgesetz notwendigen Vorausset- zu einer Strafschärfung führen. Darüber hinaus erfüllt
zungen geschaffen werden. bei Hasstaten eine derartige Motivation auch regelmä-
ßig das Mordmerkmal eines niederen Beweggrundes.
Der gleichzeitig vorgelegte Entwurf eines Gesetzes
zur Umsetzung des entsprechenden Rahmenbeschlusses Abgesehen von diesen inhaltlichen Ablehnungsgrün-
des Rates aus 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung be- den zu ihrem Antrag müssen sich die Grünen vorhalten
stimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus lassen, dass sie mit einer Änderung in letzter Minute
und Fremdenfeindlichkeit regelt die innerstaatliche Um- nicht zu einem geordneten parlamentarischen Verfahren
setzung des Zusatzprotokolls. beitragen. In diesem Zusammenhang darf ich auf die
mittlerweile abgelaufene Umsetzungsfrist zu den euro-
Die europäischen Vorgaben sollen durch eine Ände- päischen Vorgaben von Ende November diesen Jahres
rung von § 130 des Strafgesetzbuchs umgesetzt werden. hinweisen.
Im deutschen Recht entspricht diese Norm den europäi-
schen Vorgaben bereits weitgehend. Es macht sich da- Lassen Sie mich an dieser Stelle auch noch kurz auf
nach strafbar, wer – in einer Weise, die geeignet ist, den einen Vorschlag eingehen, der in der Beratung der Ent-
öffentlichen Frieden zu stören – zum Hass gegen Teile würfe im Rechtsausschuss erhoben wurde. Die Sozial-
der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt- oder Will- demokraten regten dort an, den Begriff der Rasse bei der
kürmaßnahmen gegen sie auffordert. Umsetzung der europäischen Rechtsakte zu vermeiden,
weil dieser Begriff selber schon diskriminierend sei. Die
Jedoch erfasst die Norm gegen Volksverhetzung in Frage, ob dies zutrifft, ist grundsätzlicher Natur und
seiner bisherigen Fassung lediglich „Teile der Bevölke- kann nicht im Rahmen der Umsetzung geklärt werden.
rung“ und keine Einzelpersonen. Demgegenüber ver- Dass weder Zusatzprotokoll noch Rahmenbeschluss ge-
langen sowohl der Rahmenbeschluss als auch das Zu- eignete Anknüpfungspunkte für diese begriffliche Dis-
satzprotokoll, dass die entsprechenden Strafvorschriften kussion sind, zeigt zunächst der Rahmenbeschluss
nicht nur die Aufstachelung zu Hass und Gewalt gegen selbst, der ebenso die Begriffe Rasse und rassische Ver-

Zu Protokoll gegebene Reden


9090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Jörg van Essen


(A) folgung enthält. Der Begriff findet sich im Übrigen auch konkreten Bestimmungen einige Öffnungsklauseln vor, (C)
in Art. 3 Abs. 3 im Grundgesetz wieder. die erheblichen Spielraum für die Umsetzung im natio-
nalen Recht lassen.
Darüberhinaus muss in Ruhe geklärt werden, ob mit
der Vermeidung eines Begriffes tatsächlich das in Zu- Grundsätzlich gefordert wird jedoch von den Mit-
sammenhang mit ihm begangene Unrecht vermieden gliedstaaten, entsprechende Handlungen unter Strafe zu
werden kann. Wegen des bereits erwähnten zeitlichen stellen, wenn andere geeignete Mittel nicht zur Verfü-
Umsetzungsdruckes konnte diese Debatte in diesem Ver- gung stehen.
fahren jedenfalls nicht mehr geführt werden.
Die Öffnungsklauseln sind teilweise so weit gefasst,
Den Regierungsentwürfen in der ursprünglichen Fas- dass von der angestrebten Harmonisierung wenig übrig
sung wird meine Fraktion daher zustimmen. bleiben wird; allerdings ist dies aus nationaler Sicht
vorteilhaft, da dem deutschen Gesetzgeber ein erhebli-
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): cher Spielraum verbleibt, um die angestrebten Ziele zu
Beraten werden erstens der Entwurf eines Gesetzes erreichen.
zu dem Zusatzprotokoll vom 28. Januar 2003 zum Über-
einkommen des Europarats vom 23. November 2001 Auch wenn das Protokoll eine Einschränkung des ge-
über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisie- schützten Personenkreises nach „Zugehörigkeit zu einer
rung mittels Computersystemen begangener Handlun- Gruppe, die durch die Rasse, die Hautfarbe, die Abstam-
gen rassistischer und fremdenfeindlicher Art und zwei- mung, die nationale oder ethnische Herkunft oder die
tens der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Religion“ – letzteres Merkmal nur, soweit es vorgescho-
Rahmenbeschlusses 2008/913/JI des Rates vom 28. No- ben ist, um Motive der ersten Kriterien zu verdecken –
vember 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimm- vornimmt und Diskriminierungen nach Geschlecht, se-
ter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und xueller Identität und sozialer Herkunft nicht erfasst, ste-
Fremdenfeindlichkeit und zur Umsetzung des Zusatzpro- hen einer Zustimmung zur Ratifikation keine Bedenken
tokolls vom 28. Januar 2003 zum Übereinkommen des entgegen. Diese Gruppen können im Transformations-
Europarats vom 23. November 2001 über Computerkri- gesetz, vergleiche Bundestagsdrucksache 17/3124, über
minalität betreffend die Kriminalisierung mittels Com- den Wortlaut des Protokolls hinaus freiwillig erfasst
putersystemen begangener Handlungen rassistischer werden.
und fremdenfeindlicher Art (Transformationsgesetz).
Beim zweiten Gesetzentwurf handelt es sich um das
Bei ersterem handelt sich um ein Vertragsgesetz nach oben bereits erwähnte Transformationsgesetz. Die Vor-
Art. 59 Abs. 2 GG, mit dem die Ratifikation des im Titel gaben des Protokolls werden im Rahmen des § 130 (D)
(B)
benannten Zusatzprotokolls erfolgen soll. Das Zusatz- Strafgesetzbuch aufgenommen.
protokoll wurde bereits am 28. Januar 2003 von Deutsch-
land gezeichnet. Die Ratifikation des Übereinkommens Der Strafrahmen selbst wird nicht geändert. Abs. 1,
selbst ist bereits am 9. März 2009 erfolgt, daher kann Störung, des öffentlichen Friedens, wird konkretisiert im
nun das Zusatzprotokoll ratifiziert werden. Das Proto- Hinblick auf die Merkmale des Protokolls: nationale,
koll wurde ausweislich der Angaben beim Europarat von rassische, religiöse, ethnische Herkunft, erfasst nun
mehr als fünf Staaten ratifiziert, sodass es grundsätzlich, auch derartige Handlungen gegen Einzelne, aber nur
Art. 10 des Zusatzprotokolls, in Kraft getreten ist; für aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen.
Deutschland, das bisher noch nicht ratifiziert hat, tritt es Abs. 2 Nr. 1, Verbreitung von Schriften mit diesem In-
natürlich erst mit Ratifikation in Kraft. halt, wird nur leicht konkretisiert, da dieser Absatz be-
reits entsprechende Merkmale vorgesehen hat.
Im Zusatzprotokoll selbst geht es um besondere Rege-
lungen im Kampf gegen fremdenfeindliche und rassisti- Die Umsetzung des Zusatzprotokolls hat begrüßens-
sche Handlungen und Propaganda, die durch das Fort- werterweise nicht zu gesetzgeberischem Aktionismus
schreiten und die Möglichkeiten der Computertechnik geführt; vielmehr wird nur geändert, was zwingenden
begünstigt werden. Das Zusatzprotokoll hebt die beson- Vorgaben des Protokolls entspricht. Im Übrigen wird
dere Bedeutung der Meinungsfreiheit und die positiven deutlich ausgeführt, in welchen Bereichen im deutschen
Effekte der Nutzung von Computersystemen dafür her- Recht bereits der Schutz gewährleistet ist. Im Kern ein-
vor. Als Kehrseite wird jedoch die Vereinfachung der zige Änderung des materiellen Strafrechts ist die Auf-
rassistischen und fremdenfeindlichen Propaganda da- nahme des Schutzes von Einzelpersonen in § 130 StGB,
durch erkannt. Diese sei eine Verletzung der Menschen- der vom Zusatzprotokoll zwingend vorgeben ist; jedoch
rechte vor dem Hintergrund, dass alle Menschen frei nur im Hinblick auf dessen/deren Zugehörigkeit zu einer
und an Würde und Rechten gleich geboren sind, und eine Gruppe, was letztlich bereits Rechtsprechung ist.
Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat. Ausgehend
davon, dass derartige Handlungen in den Vertragsstaa- Bedauerlicherweise übernimmt der Gesetzentwurf
ten überwiegend kriminalisiert sind, strebt das Protokoll nicht die Einschränkungen des Protokolls im Hinblick
eine Harmonisierung an, die im Gleichgewicht zwischen auf die Religion. Laut Protokoll soll dies nur dann erfor-
Meinungsäußerung und wirksamer Bekämpfung derarti- derlich sein, wenn die Religion lediglich vorgeschobe-
ger Handlungen stehen muss, ohne die Grundsätze des nes Kriterium ist, um gegen Personen oder Gruppen
innerstaatlichen Rechts auf Meinungsäußerung beein- aufgrund ihrer Herkunft zu hetzen. Die Neuformulierung
trächtigen zu wollen. Dazu sieht das Protokoll in den erfasst Religion als eigenständiges Merkmal.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9091
Halina Wawzyniak
(A) Darüber hinaus wäre es begrüßenswert gewesen, die nicht? Warum fehlt die Benennung der Behinderten, wa- (C)
Diskriminierungskriterien, die letztlich im deutschen rum fehlen das Geschlecht oder die sexuelle Identität als
Recht „nur“ klarstellende Funktion haben, um Merk- Gruppenmerkmal?
male wie Geschlecht, sexuelle Identität und soziale Her-
kunft zu ergänzen. Nach weiter geltender Rechtslage Wir haben daher einen Änderungsantrag einge-
– „Teile der Bevölkerung“ – werden diese zwar erfasst; bracht, der einen horizontalen Ansatz verfolgt und alle
wenn man sich jedoch um Klarstellung bemüht, sollte in der Europäischen Union (dort: Art. 19 des Vertrages
diese umfassend sein. Es könnte sonst der Eindruck ent- über die Arbeitsweise der Europäischen Union) aufge-
stehen, dass die Hetze gegen Gruppen der Bevölkerung, führten Diskriminierungsmerkmale umfasst. Dazu gehö-
die zum Beispiel durch die sexuelle Identität gekenn- ren neben den im Gesetzentwurf genannten auch das
zeichnet sind, weniger gravierend ist in den Augen des Geschlecht, die Weltanschauung, die Behinderung, das
Gesetzgebers. Alter und die sexuelle Identität. Damit sind die beson-
ders gefährdeten Gruppen explizit genannt, und keine
Gruppe wird der anderen vorgezogen.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir setzen heute zwei europäische Vorgaben in unser Auch dies ist allerdings nicht als abschließende Auf-
nationales Strafrecht um. Es geht um die Bekämpfung zählung zu verstehen, sondern nur als Konkretisierung
von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, ein wichtiges der am meisten gefährdeten Gruppen, auf die sich die
und richtiges Anliegen, für das sich die Grünen schon Mitgliedstaaten der Europäischen Union verständigt
seit Jahren einsetzen. Allerdings liegen die Defizite in haben. Jede sonstige abgrenzbare Gruppe der Bevölke-
Deutschland nicht im materiellen Recht. Unser Straf- rung sowie der Einzelne, der dieser Gruppe gehört, wird
recht bietet jetzt schon alle Möglichkeiten, Straftaten durch § 130 StGB selbstverständlich weiterhin ge-
aus rassistischer oder fremdenfeindlicher Motivation schützt.
oder Gesinnung zu verfolgen und zu bestrafen. Die Än-
derungen, über die wir heute beschließen, haben im We- Insgesamt begrüßen wir die Gesetzesentwürfe als
sentlichen klarstellenden Charakter. weitere Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit, die zu einer erhöhten Sensibi-
Die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeind- lisierung nicht nur der Bevölkerung, sondern auch der
lichkeit auf rechtlicher Ebene ist jedoch nur eine Seite. Strafverfolgungsbehörden und Gerichte führen werden.
Die Defizite bestehen bei uns unverändert in der Umset-
zung, im praktischen Bereich. Polizistinnen und Polizis-
ten sind allzu oft nicht ausreichend geschult, um die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(B) rassistische, fremdenfeindliche oder Minderheiten be- Wir kommen zur Abstimmung. (D)
drohende Zielrichtung oder dahin gehende Beweg-
gründe einer Straftat schon zu Beginn einer Ermittlung Zweite Beratung
zu erkennen. In der Folge werden dann entsprechende und Schlussabstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt
Beweise nicht gesichert, ohne die die Beweisführung ei- unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
ner rassistischen, fremdenfeindlichen oder minderhei-
Drucksache 17/4123, den von der Bundesregierung ein-
tenfeindlichen Volksverhetzung nicht mehr möglich ist.
gebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Zusatzproto-
In Einzelfällen werden solche Elemente komplett über-
koll auf Drucksache 17/3123 anzunehmen. Ich bitte die-
sehen, obwohl sie eigentlich ins Auge springen müssten.
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich
Insofern sind die nun aufgrund des Rahmenbeschlus- zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
ses und des Zusatzprotokolls vorgenommenen Änderun- Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
gen sinnvolle, gute und notwendige Klarstellungen und
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b sei-
Ergänzungen.
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4123, den
Das ist zuerst die Ergänzung, dass die Aufstachelung von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
zu Hass und Gewalt nicht nur gegen Teile der Bevölke- Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses und
rung, sondern auch gegen einen Einzelnen als Teil einer des Zusatzprotokolls auf Drucksache 17/3124 anzuneh-
Gruppe unter Strafe gestellt wird. Bisher war dies schon men. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
nach der Rechtsprechung des BGH anerkannt, aber Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4226 vor,
nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt. über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen
Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
Zum anderen wird das Merkmal „Teile der Bevölke- gen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der
rung“ beispielhaft konkretisiert. Die Koalition schlägt beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Lin-
die ausdrückliche Aufnahme der Merkmale „nationale, ken und der Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt.
rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft
bestimmte Gruppe“ in den Gesetzestext vor. Diese Auf- Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
zählung, die laut Begründung der Koalition „einen we- stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
sentlichen Anwendungsfall des § 130 StGB in der Praxis gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zwei-
bildet“, greift allerdings zu kurz und kann nur zu Miss- ter Beratung mit den Stimmen der beiden
verständnissen führen. Warum werden religiöse Grup- Koalitionsfraktionen und der Grünen bei Enthaltung der
pen hervorgehoben, weltanschauliche Gruppen aber SPD und der Linken angenommen.
9092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Dritte Beratung Der Weltklimagipfel ist kürzlich zu Ende gegangen. (C)
Erstmals wird das Ziel, die Erderwärmung auf 2 Grad zu
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem begrenzen, verbindlich bestätigt. Das ist nicht nur ein
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Verdienst der mexikanischen Gastgeber, sondern auch
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- das Ergebnis des deutschen Verhandlungsgeschicks in
wurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor den Arbeitsgruppen. Dabei ist allen Teilnehmern deut-
angenommen. lich geworden, dass es vieler Einzelmaßnahmen bedarf
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf: um das 2-Grad-Ziel einzuhalten oder sogar zu unterbie-
ten. Der Klimawandel ist die globale Herausforderung
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- für die Staatengemeinschaft. National wie international
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz müssen wir heute Entscheidungen treffen, damit künftige
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Generationen nicht nur ausreichend mit Energie und
Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Ralph Ressourcen versorgt werden, sondern ihnen ihrerseits
Lenkert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter die Spielräume zur gesellschaftlichen und wirtschaftli-
und der Fraktion DIE LINKE chen Gestaltung erhalten bleiben. Dazu gehört auch,
dass wir auf umweltschädliche Kühlmittel in unseren
Ungefährliche und klimaschonende Kältemit-
Autoklimaanlagen verzichten. Kohlenwasserstoffe, wie
tel in Kfz-Klimaanlagen verwenden
HFKW und FKW, das gegenwärtig noch in den Auto-
– Drucksachen 17/3432, 17/4070 – klimaanlagen verwendet wird, schädigen das Klima
1 300 bis 24 000 mal stärker als CO2. Daher werden in
Berichterstattung: der Europäischen Union mit der EU-Richtlinie 2006/40/EG
Abgeordnete Christian Hirte ab 2011 nur noch solche Kältemittel in Kfz-Klimaanla-
Frank Schwabe gen zugelassen, die maximal 150 mal so klimaschädlich
Dr. Lutz Knopek sind wie Kohlendioxid. Das ist schon eine beachtliche
Ralph Lenkert Zahl. Zum Verständnis: Ein Kilogramm des bisherigen
Dorothea Steiner in Autoklimaanlagen verwendeten Kältemittels Tetra-
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die fluorethan – R134a – ist 1 300 mal so umweltbelastend.
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Proto- Die Linke fordert in ihrem Antrag, dass die deutsche
koll gegeben: Christian Hirte, Frank Schwabe, Lutz Autoindustrie an Kohlendioxid als Kältemittel festhält,
Knopek, Karin Binder und Valerie Wilms. während sich die gesamte übrige Welt bereits anders
entschieden hat. Warum haben sich die führenden Auto-
(B) Christian Hirte (CDU/CSU): mobilhersteller in dieser Welt für Tetrafluorpropen ent- (D)
Ich habe mit großem Interesse die Pressemitteilung schieden? Es liegt sicher nicht im Interesse der Automo-
des Kollegen Lenkert vom 27. November gelesen; aller- bilbauer, ein möglichst gefährliches Kühlmittel zu
dings konnte ich mir dabei ein Kopfschütteln nicht ver- verwenden. Es liegt vielmehr daran, dass R1234yf wie
kneifen. Der Vorwurf der Linken, dass die Koalitions- kein anderes Kältemittel allen Ansprüchen genügt. Als
fraktionen Klientelpolitik betreiben, ist nicht neu und nahezu 1:1-Ersatz für das heutige Kältemittel R134a ist
wird mit einer erschreckenden Regelmäßigkeit immer ein Umstieg auf R1234yf für Automobilhersteller schnell
wieder aufgewärmt. Natürlich, Herr Lenkert, betreiben und problemlos möglich. Mit einem Global Warming
wir Klientelpolitik. Nur besteht der Unterschied darin, Potential, GWP, von 4 liegt das Kältemittel weit unter
dass wir eine Politik betreiben, die die Bürgerinnen und dem EU-Richtwert von 150. Die Verweildauer von
Bürger in den Vordergrund stellt. Klientelpolitik betrei- R1234yf in der Atmospähre beträgt nur 11 Tage, im Ge-
ben die Linken übrigens auch sehr eifrig, aber im Mittel- gensatz zu 13 Jahren bei R134a und mehr als 500 Jahren
punkt steht dort beispielsweise die Forderung, die Ren- bei Kohlendioxid. Unter Klimagesichtspunkten ist eine
tenansprüche ehemaliger Stasi-Angehöriger nach oben derartige Kurzlebigkeit in der Luft ein nicht unerhebli-
zu korrigieren. Insofern denke ich, dass die Linke mit cher Faktor. Zudem verbrauchen Fahrzeuge mit dem äu-
dem Wort Klientelpolitik und anderen Plattitüden etwas ßerst energieeffizienten Kältemittel R1234yf weniger
vorsichtiger umgehen sollte. Kraftstoff und erzeugen damit weniger verbrennungsbe-
dingte Emissionen als Fahrzeuge, in denen weniger effi-
Es entspricht auch überhaupt nicht der Tatsache, ziente Alternativen zum Einsatz kommen. Der Energie-
dass meine Partei die Verletzung von Bürgern durch die bedarf der Klimaanlage ist bei tiefer Geschwindigkeit
Wahl eines von Ihnen verteufelten Kältemittels einfach höher und steigt mit der Außentemperatur. Bei einer Au-
in Kauf nimmt. Falls das Kältemittel Tetrafluorpropen ßentemperatur von 37 Grad etwa entfallen im Stadtver-
– R1234yf – tatsächlich, das von Ihnen beschriebene kehr rund 28 Prozent des Treibstoffverbrauchs auf die
Risikopotenzial darstellen sollte, so wären die Tage von Klimaanlage. Bei 23 Grad sind es circa 14 Prozent. Im
R1234yf wohl gezählt. Ich habe allerdings viel mehr den Durchschnitt und über ein ganzes Jahr hinweg ver-
Eindruck gewonnen, dass es der Fraktion Die Linke nur braucht eine Klimaanlage innerorts mehr als fünf Pro-
darum geht, sich irgendein Thema zu suchen, mit dem zent des gesamten Treibstoffs.
Sie der Regierungskoalition an die Karre fahren kann.
Ich glaube, wir haben, angesichts der Weltklimakrise, Auch bei Nachrüstung oder Reparatur von Altanla-
wohl andere Sorgen, als uns um das Prahl- und Balzver- gen kann Tetrafluorpropen angewandt werden. Ebenso
halten der Linken zu kümmern. unbestritten ist, dass gerade in den heißeren Regionen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9093
Christian Hirte
(A) dieser Welt Kohlendioxid eine wesentlich schlechtere Benzol, Toluol, Xylol), Aldehyde und Ketone (Formalde- (C)
Kühlfähigkeit hat als Tetrafluorpropen. Das sind für hyd, Acetaldehyd, Benzaldehyd, Salicylaldehyd, Aceton
mich stimmige Argumente, die für den Einsatz von etc.), Phosgen sowie chlorierte Dibenzodioxine und
R1234yf sprechen: großer Einsatzbereich, einfache Dibenzofurane. Phosgen wurde übrigens im 1. Weltkrieg
Handhabung und geringes Treibhauspotenzial. als chemischer Kampfstoff eingesetzt.
Der Antrag der Linken geht aber auch aus wirtschaft- Sofern man der Linken unterstellt, sie verteufele Te-
lichen Gründen an der Sache vorbei. Würde man, wie trafluorpropen nur aus Gründen des Verbraucherschut-
Die Linke es fordert, die deutsche Autoindustrie zu ei- zes, so hätte sie folgerichtig auch ein Verbot des Einsat-
nem nationalen Alleingang verpflichten, hätte dies er- zes von Kunststoffen im Fahrzeugbau fordern müssen.
hebliche Nachteile für die deutschen Autobauer zur Dies wäre zumindest konsequent gewesen. Die Wahrheit
Folge. Kohlendioxid mag als Kältemittel zwar sehr um- ist doch, dass Tetrafluorpropen vergleichbar sicher im
weltfreundlich sein, es benötigt aber einen zehnfach hö- Einsatz ist wie das bisherige R134a; aber immer wieder
heren Druck. Damit müssten die deutschen Fabrikate werden die Erkenntnisse der vom Umweltbundesamt be-
mit der aufwändigeren und kostenintensiveren CO2- auftragten Bundesanstalt für Materialprüfung zitiert
Technik ausgerüstet werden. Dies würde nicht nur zu er- und gegen die Automobilindustrie eingesetzt. Die Versu-
heblichen Entwicklungs- und Fertigungskosten bei den che der BAM zeigen aus Sicht der Automobilindustrie
Zuliefereren führen, sondern auch zu höheren Verkaufs- jedenfalls keine unerwarteten Ergebnisse, sind mit dem
preisen bei den Modellen der nächsten Generation. Sin- Kenntnisstand der SAE-Untersuchung vereinbar und er-
kende Absatzzahlen und damit der Abbau von Arbeits- klärbar. Die BAM hat eindeutig klargestellt, dass diese
plätzen wären die unvermeidliche Folge. Auch wären Untersuchungen unter „Laborbedingungen“ erfolgt
die Kfz-Werkstätten nicht in der Lage, sich ohne erhebli- sind und keinen realen Fahrzeugtests entsprechen; das
che Kosten auf ein duales System mit CO2 für deutsche heißt, die Tests sind nicht praxisrelevant.
Fabrikate und Tetrafluorpropen für ausländische Mar-
ken einzustellen. Die Kosten dafür hätte dann der End- Es ist auch festzuhalten, dass bei Zündquellen, wie
kunde zu tragen. Auch aus diesem Grund halte ich einen zum Beispiel bei einer Streichholzflamme oder einem
nationalen Alleingang mit CO2 für sehr problematisch. elektrischen Lichtbogen, die messbare HF-Bildung bei
den BAM-Tests unter den Grenzwerten blieb. Die BAM
Noch etwas zur Frage der Sicherheit von Tetrafluor- fasst im Fazit zusammen: „Im Falle einer R1234yf-An-
propen. Ich finde es in hohem Maße unseriös, wenn die wendung im Fahrzeug ist eine sorgfältige, vorausschau-
Linke den Bürgern suggerieren will, dass mit Tetra- ende Gefahrenanalyse notwendig. Es sind Maßnahmen
fluopropen der Tod Einzug in die Klimaanlage hält. Es zu ergreifen, um sicherzustellen, dass verbleibende Ge-
ist korrekt, dass Honeywell in seinem Produktdatenblatt fährdungen gemäß Stand der Technik ethisch und recht-
(B) (D)
auf die stofflichen Eigenschaften seines Kühlmittels und mäßig vertretbar sind.“
auf Sicherheitsmaßnahmen hinweist. Das ist nicht nur
geboten, sondern auch gesetzlich vorgeschrieben. Es ist Die Automobilindustrie hatte diese Hinweise bereits
richtig, dass beim Brand von Tetrafluorpropen Fluss- im Vorfeld aufgegriffen und umgesetzt. Die Vorgehens-
säure entsteht, aber das ist auch bei R134a so, und auch weise und die Richtigkeit der erzielten Ergebnisse der
andere Fahrzeugbauteile entwickeln bei Bränden giftige ausgeführten Risikoanalyse der deutschen Fahrzeugher-
Stoffe. Wenn ein Auto in Brand gerät, ist davon meist steller – die diese zusätzlich zu den Tests anderer Fahr-
nicht nur die Klimaanlage betroffen. Der Anteil an zeughersteller durchführten – wurden durch ein Gutach-
Kunststoffen im Auto steigt. Denn dies bedeutet nicht ten des TÜV-Süd bestätigt. Daher sieht meine Fraktion
nur Gewichtsreduzierung und damit Kraftstoffeinspa- keinerlei Argumente, die für ein Verbot von Tetrafluor-
rung, sondern häufig auch geringere Produktionskosten propen sprechen. Die Linke sollte zum wichtigen Thema
im Vergleich zu Metallen. Seit den Zeiten Henry Fords Verbraucherschutz sachdienlichere Beiträge leisten, als
ist der Anteil an Kunststoffen im Fahrzeug beständig ge- es bei diesem Antrag der Fall war.
wachsen und macht heute etwa 17 Prozent des Gesamt-
fahrzeuges aus. Da ist es sehr wahrscheinlich, dass bei Frank Schwabe (SPD):
einem Brand auch Plastikteile in Brand geraten. Auch Nachdem wir in der Aktuellen Stunde die Ergebnisse
diese setzen giftige Gase und Säuren frei, ohne dass die der Klimakonferenz in Cancún debattiert haben, geht es
Linke jemals auf die Idee gekommen wäre, das Auto auch bei diesem Antrag um den Klimaschutz. Allerdings
gleich ganz zu verbieten. um ein Thema, das nicht prominent im Licht der Öffent-
lichkeit steht, jedoch nicht minder wichtig ist.
Nur ein Beispiel: Hart-PVC und Polyvinylidenchlo-
rid, PVDC, brennen in der Zündflamme, verlöschen aber Es geht um die Chemikalien, mit denen die Klima-
außerhalb sofort. Weich-PVC dagegen kann, je nach Art anlagen in den Autos für eine angenehme Temperatur
und Menge der zugesetzten Additive (insbesondere sorgen. Klimaanlagen gehören heute zur Standardaus-
Weichmacher und Flammschutzmittel) auch ohne Zünd- rüstung von fabrikneuen Pkws. Kaum jemand möchte
flamme weiterbrennen. Dabei entsteht neben Kohlen- mehr auf gut gekühlte Auto-, Bus- oder Bahnfahrten ver-
monoxid auch Chlorwasserstoff oder anders ausge- zichten. Jedoch entweicht aus den Fahrzeugen perma-
drückt Salzsäure. Daneben entstehen beim Brand auch nent etwas Kältemittel in die Umwelt und schädigt die
Chlorkohlenwasserstoffe (insbesondere Vinylchlorid), Atmosphäre. Der Rat der Klimawissenschaftler, IPCC,
andere aliphatische und aromatische Kohlenwasser- der die Vereinten Nationen berät, schätzt, dass weltweit
stoffe (zum Beispiel Methan, Propylen, n-Butan, Buten, nicht nur die Anzahl der Fahrzeuge signifikant steigen

Zu Protokoll gegebene Reden


9094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Frank Schwabe
(A) wird, sondern vor allem die Anzahl der Fahrzeuge, die rem die Abschaltung der Stromzufuhr sowie die Informa- (C)
mit einer Klimaanlage ausgestattet sind. Nach Berech- tion von Rettungskräften. Dieser Bericht wirft einige
nungen des IPCC werden allein im Jahr 2015 schädli- Fragen auf.
che Kältemittel im Umfang von mindestens 270 Millio-
nen Tonnen CO2-Äquivalenten aus Klimaanlagen in die Liegen der Bundesregierung aktuelle Daten vor, ob
Atmosphäre gelangen und den Klimawandel verstärken. und wie die Fahrzeughersteller ab 1. Januar 2011 Vor-
Es besteht somit dringender Handlungsbedarf, diese sorgemaßnahmen getroffen haben? Welche Vorkehrun-
Thematik anzugehen. Das bisher durchgängig verwen- gen wird die Bundesregierung treffen, damit die Empfeh-
dete Tetrafluorethan – R134a – ist 1400-mal schädlicher lungen der BAM berücksichtigt werden? Interessant
als CO2 und daher ab Anfang 2011 nicht mehr zulässig. wäre aber auch, zu wissen, ob der Bundesregierung ak-
Doch durch welches Kältemittel soll R134a ersetzt wer- tuelle Daten zum Stand der Technik für den Ersatz des
den? Kältemittels R134a durch CO2 oder 1234yf in Fahrzeug-
Klimaanlagen vorliegen, oder ob der Bundesregierung
Die Fraktion Die Linke fordert die Bundesregierung Daten der deutschen Fahrzeughersteller vorliegen, wel-
in ihrem Antrag auf, über die Vorgaben der EU-Richtli- che Fahrzeugtypen als Erste mit einem neuen Kältemittel
nie 2006/40/EG, die Emissionen aus Klimaanlagen in ausgestattet werden.
Kraftfahrzeugen regelt, hinauszugehen. So soll die Bun-
desregierung sicherstellen, dass Kältemittel in Kfz-Kli- Zwar kann man argumentieren, dass die EU-Richtli-
maanlagen bei Neuwagen ab dem 1. August 2011 keine nie nur einen Rahmen vorgibt und die Industrie sich für
Stoffe enthalten, die in ihrer ursprünglichen Zusammen- eine Lösung innerhalb dieses Rahmens entscheiden
setzung oder infolge von Reaktionen die menschliche kann. Ich möchte die Autoindustrie jedoch auffordern,
Gesundheit gefährden, das heißt brennbar, toxisch oder die Untersuchungen der Bundesanstalt für Materialfor-
ätzend sind. Die eingesetzten Chemikalien sollen laut schung und -prüfung bei ihren Entscheidungen zu
Antrag chemisch reaktionsträge sein und ein Global- berücksichtigen. Genauso sollte die bisher geleistete
Warming-Potenzial von unter 150 aufweisen. Darüber Forschungs- und Entwicklungsarbeit deutscher Kälte-
hinaus fordern die Linken, dass die eingesetzten Chemi- mittelhersteller berücksichtigt werden.
kalien keine nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt-
medien Wasser, Boden und Luft haben. Um alle Aspekte des Themas anzusprechen: Neben
der Frage der Wahl des Kältemittels ist es wichtig, die
Wir begrüßen, dass mit diesem Antrag die Debatte bisherigen Klimaanlagensysteme zu optimieren, damit
über klimaschädliche Kältemittel hier im Parlament an- der Energieverbrauch und die daraus resultierenden
gestoßen wurde. Es ist in der Tat nicht einzusehen, wa- Emissionen deutlich sinken. Auch sollte durch verbes-
rum es das Kältemittel R1234yf in Deutschland geben serte Komponenten und Werkstoffe die Anlagendichtheit (D)
(B)
soll, wenn auch Kohlendioxid als Kältemittel eingesetzt erhöht werden, damit wir auch im Bereich der Kältemit-
werden könnte. Die Risiken sind deutlich geringer. tel eine Lösung finden, die dem Klimaschutz dient und
„Chemie statt sauberer Kältetechnik“ – mit dieser die Umwelttechnologien voranbringt.
Überschrift brachte es die „Auto Bild“ am 10. Juni 2010
gut auf den Punkt, als bekannt wurde, dass 1234yf ver-
wendet werden soll. Als Alternative für R134a war ei- Dr. Lutz Knopek (FDP):
gentlich die Kühlung durch CO2 angedacht. Auch der Heute beschäftigen wir uns nunmehr zum dritten Mal
VDA verkündete 2007, dass die deutsche Autoindustrie mit dem vorliegenden Antrag der Linkspartei zu Kühl-
in Zukunft auf CO2 setzen würde. CO2 ist billig, ungiftig mitteln in Kfz-Klimaanlagen, und man muss leider fest-
und nicht brennbar. Der Nachteil der serienreifen CO2- stellen, dass es gegenüber der ersten Behandlung hier
Technik ist, dass für die Übergangszeit die Werkstätten im Plenum keinen substanziellen Erkenntnisgewinn ge-
verschiedene Anlagensysteme warten müssten. geben hat.
Doch auch 1234yf hat Nachteile. Das Umweltbundes- Die Fakten sind hinlänglich bekannt, deshalb will ich
amt, UBA, hat die Bundesanstalt für Materialforschung mich auf das Wesentliche beschränken. Ab dem 1. Ja-
und -prüfung, BAM, im Oktober 2009 beauftragt, Mes- nuar 2011 sind bei der Genehmigung aller neuen Fahr-
sungen zum Brandverhalten des Kältemittels 1234yf im zeugtypen und ab dem 1. Januar 2017 generell bei allen
Vergleich mit dem bisher eingesetzten Kältemittel R134a Neuwagen nur noch Kältemittel mit einem Treibhauspo-
durchzuführen. Dabei wurden die Versuche so ausge- tenzial kleiner als 150 zugelassen. Das derzeit verwen-
wählt, dass sie der Anwendung dieses Stoffes in Pkw- dete Mittel R134a mit einem Treibhauspotenzial von
Klimaanlagen möglichst nahe kommen. In ihrem Ab- 1 430 muss daher ersetzt werden. Als Alternativen wur-
schlussbericht verweist die BAM darauf, dass im Falle den zum einen die in Deutschland entwickelte CO2-Tech-
eines Einsatzes von 1234yf eine umfassende Gefahren- nologie sowie zum anderen das synthetische Kältemittel
analyse erforderlich ist und viele Maßnahmen zur Vor- R1234yf der Firmen Honeywell und DuPont diskutiert.
sorge getroffen werden müssen, zum Beispiel konse-
quente Abschirmung heißer Oberfläche im Motorraum, Die deutsche Automobilindustrie hat sich frühzeitig
Einbau eines automatischen Löschsystems im Motor- für die CO2-Technologie stark gemacht, konnte sich da-
raum, Maßnahmen, die eine Einleitung von Fluor- mit aber international nicht durchsetzen. Da es betriebs-
wasserstoff in den Passagierraum im Gefahrenfall wirtschaftlich aufgrund der enormen Skaleneffekte der
unmöglich machen, Maßnahmen zur Vermeidung der Automobilproduktion keinen Sinn macht, nationale In-
Funkenbildung auch im Falle eines Unfalls, unter ande- sellösungen zu entwickeln, haben sich auch die deut-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9095
Dr. Lutz Knopek
(A) schen Hersteller letztlich für den Einsatz von R1234yf Karin Binder (DIE LINKE): (C)
entschieden. „1234yf“ heißt eine Chemikalie, die ab dem kommen-
den Jahr in alle Fahrzeug-Klimaanlagen als Kältemittel
Der Antrag der Linkspartei zielt darauf ab, diese Ent-
gepumpt werden soll; und sie ist eine tickende Zeit-
scheidung rückgängig zu machen und nationale wie eu-
bombe. Die Chemikalie ist schnell entflammbar und ex-
ropaweite Regelungen zu erlassen, sodass R1234yf als
trem gesundheitsschädlich. Tests des Umweltbundesam-
Kältemittel nicht zugelassen wird. Dieses Ansinnen leh-
tes haben gezeigt, dass 1234yf bei Unfällen Fahr-
nen wir sowohl aus formalen als auch aus inhaltlichen
zeugbrände auslöst und giftige Stoffe freisetzt.
Gründen ab.
Damit stellt das Kältemittel ein großes Risiko für Kfz-
Wir lehnen den Antrag aus formalen Gründen ab, da Nutzer, Ersthelfer und Rettungskräfte dar. Bald rollen
er schlicht europarechtswidrig ist. Die einschlägige EU- rund 24 000 Tonnen des gefährlichen Chemiecocktails
Richtlinie 2006/40/EG setzt europaweit technologieof- in Autos über unsere Straßen. Das Schlimme ist: Die
fene Standards für Emissionen aus Kfz-Klimaanlagen. Verbraucherinnen und Verbraucher haben keine andere
Einseitige nationale Abweichungen von dieser Richtli- Wahl. Nach dem Willen der Automobilhersteller soll das
nie verstoßen gegen die Bestimmungen zum freien Wa- Kältemittel flächendeckend in allen Autos zum Einsatz
renverkehr und die Bestimmungen zum EU-Binnen- kommen.
markt. Die Forderung, sich bis zum 1. August 2011 für
eine Änderung der EU-Richtlinie einzusetzen, ist ange- Die Bundesregierung weigert sich, der Automobilin-
sichts der üblichen Vorlaufzeiten auf europäischer dustrie zum Schutz der Kfz-Nutzer auf die Finger zu
Ebene – die Kommission, bei der das alleinige Initiativ- klopfen. Die Einführung sicherer Kältemittel sei Sache
recht liegt, die Mitgliedstaaten und das EU-Parlament der Hersteller. Im Mai dieses Jahres erklärte der Vorsit-
müssten zustimmen – völlig unrealistisch. Insofern muss zende des Lobbyverbandes der deutschen Automobilin-
man erneut von einem reinen Schaufensterantrag der dustrie, der ehemalige CDU-Bundesverkehrsminister
Linken sprechen. Matthias Wissmann, man werde 1234yf flächendeckend
einführen. Zu diesem Zeitpunkt war noch keine Sicher-
Aber auch inhaltlich ist der Antrag nicht begründet. heitsprüfung für den Stoff durchgeführt worden – von ei-
Es ist eben nicht so, dass, wie Kollege Lenkert ausge- ner Zulassung ganz zu schweigen. Gleichwohl hatte das
führt hat, „Umweltverbände, Umweltbundesamt und Umweltbundesamt Praxistests mit dem Mittel durchge-
Bundesanstalt für Materialforschung vor dem Einsatz führt. Das Ergebnis war katastrophal: Schon wenn sich
warnen.“ Vielmehr hat die Bundesanstalt für Material- ein Kühlmittelschlauch löst, entzündet sich die Chemi-
forschung in einer Pressemitteilung am 20. Oktober kalie bei Betriebstemperatur des Motors. Das Auto geht
2009 klargestellt, dass eine solche Interpretation ihres in Flammen auf, und giftige Flusssäure wird durch die (D)
(B) Tests durch die Deutsche Umwelthilfe nicht zulässig ist:
Belüftungsanlage in den Insassenraum geleitet.
„Eine mögliche Fehlinterpretation der Pressemitteilung
der Deutschen Umwelthilfe führt zu der Annahme, die Der Fall 1234yf ist ein Skandal: In der Antwort auf
BAM hätte Stellung zur Gefährlichkeit des Kältemittels unsere Kleine Anfrage von Ende Juni 2010 zitiert die
bezogen. Dies ist nicht der Fall“, so die eindeutige Aus- Bundesregierung ausschließlich Aussagen des Lobby-
sage der BAM. Die einzigen aussagekräftigen Studien, Verbandes der Automobilindustrie VDA. Zitat: Aufgrund
die es bislang gibt, wurden seitens der Industrie und von industrieeigener Prüfungen „kommt der VDA zu der
der renommierten Society of Automotive Engineers er- Einschätzung, dass […] ein Einsatz von R 1234yf in Kli-
stellt. Diese bescheinigen R1234yf einen unbedenkli- maanlagen von Fahrzeugen unbedenklich ist“. Noch bei
chen Einsatz in Kraftfahrzeugen. Zudem darf nicht au- einer Fachveranstaltung Ende November 2010 – also
ßer Acht gelassen werden, dass jedes neu entwickelte gut einen Monat vor Einführung der gefährlichen Che-
Fahrzeug ohnehin ein Typenzulassungsverfahren mit mikalie – wiederholte das Umweltbundesamt seine Kri-
entsprechenden Sicherheitsuntersuchungen zu durch- tik und warnt vor der Verwendung von 1234yf. Warum
laufen hat. Letztlich trägt die Industrie daher selbst die hört die Bundesregierung auf den Lobbyisten und CDU-
Verantwortung für die von ihr eingesetzten Produkte. Mann Wissmann und nicht auf die eigene Fachbehörde?
Die Bundesregierung ist nicht Erfüllungsgehilfe der Au-
Zum Schluss meiner Rede möchte ich noch auf die vor tomobillobby. Sie hat eine gesetzliche Vorsorgepflicht,
kurzem angelaufene Kampagne PRO KLIMA der Deut- um die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu
schen Umwelthilfe eingehen. Die DUH erhält für diese schützen. Das ist ihre Aufgabe.
Kampagne 800 000 Euro aus dem europäischen Um-
weltprogramm Life+, das eine Co-Finanzierung durch Die Bundesregierung muss den Gift-Cocktail 1234yf
den deutschen Steuerzahler voraussetzt. Das Programm vom Markt verbannen, denn es gibt klimaneutrale und
Life+ ist dazu gedacht, neue innovative Umwelttechni- unschädliche Alternativen für gut klimatisierte Auto-
ken bei der Markteinführung zu unterstützen. Es stellt fahrten. Das Umweltbundesamt empfiehlt, künftig auf
meiner Meinung nach jedoch eine klare Zweckentfrem- das gesundheitlich unbedenkliche und unbrennbare
dung von Fördermitteln dar, wenn mit diesen Geldern Kohlendioxid, also CO2, zum Betrieb von Klimaanlagen
einseitig eine Kampagne gegen eine bestimmte Techno- in Fahrzeugen zurückzugreifen. Es kann vorhandenen
logie finanziert wird. Das ist weder umwelt- noch ord- CO2-Quellen entnommen werden. Es kommt also nicht
nungspolitisch akzeptabel und schadet letztlich auch zu einer zusätzlichen Klimabelastung. Die Fachbehörde
dem Ansehen der Deutschen Umwelthilfe selbst. Den des Bundesumweltministeriums hat Praxistests mit dem
Antrag der Linksfraktion lehnen wir ab. natürlichen Kältemittel an gängigen Fahrzeugen durch-

Zu Protokoll gegebene Reden


9096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Karin Binder
(A) geführt. Das Ergebnis ist eindeutig: In Serienfahrzeugen weiter verwendet wird? Hier ist nicht erkennbar, wie das (C)
benötigen Klimaanlagen mit CO2 im Vergleich zu ande- kontrolliert werden soll.
ren gängigen Kältemitteln weniger Energie. Sie sparen
also zusätzlich Sprit, schonen das Klima und sind ge- Kohlendioxid als Kältemittel hat das geringste Treib-
sundheitlich unbedenklich. hauspotenzial. Allerdings müssen die Klimaanlagen um-
gerüstet werden, um dem höheren Druck von 120 bar
Die Linke fordert, dass Kfz-Klimaanlagen grundsätz- standzuhalten. Damit wären sie für das besonders
lich nicht mit gesundheitsgefährdenden Kältemitteln be- schädliche bisherige Kältemittel untauglich. Und das ist
trieben werden dürfen. Sie dürfen auch nicht brennbar, auch der Grund für die Blockade der deutschen Auto-
giftig oder ätzend sein sowie keine nachteiligen Auswir- mobilindustrie. Eine Klimaanlage, die für Kohlendioxid
kungen auf die Umwelt haben. Ich fordere die Bundesre- ausgerüstet wäre, würde für einen Mittelklassewagen zu
gierung auf: Stellen Sie sich auf die Seite der Verbrau- Mehrkosten von rund 50 Euro führen, die eingespart
cherinnen und Verbraucher und kommen Sie ihrer werden sollen.
gesetzlichen Vorsorgepflicht nach!
Aus einem weiteren Grund ist die Entscheidung gegen
Kohlendioxid als Kältemittel falsch. Denn seine Stoffei-
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
genschaften eignen sich besonders gut für die Umkehr
Was gilt eigentlich das Wort von Matthias Wissmann, des Kühlprozesses. Die Klimaanlage kann also zur Wär-
dem Präsidenten des Verbandes der Automobilindus- mepumpe werden, mit der auch geheizt werden kann. Bei
trie? Im Jahr 2007 hatte er vor Beginn der Internationa- modernen Dieselfahrzeugen und Hybridautos reicht die
len Automobilausstellung in Frankfurt am Main bekun- Abwärme des Motors schon heute nicht aus, um das
det, dass die deutsche Autoindustrie in Umsetzung einer Fahrzeug im Winter ausreichend schnell zu heizen. Für
EU-Richtlinie zeitnah auf natürliche und umweltfreund- reine Elektroautos gilt das erst recht. Die Zukunft der
liche Kohlendioxid-Kältemittel umsteigen und die Arbeit Fahrzeugklimaanlagen wird daher eine integrierte Wär-
an chemischen Alternativen einstellen werde. Mittler- mepumpenfunktion haben müssen, um insbesondere bei
weile wissen wir, dass der VDA eine Kehrtwende vollzo- elektrischem Antrieb den Strombedarf für den Nebenver-
gen hat und der Einsatz des neuen Kältemittels Tetra- braucher Heizung so gering wie möglich zu halten.
fluorpropen, des sogenannten 1234yf von Honeywell
und Dupont, beschlossene Sache ist. Ich will heute nicht Das alles scheint Matthias Wissmann als Chef der
über die sicherheitsrelevanten Fragen dieser falschen deutschen Automobilindustrie nicht zu stören. Er hat
Entscheidung sprechen, auf die ich in der ersten Lesung Klimaanlagen mit dem chemischen und klimaschädli-
des Antrags eingegangen bin, sondern die klimarelevan- chen Kältemittel Tetrafluorpropen sogar als „Ökoinno-
ten und industriepolitischen Implikationen in den Mittel- vation“ bei der EU-Kommission angepriesen und wollte
(B) punkt rücken. (D)
dafür Kohlendioxid-Gutschriften für die Automobil-
Kohlendioxid als Kältemittel ist bewährt, wird in vie- industrie erhalten. Das hat die EU-Kommission aller-
len Bereichen bereits eingesetzt. So haben die Berliner dings zu Recht abgelehnt.
Verkehrsbetriebe ihre Busse in diesem Sommer mit Koh- So viel zum Thema Anspruch und Wirklichkeit der
lendioxid-Klimaanlagen ausgestattet. Führende deut- deutschen Automobilindustrie als Klimaschützer!
sche Hersteller für Fahrzeugklimaanlagen wie zum Bei-
spiel Konvekta, Eberspächer und Webasto haben im
Vertrauen auf Wissmanns Zusage Millionen in die Ent- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
wicklung der Kohlendioxid-Technik investiert und sie Wir kommen zur Abstimmung. Der Umweltausschuss
marktreif gemacht. empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/4070, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Aber die deutsche Automobilindustrie, angeführt von Drucksache 17/3432 abzulehnen. Wer stimmt für diese
ihrem Verband, begibt sich lieber in die Abhängigkeit Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
der US-amerikanischen Chemieriesen Honeywell und haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
Dupont, die sich auf ein Joint Venture für Konstruktion, men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
Bau und Betrieb einer Produktionsstätte für Tetrafluor- der Linken und der Grünen bei Enthaltung der SPD an-
propen geeinigt haben. Sie sind weltweit die Einzigen, genommen.
die dieses Mittel herstellen. Auf gut Deutsch bilden diese
Firmen das Monopol für die Substanz und bestimmen Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:
damit auf Jahre hinaus auch den Preis. Das ist indus-
triepolitisch, vorsichtig formuliert, äußerst kurzsichtig. Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Noch schlimmer sind die klimapolitischen Implikatio- eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 23. Juni
nen; denn Klimaanlagen, die mit Tetrafluorpropen be- 2010 zur Änderung des Protokolls über die
trieben werden, sind viermal so schädlich wie die mit Übergangsbestimmungen, das dem Vertrag
Kohlendioxid. Außerdem können diese Anlagen auch über die Europäische Union, dem Vertrag
weiterhin mit dem verbotenen und 1 300-mal so schädli- über die Arbeitsweise der Europäischen Union
chen Mittel Tetrafluorethan betrieben werden. Wer ga- und dem Vertrag zur Gründung der Europäi-
rantiert denn, dass dieses Mittel bei einer Wartung nicht schen Atomgemeinschaft beigefügt ist
einfach wieder eingefüllt wird? Was hat die Bundesre-
gierung getan, damit das alte chemische Mittel nicht – Drucksache 17/3357 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9097
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- konsequente Umsetzung des EU-Rechts an dieser Stelle (C)
ses für die Angelegenheiten der Europäischen lieber gewesen.
Union (21. Ausschuss)
Wir sind uns einig, dass mit der Möglichkeit der
– Drucksache 17/4244 – Nachbesetzung der zusätzlichen Mandate aus der Mitte
Berichterstattung: der nationalen Parlamente die Wahlrechtsgrundsätze
Abgeordnete Thomas Dörflinger nicht ausreichend berücksichtigt werden, und ich habe
Michael Roth (Heringen) dargelegt, dass es sich dabei auch um eine Problematik
Michael Link (Heilbronn) handelt, bei der man sehr genau hinschauen muss. Wir
Dr. Diether Dehm haben uns die Frage gestellt, wie damit umzugehen ist,
Manuel Sarrazin und kommen als CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu dem
Ergebnis, eine pragmatische Herangehensweise zu emp-
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die fehlen und dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Reden folgender Kollegen zu Protokoll gegeben:
Thomas Dörflinger, Karl Holmeier, Michael Roth, Lassen Sie mich aber auch ein paar grundsätzliche
Michael Link, Diether Dehm und Manuel Sarrazin. Anmerkungen zum Stimmenverhältnis im Europäischen
Parlament machen. Ich halte eine umfassende Überar-
Thomas Dörflinger (CDU/CSU): beitung des Systems für die Wahlen zum Europäischen
Parlament für richtig und bin dem britischen EP-Kolle-
Wir debattieren heute abschließend den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung zur Änderung des Protokolls gen Andrew Duff für seine Vorschläge dankbar, auch
über die Übergangsbestimmungen zur Zusammenset- wenn ich sie nicht in allen Punkten teile. Richtig ist, dass
zung des Europäischen Parlaments nach Inkrafttreten bevölkerungsarme Mitgliedstaaten im Vergleich zu be-
des Vertrags von Lissabon. Wir erinnern uns: Die Ar- völkerungsreichen Mitgliedstaaten nach wie vor über-
beits- und Rechtsgrundlage in der EU ist seit Dezember proportional viele Stimmen erhalten. Folglich ist bei der
2009 der Vertrag von Lissabon; das Europäische Parla- Wahl des Europäischen Parlaments das Prinzip der
ment wurde aber im Juni 2009 noch auf der Vertrags- Gleichheit aller Bürger nur unzureichend verwirklicht.
grundlage von Nizza gewählt. Mit dem vorliegenden Ge- Nach den primärrechtlichen Regelungen beträgt die
setzentwurf soll die Zusammensetzung des Europäischen Höchstzahl der Abgeordneten 751. Kein Mitgliedstaat
Parlaments nun angepasst werden. Das Protokoll legt erhält mehr als 96 Sitze und keiner weniger als sechs
insbesondere fest, die Zahl der Sitze im Europäischen Sitze. Das führt dazu, dass das Gewicht der Stimme des
Parlament bis zum Ende der laufenden Legislatur- Staatsangehörigen eines bevölkerungsschwachen Mit-
periode um 18 auf insgesamt 754 Sitze zu erhöhen. Die gliedstaats etwa das Zwölffache des Gewichts der
(B)
Höchstzahl der primärrechtlich vorgesehenen Zahl von Stimme des Staatsangehörigen eines bevölkerungsstar- (D)
EP-Sitzen wird damit vorübergehend überschritten. ken Mitgliedstaats betragen kann.

Ich komme gleich zum Kernpunkt des Gesetzentwurfs Damit politische Projekte gelingen können, ist eine
und einem legitimatorischen Problem: So sollen die Mit- zentrale Idee der europäischen Integration, Diskrimi-
gliedstaaten, die zusätzliche Mandate erhalten, diese nierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu ver-
nach ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften ver- bieten oder zu beschränken. Die Konzeption des Binnen-
geben. Konkret heißt das, dass die Plätze in Ad-hoc- markts beruht auf der Überzeugung, es mache keinen
Wahlen oder auf der Grundlage der Ergebnisse der Unterschied, aus welchem Mitgliedstaat eine Ware oder
Europawahlen vom Juni 2009 vergeben werden. Mög- eine Dienstleistung stammt, woher ein Arbeitnehmer
lich ist aber auch – so sieht es der Gesetzentwurf vor –, oder Unternehmer kommt und welcher Herkunft Investi-
dass die nachrückenden EP-Abgeordneten aus der Mitte tionen sind. Dieses Kriterium der Staatsangehörigkeit
der nationalen Parlamente ernannt werden. Ich war im- soll nach dem Lissabon-Vertrag entscheidend sein, wenn
mer einer derjenigen, die die Stärkung des Parlaments die politischen Einflussmöglichkeiten der Bürger in der
und damit die Tendenz zur Beseitigung eines institutio- Europäischen Union zugemessen werden. Es gibt hier
nellen Demokratiedefizits innerhalb der EU durch den nach meinem Dafürhalten einen Wertungswiderspruch,
Vertrag von Lissabon für einen der wichtigsten Punkte der aber mindestens ansatzweise aufgelöst werden
gehalten haben. Jetzt kann man die Auffassung vertre- könnte.
ten, es handle sich hier um eine Übergangsvorschrift,
die dadurch notwendig wurde, dass sich die Wahlen zum Deswegen der Vorschlag: Wenn wir unter Beibehal-
Europäischen Parlament und die Ratifizierung des Ver- tung der Höchstzahl von 751 Abgeordneten und einem
trages von Lissabon überschnitten haben. Im Übrigen Sockel von sechs Sitzen pro Mitgliedstaat einen Vertei-
– darauf weist das Bundesverfassungsgericht hin – ist lungsschlüsse nach D’Hondt für alle weiteren Sitze an-
das Europäische Parlament auch nach der Neuformulie- wenden, der die Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten
rung in Art. 14 Abs. 2 EUV-Lissabon und entgegen dem stärker berücksichtigt, könnte dies eine Lösung sein.
Anspruch, den Art. 10 Abs. 1 EUV-Lissabon nach sei- Letztlich brauchen wir mit Blick auf Beitritte von neuen
nem Wortlaut zu erheben scheint, kein Repräsentations- Ländern in der Zukunft einen Mechanismus, der sich
organ eines souveränen europäischen Volkes. Folglich selbst perpetuiert und die Notwendigkeit vermeidet, mit
scheint eine Benennung nachrückender Abgeordneter jedem Beitritt den Vertrag von Lissabon erneut in die
für dieses Parlament – ohne vorherige Wahl – verkraft- Hand nehmen zu müssen. Lassen Sie uns darüber einmal
bar. Gleichwohl, das räume ich gerne ein, wäre mir eine diskutieren.
9098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Thomas Dörflinger
(A) Abschließend danke ich meinen Berichterstatterkolle- ment diese Angelegenheit sieht. Wir stimmen gegen die (C)
gen für den konstruktiven Austausch und werbe um Zu- Änderung des Protokolls, wenn die zusätzlichen Abge-
stimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf. ordneten aus der Mitte der nationalen Parlamente be-
stimmt werden können. Ich finde, wir sollten die Position
Karl Holmeier (CDU/CSU): des Europaparlaments respektieren und uns als natio-
Wir reden zwar im Zusammenhang mit den Über- nale Parlamentarier entsprechend fair verhalten.
gangsmaßnahmen zur Zusammensetzung des Europäi- Zweitens. Der nächste Gesichtspunkt, auf den ich
schen Parlaments viel über Demokratie, aber ich habe gern hinweisen möchte, ist folgender: Alle, die dem Ge-
den Eindruck, einige haben nicht wirklich verstanden, setzentwurf der Bundesregierung heute nicht zustimmen,
was Demokratie letztlich bedeutet. müssen sich im Klaren darüber sein, dass sie versuchen,
In unserer letzten Debatte zu diesem Thema im Mai darüber zu bestimmen, wie sich ein anderer Mitglied-
dieses Jahres hatte ich bereits auf die Worte von Winston staat zu verhalten hat – hier konkret Frankreich, das
Churchill hingewiesen, der gesagt hat: aufgrund seiner innerstaatlichen Regelungen die um-
strittene Variante ins Auge fasst.
„Demokratie ist die Notwendigkeit, sich gelegentlich
den Ansichten anderer Leute zu beugen.“ Sie würden sich, genauer gesagt, anmaßen, die Fran-
zosen darüber zu belehren, wie Demokratie auszusehen
Das sollten wir uns auch in dieser Sache alle zu Her- hat.
zen nehmen. In einer Demokratie muss man sich den
Mehrheiten fügen, und ganz offensichtlich sind wir in Ich möchte keinen falschen Eindruck erwecken.
Europa nicht in der Mehrheit mit unserer Vorstellung, Ich sehe eine Benennung der zusätzlichen Europaab-
die zusätzlichen Mandate dürften ausschließlich auf geordneten aus der Mitte der nationalen Parlamente aus
Grundlage einer Direktwahl vergeben werden. Demokratiegesichtspunkten ebenfalls sehr kritisch.
Das mag uns gefallen oder nicht. Die Mehrheit der Ich möchte aber betonen, dass wir uns auch als Abge-
Staats- und Regierungschefs hat sich aber nun einmal ordnete des größten EU-Mitgliedstaates den Mehrheiten
darauf verständigt, auch die umstrittene Option 3 im in Europa beugen müssen. Hier kann ich nur nochmals
Verfahren zur Nachbesetzung der zusätzlichen Sitze im an den Satz von Churchill erinnern. Als deutsche Abge-
Europaparlament zuzulassen, also die Benennung der ordnete sollten wir anderen Parlamenten nichts vor-
Abgeordneten aus der Mitte der nationalen Parlamente. schreiben. Dies würde dem freundschaftlichen und re-
Als Mitgliedstaat mit den meisten Einwohnern sollten spektvollen Umgang mit den anderen Mitgliedstaaten
wir auch die Größe haben, uns der Mehrheit zu beugen, widersprechen. Außerdem sollten wir akzeptieren, dass
(B)
wenn wir selbst in der Minderheit sind und daher dem das Europaparlament als eigenständiges EU-Organ (D)
Gesetzentwurf der Bundesregierung heute zustimmen. auch eigene Entscheidungen trifft, die uns nicht immer
hundertprozentig gefallen.
Das ist der erste zentrale Punkt, auf den ich in dieser
Debatte hinweisen will. Zurückhaltung unsererseits ist vor allem auch vor
dem Hintergrund geboten, dass Deutschland seine der-
Außerdem, denke ich, sollte man zwei weitere Ge- zeitigen Sitze im Europaparlament bis zur nächsten
sichtspunkte im Hinterkopf behalten: Wahl behält und damit die im Lissabon-Vertrag vorgese-
Erstens. Natürlich ist die Direktwahl zum Europäi- hene Höchstzahl an Sitzen vorübergehend überschritten
schen Parlament ein Meilenstein in der europäischen wird. Ich bitte Sie deshalb, dem Gesetzentwurf der Bun-
Politik gewesen. desregierung zuzustimmen.

Aber gerade weil das so ist, sollte man den direkt ge- Michael Roth (Heringen) (SPD):
wählten Mitgliedern dieses Parlaments auch zugeste-
Meine Fraktion und ich bedauern zutiefst, dass im
hen, dass zuallererst sie selbst über die sie betreffenden
Angelegenheiten entscheiden. spanischen Vorschlag zu den Übergangsregelungen zur
Zusammensetzung des Europäischen Parlaments die
Und das Europaparlament hat entschieden, dass eine dritte Option, also die Nachbenennung aus den nationa-
Benennung der Abgeordneten aus der Mitte der nationa- len Parlamenten, bestehen bleibt. Deshalb haben wir
len Parlamente zwar nicht mit dem Geist des Akts von bereits in einem Antrag vom 15. Dezember vergangenen
1976 vereinbar ist. Danach sollen nämlich die europäi- Jahres deutlich gemacht, dass wir diese Lösung für in-
schen Abgeordneten direkt und nicht indirekt über eine akzeptabel halten. In diesem Punkt gab es immerhin eine
Wahl in einem nationalen Parlament gewählt werden. Es breite fraktionsübergreifende Übereinstimmung im
hat aber auch seine Auffassung klargemacht, dass den- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
noch im Fall unüberwindbarer technischer oder politi- Union. Unter Hinweis auf die Direktwahlen zum Euro-
scher Schwierigkeiten eine indirekte Wahl durch die na- päischen Parlament seit 1979 und das Demokratieprin-
tionalen Parlamente akzeptabel ist. zip haben die Fraktionen unisono diese Möglichkeit
scharf kritisiert – zu Recht. Wahlrechtsgrundsätze sind
Ich fände es eine ziemliche Respektlosigkeit gegen- nun einmal fundamentale Verfassungsgrundsätze.
über den direkt gewählten Europaparlamentariern, sich
als Abgeordnete eines nationalen Parlaments hinzustel- Die SPD-Fraktion ist im Lichte des Urteils des Bun-
len und zu sagen: Es ist uns egal, wie das Europaparla- desverfassungsgerichts zur Begleitgesetzgebung zum

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9099
Michael Roth (Heringen)
(A) Vertrag von Lissabon ihrer Integrationsverantwortung führt. Dies war notwendig, um die Zustimmung aller (C)
nachgekommen. Wir haben die Bundesregierung früh- EU-Mitgliedstaaten für den Vertrag zu erhalten.
zeitig darauf aufmerksam gemacht und auch eindring-
lich aufgefordert, in den Verhandlungen darauf hinzu- Der Vertrag konnte aus den bekannten Gründen nicht
wirken, dass die im Vorschlag genannte dritte Option so bald wie ursprünglich geplant in Kraft treten. Daher
der Nachbenennung nicht übernommen wird. Ich kann musste zunächst noch einmal nach dem alten Vertrag ge-
nur feststellen: Die Bundesregierung hat sich trotz die- wählt werden. Der Europäische Rat beschloss darauf-
ser frühzeitigen Kritik nicht ausreichend auf europäi- hin, als Übergangsmaßnahme die Zahl der Mandate be-
scher Ebene dafür eingesetzt, dass eine Nachbenennung reits in der laufenden Legislaturperiode des
aus den nationalen Parlamenten möglich ist, um die zu- Europäischen Parlaments an die mit dem Vertrag von
sätzlichen Mandate zu besetzen. Lissabon vorgesehene erhöhte Zahl anzupassen. Der
Vorschlag der spanischen EU-Ratspräsidentschaft vom
Ganz klar: Die SPD-Bundestagsfraktion stellt in kei- 4. Dezember 2009 nach Art. 48 Abs. II EUV sah vor,
ner Weise und zu keinem Zeitpunkt die Vereinbarung der dass die betroffenen Mitgliedstaaten – Deutschland ge-
Anpassung der Sitzverteilung an sich infrage. Zum Ab- hörte im Übrigen nicht dazu – ihre zusätzlichen Abge-
stimmungsverhalten meiner Fraktion habe ich bereits in ordneten nach ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften
der gestrigen Ausschusssitzung gesagt, dass wir uns bestimmen – vorausgesetzt, die neuen Abgeordneten
dennoch aus integrationspolitischer Verantwortung wurden in allgemeinen unmittelbaren Wahlen gewählt.
dazu entschlossen haben, dem vorliegenden Gesetzent-
Der spanische Vorschlag sah drei Alternativen vor,
wurf zuzustimmen. Das Problem der Nachbesetzung
von denen zwei auf den ersten Blick unbedenklich wa-
stellt sich – zum Glück – nur in Frankreich. Es handelt
ren, nämlich die Durchführung von Ad-hoc-Nachwahlen
sich also um einen absoluten Sonderfall, der in dieser
oder die Bestimmung auf Grundlage des Ergebnisses
Form künftig nicht mehr eintreten wird und darf.
der Europawahlen vom Juni 2004. Die dritte Alternative
Unsere Bedenken wiegen deshalb so schwer, weil das jedoch warf gewisse Fragen nach der demokratischen
Europäische Parlament – erst Recht durch den Vertrag Legitimation der neuen Abgeordneten auf, nämlich dass
von Lissabon – die wichtigste Legitimationsquelle euro- ein nationales Parlament die zusätzlichen Abgeordneten
päischer Rechtsakte ist. Das Mitentscheidungsverfahren auch aus seiner Mitte bestimmen könnte.
als ordentliches Gesetzgebungsverfahren macht es na- Dieses Änderungsprotokoll wurde vom Bundestag
hezu zum gleichberechtigten Gesetzgeber neben dem auch deshalb besonders aufmerksam begleitet, weil es
Rat. Auch sonstige parlamentstypische Funktionen, wie den ersten Anwendungsfall des neuen Gesetzes über die
Wahlfunktion, Budgetfunktion und Willensbildungs- Zusammenarbeit von Bundestag und Bundesregierung
(B) funktion werden von den Kolleginnen und Kollegen in in EU-Angelegenheiten darstellte, und zwar konkret des (D)
Brüssel wahrgenommen. Nicht zuletzt die öffentlich- § 10 des EUZBBG. Die Koalitionsfraktionen waren sich
keitswirksamen Debatten im Europäischen Parlament bewusst, dass der Umgang beider Verfassungsorgane
zum SWIFT-Abkommen oder den Haushaltsverhandlun- mit diesem Fall stilbildend für alle künftigen Fälle sein
gen zeigen uns: Ein zahnloser Tiger ist das Europäische würde. Aus diesem Grunde gab der Bundestag am
Parlament schon lange nicht mehr. 21. April 2010 eine Stellungnahme nach Art. 23. Abs. 3
Zudem offenbart uns die Debatte heute aber das reale GG in Verbindung mit § 10 EUZBBG ab, in der er seine
Problem: das Fehlen eines einheitlichen Wahlrechts für Bedenken äußerte und die Bundesregierung um Aufklä-
Abgeordnete des Europäischen Parlaments. Deshalb rung bat. Nachdem das Auswärtige Amt die entspre-
werden wir unsere Kolleginnen und Kollegen bei Vorha- chenden Informationen übermittelt und den Bundestag
ben zu einer Wahlrechtsreform nach besten Kräften un- um Erklärung seines Einvernehmens gebeten hatte,
terstützen. Schon lange gilt nicht mehr, dass nationale konnte dieser sein Einvernehmen am 16. Juni 2010 er-
Parlamente und das Europäische Parlament sich in teilen.
Konkurrenz befinden – zumindest sehen wir Sozialdemo- Bundestag und Bundesregierung haben in diesem
kratinnen und Sozialdemokraten das so. Das Europäi- Dossier in ihrer Zusammenarbeit einen neuen Weg be-
sche Parlament und die nationalen Parlamente sind schritten, der sehr durch Kooperation und gegenseitige
zwei Seiten ein und derselben Medaille – der Parlamen- Information geprägt war und durchaus als Modell für
tarisierung und damit auch der Demokratisierung der künftige Fälle dienen kann. Ich möchte an dieser Stelle
Europäischen Union. Es gibt also viel zu tun. Eine Ent- ausdrücklich Herrn Staatsminister Dr. Werner Hoyer
parlamentarisierung der Politik, wie sie von vielen be- danken, der großen Wert auf diese enge Kooperation
klagt wird, können und wollen wir unter keinen Umstän- legte, sodass dieses Dossier alsbald für alle Seiten be-
den zulassen. Mehr Demokratie in Europa wagen geht friedigend abgeschlossen werden konnte.
nicht mit mehr Intergouvernementalismus, sondern nur
mit mehr Parlamentarismus.
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):
Da der Vertrag von Lissabon erst am 1. Dezember
Michael Link (Heilbronn) (FDP): 2009 in Kraft getreten war, musste das Europäische Par-
Im Rahmen eines politischen Gesamtkompromisses lament, EP, im Juni 2009 noch nach den vorher gelten-
unter den EU-Mitgliedstaaten wurde mit dem Vertrag den vertraglichen Bestimmungen gewählt werden. Da-
von Lissabon auch eine Erhöhung der Zahl der Mandate bei hätte man es bis zum Ende der Wahlperiode belassen
des Europäischen Parlamentes um insgesamt 18 einge- können und belassen sollen. Denn dies entspricht dem

Zu Protokoll gegebene Reden


9100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Diether Dehm


(A) guten Grundsatz, dass Parlamente sich nach dem Recht Sosehr wir die Europäische Integration bejahen, so (C)
bilden und zusammensetzen, das zur Zeit ihrer Wahl gilt. sehr lehnen wir es ab unverzichtbare Verfassungsprinzi-
pien einer angeblichen Integrationsverantwortung zu
Allerdings ist richtig, dass die Mitgliedstaaten, die opfern. Das gilt für Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlich-
nach dem Vertrag von Lissabon mehr Abgeordnete im keit und natürlich für die Demokratie. Den Gesetzent-
EP bekommen sollten, mit dieser Regelung nicht einver- wurf lehnen wir daher ab.
standen waren. Das ist zwar verständlich, dennoch be-
stand kein Zwang, diesen Forderungen nachzugeben.
Vor allem dann nicht, wenn eine vertragsgemäße und Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
verfassungskonforme Lösung dafür nicht möglich war. Wir sprechen heute über eine höchst wichtige euro-
Tatsächlich ist es so: Die konkreten Regelungen zur päische Angelegenheit. Mit dem Vertrag von Lissabon
Parlamentserweiterung, vorgeschlagen von der damali- ändert sich der Schlüssel, nachdem die Mandate auf die
gen spanischen Ratspräsidentschaft, verstoßen gegen einzelnen Mitgliedstaaten verteilt werden. 12 Staaten er-
demokratische Wahlrechtsgrundsätze. Sie brechen die halten zusätzliche Mandate, insgesamt 18. Deutschland
Grundsätze, die seit der ersten Direktwahl des EP ver- muss in Zukunft auf 3 Sitze verzichten, da die Ober-
bindlich festgelegt sind: Nach einer der drei Varianten grenze für Abgeordnete aus einem Land von 99 auf
– der sogenannten Option C –, die der spanische Vor- 96 abgesenkt wird. Durch die verzögerte Annahme des
schlag enthält und nach der in Frankreich zusätzliche Vertrages von Lissabon konnte das aktuelle Europäische
Mitglieder des EP bestimmt werden sollen, findet keine Parlament aber noch nicht nach den neuen Bestimmun-
direkte Wahl durch die Bevölkerung statt. Hier ist die gen gewählt und besetzt werden. Daher sind wir heute in
Ernennung der zusätzlichen EP-Mitglieder durch die einer Situation, in der Lissabon Realität, das Parlament
nationalen Parlamente vorgesehen, und zwar aus dem aber nach den alten Regeln von Nizza zusammengesetzt
Kreis ihrer Abgeordneten. ist.

Dass diese Lösung demokratiewidrig ist, war bei den Der Europäische Rat hat sich darauf geeinigt, dass
ersten Diskussionen im Bundestag bei allen Fraktionen zusätzliche Sitze schon während der Wahlperiode nach-
unbestritten. Auf einen in seinen Formulierungen sehr zu- besetzt werden sollen. Kurz: Die zwölf Länder, denen
rückhaltenden Antrag der Koalitionsparteien – 17/1179 – nach Lissabon mehr Sitze im Parlament zustehen, sollen
hatte der Bundestag dann auch festgestellt, dass „die im diese Sitze möglichst schnell nachbesetzen. Diese Ent-
spanischen Vorschlag enthaltene Option zur Bestim- scheidung finden wir gut. Vor allem die Bürgerinnen und
mung der zusätzlichen Mitglieder des Europäischen Bürger in Spanien haben mit dem erfolgreichen Referen-
Parlamentes durch Benennung aus der Mitte der natio- dum zum Vertrag von Lissabon viel Europamut bewie-
(B) nalen Parlamente dem Geist des Direktwahlakts von sen. Diesen Mut wollen wir belohnen und zeigen, dass (D)
1976 widerspricht“. Dieser berechtigte Einwand ist lei- wir die gestärkten Mitbestimmungsrechte der Bürgerin-
der folgenlos geblieben. nen und Bürger so schnell wie möglich in die Praxis um-
setzen wollen. Es ist das richtige Zeichen, die vier zu-
In dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzent- sätzlichen Sitze, die Spanien mit dem Vertrag von
wurf der Bundesregierung werden weder diese Grund- Lissabon zustehen, neben den 14 anderen Mandaten
satzproblematik noch der Beschluss des Bundestags frühzeitig zu besetzen.
auch nur eines Wortes gewürdigt. In der Aussprache im
federführenden EU-Ausschuss haben sich die Koali- Nicht gut ist die Art und Weise, wie diese Sitze nach-
tionsfraktionen CDU/CSU und FDP – wie auch aus dem besetzt werden sollen. Das Protokoll, das heute zur Ab-
offiziellen Bericht hervorgeht – schamhaft überhaupt stimmung steht, sieht für die Nachbesetzung drei Optio-
nicht geäußert. Die SPD hat den Gesetzentwurf zwar für nen vor: Die Vergabe der zusätzlichen Mandate auf
inakzeptabel erklärt, im selben Atemzug aber angekün- Grundlage der Ergebnisse der letzten Europawahlen
digt, aus integrationspolitischer Verantwortung heraus oder über allgemeine Ad-hoc-Wahlen sind die zwei
dem Entwurf zustimmen zu wollen. Die Grünen erklär- Möglichkeiten, die demokratisch sind und die wir gut
ten aus derselben Verantwortung heraus, sich der finden. Wir sollen heute aber ein Protokoll absegnen,
Stimme enthalten zu wollen. dass es unter anderem auch ermöglicht, die zusätzlichen
Abgeordneten aus der Mitte des jeweiligen nationalen
Unserer Integrationsverantwortung für eine demo- Parlaments benennen zu lassen. Das können wir nicht
kratische Europäische Union entspricht es, keiner demo- tolerieren! Warum?
kratiewidrigen Ausgestaltung der EU oder eines ihrer
Organe zuzustimmen – auch nicht in einer Übergangs- Bis 1974 sind die Abgeordneten des Europäischen
vorschrift. Einer Wahl zu einer parlamentarischen Ver- Parlaments nicht direkt gewählt, sondern aus den natio-
tretungsköperschaft, bei der das passive Wahlrecht nicht nalen Parlamenten entsandt worden. Erst mit dem Di-
allen Bürgerinnen und Bürgern zusteht, sondern auf ei- rektwahlakt von 1976 und den ersten Direktwahlen des
nen privilegierten Personenkreis – hier: auf die Abge- Europäischen Parlaments 1979 ist es dann gelungen,
ordneten der jeweiligen nationalen Parlamente – be- die damalige Europäische Gemeinschaft näher an die
schränkt ist, verstößt auch gegen die fundamentalen Bürgerinnen und Bürger zu bringen, also demokrati-
Grundsätze der parlamentarischen Demokratie, wie sie scher zu machen. Diese demokratische Errungenschaft
unter anderem in Art. 38 des Grundgesetzes niederlegt ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem Europa der
sind – vor allem die Grundsätze der allgemeinen, der Bürgerinnen und Bürger. Der Vorschlag, über den wir
gleichen und der direkten Wahl. heute abstimmen, ist ein Rückschritt. Und demokrati-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9101
Manuel Sarrazin
(A) sche Rückschritte auf Kosten der Bürgerinnen und Bür- und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung (C)
ger – wenn auch zeitlich begrenzt – wird es mit uns nicht der Grünen angenommen.
geben.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 a auf:
Diese Problematik hat nicht nur meine Fraktion wie-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
derholt zum Ausdruck gebracht. Alle Parteien dieses
Dörner, Maria Klein-Schmeink, Kai Gehring,
Hauses haben in ihren Anträgen und Stellungnahmen
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
deutlich gemacht, dass die dritte Option nicht mit dem
NIS 90/DIE GRÜNEN
Geist des Direktwahlakts von 1976 vereinbar ist und im
Widerspruch zu Art. 14 Abs. 3 des Vertrages der Euro- Gesundes Aufwachsen für alle Kinder möglich
päischen Union steht. Der bestimmt, dass das Europäi- machen
sche Parlament aus direkten Wahlen hervorgeht. Aus
dieser richtigen Erkenntnis haben die Kolleginnen und – Drucksache 17/3863 –
Kollegen der Koalition aber leider nicht die entspre- Überweisungsvorschlag:
chende Konsequenz gezogen. Sie haben der Option C Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
frühzeitig ihre Absolution gegeben, indem sie gesagt ha- Ausschuss für Gesundheit
ben: Ist in Ordnung, wenn es einen guten Grund gibt. –
Der gute Grund ist folgender: Manche der Mitgliedstaa- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
ten sehen sich nicht in der Lage, ihre zusätzlichen Sitze Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Proto-
auf Grundlage der Ergebnisse der letzten Europawahlen koll gegeben: Dorothee Bär, Peter Tauber, Marlene
oder über allgemeine Ad-hoc-Wahlen nachzubesetzen. Rupprecht, Florian Bernschneider, Diana Golze und
Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen hat dieses Katja Dörner.
Haus daraufhin der Bundesregierung ihr Einvernehmen
gegeben, auch der Option C ihre Zustimmung zu geben. Dorothee Bär (CDU/CSU):
Das bringt uns heute in ein wirkliches Dilemma. Prävention und Gesundheitsförderung sind eine ent-
Stimmt der Bundestag dem Protokoll zu, dann geben wir scheidende Antwort auf die neuen gesundheitlichen
demokratische Grundprinzipien preis – wenn auch nicht Herausforderungen im 21. Jahrhundert. In der Kindheit
dauerhaft. Stimmt der Bundestag mit Nein, dann ist das und Jugend werden gesundheitsgefährdende, aber auch
eine Stimme für die Legitimation des Europäischen Par- gesundheitsfördernde Verhaltensweisen geprägt. Thema
laments durch die Bürgerinnen und Bürger. Wir verhin- des 13. Kinder- und Jugendberichts ist deshalb die
dern aber auch, dass die anderen elf Mitgliedstaaten gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförde-
rung in der Kinder- und Jugendhilfe. Dort können nach-
(B) ihre zusätzlichen Mandate nachbesetzen können. Ich haltige Angebote einen wichtigen Beitrag zur Verringe- (D)
hätte mir gewünscht, dass uns die Koalition nicht in
diese Lage hineinmanövriert hätte. Jetzt gibt es gute rung der Leiden der Betroffenen sowie zur Entlastung
Gründe, dem Protokoll zuzustimmen, aber auch mindes- der Sozialversicherungssysteme leisten.
tens genauso gute Gründe, nicht dafür zu stimmen. Wir Der Antrag der Grünen gründet überwiegend auf den
von Bündnis 90/Die Grünen können diese Zustimmung Ergebnissen des 13. Kinder- und Jugendberichts und
heute nicht geben. nimmt dort erarbeitete Empfehlungen auf. Es werden al-
Wenn der Bundestag heute dem Protokoll zustimmt lerdings die vielfältigen, bereits von der Bundesregie-
und auch alle anderen 26 Mitgliedstaaten dieses ratifi- rung getroffenen Initiativen und Maßnahmen zur The-
zieren, werden die zusätzlichen 18 Mandate im Laufe matik kaum bis gar nicht berücksichtigt.
des kommenden Jahres nachbesetzt. Die primäre Auf- Zunächst gehört die geforderte Umsetzung von Er-
gabe der Bundesregierung kann es dann nur sein, eine gebnissen und Empfehlungen des 13. Kinder- und Ju-
Wiederholung einer solchen Entscheidung für die Zu- gendberichts in die Fachpraxis nicht zu den Aufgaben
kunft auszuschließen, indem sie sich mit den anderen der Bundesregierung. Zuständig für die praktische Aus-
Mitgliedstaaten und in Abstimmung mit dem Europäi- gestaltung der Kinder- und Jugendhilfe sind einerseits
schen Parlament auf ein einheitliches Wahlrecht für die Länder und Kommunen, andererseits Träger von Ein-
Wahlen zum EP verständigt. richtungen, Diensten und Angeboten. Jugendbehörden
und Fachverbände haben bereits eine Vielzahl von Ta-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gungen zum 13. Kinder- und Jugendbericht durchge-
Wir kommen zur Abstimmung. führt, um die Ergebnisse in die Fachpraxis zu transpor-
tieren.
Zweite Beratung
Hinsichtlich der von den Grünen geforderten Verbes-
und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für die Angele- serung der Kooperation zwischen Kinder- und Jugend-
genheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner hilfe und dem Gesundheitssystem hat die Bundesre-
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4244, den von gierung bereits wichtige Schritte eingeleitet: Im
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Referentenentwurf eines Kinderschutzgesetzes wird
Drucksache 17/3357 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diese Intention aufgegriffen. Mit dem Aktionsprogramm
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- „Frühe Hilfen“ wurden Erkenntnisse für eine bessere
ben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe und
setzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD Gesundheitssystem gewonnen. Mit dem „Nationalen
9102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dorothee Bär
(A) Zentrum Frühe Hilfen“ werden durch gemeinsame Trä- Der Bericht mahnt zu Recht eine weitergehende wis- (C)
gerschaft der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf- senschaftliche Begleitung der beiden noch zu beschrei-
klärung mit dem Deutschen Jugendinstitut das Gesund- benden Leitthemen des aktuellen Berichtsschwerpunktes
heitssystem und die Jugendhilfe zusätzlich strukturell an. Hilfreich war hier vor allem der Hinweis auf aktuelle
verbunden. Überdies ist die Bundesregierung bereits in- amerikanische Forschungen von Richard Lerner, der
tensiv dabei, die Möglichkeiten der beantragten einheit- „die fünf Cs der positiven Jugendentwicklung“ – näm-
lichen Zuständigkeit für alle Kinder und Jugendlichen lich competence, caring, connection, confidence, cha-
mit Behinderung – sogenannte große Lösung – zu prü- racter – definiert hat. Deutlich wird hier, dass neben ma-
fen. teriellen vor allem soziale Beziehungsgeflechte und
Rahmenbedingungen eine wesentliche Voraussetzung
Hinsichtlich der Forderungen nach einer besseren dafür sind, dass Kinder und Jugendliche „gut in die Ge-
Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule wird da- sellschaft hineinwachsen“. Diese Aspekte kommen in
rauf hingewiesen, dass die Bundesregierung bereits seit vielen politischen Diskussionen kaum vor. Es ist unsere
mehreren Jahren Modellprojekte zu dieser Thematik för- Aufgabe, sich diesen Aspekten stärker zu widmen und
dert. Im Übrigen sind für den Schulbereich die Länder hier die im 13. Kinder- und Jugendbericht nahezu aus-
zuständig. Damit ist der Antrag, dessen Zielsetzung gesparte Verantwortung und Aufgaben der Eltern zu the-
grundsätzlich begrüßt wird, im Ergebnis abzulehnen. matisieren. Richard Lerner hat noch ein sechstes „C“
definiert: contribution. Gemeint ist damit, positive Ju-
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): gendentwicklung mit gesellschaftlicher Partizipation zu
Mit der Vorlage des 13. Kinder- und Jugendberichts verknüpfen. Der Bereich der Jugendfreiwilligendienste
ist es der Bundesregierung erstmals gelungen, einen Be- beispielsweise schafft eine solche Möglichkeit der Parti-
richt vorzulegen, der alle Kinder in Deutschland in den zipation. Doch auch dieser Punkt, der noch breiten ge-
Blick nimmt – ganz gleich, ob es sich um Kinder mit oder sellschaftspolitischen Spielraum bietet, ist eine gesamt-
ohne Behinderungen handelt. Die Ergebnisse des Be- staatliche Aufgabe. Hier sind Kommunen und Länder
richts sind zunächst einmal sehr beruhigend. ebenso gefordert wie der Bund. Entscheidend ist aber
auch hier ein positiver Ansatz, den es durch eine wissen-
Der Bericht macht nämlich deutlich, dass 80 Prozent schaftliche Begleitung zu stärken gilt.
der Kinder- und Jugendlichen, begleitet von ihren Eltern
und unterstützt durch gesellschaftliche Institutionen wie Die gesundheitsbezogene Prävention und Gesund-
Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sowie den sozi- heitsförderung ist schon seit vielen Jahren auf der Ta-
alstaatlichen Unterstützungsmechanismen, das erleben, gesordnung. Hier sollte es aber eine erkennbare
was man eine „sorgenfreie Kindheit“ nennt. Sie haben Schwerpunktbildung bzw. eine stärkere Fokussierung
(B) die Möglichkeit einer selbstbestimmten Entwicklung und als bislang ergeben. Dies erscheint uns sehr wichtig. (D)
nutzen diese. Damit bleibt Deutschland ein für Kinder- Als besonderes Problem haben alle Sachverständigen
und Jugendliche lebenswertes Land, das gute Rahmen- in der Anhörung eine „Große Lösung“ in der Frage der
bedingungen bietet. Professor Dr. Heiner Keupp hat da- Zuständigkeit bzw. einer tragfähigen Verknüpfung der
her deutlich gemacht: „Es ist mir (…) wichtig, dass Ka- Kinder- und Jugendhilfe mit der Behindertenhilfe auf
tastrophenmeldungen (…), in denen von 70 Prozent kommunaler Ebene angemahnt. Auch der 13. Kinder-
psychisch kranken Kindern in Deutschland die Rede ist, und Jugendbericht umschreibt die Problematik einer nur
absoluter Unsinn sind. Etwa 80 Prozent der Kinder und beschränkten Zuständigkeit und Kompetenz der Kinder-
Jugendlichen wachsen in Deutschland nach wie vor ge- und Jugendhilfe für behinderte Kinder und Jugendliche
sund und gut in diese Gesellschaft hinein. Das ist kein und eine laut der Experten „lebensfernen“ Konstruktion
Naturphänomen, sondern (…) das Ergebnis eines guten des § 35 a SGB VIII. In diesem Zusammenhang sind
Sozialstaates, eines Bildungssystems und von Familien, auch der § 20 SGB V und die Komplexleistungen des
die so schlecht nicht sind, wie sie immer wieder gemacht SGB VIII in den Blick zu nehmen.
werden.“ Dies ist eine sehr erfreuliche Botschaft, die
wir angesichts vieler – gerade auch Eltern verun- Die Bundesregierung hat ihre Position zu dem Be-
sichernder – Berichte mit einer gewissen Zufriedenheit richt der unabhängigen Sachverständigenkommission
in unser Land tragen sollten. und den darin gezogenen Schlussfolgerungen in ihrer
Stellungnahme dargelegt, die dem Bericht vorangestellt
Dieses positive Resümee darf allerdings nicht dazu ist. Diese Einschätzung ist nach wie vor gültig. Es ist
führen, die Kinder und Jugendlichen aus den Augen zu sehr erfreulich, dass die Ergebnisse des Berichts die
verlieren, die derzeit noch nicht die notwendige Unter- Bundesregierung in ihrem Handeln bestärkt.
stützung und Förderung erfahren. Der 13. Kinder- und
Jugendbericht macht deutlich, dass die Schaffung guter Viele der Anregungen und Empfehlungen der
Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern Kommission, die in den Verantwortungsbereich der Bun-
und Jugendlichen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe desregierung fallen, haben wir bereits in dieser Legisla-
von Kommunen, Ländern und Bund ist. Dies gilt gerade turperiode angestoßen. Ein wesentlicher Teil der Forde-
auch für die beiden im Bericht näher beschriebenen rungen des von den Grünen vorgelegten Antrags bezieht
Schwerpunkte der gesundheitsbezogenen Prävention sich auf die Umsetzung von Ergebnissen und Empfeh-
und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugend- lungen des 13. Kinder und Jugendberichts in die Fach-
hilfe sowie der Inklusion behinderter Kinder und Ju- praxis. Hier muss man den Kolleginnen und Kollegen
gendlicher. von den Grünen noch einmal klar und deutlich sagen:

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9103
Dr. Peter Tauber
(A) Dies gehört nicht zu den Aufgaben der Bundesregie- den. Der Antrag bringt uns im Ringen für ein besseres (C)
rung. Zuständig für die Ausgestaltung der Kinder- und Aufwachsen der Kinder keinen Schritt weiter. Meine
Jugendhilfe in der Praxis sind einerseits die Länder und Fraktion wird ihn daher ablehnen.
Kommunen, andererseits die freien und öffentlichen Trä-
ger von Einrichtungen, Diensten und Angeboten. Ju- Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
gendbehörden und Fachverbände haben bereits eine
Vielzahl von Tagungen und Fortbildungsveranstaltun- Der 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregie-
gen zum 13. Kinder und Jugendberichts durchgeführt, rung „Mehr Chancen für gesundes Aufwachsen, ge-
häufig unter Mitwirkung von Mitgliedern der Sachver- sundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförde-
ständigenkommission, um die Ergebnisse in die Fach- rung in der Kinder- und Jugendhilfe“ stellt die
praxis zu transportieren. Das dürfte auch der Grünen- gesundheitliche Situation und Prävention für Kinder
Fraktion eigentlich nicht entgangen sein. Die in einem und Jugendliche in den Mittelpunkt. Der Antrag der
großen Teil der Forderungen formulierten Inhalte und Grünen hierzu deckt sich an vielen Stellen mit dem be-
Intentionen des Antrags sind zudem bereits in Vorhaben, reits vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion „Gesundes
Modellprojekten oder Strategien der Bundesregierung Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen fördern“.
berücksichtigt. So werden im Referentenentwurf des Ich möchte mich besonders auf einen Punkt konzen-
Kinderschutzgesetzes die Absicht der Prävention und trieren, der sowohl in unserem Antrag als auch dem An-
eine Verbesserung der Kooperation zwischen Kinder- trag der Grünen eine zentrale Rolle spielt: Es handelt
und Jugendhilfe und dem Gesundheitssystem aufgegrif- sich um das Prinzip der Inklusion. Inklusion heißt: Nicht
fen. Dies hätten die Damen und Herren der Grünen- mehr der Mensch mit besonderen Bedürfnissen, etwa mit
Fraktion eigentlich wissen müssen. einer Behinderung, ein sozial benachteiligter Mensch,
Mit dem Aktionsprogramm „Frühe Hilfen“ und den ein Mensch mit Migrationshintergrund oder auch eine
in diesem Programm vom Bund gemeinsam mit den Län- Person mit einer Hochbegabung, muss sich der Gesell-
dern initiierten Modellprojekten wurden bereits wert- schaft anpassen, wie dies bei der Integration der Fall
volle Impulse gesetzt und Erkenntnisse für eine bessere ist. Vielmehr muss sich die Gesellschaft mit ihren Struk-
Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe und turen den individuellen Bedürfnissen aller Menschen
Gesundheitssystem gewonnen. Das BMFSFJ hat mit anpassen. Eine inklusive Gesellschaft bezieht alle Men-
dem „Nationalen Zentrum Frühe Hilfen“ eine erfolgrei- schen mit ihren Bedürfnissen von Anfang an ein und
che Institution geschaffen, die durch gemeinsame Trä- grenzt gar nicht erst aus. Individualität und Vielfalt der
gerschaft der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf- Menschen werden anerkannt und wertgeschätzt.
klärung mit dem Deutschen Jugendinstitut das
Inklusion ist nicht nur eine Forderung des 13. Kinder-
(B) Gesundheitssystem und die Jugendhilfe strukturell ver- und Jugendberichts, sie ist auch das zentrale Anliegen (D)
bindet. der UN-Behindertenrechtskonvention. Diese trat in
Ebenso ist die Bundesregierung bereits intensiv da- Deutschland am 26. März 2009 in Kraft. Sie ist gelten-
bei, die Möglichkeiten einer einheitlichen Zuständigkeit des deutsches Recht und muss umgesetzt werden.
für alle Kinder und Jugendlichen mit Behinderung zu
prüfen. Ich habe ja bereits ausgeführt, wo die Probleme Mit der Umsetzung von Inklusion ergeben sich kon-
liegen. Ihr Antrag allerdings gibt auf diese Problemstel- krete Veränderungen für das Aufwachsen von Kindern
lung keine Antworten, sondern setzt eher noch falsche und Jugendlichen.
Schwerpunkte. Alle Kinder und Jugendlichen haben das Recht auf
Auch wurden in den vergangenen Jahren bereits meh- gemeinsames und gesundes Aufwachsen. Krippen, Kin-
rere gemeinsame „systemübergreifende“ Gremienbe- dertageseinrichtungen und Schulen dürfen nicht ausson-
schlüsse etwa der Jugend- und Familienministerkonfe- dern, alle Kinder haben das Recht, gemeinsam zu ler-
renz und der Gesundheitsministerkonferenz zur nen. Jedem Kind muss individuelle Förderung zur
Gesundheitsförderung und zu einem besseren Kinder- Verfügung gestellt werden. Kindertageseinrichtungen,
schutz getroffen. Auch dies berücksichtigen Sie in Ihrem Schulen und Lehrkräfte müssen durch Fortbildung und
Antrag leider nicht. Begleitung bei der Umsetzung des inklusiven Bildungs-
anspruchs unterstützt werden. Lehramtsstudiengänge
Hinsichtlich Ihrer Forderungen nach einer besseren müssen an die Anforderungen inklusiver Bildung ange-
Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule weise ich passt werden. Barrierefreiheit bei allen Neu- und Um-
Sie darauf hin, dass die Bundesregierung bereits seit bauten versteht sich von selbst.
mehreren Jahren Modellprojekte zu dieser Thematik för-
dert. Auch das Konzept der regionalen bzw. lokalen Bil- Das Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen
dungslandschaften entstand in diesem Kontext. Im Übri- muss so gestaltet sein, dass sie ihr Bedürfnis nach Bewe-
gen müssten Sie eigentlich wissen, dass für den gung, Spiel und Sport ausleben können. Um ein bewe-
Schulbereich die Länder zuständig sind. gungsfreundliches und gesundes Wohnumfeld zu schaf-
fen, müssen soziale Stadtentwicklung und Gesundheits-
Ich halte fest: Der aktuelle Kinder und Jugendbericht förderung stärker verknüpft werden.
bestätigt die Politik der christlich-liberalen Koalition in
vielen Bereichen eindrucksvoll. Ihr Antrag, meine sehr Die enormen Streichungen der schwarz-gelben Re-
geehrten Damen und Herren von den Grünen, enthält gierung beim Programm „Soziale Stadt“ sind unverant-
zum Großteil Forderungen, die längst angegangen wur- wortlich. Gerade auf dem Gebiet der gesundheitlichen

Zu Protokoll gegebene Reden


9104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Marlene Rupprecht (Tuchenbach)


(A) Präventionsarbeit im Sozialraum leisten Quartierma- Strukturen, auch bei den Kindern und Jugendlichen, (C)
nage-mentteams hervorragende Arbeit. nicht fortführt.
Gesetzlicher Handlungsbedarf besteht bei der Schließlich ist die deutlichste Wertschätzung aller
Schnittstellenproblematik zwischen Sozialhilfe – SGB Kinder von Anfang an die Verankerung der Kinderrechte
XII – und Kinder- und Jugendhilfe – SGB VIII. Kinder im Grundgesetz. Die Zustimmung für dieses von den
und Jugendliche mit einem erzieherischen oder einem großen Kinderorganisationen mitgetragene Vorhaben
behinderungsspezifischen Bedarf, der aus einer seeli- wächst. Ich werde weiter für die Verankerung der Kin-
schen Behinderung resultiert, sind dem SGB VIII zuge- derrechte im Grundgesetz kämpfen und bitte Sie alle um
ordnet, während für Kinder und Jugendliche mit einer Ihre Unterstützung.
körperlichen oder geistigen Behinderung das SGB XII
einschlägig ist. Aufgrund dieser Schnittstellenproblema- Florian Bernschneider (FDP):
tik kommt es immer wieder zu Zuständigkeitsstreitigkei- Die heute vorliegende Initiative nimmt Bezug auf den
ten und Reibungsverlusten. 13. Kinder- und Jugendbericht, dem wir uns im Fami-
Kinder und Jugendliche mit Behinderungen haben lienausschuss mit einer Anhörung und einem Experten-
aber – unabhängig von der Art und Schwere ihrer Be- gespräch sehr ausführlich gewidmet haben. Das war
hinderung – Bedürfnisse, wie sie jedes Kind entwickelt. auch richtig und wichtig. Schließlich wird uns nicht alle
Es ist daher vor allem aus Kindersicht sinnvoll, alle Jahre ein so fundierter Bericht über die Situation von
Leistungen für Kinder unter dem Dach der Kinder- und Kindern und Jugendlichen in unserem Land, diesmal mit
Jugendhilfe zusammenzufassen – „Große Lösung“. dem Schwerpunkt der Gesundheitsentwicklung und Prä-
vention, zur Verfügung gestellt.
Auch aus der Sicht der inklusiven Perspektive, für die
jedes Kind ungeachtet seiner Behinderungen oder be- Darüber hinaus handelt es sich um den ersten Kin-
sonderen Bedürfnisse gleich wertvoll ist und individuell der- und Jugendbericht, der alle Kinder und Jugendli-
gefördert werden muss, macht nur diese „Große Lö- chen in den Blick nimmt – auch diejenigen mit Behinde-
sung“ Sinn. Darüber hinaus bin ich für die Prüfung ei- rungen gleich welcher Art. Ferner stellt der Bericht die
ner noch umfassenderen „Großen Lösung“, die nicht Schnittstellen zwischen den drei Systemen Kinder- und
nur die Eingliederungshilfe aus dem SGB XII in das Jugendhilfe, Gesundheitswesen und Behindertenhilfe
SGB VIII transferiert, sondern auch die anderen Sys- ins Zentrum seiner Untersuchung. Damit haben die be-
teme – das Schul-, das Gesundheits- und das Jugendhil- teiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Neu-
fesystem – mit Blick darauf einbezieht, ob das jeweilige land betreten. Dafür ist ihnen ausdrücklich zu danken.
Leistungssystem dem inklusiven Ansatz gerecht wird. Der Bericht hat zum einen zu dem erfreulichen Ergeb-
(B) (D)
Eine weitere Schnittstellenproblematik ergibt sich bei nis geführt, dass etwa 80 Prozent aller Kinder und Ju-
der Zusammenarbeit von Kinder- und Jugendhilfe mit gendlichen in Deutschland nach wie vor gesund und gut
dem Gesundheitswesen. Der 13. Kinder und Jugendbe- aufwachsen. Das sollte man zu Beginn festhalten, denn
richt beschreibt als wichtiges Ziel, Kinder- und Jugend- das gehört – bei allem Verständnis für Kritik – zu einer
hilfe mit den verschiedenen Akteuren des öffentlichen ehrlichen Bestandsaufnahme dazu. Allerdings wurde
und privaten Gesundheitswesens enger zu verzahnen, auch deutlich, dass die soziale Herkunft eines Kindes
damit gesundheitsbezogene Prävention und Gesund- auch über seine Gesundheit entscheidet. Kinder finden
heitsförderung im Kinder- und Jugendalter besser gelin- sich zunehmend in sozial und gesundheitlich schwieri-
gen kann. Alle mit Kindern und jugendlichen arbeiten- gen Lebenslagen. Dies zu ändern muss Ziel einer verant-
den Stellen müssen sich besser vernetzen. wortungsbewussten Politik sein. Auch in anderen Berei-
chen enthält der 13. Kinder- und Jugendbericht den
Alle politischen Ebenen sind gefordert, Lücken bei einen oder anderen hilfreichen Fingerzeig. Diese Hin-
der Förderung eines gesunden Aufwachsens, bei der weise sollten alle staatlichen Ebenen beachten und in
Vernetzung von Strukturen und bei der Etablierung von ihr Handeln einfließen lassen. Die Bundesregierung
Maßnahmen für frühe Förderung und für frühe Hilfen wird dies, wo sie zuständig ist, tun.
aufzudecken und zu schließen.
Der zum Bericht vorliegende Antrag der Grünen ent-
Kinder und Jugendliche sind nach Art. 12 der UN- hält einige gute Ansätze. Über diese, liebe Kolleginnen
Kinderrechtskonvention bei allen sie betreffenden Maß- und Kollegen von den Grünen, kommt er jedoch nicht hi-
nahmen entsprechend ihrem Alter und ihrer Reife zu be- naus. Sie bemängeln einen angeblichen Flickenteppich
teiligen. Politik für Kinder und Jugendliche und mit Kin- von Projekten und Modellprogrammen und fordern zu-
dern und Jugendlichen ist ein sich ständig verändernder gleich in Ihrem Antrag ein neues Modellprogramm, dass
Prozess hin zu einer kindergerechteren Gesellschaft. Wir die Vernetzung von Bildungseinrichtungen und Jugend-
haben auf diesem Weg schon viel erreicht, aber es gibt hilfe verbessern soll. Dabei konterkarieren Sie damit
auch noch viel zu tun. Wir fordern deshalb die Fort- nicht nur ihre eigenen Ausführungen, sondern ver-
schreibung des Nationalen Aktionsplans für ein kinder- schweigen, dass diese Regierung zum Beispiel mit dem
gerechtes Deutschland 2005 bis 2010, den die Bundes- Programm „Bildungsketten“ und dem Programm „Ju-
regierung leider gerade mit einer fachlich guten Ab- gend Stärken“ bereits zusätzliche Anstrengungen unter-
schlussveranstaltung zu Grabe getragen hat. Ich kann nimmt, um jungen Menschen bei der Erlangung eines
nicht verstehen, warum man diesen Aktionsplan mit sei- Schulabschlusses sowie dem Übergang von Schule in
nen vielen sehr guten Ansätzen und bereits gewachsenen Ausbildung zu helfen.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9105
Florian Bernschneider
(A) Mit dem Programm „Bildungsketten“ beispielsweise nicht zur politischen Profilierung nutzen sollte, um den (C)
wollen wir bundesweit lerngefährdeten Hauptschülerin- schwierigen Abstimmungsprozess zwischen Kommunen,
nen und Hauptschülern zu einem Schulabschluss und ei- Ländern und Bund nicht unnötig durch parteipolitisches
nem Einstieg in eine Ausbildung verhelfen. Gedacht ist Fingerhakeln zu erschweren. Nicht zuletzt müsste auch
an 30 000 Schülerinnen und Schüler ab Klasse 7, die die Reform der Kommunalfinanzen bei dieser schwieri-
nach einem Kompetenztest individuell betreut und dann gen Reform mit bedacht werden. Wenn sich das alle zu
in Betriebe vermittelt werden sollen. Herzen nehmen würden, wäre, glaube ich, schon viel ge-
wonnen.
Schon heute arbeiten 1 000 von der Bundesagentur
für Arbeit finanzierte Fachleute als Bildungslotsen und
betreuen etwa 20 000 Schülerinnen und Schüler. Hierzu Diana Golze (DIE LINKE):
sollen in den nächsten Jahren weitere 1 000 vom Bun- „Die Bundesregierung will die Rahmenbedingungen
desministerium für Bildung und Forschung finanzierte für das Aufwachsen der nachfolgenden Generationen
Berater hinzutreten. Das lässt sich der Bund rund weiter verbessern. Dazu gehört auch das soziale, psy-
755 Millionen Euro bis 2018 kosten. chische und physische Wohlbefinden von Kindern und
Jugendlichen. Die bestmögliche Förderung der Gesund-
Schön einfach machen Sie es sich, wenn Sie eine bes- heit ist dabei ein zentrales Anliegen der Bundesregie-
sere Vernetzung und ein besseres Schnittstellenmanage- rung.“ Dies sind die einleitenden Worte aus der Stel-
ment zwischen den Akteuren der Kinder- und Jugend- lungnahme der Bundesregierung zum XIII. Kinder- und
hilfe fordern. Die Erkenntnis, dass gerade bei Kindern Jugendbericht. In diesem Bericht ging es um Chancen
und Jugendlichen mit körperlichen und geistigen Ein- für ein gesundes Aufwachsen und um die dafür notwen-
schränkungen ein erhöhter Abstimmungsbedarf zwi- digen politischen Maßnahmen und Initiativen. Was aber
schen dem SGB VIII – Kinder und Jugendhilfe – und macht die Bundesregierung, um das große Ziel einer
dem SGB XII – Sozialhilfe – besteht und Schnittstellen- bestmöglichen Förderung zu erreichen? Spiegelt es sich
probleme zwischen den verschiedenen Regelungssyste- wirklich im politischen Handeln wider?
men existieren, ist aber alles andere als neu.
Es ist in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen
Über mögliche Lösungen dieser Schnittstellenpro-
Studien nachlesbar, es wurde in der Fachanhörung zu
bleme – Stichwort „Große Lösung“ – diskutiert man
besagtem Bericht von mehreren Sachverständigen be-
politisch wie wissenschaftlich seit über einem Jahrzehnt.
tont, und es wird durch einen Blick in unsere Schulen
Während der Regierungszeit von Rot-Grün hat sich hier
und Kitas eines sehr schnell deutlich: Gesundheit und
übrigens nichts bewegt. Daher sollten Sie ehrlich sein
Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen hängen in
und dieser Regierung, gerade bei diesem komplexen
extrem hohem Maße mit ihren gesellschaftlichen Teilha-
(B) Thema, zugestehen, gründlich und strukturiert zu arbei- (D)
bemöglichkeiten zusammen. Die Lebensbedingungen,
ten. Indem Sie das gesamte Thema Inklusion in einem
unter denen Kinder aufwachsen, beeinflussen ihre kör-
Punkt Ihres Antrages kurz abfertigen, werden Sie der
perliche, psychische und soziale Entwicklung. Nicht erst
Sache nicht gerecht, denn es müssen hier viele Punkte
seit Vorliegen des Kinder- und Jugendberichtes ist be-
bedacht werden.
kannt, dass soziale Benachteiligung und Armut mit ge-
Prinzipiell sprechen wir über zwei Lösungsoptionen: sundheitlichen Belastungen verbunden sind. In Deutsch-
Erstens, die Zuständigkeit für Kinder und Jugendliche land leben über 3 Millionen Kinder in Armut oder sind
mit und ohne Behinderung wird unter dem Dach der akut von Armut bedroht, 3 Millionen Kinder, deren
Kinder- und Jugendhilfe über eine entsprechende Wohlbefinden offenkundig nicht zum zentralen Anliegen
Neufassung des § 35 a SGB VIII zusammengefasst oder, der Bundesregierung gehört. Die Politik von Familien-
zweitens, die Sozialhilfe erhält wieder die Alleinzustän- ministerin Schröder und Arbeitsministerin von der
digkeit über alle behinderungsbedingten Hilfen für Kin- Leyen müsste sich also insbesondere auf diese Gruppe
der und Jugendliche mit Behinderung. Beide Lösungs- von Kindern und Jugendlichen konzentrieren oder sie
ansätze haben ihre Vor- und Nachteile. Bei beiden sind zumindest im Fokus haben. Vor allem Frau von der
etliche Fragen wie die Ausgestaltung der Kostenbeteili- Leyen hätte viele Möglichkeiten gehabt, auch für diese
gung, die Bedarfsfeststellung und Leistungssteuerung Kinder bessere Chancen auf ein gesundes Aufwachsen
oder die Angleichung der Rechtsanspruchsvorausset- zu schaffen. Sie hätte in der letzten Legislaturperiode
zungen zweier bis dato unterschiedlicher Systeme zu eine Kinderzuschlagsreform initiieren können, um aus
klären. Das braucht Zeit. dieser Leistung ein wirksames Instrument zur Kinderar-
mutsbekämpfung zu machen. Stattdessen hat sie Stück-
Gerade deshalb will ich uns allen, insbesondere der werk betrieben und kaum spürbare Verbesserungen vor-
Opposition, die dieser Tage mit so mancher Forderung genommen. Sie hätte weiterhin, statt nur das Kindergeld
und manchem Versprechen schnell bei der Hand ist, um 10 Euro zu erhöhen, auch die Familien und deren
noch einmal eine zentrale Aussage aus der Anhörung Kinder finanziell besser stellen können, bei denen diese
des 13. Kinder- und Jugendberichts in Erinnerung ru- Erhöhung nicht angekommen ist, also bei denen, die von
fen: Die Experten haben unisono erklärt, dass eine Be- ALG II leben müssen.
seitigung dieser Schnittstelle wahrscheinlich nur in
einem Prozess über mehrere Stufen und Jahre zu be- In ihrem neuen Ressort, dem Ministerium für Arbeit
werkstelligen sein wird. Ein Hauruck-Verfahren würde und Soziales, aber hätte sie eigentlich den ganz großen
mehr Schaden anrichten als nützen. Und vor allem wa- Wurf im Kampf gegen die Kinderarmut machen können,
ren sich alle Experten einig, dass man dieses Thema indem sie den Rüffel des Bundesverfassungsgerichtes

Zu Protokoll gegebene Reden


9106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Diana Golze
(A) ernsthaft umgesetzt hätte. Stattdessen aber legte sie eine 13. Kinder- und Jugendbericht gibt Antworten, zeigt (C)
Reform der Hartz-IV-Regelsätze vor, in der der Kinder- Problembereiche auf und stellt gleichzeitig klar, dass die
regelsatz weder eigenständig berechnet noch kindge- Gesundheit von Kindern und Jugendlichen weitrei-
recht und erst recht nicht gesundheitsfördernd ist. chende Bezüge über den Kontext medizinischer Pro-
blemstellungen hinaus hat.
Die neue Familienministerin schloss geradezu naht-
los an diesen Politikansatz an. Kinderarmut ist im Dieser 13. Kinder- und Jugendbericht ist einzigartig in
Hause Schröder inzwischen gar kein Thema mehr, Fami- mehrfacher Hinsicht: Erstmals werden alle Kinder und
lien im ALG-II-Bezug wird das Elterngeld gestrichen, Jugendlichen in Deutschland, mit und ohne Behinderun-
und die Erhöhung des Kinderfreibetrages wird gefeiert, gen, in den Blick genommen. Erstmals werden im Kinder-
als wäre es eine politische Errungenschaft und nicht die und Jugendbericht die Schnittstellen zwischen Kinder-
notwendige Schlussfolgerung aus einer weiteren Kin- und Jugendhilfe, Gesundheitshilfe und Behindertenhilfe
dergelderhöhung. Wer angesichts einer solchen Politik berücksichtigt. Erstmals werden richtungsweisende Kon-
dann behauptet, über frühe Hilfen und Familienhebam- zepte wie Salutogenese und Befähigungsgerechtigkeit als
menprogramme einen wichtigen Beitrag zum gesunden Basis für eine gelingende Gesundheitsförderung nutzbar
Aufwachsen zu leisten, scheint entweder nichts zu ver- gemacht.
stehen oder eine offensichtliche Klientelpolitik für Bes-
serverdienende etablieren zu wollen. Wer es mit einer Es ist gut, die Situation der Kinder und Jugendlichen
bestmöglichen Förderung der Gesundheit aller Kinder durch Kinder- und Jugendberichte regelmäßig in den
ernst meint, schafft gesellschaftliche Rahmenbedingun- Mittelpunkt der parlamentarischen Debatte zu stellen.
gen, die alle Kinder einbeziehen. Aber ich möchte kritisch festhalten: Dieser Bericht hätte
schon in der letzten Wahlperiode diskutiert werden müs-
Die Gesundheitspolitik kann die sozial bedingten ge- sen, denn so lange liegt er bereits vor. Viel Zeit ist ins
sundheitlichen Ungleichheiten nicht im Alleingang Land gegangen, ohne dass Ergebnisse reflektiert, kri-
wirksam bekämpfen. Diese Ungleichheiten aber werden tisch diskutiert oder tragfähige Konzepte entwickelt
nicht bekämpft. Stattdessen wachsen sie in allen Bevöl- wurden.
kerungsgruppen. Besonders bei Kindern und Jugendli-
Umso wichtiger ist es, jetzt genau dies und noch mehr
chen hat dies fatale Folgen, da diese Ungleichheit sich
zu tun. Es reicht längst nicht mehr, den Sachstand der
in der Zeit des Heranwachsens besonders negativ auf
Fachdiskussion wiederzugeben. Der Bericht sagt ganz
die Entwicklung und die Zukunft dieser Kinder auswirkt.
klar: Es gibt großen Nachholbedarf bei der Gesund-
Wenn man aber anerkennt, dass die Einflüsse des Ar-
heitsprävention, es gibt Versorgungsbrüche zwischen
beitsmarktes, der Einkommensverteilung, der Leistungs-
den Systemen und zu viele Projekte und zu wenig inte-
(B) fähigkeit der sozialen Sicherungssysteme und der Bil- grierte Regelangebote. Die Bundesregierung ist in der (D)
dungspolitik auf die Gesundheit so enorm sind, erkennt
Pflicht, diesen Prozess in Gang zu setzen. In unserem
man, dass gesundheits- und präventionspolitische An-
Antrag gibt es Vorschläge, wie zu verfahren ist und wel-
sätze allenfalls Akzente setzen können. Um die Chancen,
che Konsequenzen gezogen werden müssen.
Ressourcen und damit auch die gesundheitliche Situa-
tion der Bevölkerung und insbesondere der Kinder und Positiv ist: Den meisten Kindern in Deutschland geht
Jugendlichen entscheidend positiv zu beeinflussen, ist es gut. Aber es muss uns alarmieren, dass Kinder und
eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik erforderlich, Jugendliche, die auch in anderen Bereichen abgehängt
die über die klassische Aufgabenstellung der Gesund- sind, auch im Gesundheitsbereich Nachteile haben. Bei-
heitspolitik hinausgeht und alle Politikbereiche umfasst. spielsweise Kinder mit Behinderungen, Jugendliche mit
Ein solch umfassender Politikansatz aber ist im Regie- Migrationshintergrund oder Kinder mit Traumaerfah-
rungshandeln nicht erkennbar. rung. Gerade da besteht Handlungsbedarf.
Die Linke teilt die gesundheitspolitischen Ansätze, So gibt es zum Beispiel schon seit einigen Jahren die
die im Antrag der Grünen stehen. Was aus unserer Sicht kontrovers geführte Diskussion darüber, alle Leistun-
fehlt, sind die Bezüge zu gesamtgesellschaftlichen Pro- gen für alle Kinder und Jugendlichen im SGB VIII zu
zessen und zu daraus erwachsenden politischen Maß- konzentrieren und Synergieeffekte zu nutzen, die soge-
nahmen. Eine Stärkung der Jugendhilfe als wichtiges In- nannte Große Lösung. Angeregt hat die Bundesregie-
strument im Bereich der Prävention, eine Verbesserung rung in ihrer Stellungnahme genau diese einheitliche
der Bildungslandschaft, die allen Kindern gleichen Zu- Verantwortung für alle Kinder und Jugendlichen in der
gang gewährt, die Rolle einer qualitativ hochwertigen Zuständigkeit der Jugendhilfe. Die ist angesichts der
Kinderbetreuung und nicht zuletzt die Bekämpfung der vor einem Jahr ratifizierten UN-Behindertenrechtskon-
Kinderarmut durch die Schaffung einer existenzsichern- vention auch nur konsequent. Denn Kinder sind vor al-
den Grundsicherung für Kinder und die Bekämpfung der lem Kinder und nicht Behinderte oder Nicht-Behinderte.
Familienarmut durch einen gesetzlichen Mindestlohn Was ist in den 19 Monaten seit Veröffentlichung der Stel-
sind Forderungen, die auch in diese Debatte gehören. lungnahme passiert, wie viele Ressourcen haben die zu-
ständigen Ministerien in die Erarbeitung von Lösungs-
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): vorschlägen investiert? Wenig bis nichts.
Was sind die zentralen gesundheitsbezogenen Fakto- Problematische Gesundheitsentwicklungen bei jun-
ren und Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von gen Menschen sind gekennzeichnet durch eine deutliche
Kindern und Jugendlichen in der heutigen Zeit? Der Zunahme chronischer und psychosomatischer Erkran-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9107
Katja Dörner
(A) kungen und Entwicklungsstörungen. Die Frage nach Berichterstattung: (C)
Ursachen und vor allem auch nach möglichen wirksa- Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
men Strategien zur Vorsorge rückt viel zu oft in den Hin- Sebastian Edathy
tergrund. Genau darum muss es aber gehen, wenn wir Jörg van Essen
Gesundheit und Wohlbefinden von Kindern und Jugend- Raju Sharma
lichen verbessern wollen. Folgerichtig fordert der Kin- Jerzy Montag
der- und Jugendbericht insbesondere eine Verbesserung
des Zusammenwirkens der drei Systeme Kinder- und Ju- Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
gendhilfe, Gesundheitswesen und Behindertenhilfe ein. den zu Protokoll gegeben: Patrick Sensburg, Sebastian
Er macht auch deutlich, dass es zwar gute Konzepte zur Edathy, Jörg van Essen, Ulla Jelpke, Jerzy Montag.
Prävention und Gesundheitsförderung gibt, die beste-
henden Angebote jedoch in der Praxis nicht ausreichend Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU):
und befriedigend miteinander koordiniert und abge- Heute beschließen wir in zweiter und dritter Lesung
stimmt sind. Deswegen bleiben sie hinter ihren Möglich- das Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarats vom
keiten zurück. 16. Mai 2005 zur Verhütung des Terrorismus. Damit
Wie unterstützt die Bundesregierung beispielsweise schaffen wir die gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG notwe-
die Etablierung des Setting-Ansatzes für den Kita-Be- nigen Voraussetzungen, damit die Bundesrepublik
reich, um gesundheitsfördernde Ressourcen zu identifi- Deutschland dieses Übereinkommen ratifizieren kann.
zieren und zu stärken? Über die Schaffung gesundheits- Dieses im Oktober 2006 unterzeichnete Abkommen ist
gerechter Verhältnisse könnte die gesundheitliche bereits zum 1. Juni 2007 in Kraft getreten und bedarf
Situation der Kinder und Eltern nachhaltig verbessert nun noch unserer Zustimmung. Ich begrüße die Ankün-
werden. Möglich wäre, unter aktiver Einbeziehung aller digung der SPD-Fraktion, hier gemeinsam mit den
Beteiligten die jeweiligen Gesundheitspotenziale im Fraktionen der christlich-liberalen Koalition diesem
Kita-Bereich zu ermitteln und im Setting einen Prozess Gesetz zuzustimmen. Und es spricht für sich, dass die
geplanter organisatorischer Veränderungen anzuregen. Linke als einzige Fraktion dieses Hauses diesem Gesetz
Doch die Ministerin ist Antworten schuldig geblieben. nicht zustimmen möchte. Damit beweist die Linkspartei
erneut, dass ihr der Schutz unserer Bürgerinnen und
Bund, Länder und Kommunen tragen gemeinsam die Bürger vor terroristischen Anschlägen offensichtlich
Verantwortung für das gesunde Aufwachsen von Kin- nicht wichtig ist. Das Abkommen wurde bereits sowohl
dern und Jugendlichen. Ein erster Schritt, dieser Verant- von einigen unserer Nachbarländer wie Frankreich, Ös-
wortung für das gesunde Aufwachsen gerecht zu werden, terreich und Polen ratifiziert. Selbst Russland hat das
könnte die Einrichtung eines koordinierten Bund-Län- Übereinkommen ratifiziert. Nur die Linken sind – mal (D)
(B)
der-Arbeitskreises sein, der eine gesundheitsförderliche wieder – dagegen.
Gesamtstrategie für Kinder und Jugendliche entwickelt
und umsetzt. Das Übereinkommen zur Verhütung des Terrorismus
ist ein weiterer Baustein im Bereich der Prävention von
Die Kinder- und Jugendhilfe kann und soll nicht ge- Terrorismus. Neben den vielen nationalen Anstrengun-
sundheitliche Präventionsaufgaben des Gesundheitssys- gen zur Terrorismusbekämpfung und den Maßnahmen
tems übernehmen. Aber sie braucht kontinuierliche An- im Rahmen der Europäischen Union hat sich damit auch
gebote, fachliche Standards und Evaluation der Praxis. die älteste paneuropäische Organisation mit seinen
Eine gesundheitsfördernde Gesamtstrategie, die die 47 Mitgliedstaaten ein weiteres Mal diesem wichtigen
Potenziale der Jugendhilfe nutzt und stärkt, ist längst Ziel für die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger
überfällig. Dieser Aufgabe muss sich die Bundesregie- verschrieben. Das ist nachdrücklich zu unterstützen.
rung endlich ernsthaft widmen. Vielen Dank. Gerade letztes Wochenende mussten die Menschen in
Stockholm erleben, wie real und wie nah die Bedrohung
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: insbesondere durch den islamistischen Terrorismus ist.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Auch deutsche Staatsbürger sind bereits Opfer von isla-
Drucksache 17/3863 an die in der Tagesordnung aufge- mistischen Terrorakten geworden. Und auch wenn bei
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- uns in Deutschland bislang noch kein Anschlag Opfer
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung gefordert hat, haben wir Grund zur erhöhten Wachsam-
so beschlossen. keit. Aktuell mussten die Sicherheitsvorkehrungen er-
höht werden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Alle Maßnahmen, die im Einklang mit unserer frei-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes heitlich-demokratischen Rechtsordnung einen Beitrag
zu dem Übereinkommen des Europarats vom zur Verhütung von Terrorismus leisten, sollten daher un-
16. Mai 2005 zur Verhütung des Terrorismus sere Unterstützung erhalten. Dabei ist klar: Als Antwort
auf den globalen Terrorismus reichen nationale Instru-
– Drucksache 17/3801 – mente zur Prävention allein nicht aus. Wir brauchen
hier eine starke internationale Zusammenarbeit im Rah-
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
men der EU, der NATO, der Vereinten Nationen und
schusses (6. Ausschuss)
eben auch des Europarates sowie weiterer internationa-
– Drucksache 17/4124 – ler Organisationen wie der OSZE.
9108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Patrick Sensburg


(A) Das Übereinkommen zielt inhaltlich auf eine bessere Die Aktivität des Europarates im Bereich der Vorbeu- (C)
Prävention von Terrorismus ab, wobei menschenrechtli- gung von Terrorismus wird übrigens gerade in diesen
che, demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze na- Tagen wieder sichtbar. Im Rahmen des türkischen Vor-
türlich gewahrt bleiben müssen. Im Kern verlangt es da- sitzes treffen sich heute und morgen zahlreiche interna-
bei von den Vertragsparteien wirksame Maßnahmen, um tionale Experten in Istanbul zu einer Konferenz, um über
die Durchführung terroristischer Aktivitäten und Atten- Präventionsmittel, Rechtsinstrumente und deren Umset-
tate zu verhindern. Das betrifft zum einen innerstaatli- zung zu beraten. Ein solcher Austausch liegt in unserem
che Maßnahmen wie die Aus- und Weiterbildung der ureigensten Interesse, da nur so Informationen, Erfah-
Strafverfolgungsbehörden sowie die bessere Zusammen- rungen, Ideen und innovative Ansätze allen Vertragspar-
arbeit innerstaatlicher Behörden. Zum anderen betrifft teien zur Verfügung gestellt werden und dadurch unser
dies die internationale Zusammenarbeit, zum Beispiel in aller Sicherheit gestärkt wird.
Bezug auf den gegenseitigen Austausch von Informatio- Aufgrund der hohen Relevanz präventiver Maßnah-
nen. men zur Abwehr terroristischer Vorhaben rufe ich alle
Darüber hinaus werden die Vertragsparteien ver- Mitglieder des Deutschen Bundestages auf, durch eine
pflichtet, konkrete Handlungen, die im Vorfeld eines Ter- Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf der Bun-
roranschlages durchgeführt werden, unter Strafe zu stel- desregierung den Weg für eine Ratifizierung dieses
len, wenn diese rechtswidrig und vorsätzlich begangen Übereinkommens durch die Bundesrepublik Deutsch-
werden. Dazu gehört zunächst nach Art. 5 der Überein- land frei zu machen.
kunft die öffentliche Aufforderung zur Begehung einer
terroristischen Straftat. Dabei reicht der Vorsatz, andere Sebastian Edathy (SPD):
Personen zu einem Terroranschlag anzustiften, aus – Am 24. Oktober 2006 unterzeichnete die damalige
und zwar unabhängig davon, ob dabei terroristische Bundesregierung das Übereinkommen des Europarats
Straftaten unmittelbar befürwortet werden. In Art. 6 zur Verhütung des Terrorismus. Mit dem vorliegenden
werden die Vertragsparteien verpflichtet, das Anwerben Gesetzentwurf soll nun durch Beschlussfassung des
von Personen zur Durchführung von Terroranschlägen Bundestages die Grundlage für die Ratifizierung des
unter Strafe zu stellen. Schließlich wird in Art. 7 festge- Übereinkommens durch die Bundesrepublik Deutsch-
halten, dass auch die Ausbildung für terroristische Zwe- land gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG geschaffen werden.
cke unter Strafe gestellt werden muss. Das Übereinkom-
Die Umsetzung der in diesem Übereinkommen festge-
men verfolgt damit das Ziel, in allen 47 dem Europarat
legten Maßnahmen zur Prävention terroristischer Akte
zugehörigen Staaten die öffentliche Provokation von
sowie der strafrechtlichen Ahndung ihrer Vorbereitung
Terrorakten sowie die Rekrutierung und die Ausbildung
(B) erfolgte in Deutschland weitestgehend schon vor der (D)
von Terroristen unter Strafe zu stellen.
nun anstehenden Ratifizierung. So wurden während der
Neben dieser Verpflichtung zur Schaffung der ge- 16. Legislaturperiode bestehende Regelungslücken von
nannten Straftatbestände verlangt das Übereinkommen der Großen Koalition geschlossen. Besonders zu erin-
zudem eine verstärkte Zusammenarbeit der Vertragspar- nern ist hierbei an das Gesetz zur Verfolgung der Vorbe-
teien in der nationalen wie internationalen Präventions- reitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten
politik. Bestehende Regelungen im Bereich des Ausliefe- vom 28. Mai 2009, welches die Vorgaben des Überein-
rungsrechts sowie der Rechtshilfe in Strafsachen sollen, kommens maßgeblich abgedeckt hat, sofern diese nicht
wo dies notwendig ist, wirksam angepasst werden. schon ohnehin geltendes deutsches Recht gewesen sind.
Die Gefahren, mit denen offene Gesellschaften wie
Besonders erfreulich ist, dass im Übereinkommen die unsere durch die Aktivitäten international agieren-
auch die Opferperspektive berücksichtigt wurde. Art. 13 der Terrornetzwerke verstärkt ausgesetzt sind, sorgen in
fordert die Vertragsparteien auf, den Schutz, die Ent- der Öffentlichkeit immer wieder für Beunruhigung. Die
schädigung und die Unterstützung von Opfern des Ter- Politik ist daher in der Pflicht, dieser permanent gege-
rorismus in ihrem innerstaatlichen Recht zu implemen- benen abstrakten Bedrohung ein größtmögliches Maß
tieren. Damit bekennt sich die Gemeinschaft der im an öffentlicher Sicherheit entgegenzusetzen. Die Kunst
Europarat vertretenen Staaten zu ihrer Verantwortung besteht hierbei darin, der Versuchung zu widerstehen,
auch für die Leidtragenden von Terroranschlägen. sich selbst wie auch der Bevölkerung suggerieren zu
Die Präventionspolitik zur Verhütung von Terroris- wollen, dass es durch immer mehr und schärfere Gesetze
mus lebt nicht nur davon, dass sie eine möglichst breite so etwas wie eine staatliche Sicherheitsgarantie für alle
Bürgerinnen und Bürger geben könne. Mehr als einmal
internationale Verankerung besitzt, sondern auch von
musste der sozialdemokratische Teil der damaligen Bun-
der Bereitschaft, vorhandene Regelungen regelmäßig zu
desregierung die Unionsparteien an die Notwendigkeit
überprüfen und, wenn notwendig, den aktuellen Ent-
dieser Selbstbeschränkung erinnern.
wicklungen anzupassen. Es ist daher positiv zu bewerten,
dass in Art. 30 des Übereinkommens auch ein Konsulta- Ergebnis der Arbeit in der Großen Koalition waren
tionsprozess vorgesehen ist, der die effektive Umsetzung am Ende eine Reihe von Gesetzesnovellen, die meines
der getroffenen Vereinbarung sowie die Weiterentwick- Erachtens den schwierigen Spagat zwischen der Ge-
lung sicherstellen soll. Damit ist gewährleistet, dass die währleistung öffentlicher Sicherheit einerseits und des
Vertragsparteien neue Entwicklungen im Rahmen dieses Grundrechtsschutzes andererseits gemeistert haben. Sie
Übereinkommens berücksichtigen können. entsprechen damit den Zielen des Übereinkommens des

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9109
Sebastian Edathy
(A) Europarates. Dieses sieht nämlich neben den Bestim- Über die Zustimmung zu dem Übereinkommen hinaus (C)
mungen zur Verhütung und Verfolgung terroristischer sind keine weiteren Änderungen deutscher Vorschriften
Straftaten auch vor, rechtsverbindliche Festlegungen be- erforderlich. Die letzte Lücke auf diesem Feld wurde mit
stimmter Mindeststandards zum Schutz terrorverdächti- dem Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schwe-
ger Personen zu schaffen. Diese im Übereinkommen ge- ren staatsgefährdenden Gewalttaten und der Einfügung
nannten Mindeststandards, die in den Abs. 3 bis 5 des des § 89 a in das Strafgesetzbuch im letzten Jahr ge-
Art. 15 aufgeführt sind, betreffen im innerstaatlichen schlossen.
deutschen Recht vor allem die Strafprozessordnung.
Hierbei gibt es vor der Ratifizierung des Übereinkom- Was die seitens der Länder geäußerte Prüfbitte be-
mens meines Erachtens noch Ergänzungsbedarf hin- trifft, so schließen wir uns demgegenüber der Bundesre-
sichtlich der Rechtsstellung staatenloser Personen, die gierung an. Eine Gleichstellung von staatenlosen Perso-
sich einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Terrorver- nen mit ausländischen Staatsangehörigen folgt bereits
dachts ausgesetzt sehen. aus dem Text des Übereinkommens. Eine Änderung der
Strafprozessordnung halten wir daher nicht für ange-
In Art. 15 Abs. 3 Buchstabe a des Übereinkommens zeigt.
wird festgelegt, dass staatenlosen Personen, die ihren
gewöhnlichen Aufenthalt in einen bestimmten Land ha- Bei allen zukünftigen Gesetzesvorhaben wird die
ben, den gleichen Zugang zu Vertretern dieses Staates FDP-Bundestagsfraktion darauf achten, dass die Be-
eingeräumt werden muss wie den Staatsangehörigen des kämpfung des Terrorismus mit Augenmerk und Vernunft
jeweiligen Landes. Die Buchstaben b und c regeln das erfolgt. Wenn Deutschland infolge der Zustimmung zu
Besuchsrecht der Vertreter des Heimatstaates bei den dem hiesigen Abkommen keine Änderungen an seinem
Verdächtigen sowie die Pflicht der Vertragspartei, die Strafrecht und Strafprozessrecht vornehmen muss, dann
Verdächtigen über ihre Rechte nach a und b zu informie- zeigt dies, was wir in Deutschland für ein ausgewogenes
ren. Auch hier gilt beides analog für staatenlose Perso- Instrumentarium an Gesetzen haben. Die bestehenden
nen. Die entsprechende Rechtsnorm in der deutschen Vorschriften auch effizient zu nutzen ist weiterhin vor-
Strafprozessordnung, der § 114 b Abs. 2 Satz 3 StPO, derste Pflicht für den Erfolg einer wirksamen Terrorbe-
sieht allerdings nur das Recht auf konsularische Vertre- kämpfung.
tung für ausländische Staatsangehörige vor. Nun sind
staatenlose Personen zweifelsfrei Ausländer, können Ulla Jelpke (DIE LINKE):
aber aufgrund der fehlenden Staatsangehörigkeit nach Die Bundesregierung möchte die Zustimmung des
§ 114 b in Deutschland bisher keinerlei offizielle Vertre- Bundestages zum Übereinkommen des Europarats zur
tung in Anspruch nehmen. „Verhütung des Terrorismus“ einholen. Eine solche Zu-
(B)
Der Bundesrat hat im Rahmen der ersten Beratung stimmung käme einer Art Selbstverpflichtung nahe, als- (D)
des vorliegenden Gesetzentwurfs in seiner Stellung- bald noch mehr, noch schärfere „Antiterrorgesetze“ zu
nahme vom 15. Oktober 2010 bereits eine diesbezüg- beschließen. Wie bei fast allen Antiterrorabkommen der
liche Prüfbitte im Zuge des weiteren Gesetzgebungs- letzten Jahre wird hier einmal mehr weit über das Ziel hi-
verfahrens formuliert. Den in dieser Stellungnahme nausgeschossen. Man kann sich schon sehr genau aus-
diesbezüglich geäußerten Bedenken des Bundesrates malen, wo in naher Zukunft die sogenannten Sicherheits-
schließe ich mich an, da ich aus oben genannten Grün- politiker noch „Nachbesserungsbedarf“ zum Schließen
den die Notwendigkeit zur Ergänzung des § 114 b StPO angeblicher „Sicherheitslücken“ sehen: Vorratsdaten-
für unerlässlich halte. Um den Vorgaben des Europarats speicherung, Onlineüberwachung usw. lassen grüßen.
in vollem Umfang gerecht zu werden, sollte diese Lücke Die Kritik der Fraktion Die Linke erstreckt sich vor al-
in der StPO entsprechend den Formulierungen in Art. 15 lem hierauf: Das Übereinkommen beschränkt sich nicht
Abs. 3 des zu ratifizierenden Übereinkommens geschlos- darauf, konkrete terroristische Handlungen unter Strafe
sen werden. zu stellen. Im Vordergrund stehen nicht Taten, sondern
es wird weit im Vorfeld des normalen Strafrechts vor al-
lem auf Absichten und Gesinnungen abgestellt. Das
Jörg van Essen (FDP): klingt sehr vage und unpräzise – und das ist es auch.
Das Europäische Übereinkommen zur Verhütung des
Terrorismus aus dem Jahr 2005 ist im Jahr 2007 in Kraft Im Einzelnen: In Art. 5 geht es um die öffentliche Auf-
getreten. Es verlangt von den Vertragsparteien wirk- forderung zur Begehung einer terroristischen Straftat.
same Maßnahmen, um die Begehung terroristischer Das ist an sich nichts Neues. Doch hier ist schon das
Straftaten zu verhindern. Dazu sollen vorsätzliche öf- „Zugänglichmachen einer Botschaft“ gemeint, die viel-
fentliche Aufforderungen zur Begehung einer terroristi- leicht – je nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft –
schen Straftat sowie die Anwerbung und Ausbildung für mit dem Vorsatz erfolgt, andere zu Terrorakten anzustif-
terroristische Zwecke unter Strafe gestellt werden. Das ten. Das soll ausdrücklich unabhängig davon gelten,
Übereinkommen ergänzt mit diesen Anforderungen an „ob dabei terroristische Straftaten unmittelbar befür-
die nationalen Rechtsordnungen die bestehenden Terro- wortet werden“. Das Übereinkommen redet wörtlich
rismuskonventionen der Vereinten Nationen. von einer „indirekten Aufforderung“. Ausschlaggebend
ist, ob die Gefahr „begründet“ erscheint, dass Terror-
Der heute zu beschließende Gesetzentwurf wird die akte begangen werden „könnten“. Das ist eindeutig zu
Voraussetzungen des Grundgesetzes für die Ratifizie- viel an Wenn, Aber und Vielleicht. Was da konkret übrig
rung des Übereinkommens herstellen. bleibt, wird häufig genug die Willkür staatlicher Ermitt-

Zu Protokoll gegebene Reden


9110 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Ulla Jelpke
(A) ler sein, die einen Freibrief erhalten, unliebsame Mei- denn konkret herausfinden, ob ein Journalist, der den (C)
nungsäußerungen für terrorverdächtig zu halten. Vertreter einer bewaffneten Widerstandsgruppe inter-
viewt, damit womöglich indirekt zu Anschlägen auffor-
Von gleichem Geist sind die Bestimmungen in Art. 6 dern will? Der Ruf nach Onlinedurchsuchung, Abhörak-
und 7, die „Anwerbung für terroristische Zwecke“ sowie tionen und Einschränkung der Pressefreiheit ist jetzt
„Ausbildung für terroristische Zwecke“ bestrafen wol- schon zu hören.
len. Unter anderem fehlt jegliche klare Definition.
Dieses Übereinkommen führt nicht zur besseren Be-
Damit nicht genug. Art. 9 fordert: Wer andere „an-
kämpfung des Terrorismus, sondern zu einer Gefahr für
weist“, eines dieser vage beschriebenen Delikte zu be-
demokratische Freiheiten und eine rechtsstaatliche Jus-
gehen, soll ebenso bestraft werden. Das heißt: Wenn Sie
tiz. Deswegen lehnt Die Linke dieses Übereinkommen
jemanden „anweisen“, eine Botschaft zu veröffentli-
ab.
chen, die andere wiederum – vielleicht – zu Terrorakten
anstachelt, dann machen Sie sich schon strafbar. Was
„anweisen“ bedeutet, wird nicht verraten. All dies ist so Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
haltlos, so unbestimmt, so derart um zwei Ecken ge- Die hierzulande verschärften Sicherheitsmaßnahmen
dacht, dass am Ende kaum noch einer weiß, ob er sich und die aktuellen Ereignisse in Schweden führen deut-
nun strafbar macht, wenn er etwa die Presseerklärung lich vor Augen, dass es ein ernstzunehmendes Potenzial
einer umstrittenen Organisation auf seiner Homepage terroristischer Straftaten sowohl inländischer als auch
zitiert. Ist das schon eine indirekte Aufforderung zu wei- externer Täterinnen und Täter gibt. Damit dieses Poten-
teren Anschlägen? zial nicht in seine menschenverachtende, zerstörerische,
abscheuliche Umsetzung mündet, ist es für einen Staat
Einiges von dem, was in diesem Übereinkommen ge- wie die Bundesrepublik Deutschland unerlässlich, sich
fordert wird, hat der Bundestag schon im Mai letzten nach besten Kräften schützend vor seine Bevölkerung,
Jahres beschlossen: etwa die Strafbarkeit des Aufenthal- deren individuellen Rechte und Freiheiten sowie das
tes in sogenannten Terrorcamps; außerdem macht sich rechtsstaatliche Gefüge zu stellen.
strafbar, wer sich in Fähigkeiten „unterweisen“ lässt,
die zum Begehen einer terroristischen Straftat notwen- In einer regional und international immer enger zu-
dig sind. Die Linke hat damals schon darauf hingewie- sammenwachsenden Staatengemeinschaft ist es dabei
sen: Es ist eine Sache, Straftaten zu sanktionieren; dazu völlig legitim, dass ein Staat mit einem oder mehreren
gehören auch versuchte und in Ausnahmefällen auch ge- anderen zusammenarbeitet, sich mit diesem oder diesen
plante Straftaten. Es ist aber eine andere Sache, das austauscht, um seiner Schutzpflicht nachzukommen. In-
Strafrecht auf einen Bereich auszudehnen, wo überhaupt soweit sehen wir Grünen eine grenzüberschreitende Zu-
(B) keine konkreten Täter da sind, wo es keine Tatmittel gibt, sammenarbeit mit unseren europäischen Nachbarn (D)
noch nicht einmal einen Tatplan oder einen Tatort und – und damit meine ich nicht nur die Ebene der Europäi-
kein definiertes Verhalten. Da muss es eine Grenze ge- schen Union, sondern insbesondere auch die des Euro-
ben, sonst sind wir an einem Punkt angelangt, wo die parats – grundsätzlich als etwas Positives, etwas Not-
Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, die Forschungs- wendiges an – allerdings nur, wenn und solange sich die
freiheit usw. bedroht sind, wann immer ein Staatsanwalt Zusammenarbeit an einem hohen Schutzniveau für die
zum Schluss kommt, irgendetwas geschehe mit bösem Rechte und Freiheiten der Menschen Europas orientiert.
Vorsatz oder sei irgendwie gefährlich.
Das Abkommen, über dessen Ratifikation wir heute
Interessanterweise hat die FDP damals weitgehend entscheiden sollen, ist vor über fünf Jahren im Rahmen
die Sicht der Linken geteilt. Der Kollege Jörg van Essen des Europarats geschlossen worden. Es bezieht also im
hatte bei der ersten Lesung zum sogenannten GVVG, Vergleich zur EU eine weitaus größere Anzahl von Län-
Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren dern mit ein. Der Inhalt des Abkommens wird zumindest
staatsgefährdenden Gewalttaten, im Januar 2009 geäu- rechtlich keinen direkten Einfluss auf das bestehende
ßert, er möchte seinen Kollegen – van Essen ist Staats- nationale Recht haben. Umsetzungsbedarf ist nicht zu
anwalt – „nicht zumuten, mit Strafvorschriften umgehen erkennen. Es fällt anlässlich der heutigen Befassung mit
zu müssen, die nicht wirklich handhabbar sind, bei de- diesem Abkommen allerdings auf, dass die deutsche
nen sie ein schlechtes Gefühl haben und die beinhalten, Rechtsordnung in strafrechtlicher Hinsicht bereits wei-
dass vorher eigentlich schon feststeht, dass ein ganz tergeht, als es das Abkommen fordert.
wichtiger Faktor, nämlich die Absicht, in aller Regel
Art. 7 des Abkommens verlangt, die Ausbildung für
nicht wird nachzuweisen sein“. Was hat sich seither ge-
terroristische Zwecke unter Strafe zu stellen. Gemeint
ändert? Inhaltlich gar nichts, nur dass die FDP jetzt
sind hier mit dem Begriff nur diejenigen, die ausbilden,
nicht mehr die angebliche Bürgerrechtspartei spielt wie
nicht aber diejenigen, die sich ausbilden lassen. Ausbil-
während ihrer Oppositionszeit, sondern als Regierungs-
der werden nach deutschem Strafrecht bereits erfasst.
partei genauso auf den Grundrechten herumtritt wie da-
Nach deutschem Strafrecht macht sich aber auch straf-
mals die Große Koalition. Denn das Übereinkommen
bar, wer bei der Vorbereitung einer schweren staatsge-
fordert, das Strafrecht genau in diese grundverkehrte
fährdenden Gewalttat sich ausbilden lässt. Über die am
Richtung auszubauen, also noch mehr Willkür, Vorfeld-
Ende der vergangenen Wahlperiode eingeführten Vor-
und Verdachtskriminalisierung zu betreiben.
schriften § 89 a und 89 b StGB haben wir in diesem
Es wird dann nicht lange dauern, bis die Bundesre- Hause seinerzeit zu Recht kontrovers diskutiert. Sie stel-
gierung Nachbesserungsbedarf sieht. Denn wie soll man len bereits bestimmte Aufnahmen von Beziehungen zu ei-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9111
Jerzy Montag
(A) ner Gruppe unter Strafe, wenn dies einer zukünftigen Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den (C)
Unterweisung in irgendwelchen, nicht näher bezeichne- Stimmen der CDU/CSU, SPD, FDP und des Bündnisses
ten Fertigkeiten dienen soll, die wiederum der mögli- 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
chen zukünftigen, nach Ort und Zeit nicht bestimmten Linke angenommen.
Ausführung einer schweren Straftat dienen sollen.
Dritte Beratung
Was bei der Verabschiedung 2009 galt, gilt auch
heute: Bei §§ 89 a und 89 b StGB handelt es sich um eine und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
rechtsstaatlich unverträgliche Vorfeldstrafbarkeit. Der- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
artige Vorschriften sind nicht, wie die damals verant- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wortliche Bundesjustizministerin so salopp bemerkte, wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu-
auf Kante genäht, sondern tragen Elemente von Gesin- vor angenommen.
nungsstrafrecht in sich. Ich habe schon damals Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:
gemahnt: Die Vorbereitung einer Vorbereitung einer
Straftat unter Strafe zu stellen, ist Ausdruck einer Si- Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
cherheitsphobie, die keine Grenzen und keine Regeln Mast, Anette Kramme, Angelika Krüger-Leißner,
kennt, sondern nur Erfolg haben will, und dies offen- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sichtlich um jeden Preis. In Deutschland soll kein
Echte Perspektiven für Altbewerberinnen und
Mensch allein für seine Absichten bestraft werden. Das
Altbewerber schaffen – Ausbildungsbonus bis
gilt zum Beispiel auch für Personen, die Vorbereitungen
2013 verlängern
für einen Totschlag oder Mord treffen, solange sie das
Versuchsstadium nicht erreichen. Strafrecht ist eben kein – Drucksache 17/4191 –
Gefahrenbekämpfungsrecht. Diesen Trend gilt es aufzu-
halten und umzukehren. Das sehen CDU/CSU und Teile Die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen sind
der SPD bekanntlich anders. Von der FDP erwarten wir zu Protokoll genommen: Matthias Zimmer, Paul
nicht, dass sie ihren Lippenbekenntnissen Taten Folgen Lehrieder, Katja Mast, Willi Brase, Johannes Vogel,
lässt. Agnes Alpers, Brigitte Pothmer.

Wie ich eingangs bereits betont habe: Die Grünen se-


Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU):
hen die Notwendigkeit und auch die Vorteile grenzüber-
schreitender Kriminalitätsbekämpfung. Wir stellen uns Der SPD-Bundestagsabgeordnete Jakob Maria
hier nicht grundsätzlich quer. Allerdings geben wir Mierscheid beantwortete die Frage eines Diplomanden,
ob die Namensgebung einer nach ihm benannten Brücke
(B) Werte wie Menschenrechte, Freiheit und Rechtsstaat- (D)
lichkeit nicht an der Tür ab, auch wenn Europa darauf im Regierungsviertel seine Zustimmung erfahren habe,
steht. Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen lakonisch bejahend. Mierscheid schloss seine Antwort
Sicherheitspolitik und Kriminalitätsbekämpfung kann dann aber mit der Bemerkung, dass er über diese Brücke
nur gelingen, wenn ein einheitliches, hohes Rechts- nicht gehe. Sie sei ihm zu windig. Genauso täten auch
schutzniveau gewährleistet ist. Mit der EMRK und der die Sozialdemokraten gut daran, sich nicht allzu sehr
sie begleitenden Rechtsprechung des EGMR hat der auf den Ausbildungsbonus zu fixieren; denn es ist ein
Europarat sehr gute Ansätze. Die inzwischen rechtsver- ziemlich windiger Steg, über den sie da gehen: Die uns
bindliche EU-Grundrechtecharta sowie die EMRK kön- vorliegenden Evaluationen zeigen eine lediglich schwa-
nen gemeinsam entscheidende Impulse für die beiden che Wirkung des Ausbildungsbonus als arbeitsmarkt-
europäischen Organisationen geben. politisches Instrument.

Absolute Sicherheit für jeden einzelnen Menschen Für die überwiegende Mehrheit der Betriebe ist der
kann und wird es nicht geben. Dieser Satz ist schon un- Ausbildungsbonus kein entscheidendes Einstellungskri-
zählige Male strapaziert worden, bleibt aber stets rich- terium. In der Befragung zum Instrument Ausbildungs-
tig. Das staatliche Streben nach absoluter Sicherheit bonus gaben 90 Prozent der nicht geförderten Betriebe
führt auf einen für Menschenwürde, Menschenrechte an, dass Altbewerber zunächst die gleichen Chancen im
und freiheitlichen Rechtsstaat gefährlichen Irrweg. Ver- Bewerbungsprozess erhalten wie Erstbewerber. Unter
lässliche Rechtsschutzstandards, gesetzgeberisches Au- den geförderten Betrieben gaben 68 Prozent an, dass sie
genmaß und regelmäßige kritische Überprüfung von sich erst nach der Auswahl eines Bewerbers um eine ge-
Gesetzen und staatlichen Maßnahmen verhindern, dass eignete Fördermöglichkeit bemühen. Etwa drei Viertel
die Bundesrepublik und mit ihr die europäischen Part- gaben an, dass ihnen die Altbewerber bereits vor der
ner auf diesen Weg abdriften. Einstellung durch vorherige Tätigkeiten im Betrieb be-
kannt waren und dass sie Praktika als sinnvoller und ef-
fektiver als finanzielle Zuschüsse ansehen. 82 Prozent
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: der Betriebe gaben an, sie hätten den Altbewerber auch
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss ohne Ausbildungsbonus eingestellt. Es zeigen sich also
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- deutliche Hinweise auf Mitnahmeeffekte. Die Forderung
che 17/4124, den Gesetzentwurf der Bundesregierung der SPD, den Ausbildungsbonus noch stärker zu bewer-
auf Drucksache 17/3801 anzunehmen. Ich bitte diejeni- ben, scheint mir daher eher wie eine Einladung zum ar-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das beitsmarktpolitischen Rabattmarkenschalter auf Kosten
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – der Steuerzahler.
9112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Matthias Zimmer


(A) Nur etwa 30 Prozent der Geförderten wissen über- dungsbonus gemacht und uns die Frage gestellt: Hält er, (C)
haupt, dass sie durch den Ausbildungsbonus gefördert was wir uns davon versprochen haben? Nicht umsonst
werden. Dies ist ein Beleg dafür, dass die Anregung zur hatten wir dieses Instrument der Arbeitsmarktpolitik zu-
Förderung durch den Ausbildungsbonus in der Regel nächst bis Ende dieses Jahres befristet. Nun haben wir
nicht von den Bewerbern ausgeht. Interessant ist auch uns entschieden, den Ausbildungsbonus nicht zu verlän-
ein Vergleich zwischen geförderten und ungeförderten gern – weil wir unsere Schlüsse gezogen haben und weil
Altbewerbern. Bei beiden Vergleichsgruppen liegt der wir wissen, dass Arbeitsmarktpolitik immer ein lernen-
Ausbildungsstatus nach 12 Monaten bei 85 Prozent. des System ist und sein muss.
Dies zeigt, der Ausbildungsbonus ist längst nicht so ef-
Zweck des Ausbildungsbonus war – und ist noch –,
fektiv, wie sein Name vermuten lässt. Der eingangs be-
die individuellen Ausbildungschancen von förderungs-
reits erwähnte SPD-Abgeordnete Mierscheid hat bezüg-
bedürftigen Ausbildungssuchenden aus früheren Schul-
lich des nach ihm benannten Bauwerkes aber auch
entlassungsjahren zu verbessern, indem Arbeitgebern
schon relativierend festgestellt, sinnvoll sei eine Brücke
ein finanzieller Anreiz für deren zusätzliche Einstellung
nur dort, wo auch Wasser fließe.
gegeben wird. Nicht zum Ziel des Ausbildungsbonus
Der Ansatz der Union hingegen ist ein anderer. Wir gehört die Bekämpfung des Fachkräftemangels. Die
gestalten die wesentlichen Rahmenbedingungen auf dem Ausbildung des eigenen Fachkräftenachwuchses ein-
Ausbildungsmarkt so, dass wir die Altbewerber nach- schließlich der Zahlung einer angemessenen Ausbil-
haltig und nicht nur für die Dauer von Subventionierun- dungsvergütung ist und bleibt originäre Aufgabe der
gen in den Arbeitsmarkt bringen. Wichtigster Eckpfeiler Wirtschaft.
dabei war und ist die vernünftige Arbeits-, Finanz- und
Die Zahl der bewilligten Anträge auf Ausbildungsbo-
Wirtschaftspolitik unter Kanzlerin Angela Merkel. Diese
nus lag im September 2010 bei 40 430. Dies ist mehr als
Politik ist das Fundament für die erfreuliche wirtschaft-
die Hälfte der ehemals anvisierten jeweils 30 000 För-
liche Entwicklung in unserem Land und führt eben auch
derfälle pro Ausbildungsjahr. Das ursprüngliche Ziel
zu einer hohen Nachfrage nach Auszubildenden und da-
war ehrgeizig, die Zielgröße konnte aber nicht erreicht
mit zu einer sinkenden Zahl Altbewerber. Ein weiterer
werden.
wichtiger Eckpfeiler stellt der Nationale Ausbildungs-
pakt dar, mit dem wir gezielte Maßnahmen ergreifen, um Der Zwischenbericht 2010 zum Ausbildungsbonus
vor allem die Ausbildungsreife junger Menschen sicher- lieferte zudem deutliche Hinweise auf Mitnahmeeffekte:
stellen und somit ihre dauerhafte Integration in den Aus- 71 Prozent der geförderten Betriebe gaben an, dass sie
bildungsmarkt. Im Übrigen haben wir im Rahmen des den Ausbildungsplatz auch ohne Förderung geschaffen
Beschäftigungschancengesetzes den Ausbildungsbonus hätten. 82 Prozent der Betriebe haben demnach auch
(B) für Auszubildende insolventer Betriebe bis Ende 2013 ohne den Ausbildungsbonus eine Altbewerberin oder (D)
verlängert. Damit sichern wir jungen Menschen ihren einen Altbewerber eingestellt.
Start ins Arbeitsleben.
Der Ausbildungsbonus war ursprünglich so angelegt,
Wir werden neben den Anstrengungen, die wir mit dass das Zusätzlichkeitskriterium Mitnahmeeffekte ver-
dem Ausbildungspakt leisten, auch im Rahmen der Eva- hindern sollte. Dies ist nur in 20 Prozent der Fälle ge-
luation der arbeitsmarktpolitischen Instrumente genau lungen. In Anbetracht der demografischen Entwicklung
prüfen, welche Instrumente sich unter welchen Umstän- und des bestehenden arbeitsmarktpolitischen Instru-
den als effektiv erweisen. Nur wenn Instrumente auch ef- mentariums zur Unterstützung benachteiligter junger
fektiv sind, wollen wir sie weiterhin einsetzen und finan- Menschen hält die Bundesregierung eine Ersatzlösung
zieren, ganz im Sinn des Kollegen Mierscheid, der jüngst nach dem Auslaufen des Ausbildungsbonus für nicht er-
zur Verwendung öffentlicher Mittel den bemerkenswer- forderlich. Auch zeigen die Ergebnisse des Zwischenbe-
ten Satz prägte: „Wie Wasser ohne Aufenthalt unter ei- richts 2010, dass Praktika von vielen Beteiligten sinn-
ner Brücke hindurchfließt, so rinnt das Geld durch die voller als finanzielle Hilfen für Arbeitgeber angesehen
Hände derjenigen, die sich der Instrumente nicht versi- werden, um förderungsbedürftigen jungen Menschen
chern, wie das Geld zu halten ist.“ Ein wahrer Satz eines einen Zugang zum Ausbildungsmarkt zu verschaffen.
großen Kollegen, den sich seine Fraktion doch zu Her-
Aufgrund der Prognosen zur allgemeinen Rückläufig-
zen nehmen möge.
keit der Schulabgängerzahlen und der positiven wirt-
schaftlichen Entwicklung auch auf dem Ausbildungs-
Paul Lehrieder (CDU/CSU): markt ist von verbesserten Einmündungschancen der
Was den ersten Teil Ihres Antragstitels betrifft, stehe Altbewerber am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt auszu-
ich voll auf Ihrer Seite: Eines der wichtigsten Ziele die- gehen. Der Anteil der Bewerber aus früheren Schulent-
ser Bundesregierung ist und bleibt es, jungen Menschen lassjahren an allen Bewerbern nahm vom Ausgangspunkt
zu einer Ausbildung zu verhelfen und ihnen so den Ein- 2004/2005 bis zum Jahr 2006/2007 um 6,2 Prozent-
stieg ins Berufsleben zu ermöglichen. Beim zweiten Teil punkte zu – das ist ein Anstieg von 46,2 Prozent auf
des Titels – „Ausbildungsbonus bis 2013 verlängern“ – 52,4 Prozent – und konnte im Berichtsjahr 2007/2008
können wir Ihnen leider nicht folgen. Ja, wir haben den um 0,7 Prozentpunkte auf 51,7 Prozent abgebaut wer-
Ausbildungsbonus 2008 gemeinsam in der Großen den. Dies ist insbesondere dem Ausbildungspakt und den
Koalition eingeführt, um jungen Menschen einen Weg intensiven Vermittlungsbemühungen der Agenturen für
ins Berufsleben zu ermöglichen. Seither ist einige Zeit Arbeit und Grundsicherungsstellen für diesen Personen-
vergangen. Wir haben Erfahrungen mit dem Ausbil- kreis zu verdanken.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9113
Paul Lehrieder
(A) In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals be- und damit Teilhabe ermöglicht. Kein Jugendlicher darf (C)
tonen, dass das Bundeskabinett am 7. Juni 2010 generell verloren gehen – das heißt für uns als SPD, dass jeder
eine Instrumentenreform beschlossen hat: Sie wird Mög- das Recht auf eine Ausbildung haben muss. Das ist un-
lichkeiten prüfen, die Vielzahl der Programme und För- ser Ziel, das wir durch Fördern und Fordern am Ar-
derinstrumente des Bundes für junge Menschen zur beitsmarkt unterstützen können.
Eingliederung in Ausbildung oder Arbeit besser auf-
einander abzustimmen und – wo es sinnvoll und möglich Und was macht Ursula von der Leyen? Sie schafft
ist – zu bündeln. Ende dieses Jahres klammheimlich ein Förderinstru-
ment für Jugendliche ab. Eiskalt lässt sie den Ausbil-
Der Wegfall des Ausbildungsbonus wird zudem durch dungsbonus für Altbewerber auslaufen. Und mit dieser
die am 26. Oktober 2010 beschlossene Neuauflage des Kälte geht es weiter: Zum 31. Dezember entfällt der
Ausbildungspakts kompensiert. Schon der „alte“ Aus- Ausbildungsbonus, der Jugendliche unterstützt, die es
bildungspakt konnte eine Erfolgsbilanz vorweisen: Im schwerer haben, einen Ausbildungsplatz zu finden. Er
Ausbildungsjahr 2009/2010 wurden 483 500 Ausbil- unterstützt auch die Betriebe, die ihnen eine Chance ge-
dungsplätze gemeldet; das waren 1,7 Prozent mehr als ben und damit Verantwortung übernehmen. Meist sind
im Vorjahr. Dem standen 552 200 gemeldete Bewerber es Handwerker und Mittelständler, die das Herz an der
gegenüber. Die Wirtschaft erreichte ihre selbstgesetzten richtigen Stelle haben. Also anders als Sie, die offenbar
Zielmarken und stellte 2009 circa 72 600 neue Ausbil- nur warme Worte haben, aber kalte Taten folgen lassen.
dungsplätze, 46 300 neue Ausbildungsbetriebe und Uns geht es darum, Jugendlichen eine Chance auf be-
32 000 Einstiegsqualifizierungen zur Verfügung. Die triebliche Ausbildung zu geben, die sonst keine hätten.
Zahl der Altbewerber ging im Jahr 2009/2010 um Das ist uns auch viel wert. Denn jede Investition in Bil-
150 000 auf circa 250 000 zurück. Auch der neue Aus- dung zahlt sich in Zukunft aus.
bildungspakt will diese Zahl weiter verringern, die Aus-
bildungsbeteiligung Jugendlicher mit Migrationshinter- Und dass dieses Instrument gut und sinnvoll war, ha-
grund deutlich erhöhen und lernbeeinträchtigte, sozial ben wir in Pforzheim und dem Enzkreis schon viele
benachteiligte Jugendliche individuell unterstützen. Jahre gewusst. Der Ausbildungsbonus ging auf unsere
Erfahrungen von vor Ort zurück; darauf sind wir zu
Im Rahmen des Paktes setzt sich die Wirtschaft das
Recht stolz. Der heutige Oberbürgermeister von Pforz-
Ziel, im Durchschnitt pro Jahr 60 000 neue Ausbildungs-
heim, Gert Hager, war sogar einer unserer Sachverstän-
plätze einzuwerben, jährlich 30 000 neue Ausbildungs-
digen bei der Anhörung im Deutschen Bundestag. Doch
betriebe einzuwerben und jährlich 30 000 betrieblich
Ursula von der Leyen lässt das kalt; es ist ihr egal – ob-
durchgeführte Einstiegsqualifizierungen durchzuführen.
wohl im Bericht zur Überprüfung des Ausbildungsbonus
(B) Die Bundesregierung wird durch die neue Initiative von neutralen Experten eindeutig steht: „Aufgrund des (D)
„Abschluss und Anschluss – Bildungsketten bis zum frühen Berichtszeitpunktes ergibt sich, dass die vorge-
Ausbildungsabschluss“ eine ganzheitliche Betreuung für stellten Ergebnisse vor allem beschreibenden Charakter
30 000 förderungsbedürftige Schülerinnen und Schüler haben und noch keine kausalen Wirkungsanalysen ent-
schaffen mithilfe von zusätzlichen 1 000 Berufsein- halten. Naturgemäß enthält der Bericht deshalb nur vor-
stiegsbegleitern, die durch die BA finanziert werden. Sie läufige Ergebnisse. Wichtige Untersuchungsschritte wie
wird die Angebote der Berufsorientierung ausbauen und die Wirkungsanalyse, die langfristige Analyse sowie die
das JOBSTARTER-Programm fortentwickeln. Die Bun- Analyse der finanziellen Auswirkungen und eine ab-
desagentur für Arbeit wird ihre Beratungs- und Vermitt- schließende Beurteilung sind für den Endbericht ge-
lungsangebote weiter gezielt verbessern, um Jugendli- plant.“ Die Kernbotschaft lautet also: Es braucht noch
che und Betriebe durch den Arbeitgeberservice, die Zeit, um eine echte Wirkungsanalyse des Ausbildungs-
Berufsberatung und die neue Jobbörse im Internet bes- bonus vorzulegen. Doch was macht die Bundesregie-
ser und passgenauer zu vermitteln. rung auf Grundlage ihres eigenen Berichts? Sie schafft
den Ausbildungsbonus ab, ohne überhaupt belastbare
Die erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre
Aussagen über das arbeitsmarktpolitische Instrument
für junge Menschen muss konsequent fortgeführt wer-
treffen zu können.
den. Insbesondere präventive Maßnahmen wie Maßnah-
men der vertieften Berufsorientierung und die Berufs- Das ist Politik auf dem Rücken von jungen Menschen,
einstiegsbegleitung, die im Rahmen der Initiative die konkrete Antworten erwarten. Stattdessen erleben
Bildungsketten durch ein Sonderprogramm der Bundes- sie eine Ministerin, die warmen Worten über Chancen
regierung ausgeweitet wurde, sollen die jungen Men- eiskalte Taten folgen lässt. Frau von der Leyen, Sie blei-
schen optimal auf die Berufswahl und den Ausbildungs- ben die Ministerin der kleinteiligen und wirkungslosen
und Arbeitsmarkt vorbereiten und direkte Übergänge in Projekte statt zukunftsweisender Perspektiven.
die Berufsausbildung befördern.
Am Beispiel des Ausbildungsbonus zeigt sich deut-
Katja Mast (SPD): lich: Diese Bundesregierung redet über bessere Bildung
Menschen stärken, Wege öffnen – das will die SPD. und kürzt gleichzeitig das Geld. Sie schafft Rechtsan-
Für uns gehört klar und deutlich dazu: Jeder Jugend- sprüche auf Qualifizierung und Bildung ab. Das steckt
liche braucht einen Ausbildungsplatz. Denn kein Ju- in Wahrheit hinter dieser Politik; das steht auch so in
gendlicher darf verloren gehen. Das ist die Vorausset- den Kürzungsbeschlüssen der Bundesregierung: Es sol-
zung für gute und würdevolle Arbeit. Als Partei der Ar- len Rechts- in Ermessensleistungen umgewandelt wer-
beit streiten wir für eine Politik, die Perspektiven schafft den. Das erste Opfer ist der Ausbildungsbonus, weitere

Zu Protokoll gegebene Reden


9114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Katja Mast
(A) werden in Kürze folgen. Leittragende sind jene, die auf Auch die Determinanten, die in eine solche Situation (C)
unsere Unterstützung angewiesen sind. führen, sind untersucht worden. Das ist eine breite Pa-
lette: ein fehlender oder niedriger Schulabschluss,
In den Haushaltsberatungen haben wir erlebt, wie schlechte Noten im Abgangszeugnis, der Bildungstand
Schwarz-Gelb die Mittel für erfolgreiche arbeitsmarkt- der Eltern oder ein Migrationshintergrund. Auch bei
politische Programme zusammengestrichen hat. Alleine jungen Frauen, die ein eigenes Kind betreuen, besteht
hier werden 1,3 Milliarden Euro im kommenden Jahr zu ein hohes Risiko, ausbildungslos zu bleiben. Betroffen
viel gekürzt. Auch hierfür trägt Ursula von der Leyen die sind mittlerweile auch nicht mehr nur Schulabgänger
Verantwortung. Sie ist und bleibt Bildungskürzungsmi- mit einem Hauptschulabschluss. Die Bertelsmann-Stu-
nisterin. Diese Politik zeigt, in welche Richtung die von die hat nachgewiesen, dass mittlerweile auch eine hohe
der Bundesregierung groß angekündigte Reform der ar- Zahl von Realschülern betroffen ist.
beitsmarktpolitischen Instrumente im kommenden Jahr
Angesichts dieser Zahlen und Analysen erscheint es
gehen wird. Das wird kein großer Wurf, wie von
doch sehr erstaunlich, dass die Bundesregierung eine
Schwarz-Gelb angekündigt. Das wird ein schmerzhafter
Verlängerung des Ausbildungsbonus ablehnt. Die Be-
Bumerang für diejenigen, für die wir mehr Unterstüt-
gründung ist mehr als fadenscheinig: Nach allen Pro-
zung und Fairness am Arbeitsmarkt brauchen: für Ju-
gnosen werde es weniger Schulabgänger geben. Außer-
gendliche, für Langzeitarbeitslose, für Menschen mit dem werde die positive wirtschaftliche Entwicklung auf
Behinderung, für Migrantinnen und Migranten und für dem Ausbildungsmarkt ankommen. Folglich würden
Alleinerziehende. sich auch die Einmündungschancen für Altbewerberin-
Kein Jugendlicher darf verloren gehen. Dieses Kern- nen und Altbewerber verbessern. An dieser Stelle
versprechen der SPD gilt. Deshalb legen wir heute einen springt die Bundesregierung eindeutig zu kurz. Denn
Antrag vor, um den Ausbildungsbonus zu verlängern. eine geringere Zahl von Schulabgängern bedeutet nicht
gleichzeitig eine Verbesserung ihrer Qualifikationen.
Dabei haben wir auch die doppelten Abiturjahrgänge im
Vergessen bleibt dabei auch der Aspekt, dass voraus-
Blick und die geplante Abschaffung der Wehrpflicht.
sichtlich viele Schulabgängerinnen und -abgänger mit
Beides setzt den Ausbildungsmarkt und vor allem die Ju-
einer Hochschulzulassung durch die doppelten Abitur-
gendlichen, die es jetzt schon schwerer haben, massiv jahrgänge zusätzlich auf den Ausbildungsmarkt strö-
unter Druck. Dieser Verdrängungswettbewerb führt zu men. Und dann sind es wieder die bereits oben genann-
mehr Altbewerbern. Es ist nicht zu spät. Sie von ten jungen Erwachsenen mit Startnachteilen, die auf der
Schwarz-Gelb können jugendlichen Altbewerberinnen Strecke bleiben. In seinem Qualifizierungsmonitor
und Altbewerbern noch ein wertvolles Weihnachtsge- fragte das Institut der deutschen Wirtschaft Köln ausbil-
(B) schenk unter den Baum legen – denn jeder junge Mensch dende Unternehmen, welche Gruppen von Auszubilden- (D)
hat das Recht auf einen Einstieg in den beruflichen Auf- den beschäftigt werden. Im Ergebnis liegen Jugendliche
stieg. Stimmen Sie unserem Antrag zu und schaffen Sie mit Hauptschulabschluss mit 44,7 Prozent nur noch
endlich echte Perspektiven für junge Menschen, insbe- knapp vor Jugendlichen mit Fach- bzw. Hochschulreife,
sondere für diejenigen, die unsere volle politische Un- die bereits auch schon bei über 40 Prozent liegen. Altbe-
terstützung dringend brauchen. Ich fordere Sie auf: Neh- werberinnen und Altbewerber sind laut Untersuchung
men Sie Ihren eigenen Bericht zum Ausbildungsbonus dagegen nur in jedem vierten ausbildenden Unterneh-
ernst – kein Jugendlicher darf verloren gehen. men vertreten.
Im September 2009 machte der Bundesrechnungshof
Willi Brase (SPD): eine Mitteilung an die Bundesagentur für Arbeit über
Der Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2010 hat die Prüfung des Ausbildungsbonus. In seiner Würdigung
die Zahlen klar auf den Tisch gelegt: Gemessen an der hielt der Bundesrechnungshof den Ausbildungsbonus für
entsprechenden Wohnbevölkerung gibt es in Deutsch- „sinnvoll und hilfreich“. Bestehende Fördermöglich-
land eine Ungelerntenquote von 15,2 Prozent in der keiten für Auszubildende würden auf diesem Weg har-
Gruppe der 20- bis 29-jährigen ohne eine abgeschlos- monisiert und in ein einheitliches Leistungssystem zu-
sene Berufsausbildung. Dabei ist die Quote der Frauen sammengeführt. Somit würden die „Transparenz, die
mit 15,2 Prozent noch etwas höher als die der Männer, Wirksamkeit und die Einheitlichkeit der Förderung von
von denen 14,9 Prozent betroffen sind. Das sind rund Ausbildungsverhältnissen für unversorgte und leistungs-
1,45 Millionen junge Erwachsene, denen kein qualifi- schwache Bewerber“ verbessert. Der Bundesrechnungs-
zierter Einstieg ins Berufs- und Arbeitsleben gelungen hof unterstrich auch, dass der vom Gesetzgeber beab-
ist. Ich möchte eine weitere Untersuchung nennen. In sichtigte Personenkreis, erreicht würde. In den meisten
der Studie der Bertelsmann-Stiftung „Keine Perspektive der geprüften Fälle hatten die Auszubildenden schlechte
ohne Ausbildung“ wurde die Gruppe der 25- bis 34-jäh- Schulleistungen oder hatten den Besuch einer weiterfüh-
rigen 2007 in Westdeutschland untersucht. 20,8 Prozent renden Schule abgebrochen. Es traten sogar Einzelfälle
zu Tage, in denen junge Menschen sich seit mehr als sie-
von ihnen – das ist ein Fünftel – hatten keinen Ausbil-
ben Jahren um einen Ausbildungsplatz bemühten oder
dungsabschluss. Unter ihnen finden sich auch Tausende
eine ungelernte Tätigkeit ausübten.
von Altbewerberinnen und Altbewerbern, die keinen
Ausbildungsplatz gefunden haben, ihren Wunsch nach Der Bundesrechnungshof nannte einen weiteren
einer voll qualifizierende Ausbildung aber – und das wichtigen Punkt, der für die Verlängerung des Ausbil-
teilweise schon seit Jahren – aufrechterhalten. dungsbonus spricht. Es wurde festgestellt, dass beson-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9115
Willi Brase
(A) ders kleinere Unternehmen mit unter 50 Beschäftigten Davon wollen Sie in Ihrem Antrag jetzt nichts mehr (C)
den Ausbildungsbonus in Anspruch genommen haben. wissen, sondern bezweifeln die Aussagekraft der Eva-
In der Regel wurden über dieses Instrument ein, zwei zu- luation. Deskriptive Analysen reichten nicht aus. Wir-
sätzliche Ausbildungsplätze geschaffen. Das waren be- kungsanalysen seien abzuwarten. Das klingt ja erstmal
sonders Betriebe, die in den letzten Jahren nicht ausge- nach einem Argument, ist es aber nicht. Zu welchem
bildet hatten. Das bedeutet: Eine Förderung schafft Zweck hätte die Evaluation im Jahr 2010 denn dienen
zusätzliche Ausbildungsplätze. Auch im Nationalen Bil- sollen, wenn es nicht die Entscheidung über eine mögli-
dungsbericht 2010 wird betont, dass Ausbildungsförde- che Verlängerung gewesen wäre? Hat Sie damals bei
rungen bei allen Betriebsgrößenklassen zu einer deutli- der Formulierung der Evaluationsklausel einfach wis-
chen Erhöhung der Ausbildungsquote führt – und das senschaftliches Interesse getrieben? Ich glaube nicht.
besonders bei den mittleren und kleinen Unternehmen,
bei den die Ausbildungsquote fast drei- bzw. viermal so Dann sehen wir uns doch die Ergebnisse des Evalua-
hoch ist wie bei Betrieben ohne Förderung. Der Ausbil- tionsberichts einmal an: Über zwei Drittel der geförder-
dungsbonus scheint eines der wichtigen Anreizinstru- ten Betriebe gaben an, dass sie sich erst nach der Aus-
mente zu sein, und die Bundesregierung täte gut daran, wahl eines Bewerbers um eine Fördermöglichkeit
Zahlen und Fakten nicht einfach zu ignorieren, sondern bemüht haben. Etwa drei Viertel der Betriebe gaben an,
den Ausbildungsbonus als Chance für viele Jugendliche dass ihnen die Altbewerberinnen und Altbewerber be-
zu verlängern. reits vor der Einstellung bekannt waren, vorwiegend
durch Praktika. Über 70 Prozent der Betriebe gaben an,
Die Debatte um den Fachkräftebedarf darf nicht so dass sie den Ausbildungsplatz auch ohne Förderung ge-
geführt werden, wie Bundesministerin von der Leyen es schaffen hätten. Und schließlich betonten über 80 Pro-
sich mit dem einfachen Zuzug von ausländischen Fach- zent der Betriebe, sie hätten auch ohne Ausbildungsbo-
kräften vorstellt. Die Arbeit, die in Deutschland anfällt, nus einen Altbewerber oder eine Altbewerberin
muss von den hier lebenden Menschen geleistet werden eingestellt.
– das ist die beste Integration. Der Ausbildungsbonus ist So, und jetzt frage ich Sie: Wann, wenn nicht bei die-
einer von mehreren Möglichkeiten, schnell und unmittel- sen Ergebnissen, würden Sie denn von dramatischen
bar in dieser Frage Abhilfe zu schaffen. Wir wollen Mitnahmeeffekten sprechen? Ich zitiere noch einmal den
keine Armee von Chancenlosen, die mitgeschleppt wer- Evaluationsbericht, der von den „gefundenen hohen
den, sondern qualifiziert ausgebildete Arbeitnehmerin- Mitnahmeeffekten“ spricht. Sie haben vor zwei Jahren
nen und Arbeitnehmer, denen sich gute Perspektiven in in Ihrem Gesetz darauf gepocht – zu Recht, wie ich
der Arbeitswelt und gerechte Teilhabechancen in der gerne betone –, dass die Betriebe die Ausbildung finan-
Gesellschaft eröffnen. zieren müssen und niemand sonst. Offensichtlich ist das (D)
(B)
beim Ausbildungsbonus überwiegend nicht der Fall.
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Das müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen. Kein Wort
Ich muss schon sagen, liebe Kolleginnen und Kolle- davon steht in Ihrem Antrag. Meine Fraktion hat schon
gen von der SPD, wenn ich mir einige Ihrer Anträge und vor zwei Jahren eindringlich auf die große Gefahr der
Mitnahmeeffekte hingewiesen – zu Recht, wie wir heute
Vorstöße in der letzten Zeit ansehe, dann muss ich immer
wissen. Das ist ein wichtiger, ja ein entscheidender
wieder an den britischen Schriftsteller Stevenson den-
Punkt, gerade angesichts der Finanzierung aus Bei-
ken, aber nicht etwa, weil er „Die Schatzinsel“ ge-
tragsmitteln.
schrieben hat, sondern wegen der berühmten Ge-
schichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Die stammt Sie haben das Auslaufen des Ausbildungsbonus für
nämlich auch von Stevenson. Waren Sie als Regierungs- Ende 2010 geplant. Der erste Evaluationsbericht liefert
partei noch Dr. Jekyll, sind Sie als Oppositionspartei eindeutige Argumente dafür, dass dies auch so bleiben
nun Mr. Hyde. Eine Partei – zwei Meinungen. Bei Ihrem sollte. Es ist ein bisschen so wie bei der Rente mit 67. Sie
jetzigen Antrag zum Ausbildungsbonus ist es wieder ge- haben an der Regierung etwas beschlossen und mit ei-
nauso. Was Sie damals selbst ins Gesetz geschrieben ha- ner Evaluationsklausel versehen. Dann bringt die Eva-
ben, will Ihnen heute nicht mehr einleuchten. luation eindeutige Ergebnisse, die Sie dann aber nicht
wahrhaben wollen. Das hat mit Seriosität wenig zu tun.
Dabei ist die Sache doch ganz klar: Sie haben den
Ausbildungsbonus in der Großen Koalition eingeführt. Deswegen müssen Sie mir auch nachsehen, wenn ich
Und Sie haben den Ausbildungsbonus befristet, und Ihren Antrag vor allem als Dekor fürs oppositionelle
zwar bis Ende 2010. Das war nicht die FDP, das war Schaufenster einstufe. So richtig ernst scheint Ihnen die
nicht die aktuelle Bundesregierung, sondern das waren Sache ja nicht zu sein, sonst würden Sie sich nicht zu
Sie selbst. Sie haben damals in der Begründung von ei- solch haltlosen Vorwürfen versteigen: Das Handeln der
ner „Einmalmaßnahme“ gesprochen, und Sie haben an Bundesregierung ziele auf die Abschaffung erfolgrei-
gleicher Stelle deutlich gesagt: „Der Ausbildungsbonus cher Rechtsansprüche auf Qualifizierung und Bildung.
tangiert den Grundsatz, dass Betriebe die Berufsausbil- Das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, einfach
dung selbst durchführen, verantworten und finanzie- Quatsch. Abgesehen davon handelt es sich um einen
ren.“ Deswegen sei die Evaluation durch den Bund not- Rechtsanspruch für Arbeitgeber auf einen Zuschuss. Ihr
wendig. Will heißen: Wir wollen überprüfen, ob der eigenes Instrument sollten Sie besser kennen. Und Ihren
Ausbildungsbonus diesen Grundsatz nicht nur berührt, Hinweis auf den Erfolg des Ausbildungsbonus muss man
sondern verletzt. nach dem Evaluationsbericht als das ansehen, was er

Zu Protokoll gegebene Reden


9116 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Johannes Vogel (Lüdenscheid)


(A) ist: Realitätsverweigerung. Schließlich widersprechen Und noch eine Notiz zu der im Ausbildungspakt veran- (C)
Sie sich an dieser Stelle auch selbst. Einerseits soll der kerten Selbstverpflichtung der Unternehmen. Ich frage
vorliegende Evaluationsbericht kein Gradmesser sein, Sie als Abgeordnete, als Kleinunternehmer und Klein-
weil er nur deskriptiv angelegt sei. Andererseits reichen unternehmerinnen: Wie halten Sie es mit der Selbstver-
Ihnen rein deskriptive Befunde über die Inanspruch- pflichtung? Ich, für meinen Teil, bilde in meinem Büro
nahme des Ausbildungsbonus – die im Übrigen deutlich eine Altbewerberin aus.
unter den von Ihnen anvisierten Zielen liegt – aus, um
den Erfolg des Instruments festzustellen. Was denn nun? Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wenn Sie überzeugen wollen, brauchen Sie Argu- Im Oktober dieses Jahres waren immer noch
mente. Ihr widersprüchlicher Antrag reicht dazu leider 154 500 junge Menschen bei der Bundesagentur für Ar-
nicht. Sie wollen im Grunde gegen alle Indizien und völ- beit als sogenannte Altbewerberinnen oder Altbewerber
lig ohne Beweise ein Urteil fällen. Das wäre vor Gericht gemeldet – und das, obwohl die Anzahl der Schulabsol-
Unsinn, und in der Arbeitsmarktpolitik wäre es das venten sinkt, obwohl sich der Konjunkturverlauf über-
auch. Die Regierungskoalition gründet ihre Politik hin- aus positiv entwickelt und obwohl vom deutschen Job-
gegen auf klare Analysen und fällt klare Entscheidun- wunder die Rede ist. Die betroffenen Jugendlichen
gen. Das ist das Gegenteil von Ihrer Zickzack-Politik. warten vergeblich auf einen Ausbildungsplatz und lan-
den stattdessen im Übergangssystem. Dieses entpuppt
sich für sie meist als sinnlose Warteschleife, die nicht in
Agnes Alpers (DIE LINKE): eine gute Berufsausbildung, sondern in Arbeitslosigkeit
Nach Angaben der Bundesregierung soll der Ausbil- oder Billigjobs für Geringqualifizierte mündet. Das ist
dungsbonus Arbeitgeber veranlassen, zusätzliche Aus- unverantwortlich – nicht nur mit Blick auf die jungen
bildungsplätze zu schaffen, die ohne Bonus nicht Menschen, die damit ihre Berufsperspektive verlieren,
zustande kommen würden. Was aber haben Ausbildungs- sondern auch mit Blick auf den zunehmenden Fachkräf-
pakt und Ausbildungsbonus an der Situation derjenigen temangel, der zur Bremse für die wirtschaftliche Ent-
geändert, die jahrelang nach einem Ausbildungsplatz wicklung der Unternehmen wird. Sowohl die Wirtschaft
suchen? Seit Bestehen des Ausbildungspaktes sind nicht, als auch die Politik stehen daher in der Verantwortung,
wie versprochen, 90 000 zusätzliche Ausbildungsplätze Jugendlichen die besten Berufschancen zu eröffnen.
eingerichtet worden, vielmehr wurden 45 000 Ausbil-
dungsplätze abgebaut. Der Ausbildungsbonus hat kaum Vor diesem Hintergrund ist es geradezu fahrlässig,
zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen. Es wurden dass die Bundesregierung sich aufs Nichtstun verlegt.
Betriebe unterstützt, die auch ohne Bonus ausgebildet Sie, meine Damen und Herren von Union und FDP,
(B) hätten. Das sind 71 Prozent aller Unternehmen. glauben offensichtlich, dass sich schon alles fügen wird, (D)
400 000 Altbewerber und Altbewerberinnen und 1,5 Mil- wenn die Zahl der Schulabgänger weiter zurückgeht und
lionen Menschen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren der Druck des Fachkräftemangels größer wird. Sie hof-
bleiben weiterhin ohne Ausbildung, sind oft arbeitslos fen auf einen Automatismus, aber Sie werden vergeblich
und ausgegrenzt. hoffen. Nichts und niemand garantiert, dass die Schulen
automatisch besser werden oder dass die Wirtschaft
Die Linke hat schon damals darauf aufmerksam ge- automatisch auch für nicht so gute Schülerinnen und
macht, dass dieses Förderinstrument falsch angelegt ist. Schüler oder Schulabbrecher Ausbildungsplätze bereit-
Es belohnt Unternehmen für eine Aufgabe, die sowieso stellt. Statt die Hände in den Schoß zu legen, müsste die
eine ihrer Pflichten ist, schafft Mitnahmeeffekte und ist Bundesregierung endlich für bessere Rahmenbedingun-
kein Instrument, um Ausbildung für alle abzusichern. gen sorgen, damit alle jungen Menschen die Möglichkeit
Statt dieser wirkungslosen Hilfsmaßnahme für Betriebe erhalten, gut qualifiziert ins Berufsleben zu starten.
nachzuhängen, sollten sich die Kollegen und Kollegin-
nen von der SPD endlich wieder auf unseren ehemals Aber wer glaubt mit einer Verlängerung des Ausbil-
gemeinsamen Pfad einer Ausbildungsumlage begeben. dungsbonus die Probleme auf dem Ausbildungsmarkt
Das ist die Maßnahme, die alle an Ausbildung beteiligt lösen zu können, ist auf dem Holzweg. Schon bei der
und vielfältige Lebensperspektiven eröffnet. Einführung des Bonus haben wir Grünen seine Ziel-
genauigkeit und Reichweite bezweifelt. Liebe Kollegin-
Wir dürfen ausbildende Unternehmen nicht belohnen, nen und Kollegen aus der SPD-Fraktion, von Anfang an
wenn wir nicht gleichzeitig die Betriebe zahlen lassen, gab es darüber hinaus sowohl vonseiten der Arbeitgeber
die nicht ausbilden wollen. Deshalb fordert die Linke als auch vonseiten der Gewerkschaften erhebliche Zwei-
hier die gesetzliche Ausbildungsumlage. Mit ihrer Hilfe fel an der Wirksamkeit des Ausbildungsbonus; das hätte
entsteht Ausbildung für alle. Ihrem damaligen Arbeitsminister zu denken geben müs-
sen.
Neben der Umlage wollen wir das Geld für den Bonus
aber sinnvoll einsetzen. Wir wollen kleine Betriebe un- Mit der Vorlage des Zwischenberichts zur Evaluation
terstützen, sich umfänglich an Ausbildung zu beteiligen. des Ausbildungsbonus sind alle Skeptiker bestätigt wor-
den. 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze sollten
Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, endlich Aus- durch die Gewährung des Bonus bis Ende 2010 geschaf-
bildungsplätze für alle einzurichten, für all die, die bis- fen werden. Insgesamt wurde der Ausbildungsbonus seit
her ausgegrenzt werden, für die Zukunft der Betriebe seiner Einführung in 44 700 Fällen gewährt. Aber laut
und der Gesellschaft. Zwischenbericht hätten 82 Prozent der Betriebe auch

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9117
Brigitte Pothmer
(A) ohne den Ausbildungsbonus eine Altbewerberin oder ei- und Dienstleistungen und stellen wieder Menschen ein. (C)
nen Altbewerber eingestellt. Unter dem Strich sind Die Arbeitsverhältnisse sind sicherer geworden, die Ar-
durch die Förderung weniger als 9 000 zusätzliche Aus- beitnehmer können ruhiger schlafen, denn Insolvenz ist
bildungschancen entstanden. Berücksichtigt man noch, – anders als im vergangenen Jahr – kein beherrschendes
dass in mehreren Bundesländern mit der Einführung des Thema mehr.
Ausbildungsbonus ähnliche, aber günstigere Förderpro-
gramme weggefallen sind, so wie beispielsweise in Und weil das niemand so voraussehen konnte, weil
Niedersachsen oder Sachsen-Anhalt, dann fällt die Bi- selbst die Bundesregierung bei ihrer Einschätzung der
lanz noch verheerender aus. Zudem wurden den Bei- wirtschaftlichen Entwicklung und damit auch der Insol-
tragszahlern für wenig Wirkung hohe Kosten aufgebür- venzen diese überaus positive Entwicklung nicht vorher-
det. Bis zum September 2010 wurden bereits über gesehen hat, deshalb sind rund 1,1 Milliarden Euro der
66 Millionen Euro für den Ausbildungsbonus ausgege- Insolvenzgeldumlage von der Bundesagentur nicht für
ben. Die Summe wird noch erheblich steigen, weil die Insolvenzgelder an Arbeitnehmer ausgegeben worden.
zweite Hälfte der Bonuszahlung erst bei der Anmeldung Auf der anderen Seite ist die Entwicklung bei der Zahl
zur Abschlussprüfung ausgezahlt wird. der Arbeitslosen zwar auch positiv, aber leider hat sie
Wir Grünen waren dagegen, den Ausbildungsbonus sich nicht so schnell und deutlich auf die Ausgaben der
einzuführen und wir sind dagegen, dieses Programm, Bundesagentur für Arbeit ausgewirkt. Und so ist es ge-
bei dem Anspruch und Wirklichkeit meilenweit aus- kommen, dass die Bundesagentur für Arbeit das lau-
einanderliegen, fortzuführen. Mit unserem Konzept fende Jahr 2010 mit einem Zuschussbedarf des Bundes
DualPlus haben wir Vorschläge unterbreitet, bei deren von rund 6 Milliarden Euro abschließt. Der ursprüngli-
Umsetzung für alle Jugendlichen eine gute Berufsausbil- che Haushalt ging noch von 16 Milliarden Euro aus.
dung über neue überbetriebliche Ausbildungsstätten Diese Last müssen jedoch keineswegs Arbeitgeber
möglich wird, ohne dafür weitere Millionen zu verpul- und Arbeitnehmer alleine schultern; nein, zur Sicherung
vern. von Arbeitsplätzen, zur Entlastung der Unternehmen,
zur Belebung unserer Wirtschaft hat die christlich-libe-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: rale Bundesregierung für das laufende Jahr 2010 be-
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der schlossen, das ansonsten übliche zinslose Darlehen an
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4191. Wer stimmt die Bundesagentur für Arbeit in einen Zuschuss umzu-
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- wandeln. Trotz der Neuverschuldung des Bundes in
gen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU, Höhe von rund 50 Milliarden Euro gewährt der Bund
FDP und der Grünen gegen die Stimmen der SPD bei ganz bewusst statt des üblichen, zurückzuzahlenden
(B) Enthaltung der Linken abgelehnt. Darlehens für dieses Jahr der Bundesagentur für Arbeit (D)
ausnahmsweise einen Zuschuss, um deren Defizit auszu-
Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf: gleichen. Und 6 Milliarden Euro, das sind rund 5 Mil-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette liarden Euro mehr als der Überschuss der Bundesagen-
Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Hubertus tur für Arbeit aus der Insolvenzgeldumlage der
Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der Arbeitgeber.
Fraktion der SPD Die Gemeinschaft der Steuerzahler übernimmt damit
Insolvenzgeld – Umlagekasse nicht im Bundes- in solidarischer Weise und in erheblichem Umfang Las-
haushalt vereinnahmen ten, die ansonsten auch durch die Beitragszahler hätten
getragen werden müssen. Denn die Belebung des Ar-
– Drucksache 17/4188 – beitsmarktes, das Schicksal Tausender Arbeitnehmer
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Re- und die Gesundung unserer Wirtschaft als Quelle unse-
den zu Protokoll genommen, und zwar folgender Kolle- res Wohlstandes und Lebensstandards sind wesentliche
ginnen und Kollegen: Axel E. Fischer, Bartholomäus Ziele, die die gesamte Gesellschaft betreffen und die da-
Kalb, Gabriele Lösekrug-Möller, Claudia Winterstein, mit auch ausnahmsweise große Anstrengungen rechtfer-
Sabine Zimmermann, Brigitte Pothmer. tigen.
Wer diese herausragende und vorbildliche gesamtge-
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): sellschaftliche Solidaritätsleistung der Menschen im
Ich wünschte, wir würden in diesem Hause mehr De- Lande kleinzureden versucht, wer im Angesicht dieses
batten zu so erfreulichen Anlässen führen wie zur Verbu- Kraftaktes mit für alle Beteiligten erfolgreichem Aus-
chung der Insolvenzgeldumlage für das ablaufende Jahr gang jetzt versucht, egoistische Eigenziele umzusetzen
2010. Denn der Überschuss der Insolvenzgeldumlage und mit Klein-Klein das Ganze zu zerstören, der ist nicht
von mehr als 1 Milliarde Euro ist ein deutliches Zeichen gut beraten.
dafür, wie unerwartet positiv sich unsere Wirtschaft in
Dies umso weniger, als die Zahlungen zur Insolvenz-
den letzten Monaten entwickelt hat:
geldumlage für die Arbeitgeber nicht etwa verloren sind,
Die Zahl der Arbeitslosen ist auf unter 3 Millionen sondern mit den Zahlungen der kommenden Jahre ver-
gesunken. Die Wirtschaftsleistung ist so stark gestiegen rechnet werden. Damit werden durch den Bundeszu-
wie seit Jahrzehnten nicht mehr, und die Unternehmen schuss von rund 6 Milliarden Euro in diesem Jahr Un-
suchen neue Arbeitskräfte, entwickeln neue Produkte ternehmen und Arbeitnehmer entlastet – im kommenden
9118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)


(A) Jahr werden darüber hinaus die Arbeitgeber entlastet, lich, warum sie von der SPD auf einmal diese Erfolge (C)
die aufgrund der Zahlungsüberschüsse in 2011 und auch schlechtreden, ohne Not mit Gaukeleien in Taschen-
später von Beitragszahlungen zur Insolvenzgeldumlage spielertrickmanier richtige Entscheidungen rückgängig
entlastet werden. So wurde der Umlagesatz für das Jahr machen und an vielfach und lange bewährte Regelungen
2011 auf 0,0 Prozent festgelegt, im Jahr 2010 betrug er und Strukturen Hand anlegen wollen. Deshalb ist der
noch 0,41 Prozent. Das wird unsere Wirtschaft im der- Antrag abzulehnen.
zeitigen wirtschaftlichen Aufschwung weiter stärken und
die Entstehung neuer Arbeitsplätze fördern. Bartholomäus Kalb (CDU/CSU):
Es ist festzustellen, dass Deutschland aufgrund rich- Die SPD fordert mit ihrem Antrag zum Insolvenzgeld
tiger politischer Entscheidungen die Krise gut bewältigt die Bundesregierung auf, die zum Jahresende 2010 nicht
und wieder der Wachstumsmotor in Europa ist. Das Kri- verausgabten Mittel aus der Insolvenzgeldumlage bei
senprogramm der Bundesregierung hat uns gut aus der der Bestimmung der Höhe des Bundeszuschusses an die
Krise geführt, und auch der milliardenschwere Bundes- Bundesagentur für Arbeit nicht in Ansatz zu bringen,
zuschuss an die Bundesagentur war vor diesem Hinter- sondern stattdessen auf das Jahr 2011 zu übertragen.
grund eine richtige Maßnahme. Eine Verrechnung des Bundeszuschusses mit der nicht
verausgabten Insolvenzgeldumlage hätte zur Folge,
Dass die Bundesagentur für Arbeit bei einem Zu- dass in 2011 Arbeitgeber und Arbeitnehmer den infrage
schuss von rund 6 Milliarden Euro jedoch nach dem Wil- stehenden Betrag erneut aufbringen müssten, um die für
len der SPD auch eigene Rücklagen für das Jahr 2011 Insolvenzfälle benötigten Gelder bereitstellen zu kön-
auf Kosten des Steuerzahlers bilden soll, würde die Soli- nen. Die Beitragszahler würden damit doppelt belastet.
darität der Steuerzahler vor dem Hintergrund einer er- Dies könne nach Ansicht der SPD nicht akzeptiert wer-
heblichen Neuverschuldung des Bundes überstrapazie- den. Diese Auffassung der SPD ist falsch.
ren. Eine solche Rückverlagerung der Finanzlasten der
Bundesagentur für Arbeit vom Jahr 2011 auf das Jahr Die christlich-liberale Koalition hat Deutschland er-
2010, in dem die Steuerzahler die Defizite der Bundes- folgreich aus der weltweiten Wirtschafts- und Finanz-
agentur für Arbeit durch einen Zuschuss in einem ein- krise geführt. Dank der unerwartet guten konjunkturel-
maligen Solidarakt übernommen haben, kann und darf len Entwicklung wird die für das Jahr 2010 auf-
es nicht geben. Denn Hilfe ist immer auch Hilfe zur gebrachte Insolvenzgeldumlage nicht vollständig benö-
Selbsthilfe, und es erschiene unfair, wenn die Nothelfer, tigt werden. Die Insolvenzgeldumlage wird zur Finan-
das heißt die Steuerzahler, nachträglich auch noch für zierung des Insolvenzgeldes erhoben. Arbeitnehmer ha-
Speckpolster zur Kasse gebeten werden sollten. Dass es ben Anspruch auf Insolvenzgeld, wenn sie bei Eröffnung
(B) für eine solche Rücklagenbildung keine Rechtsgrund- des Insolvenzverfahrens über das Vermögen ihres Ar- (D)
lage gibt, die Antragsteller somit ohne rechtliche Hand- beitgebers für die vorausgehenden drei Monate des Ar-
habe über Jahrzehnte bewährte Haushaltsgrundsätze beitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt
infrage stellen, sei hier nur der Vollständigkeit halber haben.
erwähnt. Denn weder sind die Einnahmen der Bundes-
agentur für Arbeit aus der Insolvenzgeldumlage zweck- Die von der SPD im Antrag angestrebte Separierung
gebunden, noch sehe ich einen vernünftigen Grund, sie der Mittel für die Insolvenzgeldumlage entspricht
zulasten des Bundeshaushaltes in das Jahr 2011 umzu- jedoch nicht der geltenden Rechtslage. Ein möglicher
buchen. Überschuss bei der Insolvenzgeldumlage ist vielmehr
zur Verringerung des Bundeszuschusses an die Bundes-
Mit diesem Antrag reden Sie von der SPD nicht nur agentur für Arbeit zu verwenden. Dies führt auch nicht
die große solidarische Leistung der Gemeinschaft der zu unangemessenen Belastungen, weder der Arbeitge-
Steuerzahler klein, die mit ihren Steuergroschen Arbeit- ber- noch der Arbeitnehmerseite. Die von der SPD be-
nehmern, Arbeitgebern und auch der Bundesagentur für fürchtete Doppelbelastung der Arbeitgeber- als auch der
Arbeit in diesem schweren Jahr 2010 mit dem Ziel der Arbeitnehmerseite ist auf Basis der geltenden gesetzli-
Belebung unserer Wirtschaft geholfen haben, die chen Reglungen zur Insolvenzgeldumlage ausgeschlos-
schwere Krise gut zu überwinden, um kraftvoll in die Zu- sen. Die Höhe des Umlagesatzes ist nämlich so zu be-
kunft zu starten. Nein – indem Sie darüber hinaus auch messen, dass die voraussichtliche Entwicklung der
noch fälschlicherweise suggerieren, diese große solida- Insolvenzereignisse unter Berücksichtigung der mögli-
rische Leistung der Steuerzahler würde zu einem Anstieg chen Fehlbestände und Überschüsse aus Vorjahren
zukünftiger Beitragsleistungen von Arbeitnehmern und durch die Einnahmen abgedeckt ist. Dies wird jedes
Arbeitgebern führen, offenbaren Sie ein geradezu unge- Jahr durch das Bundesministerium für Arbeit und Sozia-
höriges Maß an Unehrlichkeit und Verantwortungslo- les exakt berechnet. Für die geschätzten Insolvenzgeld-
sigkeit. Denn die 6 Milliarden Euro aus der Bundeskasse ausgaben im kommenden Jahr wird dementsprechend
für die Bundesagentur für Arbeit haben mit dazu beige- aufgrund des aktuellen Überschusses keine Umlage er-
tragen, die Beitragsbelastungen für Arbeitnehmer und hoben. Darüber hinaus kann nach heutigen Erkenntnis-
Arbeitgeber auf einem erträglichen Niveau zu bewah- sen damit gerechnet werden, dass auch im Jahre 2012
ren. Die gut 1 Milliarde Euro umfassende Insolvenzgeld- nicht der volle Beitragssatz erhoben werden muss.
umlage ist hiervon nur ein vergleichsweise kleiner Teil.
Soweit im nächsten Jahr Insolvenzgeld von der Bun-
Da es uns allen um eine erfolgreiche Krisenbewälti- desagentur für Arbeit geleistet werden muss, erhöht sich
gung geht, ist mir vor diesem Hintergrund unverständ- zwar das Defizit der Bundesagentur und damit das vom

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9119
Bartholomäus Kalb
(A) Bund zu leistende Darlehen. Eine unbillige Belastung das Vertrauensschutz der beitragsleistenden Unterneh- (C)
der Arbeitnehmer oder Arbeitgeber ist darin jedoch men?
nicht zu sehen. Trotz einer Neuverschuldung des Bundes
in diesem Jahr in Höhe von circa 50 Milliarden Euro Wohl eher Raubrittertum und Wegelagerei des Fi-
wird – abweichend von der üblichen Darlehnsgewäh- nanzministeriums, und das Fachministerium ist zu
rung – ein Bundeszuschuss in Höhe von circa 6 Milliar- schwach, sich zu wehren! Bleibt die Insolvenzgeldumla-
den Euro an die Bundesagentur bezahlt. Durch den gekasse leer, muss Insolvenzgeld gemäß § 183 SGB III
Bundeszuschuss werden die Beitragszahlerinnen und in den kommenden Jahren aus den allgemeinen Mitteln
Beitragszahler entlastet. Dies ist ein Vielfaches der der Bundesagentur bestritten werden, also paritätisch
Summe, die von der SPD in ihrem Antrag als „Doppel- beitragsfinanziert von Arbeitnehmern und Arbeitgebern.
belastung“ angesehen wird. Wir Sozialdemokraten halten das für unverantwortlich.
Maßlose Kürzungen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik
Zudem darf auch eines nicht vergessen werden: Hätte belasten ohnehin diesen Einzelplan. Nun kommt ein wei-
die Insolvenzgeldumlage 2010 nicht ausgereicht, um teres Risiko hinzu. Sollten die Turbulenzen im europäi-
alle Ansprüche auf Insolvenzgeld abzudecken, hätten die schen Währungs- und Wirtschaftsraum deutsche Unter-
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dies durch einen er- nehmen und Arbeitsplätze gefährden und Insolvenzen in
höhten Bundeszuschuss ausgleichen müssen. größerem Ausmaß eintreten, trifft das eine geplünderte
Bundesagentur. Sie können es drehen und wenden, wie
Sie wollen. Ihr Coup ist aufgeflogen und der Streit über
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): die Übertragbarkeit der Mittel in das kommende Haus-
„Plündern“ ist das richtige Wort für den Vorgang, haltsjahr Spiegelfechterei. Nun war in den letzten Tagen
über den ich hier spreche. Und geplündert wird die In- zu hören, dass es im Ministerium für Arbeit und Soziales
solvenzgeldumlagekasse bei der Bundesagentur für Ar- auch keinen Stolz auf dieses Vorgehen mehr gibt. Wir So-
beit. Nicht von denen, die eingezahlt haben, das sind die zialdemokraten begrüßen es, wenn Einsicht einkehrt und
Arbeitgeber, auch nicht von jenen, denen sie im Notfall Besserung angekündigt wird. Sie hätten es sich leicht
zugutekommen soll, das sind Arbeitnehmer und Arbeit- machen können. Eine einfache Gesetzgebung im ver-
nehmerinnen, die durch die Insolvenz ihres Arbeitgebers kürzten Verfahren hätte noch in diesem Jahr Abhilfe
keinen Lohn erhalten würden. schaffen können. Doch dazu fehlte dem Haus von der
Leyen offenkundig die Kraft. Das ist sehr bedauerlich.
Der Plünderer sitzt im Finanzministerium und heißt Wir Sozialdemokraten helfen da gern! Nutzen sie unse-
Wolfgang Schäuble, unser Bundesfinanzminister. Für ren Vorschlag und stimmen Sie unserem Antrag zu!
das Jahr 2010 reden wir über eine Summe von circa
(B) 1,1 Milliarden Euro, so prall gefüllt ist die Umlage- (D)
kasse. Indem sie in den allgemeinen – defizitären – Etat Dr. Claudia Winterstein (FDP):
der Bundesagentur für Arbeit einbezogen wird, ist der Thema dieser Debatte ist eine an sich erfreuliche Tat-
Bestand von jetzt auf gleich weg, das Defizit der BA um sache. Die Insolvenzgeldumlage, die die umlagepflichti-
1,1 Milliarden Euro kleiner; da freut sich unser Finanz- gen Arbeitgeber 2010 gezahlt haben, wurde nicht in vol-
minister. Doch beim Plündern erwischt zu werden, das ler Höhe gebraucht. Die Befürchtung, es werde im Zuge
ist schon mehr als ein Kavaliersdelikt. der Wirtschaftskrise zu einer größeren Zahl von Insol-
venzen kommen und entsprechend mehr Mittel aus der
Dieser Vorgang ereignete sich während der letzten Insolvenzgeldumlage benötigt, hat sich nicht bestätigt.
Wochen, parallel zu den Haushaltsberatungen im Bun- Das hat dazu geführt, dass am Jahresende 2010 eine
destag. Zeitgleich wurde den Arbeitgebern für das kom- Summe von rund 1,1 Milliarden Euro nicht ausgegeben
mende Jahr auf dem Verordnungswege, quasi als Weih- wurde. Die logische Folgerung daraus ist: Wenn die Ar-
nachtsgeschenk, Beitragsfreiheit für die Insolvenzkasse beitgeber dieses Jahr zu viel bezahlt haben, müssen sie
in Aussicht gestellt. Also, erst die Kasse leeren und dann im nächsten Jahr weniger zahlen.
die Kasse leer lassen. Damit will sich die SPD nicht ab-
finden. Daher unser Antrag! Genauso wird es auch gemacht. Der Umlagesatz wird
für 2010 auf null gesetzt. Im nächsten Jahr müssen die
Wir fordern darin, die bis zum Jahresende nicht ver- umlagepflichtigen Arbeitgeber keine Insolvenzgeldum-
ausgabten Mittel aus der Insolvenzgeldumlage auf das lage zahlen. Voraussichtlich wird auch 2012 der Umla-
Jahr 2011 zu übertragen und damit diesen Betrag bei gesatz geringer ausfallen als er ohne diesen Überschuss
der Bestimmung der Höhe des Zuschusses an die BA sein müsste. Daneben stellt sich die Frage, wie der vor-
nicht zu berücksichtigen. handene Überschuss von 1,1 Milliarden Euro buchhalte-
risch zu behandeln ist. Die SPD greift eine Anregung der
Dies ist sachgerecht und notwendig. Alleinige Ein- Bundesagentur für Arbeit auf und schlägt vor, diese
zahler in die Insolvenzgeldumlagekasse sind die Arbeit- Summe ins Jahr 2011 zu übertragen. Leider hat dieser
geber, die für die Gehaltsfortzahlungen ihrer Mitarbei- Vorschlag einen Schönheitsfehler. Er ist rechtlich nicht
ter solidarisch vorsorgen. Jetzt sollen die Arbeitgeber zulässig.
mit ihrer Umlagekasse mit mehr als 1 Milliarde Euro
herhalten, um den steuerfinanzierten Zuschuss zu min- Rechtlich ist es vielmehr so, dass der Haushalt der
dern. Wurden sie gefragt? Wurde die Zweckgebunden- Bundesagentur für Arbeit als Ganzes betrachtet werden
heit aufgehoben? Ist der Kassenbestand mit Einwilli- muss. Die Bundesagentur weist für 2010 ein Defizit von
gung der Einzahler zur Spende mutiert? Wohl kaum. Ist etwa 9,9 Milliarden Euro aus. Dem stehen angesam-

Zu Protokoll gegebene Reden


9120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Claudia Winterstein


(A) melte Mittel aus der Insolvenzgeldumlage in Höhe von von pleitegegangen Unternehmen in den Bundeshaus- (C)
1,1 Milliarden Euro gegenüber. Im Saldo beträgt das halt umleiten, kurz: die Insolvenzkasse plündern.
Defizit der Bundesagentur 2010 also 8,8 Milliarden
Euro. Davon werden 2,9 Milliarden Euro aus der noch Worum geht es? Gehen Unternehmen pleite, können
vorhandenen Rücklage gedeckt, der Rest wird durch ei- deren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für nichtge-
nen Bundeszuschuss ausgeglichen. zahlte Löhne ein sogenanntes Insolvenzgeld beantragen,
maximal für die letzten drei Monate vor Eröffnung des
Auch 2011 wird der Bund ein Defizit der Bundesagen- Insolvenzverfahrens. Die Gelder der Insolvenzkasse
tur ausgleichen, allerdings nicht durch einen Zuschuss, werden durch eine Umlagezahlung der Arbeitgeber er-
sondern durch ein Darlehen. Die Bundesagentur hat in bracht, die Kasse selbst von der Bundesagentur für Ar-
ihrem Haushaltplan für 2011 ein erwartetes Defizit von beit verwaltet. Das Insolvenzgeld ist damit eine wichtige
4,3 Milliarden Euro ausgewiesen. Sie ist dabei aller- Unterstützungsleistung für Beschäftigte, um ausste-
dings davon ausgegangen, dass die in Rede stehenden hende Löhne zumindest zum Teil zu begleichen. Allein
1,1 Milliarden Euro aus der Insolvenzgeldumlage auf 2009 wurden rund 350 000 Anträge auf Insolvenzgeld
2011 übertragen werden. Da das – wie dargestellt – bewilligt, in diesem Jahr – trotz sich erholender Wirt-
nicht möglich ist, ändern sich die Zahlen, und das für schaft – monatlich immerhin noch 20 000 bis 25 000.
2011 anzusetzende Defizit beläuft sich auf vermutlich
5,4 Milliarden Euro. Diese Lücke wird der Bund dann in Angesichts der unerwartet schnellen wirtschaftlichen
Form von Darlehen abzudecken haben. Deshalb haben Erholung wurden die Gelder der Insolvenzkasse nicht in
wir das so im Bundeshaushalt auch bereits verankert. vollem Ausmaß in Anspruch genommen. Es werden vo-
Woran sich die Interessen in diesem Fall so heftig ent- raussichtlich 1,2 Milliarden Euro ungenutzt bleiben. Die
zünden, ist der Unterschied von Zuschuss heute und Bundesregierung will nun diese Gelder, die eigentlich
Darlehen morgen. Es ist ja nachzuvollziehen, dass die für die Beschäftigten vorgesehen sind, zweckentfremdet
BA ein Interesse daran hat, eher Zuschuss als Darlehen in den Bundeshaushalt umleiten. Sie will den Zuschuss
zu bekommen. Ebenso sollte aber nachzuvollziehen sein, für die Bundesagentur für Arbeit um diesen genannten
dass das Interesse des Bundes an einem solchen Ge- Betrag auf 5,8 Milliarden Euro kürzen. Das ist ein Skan-
schäft deutlich geringer ausgeprägt ist. Die Position des dal und nicht hinzunehmen. Offensichtlich will die Bun-
Bundes ist dabei vom Haushaltsrecht gedeckt. desregierung hier Gelder der Arbeitnehmer benutzen,
um die Löcher im Haushalt zu stopfen, die die Banken-
Nun gibt es die Anregung, das Haushaltsrecht so zu rettung und Steuersenkungen für Unternehmen gerissen
ändern, dass die Mittel der Insolvenzgeldrücklage ge- haben.
trennt vom Haushalt der Bundesagentur geführt werden
(B) können. Das würde dann auch eine Übertragbarkeit er- Zu Recht spricht der DGB von einem „Taschenspie- (D)
möglichen. Das wäre insofern günstig, als dann inner- lertrick“ und will zusammen mit den Arbeitgebervertre-
halb des Insolvenzgeldumlagetopfes Vorsorge für tern im Verwaltungsrat der Bundesagentur dagegen sein
schlechte Zeiten getroffen werden könnte. Bisher ist das Veto einlegen. Die Linke unterstützt dies und fordert die
nicht möglich. Vielmehr wirkt die Insolvenzgeldumlage Bundesregierung auf, rechtliche Änderungen vorzuneh-
bisher prozyklisch. Das heißt, in Krisenzeiten sind die men, die sicherstellen, dass derzeitige und zukünftig un-
Umlagesätze besonders hoch. Das zu ändern, dafür sehe genutzte Insolvenzgelder in der Insolvenzkasse verblei-
ich durchaus Bereitschaft. Eine Gesetzesänderung im ben, um sie zu einem späteren Zeitpunkt für ihren
Galopp noch für 2010, wie die SPD das vorschlägt, eigentlichen Zweck zu nutzen. Das ist auch wichtig, weil
halte ich aber nicht für sinnvoll. die Regierung beschlossen hat, die Insolvenzumlage für
Ich halte also fest: Die Bundesagentur bekommt, was das Jahr 2011 zu streichen. Insolvenzgeldzahlungen
sie braucht, in diesem Jahr per Zuschuss, im nächsten müssten dann aus dem regulären Haushalt der Bundes-
Jahr per Darlehen. Für die Handhabung der Über- agentur geleistet werden, deren Etat bereits empfindlich
schüsse aus der Insolvenzgeldumlage in diesem Jahr gekürzt wurde.
sind die Rechtsregeln klar und werden angewendet. Für Die Linke unterstützt deshalb den vorliegenden An-
die künftige Handhabung der Insolvenzgeldumlage sind
trag der SPD, die wie die Linke entsprechende Maßnah-
aber Änderungen der Rechtsregeln durchaus möglich
men von der Regierung einfordert. Abschließend sollte
und auch sinnvoll, damit wir das Thema nicht noch ein-
festgehalten werden: Es geht hier nicht allein um das In-
mal so streitig behandeln müssen.
solvenzgeld. Es geht um die nachhaltige Finanzierung
der Arbeitslosenversicherung.
Sabine Zimmermann (DIE LINKE):
Wer zahlt die Kosten für die Krise? Diese Frage treibt Mit dem sogenannten Eingliederungsbeitrag, den die
Millionen Menschen in Deutschland um. Die schwarz- Bundesagentur für Arbeit als Strafsteuer an den Bund
gelbe Bundesregierung hat die Frage bisher klar beant- abführen muss, sollen dieses und nächstes Jahr dem
wortet: Sie will die Banken und Großunternehmen unge- Haushalt der Bundesagentur weitere 10 Milliarden Euro
schoren davonkommen lassen, die Krisenlasten auf die zweckentfremdet entwendet werden, Geld, das für eine
breite Mehrheit der Bevölkerung abwälzen. Nach dem solide und krisenfeste Finanzierung der Arbeitsmarkt-
Sparpaket wird das nun auch am Umgang mit der Insol- politik fehlt, Geld, das für eine nachhaltige Qualifizie-
venzkasse deutlich. Schwarz-Gelb will die Unterstüt- rung und Weiterbildung der Beschäftigten fehlt, um den
zungsgelder für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Abstieg in die Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9121
Sabine Zimmermann
(A) Wenn es nun Gerüchte gibt, der Finanzminister über- schuss mehr erhält, eine neue Rechtslage schaffen zu (C)
lege, der Bundesagentur den sogenannten Mehrwert- wollen, ist ganz schön dreist.
steuerpunkt zu streichen, mit der die politisch gewollten
niedrigen Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung Aber damit nicht genug. Nach Pressemeldungen plant
ausgeglichen werden, dann ist klar: Die Bundesregie- das Finanzministerium weitere Griffe in die Kasse der
rung ist mit ihrer Sparpolitik noch nicht am Ende. Die Bundesagentur für Arbeit. Mitte November war in eini-
Befürworter einer guten Arbeitsmarktpolitik müssen gen Zeitungen zu lesen, dass der Bundesfinanzminister
sich gemeinsam gegen diese Politik wehren und dabei überlegt, künftig keine Mehrwertsteuereinnahmen mehr
einen langen Atem haben. an die BA zu überweisen, die der Bund für die Beteili-
gung an den Kosten der Arbeitsförderung zahlt. Ange-
dacht ist, diese acht Milliarden Euro irgendwie zu nut-
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zen, um im Rahmen der Gemeindefinanzreform die
Der Bundesfinanzminister nimmt die Bundesagentur Kommunen zu entlasten. Auch hier gab es auf meine An-
für Arbeit aus wie eine Weihnachtsgans, und was macht frage nur ein ziemlich laues Dementi.
die Arbeitsministerin? Sie jammert, will in Zukunft alles
besser machen, aber kurzfristig nicht daran rütteln. Meine Damen und Herren von Union und FDP, las-
Nachdem schon der Haushalt des Bundesministeriums sen Sie endlich die Finger vom BA-Haushalt, sonst müs-
für Arbeit und Soziales drastisch zusammengestrichen sen Sie am Ende entweder den Beitragssatz für die
wurde, sind jetzt die Beitragszahler dran. Über 1 Mil- Arbeitslosenversicherung anheben, oder die Arbeits-
liarde Euro soll aus dem Haushalt der Agentur in den agentur muss die Unterstützung der Arbeitslosen zusam-
Bundeshaushalt umgeleitet werden. Dabei handelt es menstreichen. Beides ist schlecht.
sich um den diesjährigen Überschuss aus der Insolvenz-
geldumlage, die von den Arbeitgebern zweckgebunden Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gezahlt wird. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Das Abkassieren dieses Überschusses ist ein Affront Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4188. Wer stimmt
gegen den Verwaltungsrat der Bundesagentur für Ar- für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
beit, gegen die Arbeitnehmer, die dann auch indirekt für gen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Ko-
das Insolvenzgeld aufkommen müssen und gegen die Ar- alitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Opposi-
beitgeber, die mehrfach zur Kasse gebeten werden. Be- tionsfraktionen abgelehnt.
reits im November hat der Verwaltungsrat einen gehar- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:
nischten Brief an den Finanzminister geschrieben und
darin ankündigt, sich mit rechtlichen Mitteln zu wehren, Beratung des Antrags der Abgeordneten Alexander
(B) „… wenn zweckgebunden aufgebrachte Arbeitgebermit- Ulrich, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weiterer (D)
tel tatsächlich im Bundeshaushalt verschwänden und die Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Beitragszahler zusätzlich belasten“. Und weiter hat der
zu dem Vorschlag der Europäischen Kommis-
Verwaltungsrat geschrieben: „Würde im Genehmi-
sion für eine Richtlinie des Europäischen Par-
gungsverfahren für den Haushalt der BA durch die Bun-
laments und des Rates über die Bedingungen
desregierung eine Auflage erlassen, die im Ergebnis ein
für die Einreise und den Aufenthalt von Dritt-
Verschwinden bereits gezahlter zweckgebundener Ar-
staatsangehörigen im Rahmen einer konzern-
beitgeberumlagen im Bundeshaushalt zur Folge hätte,
internen Entsendung (KOM(2010) 378 endg.;
würde der BA-Verwaltungsrat einer solchen Auflage
Ratsdok. 12211/10)
nicht folgen, weil er sich zu rechtswidrigem Verhalten
nicht zwingen lässt.“ Trotz der Bedenken und des Pro- hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
testes des Verwaltungsrates hat das Bundeskabinett ges- tages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
tern genau so eine Auflage im Rahmen der Genehmi- Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des
gung des Haushalts 2011 der Bundesagentur für Arbeit Gesetzes über die Zusammenarbeit von
beschlossen. Völlig zu Recht weigert sich die Bundes- Bundesregierung und Deutschem Bun-
agentur jetzt, diesen mit Auflagen versehenen Haushalt destag in Angelegenheiten der Europäi-
in Kraft zu setzen. schen Union
Frau Ministerin von der Leyen, ich appelliere an Sie: Vorschlag der Europäischen Kommis-
Lassen Sie sich von Herrn Schäuble nicht länger über sion zur Konzernentsenderichtlinie zu-
den Tisch ziehen. Lassen Sie es nicht auf einen Rechts- rückweisen
streit mit der BA ankommen. Überdenken Sie entweder
schleunigst Ihre Rechtsauffassung – denn der Verwal- – Drucksache 17/4039 –
tungsrat hat offensichtlich eine andere – oder sorgen Sie Überweisungsvorschlag:
unverzüglich dafür, dass eine Rechtsgrundlage geschaf- Innenausschuss (f)
fen wird, die es ermöglicht, den diesjährigen Überschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
aus der Insolvenzgeldumlage bei der BA zu belassen und Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ins kommende Haushaltsjahr zu übertragen. Dazu hat
die SPD-Fraktion einen Vorschlag unterbreitet, dem Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Re-
auch wir Grünen zustimmen. Erst abkassieren und für den folgender Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll
die kommenden Jahre, in denen die BA nach der Haus- genommen: Stephan Mayer, Daniela Kolbe, Hartfrid
haltsplanung von Union und FDP sowieso keinen Zu- Wolff, Alexander Ulrich, Memet Kilic.
9122 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Die Einführung eines einheitlichen Verfahrens und (C)
Die EU-Kommission hat am 13. Juli dieses Jahres ei- die Anwendung einheitlicher Kriterien für die Zulassung
nen seit langem erwarteten Vorschlag zur erleichterten dieses Personenkreises stellen somit ein geeignetes Mit-
Zuwanderung von Arbeitskräften in die Europäische tel einer kontrollierten und bedarfsorientierten Zuwan-
Union vorgelegt. Der Vorschlag für eine Richtlinie des derung angesichts ökonomischer und demografischer
Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedin- Entwicklungen dar.
gungen für die Einreise und den Aufenthalt von Dritt-
staatsangehörigen im Rahmen einer konzerninternen Nichtsdestotrotz müssen an der derzeitigen Entwurfs-
Entsendung ist Bestandteil des „Strategischen Plans zur fassung der Richtlinie noch erhebliche Veränderungen
legalen Zuwanderung“ der Kommission aus dem Jahr vorgenommen werden, damit Deutschland ihr zustim-
2005. Der strategische Plan war durch die Aufnahme in men kann und damit auch das von der EU-Kommission
das Stockholmer Programm für die Jahre 2010 und 2014 selbst verfolgte Ziel einer Erleichterung der konzernin-
nochmals durch den Rat bestätigt worden. ternen Entsendung von Mitarbeitern in der EU effizient
erreicht wird.
Ziel der Richtlinie ist es, die befristete konzerninterne
Entsendung von Führungs- und Fachkräften sowie Trai- Nachfolgend möchte ich einige wesentliche Punkte
nees aus Drittstaaten in die EU zu erleichtern und die aufzählen, bei denen auch ich noch einen Verbesse-
Mobilität der entsandten Arbeitnehmer innerhalb der rungsbedarf bei dem derzeit vorliegenden Entwurf der
EU zu verbessern. Zu diesem Zweck soll auf der Grund- Richtlinie sehe:
lage harmonisierter Kriterien ein unionsweit einheitli- Die Gleichbehandlungsrechte im Bereich der sozia-
ches Zulassungsverfahren sowie ein spezieller Aufent- len Sicherheit, insbesondere im Hinblick auf Familien-
haltstitel für konzernintern entsandte Arbeitnehmer leistungen und Rentenansprüche, sind in der derzeitigen
geschaffen werden, der seinen Inhabern bestimmte Mo- Entwurfsfassung der Richtlinie sehr weitgehend.
bilitäts- und Gleichbehandlungsrechte verleiht. Ferner
sieht der Richtlinienvorschlag Erleichterungen bei den Eine Gleichbehandlung von konzernintern Entsende-
Bedingungen für den Familiennachzug zu konzernintern ten und Unionsbürgern im Hinblick auf Familienleistun-
Entsandten vor. gen, wie zum Beispiel Kindergeld, Elterngeld, Kinderzu-
Wie bereits der Titel verrät, handelt es sich bei dem schlag, kann jedoch aus meiner Sicht nicht mit den
Dokument um einen „Entwurf“ und somit noch nicht um bisher im deutschen Recht geltenden Prinzipien für
eine abschließende Richtlinie. Dementsprechend haben Drittstaatsangehörige in Einklang gebracht werden.
auf europäischer Ebene bisher auch nur erste Gesprä- Bisher erhalten nur solche Drittstaatsangehörige
che und noch keine abschließenden Verhandlungen über Familienleistungen, die voraussichtlich dauerhaft in (D)
(B)
die einzelnen Vorgaben der Richtlinie stattgefunden. Deutschland sind. Dies trifft auf konzernintern Entsen-
Die mit dem vorliegenden Antrag der Linken be- dete jedoch gerade nicht zu. Die in dem Entwurf der
zweckte vollständige Ablehnung des Entwurfs der Richt- Richtlinie verankerte Gleichstellung muss daher aus
linie ist daher zum jetzigen Zeitpunkt nicht nur verfrüht, meiner Sicht kritisch hinterfragt werden. Dies sollte Ge-
sondern sie ist auch inhaltlich unbegründet. Im Gegen- genstand zukünftiger Verhandlungen auf europäischer
teil, grundsätzlich sollte man dem Vorschlag der EU- Ebene sein.
Kommission durchaus wohlwollend gegenüberstehen, Der Entwurf der Richtlinie ermöglicht in Art. 10
so wie dies im Übrigen auch der Bundesrat in seiner Abs. 7 eine vereinfachte Antragstellung für einzelne Un-
Stellungnahme vom 24. September dieses Jahres und die ternehmensgruppen. In der Begründung der Richtlinie
Bundesregierung in einer ersten Einschätzung getan ha- wird hierzu ausgeführt, dass diese zumindest befristet
ben. über einen Zeitraum von bis zu drei Jahren gewährt wer-
Ich teile die Einschätzung, dass es sich bei dem vor- den kann. Die Notwendigkeit für eine solche Regelung
gelegten Entwurf um anerkennenswerte Bemühungen ist aus meiner Sicht nicht offensichtlich.
der EU-Kommission handelt, der Nachfrage multinatio-
Wesentliche Zielsetzung des Richtlinienvorschlags ist
naler Unternehmen nach Führungs- und Fachkräften
es, ein schnelles und unbürokratisches Verfahren für alle
sowie Trainees aus Drittstaaten für ihre Zweigniederlas-
konzernintern entsandten Drittstaatsangehörigen zu in-
sungen und Tochtergesellschaften Rechnung zu tragen,
stallieren. Die notwendigen staatlichen Kontrollmecha-
um den innerbetrieblichen Transfer dieses Personen-
nismen zur Vermeidung von Missbrauch und Umgehung
kreises in die EU zu erleichtern und somit die Attraktivi-
der Vorschriften müssen aber trotzdem gewährleistet
tät der EU als Standort für multinationale Unternehmen
bleiben. Daher ist die von der EU-Kommission vorgese-
zu erhöhen. Hiervon würde mit Sicherheit auch die Bun-
hene Verfahrenserleichterung durchaus kritisch zu se-
desrepublik Deutschland profitieren.
hen. Selbst wenn Deutschland diese Option bei der Um-
Es steht auch außer Frage, dass das Ziel, den Perso- setzung in nationales Recht nicht übernehmen würde,
nalaustausch innerhalb von verbundenen Unternehmen könnten dadurch, dass andere Mitgliedstaaten hiervon
mit Drittstaaten zu erleichtern, nicht von den Mitglied- Gebrauch machen würden und eine Weiterentsendung
staaten alleine verwirklicht werden kann. Insbesondere nach Deutschland nach der Richtlinie ohne eine erneute
können die vorgesehenen Mobilitätsrechte für konzern- Prüfung zulässig sein soll, bisherige und vor allem be-
intern Versandte nur durch eine unionsweite Regelung währte Kontrollmechanismen ausgehebelt werden. Da-
realisiert werden. her sollte die Bundesregierung auch dieses Thema zum

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9123
Stephan Mayer (Altötting)
(A) Gegenstand der Verhandlungen mit den anderen Mit- dargelegten Richtlinienvorschlägen über Bedingungen (C)
gliedstaaten und der EU-Kommission machen. für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsange-
hörigen im Rahmen einer konzerninternen Entsendung.
Ebenfalls Gegenstand von weiteren Verhandlungen
sollte auch Art. 12 des Entwurfs der Richtlinie sein. Die Auch wir im Innenausschuss als federführendem Aus-
mit „Verfahrensgarantien“ überschriebene Vorschrift schuss befassen uns seit Wochen intensiv mit diesem
vermittelt auf den ersten Blick durchaus einen missver- Richtlinienentwurf. Die vorliegende Richtlinie der EU
ständlichen Eindruck. Es sollte daher klargestellt wer- geht – dies ist sicherlich unstrittig – auf das Haager
den, dass der in Art. 12 Abs. 3 Satz 2 versteckte Hinweis, Programm vom November 2004 zurück. Bereits 2004
dass bei Ablehnung eines Antrages das nationale Recht wurde festgestellt, dass „legale Zuwanderung … eine
und die nationalen Rechtsbehelfe zur Anwendung kom- wichtige Rolle beim Ausbau der wissensbestimmten
men, noch einmal herausgestellt und gegebenenfalls Wirtschaft in Europa und bei der Förderung der wirt-
auch durch eine Veränderung der Überschrift verdeut- schaftlichen Entwicklung spielen“ wird. Dadurch wurde
licht werden. die Kommission aufgefordert, ein Konzept zur legalen
Zuwanderung zu entwickeln. Ein Teilergebnis dieser
So könnte wirksam ausgeschlossen werden, dass et-
Aufforderung ist die uns vorliegende Richtlinie für die
waige Fristversäumnisse nach Art. 12 Abs. 1 unmittel-
konzerninterne Entsendung aus Drittstaaten. Von der
bar zu schadensersatzrechtlichen Folgen führen können.
EU werden weitreichende Änderungen für die Arbeits-
Schwierigkeiten sehe ich auch bei dem bisherigen Re- migration in den Ländern der Europäischen Union an-
gelungsansatz des Entwurfs in Art. 16, der Mobilität gestrebt. Die Richtlinie, die zusammen mit der Richtlinie
zwischen den Mitgliedstaaten. Es ist aus meiner Sicht über die Ausübung der saisonalen Beschäftigung ge-
nicht ausreichend, dass eine erneute Antragstellung bei nannt werden sollte, wurde im Juli 2010 von der Kom-
einer Entsendung, die über zwölf Monate hinausgeht, mission verabschiedet und ist Teil des strategischen
nur verlangt werden kann, vergleiche Art. 16 Abs. 2. Plans zur legalen Zuwanderung in der EU.
Vielmehr müsste hier der Regelfall eine Pflicht zur er-
neuten Antragstellung sein. Schließlich gilt nach dem Der vorliegende Richtlinienentwurf der EU weist je-
bisherigen Aufenthaltsrecht in Deutschland, dass, so- doch noch gravierende Mängel auf, die für Deutschland
bald ein veränderter bzw. neuer Zweck für einen Aufent- und andere EU-Staaten zu negativen Konsequenzen füh-
halt vorliegt, eine erneute Überprüfung der Aufenthalts- ren können. Lohndumping, Entrechtung von entsendeten
erlaubnis erforderlich ist. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und der Verlust
der staatlichen Kontrolle über Zuwanderung sind die
Auch die Frage, was nach Ablauf der konzerninter- drei entscheidenden Punkte für uns Sozialdemokraten.
nen Entsendung nach Europa mit dem Drittstaatsange-
(B)
hörigen passiert, ist aus meiner Sicht im Entwurf der Das sieht auch die Linke so; die Konsequenz, die (D)
Richtlinie nur unzureichend geregelt. Schließlich lassen Richtlinie komplett abzulehnen, teilen wir jedoch nicht.
die bisherigen Regelungen durchaus eine Kettenentsen- Richtig ist aber, dass es an der einen oder anderen we-
dung über den in Art. 16 Abs. 3 des Entwurfs angegebe- sentlichen Stelle dringend Nachbesserungen und Klä-
benen Zeitraum von drei Jahren zu. Dieses kann jedoch rungen geben muss.
gerade nicht das Ziel der Richtlinie sein. Schließlich legt Ziel des Kommissionsvorschlags ist es ja, legale Im-
die Richtlinie Wert auf eine vorübergehende Entsendung migranten in verschiedenen Bereichen in der gesamten
und nicht auf einen dauerhaften Transfer. Hierfür gibt es EU gleich zu behandeln und gleiche Regelungen zu
im Übrigen auch bereits ausreichende nationale Rege- schaffen. Das Problem liegt jedoch im Detail.
lungen sowie die noch von den Mitgliedstaaten umzuset-
zende Richtlinie zur EU-Blue-Card, 2009/50/EG, vom Die Richtlinie sieht für die Arbeitsverhältnisse eine
25. Mai 2009. Entsendung vor und nicht, wie beispielsweise die Richt-
linie zur Blue Card, eine Versetzung. Kritisch zu be-
Die christlich-liberale Koalition setzt sich äußerst trachten ist auch die Abweichung der EU vom strategi-
kritisch mit den Vorschlägen der EU-Kommission zu schen Plan mit der in der Richtlinie enthaltenen
möglichen Veränderungen für die nationalen Arbeits- Entsendung von Arbeitskräften aus Drittstaaten in die
märkte auseinander. Der Entwurf der EU-Kommission EU. Richtig kritisch wird es aber dann, wenn, wie man
ist zum jetzigen Zeitpunkt keineswegs zustimmungsreif, in der Richtlinie nachlesen kann, der Einsatz von Arbeit-
da noch erhebliche Veränderungen vorgenommen wer- nehmerinnen und Arbeitnehmern ohne ausreichende Ab-
den müssen. sicherung von Arbeitnehmerrechten und einer entspre-
Diese Veränderungen können aber durch die Bundes- chend für den Betrieb geltenden Tarifentlohnung
regierung im Wege eines kooperativen und konstruktiven stattfindet. Hier werden Arbeitnehmerrechte mit Füßen
Austauschs mit den anderen Mitgliedstaaten und der getreten. Wir erwarten hier ein energisches Eintreten
EU-Kommission erreicht werden. Eine vollständige Ab- der Bundesregierung, das zu ändern. Unklar sind auch
lehnung des Entwurfs halte ich daher derzeit für nicht einige Begriffe in der Richtlinie; was genau Führungs-
angezeigt. kräfte, Fachkräfte und Trainees sind, ist nicht klar defi-
niert. Hier muss auch im Sinne deutscher Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer nachgebessert werden.
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):
Die Justiz- und Innenminister der EU-Mitgliedstaa- Interessant ist aber auch die Frage der Weiterentsen-
ten befassen sich seit geraumer Zeit mit den von der EU dungsmöglichkeiten. Denn mit dem Richtlinienvor-

Zu Protokoll gegebene Reden


9124 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Daniela Kolbe (Leipzig)


(A) schlag wird den Mitgliedstaaten jegliche Steuerungs- Unternehmen auch Arbeitsplätze am Standort Deutsch- (C)
möglichkeit in Bezug auf die Zuwanderung genommen. land. Die internationale Vernetzung bedingt aber auch
Die Quotenregelungen, die den Mitgliedstaaten zuge- ein hohes Maß an Mobilität für die Beschäftigten der
standen werden, gelten nämlich nur für Entsendungen Unternehmen. Die Unternehmen entsenden ihre Mitar-
aus Drittstaaten und nicht für Weiterversendungen in- beiter meistens für einen begrenzten Zeitraum, um die
nerhalb der EU. Auch hier muss dringend nachgebessert weltweite Zusammenarbeit innerhalb des Unternehmens
werden, sonst wird Missbrauch Tür und Tor geöffnet. zu optimieren.
Der größte und gefährlichste Knackpunkt – und hier Die Entsendungen haben die unterschiedlichsten
fordere ich die Bundesregierung im Sinne der deutschen Gründe: So werden beispielsweise durch unternehmens-
Unternehmen und vor allem im Sinne unserer Arbeitneh- interne Entsendungen Schlüsselpositionen besetzt, wenn
merinnen und Arbeitnehmer auf, bei der EU tätig zu an einem Standort ein Fachkräftemangel herrscht, wie
werden – ist die Regelung über die Entlohnung. Denn dies zum Beispiel in Deutschland der Fall ist. Andere
die in der Richtlinie getroffene Regelung heißt für Gründe können die gewollte Zusammensetzung interna-
Deutschland nichts anderes als eine eklatante Auswei- tionaler Projektteams, die Ausbildung von Mitarbeitern
tung von Niedriglöhnen. Für die Bezahlung bindend oder der Austausch von Know-how sein. Teilweise wer-
sind lediglich allgemeinverbindliche Tarifverträge. Wir den für einen bestimmten Zeitraum eingearbeitete Spe-
verlangen von der Bundesregierung deshalb zweierlei. zialisten benötigt, die den Arbeitsprozess wesentlich be-
Ich fordere Sie auf: Treffen Sie schon jetzt Vorkehrun- schleunigen und so dem in Deutschland ansässigen Un-
gen, und führen Sie endlich einen gesetzlichen Mindest- ternehmen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Mitbe-
lohn ein! Nehmen Sie alle Branchen in das Arbeitneh- werbern aus anderen Ländern verschaffen können.
mer-Entsendegesetz auf!
Gerade in dieser schwierigen Phase für unsere Un-
Ebenso ist es dringend notwendig, dass Leiharbeits- ternehmen müssen diese die Möglichkeit haben, Mitar-
konzerne von der Geltung der Richtline zur konzern- beiter flexibel zu einsetzen. Diese Mobilität von Mitar-
internen Entsendung ausgenommen werden. Und sorgen beitern trägt auch dazu bei, dem drohenden Arbeits-
Sie dafür, dass auch regionale Tarifverträge und Haus- platzabbau entgegenzuwirken. Die innerbetrieblich ent-
tarifverträge für entsandte Arbeitnehmerinnen und sandten Mitarbeiter haben für die Unternehmen auch
Arbeitnehmer bindend sind! den entscheidenden Vorteil, dass diese eingearbeitet
Wie bereits angedeutet, werden wir als SPD-Fraktion sind, sich in der Unternehmensstruktur auskennen und
einen Antrag in den Bundestag einbringen, der die von so ohne Reibungsverluste dem betreffenden Unterneh-
mir genannten Knackpunkte aufnimmt und genau dort men und der deutschen Wirtschaft von Nutzen sein kön-
(B) mit dienlichen Nachbesserungen des Richtlinienvor- nen. (D)
schlages der EU ansetzt. Pure Ablehnung, wie sie die
Linksfraktion hier wieder betreibt, allein genügt nicht. Die Sorge einer Zuwanderung „in die Sozialsysteme“
Wir wollen den Vorschlag konstruktiv begleiten und im ist bei der unternehmensinternen Entsendung keinesfalls
Sinne und Interesse unserer Arbeitnehmerinnen und gerechtfertigt, da diese Zuwanderer alle bereits über ei-
Arbeitnehmer sowie unserer Unternehmen verbessern. nen Arbeitsplatz verfügen und in der Regel auch nur für
einen begrenzten Zeitraum in Deutschland bleiben. Aus
diesem Grund ist es gängige Praxis, dass für Entsandte
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): die Sozialversicherung im Heimatland fortgeführt wird.
Deutschland hat sich in der weltwirtschaftlichen Die unternehmensinterne Zuwanderung besonders qua-
Krise der vergangenen Jahre relativ gut behauptet. Das lifizierter Arbeitnehmer erhält nicht nur Arbeitsplätze,
kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch sondern schafft dabei auch neue Arbeitsplätze für wei-
zahlreiche hausgemachte Probleme gibt, die gelöst wer- tere Arbeitnehmer unterschiedlicher Qualifikation in
den müssen, um Deutschland im internationalen Wettbe- Deutschland. Es liegt also auch im wirtschaftlichen In-
werb besser aufzustellen. In vielen Branchen stockt der teresse der Bundesrepublik Deutschland, die Zuwande-
wirtschaftliche Aufschwung. Einer der Gründe ist darin rung im unternehmensinternen Bereich grundlegend zu
zu sehen, dass bereits seit längerer Zeit ein akuter Fach- erleichtern.
kräftemangel in Deutschland herrscht. Gerade jetzt wer-
den aber Fachkräfte benötigt, die innovative Ideen in Viele andere europäische Länder sind hier wesentlich
Produkte einbringen. besser aufgestellt als Deutschland. Sie holen im Gegen-
satz zu Deutschland hochqualifizierte Fachkräfte und
Ein wichtiger Baustein zur Lösung der bestehenden Führungskräfte beispielsweise mit steuerlichen Anrei-
Probleme im Bereich der fehlenden internationalen zen ins Land. Deutschland muss hier im internationalen
Fachkräfte ist eine grundlegende Änderung und Verein- Wettbewerb nachziehen und dringend Korrekturen vor-
fachung der Zuwanderung von international tätigen nehmen. Hierin liegt ein bislang nicht ausgeschöpftes
Fachkräften aus dem Ausland im unternehmensinternen Potenzial der Schaffung von Arbeitsplätzen am Standort
Bereich. Deutschland.
Dazu kommt, dass wir immer mehr eine internatio-
Inwieweit der Vorschlag der EU dazu hilfreich ist, ist
nale Flexibilität brauchen.
sicherlich diskussionswürdig. Es ist darauf zu achten,
Zahlreiche Unternehmen sind inzwischen internatio- dass keine überbordende Bürokratie oder zu weitge-
nal tätig. Durch diese globale Vernetzung sichern die hende Bindungen, zum Beispiel hinsichtlich einer Ver-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9125
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
(A) längerung oder einer anschließenden, möglicherweise zialdumpings. Es geht hierbei ebenfalls um die Entsen- (C)
dauerhaften Einreise, entstehen. dung von Beschäftigten, allerdings nicht von Bürgerin-
nen und Bürgern aus EU-Mitgliedstaaten, sondern von
Die sozialistische Stimmungsmache der Linken vom außerhalb der EU, aus sogenannten Drittstaaten.
bösen internationalen Kapital in „multinationalen Kon-
zernen“ und deren „ökonomischen Verwertungsinteres- International tätige Konzerne sollen nach dem Willen
sen“ an „billigen Arbeitskräften“ ist dagegen ein der Europäischen Kommission in Zukunft ihre Beschäf-
Schauerstück aus dem 19. Jahrhundert. Der antikapita- tigten für einige Jahre in ihre Niederlassungen inner-
listische Kampfgeist ist über das intellektuell Zuträgli- halb der EU entsenden können. Auf diese Weise soll die
che hinausgeschossen. Der Linken geht es darum, Ideo- Wettbewerbsfähigkeit der Konzerne steigen – auf Kosten
logie zu verkaufen, statt sich um die Zukunft zur der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer!
Sicherung des Beschäftigungs- und Wirtschaftsstandorts
Genau wie bei der Entsendung von EU-Beschäftigten
Deutschland zu kümmern.
dürfen die Mitgliedstaaten, in welche die Drittstaats-
angehörigen entsandt werden, in Bezug auf Entlohnung
Alexander Ulrich (DIE LINKE): und Arbeitsbedingungen nur die eben genannten Min-
Ich bedauere es außerordentlich, dass die Debatte zu deststandards einfordern. Und es kommt sogar noch
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll geht und damit schlimmer: Wenn die Drittstaatsangehörigen innerhalb
die Chance einer offenen und öffentlichen Aussprache der EU weitergesandt werden, gelten an den weiteren
vergeben wird. Beschäftigungsorten nur die Bedingungen des Erstauf-
Zugegeben: Das Thema klingt beim ersten Hören nahmestaates.
recht trocken. Die Europäische Kommission schlägt eine Was bedeutet das konkret? Ein europaweit tätiger
Richtlinie vor, welche die konzerninterne Entsendung Baukonzern mit einer Niederlassung – Hauptsitz ist
von Drittstaatsangehörigen regelt. Betrachtet man den nicht notwendig – in Bangladesch beschäftigt dort Men-
Vorschlag jedoch genauer, kommen Erinnerungen an die schen, die eine einjährige Ausbildung mit einem Zeugnis
Diskussionen um die Dienstleistungsrichtlinie auf – Dis- abgeschlossen haben, dann gelten sie der Richtlinie
kussionen, die keinesfalls lautlos und unbemerkt von der nach als Fachkräfte. Er entsendet sie in seine slowaki-
Öffentlichkeit stattgefunden haben. sche Niederlassung. Dort sind sie ihren slowakischen
Die Hauptkritik von Gewerkschaften und Linken an Kolleginnen und Kollegen nur in Bezug auf die Mindest-
der Dienstleistungsrichtlinie war, dass sich durch die standards gleichgestellt, bei den Löhnen auch nur dann,
Entsendung von Beschäftigten innerhalb der Europäi- wenn es einen gesetzlichen Mindestlohn oder einen für
schen Union die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag gibt. Damit
(B) für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ver- nicht genug: Der Konzern kann diese Beschäftigten von (D)
schlechtern. Das Herkunftslandprinzip – für die ent- der Slowakei aus in seine Niederlassungen in allen an-
sandten Beschäftigten gelten die Arbeitsbedingungen ih- deren Mitgliedstaaten entsenden, wo sie dann zu den in
rer Heimatländer – war bei den damaligen Diskussionen der Slowakei geltenden Mindestarbeitsbedingungen ar-
in aller Munde. Auch die skandalösen, arbeitnehmer- beiten dürfen. Das ist nichts anderes als das Herkunfts-
feindlichen Urteile des Europäischen Gerichtshofs zu landprinzip. Die Auswirkungen auf Arbeitsplätze und
Laval, Rüffert und Luxemburg haben noch einmal deut- Einkommenschancen werden verheerend sein.
lich gemacht, dass die Mitgliedstaaten für entsandte Be- Es kann einfach nicht sein, dass von der europäischen
schäftigte das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit Ebene ständig versucht wird, die nationale Sozialstaat-
am gleichen Ort“ nicht durchsetzen dürfen. Einfordern lichkeit zu untergraben. Der vorliegende Richtlinienent-
können sie nur Mindeststandards, die in der Entsende- wurf ist auch deshalb besonders perfide, weil er Be-
richtlinie festgelegt sind. schäftigte aus Drittstaaten für dieses Ziel missbraucht.
Was bedeutet das konkret? Wenn ein portugiesisches Es geht der Kommission mit ihrem Vorschlag keines-
Bauunternehmen seine Beschäftigten nach Frankreich wegs darum, diesen Menschen hier Beschäftigungs-
chancen oder gar eine Lebensperspektive zu schaffen.
schickt, um dort eine Schule zu renovieren, dann darf
Frankreich nicht verlangen, dass für die portugiesischen Im Gegenteil: Sie dürfen nur einreisen, wenn sie für ein
Bauarbeiter der gleiche Lohn, der gleiche Urlaubsan- Unternehmen nützlich sind, und müssen immer wieder in
ihre Heimatländer zurückkehren, euphemistisch spricht
spruch, die gleichen Ruhezeiten etc. gelten wie für ihre
französischen Kollegen. Das macht die portugiesischen man hier von zirkulärer Migration. Sollten die Beschäf-
Bauunternehmen besonders billig – und setzt die franzö- tigten es wagen, sich gegen ihre miserablen Arbeitsbe-
dingungen in der EU zu wehren, so können sie dies nur
sischen Standards unter Druck. Die Folge sind Lohn-
und Sozialdumping, schlechtere Löhne und Arbeitsbe- vor Gerichten ihres Heimatstaates tun. Die Kündigung
dingungen in allen Ländern der EU. und damit Abschiebung in ihr Heimatland, wo sie dann
arbeitslos sind, wäre ihnen gewiss. Auf diese Weise ent-
All dies passiert schon seit Jahren – politisch gewollt steht – wie die IG BAU in ihrer Kritik am Richtlinienent-
oder zumindest ohne effektive Gegenwehr durch die ver- wurf treffend schreibt – eine „neue Klasse von völlig un-
antwortlichen Regierungen, auch die deutsche Bundes- ternehmensabhängigen Lohnsklaven“.
regierung!
Lassen Sie es mich zusammenfassen: Die Konzern-
Die Konzernentsenderichtlinie ist nun eine weitere entsenderichtlinie würde nach ihrer Verabschiedung
Stufe in diesem Prozess des organisierten Lohn- und So- eine neue Runde im europaweiten Lohn- und Sozialdum-

Zu Protokoll gegebene Reden


9126 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Alexander Ulrich
(A) ping einläuten, auf dem Rücken wehrloser Drittstaats- ihnen beispielsweise nicht der zugesagte Lohn ausge- (C)
angehöriger. Dies würde dem Sozialen Europa – sofern zahlt wird, droht ihnen der sofortige Entzug der Aufent-
man überhaupt noch davon sprechen kann – den Todes- haltserlaubnis. Das macht die Arbeitnehmerinnen und
stoß versetzen. Arbeitnehmer im höchsten Maße erpressbar.
Die Linke fordert die Bundesregierung daher in ihrem Kommt eine geringe Qualifikation und generelle Er-
Antrag auf, den Richtlinienentwurf im Ministerrat abzu- pressbarkeit zusammen mit Löhnen, die nur durch die
lehnen. Stattdessen soll sich die Bundesregierung end- Sittenwidrigkeit nach unten begrenzt sind, ist der Weg
lich auf wirksame Schritte in Richtung eines sozialen bereitet für menschenunwürdige Arbeitsbedingungen.
Europa einsetzen. Dazu gehört an erster Stelle die Ein-
führung einer Sozialen Fortschrittsklausel! Wir müssen sicherstellen, dass die konzerninterne
Entsendung nicht zum Lohn- und Sozialdumping miss-
braucht wird. Für die Lohnhöhe muss das Prinzip „Glei-
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): cher Lohn für gleiche Arbeit am selben Ort“ gelten, in
Meine Fraktion begrüßt die grundsätzliche Bestre- jedem Mitgliedsland, in dem die Beschäftigten einge-
bung der Europäischen Kommission, die Rechte von setzt werden. Die Beteiligung von Leiharbeitsfirmen und
Migrantinnen und Migranten in Europa einheitlich zu der Einsatz der Entsendeten als Streikbrecherinnen und
gestalten und die Antragsverfahren transparent und Streikbrecher muss kategorisch ausgeschlossen sein.
leichter zugänglich zu machen.
Sehr zu begrüßen sind dagegen die Verbesserungen
Dazu gehört die Blue Card, der Richtlinienentwurf beim Familiennachzug. Dass die Migrantinnen und Mi-
zur saisonalen Beschäftigung und nun hier auch die ge- granten die deutsche Sprache hier in Deutschland und
plante Richtlinie zur konzerninternen Entsendung. nicht wie bisher vor der Einreise lernen dürften, wäre
ein sehr großer Schritt nach vorne. Wir wollen, dass
Leider geht es im vorliegenden Entwurf aber offen- diese ausgesprochen sinnvolle Regelung grundsätzlich
sichtlich nicht primär darum, den Menschen aus Dritt- beim Familiennachzug angewandt wird.
ländern bessere Arbeits- und Aufenthaltsbedingungen in
Europa einzuräumen. Stattdessen befriedigt der Richt- Leider wird nachziehenden Kindern auch ausdrück-
linienentwurf bislang in erster Linie einseitig die Be- lich kein europaweiter Rechtsanspruch auf Schulbesuch
dürfnisse der Konzerne. zuerkannt; das ist für uns ein unhaltbarer Zustand.
Multinationale Konzerne würden durch sie ganz er- Zusammenfassend lehnen wir die Richtlinie in der
heblich beim Transfer ihrer Mitarbeiterinnen und Mit- vorliegenden Fassung entschieden ab. Ohne einen
(B) arbeiter in die und innerhalb der EU begünstigt. Hiesige grundsätzlich überarbeiteten Ansatz und ganz erhebli- (D)
Unternehmen könnten die scheunentorgroßen Lücken chen Nachbesserungen, insbesondere bezogen auf die
dieser Richtlinie nutzen, um unter schlechtester Bezah- Rechte der Migrantinnen und Migranten, darf die Bun-
lung Migrantinnen und Migranten in Deutschland zu be- desregierung ihr nicht zustimmen.
schäftigen. Eine signifikante EU-weite Verbesserung der
Rechte der betroffenen Menschen gibt es dagegen leider
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
nicht.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Es ist die Mischung aus Regelungslücken in Verbin- Drucksache 17/4039 an die in der Tagesordnung aufge-
dung mit fehlenden deutschen Sozialstandards, die diese führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Richtlinie so brisant macht. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Erstens: In Ausweitung der bisherigen Regelung der
Beschäftigungsverordnung wird die konzerninterne Ent- Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 auf:
sendung durch diese Richtlinie geöffnet für sogenannte
„Fachkräfte“, für die aber keine einheitlichen Mindest- Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
standards definiert sind. Daher fallen hierunter auch Kilic, Josef Philip Winkler, Marieluise Beck
alle angelernten Arbeitskräfte. (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zweitens gibt es leider in Deutschland im Gegensatz
zu den meisten anderen EU-Ländern in einem Großteil Visumfreie Einreise türkischer Staatsangehö-
der Branchen weder einen allgemeinverbindlichen Min- riger für Kurzaufenthalte ermöglichen
destlohn noch allgemeinverbindliche Tarifverträge. – Drucksache 17/3686 –
Drittens können sich die nicht weiter präzisierten Be- Überweisungsvorschlag:
stimmungen hinsichtlich der Weiterentsendung in ein Innenausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
anderes Mitgliedsland und insbesondere die internatio- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
nale Kundenbetreuung als Einfallstor für Dumpinglöhne Ausschuss für Tourismus
entpuppen. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Und zuletzt werden die Migrantinnen und Migranten Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
hier ganz allgemein nur sehr unzureichend gegen Aus- den zu Protokoll gegeben: Reinhard Grindel, Rüdiger
beutung geschützt. Zeigen sie ihren Arbeitgeber an, weil Veit, Serkan Tören, Sevim Dağdelen, Memet Kilic.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9127

(A) Reinhard Grindel (CDU/CSU): gro ausgesprochen schwierig sei. Es seien Engpässe bei (C)
Der Antrag der Grünen für eine visumfreie Einreise der Unterbringung zu befürchten. Teilweise werden jetzt
türkischer Staatsangehöriger zeigt erneut die fundamen- schon leerstehende Kasernen für die Unterbringung ge-
talen Unterschiede in der Integrationspolitik zwischen nutzt.
CDU/CSU und den Grünen. Wer glaubt, dass es der Integrationsbereitschaft der
Wir stellen die Integration der bei uns lebenden Aus- Aufnahmegesellschaft förderlich ist, wenn im Zuge der
länder in den Mittelpunkt. Wir wollen fördern und for- Bundeswehrreform Soldaten die Kasernen verlassen
dern. Das gilt gerade für die zum Teil seit vielen Jahren und diese dann mit Asylbewerbern belegt werden, der ist
bei uns lebenden Ausländer, die bisher zu wenig von un- von der gesellschaftlichen Realität unseres Landes weit
seren Integrationsangeboten Gebrauch gemacht haben. entfernt und – ich wiederhole das – schadet der Integra-
Um die Integrationsprobleme nicht ständig zu verschär- tion ganz gewaltig.
fen, sorgen wir gleichzeitig für die Steuerung der Neuzu- Zu einer glaubwürdigen Integrationspolitik gehört
wanderung unter Integrationsgesichtspunkten. Ich erin- auch, dass wir uns von denen, die sich in einem erhebli-
nere in diesem Zusammenhang nur an die Pflicht, dass chen Umfang integrationsfeindlich verhalten, trennen
Ausländer deutsche Sprachkenntnisse nachweisen müs- können. Es ist aber gerade die Türkei, die in gar keiner
sen, bevor sie zuwandern dürfen. Weise mit unseren Behörden so zusammenarbeitet, wie
Die Grünen verfolgen dagegen das Konzept der völ- es das Völkerrecht verlangt und wie es grundlegende Vo-
lig ungesteuerten Zuwanderung. Sie sind für Multikulti, raussetzung wäre, wenn man zu Visaerleichterungen
ein Nebeneinander ohne Miteinander, bei dem nicht da- kommen wollte, die dann auch zu Visamissbrauch führen
rauf geachtet wird, ob Integrationsangebote auch tat- können, wodurch sich eine umgehende Rückführung der
sächlich angenommen werden. Visafreiheit für türkische betroffenen türkischen Staatsbürger ergeben würde. Es
Staatsangehörige heißt Verzicht auf jegliche Kontrolle, passiert regelmäßig, dass Rückführungen in die Türkei
wer zu uns kommt, warum jemand nach Deutschland an der mangelnden Kooperationsbereitschaft der dorti-
will und ob die betreffenden Personen auch wieder un- gen Behörden scheitern. Bevor man also über Visa-
ser Land verlassen. Visafreiheit für türkische Staatsan- erleichterungen auch nur nachdenkt, ist der Abschluss
gehörige kann zu einer völlig unkontrollierten Zuwande- eines Rückübernahmeabkommens, das auch penibel ein-
rung nach Deutschland führen. Im Ergebnis bedeutet gehalten wird, Grundvoraussetzung.
dies: Visafreiheit für türkische Staatsangehörige ver- Das Soysal-Urteil des EuGH zwingt uns auch über-
schärft die Integrationsprobleme. Das lehnen wir ab. haupt nicht zu einer Korrektur unserer Visapolitik. Nach
Dass es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem Urteil ist Deutschland verpflichtet, türkischen
(B) Visafreiheit und unkontrollierter Zuwanderung gibt, Lastkraftwagenfahrern im grenzüberschreitenden Gü- (D)
lässt sich am Beispiel Serbiens und Mazedoniens nach- terverkehr eine visumfreie Einreise in die Bundesrepu-
weisen. Kaum hat die EU hier die Visafreiheit durchge- blik zu gewähren, nicht mehr und nicht weniger.
drückt, sind die Asylbewerberzahlen aus diesen Ländern Deutschland ist weder verpflichtet, auch anderen Bran-
hochgeschnellt: Im August kamen 255 Asylantragsteller chen des Dienstleistungsgewerbes die visafreie Einreise
aus Serbien, im Oktober waren es schon 1 083. Aus Ma- zu gestatten, noch – eine völlig absurde Vorstellung –,
zedonien kamen im August 162, im Oktober waren es türkischen Staatsangehörigen Visafreiheit zu gewähren,
schon 746. Serbien und Mazedonien führen jetzt die die in Deutschland eine Dienstleistung in Anspruch neh-
Liste der Herkunftsländer der Asylbewerber an. Es zeigt men wollen. Bei der Vereinbarung des Assoziierungsab-
sich, dass auf derartige Entscheidungen der EU seitens kommens Anfang der 70er-Jahre hat niemand an die
der Betroffenen sofort reagiert wird. Es wäre deshalb an Frage der sogenannten passiven Dienstleistungsfreiheit
der Zeit, die Visafreiheit für diese Länder zu überprüfen. gedacht.

Es wird niemand ernsthaft behaupten, dass der Mi- Dann sorgen sich die Grünen um die Wirtschaftskon-
grationsdruck in der Türkei geringer wäre als in Ser- takte zwischen der Türkei und Deutschland. Dazu kann
bien. Insofern ist absehbar, dass wir eine dramatische ich nur darauf verweisen, dass wir schon im jetzigen
Zunahme von Asylbewerbern aus der Türkei hätten, Schengen-Recht Instrumente haben, die hier zu einer
wenn wir die Visafreiheit einführen würden. Das kann leichteren Abwicklung von Geschäftsvisa beitragen kön-
gerade auch unter integrationspolitischen Gesichts- nen. Es gibt das Bona-fide-Verfahren, bei dem sich Un-
punkten niemand wollen. ternehmen in der deutschen Visastelle registrieren las-
sen und dann ohne persönliche Vorsprache Personen für
Gelungene Integration setzt nämlich nicht nur die In- die Visavergabe anmelden können.
tegrationsbereitschaft der Ausländer voraus, sondern
auch die der Aufnahmegesellschaft. Diese wird natür- Sollten wir endlich eine Visawarndatei haben, mit der
lich auf die Probe gestellt, wenn wir ansatzweise wieder wir möglichen Visamissbrauch schneller feststellen kön-
Probleme bekommen, wie wir sie Anfang der 90er-Jahre nen, ist auch nichts dagegen einzuwenden, etwa bei sol-
mit der Unterbringung der großen Zahl von Asylbewer- chen türkischen Bürgern auf eine persönliche Vorspra-
bern hatten. che in der Visastelle zu verzichten, die sich bereits
zweimal rechtmäßig in Deutschland aufgehalten haben.
Der Deutsche Städtetag schlägt bereits heute Alarm, Für einen regen Wirtschaftsaustausch und Besuchskon-
weil etwa in Baden-Württemberg und Bayern die Unter- takte zwischen der Türkei und Deutschland kann also
bringung der Asylbewerber aus Serbien und Montene- auch ohne die Visafreiheit gesorgt werden. Man muss

Zu Protokoll gegebene Reden


9128 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Reinhard Grindel
(A) nur von den bestehenden rechtlichen Möglichkeiten Ge- Rechtsprechung greift die Soysal-Entscheidung in erster (C)
brauch machen und neue Sicherheitsnetze, wie die Visa- Linie dahin gehend auf, dass sie die für die visumfreie
warndatei, knüpfen und kann dann für eine Entbürokra- Einreise angegebenen jeweiligen Aufenthaltszwecke von
tisierung des Visumverfahrens sorgen. der aktiven und passiven Dienstleistungsfreiheit ab-
grenzt. Auch die Bundesregierung hat hier ihre Haltung
Ich halte es aber für nicht hinnehmbar, wenn unseren
klargemacht.
Visastellen in der Türkei eine restriktive und undurch-
sichtige Visavergabepraxis vorgeworfen wird, die den Ich persönlich maße mir allerdings nicht an, hier
wirtschaftlichen und kulturellen Austausch beeinträch- Recht zu sprechen. Klar ist, wir Liberale haben uns stets
tigt. Ich kenne die Praxis in den Visastellen in Istanbul dafür eingesetzt, das Urteil zügig und sauber umzuset-
und Ankara von zahlreichen Besuchen sehr gut. Die Mit- zen. Sorge bereitet mir daher, dass auch für denjenigen
arbeiter machen dort einen hervorragenden Job und Personenkreis, der klar definiert wurde, in der Praxis
verdienen unseren Dank und unsere Anerkennung für häufig Schwierigkeiten bestehen. Darunter fallen Perso-
eine Arbeit, die nun nicht gerade zu den Traumposten im nen, die rechtmäßig durch Arbeitgeber mit Sitz in der
Auswärtigen Dienst gehört. Türkei mit Montage- und Instandhaltungsarbeiten sowie
Dass es nun gerade die Grünen sind, die der jetzigen Reparaturen an gelieferten Anlagen und Maschinen be-
Bundesregierung eine restriktive Visapolitik vorwerfen, schäftigt werden, durch Arbeitgeber mit Sitz in der Tür-
ist ja wohl auch politisch pikant. Es war der grüne Au- kei als fahrendes Personal im grenzüberschreitenden
ßenminister Fischer, der die Verantwortung für die Visa- Personen- bzw. Güterverkehr eingesetzt werden oder in
affäre, einen der größten politischen Skandale der Vorträgen oder Darbietungen von besonderem wissen-
Nachkriegszeit, trägt. Es sind die Grünen gewesen, die schaftlichen oder künstlerischen Wert oder bei Darbie-
durch den ideologisch motivierten Visaerlass Rahmen- tungen sportlichen Charakters in kommerzieller Absicht
bedingungen geschaffen haben, die dazu führten, dass tätig werden wollen. Diese Schwierigkeiten im Umgang
Zigtausende von Schwarzarbeitern, Prostituierten und mit der visumfreien Einreise müssen untersucht und be-
Kriminellen bis hin zu Terrorgefährdern nach Deutsch- hoben werden.
land kommen konnten. Sie haben die innere Sicherheit Ich möchte auf einen weiteren Punkt zu sprechen
unseres Landes durch ihre Visapolitik gefährdet, und sie kommen. Unser Außenminister Guido Westerwelle be-
tragen die Verantwortung für das Leid vieler Frauen, die tont mit Blick auf die Beitrittsverhandlungen mit der
Opfer von Menschenhändlern geworden sind. Sie haben Türkei stets: pacta sunt servanda. Wir Liberale stehen
ein für allemal das Recht verwirkt, anderen irgendwel- dafür ein, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei er-
che Vorschriften oder gar Vorwürfe in Sachen Visapoli- gebnisoffen und fokussiert weiterzuführen. Die Kollegen
tik zu machen. der Grünen fordern in ihrem Antrag, dem Stand der Bei- (D)
(B)
trittsverhandlungen gemäß mit türkischen Staatsange-
Rüdiger Veit (SPD): hörigen umzugehen. Dieser Aussage kann ich mich nur
Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist anschließen. Aber es heißt zu Recht „dem Stand der Bei-
uneingeschränkt zuzustimmen. trittsverhandlungen“ angemessen. Und so sehr ich das
persönlich bedaure, aber eine Visumfreiheit wäre derzeit
An dieser Stelle möchte ich nur noch mein ausdrück-
eben nicht dem Stand der Verhandlungen angemessen.
liches Bedauern darüber äußern, dass die Bundesregie-
Denn richtigerweise drängt die Kommission zunächst
rung ganz offensichtlich erst dazu aufgefordert werden
auf Fortschritte beim Rückübernahmeabkommen mit
muss, sich für die Umsetzung der EuGH-Rechtspre-
der Türkei. Mit Blick auf diesen kritischen Punkt freue
chung innerhalb der Europäischen Union, aber vor al-
ich mich, dass es seit dem Frühjahr 2010 eine neue Dy-
lem auch bei uns in Deutschland, einzusetzen und diese
namik in den Verhandlungen gibt. Es gilt, die Ergebnisse
vorzunehmen.
nun abzuwarten.
Serkan Tören (FDP): Gleichwohl möchte ich auf bestehende Missstände in
Die Soysal-Entscheidung des EuGH hatte einen Fall diesem Zusammenhang hinweisen. Denn eines steht
der aktiven Dienstleistungsfreiheit zum Gegenstand. doch fest: Die derzeitige Visavergabe muss praktikabler
Nun ist es ist kein Geheimnis, dass in der deutschen Dis- ausgestaltet werden. Mit dieser Herausforderung befas-
kussion häufig Uneinigkeit darüber besteht, welche Fol- sen sich die Kolleginnen und Kollegen der Grünen übri-
gerungen aus der Entscheidung für die passive Dienst- gens nicht.
leistungsfreiheit zu ziehen sind.
Die aktuelle Praxis der Visavergabe ist häufig in-
Für die Grünen ist die Sache aber offensichtlich klar. transparent und für den Antragsteller mit hohen Warte-
Die Ausführungen im Antrag suggerieren, aus dem Soy- zeiten verbunden. Zudem kennzeichnet ein immenser bü-
sal-Urteil erfolge ein Recht auf visumfreie Einreise aller rokratischer Aufwand das gesamte Verfahren. Das gilt
türkischen Staatsangehörigen zum Zweck des Empfangs für Antragsteller und das Personal in den Auslandsver-
von Dienstleistungen im Sinne der sogenannten passiven tretungen gleichermaßen. Das verunsichert die Men-
Dienstleistungsfreiheit. Darunter falle dann auch die schen und hat zunehmend Auswirkungen auf die wirt-
Gruppe der Touristen. Diese generelle und eindeutige schaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und
Schlussfolgerung ist aus dem Urteil allerdings nicht zu der Türkei. Dabei ist die Türkei ein stets an Bedeutung
ziehen. Und es sollte den Betroffenen auch nicht so ver- wachsender Handels- und Geschäftspartner für
kauft werden. Die bisherige verwaltungsgerichtliche Deutschland und die EU.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9129
Serkan Tören
(A) Mit Blick auf die Verfahren wäre es durchaus denk- kommen deckungsgleiche“ Auslegung des Dienstleis- (C)
bar, den rein technischen Teil der Visumverfahren an tungsbegriffs forderten, wie die Bundesregierung zur
kommerzielle, externe Dienstleister auszulagern. Die Rechtfertigung weiter vorbringt, ändert nichts daran,
frei werdenden Kapazitäten könnten für eine intensi- dass nach der ganz überwiegenden Rechtsprechung und
vierte Antragsprüfung verwendet werden. Auch von der Kommentierung der Dienstleistungsbegriff im Assozia-
persönlichen Vorsprache sollte für bestimmte Personen tionsrecht aus dem Begriff des EG-Vertrags und der
abgesehen werden. Eine Vorsprache bei bewährten Rei- Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abzulei-
senden bringt keine zusätzlichen Erkenntnisse. Darüber ten ist und damit auch die passive Dienstleistungsfrei-
hinaus halte ich es auch für sinnvoll, über eine Ausdeh- heit mit umfasst.
nung der Vielreisendenregelung nachzudenken.
Ich will Ihnen diese nur schwer nachvollziehbaren ju-
Ziel muss sein, die Visavergabe effizienter zu gestal- ristischen Sachverhalte einmal in Klartext übersetzen:
ten und gleichzeitig die Ressourcen für die maßgebliche Der Eindruck ist doch, dass die Bundesregierung das
Tätigkeit, nämlich der Antragsprüfung, frei zu machen. Soysal-Urteil nicht umsetzen will, weil es ihr politisch
Das ist insbesondere mit Blick auf die Qualität der Prü- nicht in den Kram passt. Denn das Ergebnis wäre eine
fungsergebnisse und somit für die Sicherheit von grund- weitgehende Visumfreiheit für türkische Staatsangehö-
legender Bedeutung. rige in Bezug auf Deutschland.
Gemeinsam mit der Union werden wir Möglichkeiten
So hat auch der CSU-Europaabgeordnete Markus
einer praktikablen und effizienteren Umsetzung der
Weber in der Zeitung „Die Welt“ am 24. April 2009 be-
Visavergabe eruieren.
reits offen ausgesprochen, was hinter dem juristischen
Herumgeeiere der Bundesregierung steckt: Es geht um
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): das Schüren von sogenannten Überfremdungsängsten.
Die Linke teilt die Grundintention des Antrags der Die Rechten sind getrieben von der – absurden – Vor-
Grünen. Allerdings halten wir die Erfolgschancen aus stellung, das Soysal-Urteil könne ein Beleg für den
Erfahrung für sehr gering, besonders angesichts der „EU-Beitritt der Türkei durch die Hintertür“ sein. Als
sturen Antworten der letzten Bundesregierung aus CDU, vermeintlicher Retter des christlichen Abendlandes
CSU und SPD auf die Anfragen der Linksfraktion zu den fühlte sich die letzte schwarz-rote Bundesregierung ent-
Konsequenzen aus dem Soysal-Urteil. sprechend auch nicht an Recht und Gesetz gebunden.
Die Linke hat bereits in der vorangegangenen Zum anhaltenden widerspenstigen Umgang der Bun-
16. Wahlperiode die Bundesregierung mehrfach auf- desregierungen mit Urteilen des Europäischen Gerichts-
(B) gefordert, das so genannte Soysal-Urteil – Rechtssache hofs passt, dass mir die Bundesregierung erst gestern (D)
C-228/06 – des Europäischen Gerichtshofs vom 19. Fe- eine Stellungnahme zum aktuellen Urteil des Gerichts-
bruar 2009 umzusetzen. Nach diesem Urteil dürfen in- hofs vom 9. Dezember 2010 (C-300/1/09) verweigerte.
folge eines Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkom- Die von der Koalition im Rahmen eines aktuellen
men zwischen der Europäischen Union und der Türkei Gesetzentwurfs geplante Verlängerung der Mindestbe-
keine strengeren Visumregelungen im Bereich der Nie- standszeit einer Ehe für die Erlangung eines eigenstän-
derlassungs- und Dienstleistungsfreiheit für türkische digen Aufenthaltsrechts von nachgezogenen Ehegatten
Staatsangehörige gelten als zum Zeitpunkt des Inkraft- verstößt nach den Maßgaben dieses Urteils eindeutig
tretens dieses Protokolls, das heißt zum 1. Januar 1973.
gegen Europarecht. Das Assoziationsrecht sieht ein so-
Während eine weitestgehende Mehrheitsmeinung in der
genanntes Verschlechterungsverbot für türkische Arbeit-
Fachliteratur und in der Rechtsprechung aus dem Urteil
nehmerinnen und Arbeitnehmer vor; das heißt, dass un-
schlussfolgert, dass zum Beispiel auch türkische Touris-
tinnen und Touristen im Rahmen der passiven Dienst- ter anderem die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen
leistungsfreiheit visumsfrei nach Deutschland einreisen nicht erschwert werden darf. Auch zwischenzeitlich ge-
können müssten, begrenzt die Bundesregierung die Aus- währte Erleichterungen dürfen nicht mehr zurückge-
wirkungen des Urteils auf die aktive Dienstleistungs- nommen werden, hat der Gerichtshof nunmehr klar
erbringung. Die zentrale Argumentation der Bundes- entschieden. Das träfe aber auf die von der Bundes-
regierung, wonach der Dienstleistungsbegriff des EG- regierung beabsichtigte Verlängerung der Mindestehe-
Vertrages nicht auf das Assoziierungsabkommen der bestandszeit zu. Die Bundesregierung muss deshalb ihr
Europäischen Union mit der Türkei übertragen werden Gesetzesvorhaben stoppen, wenn schon nicht aus Inte-
könne, ist in keiner Weise nachvollziehbar. Denn die resse an den betroffenen Frauen, dann aus europarecht-
Bundesregierung musste in einer Antwort auf eine der lichen Gründen. Doch auch hier prüft die Bundes-
zahlreichen Kleinen Anfragen der Linksfraktion zum regierung wahrscheinlich das Urteil bis zum Sankt-
Soysal-Urteil einräumen, dass sich aus einer Entschei- Nimmerleins-Tag. Ich bin doch immer wieder über-
dung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 1984 rascht, wie lange ein Bundesministerium braucht, um
„ein Indiz“ dafür ergibt, dass der Begriff der Dienstleis- ein überschaubares, achtseitiges Urteil auszuwerten.
tungsfreiheit im Kontext der Europäischen Union bereits Beim Soysal-Urteil war das ja ähnlich – aber ehrlich ge-
zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls sagt: Das jetzige Urteil vom 9. Dezember 2010 ist un-
1973 die passive Dienstleistungsfreiheit mit umschloss gleich einfacher zu verstehen, zumal sich diese Ent-
(Bundestagsdrucksache 16/13931). Dass das Asso- scheidung angesichts der bisherigen Rechtsprechung
ziierungsabkommen und der Gerichtshof keine „voll- des Europäischen Gerichtshofs bereits angedeutet hat.

Zu Protokoll gegebene Reden


9130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Sevim Dağdelen
Daðdelen
(A) Die Bundeskanzlerin hat erst gestern hier im Plenum dafür einzusetzen, dass auf EU-Ebene die Visumpflicht (C)
die Verantwortung Deutschlands „für eine gute Zukunft für türkische Staatsangehörige bei einem Kurzaufenthalt
der Europäischen Union“ beschworen. Doch meint sie aufgehoben wird.
damit offenkundig nur die Verantwortung für die Inte-
Die Bundesregierung und die anderen Mitgliedstaaten
ressen der Wirtschaft und des Finanzkapitals. Für die
der EU sind gehalten, mit türkischen Staatsangehörigen
Linke stehen jedoch die Menschen und ihre Rechte im
und der Türkei dem Stand der Beitrittsverhandlungen
Mittelpunkt. Deshalb lehnen wir die Diskriminierung
gemäß umzugehen. Die Türkei verdient insbesondere
von Menschen generell und in diesem Fall türkischer
angesichts der Aufhebung der Visumpflicht für Staats-
Staatsangehöriger ab. Die Bundesregierung muss end-
angehörige aus den EU-Bewerberstaaten Serbien,
lich das Soysal-Urteil umfassend umsetzen und ihre Dis-
Mazedonien und Montenegro gleiches Recht auch für
kriminierungspraxis gegenüber türkischen Staatsange-
ihre Staatsangehörige.
hörigen einstellen.
Die vorgeschlagene Visumfreiheit ist umso dringli-
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): cher, als die restriktive und undurchsichtige Visaverga-
bepraxis der Deutschen Botschaft den wirtschaftlichen
Deutschland und die Türkei verbinden seit den
und kulturellen Austausch mit der Türkei erheblich be-
1960er-Jahren außerordentlich vielfältige und intensive
einträchtigt. Betroffene monieren wochen- oder sogar
Beziehungen:
monatelange Wartezeiten, zu viel Bürokratie, nicht
Heute leben fast 3 Millionen türkischstämmige Men- nachvollziehbare Begründungen für Ablehnungen und
schen in Deutschland, was einen großen Einfluss auf zu hohe Kosten. Es kommt nicht selten vor, dass sich die
Politik, Kultur und Wirtschaft hat. 700 000 Menschen Antragstellenden nach langwierigen erfolglosen Verfah-
mit Wurzeln in der Türkei besitzen die deutsche Staats- ren vor der Deutschen Botschaft ihr Einreiserecht
bürgerschaft. Andererseits leben circa 100 000 Deut- schließlich einklagen müssen.
sche dauerhaft in der Türkei. Aber auch im privaten Leben verursacht die Vorge-
Deutschland ist seit langem wichtigster Handelspart- hensweise der deutschen Botschaft viel unnötiges Leid.
ner der Türkei. Exporte aus Deutschland in die Türkei Sie verhindert, dass Großeltern an der Hochzeitsfeier
wuchsen von Januar bis September dieses Jahres auf ihrer Enkel teilnehmen können, dass ein Mann mit eige-
9,2 Milliarden Euro. Die Türkei exportierte im selben nen Augen sehen kann, was für ein Leben sein Bruder in
Zeitraum Waren im Wert von 6,2 Milliarden Euro nach Deutschland führt oder dass eine Mutter ihr krankes
Deutschland. Nichtsdestotrotz ist Deutschland nicht Kind besucht. Menschen mit geringem Einkommen und
mehr Hauptexporteur. Die Zahl deutscher Unternehmen solche ohne Familie in der Türkei haben so gut wie
(B) bzw. türkischer Unternehmen mit deutscher Kapitalbe- keine Chance, nach Deutschland zu reisen. Dieser sinn- (D)
teiligung in der Türkei ist inzwischen auf 4 335 gestie- losen und ausgrenzenden Praxis müssen wir ein Ende
gen. Hinzu kommt die starke Anziehungskraft der Türkei setzen.
als Reise- und Urlaubsland. Im Jahr 2008 haben über Selbst bei Personen, die sogar nach der geltenden Re-
4 Millionen Menschen aus Deutschland die Türkei be- gelung offensichtlich visumfrei nach Deutschland ein-
sucht. Auch im Bereich der Hochschulzusammenarbeit reisen dürfen, verlangt die Deutsche Botschaft eine Viel-
gehört die Türkei zu unseren wichtigsten Kooperations- zahl von Dokumenten und lässt die Betroffenen zeit- und
ländern. Mit der Gründung der ersten deutsch-türki- kostenintensive Verfahren durchlaufen. So wird etwa
schen Universität in Istanbul wird die Kooperation noch türkischen Musikern und Künstlern, die in den USA stu-
verstärkt. diert oder in Japan Ausstellungen eröffnet haben, die
Seit dem Assoziationsabkommen zwischen der EWG Einreise nach Deutschland durch die Deutsche Bot-
und der Türkei 1963 ist die Türkei potenzieller Beitritts- schaft erschwert oder sogar verhindert. Ebenso schei-
kandidat der EU, und seit führt Jahren führt die Euro- tern Begegnungen von Städtepartnerschaften zwischen
päische Union Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. deutschen und türkischen Städten an abgelehnten Visa-
anträgen.
Vor dem Hintergrund der langen und intensiven Be-
ziehungen zwischen Deutschland und der Türkei lässt Auch türkische und deutsche Unternehmen fordern
sich die bestehende Visumpflicht für türkische Staats- eine Lockerung der Regelungen für die Visavergabe, wie
angehörige während eines Kurzaufenthaltes nicht recht- sie Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU, am 30. März
fertigen. Nach geltender Praxis können nur bestimmte 2010 bei ihrem letzten Besuch in der Türkei angekündigt
türkische Personengruppen und auch nur zur Erbrin- hat. Anderenfalls drohe nach Angaben des Präsidenten
gung bestimmter Dienstleistungen visumfrei nach der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer
Deutschland einreisen. Wie der EuGH in seiner Soysal- ein Schaden für die Geschäfte mit der Türkei. Schon jetzt
Entscheidung im Februar 2009 festgestellt hat, verstößt sei der deutsche Anteil an den Importen in die Türkei
diese Praxis gegen das Gemeinschaftsrecht. Danach ha- von 9,9 Prozent auf 9,1 Prozent gefallen. Von seinem
ben türkische Staatsangehörige das Recht, zur Aus- ersten Platz als Lieferant ist Deutschland mittlerweile
übung ihrer Dienstleistungsfreiheit während eines Kurz- von Russland und China verdrängt worden. Einige türki-
aufenthalts visumfrei nach Deutschland einzureisen. sche Unternehmer meiden mittlerweile die Deutsche
Botschaft und beantragen ihre Visa bei Botschaften an-
Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung derer Mitgliedstaaten der EU, da sie dort schneller und
auf, die Vorgaben des EuGH richtig umzusetzen und sich einfacher das begehrte Visum erhalten.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9131
Memet Kilic
(A) Nächstes Jahr feiern wir 50 Jahre Anwerbeabkom- Die vorgeschlagene Richtlinie verfolgt das Ziel, den (C)
men. Das ist eine gute Gelegenheit, um mit der Visum- Arbeitsmärkten der Mitgliedstaaten der EU saisonal
freiheit den Weg für noch offenere und intensivere benötigte Arbeitskräfte aus Drittstaaten zuzuführen.
deutsch-türkische Beziehungen frei zu machen. Gleichzeitig will sie den rechtlichen Status von Saison-
arbeitnehmern sichern, um sie vor Ausbeutung zu schüt-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zen. Zu diesem Zweck schlägt die EU-Kommission vor,
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf ein EU-weit einheitliches Verfahren und einheitliche
Drucksache 17/3686 an die in der Tagesordnung aufge- Kriterien für die Zulassung von Saisonarbeitnehmern
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein- aus Drittstaaten einzuführen.
verstanden? – Dann ist das so beschlossen. Darüber hinaus soll ein spezieller Aufenthaltstitel ge-
schaffen werden, der den Saisonarbeitnehmern gegen-
Ich rufe Tagesordnungspunkt 34 auf:
über Unionsbürgern bestimmte Gleichbehandlungs-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim rechte verleiht.
Dağdelen, Alexander Ulrich, Jan van Aken, wei-
Wie bereits der Titel verrät, handelt es sich jedoch bei
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
dem Dokument um einen „Entwurf“ und somit noch
zum Vorschlag der Europäischen Kommission nicht um eine abschließende Richtlinie. Dementspre-
für eine Richtlinie des Europäischen Parla- chend haben auf europäischer Ebene bisher auch nur
ments und des Rates über die Bedingungen für erste Gespräche und noch keine abschließenden Ver-
die Einreise und den Aufenthalt von Dritt- handlungen über die einzelnen Vorgaben der Richtlinie
staatsangehörigen zwecks Ausübung einer sai- stattgefunden.
sonalen Beschäftigung (KOM(2010) 379 endg;
Die mit dem vorliegenden Antrag der Linken be-
Ratsdok. 12208/10)
zweckte vollständige Ablehnung des Entwurfs der Richt-
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes- linie ist daher zum jetzigen Zeitpunkt nicht nur verfrüht,
tages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des sondern sie ist auch inhaltlich unbegründet. Im Gegen-
Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des teil, grundsätzlich sollte man dem Vorschlag der EU-
Gesetzes über die Zusammenarbeit von Kommission durchaus wohlwollend gegenüberstehen,
Bundesregierung und Deutschem Bun- so wie dies im Übrigen auch der Bundesrat in seiner
destag in Angelegenheiten der Europäi- Stellungnahme vom 24. September dieses Jahres und die
schen Union Bundesregierung in einer ersten Einschätzung getan ha-
ben.
(B) Vorschlag der Europäischen Kommis- (D)
sion zur Saisonarbeiterrichtlinie zu- Die Einführung eines einheitlichen Verfahrens und
rückweisen die Anwendung einheitlicher Kriterien für den Aufent-
halt von saisonal in den Mitgliedstaaten beschäftigten
– Drucksache 17/4045 – Drittstaatsangehörigen stellen ein geeignetes Mittel ei-
Überweisungsvorschlag: ner kontrollierten und bedarfsorientierten Zuwanderung
Innenausschuss (f) angesichts ökonomischer und demografischer Entwick-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
lungen dar.
Verbraucherschutz Nichtsdestotrotz müssen an der derzeitigen Entwurfs-
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Tourismus fassung der Richtlinie noch Veränderungen vorgenom-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union men werden, damit Deutschland ihr zustimmen kann und
damit auch dem von der EU-Kommission selbst verfolg-
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die ten Ziel einer europaweiten Vereinheitlichung in Bezug
Reden zu Protokoll gegeben, und zwar folgender Kol- auf die Saisonarbeitnehmer Rechnung getragen wird.
leginnen und Kollegen: Stephan Mayer, Daniela Kolbe,
Hartfrid Wolff, Sevim Dağdelen, Beate Müller- Nachfolgend möchte ich einige wesentliche Punkte
Gemmeke. aufzählen, bei denen auch ich noch einen Verbesse-
rungsbedarf bei dem derzeit vorliegenden Entwurf der
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
Richtlinie sehe:
Die EU-Kommission hat am 13. Juli dieses Jahres ei- Von besonderer Bedeutung ist, dass die Kompatibili-
nen seit langem erwarteten Vorschlag zur erleichterten tät des Verfahrens zur Zulassung von Saisonarbeitneh-
Zuwanderung von Arbeitskräften in die Europäische mern mit dem bisher von Deutschland praktizierten
Union vorgelegt. Der Vorschlag für eine Richtlinie des Verfahren sichergestellt ist. Die nationale Verfahrensau-
Europäischen Parlamentes und des Rates über die Be- tonomie zur Steuerung der Zuwanderung im Allgemei-
dingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Dritt- nen und im Hinblick auf einzelne Drittstaaten und Bran-
staatsangehörigen zwecks Ausübung einer saisonalen chen muss daher auch nach Inkrafttreten einer
Beschäftigung ist Bestandteil des „Strategischen Plans Richtlinie gewahrt bleiben. An einzelnen Stellen sind da-
zur legalen Zuwanderung“ der Kommission aus dem her Korrekturen und Veränderungen am Wortlaut der
Jahr 2005. Der strategische Plan war durch die Auf- Richtlinie vorzunehmen, um auch eine Stringenz in der
nahme in das Stockholmer Programm für die Jahre 2010 verwendeten Fachterminologie beizubehalten, zum Bei-
und 2014 nochmals durch den Rat bestätigt worden. spiel Verwendung des Begriffs der Saisonarbeitserlaub-
9132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Stephan Mayer (Altötting)


(A) nis in den Art. 3 d und Art. 10, 11 und 15 des Entwurfs. herausgestellt. Allerdings gibt es durchaus auch saiso- (C)
Aber auch das bisher nicht ausdrücklich ausgespro- nale Berufe, die einen grenzüberschreitenden Bezug
chene Verbot eines Familiennachzugs für Saisonarbeit- haben können. Insbesondere im Hotel- und Gaststätten-
nehmer sollte noch im Text ergänzt werden. gewerbe ist dies möglich. Aber auch viele Landwirte be-
wirtschaften ihre Flächen in mehreren Mitgliedstaaten,
Auch die in Art. 9 Abs. 4 enthaltene Regelung, wo- insbesondere dann, wenn sie ihren Betrieb im grenzna-
nach der betreffende Mitgliedstaat den Drittstaatsange-
hen Bereich führen. Enge Ausnahmen für solche grenz-
hörigen, deren Zulassungsantrag angenommen wurde, nahen Betriebe erscheinen daher zumindest überlegens-
jede denkbare Erleichterung zur Erlangung der benötig- wert.
ten Visa gewährt, ist sehr unbestimmt und sollte sprach-
lich und inhaltlich noch einmal präzisiert werden. Neue Bürokratiekosten, zum Beispiel durch die Ein-
führung eines neuen Aufenthaltstitels oder die Übermitt-
Überlegenswert ist aus meiner Sicht ebenfalls eine
lung detaillierter Statistiken, dürfen nicht eine der Fol-
weitere Klarstellung in der Richtlinie, dass die Vor-
gen der Richtlinie für die Mitgliedstaaten sein. Die in
schriften über die Einholung von Visa vor der Erteilung
den Art. 18 ff. des Entwurfs festgelegten statistischen
eines Aufenthaltstitels für Saisonarbeitnehmer auch in
Pflichten und Anforderungen an die Berichterstattung
Zukunft unberührt bleiben.
durch die Mitgliedstaaten sollten daher noch einmal
Die Gleichbehandlungsrechte im Bereich der sozia- überprüft und gegebenenfalls reduziert werden.
len Sicherheit, insbesondere im Hinblick auf Familien-
Der in Deutschland bereits geltende rechtliche Rah-
leistungen und Rentenansprüche, sind in der derzeitigen
men für die saisonale Beschäftigung von Drittstaatsan-
Entwurfsfassung der Richtlinie sehr weitgehend.
gehörigen darf zu Recht als gut austariert und angemes-
Eine Gleichbehandlung von Saisonarbeitnehmern sen flexibel angesehen werden. Wenn überhaupt, bedarf
und Unionsbürgern im Hinblick auf Familienleistungen, es im nationalen Recht lediglich geringfügiger Berichti-
wie zum Beispiel Kindergeld, Elterngeld, Kinderzu- gungen. Die christlich-liberale Koalition setzt sich da-
schlag, kann jedoch aus meiner Sicht nicht mit den bis- her auch kritisch mit den Vorschlägen der EU-Kommis-
her im deutschen Recht geltenden Prinzipien für Dritt- sion zu möglichen Veränderungen für die nationalen
staatsangehörige in Einklang gebracht werden. Arbeitsmärkte auseinander. Der Entwurf der EU-Kom-
mission ist zum jetzigen Zeitpunkt keineswegs zustim-
Bisher erhalten nur solche Drittstaatsangehörige mungsreif, da noch wesentliche Veränderungen vorge-
Familienleistungen, die voraussichtlich dauerhaft in nommen werden müssen.
Deutschland sind. Dies trifft auf Saisonarbeitnehmer je-
doch gerade nicht zu. Gemäß Art. 11 Nr. 1 des Entwurfs Diese Veränderungen können aber durch die christ-
(B) müssen sie zwingend nach Ablauf der Saisonarbeits- lich-liberale Bundesregierung im Wege eines kooperati- (D)
erlaubnis wieder in ihr Drittland zurückkehren. Die in ven und konstruktiven Austauschs mit den anderen Mit-
dem Entwurf der Richtlinie verankerte Gleichstellung gliedstaaten und der EU-Kommission erreicht werden.
muss daher aus meiner Sicht kritisch hinterfragt werden. Eine vollständige Ablehnung des Entwurfs halte ich da-
Dies sollte unbedingt Gegenstand zukünftiger Verhand- her derzeit für nicht angezeigt.
lungen auf europäischer Ebene sein.
Ebenfalls Gegenstand von weiteren Verhandlungen Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):
sollte auch Art. 13 des Entwurfs der Richtlinie sein. Die Die Europäische Kommission hat in Erfüllung des
mit „Verfahrensgarantien“ überschriebene Vorschrift Stockholmer Programms einen Vorschlag zur effizienten
vermittelt auf den ersten Blick durchaus einen missver- Steuerung der Einreise und des Aufenthalts von dritt-
ständlichen Eindruck. Es sollte daher klargestellt wer- staatsangehörigen Saisonarbeitnehmern vorgelegt.
den, dass der in Art. 13 Abs. 3 Satz 2 versteckte Hinweis, Der Richtlinienvorschlag sieht die Einführung eines
dass bei Ablehnung eines Antrages das nationale Recht einheitlichen Verfahrens sowie die Anwendung einheitli-
und die nationalen Rechtsbehelfe zur Anwendung kom- cher Kriterien für die Zulassung von Saisonarbeitneh-
men, noch einmal herausgestellt und gegebenenfalls mern vor, um, so die Begründung, den ökonomischen
auch durch eine Veränderung der Überschrift verdeut- und demografischen Entwicklungen kontrolliert Rech-
licht werden. So könnte wirksam ausgeschlossen wer- nung zu tragen.
den, dass etwaige Fristversäumnisse nach Art. 13 Abs. 1
unmittelbar zu schadensersatzrechtlichen Folgen führen Ebenso wie bei dem Richtlinienvorschlag der EU-
können. Kommission über die konzerninterne Entsendung liegt
auch zu diesem Richtlinienvorschlag ein Antrag der
Auch erscheint mir die Diskussion um die Erteilung Fraktion Die Linke mit dem Titel „Vorschlag der Euro-
einer grenzüberschreitenden Erlaubnis für Saisonar-
päischen Kommission zur Saisonarbeiterrichtlinie zu-
beitnehmer zumindest noch nicht endgültig abgeschlos-
rückweisen“ vor, den wir heute hier an dieser Stelle de-
sen zu sein. Für die in der Richtlinie getroffene Regelung battieren.
in Art. 15 spricht der allgemeine Konsens unter den Mit-
gliedstaaten, eine unkontrollierte Migration zu vermei- Wie der Titel des Antrages es erahnen lässt: Die
den. Der Aufenthaltstitel sollte demnach auch nur für ei- Linksfraktion ist wieder gegen etwas und in diesem
nen Mitgliedstaat ausgestellt werden dürfen und nicht in Falle gegen diesen EU-Richtlinienvorschlag. Aber eine
mehreren Mitgliedstaaten gelten. Dies hat auch der pauschale Dagegenpolitik ist mit uns auch bei diesem
Bundesrat in seinem Beschluss vom 24. September 2010 Richtlinienvorschlag nicht zu machen.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9133
Daniela Kolbe (Leipzig)
(A) Aus diesem Grund lehnen wir den von Ihnen hier vor- linientext das Recht der Mitgliedstaaten verankert wird, (C)
gelegten Antrag ab und werden einen eigenen Antrag auch Branchen zu benennen.
einbringen, der sowohl Gestaltungsvorschläge und
Nachbesserungen für die Richtlinie zur konzerninternen Ein anderer Punkt, den wir für wichtig erachten, ist,
Endsendung als auch zu der hier debattierten Saison- dass es zusätzlich notwendig werden wird, in den Ziel-
arbeit beinhalten wird. Denn aus unserer sozialdemo- ländern Beratungsstellen aufzubauen, die passgenau
und gezielt Missbrauch entgegenwirken und bekämpfen,
kratischen Sicht weist der vorliegende EU-Richtlinien-
die aber auch für Saisonarbeitnehmer und Saisonarbeit-
vorschlag noch erhebliche Mängel auf. Er gefährdet
nehmerinnen ansprechbar sind. Damit einhergehend
Rechte und Errungenschaften von Gewerkschaften und
wäre es aus unserer Sicht von Vorteil, ein System zur
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und führt zu
Qualitätskontrolle von privaten Vermittlern einzuführen,
Lohn- und Sozialdumping, und zwar europaweit.
und zwar dann, wenn die Vermittlung nicht von staatli-
Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir uns lange chen Stellen übernommen werden kann. Auch halten wir
Zeit mit der Thematik auseinandergesetzt, haben uns mit es für mehr als geboten, schärfere Sanktionen gegen
Experten, Expertinnen und Gewerkschaften beraten und Vermittler und Arbeitgeber einzuführen, die sich eben
Kritikpunkte ernst genommen. Aber wir wissen auch, nicht an rechtliche Vorschriften halten.
dass wir im Sinne Europas zu einer für alle Mitglied- Positiv ist zwar zu verzeichnen, dass der Kommis-
staaten einheitlichen und tragfähigen Lösung kommen sionsvorschlag davon spricht, dass in Bezug auf Saison-
müssen, die auch den in Deutschland geltenden Rechts- arbeiter und Saisonarbeiterinnen „Ausbeutung und
rahmen für die saisonale Beschäftigung von Drittstaats- nicht den Normen entsprechende Arbeitsbedingungen“
angehörigen berücksichtigen muss. Grundsätzlich rich- überwunden werden müssen. Schaut man aber genauer
tig und wichtig ist es in unseren Augen, illegaler hin, stellt man fest, dass die Gefahr auf der Hand liegt.
Beschäftigung und irregulärer Arbeitsmigration entge- Einer der Hauptmängel des Kommissionsvorschlags ist
genzutreten. aus unserer Sicht nämlich – hier fordere ich die Bundesre-
gierung eindringlich auf, für eine Änderung zu sorgen –,
Daher fordern wir in unserem Antrag die Bundes-
dass durch diesen Vorschlag die Gefahr besteht, dass ein
regierung auf, sich bei den weiteren Beratungen im Einfallstor für Lohndumping eröffnet wird. Denn in
Europäischen Rat dafür einzusetzen, dass bei der Richt- Deutschland gibt es leider keinen Mindestlohn und nicht
linie über die Bedingungen für die Einreise und den Auf- in allen Branchen Tarifverträge, wodurch es für viele
enthalt von Drittstaatsangehörigen unsere Kritikpunkte Saisonarbeiter eben auch keine Lohnuntergrenze gäbe.
im Sinne der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen be- Nicht nur, dass diese dann zu Hungerlöhnen arbeiten
rücksichtigt werden. Die Öffnung von Saisonarbeit in müssten, nein, sie würden dadurch das Lohnniveau in (D)
(B) der EU für Drittstaaten darf in unseren Augen nämlich
Deutschland weiter absenken. Von daher wäre es nur
nicht dazu führen, dass das innereuropäische und das richtig und wichtig, im Vorfeld, bevor die Regelung in
deutsche Lohnniveau in der Saisonarbeit niedrig gehal- Kraft tritt, dafür zu sorgen, dass in allen betroffenen
ten oder gesenkt wird. Branchen Mindestlöhne ausgehandelt und für allgemein
EU-weit müssen wir – das ist eine unserer Grundfor- verbindlich erklärt werden oder dass ein gesetzlicher
derungen – die Regel „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit Mindestlohn verabschiedet wird. Nur so ließen sich
am gleichen Ort“ durchsetzen. Besieht man sich die jet- Hungerlöhne für Saisonbeschäftigte verhindern.
zige Situation, so sind in Deutschland Saisonarbeitneh- Es liegt noch viel Arbeit vor uns. Ich fordere die Bun-
mer und -arbeitnehmerinnen in der Land- und Forst- desregierung auf, unsere Kritikpunkte ernst zu nehmen.
wirtschaft, im Hotel- und Gaststättengewerbe sowie als Gleichzeitig appelliere ich an die Fraktion Die Linke,
Schaustellergehilfen tätig. Laut der sehr allgemein ge- nicht immer alles gleich komplett abzulehnen, sondern
haltenen Formulierung im Richtlinienvorschlag – da- an einer besseren Lösung mitzuarbeiten.
nach ist Saisonarbeit „eine Tätigkeit, die aufgrund eines
Ereignisses oder einer Struktur an eine Jahreszeit ge-
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
bunden ist“ – ließen sich sicherlich in allen Branchen
Tätigkeiten finden, die als saisonabhängig gelten könn- Der Antrag der Linken lag bis zum Vortag dieser De-
ten, vermutlich auch die Standbetreuung auf einem batte nicht vor. Da die Linke offenbar Anträge auf die
Weihnachtsmarkt. Aus unserer Sicht ist es deshalb mehr Tagesordnung setzen lässt, die sie noch gar nicht fertig-
als wichtig, dass die Richtlinie eine klare Definition auf- geschrieben hat, macht deutlich, dass es hier nicht um
weisen muss, welche Branchen unter die Saisonarbeit substanzielle inhaltliche Arbeit geht.
fallen. Darunter fallen nicht Branchen, wie es die Richt- Deutschland hat sich in der weltwirtschaftlichen
linie bislang vorsieht, die saisonal höhere Aufkommen Krise der vergangenen Jahre relativ gut behauptet. Das
haben und deswegen auf Saisonarbeitnehmer zugreifen kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch
sollen. zahlreiche hausgemachte Probleme gibt, die gelöst wer-
den müssen, um Deutschland im internationalen Wettbe-
Für uns ist es daher notwendig, dass möglichst schon werb besser aufzustellen. Gerade für die klein- und mit-
in der EU-Richtlinie eine Begrenzung auf die bisherigen telständischen Unternehmen ist Flexibilität bedeutsam.
Branchen durchgesetzt wird und dies nicht erst auf na-
tionaler Ebene geschieht. Damit korrespondiert auch Durch den Aufschub des Inkraftsetzens der EU-Frei-
unsere Forderung zur Nachbesserung, dass im Richt- zügigkeitsregelung haben in der jüngsten Vergangenheit

Zu Protokoll gegebene Reden


9134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


(A) die auf Saisonarbeitskräfte angewiesenen Arbeitgeber Zuwanderung“, die auch im Stockholmer Programm (C)
in Deutschland teilweise Nachteile gegenüber ihren aufgegriffen wird.
europäischen Nachbarn in Kauf nehmen müssen. Diese
Diese Strategie umfasst eine allgemeine Rahmen-
Nachteile halten noch an, da inzwischen viele Arbeits-
richtlinie. Diese Rahmenrichtlinie besteht aus vier
kräfte schon längst in anderen Ländern sind. Gerade in
Richtlinien. Alle vier sollen die Einreise und den Aufent-
der Landwirtschaft und in Hotellerie und Gastronomie
halt bestimmter Kategorien von Drittstaatsangehörigen
sind die Betriebe auf ein schnelles und unbürokratisches
regeln. Eine der vier Richtlinien beschäftigt sich mit den
Verfahren angewiesen, um ihre saisonale Arbeit bewälti-
Saisonbeschäftigten, eine andere mit konzernintern Ent-
gen zu können. Es ist gut, dass die Freizügigkeit der Ar- sandten. Beide Richtlinien wurden gleichzeitig vorge-
beitnehmer in der EU im Agrarbereich wie auch in der legt. Eine dritte Richtlinie befasst sich im Rahmen der
Gastronomie und Hotellerie im kommenden Jahr end- EU-Blue-Card mit Hochqualifizierten. Sie wurde 2009
lich in Kraft tritt. Wir freuen uns, dass dieser Wettbe- angenommen. Die vierte Richtlinie ist mit bezahlten
werbsnachteil im kommenden Jahr nun wegfällt. Hier Auszubildenden befasst, wurde aber noch nicht als Vor-
wurden in den vergangenen Jahren durch populistisches schlag vorgelegt.
Agieren vor allem der SPD noch Hürden beibehalten,
die längst nicht mehr zeitgemäß waren. Da Saisonbeschäftigte von der allgemeinen Rahmen-
richtlinie und der Blue Card ausgenommen sind, soll die
In der trotz aller positiver Trends immer noch, global- saisonale Beschäftigung in einer eigenen Richtlinie ge-
wirtschaftlich gesehen, schwierigen Phase für unsere regelt werden. Der Entwurf zur Saisonarbeiterrichtlinie
Unternehmen müssen diese die Möglichkeit haben, sollte eigentlich schon Ende 2008 vorgelegt werden,
Saisonkräfte flexibel einsetzen zu können. Das trägt wurde aber wegen berechtigter Proteste von Gewerk-
auch dazu bei, dem drohenden Arbeitsplatzabbau entge- schaften verschoben. Doch anstelle substanzieller Ver-
genzuwirken. Auch eine neue EU-Regelung darf nicht besserungen für Saisonbeschäftigte bleibt der vor-
dazu beitragen, dass hier weitere Hürden entstehen. liegende Richtlinienentwurf bei seiner einseitigen
Konzentration auf die Interessenlage der Wirtschaft.
Deutschland muss im internationalen Wettbewerb
nachziehen und dringend Korrekturen vornehmen. Allen vier Richtlinien gemein ist, dass sie ein und der-
Hierin liegt ein bislang nicht ausgeschöpftes Potenzial selben Grundlogik folgen, „nützliche Migration“ in die
der Schaffung von Arbeitsplätzen am Standort Deutsch- EU zu befördern, und das in mehrfacher Hinsicht. Mit
land. Inwieweit der Vorschlag der EU dazu hilfreich ist, dem im Richtlinienentwurf diskutierten Arbeitskräfte-
ist sicherlich diskussionswürdig. Es ist darauf zu achten, mangel und der damit verbundenen Forderung nach ei-
dass keine überbordende Bürokratie oder zu weitge- ner „zirkulären Migration“ werden einseitig Interessen
(B) hende Bindungen entstehen. Zudem wäre es hilfreich, und Bedürfnisse der Wirtschaft und des Kapitals be- (D)
wenn Regelungen folgen, die sich auch auf das Verhält- dient. Dabei ist die Bereitschaft von Unionsbürgerinnen
nis von saisonaler Arbeit zwischen Mitgliedstaaten be- und -bürgern zur Saisonarbeit bei gerechter Bezahlung
ziehen. groß, und der Bedarf könnte wegen der hohen Erwerbs-
losigkeit in der Europäischen Union so auch gedeckt
Die sozialistische Schauermär der Linken von den In- werden. Doch darum geht es offensichtlich nicht. Es
karnationen des Bösen, „Wirtschaft und Kapital“ und geht hier vielmehr um die Möglichkeit, die Forderungen
deren „ökonomischen Verwertungsinteressen“ an „billi- nach gerechter Bezahlung zu unterlaufen. Der Arbeits-
gen Arbeitskräften“ ist dagegen ein Schauerstück aus markt soll ein Nachfragemarkt sein. Denn je mehr po-
dem 19. Jahrhundert. Der antikapitalistische Kampf- tenzielle Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, desto weni-
geist ist über das intellektuell Zuträgliche hinausge- ger müssen sich die Unternehmen hinsichtlich ihrer
schossen. Der Linken geht es darum, Ideologie zu ver- Lohnpolitik und der Arbeitsrechte bewegen. Zudem kön-
kaufen, statt sich um die Zukunft zur Sicherung des nen die Beschäftigten besser gegeneinander ausgespielt
Beschäftigungs- und Wirtschaftsstandorts Deutschland werden.
zu kümmern. Die Linke will mit der Unterstützung der Gewerk-
schaften eine Lohnspirale nach unten im Interesse der
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): ausländischen wie der inländischen Arbeitnehmerinnen
Im Jahr 2009 waren in Deutschland 1 835 Saisonbe- und Arbeitnehmer verhindern. Die Linke ist für Mindest-
schäftigte in den Bereichen Landwirtschaft/Gartenbau standards für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ob
und Gastgewerbe aus den Beitrittsländern Bulgarien, sie nun aus Deutschland kommen oder aus Europa oder
aus Drittstaaten. Es muss endlich dafür gesorgt werden,
Rumänien, Polen, Slowenien, Ungarn, der Slowakischen
dass unter gleichen Arbeitsbedingungen am gleichen
und Tschechischen Republik tätig. Aus dem Nicht-EU-
Ort und für die gleiche Arbeit auch der gleiche Lohn ge-
Land Kroatien waren es im selben Jahr 4 248 Saison-
zahlt wird. Deshalb wollen wir einen gesetzlichen Min-
beschäftigte, also mehr als doppelt so viele. Insgesamt
destlohn, damit Beschäftigte nicht mehr gegeneinander
waren es circa 6 000. Jedes Jahr arbeiten über
ausgespielt werden können.
100 000 Saisonbeschäftigte aus Drittstaaten in der EU.
Um sie geht es in dem Vorschlag für eine Richtlinie zur Denn besonders gravierend wird sich die Richtlinie in
saisonalen Beschäftigung – der Saisonarbeiterrichtli- der Bundesrepublik Deutschland und anderen Ländern
nie, den die Kommission am 13. Juli 2010 vorgelegt hat. auswirken, die keinen gesetzlichen Mindestlohn oder
Sie ist Teil der 2005 initiierten „Strategie zur legalen kein System der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9135
Sevim Dağdelen
Daðdelen
(A) Tarifverträgen besitzen. So kann für Saisonbeschäftigte beitsvertrag ist lediglich ein befristeter Ausschluss von (C)
die Einhaltung von Tarifbestimmungen nur vorgeschrie- Genehmigungen vorgesehen. Im Falle einer Täuschung
ben werden, wenn es sich um gesetzliche Mindestlöhne der Behörden durch die Arbeitgeberinnen und Arbeitge-
oder bundesweit allgemeinverbindliche Tarifverträge ber sieht der Entwurf nicht einmal vor, dass diese die
handelt. Für Branchen ohne bundesweit allgemeinver- Reisekosten für die Saisonbeschäftigten tragen. Dieses
bindliche Tarifverträge oder gesetzliche Mindestlöhne Eldorado für Unternehmen lehnt die Linke entschieden
– in Deutschland zum Beispiel die Landwirtschaft – kön- ab.
nen so keine Lohnuntergrenzen für Saisonbeschäftigte
mehr festgesetzt werden. Damit drohen Hungerlöhne Die Saisonarbeiterrichtlinie wird getragen vom Nütz-
und massive Verwerfungen auf den EU-Arbeitsmärkten. lichkeitsrassismus, der nicht die Rechte von Migrantin-
Dass bei den Rechten für Saisonbeschäftigte weder das nen und Migranten stärkt, sondern lediglich den Nütz-
Streik- noch das Versammlungsrecht oder das Recht auf lichkeitswert von Migrantinnen und Migranten für
Meinungsfreiheit genannt wird, schließt diese zwar nicht Unternehmen in den Mittelpunkt rückt. Gleichzeitig wird
aus, lässt aber tief blicken – schließlich haben in den die Situation aller Beschäftigten in den betroffenen
letzten Jahren immer wieder Saisonbeschäftigte gegen Branchen deutlich verschlechtert, und die Migrantinnen
besonders ausbeuterische Arbeitgeberinnen und Arbeit- und Migranten werden als Sündenböcke für Sozial- und
geber gekämpft. Lohndumping instrumentalisiert. Dadurch, dass beson-
ders restriktive Regelungen auch noch Gesetzeskraft in
Der Richtlinienentwurf beruht auf dem Konzept „zir- Deutschland erlangen sollen und die Bereiche der Sai-
kulärer Migration“, nach dem die Beschäftigten immer sonarbeit auch noch ausgeweitet werden können, be-
wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren müssen. steht die Gefahr einer weiteren Absenkung von rechtli-
Eine Aufenthaltsverfestigung ist ausgeschlossen. Für chen Standards für Migrantinnen und Migranten. Das
die maximal sechs Monate Aufenthaltsdauer bleibt den ist im Lichte der Thesen des Hobbygenetikers und SPD-
Beschäftigten das Recht auf Mitnahme oder Besuch von Mitglieds Thilo Sarrazin nichts weiter als die Fortfüh-
Familienangehörigen versagt. Eine Integration der Ar- rung einer neoliberalen Politik, deren Kern es ist, Men-
beitskräfte ist ausdrücklich nicht erwünscht. Wer der schen nach ihrem ökonomischen Wert zu bemessen.
Verpflichtung zur Rückkehr nicht nachkommt, wird für Wenn das nicht menschenverachtend ist, was dann?
eine gewisse Zeit von der Zulassung als Saisonarbeits-
kraft ausgeschlossen. Die Rechte von Saisonbeschäftig- Die Linke fordert die Bundesregierung deshalb auf,
ten aus Drittstaaten sind mangelhaft ausgestaltet, den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine
sodass nahezu kein Schutz gegenüber dem durchschla- Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates
genden Profitinteresse von Unternehmen entsteht, die über die Bedingungen für die Einreise und den Aufent-
halt von Drittstaatsangehörigen zwecks Ausübung einer
(B) Saisonarbeitskräfte beschäftigen. Doch das ist der Bun- (D)
desregierung egal, wie ihre Antwort auf die Kleine An- saisonalen Beschäftigung – KOM(2010) 379 – abzuleh-
frage meines Kollegen Alexander Ulrich – Bundestags- nen. Die Bundesregierung ist aufgefordert, sich stattdes-
drucksache 17/3561 – deutlich gezeigt hat. Eine sen aktiv für einen rechtlichen Rahmen einzusetzen, der
Verankerung des Rechts auf Streik, Meinungs- und Ver- den sozialen und arbeitsrechtlichen Schutz für Saisonbe-
sammlungsfreiheit in der Richtlinie hält die Bundes- schäftigte stärkt, indem er soziale Mindeststandards für
regierung ebenso für entbehrlich wie das Recht auf die Saisonbeschäftigten in der EU festlegt. In diesem Zu-
Familiennachzug. Bezüglich der Einbeziehung in die sammenhang ist die Einführung eines flächendeckenden
Sozialversicherungen möchte die Bundesregierung gesetzlichen Mindestlohns unerlässlich. Es muss endlich
– laut ihrer Antwort – eine „unangemessene Belastung dafür gesorgt werden, dass unter gleichen Arbeitsbedin-
der sozialen Sicherungssysteme“ vermeiden, wenn- gungen am gleichen Ort und für die gleiche Arbeit auch
gleich die „Belange der Saisonarbeitnehmer angemes- der gleiche Lohn gezahlt wird. Dieser Mindestlohn muss
sen“ zu wahren seien. die allgemeine Untergrenze der Entlohnung für alle Be-
schäftigten, auch im Rahmen von Entsendearbeit, sein.
Die Linke lehnt das Konzept „zirkulärer Migration“ Anstelle von Sozial- und Lohndumping will die Linke,
ab, die nun unter europäischer Flagge die falsche deut- dass sich die Bundesregierung im Rat der EU dafür ein-
sche Gastarbeiterpolitik der 50er-Jahre europaweit eta- setzt, dass entsprechend der Entschließung des Europäi-
bliert. Denn in 20 Jahren wird man dann wieder Kroko- schen Parlaments vom 9. Oktober 2008 – 2008/
dilstränen vergießen, dass man Arbeitskräfte rief, aber 2034(INI) – die Europäische Union eine Zielvorgabe
Menschen kamen, wo doch alle Erfahrungen zeigen, zum Niveau von Mindestlöhnen in Höhe von mindestens
dass das Gastarbeitermodell die Integration geradezu 60 Prozent des nationalen Durchschnittslohns verein-
verhindert und den Nützlichkeitsrassismus befördert. bart, nebst einem verbindlichen Zeitplan zur Einhaltung
Wir dagegen setzen auf den Schutz von Menschen in Not dieser Vorgabe in allen Mitgliedstaaten.
und auf die Etablierung einer sozialen Integrationspoli-
tik sowohl in den Mitgliedstaaten als auch auf der euro- Um dies noch einmal ganz deutlich zu sagen: Die
päischen Ebene. Linke befürwortet sehr wohl, dass Menschen in die Bun-
desrepublik kommen können, auch, um hier zu arbeiten.
Die Unternehmen dagegen müssen laut Entwurf Wir lassen aber nicht zu, dass hochqualifizierte gegen
kaum etwas befürchten. Bei Verstößen des Arbeitgebers geringqualifizierte Arbeitsmigrantinnen und -migran-
oder der Arbeitgeberin gegen die Rechte der Saisonbe- ten, Arbeitsmigrantinnen und -migranten gegen Flücht-
schäftigten sind die Mitgliedstaaten nicht berechtigt, linge, Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlinge
Sanktionen zu verhängen. Bei Verstößen gegen den Ar- gegen „Deutsche“, Sozialhilfeempfängerinnen und -emp-

Zu Protokoll gegebene Reden


9136 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Sevim Dağdelen
Daðdelen
(A) fänger gegen Arbeitslose, Frauen gegen Männer, Ossis Machen wir uns nichts vor: Bereits heute leben Ange- (C)
gegen Wessis, Kinderlose gegen Eltern bzw. Familien, hörige aus Drittstaaten zu Hunderttausenden als Sai-
Alt gegen Jung ausgespielt werden. sonarbeitende in Mitgliedstaaten der Europäischen
Union. Viele von ihnen, auch das muss uns klar sein, ha-
Wir wollen jedoch verhindern, dass im Interesse der
ben keinen legalen Aufenthalt. Und zu viele von ihnen
deutschen Wirtschaft billige, flexible und vor allem füg-
sind in der aktuellen Situation Opfer von Missbrauch,
same Arbeitsmigrantinnen und -migranten gesichert, die
Opfer von krassen Formen der Ausbeutung, Opfer einer
Niedriglohnjobs ausgeweitet und die Konkurrenz zwi-
unwürdigen und nicht hinnehmbaren Rechtlosigkeit.
schen Migrantinnen und Migranten mit den ansässigen
Einwohnerinnen und Einwohnern verschärft werden. Falls ein Regelungsentwurf dazu geeignet und in der
Die Linke ist für die Solidarität unter den Beschäftigten Lage ist, die Rechte der Saisonarbeiterinnen und Sai-
unterschiedlicher Länder, die von denselben Konzernen sonarbeiter aus Drittstaaten angemessen zu schützen,
und vom gleichen Kapital ausgebeutet und ausgeplün- werden wir uns dem im Grundsatz daher nicht versper-
dert werden. Deshalb fordert die Linke für die Menschen ren. Falls ein solcher Entwurf allerdings zu einer Viel-
Arbeit, die ein Auskommen garantiert, und gleiche zahl neuer Schlupflöcher, neuer Möglichkeiten von
Rechte für alle. Lohndumping und Ungleichbehandlung führt, dann
werden wir ihm ohne weitreichende Korrekturen nicht
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zustimmen können. In wesentlichen Punkten sehen wir
NEN): beim vorliegenden Entwurf noch deutlichen Korrektur-
Die Europäische Kommission hat zum 13. Juli dieses bedarf.
Jahres einen Richtlinienentwurf vorgelegt, mit dem sie
die Regelungen für Einreise und Aufenthalt von Dritt- Die Unklarheiten fangen bei der Höhe der Bezahlung
staatsangehörigen zum Zweck der Saisonarbeit europa- an. Die vorgeschlagenen Formulierungen zum zulässi-
weit vereinheitlichen will. Der Regelungsentwurf steht gen Mindestentgelt zeigen wieder einmal auf: Deutsch-
im Zusammenhang mit weiteren Legislativvorschlägen, land hat aufgrund fehlender Mindestlöhne einen blinden
die die Migration von Arbeitskräften in die Europäische Fleck im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten. Wir ha-
Union nach dem Willen der Union „gerecht, wirksam ben zwar ein System der Allgemeinverbindlicherklärung
und kohärent“ gestalten sollen. von Tarifverträgen und der Festlegung von branchen-
spezifischen Mindestlöhnen, nur leider kommt es wegen
Gerechtigkeit, Wirksamkeit und Kohärenz – in dieser der Blockadehaltung der schwarz-gelben Bundesregie-
Reihenfolge und Gewichtung – liegen auch der Bundes- rung nicht zur Anwendung. Das ist kein europäisches
tagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen am Herzen. Problem, das ist ein deutsches Problem. Ich kann nur ein
(B) Gerade deshalb muss genau geprüft werden, ob der weiteres Mal betonen, wie wichtig es ist, dass sich beim (D)
Richtlinienvorschlag die Ansprüche auch erfüllt. Aber Thema Mindestlöhne endlich etwas bewegt in unserem
dazu sind einige kritische Anmerkungen notwendig. Land.
Zunächst einmal ist zu diskutieren, ob das Vorgehen
Der Richtlinienentwurf hat aber auch viele interne
der Kommission, mit einer Vielzahl an einzelnen Richtli-
Mängel und Unklarheiten, die dringend korrigiert wer-
nien – heute wurde ja auch der Richtlinienentwurf zur
den müssen. Die Frage ist ungeklärt, welche Branchen
konzerninternen Entsendung debattiert – im Grundsatz
überhaupt für Saisonbeschäftigung infrage kommen.
sinnvoll ist. Eine Segmentierung der Rechte und Rege-
lungen für Beschäftigte innerhalb der Europäischen Der Schutz der Saisonbeschäftigten vor zu hohen Reise-
Union nach verschiedenen Kategorien mit jeweils unter- und Visumkosten, überzogenen Forderungen für ge-
schiedlichen Schutzniveaus und Sicherungsmodellen für stellte Verpflegung und horrenden Vermittlungsgebüh-
Saisonarbeiter, Hochqualifizierte, für Flüchtlinge, für ren muss gestärkt werden. Viele Fragen der sozialen Si-
Selbstständige und so fort kann von uns nicht gewünscht cherung der Beschäftigten sind nur unzureichend gelöst.
sein. Hier wäre ein Regelungsansatz zielführender, der Auch für Saisonarbeitnehmende muss das Verhältnis von
sich klarer und direkter am Grundsatz gleicher Behand- Einzahlung und Auszahlung bei der Sozialversicherung
lung und gleicher Bezahlung für EU-Angehörige und für fair und transparent sein. An vielen weiteren Stellen ist
Beschäftigte aus Drittstaaten orientiert, ein Ansatz, der noch gänzlich unklar, wie die Richtlinie im Detail umge-
von den Arbeitnehmerrechten her beginnt zu denken und setzt werden kann, um den Anspruch auf mehr Gerech-
nicht von der realen oder vermeintlichen Nachfrage tigkeit, Wirksamkeit und Kohärenz auch wirklich zu er-
nach Arbeitskräften. füllen.

Unabhängig von diesen Einwänden im Grundsatz Daher fordern wir die Bundesregierung auf, sich in
steht gleichwohl fest: Gerade Saisonarbeitnehmende den weiteren Verhandlungen im Europäischen Rat für
haben ein besonderes Schutzbedürfnis. Sie haben nur eine Verbesserung des Richtlinienentwurfes im Sinne der
zeitlich begrenzte Aufenthaltsrechte und arbeiten vor- Rechte der Beschäftigten einzusetzen. Die Bundesregie-
nehmlich in körperlich höchst anstrengenden Tätigkeits- rung trägt hier eine hohe Verantwortung sowohl den
feldern der Landwirtschaft oder im Gastgewerbe. Fra- Menschen aus Ländern außerhalb der EU als auch den
gen der Unterkunft, der Ernährung, vor allem auch der Beschäftigten aus den Mitgliedstaaten gegenüber. Bitte
gerechten Entlohnung spielen für sie eine zentrale Rolle. nehmen Sie diese Verantwortung entsprechend wahr und
Die Missbrauchsgefahr ist weit höher als bei anderen nehmen Sie die genannten Probleme und den Hand-
Formen der Beschäftigung. lungsbedarf ernst!

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9137

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bund den Ländern im Bildungs- und Forschungsbereich (C)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf ständig unter die Arme.
Drucksache 17/4045 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein- Um Ihnen nur einige Fakten in Erinnerung zu rufen,
verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. möchte ich auf den Hochschulpakt 2020, den Qualitäts-
pakt für gute Lehre, den Pakt für Forschung und Innova-
Ich rufe Tagesordnungspunkt 35 auf: tion, die Exzellenzinitiative, das Deutschlandstipendium
Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista und nicht zuletzt die letzte BAföG-Erhöhung verweisen.
Sager, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Ab- Für die zweite Laufzeit des Hochschulpaktes, der auf
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE den Ausbau von Studienplätzen und die Unterstützung
GRÜNEN der Forschung durch Programmpauschalen zielt, inves-
tiert der Bund über 5 Milliarden Euro. Für den Quali-
Überprüfung und Neuordnung der Forschungs- tätspakt Lehre, der die dritte Säule im Hochschulpakt
finanzierung – Transparente und verbindliche 2020 bildet, gibt der Bund rund 2 Milliarden Euro aus,
Verfahren sicherstellen – Wissenschaftsge- um die Studienbedingungen und die Lehrqualität an den
rechte Strukturen weiterentwickeln Hochschulen zu verbessern. So unterstützt der Bund
– Drucksache 17/3864 – massiv die Grundfinanzierung der Hochschulen und
übernimmt damit eine Aufgabe der Länder.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ebenso hanebüchen ist die Behauptung, die Ver-
Finanzausschuss pflichtungen der Länder in der Hochschul- und For-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie schungsfinanzierung würden wachsen. Stattdessen ist
Haushaltsausschuss der Trend genau gegenläufig, denn der Bund entlastet
Folgende Reden sind zu Protokoll gegeben worden: die Länder bei diesen Ausgaben immer stärker – und
Tankred Schipanski, René Röspel, Peter Röhlinger, Petra übernimmt damit auch ureigene Länderaufgaben.
Sitte, Krista Sager.
In einem Punkt muss ich Ihnen allerdings Recht ge-
ben: Die sogenannten Drittmittel können und sollen von
Tankred Schipanski (CDU/CSU): ihrer Anlage her keinesfalls die Grundfinanzierung der
Die Dagegen-Strategie der Grünen hat nun auch den Hochschulen ersetzen.
Bildungsausschuss erreicht. Die Grünen stemmen sich
gegen die Forschungsfinanzierung der christlich-libera- Bei Drittmitteln handelt es sich zumeist um pro-
len Koalition. Dies überrascht, stellt der Bund doch grammgebundene, zeitlich befristete und kompetitiv ver-
(B) (D)
mannigfach Forschungsgelder in transparenten, be- gebene Mittel, für die die Universitäten sich bewerben
währten Verfahren zur Verfügung. können, sodass nicht eine flächendeckende, gleiche För-
derung erfolgt. Damit sind sie also als leistungsorien-
Die Grünen verkennen wieder einmal die Realität, tierte Ergänzung gedacht, die aber zusätzlich zu einer
was die Verantwortung von Bund und Ländern in der stabilen, verlässlichen und vor allem ausreichenden
Hochschul- und Forschungsfinanzierung und die Wahr- Grundfinanzierung erfolgen muss.
nehmung dieser Aufgaben betrifft. Die Länder haben
ihren Einfluss an den Hochschulen bei der Föderalis- Damit sind wir wiederum im Verantwortungsbereich
musreform zwar vehement verteidigt, verweigern sich der Länder angekommen. Der Bildungs- und For-
jetzt jedoch einer adäquaten Finanzierung. schungslandschaft in Deutschland ist es insgesamt ganz
Der Bund erhöht seine Ausgaben im Forschungsbe- und gar nicht zuträglich, wenn die Länder dort, wo der
reich massiv. Wir haben den Haushalt drastisch zuguns- Bund seine Finanzierungsanstrengungen im Wissen-
ten von Bildungs- und Innovationsausgaben umgewich- schaftssystem ausbaut, die gewonnenen Spielräume
tet, was natürlich eine Frage der Prioritätensetzung ist, nicht für das Wissenschaftssystem, sondern – auch – zur
der die meisten Länder in dieser Form aber nicht folgen. Haushaltskonsolidierung nutzen. Doch dafür kann man
Dies leistet der Bund trotz Finanz- und Wirtschaftskrise wiederum den Bund nicht verantwortlich machen, der
sowie Schuldenbremse. Die Behauptung, die Länder seiner finanziellen Verantwortung zuverlässig nach-
könnten dies nicht auch tun, ist falsch. Wir sparen nicht kommt. Forschungspolitisch ist dieses Handeln der Län-
an der Zukunft, sondern für die Zukunft. Unseres Erach- der natürlich zu verurteilen, erst recht, wenn im gleichen
tens ist es zwingend notwendig, die Ausgaben in Bildung Atemzug der Ruf nach einem Mehr an Bundesunterstüt-
und Forschung auf einem hohen Niveau zu halten bzw. zung laut wird. Verhindern kann der Bund diese Haus-
zu steigern, um Deutschland als rohstoffarmes Land zu- haltspolitik einzelner Länder allerdings natürlich nicht.
kunftsfähig zu halten. Viele Länder ignorieren diese Not-
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Ihrem Antrag
wendigkeit bisher aber fahrlässigerweise. Das überge-
letztlich gar nicht das allgemeine Ansinnen zugrunde
ordnete Ziel der Bildungsrepublik Deutschland wird auf
liegt, die Forschungsfinanzierung in Deutschland neu zu
die Art und Weise gefährdet, obwohl der Bund sein Bes-
ordnen, sondern dass Sie eigentlich von einem konkreten
tes tut.
Anlass ausgehen. Sie leiten Ihre Aussagen ganz wesent-
Die Behauptung, die Ursache für die falsche Priori- lich von einem Einzelbeispiel ab, nämlich dem Wechsel
tätensetzung der Länder liege in der Steuerpolitik des des Forschungsinstituts für Meereswissenschaften,
Bundes, entbehrt jeder Grundlage. Vielmehr greift der IFM-GEOMAR, von der Leibniz- zur Helmholtz-Ge-
9138 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Tankred Schipanski
(A) meinschaft. Die Behauptungen, die Sie in diesem Zu- Umsetzung bei den für die Finanzierung Verantwortli- (C)
sammenhang aufstellen, sind mehr als fraglich. chen scheitert.
Mit dem Wechsel des IFM-GEOMAR soll die Meeres- Wenn Sie also mehr Verlässlichkeit für die Hochschu-
forschung in Deutschland entscheidend neu strukturiert len fordern, kann ich das vom Grundsatz her verstehen;
werden: Die damit einhergehende Zusammenlegung des doch im Adressaten irren Sie sich gewaltig. Diese For-
Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresfor- derung sollte nicht an den Bund gerichtet werden, der
schung in Bremerhaven mit dem IFM-GEOMAR wird zu sich durch Verlässlichkeit auszeichnet, sondern an die
guten Synergien und Strukturverbesserungen führen. Länder, die ihrer Bildungsverantwortung immer weni-
ger nachkommen.
Aktuell läuft der Prozess der Zusammenlegung. Be-
stimmte organisatorische und strukturelle Fragen müs-
sen noch geklärt werden, aber nach Abschluss der Um- René Röspel (SPD):
setzung wird ein gutes Ergebnis entstehen; davon bin ich Die deutsche Wissenschafts- und Forschungsland-
überzeugt. schaft befindet sich in einer schwierigen Situation. Der
internationale Wettbewerb um die besten Köpfe ist hart
Es ist festzuhalten, dass es sich hier um eine for- und wird in den nächsten Jahren nach Ende der Finanz-
schungspolitisch motivierte Zusammenlegung handelte, und Wirtschaftskrise eher noch intensiver werden. Neue
die sich für die deutsche Meeresforschung als vorteilhaft Länder rücken in die Gruppe der Staaten mit einer inter-
erweisen wird. Eine gewisse Beschleunigung im Verfah- national wettbewerbsfähigen Innovationslandschaft auf.
ren lässt sich natürlich nicht verleugnen; aber das Er- Durch die Fortschritte insbesondere in der Informa-
gebnis ist durchweg positiv. tions- und Kommunikationstechnologie hat der wissen-
Dass sich das Land Schleswig-Holstein – möglicher- schaftliche Fortschritt eine neue Dynamik erreicht. Von
weise auch infolge des Transfers – entschlossen hat, die der nationalen Politik ist in einer solchen Situation ein
Medizinerausbildung an der Universität Lübeck fortzu- klares Handeln und das Schaffen von Planungssicher-
führen, ist ein gutes und erfreuliches Ergebnis. Doch da- heit, von sicheren – mittel- und langfristigen – Finanzie-
bei handelt es sich um eine reine Länderangelegenheit; rungsperspektiven sowie von wissenschafts- und for-
der Bund hat damit nichts zu tun. Auch hier ist das Er- schungsfreundlichen Rahmenbedingungen zu fordern.
gebnis also positiv – und ich frage mich, worüber Sie Mit dem Pakt für Forschung und Innovation, der Ex-
sich überhaupt beschweren! zellenzinitiative sowie dem Hochschulpakt ist Deutsch-
Dass Sie aus diesem Einzelbeispiel eine negative Dy- land in vielen Aspekten gut aufgestellt. Während die ers-
namik ableiten, ist nicht nachvollziehbar. Der Bund ten beiden Pakte noch unter der Federführung von
(B) kann nicht verhindern, dass Begehrlichkeiten an ihn he- Edelgard Bulmahn auf den Weg gebracht wurden, wurde (D)
rangetragen werden. Aber entscheidend ist, wie damit der Hochschulpakt im Rahmen der Großen Koalition
umgegangen wird. Prinzipiell stehen die Länder in der von SPD und CDU/CSU vereinbart. Wir als SPD-Frak-
Finanzierungsverantwortung für ihre Hochschulen. Es tion können somit mit gutem Recht einen wesentlichen
führt kein Weg daran vorbei, dass sie endlich ihre Prio- Beitrag zur Stärkung des Wissenschaftsstandortes
ritäten im Haushalt verlagern und, wie der Bund, einen Deutschland für uns reklamieren.
Schwerpunkt auf die Finanzierung der schulischen und Vergleicht man nun die wissenschaftsgeleitete Entste-
universitären Bildung sowie in der Forschung setzen. hung und Umsetzung der drei Pakte mit den forschungs-
Der Bund wird auch in Zukunft nicht den Rettungsan- politischen Bemühungen der Regierung von FDP und
ker für eine verfehlte Bildungs- und Forschungspolitik CDU/CSU, so fällt das Resümee nüchtern aus. Der An-
einzelner Länder spielen. Es gibt also überhaupt keinen trag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen be-
Anlass, eine „Aushöhlung“ der Bund-Länder-Finanzie- schreibt die Aneinanderreihung von Pleiten, Pech und
rung der deutschen Forschung zu befürchten. Ich darf Pannen der jetzigen Regierung zutreffend. So warten wir
Sie somit beruhigen! als Parlament bis heute auf die Vorlage eines umfassen-
den Konzepts zur Wissenschaftsstärkung – meist voll-
Darüber hinaus bin ich erstaunt, wie ideenlos Ihr Lö- mundig als „Wissenschaftsfreiheitsinitiative“ bezeich-
sungsvorschlag für ein Problem, das Sie in Ihrem Antrag net. Auch die steuerliche Förderung von Forschung und
relativ dramatisch beschreiben, ist. Eine Strategie- Entwicklung wurde auf den Sankt-Nimmerleins-Tag ver-
gruppe möchten Sie gründen, die dann Vorgaben erar- schoben.
beiten soll. Als hätten wir nicht genug Beratungsgre-
mien! Bedenken Sie, dass die Gemeinsame Wissen- Stattdessen hat sich Bundesforschungsministerin
schaftskonferenz und damit auch die Länder an wichti- Schavan wiederholt als „Ministerin für Ad-hoc-Be-
gen Entscheidungen beteiligt sind. Dies ist eine transpa- schlüsse“ hervorgetan. Zwei Beispiele aus der jüngeren
rente, offene und verbindliche Verfahrensweise. Vergangenheit machen dies deutlich: Nachdem das
unionsgeführte Bundesland Schleswig-Holstein ankün-
Da die finanzielle Ausstattung der Wissenschaft digte, die renommierte Universität Lübeck de facto ka-
durch den Bund so gut wie nie zuvor ist, kann ich nur putt zu sparen, indem man die Mediziner-Ausbildung ab-
nochmals betonen: Die Länder sind endlich am Zug, ih- wickeln wollte, begann ein hektisches Treiben aufseiten
ren Teil der gemeinsamen Verpflichtungen einzuhalten. des BMBF. Die Bundesregierung verweigerte in zwei
Da nützt auch keine Strategiegruppe etwas, die schöne Fragestunden des Bundestages den Abgeordneten jed-
Konzepte entwickelt, wenn es schon an der praktischen wede Auskunft über die Pläne der Bundesministerin,

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9139
René Röspel
(A) welchen Beitrag der Bund zur Rettung der Uni Lübeck des endlich wieder auf eine solide und transparente Ba- (C)
leisten könnte. Umso überraschender war der nur einen sis zu stellen, werden wir in den Ausschussberatungen
Tag nach der zweiten Fragestunde auf einer Pressekon- noch einmal intensiver zu diskutieren haben. In einem
ferenz angekündigte Wechsel des IFM-GEOMAR von Punkt aber sind wir uns sofort einig: Der wissenschafts-
der Leibniz- zur Helmholtz-Gemeinschaft. Es gab für politische Irrflug des Bundes in den letzten Monaten
diesen Wechsel keine wissenschaftspolitischen Gründe. muss ein Ende haben.
Es gab keine Befassung des Wissenschaftsrates mit die-
sem Vorstoß. Es gab keine Beteiligung der betroffenen
Dr. Peter Röhlinger (FDP):
Einrichtungen. Frau Schavan musste verhindern, dass
das angedrohte Streichkonzert von Ministerpräsident Forschung, Innovationen und neue Technologien sind
Carstensen auch ihre Reputation als „Innovationsminis- die Grundlagen für künftigen Wohlstand. Sie sind die
terin“ beschädigt. Der Schaden dieses Winkelzuges für Quellen von wirtschaftlichem Erfolg, von Wachstum und
die Wissenschafts- und Forschungslandschaft ist bis Beschäftigung. Hier werden Antworten auf die Heraus-
heute nicht abzusehen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion forderungen unserer Zeit gesucht und manchmal auch
haben daher eine ausführliche Große Anfrage an die gefunden – für Klima- und Umweltschutz, beim Kampf
Bundesregierung gerichtet. Dass die Bundesregierung gegen Krankheiten, gegen Hunger und Armut zum Bei-
bis Ende Februar 2011 benötigt, um diese Anfrage zu spiel. Deshalb ist es wichtig, dass in Deutschland, dem
beantworten, zeigt, wie intensiv das Bundesministerium „Land der Ideen“, neue Technologien entwickelt und
nach Formulierungen suchen muss, um den parteitakti- zur Anwendung gebracht werden. Deshalb ist es wichtig,
schen Winkelzügen von Frau Schavan einen wissen- dass wir eine technik- und innovationsfreundliche Ge-
schaftspolitischen Anstrich zu verpassen. Wir freuen uns sellschaft bleiben oder wieder werden.
auf die Debatte über die Große Anfrage. Das zweite Bei- Der Deutsche Bundestag kann dazu beitragen, indem
spiel für die forschungspolitische Irrfahrt von Frau er die rechtlichen Rahmenbedingungen innovations-
Schavan ist die Ankündigung der Einführung von Pro- freundlich ausgestaltet und zum Beispiel für finanzielle
grammkostenpauschalen für BMBF-geförderte Pro- Verlässlichkeit und für Gestaltungsfreiheit sorgt. Ich bin
jekte. Um eines klarzustellen: Wir unterstützen die Ein- davon überzeugt, dass Wissenschaft und Forschung
führung von Programmkostenpauschalen. Aber wir als mehr Flexibilität und Gestaltungsspielraum brauchen.
SPD-Bundestagsfraktion haben auch den Anspruch, Sie müssen die Möglichkeit haben, exzellentes Personal
dass die Ausgestaltung der Programmkostenpauschalen zu gewinnen. Sie müssen bei Bedarf national und inter-
wissenschaftsorientiert erfolgt. Frau Schavan hingegen national kooperieren können. Die Möglichkeiten für
hat die Programmkostenpauschalen in den Verhandlun- Unternehmensbeteiligungen und Ausgründungen sind
gen zur BAföG-Erhöhung genutzt, um die Bundesländer durchaus verbesserungsfähig. Wissenschaft und Wirt- (D)
(B)
mittelbar zu „entschädigen“. Wenn nun das Bundesfor- schaft könnten noch enger vernetzt und verzahnt wer-
schungsministerium behauptet, dass es sich bei der Ein- den.
führung der Programmkostenpauschale von zunächst
10 und später 20 Prozent nicht um ein „Tauschgeschäft“ Wie Sie wissen, komme ich aus Jena. In dieser Stadt
in den BAföG-Verhandlungen handelte, so kann man haben nach der Wende alle Fraktionen gemeinsam ver-
hierüber – das aber nur wegen der Adventszeit – nur sucht, die vorhandenen Kompetenzen für die aktuelle
milde lächeln. Nicht lächeln werden hingegen die Bun- Situation zu nutzen. Das ist gelungen, auch mit Unter-
desländer. Denn es ist – auch dies beschreibt der Antrag stützung der Landes- und der Bundesregierung. Die gu-
von Bündnis 90/Die Grünen richtig – absehbar, dass die ten Ergebnisse sind auf verschiedenen Feldern zu be-
forschungsstarken Bundesländer durch die Programm- sichtigen – bei den Arbeitsmarktdaten, aber auch bei der
kostenpauschalen überdurchschnittlich profitieren, wo- Anzahl von Patenten und von Auszeichnungen für Wis-
hingegen die weniger forschungsstarken, aber etwa in senschaftler an universitären oder außeruniversitären
der Lehre hervorragenden Universitäten negative Aus- Forschungseinrichtungen.
wirkungen zu befürchten haben.
Die Forschungsfinanzierung ist ein wichtiges Thema,
In beiden Beispielen waren wahl- und/oder parteitak- und auf die Weiterentwicklung wissenschaftsgerechter
tische Erwägungen Antrieb für wissenschaftspolitische Strukturen, wie es in der Überschrift Ihres Antrages
Entscheidungen. Dies kann und darf nicht so weiter- heißt, kommt es genau an. Ihr Antrag zielt allerdings in
gehen. Man mag Frau Schavan anrechnen, dass sie eine ganz andere Richtung. Sie beklagen, dass wettbe-
versucht, die unterirdische Wissenschafts- und For- werblich vergebene Drittmittel sich ungleichmäßig und
schungspolitik des Landes Schleswig-Holstein zumin- diskontinuierlich auf die Disziplinen, die Regionen und
dest teilweise kompensieren zu wollen. Sie tut dies die Einrichtungen verteilen. Die gleichmäßige Vertei-
jedoch auf eine Art und Weise, die mit einer wissen- lung – man nennt das auch das Gießkannenprinzip – ist
schaftsgetriebenen und transparenten Gestaltung der jedoch nach meiner Überzeugung eben nicht wissen-
Forschungslandschaft bestenfalls nur noch wenig zu tun schaftsgerecht.
hat.
Die Entscheidung, das Kieler Institut für Meeresfor-
Aus diesen Gründen begrüßen wir den Vorstoß der schung, IFM-GEOMAR, in die Helmholtz-Gemeinschaft
Grünen und den vorliegenden Antrag. Ob die Einrich- zu überführen, führt zur Stärkung der Meeresforschung
tung einer „Strategiearbeitsgruppe“ der beste Weg ist, in der Helmholtz-Gemeinschaft und verspricht Syner-
um die Wissenschafts- und Forschungspolitik des Bun- gien zwischen dem Alfred-Wegener-Institut für Polar-

Zu Protokoll gegebene Reden


9140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Peter Röhlinger


(A) und Meeresforschung, AWI, in Bremerhaven, dem IFM- schreibung einer Schuldenbremse für Bund und Länder (C)
GEOMAR und der Kieler Universität. im Grundgesetz. Auch diese Vorgaben haben mindestens
FDP, Union und SPD mitgetragen. Die Kolleginnen und
Die vom Bund und von den Ländern gemeinsam ge-
Kollegen von den Grünen und der SPD unterstützen der-
tragene Forschungsfinanzierung wird von unserer Seite
zeit sogar die Verankerung einer Schuldenbremse in der
nicht nur nicht infrage gestellt, sondern auch vorbildlich
ausgefüllt. Noch in keiner Legislaturperiode wurden so hessischen Landesverfassung.
viele Mittel für Forschung und Entwicklung bereitge- Dieses Entscheidungsgefüge hat das deutsche Hoch-
stellt wie in dieser Legislaturperiode. schul- und Wissenschaftssystem in eine Sackgasse ma-
Die von Ihnen geforderte Strategiearbeitsgruppe növriert. Als Symbol für diese Sackgasse stehen die ge-
werden wir sicher nicht einrichten. Wir brauchen keine scheiterten Bildungsgipfel des vergangenen Jahres. Die
zusätzlichen Gremien. Wir sind der Meinung, dass die Länderausgaben für Bildung und Forschung stagnieren,
Gemeinsame Wissenschaftskonferenz sich bewährt hat viele Bundesländer kündigen Sparprogramme in diesen
und im Hinblick auf die gemeinsame Forschungsförde- Bereichen an. Unterfinanzierte Länderhaushalte sind
rung von Bund und Ländern gute Arbeit leistet. Gesprä- der Mammutaufgabe einer notwendigen Bildungsexpan-
che mit Führungskräften zum Beispiel der Max-Planck- sion nicht gewachsen. Man kann einem Gewichtheber,
Gesellschaft und der Leibniz-Gemeinschaft bestätigen der einen Weltrekord reißen soll, vor diesem Kraftakt
dies. nicht die Luft abdrücken und die Nahrung verweigern!
Meine Damen und Herren von den Grünen, wir küm- Nun beobachten wir die hilflosen Reparaturversuche
mern uns um die Weiterentwicklung wissenschaftsge- des Bundes: Manche sind langfristiger Natur wie die
rechter Strukturen. Das hat etwas mit Wettbewerb und Ausweitung der Projektförderung, der Zuweisungen
Leistungsorientierung zu tun, aber sicher nicht mit wei- über die DFG oder der zweiten Runde der Exzellenzini-
teren Gremien und gleichmäßiger Verteilung. Deshalb tiative. Manchmal muss die Ministerin ganz kurzfristig
können wir Ihrem Antrag nicht unsere Zustimmung ge- einspringen – etwa wenn die unionsgeführte Landes-
ben. regierung in Schleswig-Holstein entscheidet, dass nur
noch eine Universität im Land, nämlich die in Kiel, gut
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): genug für den Exzellenzwettbewerb sein soll, weil man
Wir reden heute über sachfremde Koppelgeschäfte sich nur noch eine solche Uni leisten kann. Im Gegenzug
dieser schwarz-gelben Bundesregierung mit einem oder soll eine traditionsreiche Universitätsklinik aufgegeben
mehreren Bundesländern – Koppelgeschäfte, die not- werden. Der Philosoph Walter Benjamin prägte den Be-
wendig werden, weil falsche politische Grundentschei- griff der Monade, eines Zeitpunkts, an dem verschiedene (D)
(B) dungen gesellschaftlich gewünschte Anliegen wie eine
Entwicklungen sich zu einem klaren Bild kristallisieren.
Erhöhung der Ausbildungsförderung oder den Betrieb Eine solche Situation liegt hier vor: das offensichtliche
einer traditionsreichen Universitätsklinik unmöglich Eingeständnis eines Bundeslandes, dass es im Rennen
machen. um Exzellenz und Elite kraft seiner Haushaltslage nicht
Die erste falsche Grundentscheidung der letzten Bun- mehr mithalten kann, ohne Schnitte in die wissenschaft-
desregierungen war die Idee, mit Steuersenkungen ein liche Substanz vorzunehmen. Damit droht die ganze
selbstfinanzierendes Perpetuum mobile zu schaffen. Un- Ideologie des Wettbewerbsföderalismus und der Dritt-
bändiges Wirtschaftswachstum sollte die Einnahmeaus- mittelexpansion zu kippen.
fälle mehr als ausgleichen, sodass für alle Bereiche eine
Win-win-Situation entstehen würde. Dieser quasireli- Die Bundesministerin verhandelte daraufhin mit ih-
giösen Glaubenslehre hängt inzwischen nur noch die rem Parteikollegen Ministerpräsident Carstensen, was
FDP an, aber in den vergangenen zehn Regierungsjah- sie bis zum Tag der Ergebnisverkündung leugnete. Die
ren haben alle regierenden Parteien diese Idee mit ver- Ministerin nutzte die unterschiedlichen Finanzierungs-
heerenden Folgen für die Bildungs- und Wissenschafts- schlüssel der Forschungsorganisationen, um dem Land
landschaft verfolgt. Da bilden leider auch die Grünen Schleswig-Holstein die benötigten 25 Millionen Euro
keine Ausnahme, die das Problem jetzt hier lautstark be- jährlich aus der Bundeskasse zukommen zu lassen. Aber
klagen. um welchen Preis? Der Prozess der Profilierung der
vier Forschungsorganisationen, die jede für sich in ih-
Nach Berechnungen des DGB haben die Steuerrefor- rem eigenen Profil größten Wert auf Autonomie und Re-
men der rot-grünen, der schwarz-roten und jetzt der putation legen, wurde per Handstreich delegitimiert.
schwarz-gelben Koalition die Bundesländer jedes Jahr Bisher ging der Aufnahme eines Instituts in die überwie-
zwischen 10 und 20 Milliarden Euro Einnahmen gekos- gend bundesfinanzierte Helmholtz-Gemeinschaft ein
tet, der Bund ist mit Ausfällen in Höhe von 4 bis 21 Mil- jahrelanger wissenschaftsgeleiteter Prozess der Eva-
liarden Euro betroffen. Es verwundert kaum, dass luierung und Qualitätssicherung voraus. Nun ist klar:
Deutschland sich in den Rankings bezüglich der Bil- Alles Gerede von Wissenschaftsfreiheit und Autonomie
dungs- und Forschungsausgaben kaum verbessert – es
ist Makulatur, wenn die Hütte brennt. Dann übernimmt
fehlt schlicht das Geld in den öffentlichen Kassen.
der Bund schon einmal ein Institut – auch gegen den
Die zweite verheerende Weichenstellung war die Ab- Willen der Institutsleitung, der betreffenden For-
gabe fast aller Kompetenzen in Bildung und Wissen- schungsorganisation und der benachbarten Universität
schaft an die Bundesländer und die gleichzeitige Fest- und ohne Empfehlung des Wissenschaftsrates.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9141
Dr. Petra Sitte
(A) Natürlich ist es richtig, die Uniklinik in Lübeck zu er- Lassen Sie uns lieber konsequent an deren Lösung ar- (C)
halten. Aber was Ministerin Schavan da betrieben hat, beiten.
löst keine Probleme, sondern zog weitere nach sich.
Denn es wird zu ähnlich gelagerten strukturellen Ein- Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
schnitten in anderen Ländern kommen; das deutet sich
Es ist höchste Zeit, einen kritischen Blick auf die Ent-
schon an. Was dann? Wird die Ministerin auch einem
wicklung der Forschungsfinanzierung in Deutschland
SPD-geführten Land helfen?
zu werfen.
Mit einer ähnlichen Feuerwehraktion wurde die drin- Die Finanzierungsbedingungen für öffentlich geför-
gend notwendige BAföG-Erhöhung durchgesetzt. Die derte Forschung klaffen immer stärker auseinander, mit
Länder konnten diese nicht gegenfinanzieren und for- negativen Folgen für das gesamte Wissenschaftssystem.
derten die komplette Kostenübernahme vom Bund. Die- Die außeruniversitären Forschungseinrichtungen und
ser bot hingegen ein Koppelgeschäft an: Der Bund ver- die Deutsche Forschungsgemeinschaft erhielten im Rah-
sprach 136 Millionen Euro Forschungszuschüsse für men der von Bund und Ländern gemeinsam getragenen
eine Zustimmung der Länder, die 173 Millionen Euro Forschungsfinanzierung durch den Pakt für Forschung
Mehrkosten durch die BAföG-Erhöhung zu tragen. Das und Innovation garantierte jährliche Aufwüchse und
Problem: Das Geld kommt nicht in den Länderhaushal- langfristige Planungssicherheit. Dies ist durchaus eine
ten, sondern an den Hochschulen an, und es wird nach begrüßenswerte Entwicklung.
dem Anteil der eingeworbenen BMBF-Drittmittel ver-
teilt. Nur ein Land hat wirklich per Saldo ein nennens- Dagegen steht die von den Ländern zu leistende
wertes Plus bei diesem Deal: Baden-Württemberg, das Grundfinanzierung der Hochschulen für Forschung und
Heimatland der Ministerin selbst. Lehre seit Jahren unter dem Druck klammer Länder-
haushalte. Von garantierten Aufwüchsen kann da keine
Die Situation der Ministerin gleicht einem Menschen, Rede sein. Im Gegenteil, aktuell kürzen viele Länder, wie
der sich im Moor verirrt hat. Jedes hektische Rudern zum Beispiel Bayern, Hessen oder Thüringen, gerade
lässt einen noch tiefer in den Schlamassel sinken. Statt- wieder bei der Grundfinanzierung für ihre Hochschulen.
dessen müssen die Grundübel angepackt werden. Wir Nicht nur die Folgen der Wirtschaftskrise auf die öffent-
brauchen eine Stabilisierung der Grundfinanzierung der lichen Haushalte und die Schuldenbremse sorgen für ei-
Hochschulen, damit diese eine nachhaltige Entwick- nen erheblichen Spardruck; die Steuerpolitik der Bun-
lungsplanung betreiben können. Dies dient nicht nur der desregierung hat den Druck auf die Länderfinanzen
echten grundgesetzlich garantierten Wissenschaftsfrei- noch zusätzlich erhöht.
heit, sondern eröffnet auch die Möglichkeit, mittels Per-
(B) sonalentwicklung dem wissenschaftlichen Nachwuchs Die Länder stehen also vor dem Problem, dass sie (D)
verlässliche Karrierewege anbieten zu können. Zudem ihre eigenen Hochschulen nicht mehr aufgabengerecht
wird die Lehre gestärkt, denn Studierende haben von ausstatten können, aber ihre Mitfinanzierungsverpflich-
Drittmittelboom und Exzellenzhype vor allem Nachteile. tungen für den Pakt für Forschung und Innovation er-
heblich ansteigen und der Bund ihnen gleichzeitig das
Schaffen Sie das Kooperationsverbot ab und verein- Geld aus der Tasche zieht, zum Beispiel für Hotelsub-
baren Sie eine dauerhafte und verlässliche Gemein- ventionen.
schaftsfinanzierung für wichtige Bildungsaufgaben!
Und nicht zuletzt: Verzichten Sie auf das geplante Allein 2011 bis 2015 müssen die Länder mindestens
Steuersenkungspaket! Vielmehr muss über eine effektive 1,6 Milliarden Euro für zusätzliche Komplementärmittel
Vermögensbesteuerung und einer Erhöhung des Spitzen- für die gemeinsame Forschungsfinanzierung aufbrin-
steuersatzes nachgedacht werden, wie das DIW gerade gen. Zwar fließen über die Deutsche Forschungsge-
in einer aktuellen Studie empfohlen hat. meinschaft erhebliche zusätzliche Drittmittel an die Uni-
versitäten; nur können diese Drittmittel die fehlenden
Bei der Steuerung der außeruniversitären Wissen- Grundmittel der Hochschulen beileibe nicht kompensie-
schaftsorganisationen kommt es auf Verlässlichkeit und ren. Drittmittel werden wettbewerblich vergeben und
eine transparente Positionierung der Zuwendungsgeber verteilen sich naturgemäß ungleichmäßig auf die Fä-
aus Bund und Ländern an. Die Politik sollte klare Ziel- cher, Hochschulen und Regionen. Fachhochschulen pro-
vereinbarungen mit den Einrichtungen treffen, deren Ef- fitieren zum Beispiel so gut wie gar nicht. Mit steigen-
fektivität ohne Sanktionen wohl nicht gewährleistet wer- dem Anteil der Drittmittel an der Gesamtfinanzierung
den kann. Der Pakt für Innovation und Forschung muss wachsen nicht nur der Verwaltungsaufwand und die
noch viel klarer herausstellen, was die Gesellschaft von Transaktionskosten, sondern vor allem der Anteil des
der Forschung erwartet und welchen Grad an finanziel- wissenschaftlichen Personals, das nur noch befristet be-
ler Sicherheit und Autonomie sie der Wissenschaft ge- schäftigt wird. Drittmittel sind eine sinnvolle Ergänzung
währt. zu Grundmitteln; aber sie taugen nicht dazu, die solide
Finanzierung der Daueraufgaben in Forschung und
Der vorliegende Antrag der Grünen beschreibt die Lehre zu ersetzen.
Problemlagen sehr treffend, bietet als Lösung aber le-
diglich die Einrichtung einer Strategiearbeitsgruppe an. Die von Bund und Ländern gemeinsam finanzierten
Das finde ich unnötig: Wir haben den Wissenschaftsrat, Forschungseinrichtungen sind sehr ungleichmäßig über
in dem Wissenschaft, Wissenschaftsforschung und Poli- die Republik verteilt, und der Bundesanteil variiert je
tik vertreten sind. Die Probleme liegen auf dem Tisch. nach Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen For-

Zu Protokoll gegebene Reden


9142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Krista Sager
(A) schungsgemeinschaften von 50 bis 90 Prozent. Entspre- eine gewaltige Inspirationsquelle für die Bundesländer, (C)
chend profitieren die Länder sehr unterschiedlich von die anfangen könnten zu überlegen, wie sie ihre Pro-
der gemeinsamen Forschungsfinanzierung. Dabei spielt bleme bei der Grundfinanzierung der Hochschulen kom-
nicht nur die Leistung, sondern oft auch der historische pensieren können. So formuliert der stellvertretende Ge-
Zufall eine Rolle. So gibt es in Ostdeutschland sehr we- neralsekretär des Stifterverbandes in der FAZ bereits:
nig mit 90 Prozent Bundesmitteln finanzierte Einrich- „Bundesuniversitäten? Gibt es längst!“ Welches Bun-
tungen der Helmholtz-Gemeinschaft und der Fraunho- desland würde sich seine Unis oder Teile davon nicht
fer-Gesellschaft, aber viele Leibniz-Institute, was eine auch gerne vom Bund finanzieren lassen?
höhere Belastung für das Sitzland und eine geringere
Rein finanz- und machtpolitisch motivierten Geschäf-
Bundesfinanzierung bedeutet. Auch große Sammlungen
ten zwischen Bund und Ländern muss konsequent der
und Museen werden in einigen Bundesländern nach dem
Riegel vorgeschoben werden. Bund und Länder müssen
Leibniz-Mechanismus finanziert. Schon jetzt haben ei-
wieder zu transparenten, verbindlichen und wissen-
nige Bundesländer erklärt, dass sie nicht in der Lage
schaftsgeleiteten Verfahren finden. Gleichzeitig muss
sind, die Aufwüchse für ihre Leibniz-Einrichtungen zu fi-
dringend überprüft werden, inwieweit die bisherigen
nanzieren. Es kann aber nicht sein, dass die Entwick-
Modalitäten der Forschungsfinanzierung noch ziel- und
lungsmöglichkeit hervorragend evaluierter Institute da-
aufgabengerecht sind und wo das System systematisch
von abhängig ist, ob sie sich in einem armen oder einem
Fehlanreize produziert.
reichen Bundesland befinden.
Wir fordern in unserem Antrag daher die Einrichtung
Es kann nicht verwundern, dass vor diesem Hinter-
einer zeitlich befristeten Strategiearbeitsgruppe unter
grund in vielen Ländern inzwischen rein finanzpolitisch
Beteiligung von Wissenschaft und Politik, Bund und
motivierte Überlegungen die Oberhand gewinnen, wie
Ländern. Diese Arbeitsgruppe soll Vorschläge ent-
und mit welchen Kniffen das jeweilige Land mehr von
wickeln, wie Fehlanreize und Schieflagen verhindert
den gemeinsam finanzierten Forschungsmitteln profitie-
werden können und wie die bisherigen Strukturen der
ren kann. Im Sog dieser Überlegungen werden For-
Forschungsfinanzierung aufgabenadäquat und wissen-
schungseinrichtungen und Forschungspolitik zum
schaftsgeleitet weiterentwickelt werden sollen. Ziel muss
Spielball rein fiskalischer Interessen, und wissen-
sein, zu einer aufgabenadäquaten, wissenschaftsgeleite-
schaftsgeleitete Strukturen und Verfahren treten in den
ten und nachhaltigen Finanzierung der außeruniversitä-
Hintergrund.
ren und der universitären Forschung zu kommen.
Schlimmerweise forciert die Bundesregierung diese
Ich hoffe, dass Sie unsere Initiative aufgreifen. Wir
Entwicklung durch eigene manipulative Eingriffe, wie
sollten uns im Ausschuss sehr ernsthaft mit diesen Pro-
durch die Verschiebung des Leibniz-Instituts IFM-GEO-
(B) blemen auseinandersetzen. Die Gefahren für das deut- (D)
MAR in Kiel zur Helmholtz-Gemeinschaft. Ziel der Ope-
sche Wissenschaftssystem, die entstehen, wenn man den
ration war es, den Finanzanteil des Bundes von 50 auf
Dingen einfach ihren Lauf lässt, halte ich für sträflich
90 Prozent zu erhöhen, um offensichtlich die Zustim-
unterschätzt.
mung Schleswig-Holsteins zum Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetz zu vergolden und die in diesem Bundesland
selbst entstehenden Steuerausfälle ein wenig auszuglei- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
chen. Dabei wurden weder der Wissenschaftsrat noch Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
das betroffene Institut vorher beteiligt. Dem GEOMAR Drucksache 17/3864 an die in der Tagesordnung aufge-
drohen jetzt Einnahmeausfälle von 10 bis 11 Millionen führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
Euro jährlich, die es bisher zum Beispiel für Sonderfor- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
schungsbereiche von der DFG eingeworben hat. Solche so beschlossen.
finanz- und machtpolitischen Manöver sind brandge- Es ist geschafft.
fährlich für die Legitimation der Bund-Länder-For-
schungsfinanzierung. Denn sie bringen die wissenschafts- (Beifall)
geleiteten Strukturen der Forschungsfinanzierung immer Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
weiter ins Trudeln, zum Schaden des gesamten Wissen- nung.
schafts- und Forschungssystems.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
Ebenfalls von unterschätzter Sprengkraft für die Zu- destages auf morgen, Freitag, den 17. Dezember 2010,
kunft der gemeinsamen Forschungsfinanzierung sind 9 Uhr, ein.
aber auch Projekte wie die Verschmelzung der Uni
Karlsruhe mit dem außeruniversitären Forschungszen- Die Sitzung ist geschlossen.
trum Karlsruhe zum KIT, das als Helmholtz-Einrichtung
Kommen Sie gut durch die Winternacht!
zu 90 Prozent vom Bund finanziert wird. Solche Modelle
der Einverleibung von Forschungseinrichtungen sind (Schluss: 22.50 Uhr)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9143

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2
Liste der entschuldigten Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: 60 Jahre Charta der
Bätzing-Lichtenthäler, SPD 16.12.2010 deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung
Sabine vollenden (Tagesordnungspunkt 15)

Brunkhorst, Angelika FDP 16.12.2010 Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Ich verstehe
nicht, warum Sie diesen Antrag jetzt vorlegen. Der
Bülow, Marco SPD 16.12.2010 60. Jahrestag der „Charta der Heimatvertriebenen“ war
im August. Mittlerweile ist Dezember. Sie hatten vier
Burchardt, Ulla SPD 16.12.2010 Monate Zeit, einen ordentlichen Antrag zu verfassen.
Das hier ist ein unbedachter Schnellschuss – als hätte je-
Friedhoff, Paul K. FDP 16.12.2010 mand festgestellt: Das Jahr geht plötzlich zu Ende. Sie
hätten den Antrag erst einmal in Ruhe in Ihren Fraktio-
Haibach, Holger CDU/CSU 16.12.2010* nen beraten sollen, bevor Sie ihn auf die Tagesordnung
im Plenum setzen, wie es den normalen parlamentari-
Hempelmann, Rolf SPD 16.12.2010 schen Gepflogenheiten entspricht.
Ich verstehe auch nicht, warum Herr Neumann und
Hintze, Peter CDU/CSU 16.12.2010
Herr Westerwelle in ihren Fraktionen nicht eingeschrit-
ten sind. Der Antrag wirkt, als hätten wir die letzten
Lötzer, Ulla DIE LINKE 16.12.2010 Jahre nicht über das Thema debattiert, als hätte es keinen
Parlamentsbeschluss zur Stiftung „Flucht, Vertreibung,
Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 16.12.2010 Versöhnung“ gegeben, als wäre die Regierung untätig
DIE GRÜNEN geblieben.
Nord, Thomas DIE LINKE 16.12.2010 Es ist eine bizarre Situation: Ich als Oppositionspoli-
(B) tiker muss Ihnen erklären, was Ihre Regierung bisher un- (D)
Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ 16.12.2010 ternommen hat und welche Position Ihre Minister vertre-
DIE GRÜNEN ten. Aber da es in Ihren Fraktionen bisher niemand ge-
macht hat, übernehme ich das jetzt:
Özoğuz, Aydan SPD 16.12.2010
Erstens: Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-
Pols, Eckhard CDU/CSU 16.12.2010 nung“ muss nicht „vorangebracht“ werden, wie es in Ih-
rem Antrag heißt. Sie besteht bereits und hat in diesem
Jahr – endlich – konzeptionelle Eckpunkte für die Dau-
Rix, Sönke SPD 16.12.2010
erausstellung vorgelegt. Die Stiftung erhält jährlich
2,5 Millionen Euro. Im nächsten Jahr wird es einen Ar-
Schlecht, Michael DIE LINKE 16.12.2010
chitektenwettbewerb zur baulichen Gestaltung des
Deutschlandhauses geben. Das hat der BKM im Septem-
Schmidt (Aachen), Ulla SPD 16.12.2010** ber dieses Jahres mitgeteilt. – Was die Stiftung wirklich
„voranbringen“ würde, wäre der Rückzug von Arnold
Scholz, Olaf SPD 16.12.2010 Tölg und Hartmut Saenger, also der beiden kritisierten
stellvertretenden Stiftungsratsmitglieder des BdV. So
Schreiner, Ottmar SPD 16.12.2010 ließe sich der Zentralrat der Juden vielleicht wieder für
eine Mitarbeit gewinnen.
Dr. Schwanholz, Martin SPD 16.12.2010
Zweitens: Die Bundesregierung hat ein akademisches
Süßmair, Alexander DIE LINKE 16.12.2010 Förderprogramm zur „Erhaltung und Auswertung deut-
scher Kultur und Geschichte im östlichen Europa“ auf-
Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 16.12.2010 gelegt und dafür im nächsten Jahr 800 000 Euro zur Ver-
fugung gestellt. Bis 2014 sollen es 3,2 Millionen Euro
Ziegler, Dagmar SPD 16.12.2010 sein. – Ich halte das für übertrieben, weil ich den postu-
lierten Nachholbedarf in der Forschung nicht erkennen
kann. – Aber dass die Koalition die eigene Regierung
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
auffordert, mehr für die Forschung in diesem Bereich zu
sammlung des Europarates tun, nachdem sie gerade erst ein Förderprogramm be-
** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- schlossen hat, finde ich schon seltsam. Ich gehe auch da-
sammlung der NATO von aus, dass Herr Neumann die Gelder nicht konzep-
9144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) tionslos vergeben wird, wie es ihm die eigene Fraktion und dessen Folgen – ein Alibisatz. Die historische Ein- (C)
irgendwie unterstellt. ordnung der Vertreibung der Deutschen fehlt völlig.
Drittens: Sowohl Bundestagspräsident Norbert Bereits im ersten Absatz des Antrages heißt es:
Lammert als auch Minister Thomas de Maizière haben
sich gegen den Vorschlag gewandt, den 5. August zum Die Deutschen nehmen Vertreibungen auch deshalb
bundesweiten Gedenktag für die Opfer von Vertreibung mit besonderer Sensibilität wahr, weil sie selbst in
zu erheben. Für den Bundestagspräsidenten gibt es in- ihrer jüngeren Geschichte massiv davon betroffen
zwischen so viele routinemäßige Jahrestage, dass der waren.
„eigentliche Zweck“ solcher Gedenktage damit „eher Vielmehr müsste der Satz lauten: Die Deutschen neh-
versperrt als wirklich akzentuiert“ werde. Aus Sicht des men Vertreibungen auch deshalb mit besonderer Sensibi-
Innenministers bietet der Volkstrauertag gute Möglich- lität wahr, weil sie selbst in ihrer jüngeren Geschichte
keiten des Gedenkens. Ich stimme beidem ausdrücklich massiv andere Völker vertrieben, unendliches Leid über
zu und fordere Sie auf, werte Kollegen der Regierungs- sie gebracht haben, andere Völker vernichteten und in-
fraktion, es auch zu tun. folgedessen auch selbst von Vertreibungen betroffen wa-
Ich möchte nun ein paar Anmerkungen zum Antrag ren.
und zur Charta der Heimatvertriebenen machen. Ich kann auch nicht nachvollziehen, warum Sie von
Frau Steinbach hat am 5. August bei der Festveran- der Stigmatisierung der Vertriebenen sprechen. Es hat zu
staltung zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich um Beginn der Bundesrepublik gewiss Diskriminierung von
ein Zeitzeugnis handelt, das im historischen Kontext er- Vertriebenen gegeben. Sie wurden von der ansässigen
läutert werden muss. Die Charta hat zur Integration von Bevölkerung als Eindringlinge behandelt. Es war eben
Millionen von Vertriebenen beigetragen – auch und ge- eine „kalte Heimat“, in die sie gekommen sind. In der
rade durch den Verzicht auf Rache und Vergeltung. DDR wurde ihr Schicksal völlig tabuisiert. Aber heute
Mehrfach haben aber Historiker darauf hingewiesen, noch davon zu sprechen, es sei längst überfällig, „die
dass man nur auf etwas verzichten kann, worauf man ei- Stigmatisierung der Opfer von Flucht und Vertreibung
nen Anspruch hat. Die Deutschen hatten aber nach dem sowie deren Nachkommen zu beenden“, missachtet die
von ihnen begonnenen Krieg keinen Anspruch, kein große Integrationsleistung der alten Bundesrepublik und
Recht auf Rache – darin sind wir uns hoffentlich einig. die Anstrengungen der Vertriebenen, die nicht genug ge-
würdigt werden können.
Der von Deutschland begonnene Weltkrieg mit all
dem Elend, das er über Europa gebracht hat, ist der Ver- Ja, zur Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik
treibung der Deutschen vorausgegangen. – Dazu findet gehört die Integration von Millionen Flüchtlingen und
(B)
sich in der Charta kein einziges Wort. Kein Wort dazu, Vertriebenen. An dieser Leistung haben die Vertriebenen (D)
dass die Deutschen versucht haben, ein ganzes Volk aus- selbst den größten Anteil – dank ihres Fleißes, ihrer Inte-
zurotten. Stattdessen heißt es: grationsbereitschaft, ihres politischen Engagements. Von
Stigmatisierung sollte also vernünftigerweise keine Rede
Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung mehr sein.
am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom
Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen emp- Das Problem heute ist eher die Selbststigmatisierung
finden. der Vertriebenenpolitiker. Sie hatten mit ihren radikalen
Positionen und der Ablehnung der Ostpolitik selbst zu
Als hätte es den Holocaust nicht gegeben! ihrem schlechten Image beigetragen. Und einige der
Ralph Giordano, der Überlebende, bezeichnet die heutigen Vertriebenenpolitiker pflegen mit ihren Äuße-
Charta als „ein überzeugendes Dokument innerer Bezie- rungen dieses Image – erinnert sei an die Diskussion im
hungslosigkeit zur Welt der Naziopfer, der unaufhebba- Sommer zum Thema Kriegsschuld. Der vorliegende An-
ren unkaschierbaren Ferne zu ihrer Gefühls- und Lei- trag leistet wieder einen Anteil dazu. Das schadet dem
densgeschichte“. Und Micha Brumlik sagt, dass in der Anliegen, der Opfer von Flucht und Vertreibungen zu
Charta „Verleugnung und Verdrängung des Nationalso- gedenken und die Integrationsleistung der Vertriebenen
zialismus in geradezu idealtypischer Weise zum Aus- zu würdigen. Sie sollten den Antrag zurückziehen.
druck kommen“.
Die Charta ist also gewiss und bestenfalls ein Zeit- Anlage 3
zeugnis, das übrigens von vielen ehemaligen Nazis ver-
fasst wurde. Deshalb verstehe ich nicht, warum Sie diese Zu Protokoll gegebene Reden
Charta jetzt zu einem gewissermaßen kanonischen Text zur Beratung des Antrags: Freie und gleiche
erheben wollen, der als Grundlage der Versöhnung die- Wahlen in Belarus einfordern – Menschen-
nen soll. Von Versöhnung ist in der Charta überhaupt rechtslage verbessern (Tagesordnungspunkt 17)
keine Rede.
Und – schlimmer noch – ich finde es erschreckend, Erika Steinbach (CDU/CSU): Am Sonntag wählen
dass die Koalition auch 60 Jahre nach dem Verfassen der die Bürger Weißrusslands den Präsidenten ihres Landes.
Charta der Heimatvertriebenen noch nicht viel weiter zu Nach den Berichten der Wahlbeobachter zu den letzten
sein scheint. Ein einziger Satz findet sich im Antrag zur Wahlen in Weißrussland und anlässlich der Notrufe der
Verantwortung der Deutschen am Zweiten Weltkrieg NROs aus Weißrussland gibt es berechtigten Grund zur
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9145

(A) Sorge. Es scheint, dass auch diese Wahlen wieder zu ei- Die Situation für kritische Onlinejournalisten und In- (C)
ner Farce geraten. ternetnutzer hat sich seit dem Sommer weiter ver-
schlechtert. Ein Erlass schränkt die Internetfreiheit noch
Demokratische Wahlen legitimieren Herrschaft auf einmal erheblich ein. Der belarussische Staat sichert sich
Zeit. In den Blick genommen werden muss jedoch vor damit den Zugriff und die weitreichende Kontrolle über
allem die ungeheure Kraft der Legitimation, die freie, die ins Internet gestellten Inhalte. Wieder ein sicheres
geheime und unabhängige Wahlen entfalten. Sie sind es, Zeichen für Meinungsbegrenzung.
die den Gewählten des Volkes die Kraft zum Handeln
geben. Mit der Unterdrückung unabhängiger Medien und ge-
steuerter Propaganda des Regimes wird die öffentliche
Alexander Lukaschenko hat 1994 in freien Wahlen Meinung so gelenkt, dass die Bürger Weißrusslands vie-
das Präsidentenamt erreicht. Er hat seinen Bürgern Si- les nicht erfahren. Das sind Maßnahmen, die auf den
cherheit in den Zeiten des Aufbruchs versprochen und simplen Machterhalt zielen.
begonnen, dieses Projekt in den notwendigen Reformen
nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion umzuset- In diese Reihe passen nun auch die Wahlen: Neun
zen. Das ist über 15 Jahre her. Kandidaten treten gegen den amtierenden Präsidenten
an. Die schwache Opposition war aber nicht in der Lage,
Leider blieb die Möglichkeit zu positivem Handeln einen Kandidaten mit wahrnehmbaren Chancen aufzu-
weitgehend ungenutzt. In diesem Zeitraum veranlasste stellen. Alles macht den Eindruck einer Inszenierung,
Lukaschenko zwei Verfassungsreferenden. Mit dem Re- bei der der Amtsinhaber sich eine Opposition hält. De-
ferendum von 2004 wurde dem amtierenden Präsidenten mokratie verkommt so zu einer Inszenierung nach den
eine lebenslange Amtszeit ermöglicht. Dazu war eine Spielregeln des Amtsinhabers.
Verfassungsänderung nötig, denn nach vormaliger Ver-
fassung konnte der Präsident wie in den Vereinigten Damit diese Präsidentschaftswahlen auch wie am
Staaten höchstens für zwei Amtszeiten als Staatsober- Schnürchen funktionieren, greift die Regierung selbst zu
haupt tätig sein. 86,2 Prozent der Wähler stimmten dem polizeilichen, administrativen Druckmitteln gegen die
Referendum der Verlängerung der Amtszeit den Anga- Opposition, die Zivilgesellschaft und unabhängige Me-
ben belarussischer Behörden zufolge zu. Bei den gleich- dien. Menschenrechtsorganisationen und demokratische
zeitig stattfindenden Parlamentswahlen wurde kein Gruppen werden behindert, ihre Arbeit in Teilen sogar
Kandidat der Opposition gewählt. Die OSCE-Wahlbe- verhindert. Art. 193.1 des belarussischen Strafgesetzbu-
obachtung sprach von umfangreichen Verletzungen de- ches sieht Strafverfahren vor, wenn nichtregistrierte Or-
mokratischer Standards. ganisationen aktiv werden. Sogar Haftstrafen drohen: bis
zu zwei Jahre Gefängnis. Fast unnötig zu erwähnen, dass
(B) Ein starker Präsident, der in seinem Staate so etwas genau diese Registrierung den Organisationen seit Be- (D)
duldet oder sogar zu verantworten hat, entwürdigt sich. ginn dieses Jahres zunehmend erschwert wird. Wenn
junge Oppositionelle entführt werden, um sie einzu-
Bereits das Verfassungsreferendum von 1996, das
schüchtern, müssen alle Alarmglocken läuten.
dem Präsidenten umfangreiche Rechte zugewiesen hat
und das Recht de facto außer Kraft setzte, damit der Prä- All diese Rahmenbedingungen lassen nichts Gutes er-
sident regieren kann, war ein verkehrter Schritt des Prä- warten.
sidenten. Überall, wo wir dies in anderen Staaten be-
obachten mussten, hat es den Staatschefs nicht gutgetan, Wir sehen mit großer Sorge den Wahlen in Belarus
wenn sie zu solchen Mitteln greifen mussten, um sich an am Wochenende entgegen.
der Macht zu halten. Demokratie und Menschenrechte
werden damit ausgehebelt. Uta Zapf (SPD): Der Antrag der Regierungskoalition
im Vorfeld der Wahlen ist eigentlich überflüssig. Natür-
Heute gibt es massive Restriktionen gegen die Presse. lich ist es wichtig, genau hinzusehen, was bei den Wah-
Meinungs- und Pressefreiheit werden mit administrati- len in Belarus geschieht, und inwieweit sich in den letz-
ven Repressionsmaßnahmen gefügig gehalten. Unab-
ten Jahren eine Entwicklung in eine positive Richtung
hängige Medien verlieren schnell ihre Existenzgrund- feststellen lässt oder nicht. Davon hängt auch die Mög-
lage. Ausländischen Journalisten wird immer wieder die lichkeit ab, ob wir die Kooperation zwischen der Euro-
Akkreditierung verweigert. Die Einbindung unabhängi-
päischen Union und Belarus zügig ausbauen können.
ger Journalisten in einen Koordinationsrat für die Mas-
senmedien verbesserte die grundlegende Situation nicht. Diese Wahlen sind der Lackmustest, ob es wirkliche
Fortschritte in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaat-
Auch in anderen Bereichen zeigt sich die weißrussi- lichkeit in Belarus gibt. Ich hoffe das, bin aber äußerst
sche Regierung hartleibig: Im März dieses Jahres wur- skeptisch, wenn ich mir die Entwicklung in Belarus in
den wieder zwei Hinrichtungen vollstreckt, es kam auch der letzten Zeit ansehe. Wichtig ist daher, nach den Wah-
in diesem Jahr wieder zu zwei neuen Verurteilungen. Die len eine Beurteilung vorzunehmen. Wir werden uns bei
auf Druck der Europäischen Union eingerichtete Ar- der Abstimmung deshalb enthalten.
beitsgruppe des belarussischen Parlaments zur Erarbei-
tung eines Moratoriums für die Todesstrafe hat nichts Es gab seit dem Non-Paper der Europäischen Union
oder nur sehr wenig vorzuweisen. Das ist bei den parla- vom November 2006, in dem Belarus eine Zusammenar-
mentarischen Machtverhältnissen schließlich auch kein beit unter bestimmten Bedingungen angeboten wurde,
Wunder. sichtbare Ereignisse, die eine gewisse, vorsichtige Hoff-
9146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) nung aufkommen ließen. Es wurden fast alle politischen Wahlkampf haben, stellen eine Benachteiligung opposi- (C)
Gefangenen freigelassen; die Überarbeitung der Gesetze tioneller Kandidaten dar.
für Medien und der Wahlgesetze sollte angegangen wer-
den. Sowohl in der Frage der Finanzierung wie auch in der
Präsenz in den Medien sind die Oppositionskandidaten
Die Europäische Union hat darauf mit dem Angebot im Nachteil. Zwar hat sich die Situation etwas verbes-
der Östlichen Partnerschaft reagiert, in die auch Belarus sert. Es ist jedoch Fakt, dass der Präsident über ein höhe-
eingeschlossen werden sollte. Dieses Tauwetter ermög- res Budget verfügt und mehr und direkten Zugang zu
lichte auch, dass im Rahmen der Arbeit der Ad-hoc Wor- den Medien hat. Das kann durch die jetzt spärlich ge-
king Group on Belarus der OSZEH-Parlamentarierver- währten Auftritte für Oppositionskandidaten in Fernse-
sammlung Seminare durchgeführt wurden, bei denen ein hen und Radio nicht ausgeglichen werden, zumal die
Dialog zwischen Vertretern der Administration, der Par- Moderation im Fernsehen nach meinen Informationen
lamentarier, der belarussischen Zivilgesellschaft und der nicht neutral sondern pro Lukaschenko ist.
Opposition ermöglicht wurde. Man hat gesehen, dass es
doch geht. Die Wahlbeobachter hatten in der Vergangenheit
keine Möglichkeiten, die Wahlergebnisse systematisch
Allerdings stagniert diese Entwicklung inzwischen, zu überprüfen. Ich selbst habe seit 2001 an allen Wahlbe-
um nicht zu sagen, sie ist rückläufig. Die Entwicklung obachtungen teilgenommen und kann dies bezeugen.
der Zivilgesellschaft und die Möglichkeit zu unabhängi- Manipulationen, sei es aufgrund der Unkontrollierbar-
gem und pluralistischem politischem Engagement wird keit des Wahlvorganges, sei es aufgrund von Druck, der
seitens der Regierung wieder vermehrt verhindert. zum Beispiel in Betrieben von der Betriebsleitung auf
Ich will nur einige Punkte aufzählen: die Wählerinnen und Wähler ausgeübt wird, sind üblich
gewesen.
Die Möglichkeit der Registrierung von Nichtregie-
rungsorganisationen wird restriktiv gehandhabt. Ich hoffe, dass die Wahlbeobachter alle Phasen des
Wahlvorgangs beobachten können, damit die Auswer-
Politischen Parteien wird zum Teil die Registrierung tung der Wahlen auf einer realistischen Grundlage statt-
verweigert. finden kann. Das heißt, dass sie vollen Zugang zu den
Wahlvorgängen selbst, zu den Auszählungen bekommen
Es finden willkürliche Verhaftungen, Hausdurchsu- und den gesamten Ablauf beobachten können. Ich selbst
chungen, Beschlagnahmungen von Arbeitsmitteln wie kann aus meiner Erfahrung berichten, dass dies in der
Computern statt, und es werden Prozesse mit dubiosen Vergangenheit nicht der Fall war.
Anklagen initiiert, um Oppositionelle mundtot zu machen.
(B) Es muss gesichert sein, dass die Wahlbeobachter und (D)
Ein weiterer wichtiger und für uns zentraler Punkt ist
Vertreter der Presse alle relevanten Dokumente und Auf-
die Forderung nach der Abschaffung der Todesstrafe.
zeichnungen erhalten, um auf einer soliden Basis die
Der Europarat hat die Gastmitgliedschaft von Belarus
Wahl beurteilen zu können.
deswegen ausgesetzt. Es ist notwendig, dass Belarus,
wenn es Mitglied des Europarates werden will, die To- Die Ergebnisse der Wahlen sollen auf jeder Ebene,
desstrafe abschafft. Ein unverzichtbares Signal wäre die von den Wahllokalen bis zur Gesamtauszählung, nach-
Erklärung eines sofortigen Moratoriums, die Zusage, die vollziehbar und transparent sein und ohne Verzögerung
Todesstrafe abzuschaffen und die sofortige Einleitung veröffentlicht werden. Nur so ist eine seriöse Beurtei-
eines entsprechenden Gesetzgebungsverfahrens. lung der Wahl, ihres Verlaufs und ihres Ergebnisses
Auf die Bedeutung der Wahlen am kommenden Wo- möglich. Wir sollten dies anhand der Berichte der Wahl-
chenende habe ich schon hingewiesen. Auch wenn es im beobachter und von ODIHR prüfen und dann diskutie-
Einzelnen einige Verbesserungen gegeben hat, so muss ren.
man nach einer ersten Bewertung der Vorbereitungen Wir sind uns über die Fraktionsgrenzen hinweg ziem-
und des Wahlkampfes sagen, dass noch einiges im Argen lich einig über die Frage, wie wir mit Belarus umgehen.
liegt. Wir haben in der Vergangenheit die Hand zum Dialog
Es gab bei der Vorbereitung der Wahlen und im Wahl- ausgestreckt. Dies war und ist richtig. Aber in Belarus
kampf gegenüber dem letzten Mal Verbesserungen. Al- muss sich noch einiges grundsätzlich ändern, muss die
lerdings kann man noch nicht von einem qualitativen Missachtung von Menschenrechten aufhören und
Sprung sprechen. Rechtsstaatlichkeit hergestellt werden, Medienfreiheit
und politische Pluralität möglich sein. Dann können die
Besorgniserregend ist aus meiner Sicht, dass kaum Angebote der Europäischen Union auch umgesetzt wer-
Vertreter oppositioneller Parteien in den Wahlkommis- den.
sionen vertreten sind.
Die Wahlgesetzgebung wurde verbessert, aber das Marina Schuster (FDP): Wir sprechen heute über
Problem des „early voting“ besteht noch immer. Wir alle die anstehenden Wahlen und die Menschenrechtslage in
wissen, dass in dieser Phase, die zeitgleich zur Endphase Belarus. Es pfeift ein eisiger Wind durch Minsk und
des Wahlkampfes läuft, in der Vergangenheit massive ganz Belarus – und das hängt nicht nur mit der winterli-
Wahlfälschungen stattfanden. Die ungleichen Möglich- chen Jahreszeit zusammen. Doch bevor ich auf die
keiten, die die Kandidaten bei den Wahlkampfmitteln im schwierige Menschenrechtssituation zu sprechen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9147

(A) komme, möchte ich eine Nachricht aufgreifen, die wir Zugang zu Informationen, die allesamt nach der belarus- (C)
ausdrücklich begrüßen. sischen Verfassung gewährt werden, existieren de facto
nicht. Dabei sind sie Kernelemente einer funktionieren-
Belarus will seine Vorräte an hochangereichertem den Demokratie.
Uran bis zum Jahr 2012 beseitigen. Eine entsprechende
Einigung erreichten der belarussische Außenminister Mit Blick auf die Präsidentenwahl greift das Regime
Sergej Martynow und US-Außenministerin Hillary erneut auf das gesamte Repertoire polizeilicher, adminis-
Clinton am 1. Dezember am Rande des OSZE-Gipfels in trativer und gerichtlicher Druckmittel gegen die Opposi-
Kasachstan. Diese Selbstverpflichtung begrüßt die FDP- tion, die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien zu-
Bundestagsfraktion sehr, jedoch nicht ohne deren tat- rück. Es reicht von der Nichtzulassung unabhängiger
sächliche Umsetzung mit gleichem Nachdruck einzufor- Berichterstattungen, Durchsuchungen und Verboten von
dern. Denn wie immer gilt: Den Worten müssen auch Ta- NGOs unter fingierten Vorwänden über willkürliche Ge-
ten folgen. richtsverfahren gegen unbequeme Einzelpersonen oder
Organisationen. Besonders gravierend waren Einschüch-
Aus Belarus hörten wir hoffnungsvolle Signale. Die
terungsversuche durch Entführungen jüngerer oppositio-
Aufnahme des Landes in die Östliche Partnerschaft vor
neller Aktivisten Ende 2009. Im Vorfeld der Kommunal-
über einem Jahr, die zunehmende Öffnung der belarussi-
wahl 2010 ging die Polizei gegen harmlose, unan-
schen Wirtschaft wie auch die Freilassung von politi-
gemeldete Straßenaktionen der Opposition wiederholt
schen Häftlingen gaben zunächst Anlass zur Hoffnung
mit unverhältnismäßiger Härte vor. Es kommt immer
auf eine Heranführung an die EU und die Stärkung de-
wieder landesweit zu kurzzeitigen Inhaftierungen und
mokratischer Standards.
Übergriffen der Polizei sowie der Sicherheitsorgane.
Doch spätestens nach den Kommunalwahlen im Teilnehmer an nicht genehmigten Demonstrationen müs-
April 2010 setzte breite Ernüchterung ein. Wenngleich sen mit Geld- und Arreststrafen rechnen. Einige regime-
sich die Menschenrechtssituation für Angehörige der kritisch gesinnte junge Männer wurden in die Armee re-
Opposition im Vergleich zu den Kommunalwahlen im krutiert, um ihnen so ihr Betätigungsfeld zu nehmen.
Jahr 2010 und den letzten Präsidentenwahlen leicht ver-
bessert hat, beklagen oppositionelle Gruppen, Men- Ich möchte an dieser Stelle Bundesaußenminister Dr.
schenrechts- und zivilgesellschaftliche Organisationen Guido Westerwelle danken. Er hat bei seinem Besuch in
nach wie vor staatliche Behinderungen ihrer Arbeit. Belarus – als erster deutscher Außenminister seit 15 Jah-
Aufgrund fortbestehender schwerwiegender Defizite im ren – Anfang November dieses Jahres gemeinsam mit
Menschenrechts- und Rechtsstaatsbereich hat sich am seinem polnischen Amtskollegen Sikorski demokrati-
faktischen Sonderstatus Belarus innerhalb der Östlichen sche Wahlen bei Staatschef Lukaschenko eingefordert.
(B) Partnerschaft daher nicht viel geändert. Die Parlamenta- Wie der Außenminister sagen auch wir, dass es nur einen (D)
rische Versammlung des Europarats, der ich angehöre, Weg nach Europa gibt: Er führt über freie und faire Wah-
hat im April 2010 beschlossen, Kontakte zu Parlament len sowie die Einhaltung von Menschenrechten und in-
und Regierung von Belarus einzufrieren, weil spürbare ternationalen Rechtsstandards.
Fortschritte bei den Menschenrechten ausblieben. Es
Diese Wahlen werden zeigen, wie weit die belarussi-
müsste doch eigentlich das Ziel der belarussischen Re-
sche Bereitschaft zur Demokratie reicht. Erste Zeichen
gierung sein, möglichst bald wieder als volles Mitglied
deuten darauf hin, dass diese Bereitschaft nur gering
zurück in die Parlamentarische Versammlung zu kom-
ausgeprägt ist. Es ist zu beobachten, dass die Opposition
men. Deswegen fordere ich die belarussische Regierung
wie auch bei allen Wahlen der vergangenen Jahre keinen
auf, Menschenrechte zu achten und zu gewährleisten.
freien Zugang zu den Medien hat. Die Opposition hat
Dass die Menschenrechte nicht die ihnen gebührende kaum Möglichkeiten, Vertreter in die Wahlkommission
Aufmerksamkeit erhalten, zeigt sich bereits daran, dass zu entsenden. Deswegen ist es wichtig und erforderlich,
Belarus als einziges Land in Europa an der Todesstrafe dass unabhängige Wahlbeobachter den gesamten Wahl-
festhält. Laut Amnesty International wurde die Todes- prozess verfolgen können.
strafe seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1991
in circa 400 Fällen vollstreckt. Am 14. Mai 2010 wurden Dass die EU im Rahmen der Östlichen Partnerschaft
zwei Menschen wegen Mordes und Raubes zum Tode gemeinsame Werte einfordert, wobei Freiheit und De-
verurteilt. Am 14. September 2010 erfolgte ein weiteres mokratie unabdingbare Voraussetzungen sind, wird von
Todesurteil. Dies verurteilen wir scharf. belarussischer Seite gerne vergessen.

Es gibt allerdings Hinweise, dass das Parlament nach Daher ist es nur konsequent, dass Außenminister
den kommenden Präsidentschaftswahlen ein Morato- Westerwelle bei seinem Gespräch mit Lukaschenko als
rium für die Vollstreckung der Todesstrafe beschließen auch wir mit unserem Antrag immer wieder daran erin-
könnte. Diese Initiative, die auf Druck der EU zustande nern, dass wir einen Dialog mit messbaren Ergebnissen
gekommen ist, weist in die richtige Richtung. Denn die anstreben.
Todesstrafe ist eine grausame und unmenschliche Be-
strafung und muss weltweit abgeschafft werden. Die Bundesregierung wird die Menschenrechtslage in
Belarus genau beobachten und Missstände gegenüber
Aber auch bei anderen fundamentalen Grundfreihei- der belarussischen Staatsführung ansprechen. Die klaren
ten weist Belarus noch immer Defizite auf. Freie Mei- und zielgerichteten Forderungen unseres Antrags richten
nungsäußerungen, Versammlungsfreiheit und freier sich an die belarussische Regierung:
9148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) Wir fordern demokratische Standards für diese und wird aus dem Text des Antrages nicht sichtbar. Im Ge- (C)
zukünftige Wahlen, wir fordern die Abschaffung der To- genteil: Man will nicht beurteilen, sondern verurteilen.
desstrafe und die Gewährleistung von Menschen- und
Werte Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und
Freiheitsrechten, und wir fordern ein unabhängiges Jus-
der FDP, kommen Sie runter von Ihrem hohen Ross, re-
tizwesen, das sich ausschließlich an rechtsstaatlichen den Sie mit anderen Ländern und Völkern nicht in die-
Grundsätzen orientiert und nicht wie bisher an politi- sem Ton. Das steht Ihnen nicht zu. Sie schaden den Men-
schen Weisungen. schenrechten, wenn Sie sie ideologisieren und nach
Das belarussische Volk sehnt sich nach demokrati- eigenem Gutdünken in Anwendung bringen.
schen Freiheiten. Diesen Wunsch sollten wir unterstüt-
zen und gemeinsam nach Kräften fördern, damit so bald Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wie möglich nur noch der Winter Schuld an dem eisigen NEN): Wir beraten heute einen Antrag der Koalition, der
Wind hat, der durchs Land pfeift. freie und gleiche Wahlen in Belarus und die Verbesse-
rung der Menschenrechtslage fordert. Diese Forderun-
gen sind richtig, und meine Fraktion unterstützt deshalb
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Selbstverständ- den Koalitionsantrag.
lich sollte der Bundestag sich für die Verbesserung der
Menschenrechtslage einsetzen – unabhängig davon, in Allerdings zeichnet sich bereits jetzt ab, dass die
welchem Land und welchem Teil der Welt wir es zu tun Wahl leider nicht demokratischen Standards genügen
haben, auch im eigenen Land. Die Lage vieler Menschen wird. Sicher gab es im Vorfeld der Wahl eine liberalere
in unserem Land könnte erheblich verbessert werden, Atmosphäre, als dies bei vorhergehenden Wahlen der
wenn man die Allgemeine Charta der Menschenrechte Fall war. So wurde eine Reihe von Oppositionskandida-
als Maßstab heranzieht. Je vorbildlicher die Menschen- ten nach weitestgehend ungehinderter Unterschriften-
rechte im eigenen Land verwirklicht und gesichert wer- sammlung registriert. Auch wurde den Kandidaten ein
den, desto freier kann man über die Menschenrechtslage unzensierter Auftritt im Fernsehen und Radio zugestan-
den. Spontane Demonstrationen in Minsk wurden nicht
in anderen Ländern reden. Ohne Abstriche wünsche ich
wie üblich niedergeknüppelt. Und wie bei vorangegan-
den Menschen in Belarus, dass die Präsidentschaftswah-
genen Wahlen wurde auch dieses Mal die OSZE zur
len frei, geheim und gleich vonstatten gehen, dass die Wahlbeobachtung eingeladen. Aber diese Liberalisierun-
Todesstrafe aufgehoben wird, dass Presse- und Mei- gen bedeuten keine Demokratisierung, weil sie nicht auf
nungsfreiheit sowie Rechtsstaatlichkeit überall verwirk- einklagbaren Rechten fußen und taktisch ausgewählt
licht werden. wurden. Für westliche Beobachter wird auf diese Weise
der Schein demokratischer Wahlen erweckt, ohne die be-
Wenn dies tatsächlich das Anliegen des Antrages
(B) stehende Machtbasis infrage zu stellen. Wir alle wissen, (D)
wäre, hätte man ihm zustimmen können. Dem ist aber
dass der Grund hierfür der enorme Druck des einstigen
eben nicht so. Von oben herab wird über Belarus gerich- Verbündeten Russland ist.
tet. Der Antrag sprüht vor Antikommunismus, wobei die
Verfasserinnen und Verfasser es offensichtlich noch gar Tatsächlich ist auch diese Wahl von schweren demo-
nicht mitbekommen haben, dass auch in Belarus kein kratischen Defiziten gekennzeichnet. So befinden sich
Kommunismus mehr herrscht. Unsensibel wird ein gan- Radio, Fernsehen und nahezu alle Zeitungen in Staats-
zes Land über einen ideologischen Leisten geschlagen. hand und werden ausgiebig als Propagandainstrumente
Diese Art von Ideologie ist antiaufklärerisch und verstellt des Präsidenten eingesetzt. Die Website des Staatsfernse-
den Blick auf mögliche Entwicklungen. Die Linke hat hens erinnert an eine Kampagnenseite des Präsidenten.
sich mit der Entwicklung in Belarus immer wieder und Das Portrait Lukaschenkos ist allgegenwärtig. In den
kritisch auseinandergesetzt, aber diese Art der Rechtha- Wahlkommissionen sind kaum Vertreter der Opposition
berei ist uns fremd und die wollen wir auch nicht mitma- vertreten. Die vorfristige Stimmenabgabe, die seit Montag
chen. läuft, bietet enorme Manipulationsmöglichkeiten, und die
Wahlbeobachter der OSZE werden wohl wieder in einem
Es hätte sich in der Tat gelohnt, den gesellschaftlichen gebotenen Abstand der stummen Stimmenauszählung
Entwicklungen in Belarus wie auch in anderen Ländern, beiwohnen, der eine Kontrolle unmöglich macht.
denen die von der EU ins Leben gerufene „östliche Part-
Ich möchte hier auch darauf hinweisen, dass erneut
nerschaft“ angeboten wurde, gründlich und differenziert Visa für Mitarbeiter von NGOs aus Deutschland, aber
nachzugehen. Ein intensiver Dialog, bi- und multilateral, auch aus Norwegen verweigert wurden. Offensichtlich
setzt voraus, das Leben in den betroffenen Staaten ge- möchte man keine regimekritischen Gäste am Wahltag
nauer zu kennen. Wenn die „östliche Partnerschaft“ sich und bei den zu erwartenden Protesten am Wahlabend in
wirklich zu den Grundsätzen des Völkerrechts und der Belarus haben. Auch das spricht Bände über den demo-
Grundfreiheiten bekennt, dann gehört doch wohl auch kratischen Charakter dieser Wahlen.
dazu, dass diese Grundsätze und die Grundfreiheiten, die
man meint, präzise beschrieben werden. Zu den Grund- Ich hoffe sehr, dass die EU und Deutschland den un-
sätzen des Völkerrechts gehört auch, dass die Souveräni- demokratischen Charakter dieser Wahlen ganz klar und
tät des jeweiligen Staates anerkannt und geachtet wird. die absehbare Wiederwahl Lukaschenkos deutlich als
Ich habe mir immer das Recht herausgenommen, mich unrechtmäßig benennen. Dies ist auch eine Frage der
mit der Entwicklung in anderen Ländern im eigenen Glaubwürdigkeit gegenüber dem Regime in Minsk, dass
Land kritisch auseinanderzusetzen. Eine solche Aus- nicht darauf rechnen können soll, dass wir sein Spiel ei-
einandersetzung, der Wunsch nach tatsächlichem Dialog ner Scheindemokratisierung mitspielen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9149

(A) Gleichwohl ist der eingeschlagene Weg des Dialogs Peter Wichtel (CDU/CSU): Die Bundesregierung (C)
mit dem Regime richtig. Aber dieser Dialog sollte in den begleitet die Bürgerinnen und Bürger nicht erst seit Be-
nächsten Monaten genutzt werden, um dem Regime ginn der gegenwärtigen Legislaturperiode mit einer
echte demokratische Reformen abzufordern. Denn ist verantwortungsbewussten und nachhaltigen Verbrau-
wenig gewonnen, wenn eine kritische Zeitung gnädiger- cherpolitik. Das deutsche Recht gewährt insbesondere
weise zugelassen wird, aber jederzeit wieder geschlos- Reisenden ein Maß an Schutz, das in schwierigen Ver-
sen werden kann. Belarus braucht ein Mediengesetz, das handlungen für die Verkehrsträger erarbeitet wurde und
eine unabhängige Presse ermöglicht. Belarus braucht über den europäischen Standard hinausreicht. Das hohe
eine unabhängige Justiz, die sich nicht für politische Niveau unseres Verbraucherschutzes und die verbrau-
Prozesse instrumentalisieren lässt. Belarus braucht ein- cherfreundlichen Strukturen wollen wir halten und nach
klagbare demokratische Grundrechte wie Versamm- Bedarf auch weiter punktuell ausbauen.
lungs- und Meinungsfreiheit und ein Moratorium für die
Todesstrafe. Und Belarus braucht ein demokratisches Vor diesem Hintergrund ist es überaus verwunderlich,
Parlament statt Dekrete des Präsidenten und seine Huldi- dass mit den heute vorliegenden Anträgen die Verbrau-
gung durch die Allbelarussische Versammlung. cherpolitik kritisiert wird. Insbesondere der Ruf nach ei-
Bei dem Dialog mit dem Regime dürfen wir nicht die ner Verbesserung der Durchsetzung und Evaluation des
Zivilgesellschaft in Belarus aus den Augen verlieren. Ich Reiserechts im Hinblick auf die Fluggastrechteverord-
begrüße sehr, dass bei der Östlichen Partnerschaft, an nung (EG) Nr. 261/2004 kann nur als unsachgemäß cha-
der auch Belarus teilnimmt, die NGOs über das Zivilge- rakterisiert werden. Der Antrag verlangt nach einer Er-
sellschaftsforum seit Beginn eingebunden sind. Und ich hebung von Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs,
begrüße sehr, dass die Vertreter der EU bei ihren Besu- obwohl ein Sachzusammenhang mit der Überprüfung
chen in Minsk immer auch Vertreter der Opposition und der Rechtsdurchsetzung nicht gegeben ist.
Zivilgesellschaft treffen. Ihr Rat sollte uns Richtschnur
für unser Handeln gegenüber Belarus sein. Zunächst gilt es deutlich hervorzuheben, dass es keine
gesetzliche Grundlage gibt, die aufgezeigten Kontrollpa-
Die Zivilgesellschaft in Belarus bedarf unserer stärke- rameter zu erheben. Das Verkehrsstatistikgesetz statuiert
ren Unterstützung. Wir brauchen einen intensiveren Aus-
in § 12 die Pflicht zur Erhebung der angebotenen Plätze
tausch mit den Ländern der EU. Entsprechende Pro-
und die Zahl der ein- oder aussteigenden sowie der
gramme für Schüler, Studenten, Auszubildende und
NGOs wären hilfreich. Aber – und ich werde nicht müde, durchreisenden Fluggäste. Einzig die für die Arbeit des
dies immer wieder zu betonen – das Wichtigste ist die Luftfahrt-Bundesamtes, LBA, notwendigen Daten wer-
längst überfällige Einführung von Visumserleichterun- den gesammelt und ausgewertet. Eine Registrierung der
tatsächlich durchgeführten, verspäteten oder annullier-
(B) gen für Belarus. Die derzeitigen Prozeduren und Gebüh- ten Flüge wird dagegen nicht im Verkehrsstatistikgesetz (D)
ren sind eine enorme Bürde für den Austausch. Wir haben
aber ein großes Interesse, dass die jungen Menschen und vorgeschrieben. Das Luftfahrt-Bundesamt erlangt nur
künftigen Eliten demokratische Gesellschaften kennen- aufgrund eingehender Anzeigen Kenntnis von Verspä-
lernen und mit dem Wunsch nach Veränderung in ihr tungen, Annullierungen, Nichtbeförderungen oder He-
Land zurückkehren. Richtigerweise ist Reisefreiheit eine rabstufungen im Sinne der Fluggastrechteverordnung
wichtige Säule der Östlichen Partnerschaft. Erste Ver- (EG) Nr. 261/2004.
handlungen mit Belarus über Visumserleichterungen sind
auf dem Weg. Ich hoffe sehr, dass diese bald zum Ab- Ein näherer Blick auf die Aufgaben des LBA macht
schluss gebracht werden und nicht erneut als Verhand- zudem deutlich, warum die gegenwärtige Aufgaben-
lungsmasse mit dem Regime missbraucht werden. struktur als überaus plausibel und beständig zu betrach-
ten ist. Die Bundesbehörde unter Dienst- und Fachauf-
Für Sonntag hoffe ich, dass möglichst viele Menschen sicht des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und
in Belarus den Mut finden, ihre Unzufriedenheit mit den Stadtentwicklung trägt Sorge dafür, dass Luftfahrtunter-
undemokratischen Wahlen mit ihrer Stimmabgabe deut- nehmen die Fluggastrechteverordnung einhalten. Sollten
lich zum Ausdruck zu bringen. Für den Wahlabend
Verstöße gegen die Verordnung festgestellt werden, leitet
selbst hoffe ich, dass die zu erwartenden Proteste wie in
den letzten Jahren friedlich verlaufen und vielleicht den das Luftfahrtbundesamt Ordnungswidrigkeitsverfahren
Anfangspunkt eines echten demokratischen Wandels in gegen die betroffenen Akteure ein. Das LBA fungiert als
Belarus markieren. Aufsichtsbehörde über die Luftfahrtunternehmen und übt
diese Tätigkeit im öffentlichen Interesse aus.
Das LBA ist dagegen kein rechtsdurchsetzendes Or-
Anlage 4
gan für Fluggäste und ist auch nicht im zivilrechtlichen
Zu Protokoll gegebene Reden Interesse tätig. Die Geltendmachung und Durchsetzung
zivilrechtlicher Ausgleichsansprüche gegenüber der
zur Beratung:
Luftfahrtindustrie im Interesse der betroffenen Fluggäste
– Antrag: Durchsetzung und Evaluation des ist keinesfalls Aufgabe der Behörde. Dieser Eindruck
Reiserechts verbessern scheint bei der Lektüre des vorliegenden Antrages und
der Forderung nach einer statistischen Datenerfassung
– Beschlussempfehlung und Bericht: Rei-
allerdings zu entstehen. Es gilt daher erneut klar zu ver-
sende besser schützen
deutlichen, dass ein Sachzusammenhang zwischen der
(Tagesordnungspunkt 18 a und b) Überprüfung der Rechtsdurchsetzung und der Erhebung
9150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) von Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs nicht gege- gegen sprechen außerdem gewichtige organisatorische (C)
ben ist. Gründe: Richtlinien und Verordnungen sind nun einmal
unterschiedliche Rechtsakte. Während es bei EU-Richt-
Die Arbeit des Luftfahrt-Bundesamtes ist nicht nur linien einen gewissen Spielraum bei der Umsetzung in
ein Beispiel für die verbraucherfreundliche Struktur der nationales Recht gibt, sind EU-Verordnungen in den
Bundesrepublik, sie verdeutlicht gleichzeitig die Effi- Mitgliedstaaten unmittelbar wirksam und verbindlich.
zienz und Nachhaltigkeit des Verbraucherschutzes. Lässt
man die Anzeigen im Zusammenhang mit dem Vulkan- Außerdem sind die angesprochenen EU-Verordnun-
ausbruch auf Island außen vor, ist in den vergangenen gen in einem höchst unterschiedlichen Stadium. Die
Jahren ein rückläufiges Anzeigeaufkommen zu vermel- Rechte von Passagieren, die mit der Bahn oder per Flug-
den. Das kann als Indikator dafür betrachtet werden, zeug reisen, sind bereits in geltenden Verordnungen ge-
dass die Luftfahrtunternehmen nicht zuletzt durch die regelt. Die Verordnung für die Rechte von Passagieren
Aufsicht des LBA den Verpflichtungen der Fluggast- im See- und Binnenschiffsverkehr ist zwar beschlossen,
rechteverordnung in stärkerem Umfang nachkommen. aber noch nicht in Kraft getreten. Und die Verordnung
Die bereits 2009 erfolgte Straffung der Arbeitsprozesse für die Rechte von Passagieren im Busverkehr ist noch
innerhalb der Behörde und der regelmäßige Kontakt mit nicht einmal beschlossen.
den Luftverkehrsunternehmen, um die Kernpunkte der
Verordnung und deren Umsetzung zu verdeutlichen, Für die schon 2005 in Kraft getretene Fluggastrechte-
wird auch zukünftig zu einer verbesserten Einhaltung Verordnung hat die Europäische Kommission bereits
des Gesetzes und somit dem Verbraucherschutz beitra- eine Überarbeitung angekündigt. Mit den anderen neuen
gen. Verordnungen müssen dagegen erst einmal Erfahrungen
gesammelt werden, bevor eine Überarbeitung überhaupt
Mit der seit Dezember 2009 arbeitenden Schlich- in Betracht gezogen werden bzw. beurteilt werden kann,
tungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, SÖP, ob das Sinn macht. Schließlich sind diese Verordnungen
wird zudem das im Koalitionsvertrag verankerte Ziel ei- mit großem Aufwand und in schwierigen Verhandlungen
ner verkehrsträgerübergreifenden Schlichtung realisiert. ausgearbeitet worden.
Zur Erleichterung der Durchsetzung der Fluggastrechte
Grundsätzlich müssen bei der Ausgestaltung der Fahr-
wird derzeit geprüft, wie auch eine Einbeziehung der
gastrechte die Besonderheiten der jeweiligen Verkehrs-
Luftverkehrsträger in eine Schlichtung erreicht werden
träger beachtet werden, vor allem für Verspätungsregeln.
kann. Hierzu werden gegenwärtig überaus konstruktive
Hier gibt es einfach unterschiedliche Ausgangsbedin-
Gespräche mit der Luftverkehrsindustrie geführt.
gungen und andere naturbedingte Voraussetzungen. So
Zusammenfassend betrachtet kommt die Bundesre- ist etwa beim Schiff die Wahrscheinlichkeit, in einen
(B) gierung ihrer Verantwortung für den Verbraucher auch Stau zu geraten, deutlich geringer als beim Bus. Insofern (D)
und insbesondere im Bereich des Reisens nach. Nicht ist die im Antrag geforderte intermodale Anpassung
zuletzt die Fluggastrechteverordnung und die Arbeit des nicht sachgerecht und könnte sogar zur Kürzung bisheri-
Luftfahrtbundesamtes als für die Durchsetzung der Ver- ger Ansprüche führen.
ordnung verantwortliche Behörde verdeutlichen das
Auf europäischer Ebene untersucht derzeit auch be-
hohe Niveau unseres Verbraucherschutzes und unsere
reits die Europäische Kommission, ob die Pauschalreise-
verbraucherfreundliche Strukturen. Eine Erhebung von
Richtlinie überarbeitet werden soll. Dies darf aber nicht
Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs und eine dem-
dazu führen, dass Deutschland sein hohes Verbraucher-
entsprechende Überarbeitung des Verkehrsstatistikgeset-
schutzniveau absenken müsste. Viele der von der Kom-
zes lehnen wir daher ab.
mission angesprochenen Probleme bestehen im deu-
tschen Recht im übrigen auf Grund unseres höheren
Marlene Mortler (CDU/CSU): Das deutsche Reise- Schutzniveaus eben nicht.
recht sichert ein hohes Verbraucherschutzniveau für un-
sere Bürger. Deutsche Reisende genießen dabei einen Die Notwendigkeit für die geforderte Insolvenzabsi-
Schutz, der über den geltenden europäischen Standard cherung für Fluggesellschaften und alle anderen Ver-
hinausgeht. Das soll auch so bleiben. kehrsträger ist ebenfalls nicht zu erkennen. So sind der
Bundesregierung keine Fälle bekannt, bei denen Rei-
Die meisten der im Antrag der Fraktion Bündnis 90/ sende im Luftfahrtbereich, bei der Bahn oder im Busbe-
Die Grünen „Reisende besser schützen“ enthaltenen For- reich durch eine Insolvenz nicht reisen konnten oder von
derungen sind weder sachgerecht noch durchführbar, finanziellen Schäden betroffen gewesen wären.
und sie werden den bisherigen hohen deutschen Stan-
dards nicht gerecht. Geradezu absurd ist auch die geforderte Hinweis-
pflicht für Reiseveranstalter und Reisevermittler aller
Ein Kernpunkt des Antrages ist die Forderung, auf eu- EU-Mitgliedstaaten für eine verbindliche Unterrichtung
ropäischer Ebene die derzeit geltenden Regelungen für vor Vertragsabschluss über Pass- und Visumserforder-
Pauschalreisen und die Passagierrechte bei den einzel- nisse. Demnach müssten Reiseveranstalter und Reise-
nen Verkehrsträgern zusammenzufassen und zu einem büros die Bürger aller 27 EU-Mitgliedstaaten über die
Rechtsakt weiterzuentwickeln. Eine solche Zusammen- aktuellen jeweiligen Einreisebestimmungen von circa
führung würde aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass 200 Ländern weltweit informieren, also über etwa
die Regelungen übersichtlicher und einfacher wären und 5 400 verschiedene Einreisebestimmungen – und dies
damit ein höherer Verbraucherschutz erreicht würde. Da- womöglich noch in der jeweiligen Landessprache des
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9151

(A) EU-Bürgers. Dies ist nicht nur Bürokratie, dies ist Erstens: Die Hilfs- und Informationsangebote an den (C)
schlichtweg nicht zu leisten. Flughäfen sind generell unzureichend.
Etwas weltfremd erscheint uns auch, dass an allen Zweitens: Das nationale und europäische Reiserecht
Reiseverkehrsknotenpunkten in Zusammenarbeit mit ist zu undurchsichtig und nicht verbraucherfreundlich
Schlichtungsstellen und Verbraucherzentralen Informa- genug. Die Initiative der Grünen, das Reiserecht verbes-
tions- und Vermittlungszentren eingerichtet werden sol- sern zu wollen, ist deshalb richtig. Der Verbraucher-
len. Soll jetzt in jedem Bahnhof und jedem Flughafen schutz für Reisende muss verstärkt werden.
ein solches Informationsbüro geschaffen werden? Die Ein erster Schritt wäre die konsequente Umsetzung
Kosten wären unüberschaubar und unvertretbar, der Nut- der schon bestehenden Verbraucherrechte. Das ist für die
zen dagegen gering. Die Unternehmen sind bereits heute Bunderegierung aber ganz offensichtlich kein Thema.
verpflichtet, ihre Kunden über deren Rechte zu informie- Dabei bietet das europäische Reiserecht zum Beispiel
ren. mit der Fluggastrechteverordnung bereits gute Grundla-
gen, die leider in Deutschland versickern.
Wir haben im Koalitionsvertrag die Einrichtung einer
unabhängigen, übergreifenden Schlichtungsstelle für die Durch massenhafte Verspätungen, Nichtbeförderun-
Verkehrsträger Bus, Bahn, Flug und Schiff festgelegt. gen und Flugannullierungen erwerben täglich Hunderte
Diese Einrichtung ist mit der Schlichtungsstelle für den Flugreisende einen Anspruch auf Entschädigung nach
öffentlichen Personenverkehr, SÖP, zum 1. Dezember der europäischen Fluggastrechteverordnung. Für die
2009 erfolgt. Bisher sind dort über 3 300 Fälle zur Durchsetzung dieser Verordnung ist in Deutschland das
Schlichtung eingegangen, die meisten aus dem Bahnbe- Luftfahrtbundesamt zuständig. Es muss die Einhaltung
reich. Die Arbeit der SÖP zur Durchsetzung der Rechte der Verordnung durch die Fluggesellschaften gewähr-
von Reisenden ist eine weitere wichtige Stärkung des leisten.
Verbraucherschutzes im Tourismusbereich. Dennoch sind die Flugreisenden ganz offensichtlich
Die deutschen Fluggesellschaften sind jetzt nach eini- über ihre Rechte nicht ausreichend informiert. Die Luft-
gem Zögern auch zu einer Teilnahme an Schlichtungs- fahrtunternehmen nehmen also ihre Informationspflicht,
verfahren bereit. Dies muss aber nicht unbedingt durch die sie laut der Verordnung haben, nicht wahr.
eine Mitgliedschaft in der SÖP erfolgen, sondern ist Die von der Verordnung vorgeschriebenen Entschädi-
durchaus in einer separaten Schlichtungsstelle für den gungen werden auch lange nicht in dem Maße gezahlt,
Luftverkehr möglich. Eine solche Einrichtung wird ge- wie es die vielen Verspätungen und Annullierungen ver-
genwärtig in Zusammenarbeit mit mehreren Bundes- muten lassen müssten. Trotzdem leitet das Luftfahrbun-
(B) ministerien geprüft. Wir müssen dabei beachten, dass es desamt nur eine kleine Zahl an Ordnungswidrigkeitsver- (D)
im Gegensatz zur Bahn im Luftverkehr einen intensiven fahren ein.
Wettbewerb gibt. Deshalb muss sichergestellt sein, dass
alle in Deutschland tätigen Fluggesellschaften einbezo- Dieses Missverhältnis zeigt: Unsere Regierung
gen werden. Nur so vermeiden wir Wettbewerbsverzer- klemmt sich nicht dahinter. Es werden, das fordern die
rungen, nur so erreichen wir einen wirklich höheren Ver- Grünen zu Recht ein, die ganzen Verspätungen, Annul-
braucherschutz für alle Fluggäste. lierungen und Nichtbeförderungen noch nicht einmal in
der Verkehrsstatistik erfasst.
Für den angeblich umfassenden Handlungsbedarf, Die kleine Zahl an Ordnungswidrigkeitsverfahren ist
den die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in ihrem vorlie- eine der wenigen Informationen, die man dem mageren
genden Antrag versucht aufzuzeigen, gibt es, wie „Bericht der Bundesregierung zur Durchsetzung der
gezeigt, keine tragfähige Grundlage. Wir lehnen ihn des- Fluggastrechteverordnung“ entnehmen kann. Der ist so
halb ab und stimmen der entsprechenden Beschlussemp- schwach, weil es eben kaum Aktivitäten zur Durchset-
fehlung des Tourismusausschusses zu. zung der Fluggastrechte gibt.
Das Luftfahrtbundesamt ist ebenso für die Durchset-
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Man sollte eine Rede zung der Rechte mobilitätseingeschränkter Fluggäste zu-
nicht mit dem Namen eines isländischen Vulkans begin- ständig. Die Grünen behandeln diesen Punkt in ihren
nen, wenn man sich nicht verhaspeln möchte. Anträgen leider nicht.
Ich tue es trotzdem, denn der Ausbruch des isländi- Meiner Fraktion und mir ist wichtig, dass Menschen
schen Vulkans Eyjafjallajökull mit seinen schwerwie- mit Behinderung reisen können wie jeder andere auch.
genden Folgen für den internationalen Flugverkehr hat Sie haben seit der Unterzeichnung der UN-Behinderten-
einmal mehr gezeigt, dass unsere Regierung zu einem rechtskonvention das einklagbare Recht dazu. Und im
vernünftigen Krisenmanagement nicht in der Lage ist. Zuge des demografischen Wandels werden zukünftig
nicht weniger Menschen betroffen sein, sondern mehr.
Wir alle haben noch Tausende gestrandete und desori-
entierte Reisende auf den Flughäfen vor Augen, die we- Trotzdem ist mir leider nicht bekannt, dass das zu-
der wussten, wie sie nach Hause kommen sollten, noch ständige Luftfahrtbundesamt sich bisher für bessere Hil-
wer für die ihnen entstandenen Kosten aufkommt. festellungen für behinderte Fluggäste an Bord und auf
dem Flughafen, für mehr Bordrollstühle und ein geeig-
Diese extreme Situation hat offenbart: netes Innendesign der Flugzeuge eingesetzt hätte.
9152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition: Un- mögliche Angleichungen und Standards überhaupt gibt. (C)
terstützen Sie uns an dieser Stelle, und machen Sie Ihren Unnötige Bürokratie muss dabei vermieden werden. An
Regierungsmitgliedern Dampf! allen Verkehrsknotenpunkten noch extra Reisezentren
einzurichten, die die Kundinnen und Kunden informie-
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Ihre ren sollen, halte ich für unnötige Bürokratie. Es würden
Ansätze zur Weiterentwicklung des Reiserechts sind, vor auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher teure
allem was die nationale Ebene angeht, gut. Doppelstrukturen geschaffen. Die Informationspflicht
Es gibt keinen Grund, weshalb die Fluggesellschaften liegt ja schon bei den Verkehrsträgern. Die müssen sich
nicht in die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Per- eben besser vernetzen, um effektiv informieren zu kön-
sonenverkehr einbezogen werden. nen.
Richtig ist, die Kommunikation zwischen allen Ak- Die Abstimmung untereinander – nicht nur auf natio-
teuren zu stärken. Reiseindustrie, Behörden, Schlich- naler, sondern auch auf europäischer Ebene – ist beson-
tungsstellen und Verbraucherverbände können natürlich ders in Notfällen wichtig und wäre die Grundlage für ein
gemeinsam besser auf die Probleme der Reisenden re- kluges Krisenmanagement in dem Chaos nach dem Vul-
agieren. kanausbruch gewesen. In unserem Antrag „Die richtigen
Lehren aus dem Ausbruch des isländischen Vulkans
Kostenlose Info-Hotlines der Fluggesellschaften wä- Eyjafjallajökull ziehen“ haben wir beschrieben, wie die
ren sinnvoll. Voraussetzungen für ein nationales und europäisches
Auch einige ihrer Forderungen, die auf die europäi- Krisenmanagement im Luftverkehr geschaffen werden
sche Ebene abzielen, unterstütze ich: Eine Insolvenzab- können.
sicherung von Reiseunternehmen, die Präzisierung des Wir werden uns, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Begriffs der „außerordentlichen Umstände“ und die Er- Grünen, bei Ihrem Antrag „Reisende besser schützen“
höhung der Haftungshöchstgrenzen beim Reisegepäck aus den genannten Gründen enthalten und im nächsten
wären begrüßenswert. Jahr zur Durchsetzung der Fluggastrechte einen eigenen
Mit einigen Ihrer Forderungen das europäische Recht ausgereiften Vorschlag vorlegen.
betreffend schießen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Grünen, allerdings über das Ziel hinaus: Jens Ackermann (FDP): Die Tourismusbranche ist
Die von Ihnen geforderte verschärfte Haftung für Rei- ein bedeutender Wirtschaftsbereich, von dem Menschen
sebüros – vergleichbar mit der von Reiseveranstaltern und Unternehmen profitieren. Dabei gilt – und das ist, so
bei Pauschalangeboten – ist insbesondere für kleine Rei- glaube ich, unstrittig –, dass die Reisenden in gesicher-
(B) sebüros nicht leistbar, weder finanziell, noch in Form or- ten Verhältnissen mit Planungssicherheit, soweit dies bei (D)
ganisatorischer Unterstützung. Sie müssten sich dann Reisen möglich ist, geschützt sind.
eng an die Veranstalter binden, damit diese das Haf- Doch Reiseschutz muss dabei das Notwendige im
tungsrisiko tragen, und könnten nicht mehr wirklich un- Blick haben, muss maßvoll und ausgewogen sein. Aktio-
abhängig beraten. Auch würden kleine Veranstalter dann nismus ohne Grundlagen, politische Forderungen ohne
nur noch sehr schwer Reisebüros finden, die ihre Leis- Bedarf und Anträge ohne den Abgleich mit der Realität
tungen vermitteln. Das kann nicht im Interesse der Rei- möchte meine die christlich-liberale Koalition nicht. Wir
senden sein! Auch die von Ihnen geforderte Ausweitung können und werden nichts zustimmen, was die Verhält-
des Geltungsbereichs der Pauschalreiserichtlinie geht zu nisse für die Menschen vor Ort nicht verbessert. Und das
weit. gilt selbstverständlich auch und gerade für den Touris-
Es stimmt, dass diese europäische Richtlinie an das musbereich.
Buchungsverhalten und Angebot im Internet angepasst
In jenem Sektor, wo sich Menschen tagtäglich in Rei-
werden muss.
sebüros oder im Internet Träume erfüllen, wo Familien
Aber alle verlinkten Einzelleistungen im Internet, in ferne Länder fliegen und Individualtouristen mit dem
zum Beispiel für Flug, Ferienwohnung und Mietwagen – Rucksack durch die Lande ziehen^, ist es natürlich wich-
das sogenannte „Dynamic Packaging“ – wie ein Pau- tig, das die Ziele, das die Wünsche, die sich mit Reisen
schalangebot eines Veranstalters zu behandeln, das ist verbinden, geschützt sind – da, wo es möglich ist, wo es
unrealistisch. Hier wäre es besser, unsere deutsche Rege- sinnvoll erscheint. Der uns vorliegende Antrag von
lung in die europäische Richtlinie aufzunehmen: Wer et- Bündnis 90/Die Grünen schießt dabei – wieder einmal –
was wie eine Pauschalreise verkauft, wer beim Verbrau- über das Ziel hinaus und verkehrt gute Absichten in
cher den Eindruck erweckt, er kaufe eine Pauschalreise, zahnlose Bürokratietiger. Mehr Sicherheit für die Rei-
der muss auch wie für eine Pauschalreise haften. senden kann so aber nicht erzielt werden.
Etwas zu einfach machen Sie es sich mit der Forde- Doch der Reihe nach: Unser Reiserecht ist – wen
rung nach der Zusammenlegung der reiserechtlichen Re- wundert es – sektoral untergliedert und passt sich so den
gelungen. Für die einzelnen Verkehrsträger Bahn, Flug- unterschiedlichen Ausgangssituationen des Reisens an.
zeug, Schiff oder Bus wurde mühsam auf spezielle – und Denn Flug-, Bahn-, Bus- oder Schiffsgesellschaften sind
teilweise sehr unterschiedliche – Notwendigkeiten abge- auch schwer unter einheitliche Rechtsvorschriften sub-
zielt. Auch hier muss stärker, als Sie es tun, ins Detail sumierbar. Kurzum: Unser Reiserecht betrifft die unter-
geschaut werden, welchen rechtlichen Spielraum es für schiedliche Situation der Verkehrsträger, die Nachfrage-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9153

(A) struktur und die Produkte. Trotz aller Eigenheiten Doch damit nicht genug. Es ist auch aus unserer Per- (C)
gewährt das deutsche Reiserecht den Reisenden schon spektive heraus zu bezweifeln, dass kleine Reisebüros
heute einen Schutz, der über den europäischen Standard vor Ort in der Konkurrenz zum Internetvertrieb erfolg-
teilweise weit hinausreicht. Gerade die Regelungen für reich bestehen könnten, wenn sie aufgrund einer ausge-
die Passagierrechte sind mit großem Aufwand und in weiteten Haftung – welcher Art auch immer – höhere
langen und schwierigen Verhandlungen für die einzelnen Preise verlangen müssten.
Verkehrsträger erst verabschiedet worden. Ich glaube,
dass eine Zusammenfassung der unterschiedlichen Be- Wir wissen es doch selbst: Deutsche Kunden sind
reiche das Reiserecht nur unnötig verkomplizieren ausgesprochen preissensibel, und schon heute lassen
würde. sich viele Verbraucher zwar im Reisebüro beraten, bu-
chen ihre Reise dann jedoch online, um Geld zu sparen.
Ebenso lassen sich die geltenden Verordnungen über Insofern spricht die Realität gegen diese Annahme.
die Passagierrechte nicht einfach mit dem Pauschalreise- Wahrscheinlicher ist, dass eine Verteuerung des stationä-
recht zusammenführen, da letzteres zum Vertragsrecht ren Vertriebs den bestehenden Trend zur „Ausnutzung“
gehört, die Passagierrechtsverordnungen hingegen nicht. der Beratungskompetenz des Reisebüros weiter verstär-
ken würde.
So finden wir im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auch die Forderung nach einer Ausweitung des Wir sind im Übrigen auch nicht der Auffassung, dass
Geltungsbereichs der Pauschalreiserichtlinie und eine es eines Ausbaus der Haftung von Reiseunternehmen be-
Anpassung des Begriffs der Pauschalreise. darf. Unserer Ansicht nach sind Reisebüros nicht in der
Lage, Druck auf die Veranstalter und deren Angebot re-
Ich kann Ihnen nur sagen, dass der Geltungsbereich spektive Qualität auszuüben. Dies ist alleine der Tatsa-
der Pauschalreiserichtlinie auf den Pauschalreisevertrag che geschuldet, dass Reisebüros Handelsvertreter des
beschränkt bleiben muss und nicht auf Einzelleistungen Veranstalters sind. Sie leben von dessen Provision. Wäh-
ausgeweitet werden darf. Denn das widerspricht doch je- rend es den Veranstalter nicht sonderlich schmerzt, auf
der Logik. Warum sollte ein Verbraucher, der mehrere ein einzelnes „rebellisches“ Reisebüro zu verzichten,
Einzelverträge über Reiseleistungen abschließt und sich kann der Verlust eines bestimmten Reiseveranstalters in
damit selbst eine Reise individuell zusammenstellt, den seinem Angebot für das Reisebüro gravierende wirt-
gleichen Schutz erhalten wie ein Verbraucher, der eine schaftliche Auswirkungen haben. Die Forderung von
durch einen Veranstalter zusammengestellte Reise kauft? Bündnis 90/Die Grünen trägt daher nicht der bestehen-
Dass es überhaupt eine Pauschalreiserichtlinie gibt, liegt den Verteilung von Verhandlungsmacht zwischen Veran-
an der möglichen Differenzierung nach Paket und Ein- staltern und Reisebüros Rechnung.
(B) zelleistung. Als ausschlaggebendes Kriterium dafür, Reisebüros brauchen Angebotsvielfalt, sie leben da- (D)
welche verlinkten Angebote von Reiseleistungen als
Pauschalreise zu bewerten sind und welche nicht, kann von. Denn der Vorteil und die Fähigkeit, die das Reise-
meiner Meinung nach das subjektive Empfinden des büro im Moment noch hat, sind die, dem Verbraucher
Verbrauchers herangezogen werden, so wie es bereits im aus einer Vielzahl von Angeboten das individuell pas-
deutschen Recht der Fall ist. sende zu empfehlen. Dies geht aber nur so lange, wie das
Reisebüro nicht gezwungen wird, sich unter den Schirm
In dem Antrag, der uns vorliegt, wird eine klare Tren- eines einzelnen Veranstalters zu begeben. Dies wäre je-
nung zwischen Reisevermittler und -veranstalter gefor- doch das Resultat einer ausgeweiteten Reisebürohaftung
dert. Einer Ausweitung der Reisebürohaftung steht die und widerspricht daher dem Ziel eines besseren Verbrau-
FDP-Bundestagsfraktion ausgesprochen kritisch gegen- cherschutzes Wir wollen weiterhin den Wettbewerb hier
über. Denn erklären Sie uns doch, welche Haftung von sichern – im Interesse der Kunden, der Reisenden und
Bündnis 90/Die Grünen gemeint ist. Schließlich wird ge- vor allem im Interesse der kleinen Reisebüros in unseren
genwärtig auf europäischer Ebene diskutiert, eine ge- Wahlkreisen. Denn das sind auch Arbeitsplätze, und die
meinsame Haftung von Veranstalter und Reisebüro im wären dank der Ideen von Bündnis 90/Die Grünen mal
Vertrieb von Pauschalreisen einzuführen. Insofern legt wieder gefährdet. Wer hilft denn der älteren Dame eine
die Formulierung im Antrag nahe, dass auf diese Debatte günstige Fernreise zu ihren Enkeln zu buchen? – Das
abgestellt wird. Reisebüro vor Ort.
Dabei ist zu beachten, dass bei einer gemeinsamen Kommen wir zu den vorvertraglichen Informations-
Haftung für Pauschalreisen das Reisebüro allein für die pflichten. Auch hier lehnen wir einen Ausbau entschie-
Absicherung der Kundengelder gegen eine Insolvenz des den ab. Wozu auch? Unserer Ansicht nach sind die Infor-
Veranstalters mehr als seine gesamte Provision aufwen- mationspflichten des Veranstalters bereits umfassend
den müsste. Der Einbezug des Reisebüros in die Haftung wie ausreichend geregelt. In der Realität ist doch eher
der Reiseveranstalter würde damit das deutsche Markt- eine Überforderung des Verbrauchers zu beobachten.
modell von Grund auf erschüttern, da Reisebüros keine Darüber hinaus ist es ganz grundsätzlich nicht erlaubt,
Wahl bliebe, als sich an einen einzelnen Veranstalter zu Falschaussagen in Katalogen zu treffen. Dem sei unbe-
binden, um dem Risiko, in Haftung genommen zu wer- nommen, dass Reiseprospekte in einer ihnen eigenen
den, zu entgehen. Damit müsste das Reisebüro seine Sprache abgefasst sind. Wer jedoch dazu Fragen hat oder
Rolle als unabhängiger Berater des Kunden aufgeben – genauere Informationen wünscht, hat jederzeit die Mög-
letztlich zum Schaden des Verbrauchers selbst. Das wol- lichkeit, sich im Reisebüro rückzuversichern und beraten
len wir nicht. zu lassen. Außerdem gibt es schon jetzt bei gravierender
9154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) Abweichung der Werbung für ein Hotel oder eine Leis- Es fehlt leider auch die Forderung, die Beschränkung (C)
tung für den Gast die Möglichkeit der Minderung. der Versicherungssumme pro Versicherungsgesellschaft
aufzuheben. Sie liegt derzeit bei 200 Millionen Euro pro
Unabhängig davon sind wir Liberale der Überzeu- Jahr, wohlgemerkt nicht pro Reiseveranstalter, sondern
gung, dass sich dieses Thema insbesondere über die zu- pro Versicherungsunternehmen. In Deutschland gibt es
nehmende Nutzung von Hotelbewertungsportalen zu- circa 1 000 Reiseveranstalter, wobei in jedem Reisebüro
künftig von selbst beruhigt. Reisen von mehr als 100 Veranstaltern angeboten wer-
den. Den Reiseversicherungsmarkt teilen hauptsächlich
Weiter fordern Bündnis 90/Die Grünen eine Novellie- fünf große Versicherungen unter sich auf. Diese mono-
rung der Reisegepäcksregelung. Auch das halte ich un- polartige Stellung muss dringend aufgehoben werden.
nötig, da dieser Betrag erst 2009 um 130 Euro angeho- Außerdem müssen die Verbraucherin und der Verbrau-
ben wurde – von vorher 1 170 Euro. Außerdem ist dieser cher die sofortige Auszahlung seiner gemeldeten An-
Betrag nicht national geregelt ist, sondern Gegenstand sprüche geltend machen können – bisher haben sie nur
des internationalen Abkommens von Montreal der Inter- am Jahresende hierauf einen Rechtsanspruch.
nationalen Zivilluftfahrt-Organisation ICAO ist. Eine
Anhebung der Entschädigungsgrenze im deutschen oder Bedauerlich ist auch, dass der Antrag der Grünen
europäischen Alleingang wäre somit auch in hohem vage bleibt hinsichtlich der auch von uns geforderten
Maße wettbewerbsverzerrend für deutsche bzw. europäi- Einführung einer wirklich wirksamen und unabhängigen
sche Fluggesellschaften. Schlichtungsstelle. So ist an keiner Stelle ausgeführt,
welche Kompetenzen die Schlichtungsstelle erhalten
Die Forderung nach einer Schlichtungsstelle im öf- soll.
fentlichen Personenverkehr, die verpflichtend für alle
Reiseverkehrsunternehmen wird, ist ja nicht neu. Des- Und noch etwas haben die Grünen vergessen: In
halb weise ich darauf hin, dass im Bundesjustizministe- Deutschland gibt es kein Lizenzsystem für Reiseveran-
rium bereits eine Projektgruppe ins Leben gerufen wor- stalter und Reisebüros. Derzeit gibt es in Deutschland
den ist, der auch Vertreter der Fluggesellschaften circa 12 000 registrierte Reisebüros und circa 1 000 Rei-
angehören. Ziel dieser Gruppe ist es, gemäß der Koali- severanstalter. Jede beliebige Person kann als Reisever-
tionsvereinbarung eine Schlichtungsstelle für Passagiere anstalter oder Reisebüro fungieren, Anforderungen und
von Fluglinien einzurichten. Kontrollen gibt es nicht. Die Einführung einer europäi-
schen Linzenz für Reiseveranstalter gesetzlich einzufüh-
So könnte ich meine Rede noch unendlich lange wei- ren, die an eine Insolvenzabsicherung gekoppelt ist,
terführen, um den mehr als 20 Forderungen der Fraktion wäre ein richtiger Schritt.
(B) Bündnis 90/Die Grünen im Einzelnen entgegenzutreten, Hier bin ich nun bei einem für uns ganz wesentlichen (D)
aber das würde meine Redezeit sprengen. Alles in allem Punkt angekommen: einer wirklichen Absicherung der
sind nahezu alle Forderungen weder zielführend in der Reisenden gegen die Insolvenz von Fluggesellschaften.
Verbesserung des Schutzes der Reisenden noch sind Besonders betroffen von einer uneinheitlichen Regelung
diese umsetzbar. Wollen wir denn wirklich den Bürokra- sind jene Verbraucherinnen und Verbraucher, die eine In-
tiedschungel für den Verbraucher noch undurchsichtiger dividualreise machen, da derzeit nur Pauschalreisende
machen, als er bisher schon ist? abgesichert sind. Diese Ungleichbehandlung ist nicht
nachvollziehbar und muss dringend geändert werden.
Kornelia Möller (DIE LINKE): Die heutige Welt ist Alle Reisenden und Fluggäste müssen wirksam gegen
durch eine erhöhte Mobilität und von einer ständig eine Insolvenz abgesichert werden. Hier besteht dringen-
wachsenden Zahl von Reisen geprägt. Das erhöhte Rei- der Handlungsbedarf!
seaufkommen führt aber auch unweigerlich zu einer Zu- Um im Falle einer Insolvenz eine Absicherung finan-
nahme der Probleme rund um das Reisen, wie Ausfälle, ziell auch wirklich gewährleisten zu können, befürwor-
Verspätungen, Überbuchungen und Annullierungen. ten wir – so wie die Grünen auch – die Einführung eines
Leidtragende sind immer die Reisenden! Deshalb ist es Fonds, um im Notfall ungedeckte Ansprüche bedienen
sehr begrüßenswert, dass heute, nachdem wir im Juni zu können.
über unseren Antrag „Fluggastrechte stärken“ debattiert
haben, das Thema „Schutz von Reisenden“ wieder auf Um aber seine Rechte wahrnehmen zu können, muss
der Tagesordnung steht. man überhaupt erst einmal wissen, welche Rechte einem
zustehen. Hier zeigt die Praxis immer wieder, dass Flug-
Generell kann den Anträgen der Grünen zugestimmt gesellschaften gesetzlich verankerte Rechte, die Flug-
werden, auch wenn an manchen Stellen nachgebessert gäste zum Beispiel bei Verspätungen oder Flugausfall
werden muss. So fehlt in dem recht ausführlichen und haben, verschweigen und missachten. Eine Untersu-
umfangreichen Antrag „Reisende besser schützen“ die chung der „Stiftung Warentest“ ergab schon im Mai
Einbeziehung des mobilen Reiseverkäufers. Bei dieser 2009, dass 86 Prozent der Passagiere von den Fluglinien
Art der Reisebuchung, die weder einem stationären Ver- keinerlei Informationen über ihre Rechtsansprüche er-
trieb wie im Reisebüro, noch dem Onlinevertrieb, ge- hielten, wie sie in der EU-Verordnung 261/2004 defi-
schweige denn einem Haustürgeschäft gleichzusetzen niert sind. Auch eine Umfrage, die am 15. November
ist, wird die Reise beim Verbraucher zu Hause abge- 2010 vom Bundesverband der Verbraucherzentralen ver-
schlossen. Hier besteht keine Versicherungspflicht gegen öffentlicht wurde, belegt die mangelhafte Umsetzung
falsche Beratung oder Insolvenz. von Fluggastrechten durch die Airlines:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9155

(A) Bestehende Ansprüche auf Betreuungsleistungen so- Die Linke setzt sich dafür ein, dass die Rechte der (C)
wie Ausgleichszahlungen wurden in den allermeisten Fluggäste durch die Bundesregierung gestärkt und die
Fällen von den Fluggesellschaften ignoriert. Nur jedem Voraussetzungen zur Durchsetzung dieser Rechte auch
Vierten boten die Airlines Entschädigungen an, und auch geschaffen werden. Wir brauchen ein einheitliches, kla-
das überwiegend erst auf Nachfrage. res und freundliches Reiserecht für Verbraucherinnen
und Verbraucher!
Auch ihrer Verpflichtung, die Fluggäste aktiv auf ihre
Rechte hinzuweisen, kamen die Fluggesellschaften in
über der Hälfte der Fälle nicht nach. Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wissen Sie wie viele verschiedene Rechtsakte den Ver-
Darauf folgende Beschwerden bearbeiteten sie sehr braucherschutz bei Verspätungen, Annullierungen,
zögerlich, 22 Prozent der betroffenen Fluggäste erhielten Nichtbeförderung etc. bei Reisen regeln? Nein? Kein
gar keine Antwort. Nur in 3 Prozent der Fälle verlief die Wunder! Denn es ist ein Dschungel. Und lassen sie mich
Rechtsdurchsetzung der Fluggäste reibungslos. eines sagen: Wir sind die Fachpolitiker, die das wissen
sollten. Es sind mehr als ein halbes Dutzend verschie-
Darüber hinaus nutzen Fluggesellschaften vermeintli- dene Regelungen, die hier eigentlich Klarheit schaffen
che Rechtsunklarheiten etwa bei Ansprüchen auf Scha- sollen und uns allen sofort einfallen sollten – schließlich
denersatz und Ausgleichzahlungen – Letztere fallen sind wir ja alle mündige Verbraucher. Aber dazu kom-
auch bei Naturkatastrophen wie dem isländischen Vul- men noch viele weitere Regelungen, die ebenfalls das
kanausbruch an – einseitig zu ihren Gunsten. Ich frage Reiserecht tangieren. Was ich Ihnen damit deutlich ma-
Sie, meine Damen und Herrn Koalitionäre, sehen Sie chen möchte? Der Theorie nach ist das Verbraucher-
denn nicht auch, dass hier dringender Handlungsbedarf schutzniveau damit sehr gut. Aber eben nur der Theorie
besteht und nicht alleine die Luftfahrtunternehmen in der nach – wie sich immer wieder herausstellt.
Pflicht stehen, sondern auch der Gesetzgeber?
Eine Feststellung gilt es gleich zu Beginn zu treffen:
Hilfreicher für die Durchsetzung der Fluggastrechte Die meisten Reisenden wissen wenig bis gar nichts von
wäre sicherlich die Erfassung und Evaluierung von be- ihren Rechten. Und viele Unternehmen tun auch aktiv
stimmten Daten, wie sie die Grünen in Ihrem Antrag auf sehr wenig, um dies zu ändern. Im Gegenteil: Selbst von
Drucksache 17/4041 fordern. Gesichertes, öffentlich- renommierten Unternehmen wird dies zuweilen ausge-
rechtliches Datenmaterial ist laut Bundesregierung ja nutzt. Woher diese Erkenntnis? Klingt sie doch zunächst
Voraussetzung für die Einleitung von Ordnungswidrig- furchtbar plakativ. Das bestätigt – mitunter – die Euro-
keitsverfahren, somit ist die Forderung der Grünen ge- päische Kommission, beispielsweise mit ihrem Euroba-
rechtfertigt und unterstützenswert. rometer zu den Fluggastrechten. Tenor dieser Untersu-
(B) chung: Die Reisenden sind der Auffassung, dass die (D)
Allerdings müssten über das Verkehrsstatistikgesetz Informationen, die sie im Falle von Unannehmlichkeiten
auch die Gründe für Verspätungen, Annullierungen, erhalten, unzureichend sind, und besonders unzufrieden
Nichtbeförderung oder Herabstufung im Sinne der EG- sind sie mit der Entschädigung in derartigen Fällen.
Verordnung Nr. 261/2004 aufgeführt werden. Diese Da-
ten könnten dann von den betroffenen Fluggästen zur Damit kommen wir zum zentralen Problem. Denn das
einfacheren Einforderung ihrer Rechte verwendet wer- liegt in der Rechtsdurchsetzung. Sprich: Was ist, wenn
den. Eine weitere Maßnahme im Sinne der Verbrauche- Reisende ihren theoretischen Anspruch tatsächlich
rinnen und Verbraucher wäre eine öffentliche Darlegung durchsetzen wollen? Da gilt es weite Wege zurückzule-
der Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen Fluggesell- gen. Das wollen wir ändern – deshalb dieser Antrag, den
schaften, um über die Zuverlässigkeit der einzelnen wir heute debattieren.
Fluggesellschaften zu informieren und so eine höhere Aus zahlreichen Bürgerzuschriften wissen wir, dass
Transparenz zu erzielen. einige Unternehmen die Unwissenheit der Reisenden für
sich ausnutzen und sie bei Widerspruch mit standardi-
Zum Schluss möchte ich doch noch kurz auf einen an- sierten Schreiben zu besänftigen – man könnte auch sa-
dern aber dennoch wichtigen Aspekt eingehen. Es sollte gen: abzuwimmeln – versuchen. Die Schlichtungsstellen
unbestreitbar sein, dass denjenigen, die Unannehmlich- und Verbraucherverbände können sich vor Anfragen
keiten bei ihrer Reise ausgesetzt waren, zu ihrem Recht kaum retten. Trotzdem ist die Zahl derjenigen, die sich
und zu einer adäquaten Entschädigung verholfen wird. an diese Institutionen wenden, gemessen am Beschwer-
Genauso unbestreitbar sollte aber sein, dass Reisen für depotenzial sehr gering. Wir wissen alle, wie in vielen
alle möglich ist. So kann es beispielsweise nicht sein, Fällen dann der weitere Verfahrensgang ist. Nur Ver-
dass EU-Verordnungen zum barrierefreien Reisen – Ver- braucher mit Rechtsschutz zeigen weiteren, gegebenen-
ordnung Nr. 1107/2006 –, die seit 2008 schon geltendes falls auch juristischen Widerstand. Doch lassen Sie mich
Recht in Deutschland sind, immer noch nicht vollständig das hier einmal ausdrücklich festhalten: Nicht jeder Bun-
umgesetzt sind. Ein Bespiel ist die kostenlose Mitnahme desbürger hat eine Rechtsschutzversicherung.
eines zweiten Rollstuhls, die aber immer noch Kosten
verursacht. Zudem können Rollstuhlfahrerinnen und Die nach Verordnung legitimierten Durchsetzungs-
Rollstuhlfahrer die Bordtoiletten nur mit Bordrollstühlen stellen kümmern sich sehr wenig um die Rechte der Rei-
erreichen, die jedoch nur in wenigen Flugzeugen vorge- senden. Ordnungswidrigkeitsverfahren – bei Flugreisen
halten werden. Das ist ein nicht hinnehmbarer Miss- zwischen 3 000 und 4 000 pro Jahr – stehen in keinerlei
stand. Verhältnis zum Beschwerdepotenzial. Gemessen an an-
9156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) deren europäischen Staaten dürfte das täglich mehrere Qualitätsstandards zusammen mit der Reiseindustrie (C)
Hundert Fälle betragen. Einige deutsche Amtsgerichte durchzusetzen. Außerdem sollte eine intermodale An-
beklagen hingegen schon heute Überlastungen. passung der Schadenersatzansprüche – also entlang der
Verkehrsträger – geprüft werden.
Die derzeitigen Bußgelder sind weder abschreckend
noch wirksam. Das zeigt uns der Bereich der Fluggast- Die meisten Probleme haben sich bislang aufgrund
rechteverordnung. Dort liegen Bußgelder bei durch- der unzureichenden Definition von außerordentlichen
schnittlich 3 000 Euro, Tendenz fallend. Und dann der Umständen ergeben. Deshalb muss hier eine Klarstel-
Gipfel: Für die Evaluation benötigte Parameter liegen lung erfolgen. Die Bundesregierung wäre gut beraten,
den deutschen Behörden nicht einmal vor. hier in den Debatten die genannten Punkte im Interesse
der Verbraucher einzubringen. Soweit die europäische
So weit die Beschreibung des Ist-Zustandes. Niemand
Dimension des Antrags.
kann sich mit dieser Situation abfinden. Ich bin der Auf-
fassung, dass dies auch für die betroffenen Reise- und Es gibt aber selbstverständlich auch Dinge, die wir
Verkehrsunternehmen kein Zustand ist, der besonders er- national regeln und verbessern können. Wichtigste und
strebenswert ist. Kunden erwarten heute auch in diesem zugleich einfachste Maßnahme: Wir brauchen eine kon-
Bereich sehr viel. Eine konsequente Neuregelung wäre sequentere Nutzung von Sanktionen bei Verstößen durch
meines Erachtens auch ein Fortschritt für die Unterneh- die Durchsetzungsstellen, beispielsweise das Luftfahrt-
men. bundesamt. Da liegt viel im Argen. Die eingangs vorge-
Derzeit wird das Herzstück des Reiserechts mit der stellten Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.
Pauschalreiserichtlinie und der Fluggastrechteverord- Zugleich muss Privatpersonen die Beschwerdehürde
nung von der Europäischen Kommission überarbeitet. In und somit der Anspruch im Hinblick auf Schadensersatz
den bisherigen Anhörungen und Beratungen auf Rats- erleichtert werden. Bislang hilft, wie eingangs bereits
ebene zeigte die Bundesregierung überhaupt kein Ge- dargestellt, häufig nur der Rechtsweg. In nahezu jedem
sicht, äußerte sich zuweilen sogar gar nicht, wie Herr Fall müssen zusätzliche Kosten – trotz entsprechender
Ramsauer in der Sondersitzung Ende April 2010 bewie- Verordnung – vorgestreckt werden. Das muss vermieden
sen hat, als die Fluggastrechte als prioritäres Thema auf- werden. Wichtigster Punkt für uns ist dabei die Einbin-
gerufen waren. dung der Fluggesellschaften in die Schlichtungsstelle öf-
Aufgrund der zögerlichen Haltung der Bundesregie- fentlicher Personenverkehr, SÖP, wie es Mitte Septem-
rung auf europäischer Ebene und bei der Durchsetzung ber im Übrigen auch die Verbraucherschutzminister der
des Gemeinschaftsrechts haben wir einen Antrag formu- Länder – ebenfalls – einstimmig beschlossen haben.
Auch das Eurobarometer der EU-Kommission sieht hier
(B) liert, der das Ziel hat, einerseits das in Deutschland gute Handlungsbedarf. Eine gut zugängliche Behörde auf na- (D)
Verbraucherschutzniveau auf EU-Ebene zu übertragen
und andererseits die Schwachstellen bei der Rechts- tionaler Ebene, die sich um die Probleme der Reisenden
durchsetzung zu beheben. Wir wollen eine einheitliche kümmert, könne die Lösung der Probleme sein, so die
Regelung zum Reiserecht, wie es Mitte September auch Schlussfolgerung der Untersuchung.
die Verbraucherschutzminister der Länder einstimmig Unser Ziel sind ein hohes Verbraucherschutzniveau
beschlossen haben. Wir wollen, dass die Rechte von und zufriedene Reisende. Darin sind wir uns alle einig.
Flug-, Bahn-, Schiffs-, Pauschal- und wie auch immer Zufriedene Kunden sind gut für die Reisewirtschaft und
sonst Reisenden in einem Rechtsakt gebündelt werden. deshalb würden wir uns freuen, wenn Sie unseren An-
In diesem Zusammenhang muss man wirklich betonen, trag folgen könnten – im Interesse der Reisenden und der
dass diese Forderung nicht nur von uns, sondern auch Wirtschaft.
von allen Bundesländern erhoben wird, gleichwohl von
welchen Parteien sie regiert werden. Diese Vereinheitli-
chung des Reiserechts bedeutet nicht nur Entbürokrati- Anlage 5
sierung, sondern auch ein Mehr an Verbraucherschutz.
Denn nur das, was der Verbraucher weiß und versteht, Zu Protokoll gegebene Reden
weiß er zu nutzen.
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Welche Elemente sollte diese neue europäische Rege- Änderung des Gesetzes über die Einsetzung ei-
lung also im Interesse der Reisenden umfassen? Wir nes Nationalen Normenkontrollrates (Tagesord-
wollen eine Integration des Beförderungssektors in das nungspunkt 19)
Reiserecht. Wir müssen reden über die Ausweitung des
Geltungsbereichs der Pauschalreiserichtlinie und des Be- Kai Wegner (CDU/CSU): Ich will heute mit einem
griffs der Pauschalreise. Da bedarf es einer Anpassung Beispiel beginnen, das uns allen schnell verdeutlichen
an das moderne Buchungsverhalten und -angebot über wird, worüber wir bei diesem Tagesordnungspunkt re-
das Internet, das sogenannte Dynamic Packaging. Wir den: Die Zehn Gebote Gottes haben 279 Wörter, die
wollen eine klare Trennung zwischen Reisevermittler amerikanische Unabhängigkeitserklärung hat 300 Wör-
und -veranstalter und eine längst überfällige Präzisie- ter, aber die EU-Verordnung zur Einfuhr von Karamell-
rung, wer wann was ist. Eine verschärfte Haftungspflicht bonbons hat 25 911 Wörter!
sollte auch für Vermittler in der EU und nicht nur in
Deutschland gelten. Ein Nebeneffekt könnte sein, dass Nun, es ist ja erfreulich, dass in Deutschland so viele
es auf diese Weise leichter gelingt, adäquate, einheitliche Dinge genauestens und bis ins letzte Detail geregelt sind
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9157

(A) – dafür werden wir ja auch gelegentlich bewundert –, bis Ende nächsten Jahres das Ziel zu erreichen. Das er- (C)
aber diese, fast schon zwanghafte Regelungswut wird fordert Kondition und, was fast noch wichtiger ist, politi-
für uns mehr und mehr zu einer großen Last. Wenn man sche Willensstärke.
die Bürger befragt, was für sie Bürokratie bedeutet, dann
bekommt man schon mal als Antwort zu hören: Von der Zudem haben sich die Rahmenbedingungen durch die
Wiege bis zur Bahre Formulare, Formulare. Wirtschafts- und Finanzkrise verändert und erfordern in
einigen Fällen mehr Regelungen. Die Verunsicherung ist
Wir haben zwar inzwischen schon an der ein oder an- groß und fördert die Versuchung, das Erreichte durch
deren Stelle Ordnung in den Wust an Verordnungen, neue Bürokratiebelastungen wieder zu gefährden. Büro-
Regelungen und Gesetzen gebracht und mit über kratie zu reduzieren und gleichzeitig wichtigen Bedürf-
300 Entlastungsmaßnahmen so manchen Papierstapel nissen anderer politischer Themenfelder gerecht zu wer-
beiseite geräumt. Aber dennoch ist die Belastung, insbe- den, wurde immer mehr zum Balanceakt. Deshalb ist es
sondere für die Wirtschaft, unverhältnismäßig hoch. Und eine große Errungenschaft der christlich-liberalen Bun-
auch das Problem der Spürbarkeit der Entlastung bleibt desregierung, dass zum ersten Mal „Bürokratieabbau“
weiterhin bestehen. und „bessere Rechtsetzung“ als eigenständige Politik-
ziele, gleichrangig und vollwertig, neben anderen Poli-
Dies bestätigt uns auch eine aktuelle Umfrage unter
tikzielen stehen. Mit unserem Staatsminister für Büro-
den Unternehmern. Nur eine kleine Zahl – 3 Prozent –
kratieabbau, Eckart von Klaeden, und seiner Ge-
der befragten Unternehmen registrierten eine Verringe-
schäftsstelle haben wir in diesen Fragen unermüdliche
rung administrativer Lasten, 36 Prozent merkten keine
und engagierte Streiter im Bundeskanzleramt. Dafür
Veränderung, und 44 Prozent spürten sogar eine Zu-
möchte ich an dieser Stelle herzlichen Dank sagen.
nahme von bürokratischen Aufgaben.
Das ist zugegebener maßen ein eher unerfreuliches Um auch weiterhin positive Ergebnisse sicherzustel-
und enttäuschendes Ergebnis. Denn tatsächlich konnten len, werden wir unsere Anstrengungen verstärken müs-
insgesamt mehr als 6,7 Milliarden Euro an unnötiger Bü- sen. Denn die Akzeptanz von politischen Großprojekten
rokratie eingespart werden. Damit wurden mehr als dürfte entscheidend von ihrer möglichst alltagstaugli-
22 Prozent an Bürokratiekosten im Vergleich zum Jahr chen Ausgestaltung abhängen. Zudem müssen wir tun-
2006 abgebaut. lichst darauf achten, dass wir die bereits erzielten Entlas-
tungen von rund 7 Milliarden Euro pro Jahr nicht durch
Aber Bürokratieabbau ist kein Kurzstreckenlauf. neue Belastungen an anderer Stelle wieder erhöhen. Der
Nein – Bürokratieabbau ist wie ein Marathonlauf! Die berühmte Jojo-Effekt wäre an dieser Stelle mindestens
ersten Kilometer gehen relativ einfach, den größten Teil genauso ärgerlich.
der Strecke schafft man unter den zu erwartenden An-
(B)
strengungen. Aber irgendwann fängt es dann an wehzu- Damit das nicht passiert, wird uns der Nationale Nor- (D)
tun. Um das Ziel zu erreichen, muss man alle Kräfte und menkontrollrat genau beobachten. Und das wollen wir
Reserven anzapfen. Umso schöner ist es, wenn man die auch!
Ziellinie erreicht hat und die Anstrengung spürbar nach- Mit der Änderung des Normenkontrollratsgesetzes,
lässt. das heute zur Abstimmung steht, bezieht die Koalition
Man könnte sagen: Die Bundesregierung ist mit ih- den Normenkontrollrat umfassender in die Rechtsetzung
rem Beschluss „Eckpunkte zum Bürokratieabbau und mit ein. Er wird erheblich gestärkt, und sein Mandat und
bessere Rechtsetzung“ Anfang des Jahres auf der Zielge- die Kompetenzen werden ausgeweitet. Der unabhängige
raden des Marathons Bürokratieabbau eingelaufen. Das Normenkontrollrat bleibt die zentrale Institution des Bü-
Ziel, 25 Prozent der Bürokratiekosten bis Ende nächsten rokratieabbaus.
Jahres zu senken, liegt nicht mehr in allzu weiter Ferne. Bisher prüft der Normenkontrollrat bei allen Gesetz-
Wenn wir es erreichen wollen, heißt es jetzt: Alle vor- entwürfen der Bundesregierung die Darstellung des bü-
handenen Kräfte und Reserven aktivieren, damit die rokratischen Aufwands, der durch die Befolgung soge-
noch knapp fehlenden 3 Prozentpunkte abgebaut werden nannter Informationspflichten bei Bürgern, Wirtschaft
können. und öffentlicher Verwaltung entsteht – und regt gegebe-
Ich bin zuversichtlich, dass wir diesen Marathonlauf nenfalls die Erarbeitung kostengünstigerer Alternativen
schaffen werden. Denn mit der klaren Selbstverpflich- an. Künftig soll diese Begutachtung auf den gesamten
tung zum Nettoabbauziel und mit dem Ausbau der Kom- Aufwand ausgedehnt werden, der für die Betroffenen bei
petenzen des Nationalen Normenkontrollrats machen der Erfüllung bundesrechtlicher Vorschriften anfällt. Das
wir einen großen Schritt hin zu mehr Entlastung für die ist unter dem sogenannten Erfüllungsaufwand in § 2 zu
Bürger, die Verwaltung und vor allem für die Wirtschaft. verstehen. Dies bedeutet, dass in Zukunft alle Belastun-
gen, die sich aus der Umsetzung eines Gesetzes ergeben,
Für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist es von in den Blick genommen werden. Ein mutiger und be-
essenzieller Bedeutung, den begonnenen Lauf weiter wusster politischer Schritt zu einem ganzheitlichen An-
fortzusetzen. Denn nach wie vor ist der Mittelstand und satz, wie ich finde.
sind die kleinen Unternehmen von staatlicher Regulie-
rung besonders stark betroffen. Ausgehend von einer Das entscheidend neue Element des Regierungspro-
Gesamtbelastung der Wirtschaft von rund 50 Milliarden gramms ist die Betrachtung des gesamten Aufwands, der
Euro müssen noch Abbaumaßnahmen von etwa zur Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung notwen-
1,5 Milliarden Euro auf den Weg gebracht werden, um dig ist. Diese Ausweitung des Programms auf den ge-
9158 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) samten Erfüllungsaufwand bringt einen Perspektivwech- mit der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen verbinde (C)
sel mit sich: Das Recht wird aus der Sicht aller ich die große Hoffnung, dass wir zu einer für die Unter-
Betroffenen untersucht und weiterentwickelt. Damit be- nehmen wirklich sichtbaren und spürbaren Entlastung
tritt die Bundesregierung – auch im internationalen Ver- kommen. Wenn die Betriebe nur noch halb so viel Platz
gleich – methodisches Neuland. Wenn wir jetzt ein ähn- für ihre Akten und Steuerunterlagen vorhalten müssen
lich objektives Messverfahren für den Erfüllungs- als jetzt, dann können sie die frei werdenden Räumlich-
aufwand für Bürgerinnen und Bürger, die Wirtschaft und keiten sinnvoller nutzen, und es schmälert zugleich die
die Verwaltung erarbeiten, wie es das Standard-Kosten- Kosten für die Archivierung.
Modell leistet, dann sind wir an der Spitze der internatio-
nalen Entwicklung. Unser Ziel muss doch immer eines bleiben, nämlich:
Umfang und Nebenwirkungen der Regelungen so gering
Ich begrüße es deshalb sehr, dass das Prüfungsrecht wie möglich zu halten!
des Normenkontrollrats entsprechend erweitert wird.
Die geplante Mandatserweiterung ist auch Ausdruck der Denn nur wenn die Menschen in unserem Land das
hohen Wertschätzung für die Arbeit des Normenkont- Gefühl haben, dass es den tatsächlichen Willen gibt, Bü-
rollrats. Und an dieser Stelle möchte ich mich deshalb rokratie auf ein Minimum zu reduzieren, dann wächst
ganz herzlich bei allen bedanken, die im Normenkon- auch die Akzeptanz staatlichen Handelns, und zwar auf
trollrat mitarbeiten – sowohl bei denen, die den Normen- allen Ebenen.
kontrollrat selbst bilden, als auch bei den Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeitern.
Andrea Wicklein (SPD): Der Nationale Normen-
Neben den Regelungsentwürfen der Bundesministe- kontrollrat wurde vor vier Jahren durch die Große Koali-
rien soll der NKR künftig außerdem Gesetzesentwürfe tion ins Leben gerufen und hat bereits viel erreicht. Bis-
des Bundesrates, wenn sie ihm vom Bundesrat zugeleitet her konnte die Bürokratiebelastung der Wirtschaft um
werden, und Regelungsvorhaben aus der Mitte des Bun- über 7 Milliarden Euro pro Jahr reduziert werden.
destages, soweit die einbringende Fraktion bzw. die ein- Besonders wichtig ist auch die Arbeit des Normenkon-
bringenden Abgeordneten dies beantragen, prüfen kön- trollrates an Modellprojekten zum Abbau des Voll-
nen. An dieser Stelle hat die Anhörung zum zugsaufwandes. So wurde zum Beispiel das BAfög-An-
Normenkontrollratsgesetz einige politische und verfas- tragsverfahren durchleuchtet. Der Normenkontrollrat
sungsrechtliche Fragen aufgeworfen. Die in unserem wächst da auch in eine Beratungsfunktion für die unteren
Änderungsantrag vorgesehene Regelung stellt nun klar, politischen Ebenen hinein.
dass jedes Verfassungsorgan seine Initiativen dem Nor-
Für uns als Parlamentarier hat der Normenkontrollrat
(B) menkontrollrat eigenständig zuleiten kann. eine wichtige Funktion: Bürokratiekosten, die aus Infor- (D)
An dieser Stelle möchte ich kurz erwähnen, dass ich mationspflichten entstehen, werden transparent gemacht
mich sehr darüber freue, dass alle Fraktionen dieses und damit wird uns eine wichtige Entscheidungsgrund-
Hauses den grundsätzlichen Kurs der Regierungskoali- lage für die Beratung von Gesetzen an die Hand gege-
tion in Sachen Bürokratieabbau unterstützen. Es mag an ben.
der ein oder anderen Stelle unterschiedliche Herange-
hensweisen geben, wie die Abbauziele zu erreichen sind. Schon bei der Formulierung von Gesetzen sorgt die
Auch gibt es gewisse Wünsche und Begehrlichkeiten, Überprüfung durch den Normenkontrollrat dafür, dass
die in diesem Zusammenhang gesehen werden. Aber im unnötige Belastungen der Wirtschaft und der Bürgerin-
Großen und Ganzen sind wir uns alle einig, dass wir den nen und Bürger vermieden werden. Es geht darum, Ge-
eingeschlagenen Weg weiterhin zusammen gehen müs- setze besser zu machen. Es geht um bessere Regeln,
sen. mehr Transparenz und eine bessere Rechtsetzung. Ich
begrüße daher, dass bei dieser Reform ein weitgehender
Allerdings haben wir noch eine schwierige Strecke Konsens erzielt werden konnte.
vor uns. Denn auch wenn wir einen wichtigen Etappen-
erfolg erzielt haben – und der Jahresbericht der Bundes- Doch Bürokratieabbau ist leider bei einigen zu einem
regierung zum Bürokratieabbau, der gestern vorgestellt Schlagwort für Staatsabbau geworden. Daraus resultie-
wurde, zeigt uns dies –, darf jetzt der Siegeswille nicht ren auch die Befürchtungen, die vor allem Gewerkschaf-
nachlassen. ten gegen das Programm zum Bürokratieabbau haben.
Für das Jahr 2011 sind zahlreiche weitere Maßnah- Ich möchte deshalb für die SPD noch einmal ausdrück-
men vorgesehen, die die Wirtschaft trotz notwendiger lich betonen: Uns geht es beim Bürokratieabbau darum,
neuer Belastungen zusätzlich um 4,6 Milliarden Euro Verwaltungsabläufe zu überprüfen und zu modernisie-
entlasten werden. Die Maßnahmen reichen von der zu- ren, wenn möglich zu vereinfachen. Für uns bedeutet
künftigen Möglichkeit der papierlosen Kommunikation Bürokratieabbau aber nicht, bewährte soziale oder ge-
mit den Finanzämtern über die Bereitstellung vorausge- sellschaftliche Standards zu reduzieren oder notwendige
füllter Steuererklärungen bis hin zur Vereinfachung des Aufgaben des Staates infrage zu stellen. Ob im Umwelt-
Unternehmensteuerrechts. schutz, beim Steuerrecht oder beim Arbeitsrecht: Eine
effiziente Verwaltung ist notwendig, um die Interessen
Insbesondere die Verkürzung und Harmonisierung der Bürgerinnen und Bürger und der Gemeinschaft zu si-
der Aufbewahrungsfristen im Steuer-, Handels- und chern. Uns geht es um ein besseres Verhältnis der Bürge-
Sozialrecht werden wir mit Nachdruck begleiten. Denn rinnen und Bürger zu den staatlichen Stellen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9159

(A) Gleichzeitig möchte ich denjenigen, die jede Bürokra- derungsvorschlag abgelehnt. Eine Klarstellung an dieser (C)
tie gleich als unbeherrschbares Monster darstellen, an Stelle ist dringend geboten. Nun muss der Normenkon-
dieser Stelle sagen: Staatliche Regeln sorgen für Bere- trollrat selbst in seiner täglichen Arbeit für Klärung sor-
chenbarkeit, Rechtsschutz und Gleichbehandlung. Erst gen.
die Erhebung von Informationen durch den Staat sorgt
für Steuereinnahmen oder sinnvolle Regulierung. Erst Wir setzen natürlich darauf, dass der Nationale Nor-
die nötigen Informationen sichern dem Hartz-IV- oder menkontrollrat so wie in der Vergangenheit Bescheiden-
BAfög-Empfänger seine Leistungen. Trotzdem muss das heit übt. Wir werden aber als Opposition sehr genau da-
Ausfüllen eines BAfög-Antrages nicht 335 Minuten rauf achten, dass der Normenkontrollrat von einigen
dauern, wie der Normenkontrollrat herausgefunden hat. nicht als Einfallstor missbraucht wird, um soziale oder
Der Bürokratieabbau sollte daher nicht ideologisiert ökologische Standards oder Rechte von Arbeitnehmerin-
werden – seine Instrumente auch nicht. Wir bestehen da- nen und Arbeitnehmern abzubauen. Die übergeordneten
rauf, dass der Nationale Normenkontrollrat nicht als Ziele des Bürokratieabbaus sind – so glaube ich – kon-
politisches Instrument missbraucht wird. sensfähig. Dazu zählt, Gesetze besser zu machen,
Regeln zu vereinfachen und den Vollzug von Gesetzen
Wir werden mit dem Abbau bürokratischer Lasten kostengünstiger hinzubekommen. Der Nationale Nor-
dann Erfolg haben, wenn Unternehmen und Bürgerinnen menkontrollrat ist dafür auch das entscheidende Instru-
und Bürger durch effizientere Prozesse und einen redu- ment. Mir ist kein besseres bekannt.
zierten Aufwand für das Ausfüllen von Formularen die
Entlastungen tatsächlich spüren. Das wird auch die Ak- Deutschland hat dabei eine Vorbildwirkung. Das
zeptanz für unvermeidbare Bürokratie erhöhen. Wir se- Standardkostenmodell wird in vielen europäischen Staa-
hen es als SPD daher positiv, dass die Befugnisse des ten angewandt. Den gesamten Erfüllungsaufwand zu
Normenkontrollrates ausgedehnt werden sollen, dass in messen ist jedoch Neuland. Das hat auch die Anhörung
Zukunft der gesamte Erfüllungsaufwand dargestellt wer- im Deutschen Bundestag ergeben. Wir wissen, dass es
den muss. Das resultiert auch aus den gesammelten Er- sich dabei um einen laufenden Prozess handelt, der die
fahrungen, die der Normenkontrollrat seit seiner Einset- weitere Begleitung durch den Bundestag, aber auch
zung im Jahr 2006 machen konnte. durch die Öffentlichkeit und Fachexperten bedarf. Sicher
erleben wir heute nicht die letzte Reform des Nationalen
Bis jetzt hat sich der Normenkontrollrat auf die Büro- Normenkontrollrates. Die SPD wird sich auch in Zu-
kratiekosten beschränkt, die aus bundesrechtlichen In- kunft dafür einsetzen, dass der zu überprüfende Erfül-
formationspflichten entstehen. Zukünftig soll der Rat er- lungsaufwand von Gesetzen deutlicher formuliert wird.
mitteln, ob der gesamte Aufwand der Unternehmen und Vielleicht übernimmt die Regierungskoalition dann auch
(B) der Bürger zur Erfüllung einer gesetzlichen Norm ord- diesen Vorschlag der SPD. (D)
nungsgemäß durch den Einbringer eines Gesetzes darge-
stellt wurde. Es soll auch möglich sein, Gesetzentwürfe Denn es bleiben offene Fragen: Wie wird der Nor-
auf Antrag des Bundesrates oder der Fraktionen des menkontrollrat in Zukunft mit seinen neuen Befugnissen
Bundestages zu überprüfen. umgehen? Die Regierungskoalition hat ja auf einen kla-
ren Rahmen jetzt weitgehend verzichtet. Werden wir in
Im federführenden Ausschuss für Wirtschaft und Zukunft darüber diskutieren, was der Normenkontrollrat
Technologie hatten wir einen Änderungsantrag einge- überhaupt kontrolliert? Ich denke nicht, dass solche offe-
bracht. Kritisch sahen und sehen wir zwei Punkte, die nen Fragen der Arbeit des Normenkontrollrates gut tun.
ich kurz erläutern möchte. Zum einen war es uns wichtig Sie werden sicher in näherer Zukunft bei weiteren Refor-
zu betonen, dass der Normenkontrollrat nicht politisch men zu beantworten sein.
instrumentalisiert werden darf – weder von der Regie-
rung noch von der Opposition. Bei der Anhörung wurde Frank Schäffler (FDP): Ludwig Erhard hat einmal
sogar die Frage der Verfassungswidrigkeit aufgeworfen. gesagt: „Was sind das für Reformen, die uns Wände voll
Wir haben daher vorgeschlagen, dass Gesetzentwürfe neuer Gesetze, Novellen und Durchführungsverordnun-
aus dem Parlament nur auf Wunsch der einbringenden gen bringen? Liberale Reformen sind es jedenfalls nicht.
Fraktion überprüft werden sollten. Ich freue mich, dass Es sind Reformen, die in immer ausgeklügelterer Form
die Regierungsfraktionen unserem Vorschlag gefolgt Bürger in neue Abhängigkeiten von staatlichen Organen
sind und ihn übernommen haben. bringen, wenn nicht sogar zwingen.“
Zum anderen wollten wir klarstellen, dass über die Die Themen „Bürokratieabbau“ und „bessere Recht-
politische Zielsetzung von Gesetzentwürfen allein das setzung“ sind für die christlich-liberale Koalition zen-
Parlament entscheidet, nicht der Normenkontrollrat. Wir trale Themen. In unserem Koalitionsvertrag haben wir
wollten daher deutlicher formulieren, was unter „Erfül- uns der Maxime verpflichtet: „Der freiheitliche Staat soll
lungsaufwand“ zu verstehen ist. Er sollte unserer Mei- nicht bevormunden, sondern den Gestaltungsraum von
nung nach nur den direkten zeitlichen und monetären Bürgern und Unternehmen respektieren.“
Aufwand umfassen. Wir wollten ihn vom Vollzugsauf-
wand der Behörden unterscheiden und die indirekten Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Meilenstein
Auswirkungen von Gesetzen, wie zum Beispiel auf auf dem Weg zur konsequenten Fortsetzung des Büro-
Wachstum, Beschäftigung oder Investitionsentscheidun- kratieabbaus und der besseren Rechtsetzung. Mit ihm
gen von der Prüfung durch den Normenkontrollrat aus- werden wir den Nationalen Normenkontrollrat, NKR,
nehmen. Leider hat die Regierungskoalition diesen Än- stärken. Als unabhängige und kompetente Institution
9160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) wird er zukünftig nicht nur die Gesetzentwürfe der Bun- zugs, nicht aber den Nutzen von Gesetzen. Wenn aber (C)
desregierung prüfen, sondern die Vorlagen aller Gesetz- die Sinnhaftigkeit eines Gesetzes außerhalb der Betrach-
gebungsorgane: Der NKR überprüft die Regelungsent- tung bleibt, sind auch vernünftige Abwägungen von
würfe der Bundesministerien vor deren Vorlage an das Kosten und Nutzen unmöglich. Zweitens konzentriert
Bundeskabinett. Regelungsvorlagen des Bundesrates sich der Kontrollrat auf die Entlastung der Unternehmen
prüft er, wenn sie ihm vom Bundesrat zugeleitet werden. und dabei insbesondere auf die Vermeidung von Infor-
Gesetzesvorlagen des Bundestages prüft der NKR auf mationspflichten. Diese beiden Schwerpunkte sind zu ei-
Antrag der einbringenden Fraktion oder der einbringen- genständigen Politikzielen geworden. Statt auf bessere
den Abgeordneten. Damit wird die Qualität der Recht- Regulierung zielt der NKR auf Deregulierung.
setzung aller Gesetzgebungsorgane erhöht. Das Statisti-
Die nun beabsichtigte Erweiterung des NKR-Mandats
sche Bundesamt steht Bundesregierung, Bundestag und
ist angesichts der Krisenerfahrungen der vergangenen
Bundesrat bei Bedarf unterstützend zur Verfügung.
Jahre abzulehnen. Bessere, zielgenauere Regulierung
Der durch Informationspflichten ausgelöste Aufwand, sollte im Mittelpunkt stehen und nicht noch mehr einsei-
auf den sich der Bürokratieabbau bisher beschränkte, tige Deregulierung. Einem falsch konstruierten und
macht nur einen geringen Teil der Gesamtbelastung falsch mandatierten Gremium noch mehr Befugnisse zu
durch eine rechtliche Regelung aus. Deshalb haben wir geben, lehnen wir entschieden ab. Den Handlungsbe-
den engen Begriff der Bürokratiekosten ausgedehnt: Mit reich des NKR auch auf die Gesetzesinitiativen der Frak-
dem Erfüllungsaufwand werden der gesamte messbare tionen, also auch der Opposition, ausdehnen zu wollen,
Zeitaufwand und die Kosten, die durch bundesrechtliche haben wir von Anfang an abgelehnt. Das zumindest hat
Vorschriften bei Bürgerinnen und Bürgern, bei Unter- jetzt auch die Koalition eingesehen und darauf mit einem
nehmen sowie bei der öffentlichen Verwaltung entste- eigenen Änderungsantrag reagiert.
hen, dargestellt. Aber an der falschen Ausrichtung des NKR ändert
Ein entscheidender Faktor für den bisherigen Erfolg sich nichts. Zu Recht stellte der Sachverständige des
der Tätigkeit des NKR war der „depolitisierte Ansatz“: DGB während der Anhörung zum Gesetzentwurf die
Der Normenkontrollrat hat nur zu prüfen, ob die zu er- Frage, warum Bürokratie unbedingt billiger und nicht
wartenden Bürokratiekosten nachvollziehbar und metho- hauptsächlich besser werden sollte. Wer Gesetzesfolgen
dengerecht dargestellt werden. Nach wie vor wird die richtig abschätzen will, muss zunächst die Ziele und den
Kompetenz des NKR hierauf beschränkt bleiben. Ziele Nutzen von Gesetzen im Blick haben. Erst danach lässt
und Zwecke einer Regelung sind nicht Gegenstand einer sich abwägen, ob es an der einen oder anderen Stelle ei-
Kontrolle durch den NKR, sondern unterliegen weiter- nen unverhältnismäßigen Erfüllungsaufwand gibt. Und
das sollte nicht nur für Unternehmen, sondern auch für
(B) hin der politischen Entscheidung der Gesetzgebungs- (D)
organe. Wir wollen den NKR in seiner beratenden Rolle Beschäftigte und Bürgerinnen und Bürger gelten.
stärken, aber seine politische Neutralität und Unabhän- Besser ist es deshalb, in Gesetzgebungsverfahren oder
gigkeit erhalten! bei der Verabschiedung von Vorschriften von vornherein
die Praxistauglichkeit und nicht zuletzt auch die Ver-
Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung wirken ständlichkeit als wesentliche Kriterien zu berücksichti-
wie ein Wachstumsprogramm zum Nulltarif. Wir halten gen. Zu diesem Zweck sollten mehr als bisher die Inte-
deshalb an dem bestehenden Ziel fest, die Informations- ressen von Beschäftigten und von Bürgerinnen und
pflichten der Wirtschaft bis 2011 im Vergleich zu 2006 Bürgern in die Anhörungen und generell in die Mei-
um netto 25 Prozent zu reduzieren. Dass wir dieses Ziel nungsbildung von Legislative und Exekutive einfließen.
erreichen werden, zeigen die gestern von der Bundes-
regierung veröffentlichten Zahlen: So beträgt die Ge- Eine bessere Staatlichkeit in diesem Sinne fördert der
samtabbaubilanz momentan 22,6 Prozent gegenüber der NKR bislang kaum, wie seine Jahresberichte zeigen.
Belastung im Jahr 2006. Bis Ende 2010 wurden Verein- Sein eindeutiger Fokus ist die Entlastung von Unterneh-
fachungsmaßnahmen mit einem Entlastungsvolumen men. Im letzten Jahresbericht sind die dort genannten
von rund 6,7 Milliarden Euro pro Jahr umgesetzt. 2011 365 Vereinfachungsmaßnahmen nahezu ausschließlich
werden wir weitere Maßnahmen umsetzen, dazu hat die unternehmensbezogen. Interessant ist dabei, dass die
Bundesregierung bereits am 29. Juni 2010 den Umset- großen Posten der Kostenersparnis mit Bürokratieabbau
zungsplan zur Realisierung des 25-Prozent-Nettoabbau- gar nichts zu tun haben. Sie ergeben sich daraus, dass
ziels vorgelegt. Der Bürokratieabbau wird für die FDP Papier durch elektronische Mitteilungen ersetzt wird.
aber nicht mit dem Erreichen des 25-Prozent-Ziels Ende Summiert man diese technologisch bedingten Entlas-
2011 abgeschlossen sein – insbesondere auch mit Blick tungsbeiträge, kommt man auf über 90 Prozent der Ge-
auf den Erfüllungsaufwand werden wir im Interesse der samtersparnis. Mit anderen Worten: Der von der Bun-
Bürgerinnen und Bürger sowie der Wirtschaft bürokrati- desregierung behauptete Bürokratieabbau ist im Kern
sche Hemmnisse konsequent weiter abbauen und die eine technische Neuerung. Soweit Bürgerrechte jeweils
Rechtsetzung verbessern. gewahrt bleiben, ist diese Innovation zu begrüßen. Zu-
gleich zeigen die Größenverhältnisse, dass der Bürokra-
tieabbau im engeren Sinne offensichtlich nur sehr be-
Michael Schlecht (DIE LINKE): Die Linke hat die
grenzte Wirkungen hat.
Einsetzung des Normenkontrollrates von Anfang an ab-
gelehnt, weil sein Auftrag in doppelter Weise falsch ist. Zum Teil werden aber auch Informationspflichten in
Erstens prüft der Kontrollrat nur die Kosten des Voll- Gänze gestrichen. In diesem Zusammenhang mahnt der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9161

(A) Beirat des Statistischen Bundesamtes zu Recht, „beim einreichenden Fraktion bzw. des einreichenden Abge- (C)
Abbau von Statistikpflichten neben den Bürokratiekos- ordneten auch Gesetzesinitiativen aus der Mitte des Bun-
ten und Entlastungspotenzialen auch die damit einher- destages geprüft werden. Das führt zu mehr Klarheit und
gehenden Informationsverluste systematisch zu berück- ist unbestritten ein Fortschritt. Allerdings ging der ur-
sichtigen. Die Streichung von Merkmalen oder ganzen sprüngliche Gesetzentwurf weiter. Geplant war, dass
Erhebungen kann zu einem Verlust an Informationen zum Beispiel auch Koalitionsentwürfe auf Antrag einer
führen, der sich auch nachteilig auf die Qualität von Ge- Fraktion dem Normenkontrollrat zur Prüfung zugeleitet
setzen auswirken kann. Informationsverluste müssen in werden können. Damit wäre ein Schlupfloch für beson-
den statistikrelevanten Gesetzentwürfen deutlicher als ders bürokratielastige Gesetzentwürfe der Regierungs-
bisher aufgezeigt werden. Dadurch können Kosten und fraktionen geschlossen worden. Die Koalitionsfrak-
Nutzen von amtlichen Statistiken besser abgewogen tionen und auch die SPD-Fraktion hatten hier nun
werden.“ Bedenken, sodass jetzt die Prüfung nur auf Antrag der
einbringenden Fraktion möglich sein wird. Wir finden
Bisweilen hat man den Eindruck, dass – neben Steu-
das etwas bedauerlich. Allerdings sehen auch wir hier
erreformen – der Bürokratieabbau das letzte wirtschafts-
politische Aufgebot der Regierung ist. Dabei ist häufig noch Klärungsbedarf zu den verfassungsrechtlichen Ein-
noch nicht einmal nachvollziehbar, wie die Bundesregie- wänden. Meine Fraktion wird sich deshalb bei der Ab-
rung und der Normenkontrollrat ihre Entscheidungen ab- stimmung über den Gesetzentwurf enthalten.
wägen. Wir halten es für falsch, den Normenkontrollrat, Der Aufwand, die bürokratische Belastungen zu er-
ein eher intransparentes und einseitig auf Kostensenkung fassen, darf nicht bei den Fraktionen abgeladen werden.
orientiertes Gremium, zu stärken. Das geht dann so weit, Das Initiativrecht der Fraktionen darf nicht beschädigt
dass die FDP zur Finanzierung ihrer Steuergeschenke an werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt bei der Aus-
Besserverdiener geringere Sicherheitsstandards im Au-
weitung des Mandats des Normenkontrollrates. Dieser
tobahnbau fordert. Das nützt Bauunternehmen, aber wird
Forderung von uns kommt die Koalition zumindest zum
für die Gesellschaft teuer. Einstürzende U-Bahn-Schächte
Teil nach, weil das Statistische Bundesamt nun auch uns
in Köln lassen grüßen.
Abgeordnete bei der Bürokratiekostenermittlung unter-
Bürokratieabbau muss mit Verstand erfolgen und stützen kann. Es wird sich im Verfahren zeigen, ob dies
mehr Demokratie wagen. Wir brauchen keine Gesetze so praktikabel gelöst ist. Gegebenenfalls müssen wir
und Verwaltungsvorschriften, die nicht sachgerecht sind, aber hier nachsteuern. Ein weiterer Punkt auf unserer
die einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern oder Reformagenda bleibt die größere Unabhängigkeit des
die in Gänze widersinnig sind. Wir brauchen keinen Ob- Normenkontrollrates von der Regierung. Wir schlagen
(B) rigkeitsstaat, der die Bürgerinnen und Bürger gängelt hier vor, die Auswahl der Mitglieder des Normenkon- (D)
und bevormundet. Einen Bürokratieabbau in diesem trollrates nicht mehr ausschließlich in die Hand der Bun-
Sinne begrüßen wir. desregierung zu legen, sondern über die Besetzung des
Rates auch im Bundestag abzustimmen. Last but not
least kommen komplizierte und aufwendige Regelungen
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
mitunter auch erst im parlamentarischen Verfahren über
Wir begrüßen den Gesetzentwurf grundsätzlich. Unsere
Änderungsanträge in die Gesetzentwürfe hinein. Der
soziale Marktwirtschaft braucht einen geeigneten Rah-
Normenkontrollrat sollte deshalb auch vor Abschluss ei-
men aus guten Regeln, Standards und Normen, der von
den Bürgerinnen und Bürgern auch akzeptiert wird. In nes Gesetzgebungsverfahrens eine abschließende Stel-
vielen Fällen sind Regelungen und Regulierungen, wie lungnahme abgeben. Dies wäre notwendig, damit die
auch Informationspflichten, wichtig und notwendig. In Expertise in der parlamentarischen Beratung noch ange-
vielen Fällen sind sie aber auch unnötig kompliziert und messen berücksichtigt werden kann.
aufwendig. Solche überbürokratischen Regeln und Ver- Bürokratische Belastungen für Bürgerinnen und Bür-
fahren werden – seitens der Unternehmen wie auch sei- ger und Unternehmen entstehen nicht nur durch die Ge-
tens der Bürgerinnen und Bürger – zunehmend kritisiert setzgebung, sondern vor allem durch den Vollzug der
und sorgen für Unverständnis. Unnötige Bürokratie ab-
Gesetze. Eine Verringerung überzogener Bürokratielas-
zubauen entfaltet deshalb eine hohe Wirkung, gibt posi-
ten kann deshalb nicht allein auf Bundesebene gelingen,
tive konjunkturelle Impulse und stärkt den Wirtschafts-
sondern braucht eine gemeinsame Anstrengung aller
standort Deutschland. Dies gelingt aber nur dann, wenn
staatlichen Ebenen. Die Bundesregierung sollte hier ak-
dieses Weniger an Bürokratie für Unternehmen, Bürge-
rinnen und Bürger und für die Verwaltung auch tatsäch- tiv werden und eine gemeinsame Initiative mit Ländern
lich spürbar ist. Es ist deshalb sinnvoll, dass der Nor- und Kommunen anstoßen. Auch müssen zu starke büro-
menkontrollrat zukünftig den gesamten bürokratischen kratische Belastungen aus bereits vorhandenen Gesetzen
Erfüllungsaufwand prüfen soll, der durch Bundesgesetze viel mehr in den Blick genommen werden. Diese Mam-
ausgelöst wird und nicht nur die Informationspflichten. mutaufgabe kann der Normenkontrollrat allein nicht
Denn um unnötige Bürokratie zu vermeiden, brauchen leisten. Hier ist die Regierung gefordert, ein umfassen-
wir ein realistischeres Bild der tatsächlichen Belastun- des Bürokratieabbauprogramm zu entwerfen, das unnö-
gen. tige bürokratische Belastungen aus allen geltenden ge-
setzlichen Regelungen zusammenstellt, und bis zur
Wir erweitern mit dem Gesetz das Mandat des Mitte dieser Wahlperiode eine umfassende Gesetzesini-
Normenkontrollrates. Zukünftig sollen auf Antrag der tiative zum Abbau dieser Bürokratielasten vorzubereiten
9162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) und im Deutschen Bundestag zur Abstimmung zu stel- bruar 2009 beschlossen wurde, ist nach meiner Auffas- (C)
len. sung immer noch zu wenig, vor allem, wenn ich an unsere
unmittelbaren Nachbarn Frankreich und Österreich denke.
Unnötige bürokratische Belastungen zu vermeiden
und abzubauen, muss auch viel stärker in das alltägliche Aber ich werbe bei diesem Punkt auch bei meinen
Regierungsdenken und -handeln integriert werden. Die Bauern um Verständnis für die derzeitige Haushaltslage
Ministerien sollten für jedes Jahr verbindliche Bürokra- unseres Staates. Auch muss man der deutschen Land-
tieabbauziele für ihr Haus formulieren und bei den jähr- wirtschaft insgesamt sagen, dass in den Bereichen der
lichen Haushaltsberatungen über deren Einhaltung be- Agrarförderung bis hin zum Berufsgenossenschaftsbei-
richten. trag heute vieles an finanzieller Erleichterung durchge-
setzt ist, was vor Jahren noch unvorstellbar war.
Die Bundesregierung hat in ihrem Jahresbericht 2009
zum Stand des Bürokratieabbaus erstmals klargestellt, Deshalb sage ich der Opposition in aller Deutlichkeit:
dass sie eine „Netto-Entlastung der Wirtschaft um Auch Sie reden immer von gleichen Wettbewerbsbedin-
25 Prozent bis Ende 2011“ anstrebt. Trotzdem hat sie auf gungen, beschimpfen uns aber für diesen Schritt, der
eine transparente Gegenüberstellung der belastenden EU-weit gesehen für die deutsche Landwirtschaft drin-
und entlastenden Maßnahmen verzichtet. Diese wäre gend nötig ist. Dieser Steuersatz ist immer noch nur die
aber zwingend notwendig, um die Erfüllung des Netto- Hälfte des Ziels, das wir eigentlich erreichen wollten.
ziels nachprüfbar zu machen. Auch der Normenkontroll- Ich bleibe dabei: Mittelfristig müssen wir die europäi-
rat hatte diese unklare Darstellung bereits kritisiert. Es schen Energiesteuern dringend angleichen, um in einem
ist deshalb notwendig, dass die Bundesregierung zu- Wirtschaftsraum gleiche Voraussetzungen für die ge-
künftig bei ihrer Berichterstattung zum Stand des Büro- samte Industrie und Landwirtschaft zu schaffen.
kratieabbaus auch über belastende Maßnahmen transpa-
Die anderen vom Finanzausschusses empfohlenen
rent und nachvollziehbar berichtet.
Änderungen im Gesetzentwurf möchte ich hier kurz
skizzieren: Das Inkrafttreten des Gesetzes zur Vermei-
dung einer echten Rückwirkung wird, auch aus verfas-
Anlage 6 sungsrechtlichen Gründen, auf den 1. April 2011 verlegt.
Zu Protokolll gegebenen Reden Gleichzeitig werden Maßnahmen mit begünstigender
Wirkung für Bürger und Unternehmen schon zum
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur 1. Januar 2011 in Kraft treten.
Änderung des Energiesteuer- und des Strom-
steuergesetzes (Tagesordnungspunkt 20) Für feste Sekundär- und Ersatzbrennstoffe, die nicht
entsprechend ihrem Energiegehalt einer Besteuerung un-
(B) (D)
terworfen sind und verheizt werden, wird ein niedriger
Norbert Schindler (CDU/CSU): Wir beschließen
Auffangsteuersatz eingeführt, der sich an der Höhe des
heute in zweiter und dritter Beratung den Gesetzentwurf
Steuersatzes für Kohle und Petrolkoks orientiert.
zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuerge-
setzes, in dem es um verschiedene Themenbereiche geht. Die im Ursprungsentwurf vorgesehene Streichung der
Schwerpunkt dieses Änderungsgesetzes ist der Aus- Steuerbefreiung für Klär- und Deponiegase, die durch
gleich steuerlicher Unterschiede, die in der Vergangen- eine Definitionsänderung bei gasförmigen Biokraft- und
heit immer wieder für Ärger sorgten. Auch sollen hier- Bioheizstoffen sozusagen durch die Hintertür erfolgt ist,
mit im Rahmen des Vollzuges dieser Gesetze bisher konnten wir zurücknehmen. Durch die unter EU-Vorbe-
aufgetretene Umsetzungsschwierigkeiten eliminiert wer- halt stehende dezidierte Aufnahme der Klär- und Depo-
den. niegase in den Befreiungstatbestand schaffen wir steuer-
rechtliche Gleichheit aller gasförmigen Energieträger bei
Es geht aber auch darum, klarzustellen, dass steuerli-
umweltschonender Verwendung. Dieses Thema wurde ja
che Unterschiede wie bei Fern- und Nahwärme nivelliert
auch deutlich im Fachgespräch des Finanzausschusses
werden, wie auch, dass die von der Großen Koalition be-
am 10. November 2010 von den Sachverständigen vor-
schlossene Abschaffung der Steuerbefreiung von Kohle
getragen, genau wie das Thema Steuerbefreiung von In-
zum Verheizen in Privathaushalten nun tatsächlich – ins-
dustriegasen, dem auch Sie seitens der Opposition in den
besondere aus Umweltgesichtspunkten – zementiert
Einzelanträgen zugestimmt haben.
wird.
Bei Industriegasen haben wir uns auf eine eng be-
Ein Hauptpunkt dieses Gesetzentwurfes, der gerne von grenzte Definition geeinigt; die zukünftige Stromsteuer-
der Opposition angegriffen wird, weil er natürlich auch befreiung bei der Herstellung von Industriegasen ist, wie
der mit der größten haushalterischen Auswirkung ist, ist vorhin schon angesprochen, eigentlich nur eine Korrek-
die Verstetigung der Agrardieselvergünstigung. Trotz der tur des Energiesteuergesetzes, das am 1. August 2006 in
hier zu beschließenden Reduzierung ist dieser im Ver- Kraft getreten ist. Ich weise aber hier in aller Deutlich-
gleich zu anderen Ländern der EU – ja, ich sage weltweit keit darauf hin, dass dieser Sachverhalt noch unter dem
– immer noch der höchste Steuersatz für den Einsatz von Vorbehalt einer Prüfung durch die EU steht, unterstelle
Treibstoff in der Landwirtschaft. Diese Sonderbelastung aber, dass Brüssel dies genehmigen wird.
ausschließlich der deutschen Landwirtschaft konterka-
riert das Ziel der gleichen Wettbewerbschancen innerhalb Wovon reden wir hier? In vielen thermischen Prozes-
der Europäischen Union. Die Minderung des Steuersatzes sen werden hochwertige Gase wie Edelgase und Reinst-
auf 25,5 Cent, die von der Großen Koalition am 9. Fe- gase eingesetzt, die mit hohem Stromeinsatz durch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9163

(A) Elektrolyse oder in kryogenen Luftzerlegungsanlagen Im Einzelnen enthält das Gesetz folgende wesentliche (C)
hergestellt werden. Die Gasgewinnung erfolgt in der Re- Maßnahmen:
gel nahe am Verbrauch der Industriegase; sie können je-
Erstens. Die Steuerbegünstigung für die Herstellung
doch auch standortfern produziert werden, müssen dann
von Energieerzeugnissen wird in sich schlüssiger ausge-
aber mit Straßen- und Schienentankwagen in Druckgas-
staltet, indem wesentliche Herstellungsprozesse mit ein-
behältern transportiert werden. Um – bei einem Abwan-
bezogen werden und die Steuerbegünstigung den ver-
dern der Herstellung ins benachbarte Ausland – einen
stärkten Einsatz umweltfreundlicheren Erdgases zulässt.
hohen logistischen Aufwand zu vermeiden, galt es den
Standortnachteile im deutschen steuerlichen Einzugsbe- Zweitens. Auf die Entstehung eines Marktes für Se-
reich auszumerzen. kundär- und Ersatzbrennstoffe wird reagiert, indem ein
am Energiegehalt orientierter Steuertarif eingeführt
Bei der Fernwärme, bei der wir als Koalition nicht
wird. Die Regelung verhält sich steuerlich neutral und
den Anträgen der Opposition folgen, gibt es aus unserer
vereinfacht für Unternehmen und Verwaltung das Be-
Sicht große Probleme bei der Unterscheidung von Fern-
steuerungsverfahren.
und Nahwärme, die auch im Fachgespräch nicht ausge-
räumt werden konnten. Wenn dies für die betroffenen Drittens. Mit einer Ausweitung der Möglichkeiten zur
4 Millionen Haushalte, wie von Ihnen vorgetragen, zu Steuerentlastung auf leicht- und mittelschwere Öle wird
einer Belastung von 1 Euro/Monat führen könnte, ist Bedürfnissen von Unternehmen Rechnung getragen, die
das, übers Jahr gerechnet, der Gegenwert von zwei aus technischen Gründen für bestimmte Verfahren nur
Schachteln Zigaretten. Aber wie erkläre ich einem Leichtöl verheizen können. Bisher konnten diese Öle
Heizöl- oder Gasbezieher, dass er die steuerliche Belas- und die ihnen von der Beschaffenheit her ähnlichen En-
tung tragen muss? Und kommen Sie mir jetzt nicht mit ergieerzeugnisse nur zu den Steuersätzen für Kraftstoffe
den ökologischen Vorteilen der Fernwärme: Alte KWK- verheizt werden.
Anlagen sind auch nicht nur rein! Wenn wir von Gleich-
Viertens. Die Betriebe der Forst- und Landwirtschaft
heit vor dem Grundgesetz reden, müssen wir Gleiches
werden unterstützt, indem der mit dem Haushaltsbegleit-
auch gleich behandeln!
gesetz 2005 eingeführte Selbstbehalt von 350 Euro und
Dass die Verlängerung der Subvention von Heizkohle die Obergrenze von 10 000 Liter je Betrieb gestrichen
in Privathaushalten nun endlich „abgefrühstückt“ ist, werden. Damit wird der forst- und landwirtschaftliche
sollte, an die SPD gerichtet, mit Hinweis auf ihre eige- Sektor vor dem Hintergrund der weiterhin ungleichen
nen Beschlüsse hier nicht vertieft werden. Besteuerung von Agrardiesel im EU-Vergleich verstärkt
entlastet. Dies ist vor allem für die CSU eine wichtige
Mit der Gesetzesvorlage durch die Bundesregierung, Reform.
(B) den Beschlüssen, die wir im Rahmen des Haushaltsbe- (D)
gleitgesetzes für den Bereich der Energiesteuerentlas- Durch die allgemeine Verunsicherung der Verbrau-
tung für Unternehmen schon getroffen haben und den cher und den Druck bei den Erzeugerpreisen sind die
Änderungen an diesem Gesetz im Zuge der Beratungen deutschen und bayerischen Landwirte unmittelbar von
im Finanzausschuss haben wir eine ausgewogene Be- der derzeitigen Wirtschaftskrise betroffen. Deshalb ist es
und Entlastung der Unternehmen in Industrie und Land- immens wichtig, der Land- und Forstwirtschaft jetzt ein
wirtschaft, der Verbraucher und des Bundeshaushaltes unterstützendes Signal zu geben. Der Abbau von Wett-
erreicht. bewerbsverzerrungen im europäischen Binnenmarkt
steht dabei an erster Stelle. Spitzenreiter bei der Besteue-
rung des wichtigsten Energieträgers der Land- und
Peter Aumer (CDU/CSU): Die Weltklimakonferenz
Forstwirtschaft, beim Agrardiesel, ist Deutschland. Hier
in Cancún war ein Erfolg. Erstmalig ist das 2-Grad-Ziel
findet eine massive Benachteiligung im europäischen
von der Weltgemeinschaft offiziell anerkannt worden.
Wettbewerb statt. Ein 25 Hektar großer Betrieb wird ge-
Die Weltklimakonferenz hat sich zudem nach schwieri-
genüber gleich großen Betrieben im europäischen Aus-
gen Verhandlungen und in letzter Minute auf ein umfas-
land um bis zu 1 100 Euro pro Jahr benachteiligt.
sendes Maßnahmenpaket verständigt, das einen wesent-
lichen Schritt darstellt, um dieses Ziel zu erreichen. Die Durch den jetzigen Wegfall des Selbstbehaltes und
dabei getroffenen Entscheidungen sind ein Meilenstein der Obergrenze werden die Betriebe in einem schwieri-
auf dem Weg zu einem Klimaabkommen. Das Paket von gen wirtschaftlichen Umfeld spürbar entlastet. Dass
Cancún umfasst Minderungsmaßnahmen von Industrie- diese Erleichterung für unsere Bauern heute in abschlie-
und Entwicklungsländern, die Errichtung eines globalen ßender Lesung behandelt wird, ist ausschließlich auf die
Klimafonds, Verabredungen zur Anpassung an die Fol- unnachgiebige Haltung der CSU-Landesgruppe im
gen des Klimawandels, zum Waldschutz, zur Technolo- Deutschen Bundestag zurückzuführen. Keine andere
giekooperation und zum Kapazitätsaufbau in Entwick- Partei vertritt die Interessen der Land- und Forstwirte so
lungsländern. Es wurde ein Verfahren zur Überprüfung konsequent und standhaft.
vereinbart, welche zusätzlichen Maßnahmen zur Einhal-
tung des 2-Grad-Ziels erforderlich sind. Auch bei energieintensiven Unternehmen fällt zu-
künftig die zusätzliche Belastung weniger stark aus. So
Anhand der klimapolitischen Ziele der Bundesregie- wären zum Beispiel die Kosten für die Strom- und Ener-
rung wollen wir die Energie- und Stromsteuer verbes- giesteuer eines großen Walzwerkes mit über 2 100 Mit-
sern sowie die bestehen Vorschriften an das sich ständig arbeitern nach dem Kabinettsbeschluss von 878 000 auf
ändernde Marktumfeld für Energieerzeugnisse anpassen. 2 720 000 Euro angestiegen. Durch die von uns gefor-
9164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) derten Änderungen reduziert sich die Belastung um werbe in Deutschland sind zudem überhaupt nicht ab- (C)
1 342 000 Euro pro Jahr. Sie liegt gegenüber dem Kabi- sehbar. Was wir brauchen, ist eine längerfristige Pla-
nettsentwurf nun bei 1 378 000 Euro pro Jahr. Gerade nungssicherheit für die betroffenen Unternehmen, ins-
für die Wettbewerbsfähigkeit unserer mittelständischen besondere für die Energiebesteuerung der Industrie nach
Wirtschaft sind diese Maßnahmen wichtig. 2012, wenn die beihilferechtliche Befristung der Euro-
päischen Kommission endet.
Die ermäßigten Steuersätze sind keine Steuerge-
schenke oder Steuersubventionen. Sie waren mit der Sie als Bundesregierung sind aufgefordert, zügig eine
Einführung der ökologischen Steuerreform im Jahr 1999 Analyse der realen Wettbewerbswirkungen der heutigen
eingeführt worden, um die Chancengleichheit deutscher Steuervergünstigungen und ein darauf fußendes schlüs-
Unternehmen im internationalen Wettbewerb nicht zu siges Energiekonzept vorzulegen. Zurzeit kann ich kein
beeinträchtigen. An diesem Sachverhalt hat sich nichts Konzept erkennen. Auch wenn Sie sich jetzt für ein ge-
geändert. Im Gegenteil: Die Energiepreise werden mehr mäßigteres Modell beim Abbau der Steuervergünstigun-
und mehr zu einem Standortnachteil für Deutschland. gen für energieintensive Betriebe entschieden haben,
Nach Auskunft des Bundeswirtschaftsministeriums lie- entbinden Sie diese einzelnen unsystematischen Maß-
gen allein die Industriestrompreise in Deutschland inklu- nahmen nicht aus der Verantwortung, eine fundierte und
sive Steuern um 30 bis 35 Prozent höher als in Frank- berechenbare Politik zu machen. Bislang existiert an-
reich, Spanien oder Schweden. Die ständig steigenden stelle eines durchdachten Energiekonzeptes nur ein va-
Energiekosten bilden bei den Unternehmen einen immer ger Prüfauftrag für die Ausgestaltung von Gegenleistun-
größeren Kostenblock. gen für Ökosteuervergünstigungen der deutschen Wirt-
schaft ab 2013. Das ist schlichtweg zu dürftig.
Es ist die Herausforderung unserer Zeit, der sich die
CSU stellt, die Dynamik Deutschlands zu erhalten, den Ganz konkret hingegen ist die Begünstigung be-
Fortschritt zu fördern und den Wohlstand des Landes zu stimmter Lobbygruppen. Beim Agrardiesel werden
sichern. Mit den Änderungen des Energie- und Strom- Selbstbehalt und Mengenbegrenzung gestrichen. Sie ma-
steuergesetzes entlasten wir unsere Unternehmen und chen sich zum Erfüllungsgehilfen der Landwirtschafts-
bringen Deutschland weiter voran. Gleichzeitig setzen lobbyisten. Immerhin führt diese Maßnahme, die der
wir aber auch auf Nachhaltigkeit und leisten einen Bei- Deutsche Bauernverband seit Jahren und fast schon ge-
trag zum Klimaschutz. Gerade das ist das Ziel der betsmühlenartig wiederholt immer wieder fordert, zu zu-
christlich-liberalen Koalition. Nachhaltigkeit und wirt- sätzlichen Steuermindereinnahmen des Bundes in Höhe
schaftliche Vernunft sind konkreter Handlungsauftrag, von rund 260 Millionen Euro pro Jahr. Durch diese Steu-
der sich aus unserer sozialen Marktwirtschaft ergibt. erausfälle kann es zu Kürzungen bei Förderprogrammen
(B) Zum Schluss meiner Rede wünsche ich uns allen ge- wie der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küs- (D)
segnete Weihnachten, besinnliche Tage sowie alles er- tenschutz kommen. Darunter leiden dann Leistungsfä-
denklich Gute für das neue Jahr 2011. higkeit und Umweltverträglichkeit der Landwirtschaft.
Da die Obergrenze von 10 000 Litern in der Regel erst
von Betrieben mit mehr als 70 Hektar überschritten
Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Der Gesetzentwurf zur wird, profitieren vor allem Großbetriebe überdurch-
Änderung der Energie- und Stromsteuer, den wir heute schnittlich vom Wegfall der Obergrenze. Während ein
beraten, reiht sich in dreierlei Hinsicht nahtlos in die 100-Hektar-Betrieb in den Genuss von Steuerermäßi-
Liste der Gesetze ein, die Sie in den letzten Wochen hier gung in Höhe von knapp 1 000 Euro kommt, sind es bei
im Parlament beschlossen haben. Dabei gilt: Es gibt kein einem 1 000-Hektar-Betrieb 30 000 Euro.
geordnetes systematisches Vorgehen, Lobbygruppen wer-
den begünstigt und die Verbraucherinnen und Verbraucher Wie Sie mit einer solchen Politik zudem Ihr selbstge-
werden belastet. setztes Ziel – eine Harmonisierung der Besteuerung des
Agrardiesels auf europäischer Ebene – erreichen wollen
Wie bei der Tabaksteuer – gerade mal zwei Wochen und können, ist und bleibt mir vollkommen schleierhaft.
ist das her – sind auch die von ihnen geplanten Änderun- Eher ist diese Art von Steuerpolitik geeignet, unsere
gen bei der Energie- und Strombesteuerung rein haus- Nachbarn in Europa dazu zu bewegen, ihre Subventio-
haltspolitischer Natur. Es gilt, möglichst viel Geld einzu- nen bei der Landwirtschaft beizubehalten und schlimms-
treiben, um die Haushaltslöcher zu stopfen, die Ihr tenfalls sogar zu erhöhen. Doch was wir in Europa am
verfehltes und sozial unausgewogenes Sparpaket und die wenigsten brauchen, ist ein Subventions- oder Steuer-
Anfang dieses Jahres verteilten Steuergeschenke an Ho- senkungswettbewerb.
tels und Erben verursacht haben. Das ist die unbequeme
und nicht zu leugnende Wahrheit. Der zu erwartende Wi- Die Zeche für die Agrarsubventionen zahlen – wie
derstand der Industrie ließ nicht lange auf sich warten – eingangs erwähnt – schon wieder die Verbraucherinnen
und das sogar zu Recht. Ich erinnere in diesem Zusam- und Verbraucher. Bei der Tabaksteuer waren es die Rau-
menhang noch einmal an das Haushaltsbegleitgesetz cher, jetzt trifft es diejenigen, die mit Fernwärme heizen.
2011: Wir als SPD-Bundestagsfraktion hatten uns schon Mit Streichung der energiesteuerlichen Begünstigung für
bei den Beratungen hier im Bundestag dafür ausgespro- die Fernwärmeversorgung werden circa 4 Millionen
chen, auf die von Ihnen geplanten massiven Steuermehr- Haushalte mehr Heizkosten bezahlen müssen; allein in
belastungen der energieintensiven Unternehmen zu ver- Berlin werden ungefähr 600 000 Haushalte tiefer in die
zichten, da diese insbesondere mittelständische Betriebe Tasche greifen müssen. Selbst der Bundesrat – ein-
treffen. Die Auswirkungen auf das produzierende Ge- schließlich der von Ihnen geführten Regierungen – hat
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9165

(A) sich dafür ausgesprochen, die Steuervergünstigung für Dr. Birgit Reinemund (FDP): Ich wundere mich (C)
die Fernwärme zu erhalten – aber offenbar ohne Erfolg. über die Haltung der Grünen: Sie nutzen die heutigen
eher technischen Änderungen des Energiesteuergesetzes,
Die Menschen werden sich auch von Ihren geplanten um die Koalition schon heute für etwas zu kritisieren,
Steuervereinfachungen keinen Sand in die Augen was erstens bereits beschlossen ist und was zweitens Sie
streuen lassen. Die von Ihnen diskutierte Anhebung des in eigener Regierungsverantwortung gesetzlich so gere-
Arbeitnehmerpauschbetrages bringt ihnen nicht allzu gelt haben. Es war schließlich Rot-Grün, die bei Einfüh-
viel. Vielmehr als eine Tasse Kaffee im Monat wird die rung der Ökosteuer – volkswirtschaftlich richtig – er-
Anhebung von 920 auf 1 000 Euro pro Jahr für die meis- kannt hatten, dass die Belastung für energieintensive
ten Steuerzahler nicht bringen. Die Option, nur noch alle produzierende Unternehmen zu groß geworden wäre,
zwei Jahre eine Lohnsteuererklärung abzugeben – so sie um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Rot-
dieses überhaupt dürfen –, wäre für die meisten Lohn- Grün hatte damals aus innerer Überzeugung – so hoffe
steuerpflichtigen sogar von Nachteil: 18 Millionen von ich doch – diese Industriebereiche größtenteils von der
20 Millionen Steuerzahlern, die eine Erklärung abgeben Besteuerung ausgenommen, um Wettbewerbsfähigkeit
müssen, bekommen vom Finanzamt zu viel gezahlte herzustellen und Verlust von Arbeitsplätzen zu verhin-
Steuern erstattet. Machen sie ihre Erklärung nur alle dern. Gleichzeitig wurde ein Vertrag mit der Wirtschaft
zwei Jahre, gewähren sie dem Finanzminister einen zins- geschlossen, im Gegenzug bis 2012 die Energieeffizienz
losen Kredit und verlieren selbst Zinseinnahmen. Un- zu steigern. Das haben die Unternehmen eingehalten.
term Strich bleibt es also dabei: Die Verbraucher
schauen in die Röhre, das können Sie nicht kaschieren. Wir haben vor kurzem im Rahmen des Haushaltsbe-
gleitgesetzes eine moderate Erhöhung beschlossen; das
Neben den schon erwähnten Belastungen für viele Bundesfinanzministerium wollte ursprünglich weit hö-
private Haushalte ist die Streichung der Steuervergünsti- here Mehreinnahmen aus rein haushälterischen Grün-
gung klimapolitisch kontraproduktiv und verfehlt. Wir den. Heute beschweren sich die Grünen in ihrem Antrag,
alle wissen: Die Fernwärme leistet einen wesentlichen dass die Belastungen für die Industrie nicht hoch genug
Beitrag zur Erfüllung der Klima- und Umweltziele seien, und werfen dieser Regierung vor, vor der Industrie
Deutschlands. Insbesondere in Verbindung mit Kraft- einzuknicken. Nein, das war kein Einknicken vor der In-
Wärme-Kopplung sowie bei der Nutzung von Abwärme dustrie; das war volkswirtschaftliche Vernunft, die Sie
bietet sie eine hocheffiziente Verwendung regenerativer 1999 auch noch hatten, liebe Kolleginnen und Kollegen
und fossiler Energieträger. Das gilt auch für die Nutzung von den Grünen. Das heute ist schon ein Stück weit Heu-
erneuerbarer Energien in Ballungsräumen, die ein relativ chelei. Denn es ist doch eine einfache Wahrheit: Steuer-
begrenztes Dachpotenzial und eingeschränkte Möglich- aufkommen zur Haushaltskonsolidierung kann die Wirt-
(B) keiten für die Nutzung von Wärmepumpen auf der Basis schaft nur beisteuern, wenn die Betriebe überlebensfähig (D)
von Erd- oder Umweltwärme aufweisen. Darüber hinaus bleiben und wenn Gewinne versteuert werden können,
reduzieren moderne, hocheffiziente Fernwärmeanlagen aber nicht wenn Produktionen verlagert und Arbeits-
im Vergleich zu Einzelheizungen die Bildung von Fein- plätze abgebaut werden. Der alte Kampf Ökologie gegen
staub und luftgetragenen Schadstoffen und tragen somit Ökonomie ist überholt; es geht nur gemeinsam. Die
zu einer Verbesserung der Luftqualität in städtischen enormen Fortschritte in der Effizienzsteigerung sind der
Verdichtungsräumen bei. beste Beweis, auch wenn das die Grünen durch ihre
ideologisch gefärbte Brille heute nicht mehr wahrhaben
Wir alle wissen: Eine steuerliche Entlastung der Fern-
wollen.
wärme im Energiesteuergesetz ist wichtig und notwen-
dig, um das von der Bundesregierung gesetzte Ziel, den Die Koalitionsfraktionen dagegen nehmen mit diesem
KWK-Anteil an der gesamten Stromerzeugung bis 2020 Gesetzentwurf sowohl einzelne umwelt- und klimapoli-
auf 25 Prozent zu erhöhen, nicht zu gefährden. Neben tisch relevante Themen auf – zum Beispiel bei der Nut-
den angesprochenen KWK-Anlagen sind Heizwerke ein zung von Erdgas für die Stromerzeugung, bei Klär- und
bedeutsamer und unverzichtbarer Bestandteil in den Deponiegasen oder der Hafenproblematik. Gleichzeitig
meisten Fernwärmenetzen. Sie gewährleisten nicht nur werden Wettbewerbsnachteile in abgegrenzten Berei-
die umweltfreundliche, weil effiziente Abdeckung von chen ausgeglichen – zum Beispiel bei der Herstellung
Bedarfsspitzen, sondern auch den ökologisch und öko- von Industriegasen, der energieintensivsten Branche
nomisch sinnvollen Ausbau von Wärmenetzen. überhaupt, oder bei der Landwirtschaft. Bisherige Zwei-
felsfälle im Gesetzestext werden jetzt klar definiert.
Wir alle wissen: Die an die Fernwärmenetze ange-
schlossenen Heizsysteme unterliegen in der Regel dem Lassen Sie sich mich einige Beispiele erläutern. Zu-
Emissionshandel und treten in Konkurrenz mit anderen nächst zum Beispiel Agrardiesel. Die Forst- und Land-
Heizlösungen, die nicht am Emissionshandel teilneh- wirtschaft ist kein funktionierender freier Markt, son-
men. Es gibt also keine vergleichbaren Ausgangsbedin- dern innerhalb der EU stark reglementiert und sub-
gungen auf dem Wärmemarkt. Eine Fortführung der ventioniert. Aus zwei Gründen tritt die FDP seit Jahren
steuerlichen Begünstigung der Fernwärme hätte dem für die Steuerermäßigung von Agrardiesel ein, und die
Abbau bestehender Wettbewerbsnachteile der Fernwär- Koalitionsparteien haben dies auch so im Koalitionsver-
meversorgung gedient. Ihre Politik ist daher wettbe- trag festgeschrieben. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens
werbsschädlich. Ihren Gesetzentwurf lehnen wir als zu wettbewerblichen Gründen: Deutschland hat europa-
SPD-Fraktion aus den genannten Gründen ausdrücklich weit nach wie vor die mit Abstand höchsten Steuersätze
ab. auf Agrardiesel. Bei uns sind es 27 Cent/l, in Frankreich
9166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) dagegen nur 0,6 Cent/l. Seit 1998 haben sich die Steuern Branche – und explizit nur diese – wieder aufnehmen, (C)
auf den Kraftstoff für die Landwirtschaft in Deutschland um Wettbewerbsfähigkeit herzustellen und Arbeitsplätze
fast vervierfacht, während sie in Nachbarländern wie in Deutschland zu halten.
Österreich und Frankreich sogar gesunken sind. Die
deutschen Landwirte haben deshalb einen Wettbewerbs- Unter Berücksichtigung der klimapolitischen Ziele
nachteil von bis zu 50 Euro pro Hektar Land. Diese der Bundesregierung schaffen wir mit diesem Gesetz
Wettbewerbsverzerrung innerhalb des europäischen weitere Rechts- und Planungssicherheit für die betroffe-
Wirtschaftsraums ist zu beseitigen. Unser mittelfristiges nen Branchen – und bessere Chancen im internationalen
Ziel ist die einheitliche Besteuerung von Agrardiesel in Wettbewerb.
Europa – so wie es selbst die Grünen fordern. Zweitens
zu den steuersystematischen Gründen: Die Mineralöl- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Um eine sichere und
steuer dient vorrangig für den Erhalt und Ausbau des bezahlbare, vor allem unabhängige Energieversorgung
Straßennetzes. Die Traktoren fahren überwiegend auf ei- für diese und die folgenden Generationen sicherzustel-
genem Land der Landwirte, nicht auf den Straßen. len, ist es nötig, heute die Weichen dementsprechend zu
stellen. Sie aber stellen die Weichen falsch.
Nun zum Beispiel Ersatz- und Sekundärbrennstoff
und der Abfallverbrennung. Nach EU-Recht müssen alle Sie verlängern gegen alle Proteste die Laufzeiten der
Kohlenwasserstoffverbindungen, wenn sie der Strom- Atomkraftwerke. Damit schaffen Sie weiteren radio-
erzeugung dienen, besteuert werden. Bei hochkalori- aktiven Abfall. Zudem bescheren Sie den Atomkon-
schen sortenreinen Abfallprodukten – wie Öl – ist dies zernen massive Gewinne. Vor allem behindern Sie somit
nach Brennwert bereits heute üblich. Bei gemischten den Ausbau der erneuerbaren Energien. Das wissen Sie.
Abfällen muss eine Definition gefunden werden, um
Auch der Gesetzentwurf zur Änderung des Energie-
eine hoch bürokratische Brennwertermittlung zu vermei-
und Stromsteuergesetzes führt in die falsche Fahrtrich-
den. In der Anhörung war der Hauptkritikpunkt die
tung. Denn Sie verabschieden heute weitere Steuerver-
Höhe des Brennwerts auf dem Niveau von Öl. Als realis-
günstigungen und Steuerbefreiungen für den Einsatz fos-
tisch angesehen wurde die Festlegung auf den Brennwert
siler Energieträger. Die Kosten werden dann wieder die
von Kohle; das heißt 0,33 Euro statt 1,73 Euro. Da die
Bürgerinnen und Bürger tragen müssen. Ich will kurz auf
betroffenen Betriebe in der Regel die Steuerbegünsti-
die wichtigsten Punkte eingehen.
gung über den Spitzenausgleich nutzen, ist diese Ände-
rung kostenneutral. Positiv hervorzuheben ist die steuerliche Begünsti-
gung von Schiffen, die ihren Strom von Land beziehen
Zum Beispiel Klär- und Deponiegas. Diese Gase sind und somit weniger Schadstoffe in die Luft pusten. Aber
nach heutiger Gesetzeslage steuerbefreit. Diese Befrei- das war es dann fast schon. Kurz zu drei Punkten: (D)
(B)
ung sollte nach Gesetzesentwurf des BMF gestrichen
werden, angeblich aus EU-rechtlichen Gründen. Wir Erstens: Fernwärme. Die Fernwärmeversorgung, ins-
wollen die Befreiung beibehalten, um vor allem kommu- besondere durch Kraft-Wärme-Kopplung, ist eine be-
nale Stadtwerke nicht zusätzlich zu belasten und um sonders effiziente Nutzung von Brennstoffen; sie macht
keine Anreize zu schaffen, die Gase abzulassen statt zu insbesondere in städtischen Gebieten Sinn. Diese An-
verbrennen, was nicht zulässig ist und ökologisch fatal sicht teilten Sie, zumindest kurzzeitig. Denn im Entwurf
wäre. Methan ist sehr energiereich, aber auch extrem kli- des Haushaltbegleitgesetzes 2011 war eine Steuerent-
maschädlich und zwar 21-mal klimaschädlicher als CO2. lastung für den Bereich der Fernwärmeversorgung
Die Verbrennung von Klär- und Deponiegas ist also auch verankert. Auch der Bundesrat forderte mit Beschluss
aus ökologischer Sicht sinnvoll. Beide sind von der De- vom 26. November 2010 eine steuerliche Entlastung.
finition für gasförmige Biokraft- und Bioheizstoffe aus Umso unverständlicher ist, dass dieser Passus in der ab-
förderpolitischen Gesichtspunkten nicht erfasst. Daher schließenden Bereinigungssitzung des Haushaltsaus-
ist diese Konkretisierung hilfreich. schusses gestrichen wurde, und jetzt wollen Sie das in
Gesetzesform gießen. Die Fernwärme ist ein wichtiges
Zum Beispiel Industriegase. Die Zerlegung von Luft Element, um die Klima- und umweltpolitischen Ziele zu
zur Herstellung technischer Gase wie Sauerstoff oder erreichen. Wir empfehlen Ihnen, wie auch die Sach-
Stickstoff oder von Edelgasen ist der stromintensivste verständigen aus der Anhörung zum Energie- und
Produktionsprozesse überhaupt. 50 bis 70 Prozent der Stromsteuergesetz, die ursprüngliche Absicht umzuset-
Kosten des Produkts sind Stromkosten. Laut EU-Richtli- zen und Fernwärme steuerlich zu begünstigen. Wir un-
nie können Prozesse mit mehr als 50 Prozent Stromkos- terstützen daher den Änderungsantrag von SPD und
tenanteil steuerbefreit werden. Dies trifft für die Luftzer- Grünen.
legung zu. Weitere Prozesse, die diese Bedingung
erfüllen, sind bisher nicht bekannt. Befreit wird aus- Zweitens: Zu den Ökosteuerausnahmen. Seit
schließlich der Produktionsprozess selbst, nicht das Ge- Einführung der Ökosteuer sind gerade jene Firmen weit-
samtunternehmen. Die Industriegase waren bereits 2006 gehend von Zahlungen befreit, die viel Strom verbrau-
im Gesetzentwurf enthalten und wurden damals aus poli- chen. Die Bundesregierung wollte diesen Missstand mit
tischen Rangeleien herausgenommen. Betroffen sind dem Haushaltsbegleitgesetz 2011 endlich teilweise be-
nicht nur die bekannten großen Hersteller mit guten Bi- seitigen. Aber daraus wurde nichts, wie wir wissen. Die
lanzen, sondern viele Industriebereiche der chemischen Ökosteuerprivilegierung soll beibehalten werden; zah-
Industrie wie zum Beispiel BASF usw. Wir wollen mit len dafür dürfen Raucherinnen und Raucher durch
dem Änderungsantrag der Koalitionsparteien diese Erhöhung der Tabaksteuer. Das heißt, Sie hoffen, dass
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9167

(A) Raucherinnen und Raucher weiterhin ihre Gesundheit liche Befristung der Steuer bis zum Jahr 2016. Mit dem (C)
gefährden, sodass Ihre energieintensiven Unternehmen letztlich verabschiedeten Gesetz werden selbst in diesem
weiter von der Ökosteuerbelastung verschont werden Zeitraum die vom Bund geplanten Einnahmen von jähr-
und Sie trotzdem zu Ihren geplanten Mehreinnahmen lich 2,3 Milliarden Euro niemals zu erreichen sein. Legt
kommen. man den ursprünglichen Rechenansatz des Bundes-
finanzministeriums zugrunde, ergibt sich ein „Brutto“-
Ich komme zum dritten Punkt, zum Agrardiesel: Ich Aufkommen von nur 1,5 Milliarden Euro. Wenn man be-
erinnere noch einmal daran, dass im Rahmen der rücksichtigt, dass es infolge der Brennelementesteuer
Konjunkturpakete beim Agrardiesel für land- und weitere steuerliche Mindereinnahmen geben wird, bei-
forstwirtschaftliche Betriebe eine steuerliche Entlastung spielsweise bei der Körperschaftsteuer; bleiben letztlich
erfolgte, indem die Deckelung auf 10 000 Liter und der netto nur rund 1 Milliarde Euro für den Staatshaushalt
Selbstbehalt von 350 Euro entfiel. Diese Maßnahme sollte übrig.
befristet sein. Doch jetzt wollen Sie diese unbefristet
verstetigen. Wie aber die Anhörung zeigte, profitieren in Ohne Not wird die soziale und die ökologische Ver-
erster Linie flächenstarke Ackerbaubetriebe. Diese schuldung in die Höhe getrieben. Schwarz-Gelb schont
werden jedoch bereits durch Direktzahlungen der Euro- die Atomwirtschaft, die energieintensive Industrie und
päischen Union in Höhe von 5,5 Milliarden Euro jährlich die industrielle Landwirtschaft bei den Energiesteuern
begünstigt. Außerdem wird der Anreiz genommen, vom zulasten von Geringverdienenden und ALG-II-Empfän-
Mineralöl wegzukommen. Dadurch schwächen Sie ge- gern und -Empfängerinnen, die ihren Beitrag zur Haus-
rade die mittelständische Wirtschaft vor Ort, die sich auf haltssanierung uneingeschränkt erbringen müssen.
Pflanzenöltreibstoffe spezialisiert hat.
Diese klientelistische Politik ist sozial ungerecht und
Ich fasse also zusammen: Mit diesem Gesetzentwurf lediglich an kurzfristigen Interessen ausgerichtet. Dabei
schaffen Sie weitere Steuervergünstigungen für den Ein- gelingt nicht mal die angekündigte Sanierung des Staats-
satz fossiler Energieträger und fahren umweltpolitisch haushaltes. Die Kollateralschäden dieses Tuns sind dafür
weiter in die falsche Richtung. Wir werden ihn daher umso größer. Weder das Haushaltsbegleitgesetz 2011
ablehnen. noch der heute zu beratende Gesetzentwurf lassen ein
klares Konzept für eine klimaschutzorientierte Energie-
besteuerung erkennen. Die Bundesregierung kann keine
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Erst kün- Auskunft darüber geben, welchen Belastungen Unter-
digt Schwarz-Gelb an, dass die energieintensiven Unter- nehmen durch die Energiebesteuerung unterliegen und
nehmen einen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leis- wie sich diese auf deren Wettbewerbsfähigkeit auswir-
ten sollen und schreibt das ins Haushaltsbegleitgesetz ken. Kein Wunder, dass die Wirtschaft es so leicht hatte, (D)
(B) 2011. Dann knickt Kanzlerin Merkel vor der Industrie
die schwarz-gelben Vorschläge aufzuweichen, wenn die
ein, schrumpft den Subventionsabbau um 600 Millionen politische Diskussion mit Behauptungen statt mit Fakten
Euro und bittet stattdessen die Raucher zur Kasse. Sie geführt wird.
spielt ein doppeltes Spiel. Und jetzt will Schwarz-Gelb
sogar neue klimaschädliche Subventionen für Industrie Wir leisten uns im Bereich Energie zahlreiche milliar-
und Landwirtschaft in das Energiesteuergesetz schrei- denschwere Vergünstigungen und Subventionen, die
ben. Die geplanten Mehreinnahmen von 1,5 Milliarden nicht nur überflüssig sind, sondern die notwendige Um-
sind damit auf nicht einmal 550 Millionen Euro für den stellung der Wirtschaft verzögern und das Klima schädi-
Bund zusammengeschmolzen. Erst hü, dann hott, und gen. Fast 4,5 Milliarden Euro bei den Strom- und Ener-
am Ende weiß niemand mehr, wo die Regierung in der giesteuern werden jährlich allein den energieintensiven
Energiebesteuerung eigentlich steht oder mal hinwollte. Unternehmen selbst nach dem vollmundig angekündig-
Auf so eine billige Verwirrungstaktik fallen wir nicht he- ten Subventionsabbau geschenkt. Mineralölhersteller
rein. Die Wahrheit ist: Sie haben das grüne Mäntelchen, sind sogar komplett von der Energiesteuer für ihren eige-
in das Sie Ihre ohnehin rein haushalterisch motivierten nen Energieverbrauch befreit. Kohleverstromung wird
Maßnahmen gehüllt haben, nun wie einen kratzenden mit insgesamt rund 2 Milliarden Euro gefördert. Auch
Pulli abgeworfen und entblößen wieder den wahren Cha- andere klimaschädliche Energieträger wie Öl und Uran
rakter Ihres Tuns. Nämlich die Ausrichtung des Regie- erhalten über direkte oder indirekte Wege seit Jahrzehn-
rungshandelns an den Interessen der Starken, in diesem ten Milliarden aus öffentlichen Fördertöpfen.
Fall der Industrielobbies.
Es ist an der Zeit, diese Politik der Energiesubventio-
Das passt ins Gesamtbild der pseudo-ökologischen nierung grundsätzlich zu überdenken und zu reformie-
Energiepolitik der Bundesregierung. Zuvor gab es eine ren. Was wir jetzt brauchen, ist eine Reform der Energie-
ähnliche Nummer bei der Brennelementesteuer. Sie ha- steuer, die sich vorrangig am Klimaschutz orientiert.
ben den angekündigten Gesetzentwurf zur Einführung Dabei müssen berechtigte wirtschaftliche Interessen der
der Brennelementesteuer im September kurzfristig von Unternehmen nicht übergangen werden. Klimapolitik ist
der Tagesordnung genommen. Warum? Um zunächst in nicht wirtschaftsfeindlich. Im Gegenteil. In einer Welt,
Hinterzimmern mit der Energiewirtschaft darüber zu in der Energie ein knappes Gut ist, das absehbar teuer
verhandeln, welche Weihnachtsgeschenke die Damen wird, können nur diejenigen Unternehmen im Wettbe-
und Herren von der Atomlobby denn gern hätten. Die werb bestehen, die jetzt in Energiemanagementsysteme
Atomwirtschaft konnte nicht nur eine deutliche Absen- investieren, ihre Produktionsprozesse jetzt verändern
kung des Steuersatzes erreichen, sondern auch eine zeit- und alle Möglichkeiten zur Einsparung von Energien
9168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

(A) nutzen. Die Energiebesteuerung kann dazu beitragen, die entsprechende Änderungsantrag in letzter Minute im (C)
notwendige Umstellung der Wirtschaft zu beschleuni- Haushaltsausschuss eingebracht worden war. Doch ei-
gen. Mit dem heute vorgelegten Gesetz wird diese nen Vorschlag des Finanzministeriums, der eine
Chance vertan. Schlechterstellung der Fernwärme verhindert hätte, lehnt
die Koalition jetzt mit Scheinargumenten ab. Wir haben
Wir hätten erwartet, dass im Bereich der Energiebe- gemeinsam mit der SPD einen Änderungsantrag gestellt,
steuerung wenigstens mal ein Anfang gemacht würde, der genau diesen Punkt aufgreift. Aber auch hier verwei-
um vorhandenen Reformpotenziale anzupacken. Wie das gert die Koalition die Zustimmung. Damit nehmen Sie
geht, haben wir in unserem Entschließungsantrag darge- bewusst in Kauf, dass diejenigen, die mit dieser klima-
stellt. Sie hätten sich auf eine Härtefallregelung für Un- freundlichen Energie heizen, demnächst mehr zahlen
ternehmen verständigen können, die nachweislich im in-
müssen.
ternationalen Wettbewerb stehen und unzumutbare
Nachteile durch höhere Energiesteuern erfahren. Sie hät- Davon sind besonders die Menschen in Ostdeutsch-
ten mögliche Steuererleichterungen an die Bedingung land betroffen, wo fast jeder dritte Haushalt mit Fern-
knüpfen können, dass die Unternehmen Energiemanage- wärme versorgt wird. Allein in Berlin sind es über
mentsysteme einführen. 600 000 Haushalte. Deren Vertrauensschutz spielt offen-
Stattdessen setzen Sie weiter auf pauschale Vergünsti- bar keine Rolle. Schwarz-Gelb gibt dem Begriff „soziale
gungen für alle Unternehmen des produzierenden Ge- Kälte“ damit eine besonders geschmackvolle neue Fa-
werbes und machen keine Vorschläge, wie sichergestellt cette. Gleichzeitig wird aber auch dem Ausbau der ener-
werden kann, dass diese ihre Potenziale zur Steigerung gieeffizienten und klimafreundlichen Kraft-Wärme-
der Energieeffizienz nutzen. Kopplung massiv geschadet.

Wir fordern, klimaschädliche Subventionen zielge- Wenn im gleichen Atemzug Subventionen für fossile
richtet abzubauen und Steuervergünstigungen nur dort Brennstoffe und energieintensive Prozesse – zum Bei-
zu gewähren, wo wirtschaftliche Verwerfungen verhin- spiel für einen der rentabelsten Zweige der chemischen
dert werden müssen oder umweltverträglichere Energie- Industrie, der Herstellung von Industriegasen – ausbaut
nutzung gefördert werden soll. Ihr Gesetzentwurf tut ge- werden, wird deutlichen: Trotz grünem Deckmäntelchen
rade das Umgekehrte, und das in einer ganzen Reihe von spielt der Umwelt- und Klimaschutz bei den schwarz-
Punkten. Lassen Sie mich das an zwei Beispielen erläu- gelben Plänen keine wesentliche Rolle. Im Gegenteil. Ihr
tern. praktisches Handeln konterkariert die ambitionierten
Klimaziele Deutschlands. Diese Schizophrenie kostet
Erstens: Die Obergrenze für die Subventionierung des Milliarden – heute im Bundeshaushalt und morgen bei
(B) Agrardiesels wird mit diesem Gesetzentwurf abge- der Bekämpfung der negativen Folgen des Klimawan- (D)
schafft. Damit werden in erster Linie flächenstarke land- dels.
wirtschaftliche Großbetriebe gefördert. Das schwächt
die Anreize, verstärkt Pflanzentreibstoffe einzusetzen Die Idee einer ökologischen Finanzreform wird mit
und Energie einzusparen. Zusätzlich müssen im Gegen- der pseudo-ökologischen Politik der Bundesregierung
zug im Agrarhaushalt Einsparungen bei Förderprogram- gründlich diskreditiert. Wer sich als Nächstes an das
men wie der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und schwierige Unterfangen macht, dem Prinzip „tax bads,
Küstenschutz vorgenommen werden. Förderung von not goods“ zum Durchbruch zu verhelfen, hat es nach
Großbetrieben statt zielgerichteter Maßnahmen zur Ver- der Verabschiedung dieses missratenen Gesetzes nicht
besserung der Agrarstruktur und des Umweltschutzes: gerade leichter. Der Gesellschaft, aber auch der Wirt-
Das ist kein Klimaschutz, das ist Klimaschädigung. Mit schaft selbst erweisen Sie von Schwarz-Gelb damit ei-
einer Zustimmung zu unserem Änderungsantrag hätten nen Bärendienst.
Sie das vermeiden können. Zweitens: Im Rahmen des
Haushaltsbegleitgesetzes wollte Schwarz-Gelb das soge- Man kann sich darüber streiten, ob nun ökologische
nannte Scheincontracting unterbinden – eine durchaus Blindheit oder Klientelismus die schwarz-gelbe Finanz-
sinnvolle Maßnahme. Als Kollateralschaden wurde aber und Haushaltspolitik bestimmt. Eins ist klar: der Preis,
in Kauf genommen, dass die ökologisch sinnvolle Fern- den wir als Gesellschaft für die unsozialen und ökolo-
wärme steuerlich schlechtergestellt wird. Wir dachten gisch schädlichen Entscheidungen der Regierung Merkel
zuerst, dass dies aus Unkenntnis geschehen ist, da der zu zahlen haben, steigt.
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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